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Schauen Sie mal ins Buch! - MANA-Verlag

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Bildnachweis:<br />

Die Bilder des Textteils : Alexander Ehlert<br />

Coverfoto: Dorothea Holzapfel<br />

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen<br />

Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im<br />

Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />

© <strong>MANA</strong>-<strong>Verlag</strong> 2008, www.mana-verlag.de<br />

Das Werk ist in allen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung<br />

außerhalb der engen Grenzen des Urheberschutzgesetzes ist<br />

ohne Zustimmung des <strong>Verlag</strong>es unzulässig. Das gilt <strong>ins</strong>besondere<br />

für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die<br />

E<strong>ins</strong>peicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Umschlagentwurf und Layout:<br />

tomcom-potsdam.de<br />

Satz:<br />

Chronik Press im <strong>MANA</strong>-<strong>Verlag</strong><br />

Endlektorat:<br />

Kristina Frenzel, Anke Reintsch<br />

Druck:<br />

Interpress<br />

ISBN 978-3934031-89-0<br />

Alexander Ehlert<br />

Wo zum Teufel liegt Herbertville?<br />

Neuseeland – die Welt von unten gesehen


In vino veritas – besonders im Cloudy Bay Chardonnay<br />

Inhalt<br />

Vorwort ...............................................................................................6<br />

Deutschland, Schwaben: Am dunklen Ende der Welt ..............8<br />

Ab ans andere Ende der Welt ...................................................... 16<br />

Die Adaption neuseeländischer Lebensweise ........................ 24<br />

Zurück zu den Wurzeln ................................................................. 31<br />

Tribute an Wellington ................................................................... 40<br />

Neuseeländische Problemlösungen .......................................... 45<br />

Hummeressen in Hummeressen ............................................... 48<br />

Die unverschämteste Lüge der Welt ......................................... 56<br />

Feiertags in Neuseeland .............................................................. 62<br />

Sex in the City................................................................................. 67<br />

Das Spiel mit dem Ei ..................................................................... 71<br />

Der kälteste Winter ist der Sommer in San Francisco ......... 76<br />

Politik ist Politik ist Politik ........................................................... 97<br />

Der Hort neuseeländischer Männlichkeit ..............................102<br />

Schnee auf dem Vulkan ..............................................................108<br />

Ein guter Deal ...............................................................................116<br />

Restaurantführer..........................................................................118<br />

Neuseeland auf dem Motorrad, Teil I .....................................124<br />

Where the f**k is Herbertville? ................................................137<br />

Willkommen in Schilda ...............................................................144<br />

The World’s Fastest Indian .........................................................149<br />

Fischers Fritz fischt … .................................................................153<br />

Die Pulververschwörung ............................................................157<br />

Neuseeland auf dem Motorrad, Teil II ....................................160<br />

The Master of Desaster ..............................................................178<br />

Road Trip im Dezember ..............................................................181<br />

Epilog: Zurück ans dunkle Ende der Welt ...............................189


8 Wo zum Teufel liegt Herbertville? Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

9<br />

Deutschland, Schwaben: Am dunklen<br />

Ende der Welt<br />

Nun, mir geht es wie so vielen Vertretern der Golfgeneration:<br />

wir sind gut ausgebildet und mit sozialer Intelligenz ausgestattet,<br />

haben die nicht in Rente gehenden Versager der ehe<strong>mal</strong>s<br />

taxifahrenden 68er Generation in den wichtigen Positionen<br />

vor der Nase und die nachfolgende Generation von Ehrgeizlingen<br />

der Internetkultur im Nacken sitzen. Was uns fehlt sind<br />

die Ambitionen, wirklich etwas zu bewegen. Den erschreckend<br />

schwachen Durchschnitt um uns herum stecken wir doch alle<strong>mal</strong><br />

in die Tasche. Eventuell, wenn wir es nur wollen würden.<br />

So bleibt uns nichts anderes übrig, als uns „einzurichten“ – eine<br />

Maßnahme, die wir eigentlich zutiefst verachten. Wer sich<br />

einrichtet, kann sich im Rathaus auch gleich für tot erklären<br />

lassen, dann spart er wenigstens Steuern.<br />

Ich habe einen Job, den ich bloß habe, weil ich verliebt gewesen<br />

bin. Ich dachte zumindest, dass ich es wäre, war es aber<br />

nicht. „Verrückt“ wäre wohl die bessere Beschreibung meines<br />

da<strong>mal</strong>igen Geisteszustands gewesen. Also passierte mir das,<br />

was meine Freunde zusammenfassend als „dich hat wohl der<br />

Teufel geritten!“ beschrieben: Ich suchte mir einen „anständigen“<br />

Job, weil ich fatalerweise dachte, dass das zum Erwachsenwerden<br />

dazugehörte. Ich heuerte also bei einem großen, sogar<br />

sehr großen Energieversorger an. Als es um die Berufswahl<br />

ging, wollte mein Vater mich früher immer überzeugen, dass<br />

ich Beamter werden solle, das hätte doch so viele Vorteile. Ich<br />

habe das immer entrüstet abgelehnt, weil ich der Ansicht war,<br />

dass das überhaupt nichts für mich sei und so etwas Ähnliches<br />

wie „sich einrichten“ wäre. Ich hatte Recht, das ist immer noch<br />

nichts für mich. Ich hätte auf seinen gut gemeinten, väterlichen<br />

Rat hören sollen, denn jetzt bin ich bei einem übergroßen<br />

Stadtwerk gelandet. Selbst meine absurdesten und perversesten<br />

Phantasien hätten da<strong>mal</strong>s nicht ausgereicht, um mir vorzustel-<br />

len, wie das so ist, für einen Energieversorger zu arbeiten. Die<br />

Folgenschwere meines Irrtums ist schlimmer als permanente<br />

Tritte dahin, wo es richtig weh tut, aber manche Männer stehen<br />

da wohl drauf. Ich nicht.<br />

Um die Tragik meines Arbeitslebens zu veranschaulichen,<br />

erzähle ich zusammenfassend gern die folgende kleine<br />

Geschichte. <strong>Sie</strong> verdeutlicht die Unfähigkeit, mit der ich mich<br />

tagtäglich beschäftigen und umgeben muss. Rock’n’Roll ist<br />

jedenfalls etwas anderes.<br />

„Herr Ehlert, könnten <strong>Sie</strong> mir kurz helfen?“, fragte mich<br />

mein Chef. „Bitte erstellen <strong>Sie</strong> zwei Folienpräsentationen für<br />

unseren Geschäftsführer. Er muss übermorgen eine Präsentation<br />

im Holdingvorstand halten. Ach ja, <strong>Sie</strong> haben bis morgen<br />

Mittag Zeit.“ Eine ganz nor<strong>mal</strong>e Bitte? Ein ganz alltäglicher<br />

Auftrag? Nein! An diesem Beispiel werde ich erstaunliche Parallelen<br />

von kapitalistisch ausgerichteten Großkonzernen der<br />

Energiewirtschaft zur Planwirtschaft der ehe<strong>mal</strong>igen kommunistischen<br />

Blockländer verdeutlichen – jedenfalls stelle ich mir<br />

ineffektive Planwirtschaft so vor.<br />

Wenn <strong>Sie</strong> jemand fragt, ob <strong>Sie</strong> kurz helfen könnten, dann<br />

sollten <strong>Sie</strong> grundsätzlich mit einem entschiedenen „Nein“ antworten,<br />

denn wenn die Angelegenheit tatsächlich in kurzer<br />

Zeit zu erledigen wäre, dann würde man <strong>Sie</strong> nicht fragen. Also<br />

handelt es sich bei dem zu erwartenden Auftrag entweder um<br />

eine langwierige oder komplizierte Arbeit. Meistens verbirgt<br />

sich hinter dem Begriff „kurz“ aber beides. Positiver Nebeneffekt<br />

Ihrer Ablehnung ist, dass man <strong>Sie</strong> dadurch in die Kategorie<br />

des harten Hundes einordnen wird und <strong>Sie</strong> somit auf der Liste<br />

derjenigen vorgemerkt sind, deren Karriere gefördert wird.<br />

Wenn <strong>Sie</strong> nicht „Nein“ sagen können, sollten <strong>Sie</strong> kurzfristig<br />

krank werden oder spontan verreisen, aber machen <strong>Sie</strong> nie<strong>mal</strong>s<br />

den Fehler, mit „Ja, gerne“ zu antworten. Ich habe, weil es<br />

meinem freundlichen und hilfsbereiten Charakter entsprach,<br />

naiverweise mit „Ja“ geantwortet und war, ohne es zu diesem<br />

Zeitpunkt gemerkt zu haben, mittendrin in den Mühlen der<br />

Umständlichkeit und der Demütigungen.<br />

Um die Tragik meines<br />

Arbeitslebens zu veranschaulichen,<br />

erzähle ich<br />

zusammenfassend gern die<br />

folgende kleine Geschichte.<br />

<strong>Sie</strong> verdeutlicht die Unfähigkeit,<br />

mit der ich mich<br />

tagtäglich beschäftigen und<br />

umgeben muss.


24 Wo zum Teufel liegt Herbertville? Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

25<br />

„Wenn <strong>Sie</strong> deutscher<br />

Staatsangehöriger sind,<br />

dann kreuzen <strong>Sie</strong> bitte das<br />

Kästchen an, neben dem<br />

steht: „Deutscher“...<br />

Die Adaption neuseeländischer Lebensweise<br />

Ich habe es geschafft, 35 Jahre alt zu werden und einigermaßen<br />

anständig, unanständig und selbständig durchs Leben<br />

zu kommen. Herzlich Willkommen zurück in der Schule!<br />

Da ich nur zehn Finger zum Rechnen habe, weiß ich nicht,<br />

wie lange meine Schullaufbahn schon beendet ist, aber das ist<br />

schon ziemlich dunkle Vergangenheit. Ich gehe also wieder<br />

an die Uni, an die Victoria University of Wellington. Da die<br />

Erstsemester ungefähr halb so alt sind wie ich, zum ersten Mal<br />

allein in einer so großen Stadt wie Wellington und Papa und<br />

Mama noch öfter zu Besuch kommen werden, um zu prüfen,<br />

ob es den Kindern auch gut geht, hat die Uni für Studenten<br />

eine besondere Fürsorgekultur entwickelt, die eine Allround-<br />

Betreuung und drei Monate Alkoholverbot in Studentenwohnheimen<br />

umfasst. Alles wird einem mehr<strong>mal</strong>s sorgfältig<br />

erklärt, die E<strong>ins</strong>chreibeprozedur zog sich über eine Woche hin<br />

und irgendwie ist dieses Verhätscheln ja auch wirklich nett<br />

gemeint. Beim Ausfüllen eines Krankenversicherungsformulars<br />

hatte ich dann allerdings genug und bin nicht mehr auf<br />

diese Veranstaltungen, die sich „Orientation and Enrollment<br />

Weeks“ nennen, gegangen.<br />

„Wenn <strong>Sie</strong> deutscher Staatsangehöriger sind, dann kreuzen<br />

<strong>Sie</strong> bitte das Kästchen an, neben dem steht: „Deutscher“. In das<br />

