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Gerhard Jagschitz und Rainer Hubert Zur Methodik historischer

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M A T E R I A L I E N -<br />

R E F L E X I O N E N<br />

Dr. <strong>Gerhard</strong> <strong>Jagschitz</strong> / Dr. <strong>Rainer</strong> <strong>Hubert</strong><br />

Vorbemerkung:<br />

Das Schallarchiv Nr. 1, April 1977, Wien: AGAVA<br />

1. ZUR METHODIK HISTORISCHER TONDOKUMENTATION<br />

T h e o r e t i s c h e r T e i l<br />

Stimmporträt Kaiser Franz Josef I. Aufgenommen in<br />

Bad Ischl 1903-<br />

"Erfreulich ist es, die Fortschritte zu verfolgen,<br />

welche im Laufe der letzten Jahrzehnte das In-<br />

einandergreifen von Wissenschaft <strong>und</strong> Technik er-<br />

zielte. So ... gelang es auch, im Phonographen<br />

gesprochene Worte bleibend festzuhalten <strong>und</strong> sie<br />

selbst nach vielen Jahren späteren Geschlechtern<br />

wieder vorzuführen...<br />

(Es) wird ... von Interesse sein, auch in dieser<br />

nicht ganz vollkommenen Weise die Stimmen hervor-<br />

ragender Persönlichkeiten aus früheren Zeiten zu<br />

vernehmen <strong>und</strong> deren Klang <strong>und</strong> Tonfall sowie die<br />

Art des Sprechens gewissermassen als historisches<br />

Dokument aufbewahrt zu erhalten, ähnlich wie in an-<br />

derem Sinne Statuen <strong>und</strong> Porträts es bisher waren.<br />

Und wenn, wie Ich höre, die Akademie der Wissen-<br />

schaften jetzt daran geht, sämtliche Sprachen <strong>und</strong><br />

Dialekte Unseres Vaterlandes phonographisch zu<br />

fixieren, so ist das eine Arbeit, die sich in der<br />

Zukunft sicherlich lohnen wird..." 1)<br />

Die Beschäftigung mit Schallaufzeichnungen <strong>und</strong> Tondokumentation überhaupt<br />

weist in den letzten Jahren eine stürmische Zunahme auf. Neben dem privaten<br />

Bereich gilt dies auch für das Gebiet der wissenschaftlichen Dokumentation;<br />

entweder haben sich neue Sammelstellen gebildet oder vorhandene Institutionen<br />

wesentlich erweiterte Aufgaben übernommen. Im Gegensatz zu der zunehmenden<br />

praktischen Handhabung ist aber die theoretische F<strong>und</strong>ierung ins Hinter-<br />

treffen geraten; über eine relativ breite Diskussion der technischen Fragen<br />

ist man bisher kaum hinausgekommen. Empirischen Untersuchungen stehen nur<br />

wenige Aufsätze in Fachzeitschriften gegenüber, die theoretische Ansätze<br />

15


ieten. 2) Die vorliegende Untersuchung will daher einen kurzen Überblick<br />

über die Problematik der Überlieferung, die Spezifika <strong>und</strong> den Quellenwert<br />

von Tonaufzeichnungen geben. Da aber mit einem solchen Bestreben eine<br />

Reihe von schwierigen theoretischen Fragen verb<strong>und</strong>en sind, kann der vor-,<br />

liegende Aufsatz nicht mehr sein als ein erster Schritt, als die Schaffung<br />

einer Diskussionsgr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> Ansatz für weitere Beschäftigung mit der<br />

Materie. Dies trifft sicherlich in besonderem Maße auf den hier vorge-<br />

legten theoretischen Teil zu. In höherem Grade als dieser erste Teil soll<br />

dann aber ein praktischer Teil, der im nächsten Heft des "Schallarchiv"<br />

vorgelegt werden wird, Entscheidungshilfen für die Arbeit des Schallarchivs<br />

anbieten.<br />

Die nun folgende theoretische Erörterung <strong>und</strong> der Versuch einer kritischen<br />

Bestandsaufnahme soll der - unserer Überzeugung nach nicht zu umgehenden -<br />

Aufgabe dienen, das Verständnis aller mit Tondokumentation Beschäftigten<br />

für die tiefere Problematik bei Sammlung <strong>und</strong> Auswertung von Tondokumenten<br />

zu schärfen <strong>und</strong> zu erweitern.<br />

16


1.1. Allgemeines<br />

1.0 ZUR PROBLEMATIK DER ABGRENZUNG DER<br />

TÖNAUFZEICHNUNG VON ANDEREN QUELLENMEDIEN<br />

Historische Quellen sind Medien, die Informationen speichern<br />

<strong>und</strong> für spätere Benützer erhalten. Bei der Verwendung der<br />

Quelle darf aber nicht außer Acht gelassen werden, daß sie<br />

eine Reihe von Verzerrungsfaktoren enthalten kann: Etwa die<br />

Subjektivität des Herstellers beziehungsweise seine Intention<br />

bei ihrer Herstellung <strong>und</strong> die Zufälligkeit der Überlieferung.<br />

Ferner besitzen unterschiedliche Quellenarten durchaus unter-<br />

schiedliche Eigenschaften, <strong>und</strong> eignen bestimmten Medien<br />

spezifische Fähigkeiten des Informationstransportes. - Ein<br />

Ton ist eben nur über einen Tonträger zu überliefern, ein<br />

optischer Eindruck nur über das Bild oder den Film. Darüber<br />

hinaus kann die Quelle nicht isoliert vom Benützer gesehen<br />

werden, - seine Interpretation, sein Wissens- <strong>und</strong> Bewußtseins-<br />

stand bestimmen die Quelle mit.<br />

<strong>Zur</strong> richtigen Einordnung der Bedeutung einer Quelle ist das<br />

Wissen notwendig, daß aus der Summe der in einem Zeitraum<br />

stattfindenden Ereignisse, Zustände <strong>und</strong> Haltungen nur ein<br />

Bruchteil durch Quellen überliefert wird. Durch den Benützer<br />

werden diese Fragmente sozusagen an das Gegenwartsbewußtsein<br />

adaptiert, das sich möglichst eng am ursprünglichen Sinnzu-<br />

sammenhang orientieren soll. Das heißt, daß der Zusammenhang,<br />

in dem das Dokument entstanden ist, nicht ohne weiteres ein-<br />

sichtig ist, sondern erst rekonstruiert werden muß.<br />

Während die auf uns gekommene Überlieferung zum weitaus über-<br />

wiegenden Teil dem Zufall überlassen war, ist inzwischen eine<br />

neue Problematik entstanden:<br />

In unserer Zeit wird bewußter <strong>und</strong> umfangreicher als dies früher<br />

der Fall war, die Auswahl dessen vorgenommen, was für die Zu-<br />

kunft überliefert wird. Gerade auf dem Gebiete der Tondoku-<br />

mentation ist dieser Sachverhalt besonders deutlich festzu-<br />

17


stellen.<br />

Der Hersteller der Quellen - also in vielen Fällen der Ton-<br />

archivar selbst - "macht" durch seine Selektion Geschichte.<br />

Dies birgt vielleicht noch größere Gefahren in sich, als die<br />

primär vom Zufall bestimmte Auswahl früherer Geschichts-<br />

perioden.<br />

Es bedarf daher eines sehr hohen Grades an Selbsterkenntnis<br />

<strong>und</strong> -kontrolle beim Hersteller, beziehungsweise bei Demjenigen,<br />

der das Erhaltenswerte auswählt, um einerseits diese Auswahl<br />

möglichst repräsentativ zu halten, andererseits selbst die<br />

eigenen Auswahlkriterien mit zu überliefern, um eine kritische<br />

Benützung der Quelle zu ermöglichen.<br />

Ein Korrektiv zu den Gefahren der subjektiven Steuerung des<br />

Überlieferten stellt die Vielzahl voneinander unabhängig ent-<br />

standener Quellen dar <strong>und</strong> die Verschiedenartigkeit der Auf-<br />

gabenstellung bei der Herstellung <strong>und</strong> Benützung der Quelle.<br />

Unbestreitbar ist ferner, daß sich die soziale Stellung des<br />

Herstellers von Tonaufzeichnungen auf seine Auswahlkriterien<br />

auswirkt. Er sollte daher - besonders in der Tondokumentation,<br />

wo Hersteller <strong>und</strong> Archivar oft ident sind - unreflektierten<br />

Konformismus vermeiden <strong>und</strong> sowohl seine Position einer per-<br />

manenten Kontrolle unterwerfen, als auch - wie gesagt - seine<br />

Selektionskriterien ausführlich überliefern. Ein derartiger<br />

"Motivenbericht" ermöglicht bei der Benützung der Quelle eine<br />

bessere Einordnung <strong>und</strong> erweitert die Möglichkeiten einer kri-<br />

tischen Interpretation.<br />

1.2. Tonaufzeichnung <strong>und</strong> Schrift<br />

Die ständig gestellte - <strong>und</strong> meist nur vage beantwortete - Frage<br />

nach dem Quellenwert des Tondokumentes kann nur durch die<br />

Untersuchung des Zusammenhanges mit den anderen Arten von<br />

Quellen beantwortet werden. Von den schriftlichen <strong>und</strong> ding-<br />

lichen Quellen, dem Film, dem Bild <strong>und</strong> dem Ton wird in der<br />

