EIN SYSTEMISCHES KONZEPT ... - Beziehungsweise
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<strong>EIN</strong> <strong>SYSTEMISCHES</strong> <strong>KONZEPT</strong> INNERFAMILIÄRER<br />
GEWALT<br />
GEWALT GEP RÄGT E SYSTEME ZEI CHN EN SI CH DUR CH EI NSCHR ÄN-<br />
KEN DE EIGEN S CHAFT EN AUS<br />
Wenn Gewalt sich durch wiederholtes oder massives Vorkommen in einem System<br />
etablieren kann, verändert sie es. Es reagiert darauf einerseits chaotisch, anderseits er-<br />
starrend. Die Gewalt prägt nun alle Eigenschaften des Systems und viele Verhaltens-<br />
weisen seiner Mitglieder in einer einschränkenden Art. Ein der Gewaltdynamik entge-<br />
genlaufendes Verhalten löst Angst aus. Diese wird oft vermieden oder geleugnet.<br />
Ängste und die Leugnung von Tatsachen (die mit Dissoziation einhergehen kann),<br />
kennzeichnen gewaltgeprägte Systeme.<br />
Weitere Eigenschaften sind: Ressourcen gehen unwiederbringlich verloren. Die Struk-<br />
turen des Systems werden chaotisch, lösen sich auf oder erstarren. Erkennbar sind oft<br />
Misstrauen und Isolation der Mitglieder untereinander und/ oder gegen aussen. Die<br />
Beziehungen sind hierarchisch oder chaotisch. Herrschen und beherrscht werden sind<br />
zentrale, angstauslösende Themen. Dominanzkonflikte sind häufig. Die Erziehung ist<br />
entweder geprägt von Laisser-faire, was häufig emotionaler Vernachlässigung gleich-<br />
kommt oder von starrer Autorität, manchmal auch vom chaotischen Wechsel zwischen<br />
beiden Erziehungshaltungen.<br />
ÜBER ERZI EHUNG WI R KT GEWALT I N <strong>EIN</strong>ER S ICH SELBER FO RT S ET-<br />
ZEN DEN WEI SE UN D IST DAHER B EHARR LI CH<br />
Das veränderte Erziehungsverhalten wirkt auf die Kinder gewalttätig. Sie werden über-<br />
fordert, unterfordert oder beides gleichzeitig. Sie erhalten zu wenig Halt, zu wenig<br />
Freiheit oder beides. Da ihre kognitiven, insbesondere die sprachlichen Fähigkeiten<br />
noch wenig entwickelt sind, können Kinder die gewalttätigen Mechanismen noch we-<br />
niger durchschauen als Erwachsene oder gar sich dagegen wehren. Zudem sind gewis-<br />
se Formen von Gewalt auch verführerisch. Allerdings spüren Kinder, wenn Gewalt vor-<br />
handen ist.<br />
So reagieren Kinder auf die gestörten Verhältnisse unspezifisch, z.T. mit Überanpas-<br />
sung, z.T. mit störendem Verhalten. Diese Reaktionen machen es ihnen möglich, in ei-<br />
ner unmöglichen Situation zu überleben, sie können die Gewalt aber nicht stoppen.<br />
Unter Umständen wird die destruktive Dynamik durch ihr Verhalten sogar noch ver-<br />
stärkt. So werden Kinder als Opfer oder als Täter in die negative Entwicklung einge-<br />
bunden. Ihre Bedürfnisse werden der Gewaltdynamik untergeordnet. So hält Gewalt<br />
sich oft über Generationen in einer Familie.<br />
Die fortgesetzte Erfahrung von Gewalt verändert die emotionale, kognitive und soziale<br />
Entwicklung jedes Familienmitglieds. Sie schwächt Selbstwert und Aufbau von Identi-<br />
tät. Die Emotionen werden durch die dauernde Überreizung abgestumpft und die<br />
Überzeugung, selbstwirksam handeln zu können geht verloren. Die Frustrationstole-<br />
ranz ist vermindert. Die Menschen verlieren die Zuversicht, sich anders als gewalttätig<br />
durchsetzen zu können. Oft wehren sie sich nicht mehr gegen Zumutungen und harren<br />
zu oft und zu lange in gewaltgeprägten Beziehungen aus.<br />
© Anna Flury Sorgo. www.beziehungsweise.ch<br />