Kästchen „Geburtsdatum“ tragen <strong>Sie</strong> bitte den Tag ein, an dem<br />

<strong>Sie</strong> geboren worden sind. Vergessen <strong>Sie</strong> bitte das Jahr nicht. Da<br />

wo „Name“ steht, tragen <strong>Sie</strong> bitte ihren Namen ein. Bitte auch<br />

den Vornamen.“<br />

Das Formular hatte fünf Seiten, die Prozedur dauerte eine<br />

halbe Stunde und ich war genervt. Einziger kleiner Lichtblick<br />

sind meine vier Vornamen. Diese treiben die Leute, die die<br />

Formulare im PC erfassen müssen, hoffentlich immer an den<br />

Rand der Verzweifelung, weil die Namen länger sind als der<br />

dafür vorgesehene Platz im Computerformular und bei Schulungen<br />

wird keine Lösung für dieses Problem gelehrt. Mein<br />

Berliner Freund Axel würde das die Rache des kleinen Mannes<br />

nennen.<br />

Nachdem ich locker zwei Wochen mit E<strong>ins</strong>chreibung, Kontoeröffnung,<br />

Wohnungssuche etc. herumgebracht hatte, kamen<br />

zwei echte Herausforderungen auf mich zu, deren Bewältigung<br />

ewig und drei Tage dauerte: Studentenvisum beantragen und<br />

Internetzugang einrichten. Vorweg gesagt, Einwanderungsbehörden<br />

sind überraschenderweise deutlich schneller und<br />

besser organisiert als ehe<strong>mal</strong>ige staatliche Monopolbetriebe.<br />

„Bringen <strong>Sie</strong> den Pass zu uns in die Uni, wir können das<br />

Studentenvisum ausstellen und das haben <strong>Sie</strong> dann nach drei<br />

Tagen. Bei der Einwanderungsbehörde dauert das bis zu neun<br />

Wochen.“<br />

Das ist ein Trick, um Geld zu verdienen, denn an der Uni<br />

kostet das Visum $ 110 und bei der Einwanderungsbehörde nur<br />

$ 70. Montagnachmittag warf ich meinen Pass bei der Immigration<br />

ein. Am Mittwochmorgen hatte ich die Benachrichtigung<br />

des Postboten im Briefkasten, dass eine Zustellung nicht<br />

geklappt habe, aber mein Pass beim Depot Nummer 01 bereitliegen<br />

würde. Ich könnte ihn dort abholen, sonst würde automatisch<br />

eine zweite Zustellung am Samstagvormittag erfolgen.<br />

Wenn diese ebenfalls erfolglos wäre, würde das Paket an den<br />

Absender zurückgeschickt werden.<br />

Wo zum Teufel ist Depot Nr. 01? Diese aus meiner Sicht notwendige<br />

Information befand sich leider nicht auf dem Schreiben.<br />

Also, nichts wie hin zum Postshop am Courtney Place.<br />

„Ich habe hier eine Benachrichtigung bekommen. Ich bin<br />

noch nicht so lange in der Stadt, wo bitte ist Depot Nr. 01? Ich<br />

möchte dort ein Päckchen für mich abholen.“ Ich habe wirklich<br />

selten in ein fragenderes und verwirrteres Gesicht geschaut.<br />

„Ich habe keine Ahnung, wo Depot Nr. 01 ist! Ich frage <strong>mal</strong><br />

meinen Kollegen. Pete, wo ist Depot Nr. 01?“<br />

„Woher soll ich das wissen?“, schallte es fragend aus dem<br />

hinteren Teil des Postshops zurück.


26 Wo zum Teufel liegt Herbertville? Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

27<br />

Manche Fragen werden auch<br />

von netten Telefonstimm-<br />

chen nicht beantwortet. In<br />

Schulungen bekommt man<br />

beigebracht, auf verärgerte<br />

Kunden am besten gar nicht<br />

zu reagieren.<br />

„Nur zum Verständnis: die Post wirft bei mir eine Karte ein,<br />

auf der handschriftlich steht, dass ich das Päckchen im Depot<br />

Nr. 01 abholen kann, ich gehe zur Post und frage, wo das ist,<br />

und niemand weiß, wo sich Depot Nr. 01 befindet?“<br />

„Haben <strong>Sie</strong> die Nummer auf der Karte <strong>mal</strong> angerufen?<br />

Nein? Tun <strong>Sie</strong> das bitte. Ich glaube aber, dass Depot Nr. 01 sich<br />

in der Hauptpost befindet, sicher bin ich mir allerdings nicht.“<br />

OK, ab zur Hauptpost am anderen Ende der Stadt. Dort<br />

wiederholte sich die Prozedur, mit der kleinen Ausnahme, dass<br />

jemand wusste, dass das Depot Nr. 01 etwa 15 km nördlich von<br />

Wellington im Hutt Valley liegt. Ganz sicher war man sich aber<br />

auch nicht. Gut, also rief ich bei der Kundenhotline an.<br />

„Ich möchte Ihnen sagen, dass ich am Samstag bei dem<br />

erneuten Zustellversuch nicht anwesend sein kann. Können <strong>Sie</strong><br />

mir das Päckchen an die Hauptpost in Wellington liefern?“<br />

„Oh“, erwiderte eine nette Telefonstimme. Sätze, die mit<br />

„Oh“ anfangen, bergen im weiteren Verlauf erfahrungsgemäß<br />

meist unangenehme Überraschungen. „Das wird schwierig, der<br />

Fahrer soll heute versuchen, Ihnen die Sendung zuzustellen.“<br />

„Heute ist aber Freitag. Wieso schreiben <strong>Sie</strong> dann auf Ihre<br />

Karte Samstag?“<br />

Manche Fragen werden auch von netten Telefonstimmchen<br />

nicht beantwortet. In Schulungen bekommt man beigebracht,<br />

auf verärgerte Kunden am besten gar nicht zu reagieren. Die<br />

beruhigen sich schon wieder von ganz allein.<br />

„Ich funke den Fahrer an, der kann sich mit dem Fahrer,<br />

der die Sendungen für die Hauptpost ausliefert, treffen und<br />

ihm das Paket geben. Heute Nachmittag ist Ihr Pass dann da!“<br />

Um die Sache abzukürzen: das hat natürlich nicht geklappt<br />

und unter lautem Fluchen mit übelsten Vergleichen zwischen<br />

Neuseeland und der dritten Welt verließ ich am Freitag entnervt<br />

die Hauptpost. Mittlerweile habe ich aber meinen Pass.<br />

Mir war auch neu, dass sich aus der Beantragung eines<br />

Internetanschlusses heutzutage ein modernes Abenteuer entwickeln<br />

könnte. Nor<strong>mal</strong>es Dial-In und Abrechnung über die<br />

Telefonrechnung gibt es in Neuseeland nicht. Man muss einen<br />

Pre-Paid-Vertrag abschließen und bekommt dann die Telefonnummer,<br />

einen Benutzernamen und ein Zugangspasswort.<br />

Schon wieder eine Kundendienstnummer eines ehe<strong>mal</strong>igen<br />

Monopolisten.<br />

„Schicken <strong>Sie</strong> mir bitte ein Formular, damit ich Ihnen eine<br />

Einzugsermächtigung geben kann?“ Das englische Wort für<br />

„Einzugsermächtigung“ hatte ich vorher selbstverständlich<br />

nachgeschlagen. Die Benutzung bestimmter Fachbegriffe in<br />

der Umgangssprache assoziiert: „Nicht übel, der kann aber gut<br />

englisch sprechen.“<br />

„Gern, das schicken wir Ihnen zu. Nach fünf Tagen wird Ihr<br />

Konto auf unserem Server freigeschaltet und <strong>Sie</strong> können dann<br />

das Internet von zu Hause aus benutzen. Thanks for choosing<br />

paradise.net.”<br />

Bitteschön. Ein ausgefülltes Formular. Nun sehen einige<br />

europäische Zahlen anders aus als die, die im englischsprachigen<br />

Raum benutzt werden. Meine Bank konnte leider die<br />

<strong>Sie</strong>ben auf dem Antrag nicht als <strong>Sie</strong>ben entziffern und schickte<br />

die Einzugsermächtigung zurück an paradise.net. Davon<br />

wusste ich allerdings nichts. Ich erhielt kommentarlos einen<br />

neuen Vordruck.<br />

„Was soll ich damit?“<br />

„Bitte schicken <strong>Sie</strong> dieses Formular ausgefüllt an uns<br />

zurück.“<br />

„Habe ich doch schon.“<br />

„Ja, aber in der Kontonummer waren so komische Zeichen.“<br />

„Bitte, wir machen das jetzt <strong>mal</strong> ganz anders. Ich gebe Euch<br />

meine Kreditkartennummer und Ihr bucht von dort ab.“<br />

„Wenn <strong>Sie</strong> das so wünschen, dann machen wir das so. <strong>Sie</strong><br />

müssen aber ein Kreditkartenformular ausfüllen.“<br />

Ich glaube, dass man die Gereiztheit in meiner Stimme bei<br />

meiner nicht so netten Antwort deutlich wahrnehmen konnte.<br />

„Na gut“, sagte die freundliche Stimme, „ich schalte <strong>Sie</strong> jetzt<br />

frei, schicke Ihnen das Formular für die Kreditkarte zu und <strong>Sie</strong><br />

füllen das aus.“<br />

Nun sehen einige europäische<br />

Zahlen anders aus als<br />

die, die im englischsprachigen<br />

Raum benutzt werden.<br />

Meine Bank konnte leider<br />

die <strong>Sie</strong>ben auf dem Antrag<br />

nicht als <strong>Sie</strong>ben entziffern...