Regel die schriftliche Quelle die umfangreichste <strong>und</strong> am be-<br />

quemsten zu handhabende Information bieten. Ihr sind aller-<br />

dings Grenzen gesetzt, die durch die anderen Quellmedien über-<br />

18


schritten werden können.<br />

Eine maximale Aussage wird daher durch die gegenseitige Er-<br />

gänzung der Quellen zu erreichen sein.<br />

Das bestehende Übergewicht der schriftlichen Quelle ist in<br />

erster Linie dadurch zu erklären, daß rein quantitativ das<br />

eine Medium die anderen weit übersteigt <strong>und</strong> eine lange Tra-<br />

dition schriftlicher Quellen <strong>und</strong> Quellenauswertung vorhanden<br />

ist. Dazu kommt der Vorteil des geringen technischen Aufwandes:<br />

Die anderen Medien bedürfen zum Teil eines aufwendigen<br />

technischen Apparates, um die Informationen weitergeben zu<br />

können. Daher erstreckt sich die Forderung nach Aufbewahrung<br />

von Tonquellen in erster Linie auf jene Bereiche, die sich<br />

einer schriftlichen Vermittlung entziehen. Wir können also<br />

sagen: Dort, wo die Schrift für die Dokumentation nicht .aus-<br />

reicht, beginnt der Aufgabenbereich der akustischen Auf-<br />

zeichnung. Die Lücken des einen Mediums sind die Aufgaben<br />

des anderen.<br />

Von den zwei für unsere Überlegungen in Betracht kommenden<br />

Bereichen der Gedanken <strong>und</strong> der Geräusche kann die Vermittlung<br />

der Gedanken in Form der Schrift <strong>und</strong> in Form des Gesprochenen<br />

erfolgen. Einen Sonderfall stellt die Musik dar, - einerseits<br />

kann ein musikalischer Gedanke in Notenschrift niedergelegt<br />

werden, andererseits ist es möglich, diesen auch in Form von<br />

Schall (zum Beispiel bei einer Klavierinterpretation) zu ver-<br />

mitteln. Die Schrift ist immer gleichzeitig eine Fixierung,<br />

die Aufzeichnung des Gesprochenen bedarf eines technischen<br />

Apparates. Die Fixierung von Schall kann in der Regel nur über<br />

den technischen Apparat erfolgen. Da die Dominanz der Tonauf-<br />

zeichnung in bezug auf akustische Phänomene offensichtlich<br />

ist, wollen wir nur den Bereich der Sprache etwas eingehender<br />

untersuchen. An Hand einiger Beispiele sollen die Grenzen der<br />

Schrift <strong>und</strong> die Möglichkeiten der Schallaufzeichnung darge-<br />

stellt werden.<br />

a) Den Gesamteindruck eines Ereignisses macht nicht nur der<br />

reproduzierbare sprachliche Inhalt aus. Emotionelle Elemente,<br />

also die Stimmung von Zuhörern, Beifall, Lärm, Rufe <strong>und</strong> emo-<br />

19


tionsgeprägte Sprache gehen darüber hinaus. Wenn etwa im<br />

Zusammenhang mit einer Massenveranstaltung Auskunft über die<br />

Wechselwirkung von Rednern <strong>und</strong> Zuhörern gegeben werden soll,<br />

ist dies nur über eine Tonaufzeichnung möglich.<br />

b) Entschieden überfordert ist das schriftliche Quellenmedium -<br />

wenn man die Möglichkeiten dichterischen Ausdrucks außer Acht<br />

läßt - wenn es darum geht, eine Alltagswelt zu überliefern,<br />

die durch Geräusche, durch stark von der Hochsprache abwei-<br />

chende Sprechweise usw. gekennzeichnet ist. Eine schriftliche<br />

Quelle von dem, was zum Beispiel während einer Straßenbahn-<br />

fahrt geschieht - die Gespräche der Reisenden, die Geräusche,<br />

das Ein- <strong>und</strong> Aussteigen - kann nur unvollkommene <strong>und</strong> sub-<br />

jektive Vermittlung sein. Die Schallaufzeichnung gibt das<br />

wesentlich authentischere Bild wieder.<br />

c) Die persönliche Wirkungsweise eines Menschen setzt sich aus<br />

sehr vielen verschiedenen Elementen zusammen. Individuelle<br />

Aussprache, Dialekt, Tonfall, Tonhöhe, Sprachrhythmus, Be-<br />

tonungen <strong>und</strong> Stimmvolumen - alles wesentlicher Ausdruck der<br />

Persönlichkeit - sind schriftlich nicht festzuhalten. Aller-<br />

dings gibt die Tonaufzeichnung auch nur einen Teilaspekt wie-<br />

der; Mimik, Gestik <strong>und</strong> Auftreten wären nur mit Hilfe des<br />

Filmes reproduzierbar.<br />

d) Im Gegensatz zu den vorher genannten Punkten, bei welchen<br />

Schrift <strong>und</strong> Ton nebeneinander als Ergänzung stehen können,<br />

hat die Tonaufzeichnung auch eine Funktion bei primär<br />

schriftlich Fixiertem, - dann nämlich, wenn dieses akustisch<br />

reproduziert <strong>und</strong> mit neuen Informationen angereichert wird.<br />

Als Beispiel gelte etwa eine Literaturlesung, die vom Autor<br />

selbst gestaltet wird <strong>und</strong> durch seine Vortragsweise ergänzende<br />

Interpretationen für den Text liefern kann.<br />

Ein weiteres markantes Beispiel wäre die Aufführung eines<br />

Theaterstückes, bei der der Text (abgesehen von eventueller<br />

Bearbeitung) immer gleich ist. Nur ein Tondokument kann die<br />

Frage beantworten, wie verschieden die einzelnen Schauspieler<br />

den gleichen Text sprechen, wie ihre individuelle Rollenauf-<br />

fassung ist <strong>und</strong> wie sich darin die allgemeine Zeitauffassung<br />

20


spiegelt. Wieviel kann ein Fachmann doch etwa aus dem Ver-<br />

gleich von Hamlets Monolog "Sein oder Nichtsein" entnehmen,<br />

wenn ihm Aufnahmen von Josef Kainz, Alexander Moissi, Al-<br />

bert Bassermann, Gustav Gründgens <strong>und</strong> Oskar Werner zur Ver-<br />

fügung stehen. 3)<br />

Wie bei der Rezitation gibt auch nur die Tonaufzeichnung Aus-<br />

kunft über die verschiedenartigen Interpretationen desselben<br />

Musikstückes im Bereich komponierter, also nichtsprachlich<br />

tradierter Musiken.<br />

e) Geht es in einem speziellen Fall ausschließlich um die Ver-<br />

mittlung des sprachlich formulierten Inhaltes, so ist die<br />

schriftliche Fixierung ausreichend. Bedient man sich - etwa<br />

aus Gründen der Bequemlichkeit - eines Tonaufnahmegerätes<br />

<strong>und</strong> nimmt später eine vollständige Transkription vor, hat hier<br />

der Ton lediglich die Funktion eines Transitmediums. Die be-<br />

sonders im angelsächsischen Raum verbreitete Richtung der<br />

"Oral History" benützt die Tonaufzeichnung zum überwiegenden<br />

Teil als Transitmedium <strong>und</strong> verwendet für die Auswertung nur<br />

das Transkript. 4)<br />

Im Gegensatz zur "Oral History" sollte unseren Erachtens aber<br />

eine vollständige Transkription nur in besonderen Ausnahme-<br />

fällen gemacht werden.<br />

f) Einen anderen Sonderfall - in genau entgegengesetzter<br />

Richtung wie der vorher erwähnte - stellt die Dokumentierung<br />

bloß formaler Elemente dar, die ausschließlich in Form der<br />

Tonaufzeichnungen fixiert werden können.<br />

Dies trifft zum Beispiel auf die Sondermeldungen des Ober-<br />

kommandos der Wehrmacht im Deutschen Reichsr<strong>und</strong>funk während<br />

des Zweiten Weltkrieges zu, die immer nach dem gleichen<br />

Schema abliefen, <strong>und</strong> sich formal von den anderen Meldungen<br />

unterschieden.<br />

Derartige Fälle werden in der Praxis allerdings nur selten<br />

vorkommen, da die Grenzen zu den inhaltlichen Aussagen<br />

fließend sind.<br />

21


Aus dem bisher Gesagten ergibt sich die besondere Affinität<br />

von Ton <strong>und</strong> Schrift, die jene zwei Aspekte darstellen, in der<br />

sich Sprache ausdrücken kann.<br />

Noch deutlicher wird diese Affinität bei der Abgrenzung der<br />

Tonquelle zum Bild <strong>und</strong> zur dinglichen Quelle. Denn Bild <strong>und</strong><br />

Ding wenden sich an ein anderes Sinnesorgan als der Ton <strong>und</strong><br />

transportieren daher andersartige Informationen, - werfen<br />

also im Gegensatz zur Beziehung von Ton <strong>und</strong> Schrift keine Ab-<br />

grenzungsproblematik in bezug auf den Ton auf.<br />

1.3. Tonaufzeichnung <strong>und</strong> Film<br />

Anders ist die Sachlage in Hinsicht auf den Film.-<br />

Seit dem ersten Tonfilm existiert die Einheit von bewegtem<br />

Bild <strong>und</strong> Ton. Wenn man für unsere Betrachtung den Film als<br />

Kunstobjekt außer Acht läßt <strong>und</strong> sich ausschließlich dem<br />

Filmdokument widmet, so ist hervorstechendes Merkmal, daß<br />

der Tonfilm die vorhandene Gleichzeitigkeit im Gesamter-<br />

eignis (bei dem mehrere Sinnesorgane des Betrachters gleich-<br />

zeitig angesprochen werden) weitgehender reproduzieren kann<br />

als der Stummfilm allein oder das Tondokument allein. Der<br />

Tonfilm faßt zusammen, was durch die Verschiedenartigkeit<br />

der technischen Aufnahmemittel getrennt wurde. - Ton <strong>und</strong><br />

Bild laufen völlig synchron: man sieht etwa die Mimik <strong>und</strong><br />

Gestik eines Redners <strong>und</strong> vernimmt seine Stimme. Der Quellen-<br />

wert einer solchen Tonfilmaufnahme ist durch die gegenseitige<br />

Ergänzung von Sinneseindrücken höher als es der einer bloßen<br />

Filmaufnahme oder einer bloßen Tonaufnahme von dem be-<br />

treffenden Redner wäre.<br />

Beim Filmdokument sind gr<strong>und</strong>sätzlich zwei verschiedene Typen<br />

zu unterscheiden, die auch eine unterschiedliche Beziehung<br />

zum Tondokument haben.<br />

Erstens das bearbeitete Filmdokument. Es bringt nur Aus-<br />

schnitte der Wirklichkeit, ist durch Regie, Bildauswahl,<br />

Kameraeinstellung <strong>und</strong> Schnitt gestaltet <strong>und</strong> dient einer be-<br />