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ZWISCHEN ÜBERGRI FFEN UND GEW ALTT ÄTI GEN H AN DLUN GEN BE-<br />
ST EHEN FUN DAMEN TALE UNT ERS CHI EDE<br />
Jede Gewalthandlung ist ein Übergriff, aber nicht jeder Übergriff, jede Frechheit, jede<br />
Grenzverletzung ist Gewalt. Übergriffe gehören zu einem gesunden Zusammenleben.<br />
Ohne gelegentliche Grenzverletzungen gibt es keine Nähe in Beziehungen. Übergriffe<br />
erfolgen zufällig, absichtslos, spielerisch. Man kann sie ansprechen. Das Gegenüber<br />
geht auch in der einen oder anderen Weise darauf ein.<br />
Gewalt ist absolut, zwingend. Oftmals steht ein bewusstes oder unbewusstes Kalkül<br />
hinter Gewalthandlungen. Wer Gewalt in der Familie ausübt, fühlt sich isoliert und<br />
steht (subjektiv) mit dem Rücken zur Wand. Auch wenn jemand die Gewalttätigkeit<br />
bemerkt, so wird es der Täter entweder gar nicht erlauben, diese anzusprechen, oder<br />
aber er geht nicht darauf ein. Gewalt wirkt auf die Dauer zerstörend auf das System,<br />
seine Mitglieder und deren Beziehungen. Das Ausmass und die Reversibilität der De-<br />
struktion hängen ab von der Dauer und Intensität der gewalttätigen Übergriffe. Men-<br />
schen, die Erfahrungen mit gewalttätigen Übergriffen haben oder in einem Schonklima<br />
aufgewachsen sind, erleben oft jeden Übergriff als Gewalt und reagieren dementspre-<br />
chend heftig.<br />
JEDE FO R M I NN ER FAMI LIÄRER GEWALT HAT P SY CHISCHE URSACHEN<br />
UN D FO LGEN<br />
Normalerweise wird psychische, physische, sexuelle, strukturelle Gewalt und Vernach-<br />
lässigung unterschieden. Gewalt betrifft eine Familie über die Generationen hinweg oft<br />
in unterschiedlicher Form. Das macht es schwierig, sie zu erkennen. Die Familie steht<br />
zwar immer wieder vor Problemen, sie kann diese aber nicht in einen Zusammenhang<br />
bringen. Das führt dazu, dass Symptome bekämpft werden, ohne dass die Ursache an-<br />
gegangen wird.<br />
Damit das möglich wird, muss Gewalt in ihrer psychischen Form erkannt werden. Die<br />
veränderten psychischen Mechanismen ziehen sich als roten Faden durch. Jede Form<br />
von Gewalt hat psychische Gewalt als Ursache oder Folge. In Familien kommt es nicht<br />
vor, dass sexuelle oder körperliche Gewalt sich ohne Veränderungen auf emotionaler<br />
und Beziehungsebene etablieren kann.<br />
Psychische Gewalt gründet auf der zwingenden Unterordnung der persönlichen Be-<br />
dürfnisse unter die Gewaltdynamik. Der Druck wird oft nach unten weitergegeben und<br />
betrifft also am stärksten die sozial schwächsten Mitglieder, in patriarchalen Verhält-<br />
nissen sind dies Frauen und in jedem Fall die Kinder. Innerfamiliäre Beziehungen in von<br />
Gewalt geprägten Systemen zeichnen sich zudem oft aus durch Angst, Ablehnung und<br />
Entwertung von Familienmitgliedern oder Dritten. Zudem fallen verfehlte Erwartungen<br />
an die Kinder auf, Drohen oder Bestechen werden als Erziehungsmittel eingesetzt, das<br />
emotionale Verständnis für andere, vor allem der Eltern für die Kinder, fehlt. Interesse<br />
am anderen hat oft den Charakter von Kontrolle. Die Familie ist nach aussen und/ oder<br />
nach innen isoliert. Die Beziehungen sind unsicher, der Abbruch von Beziehungen oder<br />
die Ausstossung von Familienmitgliedern kommt häufig vor.<br />
© Anna Flury Sorgo. www.beziehungsweise.ch<br />
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E INER GEW ALT GEPRÄGTEN VER ÄN DER UN G DER S YS TEMDYNAMI K<br />
GEHT FAS T I MMER <strong>EIN</strong> V ER LUST WI CHTI GER RES SO UR CEN VO RAUS<br />