44 Wo zum Teufel liegt Herbertville? Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

45<br />

aber nicht gegen den Nachbarn Australien. <strong>Sie</strong>gen ist hier<br />

Pflicht. Aber da die Neuseeländer nicht nachtragend sind, ist<br />

es nicht wirklich schlimm, wenn auch <strong>mal</strong> ein Spiel verloren<br />

wird. Das Bier danach im Pub schmeckt dann nicht schlechter,<br />

als nach einem gewonnenen Spiel.<br />

Mit diesem <strong>Buch</strong> kann der Leser die schönsten <strong>Sie</strong>gesbilder<br />

und Erinnerungen noch ein<strong>mal</strong> Revue passieren lassen.<br />

9. 100 Bücher, die niemand braucht<br />

Selten habe ich einen so selbstbeschreibenden <strong>Buch</strong>titel<br />

gelesen.<br />

10...<br />

Na ja, die Liste kann endlos weitergeführt werden. Ich bin<br />

zuversichtlich, dass die derzeit bestehende Lücke in sehr naher<br />

Zukunft geschlossen wird. Bizzy Bee’s Bookshop liegt gleich<br />

um die Ecke.<br />

Neuseeländische Problemlösungen<br />

Während meines Studienaufenthaltes habe ich eine weitere,<br />

durchaus bemerkenswerte intellektuelle Auseinandersetzung<br />

mitbekommen. Angeblich unterhalten sich<br />

Neuseeländer auf Partys und sonstigen Festivitäten nur über<br />

Immobilienpreise und das Wetter. Damit kokettieren sie ein<br />

wenig, natürlich stimmt das so nicht. Neben vielen anderen<br />

Themen wie Rugby (bei uns Fußball), Politik (bei uns Frau<br />

Merkel und so weiter) und – je nach Geschlecht – Frauen<br />

oder Männer (das ist dasselbe wie bei uns) scheint ein wichtiges<br />

Gesprächsthema vor allem in Intellektuellenkreisen die<br />

Gemüter zu erregen: das Hase-Ente-Dilemma. (The Essential<br />

Rabbit-Duck-Problem).<br />

Es handelt sich hierbei um ein Bild, auf dem entweder<br />

eine Ente oder ein Hase zu sehen ist. Man kann es wortwörtlich<br />

so drehen und wenden, wie man will, das Dilemma<br />

bleibt bestehen. Wir sehen entweder einen Hasen oder eine<br />

Ente, aber nicht beides zusammen. Das nennt sich reversible<br />

Figur – nicht zu verwechseln mit einer Illusion. Mit diesem<br />

bedeutenden Problem haben sich ganze Philosophengenerationen<br />

auseinandersetzen müssen, denn es wirft die Frage<br />

auf, was „sehen“ eigentlich bedeutet. Jastrow, nicht, wie weit<br />

verbreitet angenommen, Wittgenstein, hat sich zuerst damit<br />

beschäftigt. Wittgenstein hat es nur verwendet, um seine<br />

logische Philosophie anschaulich zu verdeutlichen. Feldversuche<br />

um die Osterzeit haben ergeben, dass Kinder in der<br />

Figur eher einen Hasen, im Oktober dagegen eher eine Ente<br />

erkennen. Sehen hängt also deutlich mit bestimmten Assoziationen<br />

zusammen und scheint subjektiv beeinflussbar zu<br />

sein. Das Dilemma bleibt allerdings bestehen: ist es ein Hase<br />

– oder eine Ente?<br />

Das Thema ist als Gesprächsstoff unerschöpflich und<br />

lässt sich je nach Höhe des Intoxikationsgrades beliebig<br />

erweitern. Ich habe erlebt, wie die Köpfe einiger Neuseelän-<br />

Angeblich unterhalten sich<br />

Neuseeländer auf Partys<br />

und sonstigen Festivitäten<br />

nur über Immobilienpreise<br />

und das Wetter.


46 Wo zum Teufel liegt Herbertville? Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

47<br />

„Serge, it is not hair, it is a<br />

duck!”<br />

der nach dem Genuss unzähliger Flaschen Rotwein langsam<br />

die Farbe des Merlots in den Gläsern annahmen, weil sie<br />

sich in intensiven Diskussionen über das Ente-Hase-Problem<br />

die Gemüter erhitzten. Vor allem die Abwandlung<br />

eines berühmten englischen Kellnerwitzes unter Berücksichtigung<br />

dieses Dilemmas stand im Mittelpunkt der Diskussionen.<br />

Der Witz macht nur auf Englisch Sinn, sodass ich<br />

hier keine Übersetzung angebe.<br />

Guest: “Waiter, there is a hare in my soup.”<br />

Waiter: “Do you mean “hair”, Sir?”<br />

Guest: “No, I mean “hare”.<br />

Waiter: “Oh no, it is a duck!”<br />

Das Ding ist grandios, oder? Es ist einer der besten<br />

Witze, die es gibt – wenn man ihn denn versteht, was ohne<br />

ein gewisses intellektuelles Niveau nahezu ausgeschlossen<br />

ist. Nach der schwierigen Entwicklung dieses Witzes als<br />

besten geme<strong>ins</strong>amen Nenner zur Erklärung des Problems<br />

war uns leider der Wein ausgegangen, denn wir alle – und<br />

vor allem meine intellektuell ausgelaugten Freunde – hatten<br />

es verdient, nach getaner Denkarbeit noch ein paar überflüssige<br />

Hirnzellen in Merlot zu ertränken. Also Jacke an,<br />

Geld eingesteckt und schnell zum Liquorshop unten an der<br />

Majoribanks gelaufen. Dieser Laden ist mein Lieblingsalkoholgeschäft,<br />

weil jedes Mal absolut schräge Typen bedienen.<br />

Der Eigentümer stellt nur wahnsinnige Paradiesvögel<br />

ein. An diesem Abend stand Serge, ein homosexueller, zwei<br />

Meter großer Farbiger, hinter der Kasse.<br />

„Hi Alex, you German beauty, how are you?“, flötete Serge<br />

mich an, aber außer einem „Good, how are you?” brachte ich<br />

aufgrund meines Alkoholmissbrauchs nichts mehr heraus.<br />

Ich holte zwei Flaschen aus dem Regal und ging zur Kasse.<br />

„Two Merlots? And, oh, you have real nice hair today!“<br />

Serge sparte <strong>mal</strong> wieder nicht mit Komplimenten, aber<br />

meine Antwort ließ ihn schon ein wenig an meinem Verstand<br />

zweifeln.<br />

„Serge, it is not hair, it is a duck!”<br />

Essentielle Problemlösungen sind nur etwas wert, wenn<br />

sie in der Praxis angewendet werden können. Die zwei Flaschen<br />

waren schnell geleert und wir von einer wahrhaft<br />

produktiven oder gar innovativen Lösung des Ente-Hase-<br />

Problems genauso weit entfernt wie am Anfang des Abends.


48 Wo zum Teufel liegt Herbertville?<br />

Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

49<br />

Die Stühle in Kaikoura sind<br />

ähnlich groß wie Hummer<br />

Hummeressen in Hummeressen<br />

Es gibt da einen wahnsinnig schönen Ort in Neuseeland.<br />

Wahrscheinlich gibt es auch noch mehrere, soviel habe ich ja<br />

noch nicht gesehen. Manch<strong>mal</strong> klingt es ein wenig pathetisch,<br />

aber ich bin davon überzeugt, dass es so etwas wie magische<br />

Orte gibt. Orte, an denen die Atmosphäre irgendwie anders ist.<br />

Die Menschen, die an solchen Orten wohnen, unterscheiden<br />

sich von anderen. Man empfindet das Wetter als besonders. Es<br />

gibt so viele Gründe, warum ein Ort magisch sein kann, wie es<br />

Menschen gibt. Man kann zwar nicht so genau erklären, worin<br />

der eigentliche Unterschied zu herkömmlichen Orten wie<br />

Schwieberdingen bei Stuttgart denn nun tatsächlich besteht,<br />

aber irgendetwas muss ja anders sein. Ausschlaggebend ist<br />

natürlich die persönliche Empfindung und man muss ja nicht<br />

immer alles erklären können. Dies unterscheidet die Naturwissenschaftler<br />

von den Geisteswissenschaftlern. Naturwissenschaftler<br />

wollen immer alles erklärt bekommen und geben<br />

nicht auf, bevor sie nicht eine zufriedenstellende Antwort oder<br />

umfassende Lösung haben. Diese Eigenschaft ist von hohem<br />

Nutzen, wenn es um die Erforschung und Weiterentwicklung<br />

von Computerchips oder um die Planung von Marsmissionen<br />

für kleine, ferngesteuerte Raupenfahrzeuge mit vielen Kameras<br />

geht, die viele überflüssige Bilder von der Marsoberfläche zur<br />

Erde funken, bei deren Anblick ganze Forscherhorden in „Ahs“<br />

und „Ohs“ verfallen, der herkömmliche Betrachter aber bloß<br />

roten Sand erkennen kann. Aber für das Auffinden von magischen<br />

Orten ist sie vollkommen nutzlos.<br />

Der Ort, den ich meine, heißt Kaikoura und liegt an der<br />

nördlichen Ostküste der Süd<strong>ins</strong>el. (Anmerkung: Es ist mir nunmehr<br />

in meiner kreativen Schaffenszeit erst<strong>mal</strong>ig gelungen, drei<br />

Himmelsrichtungen in einem Satz zur genauen geographischen<br />

Lokalisierung unterzubringen, ohne Verwirrung zu stiften.<br />

Eine genaue geographische Bezeichnung, die alle vier Himmelsrichtungen<br />

enthält, ist meines Erachtens nicht möglich.)<br />

Kaikoura heißt für alle, die nicht Maori beherrschen, übersetzt<br />

„Hummeressen“. Ich finde es gut, wenn Orte so heißen,<br />

dass man genau weiß, was da Sache ist. Mit Städtenamen in<br />

Deutschland funktioniert das meistens nicht so gut, wenigstens<br />

nicht bei Berlin oder München. Und wen interessiert schon,<br />

dass Frankfurt ein<strong>mal</strong> eine Furt für Handelswege durch den<br />

Main war? Spätestens seit dem Bau der ersten Brücke und der<br />

Frankfurter Börse niemanden mehr, weil man jetzt seine Handelsgeschäfte<br />

abschließen kann, ohne nasse Füße zu kriegen.<br />

Kalte Füße kann man allerdings auch noch in der modernen<br />

Businesswelt bekommen, und deswegen ist Frankfurt auch<br />

kein magischer Ort, sondern eher langweilig, und wird auch<br />

nie einer werden. Es sei denn, man muss den Main irgendwann<br />

ein<strong>mal</strong> wieder abenteuerlich in einer Furt durchwaten.<br />

Wenn man mit dem Motorrad der Küstenstraße in Richtung<br />

Norden folgt, dann fährt man irgendwann eine Kurve<br />

um eine Klippe. Rechts hat man den Pazifik, links die Berge<br />

und vor einem den grandiosen Blick auf die Kaikoura Pen<strong>ins</strong>ula<br />

und den 2.610 Meter hohen, schneebedeckten Gipfel des<br />

Manakau, des höchsten Berges der Seaward Kaikoura Range. In<br />

diesem Moment bleibt einem nichts anderes übrig, als in einer<br />

verdammt gefährlichen Kurve anzuhalten, weil man sonst vor<br />

Staunen glatt vergessen würde, Gas zu geben, und dann vom<br />

Motorrad fallen würde. Anhalten ist also zum Staunen besser.<br />

Man nimmt den Helm ab und staunt. Es geht zwar auch mit<br />

Helm, aber die Qualität des Staunens ist erhöht, wenn man die<br />

ungetrübte akustische Wonne der Meeresbrandung ohne die<br />

geräuschdämmende Wirkung des Helmes wahrnehmen kann.<br />

Das rundet das Ganze erst ab und macht es zu einem, sagen<br />

wir <strong>mal</strong>, schönen Erlebnis. Anstelle des brachialen Dröhnens<br />

der frisierten und damit unverschämt lauten Auspufftüten<br />

– was zugegebenermaßen natürlich auch seinen Reiz hat, vor<br />

allem, wenn man durch einen Tunnel fährt – hört man also<br />

das Meer.<br />

Meeresrauschen ist ein ziemlich essentieller Bestandteil von<br />

magischen Orten. Logischerweise gilt diese Qualitätsklassifi-<br />

Kaikoura heißt für alle, die<br />

nicht Maori beherrschen,<br />

übersetzt „Hummeressen“.