stimmten Intention, etwa der gerafften Information, der Pro-<br />

paganda, der Parodie usw.<br />

22


Der Ton wird zur Verstärkung der Bildaussage herangezogen<br />

<strong>und</strong> ist im Gesamten nicht synchron (wohl aber in kleinen<br />

Einzelteilen) mit der Bildfolge. Durch die technische Be-<br />

arbeitung kann das Bilderlebnis für den Betrachter gesteuert<br />

werden <strong>und</strong> einen neuen Sinnzusammenhang ergeben.<br />

Zweitens das unbearbeitete Filmdokument. Diese eher noch<br />

seltene Form, die in erster Linie für die wissenschaftliche<br />

Dokumentation Verwendung findet, ist durch vollständige<br />

Synchronizität gekennzeichnet. Das Gesamtereignis wird voll-<br />

ständig durch die technischen Apparate - getrennt nach Ton<br />

<strong>und</strong> Bild - aufgenommen <strong>und</strong> im Endprodukt, dem Tonfilm, wieder<br />

zusammengesetzt. Bei der Reproduktion sind die optischen <strong>und</strong><br />

akustischen Ereignisse, die in der Wirklichkeit gleich-<br />

zeitig wahrnehmbar waren, wieder gleichzeitig gegeben.<br />

Nach dem Bisherigen ist nun die Frage zu stellen, wo das<br />

Tondokument neben dem Tonfilm noch seine eigenständige Be-<br />

rechtigung hat. Prinzipiell muß man festhalten, daß die<br />

Schallaufzeichnung allein dort die optimale Aufzeichnungs-<br />

weise ist, wo eine optische Fixierung überhaupt nicht durch-<br />

führbar ist, also etwa in der Nacht oder wo technische Un-<br />

möglichkeiten gegeben sind.<br />

Für alle anderen Fälle muß gelten, daß der Tonfilm mehr In-<br />

formation transportieren kann als das Tondokument allein.<br />

Für die Praxis freilich ist festzustellen, daß man meist mit<br />

Tonaufzeichnungen konfrontiert ist, die ohne Rücksicht auf<br />

die Beziehung zur filmischen Fixierung hergestellt wurden <strong>und</strong><br />

werden. Man ist auch konfrontiert mit der Tatsache, daß<br />

meistens auch der Film nicht seine theoretischen Möglichkeiten<br />

erhöhten Informationstransportes ausschöpft.<br />

Daher läßt sich sagen, daß gegenüber bearbeiteten, vielfach<br />

geschnittenen <strong>und</strong> nur bestimmte Abläufe eines Handlungsab-<br />

laufes wiedergebenden Tonfilmaufnahmen eine vollständige Ton-<br />

aufzeichnung desselben Ereignisses auf Gr<strong>und</strong> der Fixierung<br />

des kontinuierlichen Ablaufes mitunter einen höheren Quellen-<br />

wert besitzen kann.<br />

23


Die andere für die praktische Seite der Beziehung von Ton <strong>und</strong><br />

Film wichtige Tatsache besteht darin, daß Film viel teurer<br />

<strong>und</strong> aufwendiger als Ton ist <strong>und</strong> daher aus finanziellen Be-<br />

schränkungen, wegen des oft niedrigen technischen Standards,<br />

der Personalbeschränkung, wegen organisatorischer Gründe usw.<br />

viel weniger Film- als Tonaufnahmen möglich sind. Eine Aus-<br />

wahl ist daher unvermeidlich, wird jedoch dadurch erleichtert,<br />

daß oftmals das Mehr an Informationen, das der Tonfilm<br />

speichern kann, in keinem sinnvollen Verhältnis zum Mehr-<br />

aufwand dieses Mediums steht. Es wird daher auch bei An-<br />

legung wissenschaftlicher Kriterien nicht immer notwendig<br />

sein, alles filmisch zu dokumentieren. In erster Linie wird<br />

dies dort der Fall sein, wo die spezifisch filmische Infor-<br />

mation nur gering ist <strong>und</strong> auch durch andere Medien über-<br />

liefert werden kann. Freilich ist es unbedingt notwendig, eine<br />

solche Beschränkung auf das einfachere Medium planmäßig vor-<br />

zunehmen .<br />

Als Beispiel für eine solche durchaus vertretbare, ja sinn-<br />

volle Beschränkung sei die Aufzeichnung eines Hörspieles ge-<br />

nannt, bei dem die akustische Aufzeichnung nahezu alle In-<br />

formationen vermittelt. Ähnliches gilt für musikalische Dar-<br />

bietungen, wo es immer erforderlich sein wird, eine voll-<br />

ständige Tondokumentation vorzunehmen, es aber genügen würde,<br />

zur Charakterisierung der Tätigkeit von Dirigenten <strong>und</strong><br />

Orchester nur repräsentative Filmaufnahmen zu machen.<br />

24


2.0 ZUR TYPOLOGIE VON SCHALLEREIGNISSEN<br />

2.1 Sozialbezogene Typen<br />

2.11 Allgemeines<br />

Beschäftigt sich das vorhergehende Kapitel mit der Abgren-<br />

zung des Tondokuments von anderen Quellen <strong>und</strong> bot damit be-<br />

reits bestimmte Hinweise auf die Selektionsmöglichkeiten <strong>und</strong><br />

den Quellenwert, so können auch die inneren Merkmale der Ton-<br />

dokumentation Hilfe bei der Aufnahme, Archivierung, Bearbei-<br />

tung <strong>und</strong> Auswertung sein. Es wäre wert, diesen inneren Merk-<br />

malen wesentlich größere Aufmerksamkeit als bisher zu schen-<br />

ken, um die gegenwärtige unsystematische, auf Gr<strong>und</strong> unter-<br />

schiedlicher Konzepte angelegte, von Zufälligkeiten geprägte<br />

<strong>und</strong> unkritische Aufnahmspraxis zu verbessern.<br />

Bei der Betrachtung des Spektrums der Schallereignisse fällt<br />

auf, daß sich Gruppen bestimmter Schallereignisse ergeben,<br />

die durch ganz spezifische Eigenschaften bezeichnet sind.<br />

Eine strenge Klassifikation ist insoferne nicht möglich, als<br />

die Grenzen zwischen diesen Gruppen in der Praxis fließend<br />

sind.<br />

Daher sind hier Idealtypen beschrieben, die eine Wertung er-<br />

möglichen sollen, um Kriterien für die Aufnahme, Aufbewahrung<br />

<strong>und</strong> Auswertung erstellen zu können. Diese Typologie ist aber<br />

von einer generalisierenden Sicht bestimmt <strong>und</strong> muß von den<br />

jeweiligen Institutionen auf ihre spezifische Blickrichtung<br />

hin adaptiert werden.<br />

Den verschiedenen Typen kommt durch ihre spezifischen Eigen-<br />

schaften auch ein ganz spezifischer Quellenwert zu. Von die-<br />

sem Quellenwert aber sind die Politik der jeweiligen Schall-<br />

archive <strong>und</strong> die wissenschaftlichen Ergebnisse der Dokumenta-<br />

tion in hohem Maße abhängig.<br />

Die nachfolgende Typologie orientiert sich am Stellenwert<br />

des jeweiligen Ereignisses im gesamtgesellschaftlichen Ge-<br />

25


füge. Die Bedeutung <strong>und</strong> der Stellenwert, der einem sozialen<br />

Prozeß oder einem Ereignis zukommt, hängt von seiner Bezie-<br />

hung zur Gesellschaft ab. Je mehr Personen von dem Ereignis<br />

betroffen sind, je mehr es in die Lebensgestaltung des Ein-<br />

zelnen eingreift oder einzugreifen scheint, desto größerer<br />

Stellenwert im sozialen Gefüge wird ihm zukommen oder zuge-<br />

messen werden.<br />

Dies ist so zu verstehen, daß der Stellenwert des Ereignis-<br />

ses <strong>und</strong> somit auch seine Einordnung in die Typologie von<br />

zwei Faktoren abhängig ist:<br />

1. Von der Bedeutung, die die Zeitgenossen dem betreffenden<br />

Ereignis zumessen (Alltagsverständnis).<br />

2. Von der Bedeutung, die ein wissenschaftlicher Betrachter<br />

von der Warte seiner Wissenschaft (besonders der Geschichts-<br />

wissenschaft, der Soziologie <strong>und</strong> der Politologie) dem Er-<br />

eignis gibt.<br />

Diese Doppeldeutigkeit des Ereignisses ist aus der Tatsache<br />

heraus verständlich, daß ein solches "soziales Ereignis"<br />

keine physikalisch definierbare <strong>und</strong> absolute Größe ist: Ein<br />

soziales Ereignis (<strong>und</strong> damit auch der Typus, dem es zugeord-<br />

net werden kann) ist nicht von vornherein gegeben, sondern<br />

wird erst vom Betrachter "geschaffen", indem er bestimmte<br />

Vorgänge als zusammengehörig in einem sinnvollen Zusammen-<br />

hang setzt.<br />

Dieser Sinnzusammenhang ist zunächst im Alltagsverständnis<br />

gegeben. Um etwa die Rede eines Politikers als Ereignis wahr-<br />

nehmen zu können, ist eine gewisse Kenntnis von den gesell-<br />

schaftlichen Zusammenhängen unerläßlich.<br />

Ein anderer Sinnzusammenhang als der des Alltags wird von<br />

der wissenschaftlichen Betrachtungsweise hergestellt.<br />

Diese beiden Ebenen sind in ihrer Unterschiedlichkeit immer<br />

zu berücksichtigen, weil ein Ereignis im Sinnzusammenhang<br />

des Alltags durchaus verschiedene Bedeutung haben kann, als<br />

im Sinnzusammenhang der Wissenschaft. Der Archivar aber muß<br />

- wie schon eingangs erwähnt - beide Wertskalen bei seiner<br />

Selektion berücksichtigen.<br />

Den seltensten Typus machen jene Ereignisse <strong>und</strong> Prozesse<br />

26


aus, die für die politische, kulturelle <strong>und</strong> zivilisatorische<br />