Für das Auftreten und Bewältigen einer innerfamiliären Gewaltdynamik sind die famili-<br />
ären Ressourcen von grosser Bedeutung. Dazu gehören die persönlichen Fähigkeiten<br />
jedes Familienmitglieds, inklusive Resilienz, Gesundheit und körperlicher Unversehrt-<br />
heit. Ausserdem gehören das soziale Umfeld und die materiellen Möglichkeiten der<br />
Familie dazu.<br />
Ist das System erst von Gewalt betroffen, so setzt sich diese auch aufgrund der fehlen-<br />
den Ressourcen fort. Gewalt zerstört Ressourcen besonders radikal. Gewaltgeprägte<br />
Systeme sind daher ressourcenarme Systeme. Ihre Mitglieder verfügen über vermin-<br />
derte Handlungsmöglichkeiten und ein geringes Selbstwertgefühl. Sie erleben die Welt<br />
als unsicheren Ort, was gewalttätiges Handeln begünstigt.<br />
Gewaltbetroffene Systeme haben fast immer einen massiven Verlust von Ressourcen<br />
auf einer oder mehreren Ebenen erlebt. Das kann durch äussere, oft strukturelle Ge-<br />
walt erfolgen, z.B. in Form von Arbeitslosigkeit, Verarmung oder Krieg. Auch Naturka-<br />
tastrophen oder belastende Umstände innerhalb der Familie können zu einer Überlas-<br />
tung führen. Solche Erfahrungen können ein System traumatisieren. Manche Systeme<br />
sind widerstandsfähiger, in anderen etabliert sich unter dem Druck die gewalttätige<br />
Systemdynamik.<br />
Armut und Krankheit kommen als Ursache oder Folge der Gewalt häufig vor, sind aber<br />
keineswegs zwingend. Gewaltbetroffene Systeme haben entscheidende Ressourcen<br />
verloren, aber nicht jede ressourcenarme Familie ist von Gewalt betroffen.<br />
ROLLEN IN GEW ALTGEP RÄGT EN SYST EMEN UN TERLI EGEN <strong>EIN</strong>ER<br />
ST AR REN BEW ER TUNG<br />
Der emotionalen Wirkung von Gewalt kann sich niemand ohne weiteres entziehen.<br />
Wer sie ausübt, löst Wut aus. Das Mitleid wendet sich der Person zu, welche Unrecht<br />
erleidet. Dies geschieht in besonderem Mass, wenn das Opfer schwächer ist oder ein<br />
Kind und noch einmal, wenn es sich um sexuelle Gewalt handelt. Dann kommt fast<br />
zwingend Abscheu dazu.<br />
Die Frage nach der Schuld wird meist sofort gestellt, wenn eine Gewalthandlung be-<br />
kannt wird. Den Personen werden die Rollen von Täter und Opfer, zudem auch Mitwis-<br />
ser, Mittäter und Retter zugeschrieben. Es entstehen Bewertungen. Beschreibungen<br />
werden häufig als Vorwurf zurückgewiesen. Zuhören ist nicht mehr möglich. Verteidi-<br />
gung wird zum Selbstzweck.<br />
Wer Gewalt ausübt ist der Systemlogik zufolge böse. Täter, Mittäter, Mitwisser sind<br />
böse Menschen, Opfer und Retter hingegen sind gute. Aufgrund der Gewaltlogik sind<br />
Täter immer die anderen und werden ausgestossen.<br />
Diese Bewertungen sind so absolut, dass sie ihrerseits gewalttätig wirken und eine Lö-<br />
sung des Problems verhindern. Es entsteht eine seltsame Dynamik, wenn jemand einer<br />
Tat bezichtigt wird. Im gewaltgeprägten System erfährt sie damit als Person eine Ab-<br />
wertung und muss die Tat leugnen. Sie definiert sich selber als Opfer (einer Verleum-<br />
dung). Somit ist sie schuldlos und ein guter Mensch. Das ganze System schwingt mit<br />
und teilt sich in Befürworter und Gegner, welche vehement für oder gegen die Person<br />
© Anna Flury Sorgo. www.beziehungsweise.ch<br />
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Partei ergreifen. Dadurch ist die Eruierung des Tathergangs fast unmöglich geworden,<br />
ebenso die Suche nach Lösungen.<br />