50 Wo zum Teufel liegt Herbertville? Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

51<br />

Es gibt kaum etwas Bes-<br />

seres, als sich morgens an<br />

einer heruntergekommenen<br />

Fischerbude namens „Nin’s<br />

Bin“, direkt am Küstenhigh-<br />

way gelegen, von Nin den<br />

frischen nächtlichen Fang<br />

kochen zu lassen und mit<br />

heißer Butter und einem<br />

Blick auf den Pazifik zu<br />

genießen.<br />

zierung nur für Orte, die auch tatsächlich am Meer liegen. Ich<br />

will damit sagen, dass es natürlich auch ein paar magische Orte<br />

gibt, die nicht am Meer liegen, aber das sind nicht so viele und<br />

sie heißen schon gar nicht „Hummeressen“. Ich liebe Hummer<br />

– „Crayfish“, wie er hier genannt wird. Es gibt kaum etwas Besseres,<br />

als sich morgens an einer heruntergekommenen Fischerbude<br />

namens „Nin’s Bin“, direkt am Küstenhighway gelegen,<br />

von Nin den frischen nächtlichen Fang kochen zu lassen und<br />

mit heißer Butter und einem Blick auf den Pazifik zu genießen.<br />

Wenn man Glück hat und es gerade Ebbe ist, dann verstärkt<br />

sich der Geruch noch, der vom Meer her kommt, und so sind<br />

fast alle Sinne beteiligt: Schmecken, Riechen und Sehen. Es soll<br />

ja allerdings auch Leute geben, die Hummer mit anderen Dips<br />

essen, wie Chilisoße oder Mayonnaise, aber die haben ja keine<br />

Ahnung, denn sie verfälschen damit nur den wunderbaren<br />

Geschmack des Hummers.<br />

Außer Hummer gibt es noch einige andere Tiere, die sich<br />

im Wasser vor der Küste tummeln. Relativ nah an der Küste<br />

befindet sich ein 2.000 Meter tiefer unterseeischer Canyon. In<br />

solchen Wassertiefen findet der Sperm Whale seine Nahrungsgrundlage.<br />

Nun, die Bezeichnung „Sperm Whale“ sollte nicht<br />

wörtlich übersetzt werden, denn einen Sperma-Wal gibt es bei<br />

aller Zoologik nicht, es handelt sich vielmehr um einen Pottwal,<br />

den „Physeter Macrocephalus“.<br />

Natürlich kann man auch Ausflüge mit Walbesichtigungsbooten<br />

unternehmen, und leider lässt es sich nicht vermeiden,<br />

dass die ganze Sache ziemlich touristisch aufgezogen ist.<br />

Die Walbesichtigungsindustrie ist Hauptwirtschaftsfaktor der<br />

Stadt. Merkwürdigerweise enden hier in Neuseeland alle Wirtschaftszweige<br />

irgendwie auf „Industry“, was sich für meine<br />

Ohren ein wenig großspurig anhört, wenn man es wörtlich<br />

übersetzt: die Energieindustrie, die Hummerindustrie oder<br />

die Outdoorindustrie. Interessant ist, dass sich diese Bezeichnung<br />

nicht nur auf legale, sondern auch auf illegale berufliche<br />

Tätigkeiten bezieht. So wird auch der gewerbsmäßige Groß-<br />

und Einzelhandel mit verbotenen berauschenden Substanzen<br />

„Drogenindustrie“ genannt, wobei einem nicht der assoziative<br />

Fehler unterlaufen darf, anzunehmen, dass es sich hier nur um<br />

synthetisch hergestellte Mittelchen handeln würde. Nein, auch<br />

die natürlichen bewusstse<strong>ins</strong>erweiternden Produkte sind im<br />

fein diversifizierten Portfolio der Industrie enthalten.<br />

Zurück zu den Walen. Als ich zum Walbesichtigungscenter<br />

fuhr, fiel mir mit meinem über Jahre geschulten Blick für<br />

Absonderlichkeiten und Absurditäten ein Straßenschild auf,<br />

auf dem zu lesen war: „Reduce Speed. Sperm Whale Bump<br />

Ahead“, was soviel heißt wie „Runter vom Gas. Da vorne ist<br />

ein Pottwal-Buckel.“ Ich gebe zu, dass die Übersetzung ein bisschen<br />

schräg klingt, aber das liegt nur daran, dass ich nicht den<br />

blassesten Schimmer habe, wie diese Buckel heißen, die in verkehrsberuhigten<br />

Zonen auf der Straße zu finden sind. Ende der<br />

80er Jahre hatte der da<strong>mal</strong>s rot-grüne Berliner Senat nach dem<br />

sensationellen <strong>Sie</strong>g über die CDU überall in den Seitenstraßen<br />

im Zentrum Westberl<strong>ins</strong> diese Buckel bauen lassen, damit die<br />

Bürger genervt waren und häufiger mit dem Bus fuhren. Da<strong>mal</strong>s<br />

wurden diese Buckel von der Berliner Schnauze „Momperhügel“<br />

benannt, nach dem Bürgermeister Walter Momper. Nach<br />

der nächsten Wahl und dem daraus resultierenden Machtverlust<br />

für Rot-Grün waren die Buckel dann auch ganz schnell<br />

wieder weg, und damit auch die Bezeichnung. Wie heißen bloß<br />

diese Dinger? Ich bin mir sicher, dass es dafür einen amtlichen<br />

Ausdruck gibt.<br />

Auf der Straße befand also ein „Bump“ in Form eines Pottwals<br />

und da die Straße ziemlich breit war, hatte man einen Pottwal-Bump<br />

in Originallänge auf den Asphalt gesetzt. Man möge<br />

es mir glauben, rein vom psychologischen und emotionalen<br />

her betrachtet, macht es einen deutlichen Unterschied, ob man<br />

über einen hundsgewöhnlichen Verkehrsberuhigungsbukkel<br />

oder einen in Pottwalform fährt. Ich meine, festgestellt zu<br />

haben, dass die Fahrzeuge tatsächlich mit der Geschwindigkeit<br />

heruntergingen, bevor sie den Wal überquerten – als wollten<br />

sie ihn nicht verletzen. An magischen Orten gehen Autofahrer<br />

also vom Gaspedal, weil sie einem Pottwal, der in Zement


52 Wo zum Teufel liegt Herbertville? Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

53<br />

Weil die Kaikourianer ganz<br />

genau wissen, an was für<br />

einem besonderen Ort sie<br />

leben, haben sie für ihre<br />

Region auch ein marketing-<br />

gerechtes Label kreiert:<br />

das Ganze ist nämlich das<br />

gegossen als Verkehrsberuhigungsbuckel auf der Straße liegt,<br />

nicht wehtun wollen. Vielleicht hatten sie aber auch bloß Angst,<br />

dass sie sich die Achse beschädigen – das Ding war nämlich<br />

verdammt hoch.<br />

Weil die Kaikourianer ganz genau wissen, an was für einem<br />

besonderen Ort sie leben, haben sie für ihre Region auch ein<br />

marketinggerechtes Label kreiert: das Ganze ist nämlich das<br />

„Alpine Pacific Triangle“. Ein Vorteil dieses Dreiecks ist, dass<br />

man an einem Samstagmorgen im Juli nach dem Aufstehen <strong>mal</strong><br />

locker und unglaublich cool sich und/oder seinem eventuellen<br />

Partner oder Partnerin folgende Frage stellen kann: „Schatzi<br />

(dieser wirklich einfallslose Kosename ist geschlechtsneutral,<br />

so bin ich nicht gezwungen, politisch korrekt beide Formen zu<br />

verwenden; ansonsten interessieren mich politische Korrektheiten<br />

aber einen Teufel!), was wollen wir den heute machen?<br />

Hast du Lust auf Hochseeangeln oder wollen wir lieber Skilaufen?<br />

Oder vielleicht beides?“ An welchem verdammten Ort auf<br />

unserem Planeten kann man noch diese Frage stellen? Ich hätte<br />

bei dieser Frage ein unglaublich unverschämtes Gr<strong>ins</strong>en im<br />

Gesicht und würde mich an den Spruch meines Freundes dirki<br />

erinnern: „Wenn das das Leben ist, dann hat man mich doch<br />

nicht beschissen.“<br />

Wo wir schon ein<strong>mal</strong> beim Bescheißen sind, kann ich auch<br />

noch über die Seehunde schreiben, die auf der Kaikoura Pen<strong>ins</strong>ula<br />