Gestaltung beziehungsweise den Wandel der gesamten Gesell-<br />

schaft bestimmend sind. Dieser Ebene der Entscheidungspro-<br />

zesse <strong>und</strong> Weichenstellungen im Großen folgen ständig ineinan-<br />

der übergehende Ebenen von Weichenstellungen von immer gerin-<br />

gerer allgemeingesellschaftlicher Bedeutung, bis hinab zu<br />

jenen Prozessen, die man in der Regel als Alltag bezeichnet,<br />

der sich aus einer Unzahl individueller Ereignisse zusammen-<br />

setzt. Diesen Alltagsereignissen wird allerdings in der wis-<br />

senschaftlichen Beschäftigung erst in jüngster Zeit erhöhte<br />

Aufmerksamkeit geschenkt, was unter anderem auch dadurch be-<br />

gründet ist, daß der Großteil der überlieferten Quellen aus<br />

dem elitären Bereich kommt <strong>und</strong> die Erfassung des nichteli-<br />

tären Bereiches bedeutende methodische <strong>und</strong> praktische Schwie-<br />

rigkeiten mit sich bringt. Da die Zahl der Ereignisse von<br />

den bestimmenden gesamtgesellschaftlichen bis zu den Alltags-<br />

ereignissen unübersehbar größer wird, ist es die große Ver-<br />

antwortung des Schallarchivars, daraus eine Auswahl zu tref-<br />

fen, um der Forderung nach einer repräsentativen Zeitdokumen-<br />

tation gerecht zu werden.<br />

2.12 Das Dominanzereignis<br />

Unter diesem Begriff sind jene Ereignisse verstanden, die<br />

vom miterlebenden Zeitgenossen beziehungsweise vom analysie-<br />

renden Wissenschaftler auf Gr<strong>und</strong> ihrer bestimmenden Allge-<br />

meingültigkeit den höchsten Stellenwert zugewiesen bekommen.<br />

Ohne Kenntnis von ihnen kann ein bestimmtes wesentliches Ge-<br />

biet nicht verstanden, Stadien der Entwicklung nicht erklärt<br />

<strong>und</strong> Fragestellungen nicht beantwortet werden. Solche außer-<br />

ordentlichen Ereignisse sind die großen Weichenstellungen im<br />

historischen Prozeß, gleichsam die Knotenpunkte des histori-<br />

schen Geschehens. Daher ist auch ein Dokument von einem<br />

außerordentlichen Ereignis insoferne die wertvollste Quellen-<br />

art, als es auch allein <strong>und</strong> von anderen Quellen isoliert ste-<br />

hen <strong>und</strong> umfassend aussagen kann. Es gewinnt seinen Quellen-<br />

wert aus der Einmaligkeit des Ereignisses, das es ausdrückt.<br />

27


In bezug auf die Aufnahmepraxis muß allerdings sofort gesagt<br />

werden, daß es nur selten möglich sein wird, eine Schallauf-<br />

zeichnung von einem außerordentlichen Ereignis vorzunehmen.<br />

Denn entweder findet dieses Ereignis spontan statt, ohne<br />

daß der Archivar (Dokumentalist, Journalist) Kenntnis davon<br />

hat <strong>und</strong> der Aufbau des technischen Aufnahmeapparates möglich<br />

ist, oder es handelt sich um große Entscheidungen - etwa<br />

weltpolitische Weichenstellungen - die in einem engen Kreis<br />

ohne Bedürfnis der Fixierung getroffen werden. Auch ist es<br />

sehr oft unmöglich, ein historisches Ereignis auf einen -<br />

durch Tonaufzeichnung festzuhaltenden - Punkt zu reduzieren.<br />

Es ist jedoch heute üblich, "historische" Ereignisse zu ar-<br />

rangieren. Hiebei wird die technische Aufnahme bewußt ein-<br />

geplant <strong>und</strong> hat dadurch auch einen bestimmten aktuellen<br />

politischen Stellenwert. Die Vereidigung des amerikanischen<br />

Präsidenten etwa wird von einer audio-visuellen Industrie<br />

als großartiges Spektakel weltweit verbreitet, ohne daß die<br />

entscheidenden Aspekte einer politischen Machtübernahme in<br />

ihrer vollen Tragweite übermittelt werden.<br />

Entsprechend dem mit der Entwicklung der modernen Medien<br />

verb<strong>und</strong>enen Informationsbedürfnis <strong>und</strong> der politischen Ziel-<br />

setzung, daß bestimmte Informationen möglichst vielen Perso-<br />

nen bekannt werden sollen, gibt es eine Fülle von akustisch<br />

fixierbaren Ereignissen, die jedoch nicht die eigentliche<br />

Entscheidung vermitteln, sondern nur eine bewußt gestalte-<br />

te Fassung darstellen <strong>und</strong> insoferne also "Stellvertreter-<br />

ereignisse" sind.<br />

Nimmt man als Beispiel Koalitionsverhandlungen von Parteien<br />

nach einer Wahl, so enthalten sie eine Reihe von Überlegun-<br />

gen <strong>und</strong> Fakten ebenso wie Geheimabsprachen, die nur zu einem<br />

geringen Teil bei einer öffentlichen Pressekonferenz bekannt-<br />

gegeben werden.<br />

Man wird daher annehmen müssen, daß eine beträchtliche An-<br />

zahl von in Archiven aufbewahrten Tondokumenten in diese<br />

Kategorie bloß scheinbarer <strong>historischer</strong> Ereignisse fallen<br />

<strong>und</strong> daher von reduziertem Quellenwert sind.<br />

28


Den wenigen Tondokumenten von echten historischen Ereignis-<br />

sen aber kommt höchster Wert <strong>und</strong> ihrer Aufzeichnung Priori-<br />

tät zu.<br />

In dieser Klasse der Dominanzereignisse darf vom Dokumenta-<br />

listen nicht selektiert werden, sondern er muß vielmehr<br />

trachten, sie so vollständig wie nur irgend möglich aufzu-<br />

bewahren .<br />

2.13 Das weite soziale Ereignis<br />

Es gibt eine große Zahl sehr verschiedenartiger Ereignisse,<br />

die ebenfalls für einen großen Teil der Gesellschaft von<br />

Bedeutung sind. Wenngleich sie keine so herausragende <strong>und</strong><br />

dominierende Funktion wie der vorher erwähnte Typus haben,<br />

sind sie doch partiell für die Gestaltung der sozialen Ent-<br />

wicklung von Wichtigkeit. Eine vollständige Dokumentation<br />

aller dieser Ereignisse wird aus technischen, personellen<br />

<strong>und</strong> finanziellen Begrenzungen nicht möglich <strong>und</strong> für die Ge-<br />

winnung historisch relevanter Aussagen auch teilweise nicht<br />

notwendig sein. 5) Es bedarf daher einer Selektion: jeweils<br />

ein Ereignis als Beispiel herauszugreifen, das für eine gan-<br />

ze Gruppe von Ereignissen besonders typisch ist. Was nicht<br />

aufgenommen werden kann <strong>und</strong> soll, muß auch aus der ausgewähl-<br />

ten Aufnahme rekonstruierbar sein.<br />

Wenn nun selektiert wird, so bedeutet dies, aus einer Viel-<br />

zahl von Ereignissen eines herausgreifen, - ein Ereignis,<br />

das am ehesten geeignet scheint, für eine ganze Klasse von<br />

Ereignissen zu stehen. In einem Wahlkampf etwa, in dem eine<br />

Fülle von Versammlungen, Diskussionsr<strong>und</strong>en oder ähnliches<br />

abgehalten werden <strong>und</strong> von den Politikern immer wieder die<br />

gleichen Reden gehalten werden, wäre es nicht sinnvoll, je-<br />

de einzelne Veranstaltung dokumentieren zu wollen. Aus der<br />

Gruppe von Ereignissen werden einzelne ausgewählt. Ihr<br />

Wert liegt in erster Linie in ihrer Rolle als Repräsentant<br />

<strong>und</strong> im Sinnzusammenhang mit den nicht aufgenommenen Ereig-<br />

nissen. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu dem<br />

oben besprochenen Typus von außerordentlichen Ereignissen,<br />

29


die allein für sich stehen können, ohne an Bedeutung zu<br />

verlieren.<br />

Diese Repräsentativfunktion hat freilich bestimmte Voraus-<br />

setzungen: Repräsentiertes <strong>und</strong> Repräsentant dürfen in kei-<br />

nem Mißverhältnis stehen. Bleiben wir bei dem Beispiel<br />

eines Wahlkampfes. Umfaßt dieser etwa 200 Veranstaltungen,<br />

die von verschiedenen Parteien abgehalten werden, wäre es<br />

sinn- <strong>und</strong> wertlos, ihn durch das Tondokument einer einzi-<br />

gen Veranstaltung dokumentieren zu wollen. Eine solche Quel-<br />

le wäre höchstens als Rarität zu betrachten, da ihr jeder<br />

Sinnzusammenhang fehlt. In diesem Fall wäre es daher not-<br />

wendig, eine größere Zahl von Aufnahmen zu wählen, die<br />

auch zueinander in einem Sinnzusammenhang stehen müssen.<br />

Erst wenn eine solche Kollektion vorhanden ist, hat das<br />

einzelne Dokument einen höheren Quellenwert erhalten. Das<br />

neue Ganze ist hier mehr als die Summe der Einzelteile.<br />

Besonders sorgfältig sind die repräsentativen Aufnahmen aus-<br />

zuwählen, wenn die einzelnen Ereignisse innerhalb einer Grup-<br />

pe verschieden gewichtig sind, oder diese nur aus wenigen<br />

Einzelereignissen besteht, sodaß eine erhöhte Gefahr einer<br />

Verzerrung der Information besteht. Für den Praktiker er-<br />

gibt sich in diesem Fall die unbedingte Forderung, die Aus-<br />

wahlkriterien in einem Begleitprotokoll auszuführen, um<br />

eine Kontrolle <strong>und</strong> Einordnung der Aufnahme zu ermöglichen.<br />