Auf der Strecke bleiben die Verantwortung und mögliche Lösungen. Alle Rollen im Ge-<br />
waltkontext haben die Funktion, Verantwortung abzuschieben, damit das System nicht<br />
angegriffen wird und die destruktive Dynamik Oberhand behält.<br />
SECHS ZUGÄNGE ZU GEWALTGEPRÄGTEN SYSTEMEN<br />
GRUN DS ÄT ZE EI N ER T HER API E MIT ELT ERN I M INN ERFAMI LI ÄREN<br />
GEWALTK ONT EX T<br />
Aufbauend auf dem beschriebenen Konzept von innerfamiliärer Gewalt, haben sich die<br />
folgenden Annahmen in Elterntherapien bei innerfamiliärer Gewalt bewährt.<br />
Eltern möchten das Beste für ihre Kinder, selbst wenn sie gewalttätig sind.<br />
Dem Schutz der Kinder vor akuter Gefährdung kommt oberste Priorität zu.<br />
Eine dominanzorientierte Gesellschaft erschwert es, Kinder gewaltfrei zu erziehen.<br />
Objekt der Therapie ist das Familiensystem, auch im Einzelsetting.<br />
Die Beherrschung der eigenen Gewalttätigkeit ermöglicht die Übernahme von Verant-<br />
wortung.<br />
Ziel der Erziehung ist die Selbstverantwortlichkeit und Selbständigkeit der Kinder.<br />
RESSOURCEN<br />
Da sich von Gewalt betroffene Familien durch verminderte Ressourcen auszeichnen,<br />
muss jede Intervention besonders schonungs- und respektvoll erfolgen, sonst trägt sie<br />
nicht zur Bewältigung der Gewaltdynamik bei. Das betrifft nicht nur den Umgang mit<br />
den Opfern, sondern auch mit den tätlichen Personen. Auch sie benötigen Unterstüt-<br />
zung, wenn auch mit dem Ziel, auf jede weitere Gewalthandlung zu verzichten. Die<br />
Anwendung von Gewalt liegt nicht im Interesse der Opfer, aber auch niemals im Inte-<br />
resse der Täter.<br />
Jede entscheidende Veränderung, selbst wenn sie erwünscht ist, führt zunächst zu ei-<br />
nem Verlust von Ressourcen. Dies betrifft auch die Auseinandersetzung mit der Ge-<br />
walt, denn diese wird zu tiefgehenden Veränderungen führen. Das macht Angst und<br />
fordert Vertrauen. Daher fühlen sich gewaltbetroffene Familien oft durch Hilfe be-<br />
droht, denn sie kann Veränderungen nach sich ziehen.<br />
Im Normalfall wird der Verlust von Ressourcen aufgrund einer Veränderung später<br />
kompensiert. Ressourcenarmen Familien nützt das nichts, denn sie verfügen gar nicht<br />
über die nötigen Kräfte, um den Wechsel unbeschadet zu überstehen. Sie vermeiden<br />
es daher, Hilfe zu suchen, und zwar umso eher, je nötiger diese wäre.<br />
Während auf Seiten der Helfer ein Bedarf nach Veränderung wahrgenommen wird, be-<br />
steht vom System aus erheblicher Widerstand dagegen. Wird dieser einfach übergan-<br />
gen, so wird die Gewalt im System erhalten, ja vielleicht sogar verstärkt.<br />
Die Angst vor Hilfe und Veränderungen ist vom System her gesehen sinnvoll. Die Fami-<br />
lie kann den Widerstand in dem Mass reduzieren, als sie echte Unterstützung erlebt.<br />
Die wichtigste Ressource, die durch eine Therapie zugeführt wird, ist die verstehende<br />
und annehmende therapeutische Beziehung. Wer sich auf gewaltbetroffene Familien<br />
© Anna Flury Sorgo. www.beziehungsweise.ch<br />
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einlässt, muss mehr noch als sonst bereit sein, zuzuhören und den richtigen Zeitpunkt<br />
abzuwarten.<br />
Obwohl die Auseinandersetzung mit den gewalttätigen Verhältnissen Kräfte kostet, ist<br />
ohne diese eine Gesundung des Systems nicht möglich. Durch das wertfreie Anspre-<br />
chen der Tatsachen kann Raum geschaffen werden, dass sich die tätliche Person mit<br />
ihren Handlungen und Motiven auseinandersetzt. Daher kann auch nicht unbesehen<br />