eine Kolonie errichtet haben. Ich bin mir nicht sicher, ob<br />

man die Ansiedlung von Seehunden an einem Küstenstreifen<br />

Kolonisierung nennt – die Erklärung des Begriffs in der Enzyklopädie<br />

bezieht sich nur auf Menschen, nicht auf Seehunde.<br />

Ihre Kolonien kann man jedenfalls bei Windstille schon aus<br />

einiger Entfernung wahrnehmen, es stinkt nämlich erbärmlich<br />

nach Seehundkacke. Ich finde, dass bei bestimmten Gerüchen<br />

der Begriff „Exkrement“ die Realität nicht adäquat wiedergibt.<br />

Bei Seehunden ist das der Fall, aber wahrscheinlich würde es<br />

beim Menschen auch nicht anders riechen, wenn dieser sich<br />

ausschließlich von rohen, unausgenommenen Fischen und<br />

Muscheln ernähren würde.<br />

In Kaikoura kann man mit Seehunden im offenen Meer<br />

schwimmen und das ist ein besonderes Erlebnis. Die Viecher<br />

sind neugierig und machen verrückte Sachen im Wasser. Aber<br />

sie stinken erbärmlich und das drängt sie offensichtlich in der<br />

maritimen Welt in eine Außenseiterrolle, sonst würden sie ja<br />

keine Kolonie an Land errichten. Vielleicht haben sie das aber<br />

auch nur gemacht, weil es in Kaikoura so schön ist.<br />

Jedes kleine und große Paradies hat irgendwelche Nachteile.<br />

Schon seit der Entstehungsgeschichte in der Bibel wissen<br />

wir, dass nicht alles perfekt ist. Man kann sich durchaus darüber<br />

streiten, welche der vier Komponenten – Adam, Eva, die<br />

Schlange oder der Apfel – die Affären im biblischen Paradies<br />

aus dem Ruder laufen lassen haben. Ich ganz persönlich bin der<br />

Meinung, dass das Nichtvorhandensein von Bier für die Konfusion<br />

ausschlaggebend war. Ich habe von Religion allerdings<br />

keine Ahnung. Aber wenn dort schon nicht alles rund lief,<br />

dann ist es doch kein Wunder, dass sich auch in Neuseeland bei<br />

genauerer Betrachtung ein paar gravierende Haken auftun.<br />

Schlimmer als Biernotstand sind Sandfliegen. Die Viecher<br />

findet man überall da, wo es Sand und Wasser gibt. Wenn<br />

man von einem Neuseeländer vor irgendetwas gewarnt wird<br />

(Erdbeben, Taifune, Haie, Sandfliegen), dann sollte man das<br />

zumindest im Falle der Sandfliegen durchaus nicht mit einem<br />

lässigen Schulterzucken abtun. Die Biester sind ziemlich klein,<br />

vielleicht so zwei Millimeter groß, und man bemerkt sie erst,<br />

wenn sie zugebissen haben. Natürlich klatscht man sie dann<br />

platt, und viele Sandfliegen haben auch an meinen Armen und<br />

Beinen ihr Leben im heroischen Kampf um Nahrung gelassen.<br />

Aber um in der Militärsprache zu bleiben: die Verwundungen<br />

in meinen Reihen waren zahlreich und schmerzhaft. Meine<br />

Ignoranz gegenüber den Warnungen meiner gr<strong>ins</strong>enden neuseeländischen<br />

Freunde hat mein Leben um einige schmerzhafte<br />

Momente bereichert. Das Problem ist, dass da, wo eine<br />

Fliege zubeißt und erschlagen wird, sogleich eine zweite, dritte<br />

– und so fort – auftaucht und dir den Krieg erklärt. Ohne chemische<br />

Keule führt man dann in kürzester Zeit an allen Ecken<br />

„Alpine Pacific Triangle“. In Kaikoura kann man mit<br />

Seehunden im offenen Meer<br />

schwimmen und das ist ein<br />

besonderes Erlebnis.


54 Wo zum Teufel liegt Herbertville? Neuseeland – die Welt von unten gesehen 55<br />

und Enden quasi einen Vielfrontenkrieg. Mit etwa 20 Stichen<br />

ist man schon gut bedient, aber danach geht die Leidenszeit<br />

erst richtig los. Ein stinknor<strong>mal</strong>er mitteleuropäischer Mückenstich<br />

ist dagegen lächerlicher Kinderkram. So ein Biss tut eine<br />

Woche lang höllisch weh und man wird durch unablässigen<br />

Juckreiz daran erinnert, dass man Kiwiwarnungen nicht achtlos<br />

ignorieren sollte.<br />

Zum Glück gibt es in allen Supermärkten und Apotheken<br />

ganze Regale gefüllt mit Sprays, die die Biester fernhalten. Auf<br />

alle Dosen sind große Totenköpfe gedruckt, die die Hochgiftigkeit<br />

des Mittels symbolisieren. Egal wie schädlich das Zeug<br />

für die Haut ist, es ist alle<strong>mal</strong> besser, als als Nahrungsmitteldepot<br />

für Sandfliegen zu dienen. Ich vertraue dem Insektenspray<br />

„Bushman Plus – entwickelt in Australiens tropischem Norden“.<br />

Wer schon ein<strong>mal</strong> in seinem Leben im tropischen Norden<br />

Australiens war, der weiß, dass dort einiges mehr an nahrungssuchendem<br />

Ungeziefer geräuschvoll durch die Lüfte schwirrt<br />

als in Neuseeland. Nebenbei bemerkt, besitzt ein hochpreisiges<br />

Parfüm für die Dame, welches von einer Firma hergestellt wird,<br />

die im Kerngeschäft hochwertige Herrenanzüge produziert, ein<br />

großes Outlet in Metzingen betreibt und deren Name auch ein<br />

Synonym für „Chef “ ist, genau die gleiche Wirkung auf Sandfliegen<br />

wie „Bushman Plus“ – wobei ich finde, dass letzteres<br />

deutlich angenehmer riecht. Dieser Damenduft wird von Sandfliegen<br />

gehasst und die Firma könnte sich überlegen, ob sie ihr<br />

Portfolio, bestehend aus Anzügen, Parfüms und Sonnenbrillen,<br />

nicht zumindest in Neuseeland und Australien um Insektenspray<br />

erweitern sollte.<br />

Ein weiterer wesentlicher Standortnachteil dieses Paradieses<br />

sind „Pies“. Das sind Pasteten, die in Blätter- oder Mürbeteig<br />

verpackt sind. An jeder Tankstelle, in Pubs und Dairies<br />

bekommt man diese merkwürdigen Dinger. <strong>Sie</strong> liegen in Wärmeschränken,<br />

die einen verdammt an die Biologiestunden in<br />

der Grundschule erinnern, wo man in solchen Apparaturen<br />

Bakterienkolonien oder Schimmelpilze gezüchtet hat, die man<br />

hinterher unter dem Mikroskop betrachten konnte. Wo andere<br />

Nationen Bakterien züchten, lagert der Neuseeländer seine Pies.<br />

Womit die Pasteten genau gefüllt sind, steht auf kleinen Kärtchen,<br />

aber ob die Information auf der Karte auch mit dem tatsächlichen<br />

Inhalt übere<strong>ins</strong>timmt, wage ich in Zweifel zu ziehen.<br />

Wenn die Pies nicht in einem Wärmeschrank liegen, dann in<br />

einer Kühltheke. <strong>Sie</strong> werden vor dem Verzehr in einer Mikrowelle<br />

schnell aufgewärmt, sodass die Soße darin kochend heiß<br />

wird und man sich beim ersten, ahnungslosen „Genuss“ den<br />

Gaumen verbrennt. Das Gefühl ist ungefähr so, als wenn man<br />

in eine zu heiße Pizza beißt, der Unterschied besteht lediglich<br />

in der Konsistenz, die bei Pies an einen alten Schwamm erinnert.<br />

Alleinreisenden Neuseelandfahrern sei vor allem in entlegeneren<br />

Gebieten vom Konsum dieser „Spezialität“ abgeraten,<br />

weil man danach in der Regel jemanden braucht, der Hilfe holt,<br />

während man sich selbst mit Magenkrämpfen auf dem Boden<br />

windet. Die Neuseeländer sind ganz wild auf ihre Pies und<br />

essen sie am liebsten mit Ketchup. Für Mägen, die eher andere<br />

Speisequalitäten gewohnt sind, stellt der Verzehr so etwas wie<br />

eine Mutprobe dar. Ich habe mich diesem Wagnis erst- und<br />

letzt<strong>mal</strong>ig in dem Ort „Arthur’s Pass“ im Restaurant „Swiss<br />

Chalet“ gestellt. Widerwillig meisterte ich auch diese Herausforderung,<br />

aber die Weiterfahrt nach Christchurch war keine<br />

Freude, weil das Motorengeräusch in immer kürzeren Abständen<br />

von fiesen Lauten aus meinem Magen übertönt wurde, die<br />

sich mangels anderer Nahrungsaufnahme nur durch den Verdauungsprozess<br />

eines Beef-Meatpies ergeben haben können.<br />

Seitdem mache ich voller Respekt einen großen Bogen um<br />

Pies und hungere lieber, als mir das noch ein<strong>mal</strong> anzutun. Vor<br />

einem Laden, der sich „One Dollar Pies“ nennt, sollte man sich<br />

besonders in Acht nehmen, denn er erfüllt meines Erachtens<br />

schon allein dem Namen nach den Tatbestand der gefährlichen<br />

Körperverletzung, wobei die Qualifikation „mit Todesfolge“<br />

nicht aus den Augen gelassen werden sollte.<br />

Die Magie von Kaikoura basiert auch darauf, dass es dort<br />

weder Sandflies noch Pies gibt.<br />

Am Arthur‘s Pass


62 Wo zum Teufel liegt Herbertville? Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

63<br />

Bed & Breakfast Sea Breeze:<br />

Cafer und Fiona Unac, 281<br />

Marine Parade, Napier,<br />

Telefon: 0064-6-8358067,<br />

E-Mail: Seabreeze.<br />

Napier@xtra.co.nz.<br />

Feiertags in Neuseeland<br />

Ich komme aus einem überregulierten Land. Grundsätzlich<br />

sind Regeln ja sinnvoll, schließlich kann man seinem Nachbarn<br />

nicht einfach den Schädel e<strong>ins</strong>chlagen, nur weil er im<br />

Spätsommer Kirschen von einem Baum geklaut hat, dessen<br />

Zweige zufällig über seinem Grundstück hängen. Vor allem<br />

Kinder würden dann ja zu Zeiten der Kirschernte Opfer blutiger<br />

Gemetzel werden. Da es in unserer Gesellschaft irgendwie<br />

nicht angemessen erscheint, kirschenklauenden Kindern den<br />

Schädel einzuschlagen, hat der Gesetzgeber dies verboten. Nun<br />

steht in unseren Gesetzen nicht „Kinder, die Kirschen klauen,<br />

dürfen nicht erschlagen werden“, sondern das Ganze ist von<br />

Juristen so abstrakt formuliert worden, dass es zum Beispiel<br />

auch auf Tomaten oder Birnen und sogar Geld anwendbar ist,<br />

und auch auf Menschen, die keine Kinder mehr sind. Da man<br />

schon seit Jahren nichts von spätsommerlichen, in Schrebergärten<br />

stattfindenden Kinderdahinmetzeleien gehört hat, scheint<br />

das Gesetz Wirkung zu haben und ist somit guten Gewissens<br />

als sinnvoll zu bezeichnen. Es gibt aber auch viele Gesetze, die<br />

– man möge mir den Ausdruck verzeihen – kranken Gesetzgeberhirnen<br />

entsprungen sein müssen, da niemand weiß, wozu<br />

diese Gesetze nötig sind. In Deutschland nennt man solche<br />

Gesetze Bundesgesetze.<br />

Wie in jedem Land, gibt es solche Gesetze auch in Neuseeland.<br />

Zu Ostern habe ich die Konfrontation mit einem besonders<br />

absurden Gesetz erleben dürfen. Ich hatte in Napier ein<br />

kleines Bed & Breakfast mit drei wunderschönen Zimmern<br />

entdeckt, welches der Besitzer, Cafer, in vierjähriger Arbeit<br />

hergerichtet hatte. Erst traute ich mich gar nicht nachzufragen,<br />

weil es so teuer aussah. Aber der Preis, die Gastfreundschaft,<br />

das Design mit Liebe zum Detail, das Frühstück und die Lage<br />

sind unvergleichlich. Das Doppelzimmer kostet zwischen $ 80<br />

und $ 110 und jeder Dollar davon lohnt sich. Als ich am Ostersonntag-Abend<br />

gerade auf dem Weg zu meiner Unterkunft war,<br />

kam ich auf der Marine Parade an einem kleinen Restaurant<br />

mit angeschlossener Bar vorbei. Der Laden sah schrecklich aus<br />

und es roch nach richtig ranzigem Fett, aber eine aufregende<br />

Cocktailkarte lächelte mich von der Wand an: „Alle Cocktails<br />

nur 6 Dollar. Immer“, war auf der Tafel zu lesen. Solche Schilder<br />

machen mich neugierig und misstrauisch zugleich. Sechs<br />

Dollar sind umgerechnet ungefähr drei Euro. Nur am Rande<br />

bemerkt sei, dass für Deutsche, die beim Einkaufen immer<br />

noch heimlich den Euro in Deutsche Mark umrechnen, Neuseeland<br />

schöne Erinnerungen wachrufen könnte, denn ein neuseeländischer<br />

Dollar entspricht derzeit etwa dem Gegenwert<br />

einer Mark. Man kann hier quasi mit DM einkaufen. Für drei<br />

Euro bekommt man keinen anständigen Cocktail. Bei solchen<br />

Preisen gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder die Getränke<br />