Aus dem eben Gesagten folgt, daß es unangebracht ist - wenn<br />

auch gegenwärtig noch oft praktiziert - wahllos aus bloßen<br />

Augenblicksüberlegungen Tonaufzeichnungen herzustellen. Die<br />

Forderung nach Repräsentativität gebietet die Erstellung<br />

eines überlegten Gesamtkonzepts, in welchem die einzelne<br />

Tonaufnahme ihren bestimmten Stellenwert hat. Freilich ist<br />

es nicht möglich, ein allgemeingültiges Standardkonzept zu<br />

entwickeln, da die Erstellung eines konkreten Konzepts von<br />

der Aufgabenstellung der aufnehmenden Institution <strong>und</strong> der<br />

Fragestellung für die Dokumentation abhängig ist. Zudem<br />

verlangen die verschiedenen Lebensbereiche auch sehr unter-<br />

schiedliche Formen der Repräsentation. Für manche Bereiche<br />

30


edarf es einer größeren Anzahl von Repräsentativaufnahmen,<br />

für andere genügt eine geringere.<br />

Ein Unsicherheitsfaktor aber bleibt bestehen: Zuweilen wer-<br />

den weder Öffentlichkeit noch Wissenschaft die historische<br />

Bedeutung eines Ereignisses richtig zu erkennen oder alle<br />

möglichen Veränderungen des Stellenwertes eines Ereignens<br />

durch die sozialen Entwicklungen vorauszusehen vermögen.<br />

Es sollte daher nach Möglichkeit über das unbedingt Notwen-<br />

dige hinaus aufgenommen werden, um diesen Unsicherheitsfak-<br />

tor möglichst klein zu halten.<br />

2.14 Das enge soziale Ereignis<br />

Waren die beiden vorangegangenen Typen ausschließlich auf<br />

das soziale Gesamtgefüge oder nicht genau umgrenzbare größe-<br />

re Bereiche der Gesellschaft gerichtet gewesen, so gilt es<br />

nun, Entwicklungen <strong>und</strong> Ereignisse zu erfassen, die von nur<br />

geringer unmittelbarer Bedeutung für die Gesellschaft, je-<br />

doch von hoher Bedeutung für bestimmte Gruppen sind.<br />

Die von der Soziologie gegebenen Definitionen von primären<br />

<strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ären Gruppen 6) können auch für unsere Betrachtung<br />

behilflich sein. Zu den Primärgruppen als "erste Lebensgrup-<br />

pen des Menschen, die seine Gefühle, Motivationen, Einstel-<br />

lungen, Sinnverständnis prägen <strong>und</strong> Realität <strong>und</strong> Identität<br />

des Individuums schrittweise aufbauen" 7) gehören etwa Fami-<br />

lie, Spielgruppe, Nachbarschaft <strong>und</strong> Dorfgemeinschaft.<br />

Sek<strong>und</strong>ärgruppen sind formal organisierte soziale Gebilde,<br />

also etwa Betriebe, Vereine, Verbände <strong>und</strong> Bürokratien.<br />

Soziale Kleinereignisse sind also dadurch charakterisiert,<br />

daß sie unmittelbar nur auf diese eben beschriebenen Grup-<br />

pen zutreffen.<br />

Die Bedeutung dieses Typus' ist dadurch gegeben, daß die<br />

Ereignisse in diesen kleineren Gruppen in wesentlich höhe-<br />

rem Maße als die unmittelbar gesamtgesellschaftlich wirken-<br />

den Ereignisse das Individuum direkt betreffen.<br />

Daher gilt, daß solche Kleinereignisse für alle, die der<br />

31


jeweiligen Gruppe angehören, von hervorragender Bedeutung<br />

sind, von einem gesamtgesellschaftlichen Blickpunkt her<br />

jedoch nur in Form ausgewählter Beispiele Wert haben.<br />

Ein ländliches Kirtagfest hat etwa für die Dorfgemein-<br />

schaft den Charakter eines herausragenden Ereignisses, für<br />

die nationale Dokumentation hingegen ist es nur insoferne<br />

bedeutsam, als es in beispielhafter Weise das Brauchtum in<br />

einer Gemeinde illustrieren kann. Für bestimmte wissenschaft-<br />

liche Spezialdisziplinen - in dem erwähnten Beispiel der<br />

Volksk<strong>und</strong>e - kann das enge soziale Ereignis größere Gewich-<br />

tung besitzen. Die Forderung solcher Spezialdisziplinen<br />

wird daher auf eine höhere Anzahl von Beispielen ausgerich-<br />

tet sein, als dies für das Gesamtkonzept einer nationalen<br />

Dokumentation notwendig wäre.<br />

Aus diesen Gründen handelt es sich auch bei der Dokumenta-<br />

tion dieses Typs von Ereignissen in besonderem Maße um ein<br />

Aufgabengebiet für Spezialinstitutionen, etwa Vereins-, Ge-<br />

meinde-, Stadt- <strong>und</strong> Landesdokumentationen, die im optimalen<br />

Fall untereinander koordiniert sind <strong>und</strong> nach gemeinsamen<br />

Konzepten vorgehen. Für eine landesweite Dokumentationsstel-<br />

le mit ihrer allgemeinen Blickrichtung gilt in höherem Gra-<br />

de die Notwendigkeit, den Beispielscharakter derartiger Er-<br />

eignisse zu erkennen, Einzelne herauszugreifen <strong>und</strong> sie ent-<br />

sprechend in das Konzept der Dokumentation der gesamten Ge-<br />

sellschaft einzufügen. Es hängt vom Organisationsgrad der<br />

erwähnten regionalen Dokumentationsstellen ab, in welchem<br />

Ausmaße die nationale Sammlung regionale Interessen zusätz-<br />

lich vertreten muß.<br />

Durch die Unmöglichkeit einer scharfen Abgrenzung markiert<br />

der eben besprochene Typus auch schon den Obergang zu der<br />

nun zu behandelnden Kategorie der Alltagsereignisse.-<br />

2.15 Alltagsereignis<br />

Dieser Typus des Ereignisses ist für den Schallarchivar in-<br />

soferne am schwierigsten zu behandeln, als ihm die überwie-<br />

gende Zahl der Ereignisse überhaupt angehören. Doch nicht<br />

32


die technische Unmöglichkeit allein, die zeitlich <strong>und</strong> räum-<br />

lich vielfältigen Alltagsereignisse zu erfassen, hat bewirkt,<br />

daß bisher noch nirgends systematische Alltagsdokumentation<br />

vorgenommen wird.<br />

Ein weiterer Gr<strong>und</strong> dafür scheint darin zu liegen, daß bis-<br />

her keine ausreichenden Kriterien für eine repräsentative<br />

Auswahl der Alltagsereignisse vorgelegt werden konnten.<br />

Das Hauptproblem bei der Alltagsdokumentation ist die For-<br />

derung, daß man aus den hergestellten Tonbeispielen verall-<br />

gemeinernde Erkenntnisse für den gesamten Alltag <strong>und</strong> die<br />

Gesellschaft überhaupt gewinnen kann. Versteht man nun un-<br />

ter Alltag die kurzfristige periodische Wiederkehr von<br />

einander sehr ähnlichen Ereignissen ohne unmittelbare Aus-<br />

wirkung auf das soziale Gesamtgefüge, so müßte eine reprä-<br />

sentative nationale Dokumentation viele Millionen von Ein-<br />

zelereignissen aufbewahren.-<br />

Denn es ist in diesem Bereich - im Unterschied zu den wei-<br />

ter oben besprochenen Typen - nicht möglich, sachlich-wer-<br />

tend die typischsten Beispiele für eine Gruppe von Ereig-<br />

nissen herauszugreifen. Dies verbietet die Unzahl der Er-<br />

eignisse, ihre Unüberschaubarkeit <strong>und</strong> Unzugänglichkeit.<br />

Die Konsequenz daraus kann nur sein, daß man die Auswahl<br />

der Repräsentanten nach rein schematischen Gesichtspunk-<br />

ten vornimmt. Damit freilich ist eine ganz andere <strong>Methodik</strong><br />

impliziert: Die zuerst besprochene sachlich-wertende Selek-<br />

tion beruht auf der <strong>Methodik</strong> der Geschichtswissenschaft,<br />

während die schematische Auswahl jener <strong>Methodik</strong> entnommen<br />

ist, die die Soziologie entworfen hat. Eine solche Selek-<br />

tion nach schematischen Gesichtspunkten wird in der Sozio-<br />

logie als "Sample" bezeichnet. Um aussagekräftig zu sein,<br />

muß ein solches Sample aber einen Mindestprozentsatz an<br />

Beispielen enthalten. Eben dieser Mindestprozentsatz wäre<br />

aber bei der Alltagsdokumentation nur mit den erwähnten<br />

Millionen von Beispielen zu erreichen, - eine finanziell-<br />

organisatorische Unmöglichkeit!<br />

Wir haben es hier also mit einem wissenschaftstheoretischen<br />

33


Problem zu tun: Daß keine methodische Basis dafür vorhanden<br />

ist, wie eine Alltagsdokumentation vorzunehmen ist.<br />

Im Bewußtsein dieses Sachverhaltes, aber auch im Wissen, daß<br />

trotzdem der Alltag akustisch bewahrt werden muß, 8) seien<br />

doch einige Anhaltspunkte gegeben, die vielleicht solange<br />

helfend wirken mögen, bis durch Zusammenarbeit von Schall-<br />

archivaren mit Historikern <strong>und</strong> Soziologen dieses wissen-<br />

schaftstheoretische Problem gelöst werden kann.<br />

Die Alltagsdokumentation ist durch zwei aufeinander bezoge-<br />

ne Ziele gekennzeichnet: Einerseits Zustände quellenmäßig<br />

zu überliefern, andererseits durch eine kontinuierliche Über-<br />

lieferung Entwicklungen manifest zu machen. Es wird daher<br />

durch die historischen Prozesse auf der Ebene des Alltags<br />

ein Querschnitt nach einem genauen Plan gelegt <strong>und</strong> punktuell<br />

der Zustand zu einer bestimmten Zeit <strong>und</strong> an einem bestimmten<br />