zugewartet werden, vor allem dann nicht, wenn Kinder betroffen sind. Manchmal<br />
muss die Familie oder eine tätliche Person zu Massnahmen gezwungen werden. Damit<br />
diese fruchten, sollte meines Erachtens gleichzeitig immer auch eine Therapie initiiert<br />
werden, notfalls im Zwangskontext.<br />
BEZI EHUNGEN<br />
Vertrauensvolle, berechenbare und angstfreie Beziehungen sind das wirkungsvollste<br />
Gegenmittel zu Gewalt. Gewalt operiert mit Angst und Lügen (Verschleierung). Eine<br />
freie und kongruente Kommunikation wird verunmöglicht. Daher verändert Gewalt<br />
Beziehungen oder zerstört sie sogar. Der Aufbau neuer Beziehungen benötigt Zeit.<br />
Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind asymmetrisch. Für Kinder sind El-<br />
tern (bzw. Ersatzeltern) als Bindungsfiguren unersetzlich. Ein Kind tut alles, um seine<br />
Eltern nicht zu verlieren und damit es ihnen gut geht, sogar auf eigene Kosten. Da Kin-<br />
der die Bedürftigkeit Erwachsenen hinter der angewendeten Gewalt spüren, engagie-<br />
ren sie sich besonders für gewalttätige oder vernachlässigende Eltern.<br />
Beziehungen leben von gemeinsamen Interessen und Aufgaben. Eltern und Kinder<br />
verbindet das Interesse an der kindlichen Entwicklung, denn Kinder wollen selber ge-<br />
sunde, glückliche Erwachsene werden. Je besser das Kind selber für sich sorgen kann,<br />
umso mehr rücken die Eltern in den Hintergrund. Trotz Distanzierung suchen Kinder<br />
bis ins Erwachsenenalter noch Verständnis und Zuwendung der Eltern.<br />
Beziehungen leben auch von Widerspruch. Die Bedeutung der Eltern fürs Kind verhin-<br />
dert nicht, dass dieses auch ungehorsam oder frech sein kann. Ungehorsam, ja sogar<br />
Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern oder Geschwister kann als Loyalität verstanden<br />
werden, in anderen Fällen sind es Reaktionen auf eine belastende Familiensituation.<br />
Beziehungen sind dann stark und helfen gegen Gewalt, wenn sie auf einer Ebene ge-<br />
genseitigen Vertrauens und Akzeptanz beruhen. Selbst wenn die Wünsche unter-<br />
schiedlich sind und vielleicht nicht erfüllt werden können, können sie als Wünsche res-<br />
pektiert werden.<br />
Beziehung bedeutet Verständigung auf verbaler und nonverbaler Ebene. In einer gut<br />
funktionierenden Beziehung verhält sich das Gegenüber vorhersehbar, transparent<br />
und kongruent. Mit ihrem Kind beziehungsfähige Eltern sind bereit, sich zu öffnen und<br />
auch ihre Gefühle mitzuteilen. Sie sind bereit und in der Lage, ihrem Kind zuzuhören<br />
und zu versuchen, sich in seine Situation und sein Erleben einzufühlen, auch wenn sie<br />
seine Werte nicht teilen und allfällige Wünsche nicht erfüllen können oder wollen. Be-<br />
ziehung bedeutet nicht, dass Eltern ununterbrochen verfügbar sind, doch es sollte für<br />
ein Kind klar sein, ob oder wenn dies der Fall sein wird.<br />
Die Therapeutin in einem gewaltbetroffenen System ist den destruktiven Mechanis-<br />
men im gleichen Mass ausgesetzt wie die Familie. Es ist daher besonders wichtig, auf<br />
die eigenen Grenzen und Belastungen zu achten. Die Beziehung zu sich selber, zu den<br />
© Anna Flury Sorgo. www.beziehungsweise.ch<br />
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Klientinnen, aber auch zu anderen involvierten Institutionen oder Personen kann hilf-<br />
reich sein und benötigt Aufmerksamkeit und Pflege.<br />
SELBST BEHAUPT UN G<br />
Der Wunsch nach Selbstbehauptung ist Ausdruck des Bedürfnisses nach Selbstverant-<br />