sind gut und preiswert oder sie sind preiswert und schlecht.<br />

Nor<strong>mal</strong>erweise ist letzteres der Fall. Ich ging also in die Bar und<br />

bestellte einen „Sex on the Beach“, der Name des Getränks ist<br />

fürchterlich, aber das Zeug schmeckt lecker.<br />

Mein Misstrauen in die Qualität der kredenzten Produkte<br />

wuchs sprunghaft an, als ich den Kellner, der meine Bestellung<br />

aufgenommen hatte, aus einer Schublade einen Karteikartenkasten<br />

herausholen sah. Offensichtlich suchte er die Karte mit<br />

der Rezeptur für einen „Sex on the Beach“, um mir dann in<br />

einem Halbliterbierglas einen Cocktail zu mixen. Der Cocktail<br />

war die volle Ladung mit guter Qualität. In einem solchen Fall<br />

lohnt es sich tatsächlich, einen neuen Plan zu machen und den<br />

Zeitpunkt des Nachhausegehens nach hinten zu verschieben.<br />

Der „Sex on the Beach“ war schnell vorbei (doofes Wortspiel,<br />

langweilig und einfallslos, aber man kann ja nicht immer in<br />

Bestform sein) und ich wollte einen zweiten Drink bestellen,<br />

einen „Cuba Libre“. Im Deutschen gibt es meiner Meinung<br />

nach keine wirklich treffende Übersetzung für den englischen<br />

Begriff „smooth“, aber wenn man einen Cuba Libre trinkt und<br />

der Barkeeper zwölf Jahre alten „Havanna Club“-Rum als Zutat<br />

verwendet hat, dann ist das Gefühl beim ersten Schluck in der<br />

Kehlkopfgegend „smooth“. Dies<strong>mal</strong> wollte eine Kellnerin mit


64 Wo zum Teufel liegt Herbertville? Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

65<br />

„Warum muss ich etwas<br />

essen?“, stellte ich nunmehr<br />

die richtige Frage.<br />

„SO LAUTET DAS GESETZ!“<br />

dem eigenartigen Namen Fionnuala die Bestellung aufnehmen.<br />

„Ich hätte gerne einen Cuba Libre.“<br />

„OK, und was möchtest du dazu zu essen haben?“, fragte<br />

mich die Kellnerin. Nun war es gegen zehn Uhr abends und ich<br />

hatte in einem <strong>mal</strong>lorquinischen Restaurant das schlechteste<br />

Abendessen meines bisherigen Neuseelandaufenthaltes gegessen.<br />

Ich hatte überhaupt keinen Hunger mehr.<br />

„Essen? Ich möchte nichts essen. Ich hätte gern einen Cuba<br />

Libre.“<br />

„Das geht leider nicht. Wenn du etwas trinken willst, musst<br />

du etwas essen.“ Die Kellnerin blieb hart.<br />

„Ich habe aber gar keinen Hunger. Dies ist doch eine Bar.<br />

Ich will nur etwas trinken.“<br />

„Du musst etwas essen, wenn du trinken willst.“ Die gute<br />

Dame hörte sich langsam ziemlich mütterlich an.<br />

„Warum muss ich etwas essen?“, stellte ich nunmehr die<br />

richtige Frage.<br />

„SO LAUTET DAS GESETZ!“ Es gibt Antworten, die ich<br />

überhaupt nicht leiden kann, und dazu gehört diese in Großbuchstaben<br />

gesprochene. Nur hatte ich den Sinn immer noch<br />

nicht verstanden.<br />

„Ich habe doch aber eben bei deinem Kollegen einen Drink<br />

bekommen, ohne etwas zu essen bestellt zu haben. Kann ich bei<br />

ihm bestellen?“ Es ist ja nicht so, dass ich leicht aufgebe oder<br />

nicht spitzfindig sein kann.<br />

„Er wird dir dasselbe sagen.“ Ich hatte Durst und Fionnuala<br />

ließ sich nicht erweichen.<br />

„Was soll ich denn essen?“, fragte ich.<br />

„Nimm einfach eine Portion Pommes Frites“, entgegnete sie<br />

schulterzuckend.<br />

Pommes Frites ist die korrekte Übersetzung, diese Bezeichnung<br />

ist aber, genauso wie der in den USA gebräuchliche Ausdruck<br />

„French Fries“, in Neuseeland politisch nicht korrekt.<br />

Hier sagt man wie in England „Chips“. Dies hat einerseits einen<br />

historischen Hintergrund, nämlich die immer noch sehr enge<br />

Verbindung zu Großbritannien, aber auch einen politischen<br />

Bezug, und zwar die sehr zwiespältige Haltung zu Frankreich<br />

und allem Französischen. Seit den französischen Atombombenversuchen<br />

im Südpazifik und dem Versenken des Greenpeace-Schiffes<br />

„Rainbow Warrior“ durch den französischen<br />

Geheimdienst im Hafen von Auckland gibt es erhebliche Vorbehalte<br />

gegen Franzosen. Deswegen heißen Pommes nicht<br />

French Fries.<br />

Kurz darauf kamen meine „Chips“ und der Cuba Libre, aber<br />

„SO LAUTET DAS GESETZ“ klang mir immer noch in den<br />

Ohren. In der Tat gibt es eine Verordnung, welche einem verbietet,<br />

vor und an Feiertagen alkoholische Getränke zu konsumieren,<br />

wenn man nicht gleichzeitig etwas zu essen bestellt hat.<br />

Ein Wirt, der ausschenkt, ohne eine Speise zu servieren, verstößt<br />

gegen das Gesetz und riskiert den Verlust seiner Schanklizenz.<br />

Diese strikte Einhaltung von Gesetzen erschien in<br />

Anbetracht des hygienischen Zustandes der Küche, der Toilette<br />

und des Personals mehr als paradox. Jedes Mal, wenn ich nunmehr<br />

einen Drink bestellte, orderte ich eine Portion Pommes<br />

dazu. Diese waren dicke, fette, nur kurz anfrittierte, labberige<br />

Dinger und nicht ein<strong>mal</strong> mit dem Hungertod vor Augen könnte<br />

ein nor<strong>mal</strong>er Magen dieses Zeug verdauen. Eher würde es den<br />

Sterbeprozess noch beschleunigen. So standen dann gegen<br />

Mitternacht sieben Portionen kalter Pommes, durchweicht mit<br />

roter, an Tomatensoße erinnernder Flüssigkeit, vor mir auf der<br />

Bar, sowie neun leere Cocktailgläser. Mein Verdacht hatte sich<br />

bestätigt: eine Tafel, auf der $ 6-Cocktails angeboten werden,<br />

kann nicht die ganze Wahrheit widerspiegeln. Ein Cocktail in<br />

dieser Bar kostete mich sechs Dollar und eine Portion Pommes<br />

vier Dollar. Nach Adam Riese macht das zehn Dollar für einen<br />

Cocktail. Das Schöne an der Sache war aber, dass man pro<br />

Bestellung nur eine Portion mitordern musste und sich damit<br />

nicht strafbar machte. Das bedeutete, dass sich nach und nach<br />

ein paar nette Kiwis an meinen Tisch gesellten, wir jeweils<br />

vier Cocktails und eine Portion „Chips“ bestellten und so den<br />

durchschnittlichen Cocktailpreis auf $ 7 drückten, ohne gegen


76 Wo zum Teufel liegt Herbertville? Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

77<br />

Der kälteste Winter ist der Sommer in<br />

San Francisco<br />

Martin, der von den äußeren Hebriden stammt – einer schottischen<br />

Inselgruppe, irgendwo zwischen den Färöer Inseln,<br />

Island und dem schottischen Festland mitten in den Atlantik<br />

gesetzt – hat es letztens ein<strong>mal</strong> so ausgedrückt: „Ich weiß gar<br />

nicht, warum Ihr Euch immer alle so über das Wetter in Wellington<br />

aufregt. Es ist doch im Winter tagsüber nie kälter als<br />

zehn Grad. Das ist bei mir zu Hause die absolute Höchsttemperatur<br />

im Sommer an einem heißen Tag.“ Damit mag er ein<br />

wenig übertrieben haben, aber er trifft den Kern der Sache in<br />

zweierlei H<strong>ins</strong>icht: erstens ist es gar nicht so schlimm und zweitens<br />

kommt es auf den Standpunkt des Betrachters an.<br />

Ich bin im Nachhinein ganz froh, dass ich als Trainingseinheit<br />

und zur Abhärtung drei Jahre in Kiel verbracht habe. Der<br />

kälteste Winter ist nämlich der Sommer in Kiel. Ursprünglich ist<br />

dies ein Zitat, welches den Sommer in San Francisco beschreiben<br />

soll. Überflüssigerweise wird es in jedem Film zitiert, der<br />

dort spielt und in dem es um eine völlig verregnete Liebesgeschichte<br />

geht. Anständige Liebesgeschichten mit einem Happy<br />

End, welches sich schon während der Handlung abzeichnet<br />

und nicht erst drei Minuten vor Ultimo, spielen nie in Städten<br />

wie San Francisco oder Kiel, sondern in Rom oder Paris. Der<br />

Unterschied zum Winterwetter in Wellington ist lediglich, dass<br />

es in Kiel nur ein<strong>mal</strong> im Jahr regnet, nämlich von September<br />