Ort dokumentiert. Erst der Vergleich dieses einen Querschnit-<br />

tes mit nachfolgenden, sorgfältig <strong>und</strong> kontinuierlich erstell-<br />

ten Querschnitten ermöglicht eine Aussage über jeweilige Ent-<br />

wicklungslinien.<br />

Die Auswahl der Querschnittsaufnahmen soll nach schematischen<br />

Gesichtspunkten erfolgen, also bei gleichbleibendem Objekt<br />

etwa die Beibehaltung immer gleicher Zeitabstände. Gerade<br />

beim Typus des Alltagsereignisses ist es unmöglich, eine<br />

rein repräsentative Auswahl zu treffen. Während es bei<br />

einem Wahlkampf sinnlos wäre, mechanisch nur jede zehnte<br />

Wahlveranstaltung dokumentieren zu wollen, so wäre es glei-<br />

chermaßen lächerlich, zur Bewahrung des Alltagsgetriebes auf<br />

einem Markt nach besonders repräsentativen Kaufszenen zu<br />

fahnden <strong>und</strong> nur diese aufzunehmen.<br />

Denn die Alltagsdokumentation hat es zwar mit sehr vielen<br />

verschiedenen Lebensbereichen <strong>und</strong> einer Unzahl individuel-<br />

ler Ereignisse zu tun; innerhalb eines solchen Bereiches<br />

ist aber eine unüberschaubare Zahl von verhältnismäßig<br />

gleichartigen Ereignissen vorhanden, die daher gleichberech-<br />

tigt für die Aufnahme herangezogen werden können.<br />

34


Die Schematisierung der Auswahlkriterien bedeutet aber<br />

nicht, daß keine Rücksicht auf periodische Strukturen der<br />

zu dokumentierenden Prozesse genommen werden soll.<br />

Will man zum Beispiel den Verkehrslärm in einer großen<br />

Stadt dokumentieren, so genügt es sicherlich nicht, alle<br />

10 Tage eine St<strong>und</strong>e lang am selben Standort Geräusche auf<br />

Tonband festzuhalten. Es werden zusätzlich die Intensitäts-<br />

schwankungen des Verkehrs innerhalb eines Tages ebenso zu<br />

berücksichtigen sein, wie die innerhalb einer Woche; es<br />

sind weiters die Einflüsse von Ferienzeiten, Feiertagen<br />

oder der Jahreszeit auf den Verkehr in den Aufnahmsplan ein-<br />

zubeziehen, - gar nicht zu reden von der Wahl der Aufnahme-<br />

orte.<br />

Das bedeutet, daß die Struktur des Aufnahmeplanes <strong>und</strong> die<br />

Struktur der aufzunehmenden Prozesse korrespondieren müs-<br />

sen. Für jeden menschlichen Lebensbereich des Alltags müs-<br />

sen daher eigene spezifische Aufnahmeschemata erstellt wer-<br />

den.<br />

Auf Gr<strong>und</strong> der bisherigen Praxis kann man zumindest für die<br />

Alltagsdokumentation feststellen, daß die Schallaufzeich-<br />

nung primär durch eine gezielte Aufnahmetätigkeit des Histo-<br />

rikers, Schallarchivars oder Journalisten zustandekommt. Da<br />

jedoch in der Regel kein Gesamtkonzept der Alltagsaufnahmen<br />

erstellt wurde <strong>und</strong> damit die Zuordnung der Aufnahme in<br />

einen Sinnzusammenhang unmöglich ist, sind diese zufällig<br />

entstandenen Tonaufzeichnungen von Alltagsereignissen nahe-<br />

zu wertlos, ja bergen sogar die Gefahr einer Verzerrung in<br />

sich. Denn niemand kann unter diesen umständen sagen, ob<br />

eine vereinzelte Aufnahme etwa einer Marktszene um 1910 eine<br />

typische, für die Zeit charakteristische Alltagssituation<br />

einfängt, oder eine atypische Ausnahmssituation.<br />

Wäre hingegen die Anzahl solcher Aufnahmen von Marktszenen<br />

aus dem erwähnten Jahr höher, <strong>und</strong> lägen genaue Angaben über<br />

Ort, Zeit <strong>und</strong> Umstände der jeweiligen Aufnahme vor, so wäre<br />

zumindest die Wahrscheinlichkeit, Zeittypisches dokumentiert<br />

zu haben, höher, <strong>und</strong> erhielte man damit durch Vergleiche die<br />

35


Möglichkeit zu kritischer Auswertung.<br />

Es ist aber auch zu berücksichtigen, daß es langfristige<br />

Prozesse gibt, bei welchen die Anzahl der zu legenden Quer-<br />

schnitte innerhalb eines bestimmten Zeitraumes geringer<br />

sein kann als bei kurz- oder mittelfristigen Abläufen.<br />

Schließlich ist bei der Forderung nach Authentizität der<br />

Alltagsdokumentation als wichtigstes quellenkritisches Ele-<br />

ment die Beeinflussung des Menschen durch die Aufnahmesi-<br />

tuation selbst zu beachten. So kann sich durch das Bewußt-<br />

sein der technischen Aufzeichnung etwa die gewohnte Umgangs-<br />

sprache in Richtung der Hochsprache verändern.<br />

Die hier skizzierte Vorgangsweise löst freilich das oben<br />

angedeutete Problem des Samples noch keineswegs. Ohne das<br />

geforderte Mindestmaß an Vergleichsmöglichkeiten wäre aber<br />

eine Alltagsaufnahme von vornherein nicht mehr als eine<br />

bloße Rarität.<br />

2.2 Die Rarität<br />

Von einer Rarität in bezug auf das Schallereignis kann man<br />

dann sprechen, wenn ohne Rücksicht auf den zeitlichen, sach-<br />

lichen <strong>und</strong> biographischen Zusammenhang <strong>und</strong> ohne Versuch der<br />

Einordnung oder kritischen Selektion ein Ereignis aufgezeich<br />

net wird. Der Charakter der Zufälligkeit kann durch die Per-<br />

son gegeben sein oder durch die Aussage, die sie macht. Bei<br />

einer solchen, nach irrational subjektiven Kriterien ent-<br />

standenen Aufnahme ist primär eine wissenschaftliche Auswer-<br />

tung nicht bezweckt. Die Rarität muß jedoch auch die Elemen-<br />

te des Seltenen <strong>und</strong> Besonderen in einem emotionell-subjekti-<br />

ven Sinn enthalten, zumeist auch den Charakter des Fragmen-<br />

tarischen. In Sonderfällen kann aber eine Rarität für eine<br />

bestimmte wissenschaftliche Disziplin einen eng begrenzten<br />

wissenschaftlichen Quellenwert bekommen.<br />

Wenn man zum Beispiel die drei erhaltenen Schallaufzeichnun-<br />

gen von Kaiser Franz Josef betrachtet, so besteht kein Zwei-<br />

fel an den beiden Elementen des Seltenen <strong>und</strong> Besonderen.<br />

36


Eine der Aufnahmen entstand anläßlich der Paris Weltaus-<br />

stellung im Jahre 1900 <strong>und</strong> beinhaltet nur eine kurze, nichts-<br />

sagende Bemerkung über die Erfindung des Phonographen; die<br />

zweite ist ein kurzer Aufruf anläßlich einer Spendenaktion<br />

des k.k. österreichischen Militär-Witwen- <strong>und</strong> Waisenfonds<br />

im 1. Weltkrieg. 9) Weder die Aufnahme noch die Aufbewahrung<br />

erfolgte unter wissenschaftlichen Kriterien. In ihrem frag-<br />

mentarischen Charakter stellen sie zweifellos eine Rarität<br />

dar, - eine Rarität freilich, die inzwischen auch einen eng<br />

begrenzten historischen Quellenwert erhalten hat. Für den<br />

Biographen Franz Josephs ist die Aufnahme ein Beispiel für<br />

die Sprechweise des Kaisers, die besonders in der höheren<br />

Bürokratie damals zahlreiche Nachahmung gef<strong>und</strong>en hat. Die<br />

dritte Aufnahme sind die Phonogramme Nummer 1-3 des Phono-<br />

grammarchivs der Akademie der Wissenschaften, auf welche<br />

bereits gewisse wissenschaftliche Kriterien der Archivie-<br />

rung zutreffen (siehe Einleitungsmotto). 10) Dieses Dokument<br />

hat daher mehr als nur Raritätscharakter.<br />

Für die Genesis der Tondokumentation ist es wesentlich, daß<br />

die ersten Aufnahmen kaum von wissenschaftlichen Kriterien<br />

bestimmt waren, solange die technische Seite mit dem Odium<br />

des Außergewöhnlichen behaftet war. Mit der Ausbreitung<br />

einer weltweiten Audio-Industrie <strong>und</strong> der ausgefeilten Tech-<br />

nisierung wurde aber auch die Schallarchivierung auf eine<br />

andere, pragmatische Gr<strong>und</strong>lage gestellt. Die hingegen in<br />

der Frühphase der Schallaufzeichnungen hergestellten "Stimm-<br />

porträts" konzentrierten sich primär auf die Aufzeichnung<br />

der Stimme <strong>und</strong> weniger auf den Inhalt des Gesagten. Derar-<br />

tige Aufnahmen, die meist noch durch "Verkünstlichung" an-<br />

läßlich der Aufnahme atypisch sind <strong>und</strong> in der Regel auch<br />

nichts über die gewohnte Sprechweise der aufgenommenen Per-<br />

son aussagen, sind heute nur mehr für die Linguistik ver-<br />

wendbar, haben aber darüber hinaus nur mehr den Charakter<br />

einer Rarität.<br />

37


2.3 Das Interview<br />

2.31 Allgemeines<br />

In diesem Fall ist es der Tonarchivar, der Wissenschaftler<br />

oder der Journalist selbst, der die Initiative zur Gestal-<br />

tung des Ereignisses ergreift. Im Gegensatz zu dem Ereig-<br />

nis, das unabhängig von einer Tonaufzeichnung jedenfalls<br />

stattfindet, hängt hier Schallereignis <strong>und</strong> Tonaufzeichnung<br />

unmittelbar zusammen. Meist handelt es sich dabei um die<br />

Form des wissenschaftlichen Interviews, das jedoch trotz<br />

seiner häufigen Anwendung bisher noch keine wissenschafts-<br />

theoretische F<strong>und</strong>ierung erhalten hat. Die erfolgreiche<br />

Durchführung eines Interviews ist daher in hohem Maß vom<br />

individuellen Geschick des Interviewers abhängig <strong>und</strong> wird<br />

empirisch-pragmatisch, meist unreflektiert <strong>und</strong> ohne ausrei-<br />

chende Vorbereitung durchgeführt.<br />

Das Interview ist eine Methode, in mündlicher Form subjek-<br />

tives Erinnern, subjektiv faßbar gewesene Tatsachen <strong>und</strong><br />

eine Erweiterung bestehender <strong>historischer</strong> Quellen zu erlan-<br />

gen. Das wissenschaftliche Interview dient im wesentlichen<br />

der Gewinnung neuer, nicht in anderen Quellen befindlicher<br />

Informationen <strong>und</strong> Interpretationen von Zusammenhängen. 11)<br />