wortlichkeit und zeugt von Engagement, Freude an einer Sache und Leidenschaft. Die<br />
Fähigkeit zur Selbstbehauptung hängt mit Handlungsfähigkeit und Übernahme von<br />
Verantwortung zusammen. Sie schafft Selbstsicherheit. Diese ermöglicht es zuneh-<br />
mend, sich auch mal zurückzunehmen und dem Wunsch nach Selbstbehauptung des<br />
anderen den Vortritt zu lassen.<br />
Ein grosser Teil gewalttätig eskalierender Konflikte zwischen Eltern und Kindern sind<br />
Dominanzkonflikte. Manche Kinder eskalieren häufig, lernen aber mit zunehmender<br />
Ausdrucksfähigkeit eine angemessene Selbstbeherrschung. Während den Unruhepha-<br />
sen der Entwicklung (Trotzphase, kleine und grosse Pubertät) nimmt die Eskalationsbe-<br />
reitschaft zu. Ein eskalierendes Kind wirkt stark, fühlt sich aber unsicher und schwach.<br />
Eltern, die seinen Willen brechen wollen, lösen erst recht Eskalationen aus.<br />
Eskalierende Personen (auch Erwachsene) benötigen Selbstsicherheit. Diese erhalten<br />
sie über erweiterte Handlungskompetenzen und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.<br />
Die Gewähr, dass man seine Bedürfnisse einbringen kann und gehört wird, schafft die<br />
Möglichkeit, sich zu beherrschen. Die daraus resultierende Fähigkeit, in angemesse-<br />
nem Ausmass und aufgrund von eigenen Entscheidungen zu verzichten, erhöht wie-<br />
derum das Selbstwertgefühl. Eskalationen zerstören Selbstwertgefühl, wenn man sel-<br />
ber eskaliert ebenso, wie wenn das Gegenüber die Nerven verliert. Die Fähigkeit zur<br />
Selbstbeherrschung ist entscheidend für Eltern.<br />
Erziehung bedeutet, den Kindern fortwährend neue Verantwortlichkeiten zu überge-<br />
ben oder zu überlassen, auch wenn sie anders handeln werden oder sogar Fehler ma-<br />
chen. Einen Weg zwischen Über- und Unterforderung zu finden, ist manchmal gar nicht<br />
einfach. Wichtig ist es, allzu grobe Abweichungen immer wieder zu korrigieren. Gren-<br />
zen des Gewährenlassens sind dort, wo Kinder sich in Gefahr bringen oder anderen<br />
schaden. Kinder gehorchen umso besser, als sie sich in einer respektvollen Beziehung<br />
gehalten fühlen. Weitgehende Selbstbestimmung und Selbstverantwortung im Rah-<br />
men der sozialen Gemeinschaft ist Ziel jeder Entwicklung.<br />
Auch wenn Kinder unterschiedlich stark zu Eskalationen neigen und damit ihre Eltern<br />
mehr oder weniger stark strapazieren, so können doch auch diese Machtkämpfe ver-<br />
hindern. Dabei helfen ihnen eigene Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, das Akzeptie-<br />
ren persönlicher Grenzen, und eine gesunde Resistenz gegen äusseren Druck durch<br />
Medien, Schule oder Angehörige oder Freunde.<br />
WAHR NEHMUN G<br />
Die Fähigkeit zur Selbstbehauptung wird durch die Schulung der Wahrnehmung geför-<br />
dert. Dazu gehört das präzise, aber wertfreie Benennen des Wahrgenommenen,<br />
betreffend das Innen und das Aussen. Wahrgenommen wird der Körper, seine Lage im<br />
Raum, eigene und fremde Gefühle und äussere Eindrücke, die mit den Sinnen aufge-<br />
nommen werden.<br />
Eltern können Wahrnehmungsfähigkeit bei ihren Kindern schon früh fördern, indem<br />
sie die Handreichungen benennen, die sie an ihnen vornehmen, und den Körperteilen<br />
© Anna Flury Sorgo. www.beziehungsweise.ch<br />
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Namen geben. Ebenso werden Emotionen des Kindes oder anderer Personen benannt.<br />
Liebevolle und der Entwicklung angemessene Erfahrungen aller Sinne fördern Kinder<br />