bis Ende April. In dieser Zeit kann man eine erstaunliche Metamorphose<br />

bei sich feststellen: es wachsen einem bei längeren<br />

Aufenthalten im Freien Schwimmhäute zwischen den Fingern<br />

und das Umschalten von Lungen- auf Kiemenatmung funktioniert<br />

mit der Zeit auch immer besser. Man entwickelt ähnliche<br />

Fähigkeiten wie Patrick Duffy in der unglaublich schlechten<br />

Serie „Der Mann aus dem Meer“.<br />

Bei diesem muss man allerdings berücksichtigen, dass er<br />

die Serie nach „Dallas“ gedreht hat. Mit diesem Umstand im<br />

Hintergrund könnte es für ihn sogar ein Karrieresprung gewesen<br />

sein – zumindest, was die schauspielerische Herausforderung<br />

betrifft, bestimmt aber nicht die Gage. Vor Jahren habe<br />

ich zufällig ein<strong>mal</strong> das Theaterstück „Art“ von Yasmin Reza<br />

auf einer Londoner Bühne sehen dürfen, und zwar mit Patrick<br />

Duffy in der Hauptrolle. Ich muss ehrlich zugeben, dass er ganz<br />

ausgezeichnet gespielt hat. Was für ein Aufstieg – vom Dallas-<br />

Seriendarsteller zum Theaterschauspieler in London!<br />

Da Wellington direkt an der Cook Strait liegt, der Wasserstraße<br />

zwischen Nord- und Süd<strong>ins</strong>el und damit der Verbindung<br />

zwischen der Tasmanischen See und dem Pazifik, ist<br />

das abwechslungsreiche Wetter eine schöne Metapher für die<br />

Vielfältigkeit der Wellingtonians. Der Wetterbericht stimmt nie<br />

und die Drei-Tage-Vorhersagen in der „Dominion Post“ schon<br />

<strong>mal</strong> gar nicht. Wenn man sich darauf verlässt, dann ist man<br />

mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch angezogen.<br />

Der Schutz gegen die meteorologische Anarchie fällt<br />

durch diese Unberechenbarkeit besonders schwer. Der Erwerb<br />

eines Regenschirms entpuppt sich meist nach drei bis spätestens<br />

fünf Minuten als glatte Fehlinvestition, weil der Wind<br />

so stark ist, dass der Schirm im Nu umknickt und kaputt ist.<br />

Wenn man Glück hat und der Schirm dem Sturm standhält,<br />

dann sollte man sich darauf e<strong>ins</strong>tellen, dass man erhebliche<br />

Mühe haben wird, ihn festzuhalten. Unangenehmer Nebeneffekt<br />

des Windes in der Stadt ist, dass damit der Regen auch<br />

von der Seite kommt, nicht nur von oben, was die konservative<br />

Art, einen Regenschirm zu benutzen, also ihn über dem Kopf<br />

zu halten, ad absurdum führt. In der Tat sieht man bei starkem<br />

Wind viele Leute mit dem Schirm vor dem Körper gegen<br />

den Seitenregen ankämpfen. Da gewöhnliche Schirme nur bei<br />

Zwergen den ganzen Körper bedecken, bleibt es leider nicht aus,<br />

dass ein bis zwei Körperteile immer nass werden, und das sind<br />

in der Regel unangenehmerweise die Füße und der Kopf. Der<br />

Kauf eines Regenschirmes kommt also dem „aus dem Fenster“-<br />

Werfen von Geld oder dem Verbrennen von Banknoten gleich.<br />

Da Wellington direkt an<br />

der Cook Strait liegt, der<br />

Wasserstraße zwischen<br />

Nord- und Süd<strong>ins</strong>el und<br />

damit der Verbindung<br />

zwischen der Tasmanischen<br />

See und dem Pazifik, ist das<br />

abwechslungsreiche Wetter<br />

eine schöne Metapher für<br />

die Vielfältigkeit der Wellingtonians.


78 Wo zum Teufel liegt Herbertville? Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

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„Goretex“, schreit der outdoorerprobte, besserwissende<br />

Zeitgenosse, „Goretex“. „Scheiße“, sagt der wellingtonerprobte<br />

Zeitgenosse. Meine Gortexklamotten haben den immensen<br />

Wassermassen auch nicht länger als dreißig Minuten standgehalten.<br />

Analysiert man die Problematik des opti<strong>mal</strong>en Schutzes<br />

vor ekelhaft kaltem Regen, so landet man bei seiner Suche<br />

schließlich bei der Arbeitskleidung von Hochseefischern und<br />

Bauarbeitern – zwei Berufsgruppen, die bei Wind und Wetter<br />

immer draußen arbeiten. Bitte schön, hat irgendjemand schon<br />

ein<strong>mal</strong> einen Bauarbeiter oder Fischer in Goretexkleidung<br />

gesehen? Eben, die Jungs tragen Ölzeug, um sich vor dem<br />

durchweichen zu schützen. Nun, seit ich mit Gummistiefeln<br />

und gelbem Regenmantel in frühester Kindheit durch<br />

schlammbraune Pfützen gewatet bin, hatte ich solche Kleidung<br />

nicht mehr getragen, aber jetzt weiß ich sie zu schätzen. Ölzeug!<br />

Alles andere ist Mist.<br />

Damit wäre aber das Problem der Kälte noch nicht vom<br />

Tisch und das stellt ein echtes Problem dar. Weniger draußen,<br />

denn da kann man sich ja warm anziehen. Es besteht eher in<br />

den eigenen vier Wänden, denn für Privathäuser gibt es kein<br />

Zentralheizungssystem und viele Häuser sind so miserabel isoliert,<br />

dass es an allen Ecken und Enden durchzieht und pfeift.<br />

Manch<strong>mal</strong> kommt es mir vor, als wäre es drinnen kälter als<br />

draußen. Nun ist es ziemlich ungemütlich, zu Hause immer<br />

mit Wintermantel und Stiefeln herumzulaufen. Der Kiwi hat<br />

gegen drohenden Erfrierungstod erstaunliche Überlebensstrategien<br />

entwickelt. Eine Wärmflasche, die bei uns in Deutschland<br />

höchstens noch bei Magenschmerzen Anwendung findet,<br />

ist Standardausrüstung und zuverlässiger Begleiter im eigenen<br />

Haus. Ferner boomt der Verkauf von Heizdecken, deren Preise<br />

bei umgerechnet 15 Euro beginnen.<br />

Ich habe mich bisher geweigert, solch eine Decke zu<br />

kaufen, weil die Heizdeckenindustrie meiner Meinung nach<br />

eine mafiaähnliche Struktur aufweist. Ich stelle mir vor, wie<br />

der Vertrieb über Kaffeefahrten organisiert wird, um die Produkte<br />

zu Wucherpreisen in niedersächsischen Landgasthöfen<br />

an arme, vere<strong>ins</strong>amte Rentner zu verscherbeln, die dann auf<br />

Jahre hinaus verschuldet sind und sich schlimme Vorwürfe von<br />

ihren erwachsenen Kindern anhören müssen. Diese Bedenken<br />

h<strong>ins</strong>ichtlich des Kaufes einer Heizdecke und der damit verbundenen<br />

Unterstützung organisierter Kriminalität schilderte<br />

ich meinen neuseeländischen Freunden, die allerdings nicht<br />

den blassesten Schimmer hatten, wovon ich überhaupt redete.<br />

Dagegen habe ich bei mehreren weiblichen Freunden, die sich<br />

durchgerungen hatten, eine Heizdecke zu erwerben, erlebt, wie<br />

sich ihr Gesichtsausdruck verklärt verträumt veränderte, wenn<br />

sie begeistert von ihren Heizdecken und den nunmehr warmen<br />

Nächten sprachen. Da konnte man manch<strong>mal</strong> schon fast ein<br />

wenig eifersüchtig werden. Allerdings kann man Erstbenutzer<br />

mit haarsträubenden Geschichten über Leute verunsichern, die<br />

nachts in ihren Betten qualvoll verbrannten, weil eine defekte<br />

Heizdecke die Laken in Flammen gesetzt hatte. Das macht<br />

schon Spaß.<br />

Der Handel mit Heizlüftern und Heizkörpern, die simpel<br />

an eine Steckdose angeschlossen werden, ist ebenso lukrativ<br />

wie der Heizdeckenverkauf, und zwar nicht nur für die Hersteller,<br />

sondern vor allem für die Stromlieferanten. Unsere monatliche<br />

Stromrechnung hat sich in den Wintermonaten auf $ 250<br />

fast verdreifacht. Das Heizen mit diesen Methoden erfordert<br />

außerdem einen genau durchdachten Plan, wann welches Gerät<br />

wie lange eingeschaltet werden darf. Waschmaschine, Trockner<br />

und Heizlüfter zugleich geht schon <strong>mal</strong> gar nicht. Jede neuseeländische<br />

Sicherung fliegt einem da um die Ohren. Ebenso<br />

wenig funktioniert die Kombination mit der Spülmaschine<br />

oder einem Fön – ein Problem, das sich bei meiner Frisur<br />

zugegebenermaßen eher weniger stellt. So ist gerade in Wohngeme<strong>ins</strong>chaften<br />

mit mehreren Personen zunächst die Frage zu<br />

klären, wer wann nicht da ist und wer wann lieber friert, damit<br />

die Wäsche gewaschen werden kann. Irgendwie lässt sich aber<br />

auch dieses Problem kreativ lösen. Ich habe schon Austauschstudenten<br />

gesehen, die im Schlafsack (Komfortbereich 0 Grad)<br />

in ihren Wohnungen herumgehüpft sind, um sich vor der Kälte


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zu schützen. Das halte ich für etwas übertrieben, ein Schlafsack<br />

im Komfortbereich +10 Grad ist vollkommen ausreichend.<br />

Na gut, na gut, na gut, so schlimm ist es nun auch wieder<br />

nicht. Im Schnitt scheint an drei Tagen in der Woche die Welt<br />

unterzugehen und an den anderen vier lächelt die Sonne verführerisch,<br />

was sich allerdings innerhalb von zehn Minuten<br />

rapide ändern kann. Dann hat man dummerweise weder seine<br />

Regensachen noch ein warmes Fleece dabei und ärgert sich<br />

unglaublich, dass man wieder dem Wetterbericht vertraut hat,<br />

setzt sich fluchend aufs Motorrad und kommt durchweicht und<br />

halb gefroren zu Hause an. Aber die der Stadt so anhaftende<br />

Gelassenheit gewinnt mit der Zeit auch bei Zugezogenen die<br />

Oberhand und der immer beruhigende Gedanke, dass alles<br />

auch hätte schlimmer kommen können, holt einen zurück in<br />

die wunderbare Realität von Wellington: ich bin am besseren<br />

Ende der Welt, da kann ich auch <strong>mal</strong> nass werden und frieren.<br />

Camp am Mt Cook<br />

Mt Taranaki


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Cape Reinga, wo Pazifik und Tasmanische See zusammentreffen<br />