Was kann nun durch Interviews an Informationen gewonnen wer-<br />

den, das nicht aus anderen Quellen ableitbar ist? Es sind<br />

dies zusätzliche Angaben zu vorhandenen schriftlichen Quel-<br />

len, also etwas, das aus verschiedenen Gründen seinerzeit<br />

nicht schriftlich niedergelegt wurde, es kann aber ebenfalls<br />

eine Rekonstruktion verschw<strong>und</strong>ener (vernichteter) Quellen<br />

sein. Weiters ist durch das Interview eine Interpretation<br />

vorhandener schriftlicher Quellen möglich (zum Beispiel<br />

diplomatischer Dokumente), also die Erläuterung von bewußten<br />

Auslassungen, Manipulationen aus praktischen politischen<br />

Gründen oder Übertreibungen. Das Interview bietet ferner<br />

die einzige Möglichkeit, eine Artikulation von Bevölkerungs-<br />

schichten zu erhalten, die normalerweise nicht in den von<br />

Eliten verfaßten Dokumenten aufscheinen beziehungsweise die<br />

38


selbst üblicherweise nur mangelhafte <strong>und</strong> wenig aussagekräf-<br />

tige schriftliche Aufzeichnungen zu machen gewohnt sind.<br />

Dazu gehören auch die mitunter durch viele Generationen<br />

tradierten mündlichen Überlieferungen (also etwa Familien-<br />

sagen).<br />

Der Quellenwert von Tonaufzeichnungen ist in hohem Maße<br />

von der kritischen Prüfung der verzerrenden Faktoren abhän-<br />

gig, die bereits teilweise während der Aufnahme vorgenommen<br />

werden muß. So hat der Zeitraum zwischen dem Ereignis <strong>und</strong><br />

der Befragung wesentliche Bedeutung für die Aussage. Wird<br />

ein Interview kurz nach dem Ereignis vorgenommen, ist zwar<br />

das Gedächtnis frisch, doch kann aus aktuellen Gründen un-<br />

ter Berücksichtigung der Position des Befragten mitunter<br />

keine Bereitschaft zur Aussage gegeben sein. Die Nähe zum<br />

Ereignis ist daher nicht immer ein Vorteil, 12) doch kann<br />

man unter Umständen damit rechnen, daß zu einem späteren<br />

Zeitpunkt, wenn diese aktuellen Rücksichten weggefallen<br />

sind, der Interviewte zur Aussage bereit ist. Erfolgt die<br />

Befragung längere Zeit nach dem Ereignis, so kann es zu<br />

Verwechslungen der Zusammenhänge, Zeitfehlern, Vergessen<br />

<strong>und</strong> Hinwegtäuschen über Vergessenes, Vermischung von Selbst-<br />

erlebtem <strong>und</strong> nachträglich Angeeignetem kommen. Auch der Wis-<br />

sensstand <strong>und</strong> das Verhalten des Interviewers hat Einfluß<br />

auf die Aussage. Hat der Interviewte den Eindruck, daß der<br />

Befrager viel weiß, ist er zu ausführlicherer, präziserer<br />

<strong>und</strong> informativerer Aussage gezwungen. Merkt er das geringe<br />

Wissen des Interviewers, wird er von sich aus nicht alle<br />

Informationen anbieten. Ein verzerrendes Moment, dem beson-<br />

dere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, ist die Tat-<br />

sache, daß der Befrager oft als Autoritätsperson empf<strong>und</strong>en<br />

wird,auf den - mitunter auch unbewußt - Aussagen abgestimmt<br />

werden. Dieses Verhalten ist auch vom Bildungsniveau des<br />

Interviewten abhängig - je höher es ist, desto geringer ist<br />

meist der Einfluß des Interviewers. Wesentlichen Einfluß hat<br />

ferner die kommunikationstechnische Haltung, mit der das<br />

Interview gestaltet wird, <strong>und</strong> auch die Art der Fragestellung<br />

kann schon die Antwort beeinflussen. Als Korrektiv bieten<br />

39


sich Vergleiche mit anderen Quellen oder mit anderen Aus-<br />

sagen an.<br />

Das vorher Gesagte ist ganz allgemein für die aktiv herge-<br />

stellten Schallereignisse gültig, doch kann man eine stärke-<br />

re Differenzierung vornehmen:<br />

2.32 Die "Erzählung"<br />

Die formloseste Art des Interviews ist die "Erzählung".<br />

Hier wird das Interview ausschließlich vom Interviewten<br />

selbst gestaltet, - er allein bestimmt den Ablauf <strong>und</strong> den<br />

Inhalt des Gespräches. Die Rolle des Aufnehmenden beschränkt<br />

sich auf gelegentliche Ermunterungen oder Korrekturen von<br />

offensichtlichen Irrtümern. Diese Art des Interviews hat<br />

den Vorteil, daß in stärkerem Maß als bei den anderen In-<br />

terviewarten die individuelle Gewichtung <strong>und</strong> Färbung der<br />

Darstellung bewahrt wird, jedoch viele Fragen unerwähnt blei-<br />

ben. Für diese Art der Aufnahme sind keine hohen fachspezi-<br />

fischen Kenntnisse notwendig, - sie könnten daher in großem<br />

Stil systematisch von den Tonarchiven im Rahmen der Dokumen-<br />

tationsaufgaben erstellt werden.<br />

2.33 Allgemeines Interview<br />

Ein solches Interview, dessen Führung fachspezifischer Kennt-<br />

nisse bedarf, dient meist breiter konzipierten Forschungs-<br />

schwerpunkten, ohne daß bereits sehr detaillierte Fragen er-<br />

örtert werden. Das Ziel ist, allgemeine Informationen oder<br />

Hinweise auf neue Problemstellungen zu erhalten. Diese Art<br />

des Interviews wird in der Regel am Beginn einer Forschungs-<br />

arbeit geführt. Die Fragestellung erweitert sich durch das<br />

Interview <strong>und</strong> bereitet die Durchführung eines speziellen<br />

Interviews vor. Ein solches Interview kann mit einer bestimm-<br />

ten Person mit einem größeren Personenkreis, um Hinweise auf<br />

besonders Informierte zu bekommen, einen eng begrenzten Per-<br />

sonenkreis (z.B. die 80jährigen in einer Gemeinde) oder mit<br />

einer bestimmten Zielgruppe (z.B. politische Funktionäre)<br />

40


geführt werden. In der Regel sollen die Fragen bei einer<br />

Flächenbefragung nach einem gleichbleibenden Schema er-<br />

stellt werden, um eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen.<br />

Die Soziologie fordert in diesem Zusammenhang das standar-<br />

disierte <strong>und</strong> strukturierte Interview (die gleiche Frage<br />

wird in der gleichen Reihenfolge gestellt), während dieses<br />

für die Geschichtswissenschaft nicht zielführend ist.<br />

2.34 Spezielles Interview<br />

In der Regel wird dieser Typ des Interviews in Zusammenhang<br />

mit einer konkreten Forschungsaufgabe stehen <strong>und</strong> ein großes<br />

Spezialwissen des Befragers erfordern. Das Ziel ist, kriti-<br />

sche Details <strong>und</strong> Zusammenhänge zu erfahren, oder Bekanntes<br />

zu verifizieren, zu falsifizieren oder zu ergänzen. Die<br />

neuen Informationen dienen nicht mehr als Gr<strong>und</strong>lage für<br />

weitere Problemstellungen, sondern ermöglichen die vertie-<br />

fende Darstellung spezieller wesentlicher Fakten <strong>und</strong> Inter-<br />

pretationen. Meist werden derartige Interviews mit Personen<br />

geführt, die durch ihre Funktion bestimmenden Einfluß auf<br />

Geschehnisse oder zumindest Kenntnis davon hatten. Gelegent-<br />

lich aber können Interviews zu ganz speziellen Fragen auch<br />

mit einem größeren Personenkreis geführt werden, in Sonder-<br />

fällen sogar mit einem Sample. Als Beispiel dafür sei eine<br />

Untersuchung in einer niederösterreichischen Gemeinde ange-<br />

führt, in der (unter anderem) alle Ortsbewohner genau über<br />

ihr Verhalten anläßlich der Volksabstimmung am 10. April 1938<br />

befragt wurden. 13)<br />

Abschließend sei jedoch angemerkt, daß die hier beschriebe-<br />

nen Formen der Interviews sich durchaus überschneiden kön-<br />

nen. Es kann ein allgemeines Interview geführt werden, das<br />

teilweise auch den Charakter eines speziellen Interviews<br />

erhält; im Rahmen der "Erzählung" können Züge eines allge-<br />

meinen Interviews auftreten.<br />

41


2.4 <strong>Zur</strong> Betrachtungsweise von Schallaufzeichnungen<br />

2.41 Allgemeines<br />

Die vorangehende Typologie orientiert sich am sozialen Be-<br />

zug der Ereignisse oder an bestimmten Bedürfnissen der kon-<br />

kreten wissenschaftlichen <strong>und</strong> journalistischen Arbeit. Wenn<br />

man die zwei prinzipiell verschiedenen Betrachtungsweisen -<br />

die kollektive <strong>und</strong> die individuelle - unterscheidet, so be-<br />

handelt die erwähnte Typologie den kollektiven Aspekt. Der<br />

Unterschied ist insoferne wichtig, als es für die Selektion<br />

<strong>und</strong> Auswertung Auswirkungen hat, ob in einem Archiv oder<br />

bei einem Forschungsprojekt der eine oder der andere Aspekt<br />

bestimmend ist. Kollektiv heißt, daß man in diesem Fall aus<br />

Tondokumenten, wie aus allen anderen Dokumenten ebenso,<br />

Aufschluß über gesellschaftliche Sachverhalte erhalten kann,<br />

während individuell bedeutet, daß man Informationen zur In-<br />

dividualität ganz bestimmter Menschen, konkreter Sachen<br />

oder zu eng begrenzten Themen bekommen kann. Der indivi-<br />

duelle Aspekt nun, setzt sich wieder nach inhaltlichen Kri-<br />

terien aus dem monographischen <strong>und</strong> dem biographischen Ele-<br />