ebenfalls.<br />
Eltern in gewaltbetroffenen Familien fehlen häufig angenehme Körpererfahrungen und<br />
die Fähigkeit, sie in Worte zu fassen. Körperwahrnehmungsübungen, Entspannungs-<br />
übungen oder geführte Phantasiereisen unterstützen die Verankerung im Körper.<br />
Sport in vernünftigem Ausmass ist fast immer nützlich. Ebenso die Möglichkeit kreati-<br />
ven Selbstausdrucks, wobei wiederum wichtig ist, die entsprechenden Erfahrungen<br />
auch in Worte zu fassen. Ein Achtsamkeitstraining, wie es heute in der Psychotherapie<br />
zunehmend angewendet wird, kann viel zur Bewältigung von Gewalt beitragen.<br />
Wenn Gewalt im System ist, kommt es zu Vorwürfen und Lügen. Plötzlich scheint es<br />
nur noch eine Wahrheit zu geben, und die muss unter allen Umständen verteidigt<br />
werden. Die Art, wie über erlebte oder ausgeübte Gewalt gesprochen wird, entspricht<br />
tatsächlich nicht unbedingt dem Tathergang. Doch wenn jemand von erlebter Gewalt<br />
spricht, so ist sie auch vorhanden und das System soll als von Gewalt betroffenes ernst<br />
genommen werden. Auch hier ist es nützlich, das wertfreie Gewahrwerden von Me-<br />
chanismen oder Handlungsabfolgen zu unterstützen.<br />
Doch auch normale Erfahrungen werden unterschiedlich erlebt, was in gewaltbetrof-<br />
fenen Familien oft nur schwer ertragen wird. Unterschiede sind bedrohlich und lösen<br />
Angst aus. Im Hintergrund steht immer die Hypothese, die Unterschiede könnten et-<br />
was mit der geleugneten Gewalt zu tun haben. Darüber zu reden und dies zu normali-<br />
sieren ist hilfreich.<br />
Es ist daher wichtig, solche Erfahrungen zu thematisieren. Sie bieten eine Gelegenheit,<br />
Kommunikation zu üben. Abgesehen von der Tatsache der Gewalt, sind Unterschiede<br />
nützlich, um Offenheit zu lernen. Daraus entsteht Spielfreude, die verschiedene Erfah-<br />
rungsweisen zulässt. Die Exploration der Unterschiede, welche durch unterschiedliche<br />
Wahrnehmungen entstehen, kann lustvoll sein.<br />
Wird Gewalt beobachtet oder berichtet, so ist es wichtig, sie also solche zu benennen,<br />
und zwar deutlich, auch in ihren Auswirkungen, aber wertfrei in Bezug auf den Täter.<br />
Eine Gewalttat, auch wenn sie schadet, wird doch aufgrund irgend welcher ‚guten<br />
Gründe‘ ausgeübt. Das rechtfertigt die Tat keineswegs. Doch nur die Unterscheidung<br />
der Tat (welche vermieden werden soll) und des Täters, der als Mensch akzeptiert<br />
wird, ermöglicht Veränderungen.<br />
STRUKTUREN<br />
Gewalt verändert die innerfamiliären Strukturen, sodass sie chaotisch oder starr wer-<br />
den. Daher kann zur Prävention oder Intervention in einer gewaltbetroffenen Familie<br />
auch an den Strukturen gearbeitet werden. Zunächst geht es um den Aufbau klarer<br />
und flexibler Grenzen innerhalb der Familie, sowohl zwischen den einzelnen Personen<br />
als auch zwischen den Subsystemen.<br />
Das Gleiche gilt für die ausserfamiliären Grenzen gegenüber Angehörigen, Freunden<br />
und Behörden. Isolierte Familien benötigen Beziehungen zu aussenstehenden Perso-<br />
nen, was vor allem zu Anfang oft nur über Institutionen machbar ist. Manchmal ist<br />
Mediation gegenüber der weiteren Familie oder Nachbarn nötig. Wenn Behörden in-<br />
volviert sind, brauchen Familien manchmal Schutz gegen zu viel Einmischung.<br />
© Anna Flury Sorgo. www.beziehungsweise.ch<br />
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Zum zweiten ist ein offener Austausch wichtig. Wohl ist es angemessen, wenn jedes<br />