Auf der Halb<strong>ins</strong>el<br />

Coromandel<br />

Pflichtveranstaltung im<br />

Abel-Tasman-National-<br />

Park: Paddeln<br />

Am Milford Sound


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Wellington begrüßte mich<br />

so, wie es mich verab-<br />

schiedet hatte, nämlich<br />

verregnet, und ich hatte das<br />

Gefühl, wieder zu Hause<br />

zu sein.<br />

Landes. Ich stellte das Motorrad ab und nahm mir den Tag Zeit,<br />

die Weingüter zu besuchen und ordentlich zu probieren. Der<br />

hässliche Hund vom Hunter-Weingut erinnerte mich wieder<br />

an das schon erwähnte <strong>Buch</strong> „Australasian Winery Dogs“ und<br />

lenkte mich von meinem ursprünglichen Vorhaben ab: fortan<br />

war ich weniger an der Qualität des Weines der besuchten Güter<br />

interessiert, als an den Hunden, die meist irgendwo gelangweilt<br />

im Schatten herumlungerten und sich so gar nicht von<br />

Hunden unterschieden, die nicht auf Weingütern leben. Der<br />

Hunter-Weingut-Hund kann allerdings der Legende nach den<br />

Säuregehalt der Trauben schmecken, und die Winzer machen<br />

ihren Wein erst, wenn der Hund nach einer Verköstigung<br />

zustimmend die Qualität bejault. Die Idee, daraus ein <strong>Buch</strong> zu<br />

machen, grenzt schon fast an Genialität.<br />

Nach den Weinguthunden folgte die Überfahrt zurück<br />

nach Wellington, die ein bisschen anstrengend war, weil ich<br />

eine besoffene Irin, die irgendwie Gefallen an meiner Gesellschaft<br />

gefunden hatte, nicht mehr loswurde und ich nicht den<br />

Mut hatte, sie über Bord zu werfen. Wellington begrüßte mich<br />

so, wie es mich verabschiedet hatte, nämlich verregnet, und ich<br />

hatte das Gefühl, wieder zu Hause zu sein.<br />

Where the f**k is Herbertville?<br />

Der Winter schien so langsam vorbei zu sein. Frühling lag in der<br />

Luft und außer der damit untrennbar verbundenen Freisetzung<br />

von Hormonen, die ein gesteigertes Interesse am jeweils anderen<br />

Geschlecht auslösen, wird auch das sogenannte Benzinhormon<br />

bei Motorradfahrern aktiviert. Der Plan war, geme<strong>ins</strong>am<br />

mit meinem langhaarigen, kurz vor dem Wahnsinn stehenden,<br />

tschechischen Freund Martin einen Kurztrip nach Castle Point<br />

und Herbertville an der Ostküste der Nord<strong>ins</strong>el, etwa drei bis vier<br />

Stunden von Wellington entfernt, zu unternehmen. Der Wahnsinnige,<br />

der Motorrad fährt, als hätte er Kerosin im Tank und<br />

eine Lunte als Zündung, musste sich erst ein Motorrad leihen. In<br />

Deutschland muss man zunächst sein Fahrzeug zulassen, versichern<br />

und die TÜV-Untersuchung passieren, bevor man endlich<br />

öffentliches Straßenland befahren darf. In diesem Zusammenhang<br />

möchte ich erwähnen, dass zielloses Umherfahren in<br />

Deutschland eine Ordnungswidrigkeit darstellt. Zumindest hat<br />

mir das ein frischgebackener Jurist erzählt. Der TÜV heißt in<br />

Neuseeland „WOF“, Warrant of Fitness, und die Zulassung Registration,<br />

aber versichert muss man nicht sein, weil alle Unfallfolgen<br />

gesetzlich durch den Accident Compensation Act abgesichert<br />

sind. Das heißt, kein einziger Unfall landet vor Gericht. Die<br />

Anwaltslobby und Versicherungsindustrie haben lange und<br />

erfolglos gegen die Einführung dieser Regelung gekämpft.<br />

Martin kreuzte mit einer geliehenen, steinalten Honda Eliminator<br />

mit 98 Pferdestärken unter dem Hintern am verabredeten<br />

Treffpunkt auf. In der Eile war natürlich weder eine<br />

Zulassung noch ein WOF zu bekommen, sodass ein bisschen<br />

Dreck auf dem Nummernschild als Tarnung vor wachsamen<br />

Augen des Gesetzes ausreichen sollte.<br />

„Was machst du, wenn die Polizei dich anhält? Das kostet<br />

dich richtig Asche, ohne Rego und WOF zu fahren! Für die<br />

Strafe könnten wir das ganze Wochenende zwei Harleys mieten,<br />

und zwar neue!“<br />

Der Wahnsinnige, der<br />

Motorrad fährt, als hätte er<br />

Kerosin im Tank und eine<br />

Lunte als Zündung, musste<br />

sich erst ein Motorrad<br />

leihen.


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Neuseeland – die Welt von unten gesehen<br />

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Castle Point<br />

Der Wahnsinnige ließ diesen aus meiner Sicht absolut<br />

berechtigten Einwurf nicht gelten und wischte ihn kurzerhand<br />

mit einem Totschlagsargument beiseite: „Hast du schon <strong>mal</strong><br />

versucht, einen fliehenden Tschechen auf einem 98 PS-Motorrad<br />

einzuholen? Eben!“<br />

Ich musste innerlich zugeben, dass ich angesichts der armseligen<br />

Fahrkünste neuseeländischer Kraftfahrer keinerlei<br />

Bedenken hatte, dass Martin aus einer eventuellen Verfolgung<br />

mit Renncharakter als eindeutiger <strong>Sie</strong>ger hervorgehen würde.<br />

Ich machte mir nur ernsthafte Sorgen um die Gesundheit der<br />

Polizisten und hoffte, dass im Fall der Fälle deren Ehrgeiz,<br />

Martin einzuholen, seine Grenze im fahrerischen Können<br />

finden würde. Auf dem Highway heraus aus der Stadt sah ich<br />

dann nur noch Rücklicht und Auspuffgase des motorisierten<br />

Anarchisten, für den Geschwindigkeitsbegrenzungen eine E<strong>ins</strong>chränkung<br />

der persönlichen Freiheit darstellen und daher<br />

geflissentlich ignoriert werden. Neuseeland ist ein extrem<br />

freies Land, aber schneller als 100 km/h zu fahren, ist nicht<br />

erlaubt. In manchen ländlichen Gebieten würde ich aufgrund<br />

der Straßenverhältnisse sogar das Fahren an dieser zulässigen<br />

Höchstgeschwindigkeitsgrenze als halsbrecherisches Risiko<br />

bezeichnen. Ich habe noch nie so viele Kreuze am Straßenrand<br />

gesehen wie hier, nicht ein<strong>mal</strong> auf Brandenburger Alleen. In<br />

einigen Gegenden hat man das Gefühl, über einen Friedhof zu<br />

fahren. In nahezu jeder Kurve steht ein Kreuz, geschmückt mit<br />

Blumen, Kerzen und Fotos der Opfer.<br />

Vor mir fuhr also jemand mit 160 km/h, als ob die Karre<br />

gestohlen wäre, in Richtung Nordosten. Mit der alten BMW<br />

ist alles über 120 km/h anstrengend, laut und unbequem.<br />

Deshalb genieße ich das Cruisen bei gemütlichen 80 bis<br />

100 km/h, denn ich will nicht als Letztes in meinem Leben<br />

Bremslichter vor mir sehen, oder Feuerwehrleute mit einem<br />

Schweißbrenner, die mir beruhigend zureden, obwohl sie es<br />

besser wissen. Ankommen ist die Prämisse, und da das Leben<br />

schnell vorbeigeht, muss ich mich nicht auch noch beeilen<br />

(Heinz Erhardt).<br />

Die erste Etappe führte uns nach Masterton in Wairarapa.<br />

Überraschenderweise machte die Stadt einen ziemlich lebendigen<br />

Eindruck und so entschlossen wir uns, eine kleine Kaffeepause<br />

einzulegen. Wir parkten die Maschinen vor dem Café<br />

und keine drei Sekunden später hatten wir einen Parkwächter<br />

an der Backe.<br />

„<strong>Sie</strong> können Ihre Motorräder hier nicht parken, hier ist<br />

absolutes Halteverbot.“<br />

Womit er zweifelsohne Recht hatte. Der Anarchist und ich<br />

beharrten aber darauf, dass die Motorräder doch niemanden,<br />

absolut niemanden stören würden. Der Parkfuzzi ließ sich aber<br />

nicht erweichen, zückte seinen kleinen Strafzettelblock und<br />

setzte sein offizielles Wenn-<strong>Sie</strong>-hier-nicht-wegfahren-gibt-eseinen-Strafzettel-Gesicht<br />

auf. Wir gaben uns geschlagen und<br />

parkten die Maschinen um die Ecke vor einem Modegeschäft,<br />

welches „Encore – Near New Clothing“ hieß. „Fast neue Kleidung“<br />

– die Übersetzung klingt ein bisschen merkwürdig,<br />

beschreibt aber genau das, was man in dem Laden kaufen<br />

konnte, nämlich Second-Hand-Kleidung. „Fast neu“ hört sich<br />

aber besser an als „gebraucht“. Wahrscheinlich hat die Ladeninhaberin<br />

einem Businessconsultant aus Auckland ein Heidenhonorar<br />

für dieses Marketingkonzept gezahlt. Vielleicht<br />

hat sie sich das aber auch selbst ausgedacht. Das angedachte<br />

Kaffeetrinken artete in eine Frühstücksschlemmerei aus, und<br />

mit dicken Bäuchen bestiegen wir nach einer Stunde wieder die<br />

Maschinen.<br />

„Martin, lass uns hier im Supermarkt noch ein paar fette<br />

Steaks für unser Barbecue und Bier und zwei Fläschchen Wein<br />

für heute Abend kaufen. Vielleicht bekommen wir in Castle<br />

Point nichts Ansprechendes.“<br />

Mart<strong>ins</strong> bedenkenloses Wegwischen meines Vorschlages<br />

sollte sich aber verdammt noch <strong>mal</strong> bald rächen.<br />

Von Masterton bis Castle Point an der Ostküste waren es<br />

noch gut 70 Kilometer, die durch hügeliges Farmland führten.<br />

Schafe, Schafe und noch<strong>mal</strong>s Schafe. Neugeborene Lämmer<br />

hüpften vergnügt und verspielt über die Weiden. Nor<strong>mal</strong>er-<br />

Von Masterton bis Castle<br />

Point an der Ostküste waren<br />

es noch gut 70 Kilometer,<br />

die durch hügeliges Farmland<br />

führten. Schafe, Schafe<br />

und noch<strong>mal</strong>s Schafe. Neugeborene<br />

Lämmer hüpften<br />

vergnügt und verspielt über<br />

die Weiden.

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