ment zusammen.<br />

Das monographische <strong>und</strong> biographische Element ist bei der<br />

Einteilung des Aufgabenbereiches der Tondokumentation von<br />

Bedeutung, sie haben auch jeweils bestimmte quellenk<strong>und</strong>-<br />

liche Folgen, die bereits die Auswahl der Aufnahmen bestim-<br />

men. Es wird sehr oft der Fall sein, daß Tonarchive nur<br />

ein sehr eng gefaßtes Aufgabengebiet haben, für die sich die<br />

Frage der Selektion <strong>und</strong> Repräsentation nicht in dem Maße<br />

wie für ein Archiv mit allgemein-gesellschaftlicher Aufga-<br />

benstellung stellt. Für diese Spezialarchive kann mitun-<br />

ter sogar die Forderung nach Vollständigkeit des Sammelge-<br />

bietes erhoben werden.<br />

Die Verfasser sind sich bewußt, daß die individuelle Be-<br />

trachtungsweise durchaus eigene überlegte Typologien erfor-<br />

dert, die sich von der erwähnten Typologie unterscheidet.<br />

Doch scheint es hier sinnvoller, die mehr betroffenen Dis-<br />

42


ziplinen (etwa Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft,<br />

Linguistik, Medizin usw.) anzuregen, diese fachspezifi-<br />

schen Typologien zu entwickeln. Die folgenden Bemerkun-<br />

gen sollen daher bloß einige Anregungen bieten.<br />

2.42 Das monographische Element<br />

Der monographische Aspekt des Tondokuments ist seine sach-<br />

liche Aussage - also jene Informationen, die sich auf Sach-<br />

verhalte beziehen -; der biographische Aspekt ist hier se-<br />

k<strong>und</strong>är. Die Tondokumentation wird von der sachlichen Aussa-<br />

ge einer eng begrenzten Themenstellung ausgehend aufgebaut;<br />

nur dieses Thema ist Sammlungsgegenstand, die soziale Be-<br />

deutung ist für die Sammlung sek<strong>und</strong>är oder nicht vorhanden.<br />

So wird zum Beispiel ein Eisenbahnarchiv die Sammlung des<br />

akustischen Bereichs des Eisenbahnwesens, also die Motor-<br />

geräusche, Signale usw. der verschiedenen Maschinen <strong>und</strong><br />

Typen vornehmen; ein Volksliedarchiv wird die nichtelitä-<br />

re Musikkultur eines Landes oder eines Gebietes aufzeich-<br />

nen, jedoch nicht die Aufgaben einer umfassenden musikali-<br />

schen Dokumentation einer Zeit übernehmen. Auch hier ist<br />

aber anzumerken, daß es durchaus zu Überschneidungen mit<br />

den angeführten sozialen Typen kommen kann.<br />

2.43 Das biographische Element<br />

Die biographische Dokumentation ist in erster Linie auf<br />

die Individualität der betreffenden Person gerichtet. Ihr<br />

persönliches Weltbild, ihr Habitus, ihr äußeres Gehabe<br />

sind hier die Gr<strong>und</strong>lagen wissenschaftlicher Erkenntnisse.<br />

Dabei wäre es jedoch nicht sinnvoll, jede auch noch so<br />

gleichgültige Äußerung selbst einer außerordentlich wich-<br />

tigen <strong>und</strong> bestimmenden Person aufzuzeichnen. Man muß da-<br />

her auch bei biographischer Dokumentation strenge Selek-<br />

tionskriterien anwenden, die sich jedoch - wie oben er-<br />

wähnt - von den Auswahlkriterien der Sozialtypologie un-<br />

terscheiden. Es muß vor allem in jedem Fall der indivi-<br />

43


duelle Bezug genau geprüft werden, denn selbst eine Fülle<br />

von Reden eines Politikers sagt nur wenig über seine in-<br />

dividuellen politischen Verhaltensweisen <strong>und</strong> Ideen aus,<br />

wenn diese von Ghostwritern verfaßt wurden.<br />

Wenngleich biographische Züge wohl in den meisten Dokumen-<br />

tationen vorhanden sein werden, sind doch primär biogra-<br />

phisch orientierte Dokumentationsstellen in erster Linie<br />

im Bereich der musikalischen Interpreten (also zum Bei-<br />

spiel ein Caruso-Archiv) oder der Literatur (etwa das<br />

Thomas Mann-Archiv) sinnvoll.<br />

(Im Anschluß an diesen theoretischen Teil folgt in der Num-<br />

mer 2 des "Schallarchivs" ein praktischer Teil, der sich mit<br />

konkreten Bedürfnissen der Schallarchivierung beschäftigt.)<br />

44


A n m e r k u n g e n<br />

1) Katalog I der Platten 1-2000 des Phonogramm-Archivs der<br />

Akademie der Wissenschaften in Wien, Hg. Dr. Sigm<strong>und</strong><br />

Exner, Wien 1922,S.7 Nr. 1-3.<br />

2) Ein besonders drastisches Beispiel dafür ist der Ab-<br />

schnitt "Film- <strong>und</strong> Tonaufnahmen als historische Quel-<br />

len" in dem Buch: Peter Borowsky, Barbara Vogel, Heide<br />

W<strong>und</strong>er, Einführung in die Geschichtswissenschaft I,<br />

Gr<strong>und</strong>probleme, Arbeitsorganisation, Hilfsmittel, Opla-<br />

den 1975, S. 133-136.<br />

Es wird hier die Notwendigkeit einer eigenen theoreti-<br />

schen F<strong>und</strong>ierung der Tondokumentation überhaupt negiert:<br />

"Die praktische Arbeit mit Film- <strong>und</strong> Tonaufnahmen kann<br />

sich also weitgehend am Umgang mit den traditionellen<br />

Quellen orientieren" (S. 134), "Film- <strong>und</strong> Tonaufnahmen<br />

bedürfen also gr<strong>und</strong>sätzlich keiner besonderen Auswer-<br />

tungsmethoden." (S. 135);<br />

In dem von der IASA, der International Association of<br />

So<strong>und</strong> Archives, herausgegebenen phonographic bulletin<br />

erschienen eine Reihe von Aufsätzen, die die Erforder-<br />

lichkeit einer eigenen Theorie <strong>und</strong> Methode für die Do-<br />

kumentation mittels audiovisueller Medien betonen. Im<br />

weiteren Verlauf wird an den entsprechenden Stellen auf<br />

manche dieser Aufsätze Bezug genommen werden.<br />

3) Deutsches R<strong>und</strong>funkarchiv, Frankfurt, Katalog Tondoku-<br />

mente Literatur, Dezember 1967, Nr. 103, 105-107, 109;<br />

vergleiche auch: Lou Hoefnagels, Theatre on Tape, In:<br />

phonographic bulletin Nr. 4 August 1972, S. 20 ff.<br />

4) "From the beginning on Oral History has considered the<br />

transcript as the ultimate objective of each interview"<br />

Rolf Schuursma, The Oral History Collection of Columbia<br />

University, In: phonographic bulletin Nr. 8 April 1974,<br />

S. 16; David Lance, Oral History, Some Personal Reflec-<br />

tions on the American Experiences, In: phonographic<br />

bulletin Nr. 8 April 1974, S. 12-17;<br />

Beide Autoren setzen sich kritisch mit dieser Theorie<br />

auseinander.<br />

5) Diese äußeren Begrenzungen hat Rolf Schuursma in seinem<br />

Aufsatz "Principles of Selection in So<strong>und</strong> Archives", In:<br />

phonographic bulletin Nr. 11 May 1975, S. 12-19, beschrie-<br />

ben. Als innere Kriterien der Selektion führt er die<br />

Konzentration auf die medienspezifische Information, Ar-<br />

beitsteilung <strong>und</strong> Komplettheit der Aufnahme an; vgl. dazu<br />

auch: Rolf Schuursma, Principles of Selection, in:<br />

phonographic bulletin Nr. 9 August 1974, S. 7/8; Timothy<br />

Eckersley, The Selection of Recordings for Permanent<br />

Retention in the BBC So<strong>und</strong> Archives, In: phonographic<br />

bulletin Nr. 9 August 1974, S. 9-12.<br />

6) Handlexikon zur Politikwissenschaft, Hg. Axel Görlitz,<br />

München 1970, S. 376 ff.<br />

45


7) a.a.O.<br />

8) Die Bedeutung der Dokumentation des Alltags erwähnt auch<br />

Rolf Schuursma, Principles of Selection, In: phonographic<br />

bulletin Nr. 9 August 1974, S. 7/9 <strong>und</strong>: Principles of<br />

Selection in So<strong>und</strong> Archives, In: phonographic bulletin<br />

Nr. 11 May 1975, S. 18 f.; wenn auch durch solche For-<br />

derungen nach stärkerer Berücksichtigung des Alltagsle-<br />

bens noch keine Handhaben gegeben sind, wie dies zu ge-<br />

schehen habe, sind sie doch als Ausdruck eines Bewußt-<br />

werdungsprozesses sehr wertvoll.<br />

9) österreichische Phonothek, Katalog <strong>historischer</strong> Tonauf-<br />

nahmen 1900-1941, Wien 1976.<br />

10) Katalog I der Platten 1-2000 des Phonogramm-Archives<br />

der Akademie der Wissenschaften in Wien, Hg. Dr. Sigm<strong>und</strong><br />

Exner, Wien 1922, S. 7 Nr. 1-3.<br />

11) Dazu auch: Joke M.S. Rijken, The Interview as a Histo-<br />

rical Method, In: phonographic bulletin Nr. 3 July 1972,<br />

S. 28-33; Rolf Schuursma, Some Aspects of Historlcal<br />

Interviews on Tape, In: phonographic bulletin Nr. 2<br />

January 1972, S. 8-12.<br />

12) Im Gegensatz dazu Joke M.S. Rijken, The Interview as a<br />

Historical Method, In: phonographic bulletin Nr. 3<br />

July 1972 S. 31 f: "the shorter the time, the less<br />

distorted the Information."<br />

13) Es handelt sich um die niederösterreichische Gemeinde<br />

Ottenschlag, in der im Herbst 1974 eine Forschungsgrup-<br />

pe des Instituts für Zeitgeschichte der Universität<br />

Wien eine Untersuchung zum Kriegsende 1945 durchführte.<br />

Eine abschließende Studie wird in Kürze vorliegen.<br />

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