seine Geheimnisse hat, diese sollten aber keinen belastenden Charakter haben. Es gibt<br />
Dinge, die zwischen den Eltern bleiben dürfen und sollen. Auch ist es normal, dass sich<br />
Geschwister manchmal gegenseitig näher stehen als ihren Eltern. Belastende Geheim-<br />
nisse, welche überfordern, müssen offengelegt werden. Konflikte sollen mit den Betei-<br />
ligten direkt ausgetragen werden. Zerstrittene Eltern benötigen dafür besonders ev.<br />
Mediation, damit sie sich als Eltern gegenüber ihren Kindern gegenseitig in ihrer Auto-<br />
rität unterstützen können.<br />
Die Unterstützung der elterlichen Autorität erfolgt durch Erziehungsberatung. In ge-<br />
waltgeprägten Familiensystemen wird die elterliche Autorität nicht allein durch die<br />
persönliche Unfähigkeit der Erziehenden, sondern auch durch äusseren Druck unter-<br />
graben. Manchmal ist es hilfreich, Eltern zu Gesprächen mit Behörden oder Schule zu<br />
begleiten. Wenn die innerfamiliäre Hierarchie chaotisch ist, laufen Kinder Gefahr, die<br />
Elternposition einzunehmen. Elterliche Präsenz (Haim Omer/ Arist von Schlippe 2005)<br />
ist ein geeignetes Mittel dagegen.<br />
Zu einer gesunden Struktur gehört auch eine flexible aber wahrnehmbare Ordnung in<br />
zeitlicher (Tagesrhythmus), räumlicher (Zimmereinteilung, Wohnungseinrichtung) und<br />
finanzieller Hinsicht (Budget). Daher können die Vermittlung einer Budgetberatung, fi-<br />
nanzieller Unterstützung oder einer Wohnung zu einer Elternpsychotherapie gehören.<br />
TR AUER<br />
In Trauerphasen ist die Neigung zu gewalttätiger Eskalation erhöht, denn Trauer er-<br />
höht die Grundspannung. Die Psyche ist mit dem Verlust beschäftigt und empfindet<br />
jede zusätzliche Herausforderung als Störung. Daher kann sich nach schweren und<br />
traumatisierenden Verlusten Gewalt in einer Familien etablieren.<br />
Gewalt entsteht vor allem dann, wenn ein Verlust nicht angemessen betrauert wird,<br />
weil er nicht ernstgenommen wird oder weil die Ressourcen dafür fehlen. Besonders<br />
heikel ist die Konfrontation mit Familienmitgliedern, welche die Gewalt leugnen. Diese<br />
sind eine besondere Variante unechter Verluste, denn sie haben selber oft Interesse an<br />
Kontakten, welche für die ‚Aussteiger‘ aus der Gewalt aber belastend sind. So müssen<br />
diese den Kontakt abbrechen und gleichzeitig betrauern.<br />
Echte Verluste ein Todesfall oder eine Scheidung, sind einfacher zu benennen als un-<br />
klare Verluste, wie ein Beziehungsabbruch oder eine Wesensveränderung aufgrund ei-<br />
nes Schlaganfalls oder Unfalls. In gewaltbetroffenen Familien kann vieles nicht mehr<br />
gut gemacht werden. Beziehungen, Entwicklungsmöglichkeiten, Ressourcen oder Le-<br />
benszeit sind unwiederbringlich verloren. Therapie soll den Menschen den Raum bie-<br />
ten, das Unvollkommene, Fehlerhafte, Schlimme zu benennen, zu ertragen und Mög-<br />
lichkeiten zu entwickeln, die Trauer im Alltag in gesunder Weise zu leben.<br />
In gewaltbetroffenen Familien leiden Eltern oft auch darunter, dass sie ihren Kindern<br />
Unrecht zufügten oder sie ungenügend schützten. Vielleicht gibt es sogar eigenes un-<br />
gelebtes oder missglücktes Leben. Gerade für diese Gefühle braucht es den geschütz-<br />
ten Raum der Therapie, soweit das Unrecht nicht wenigstens symbolisch wieder gut<br />
gemacht werden kann.<br />
© Anna Flury Sorgo. www.beziehungsweise.ch<br />
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