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Verschiedene Wirklichkeit

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<strong>Verschiedene</strong> <strong>Wirklichkeit</strong><br />

Dokumentation der Diplomarbeit<br />

von Janek Jonas<br />

Universität der Künste Berlin<br />

Visuelle Kommunikation<br />

April 2007<br />

Prof. Maria Vedder<br />

Prof. Joachim Sauter<br />

Prof. Anna Anders<br />

Isabell Spengler<br />

Dr. Anja Osswald<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 1


2 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 3<br />

Inhalt<br />

Einleitung<br />

Motivation 4<br />

Hintergrund<br />

<strong>Verschiedene</strong> <strong>Wirklichkeit</strong> 6<br />

Mindfuck-Filme 10<br />

Andere <strong>Wirklichkeit</strong>sebenen 12<br />

Mockumentary 14<br />

Eigene Referenzen 16<br />

Mondmanns Faden<br />

Konzept-Ansätze 34<br />

Zwei Orte - Konzept 36<br />

Dreharbeiten in Uganda 40<br />

Weiterentwicklung des Konzeptes 48<br />

Dreharbeiten in Berlin 50<br />

Verbindung der beiden <strong>Wirklichkeit</strong>en 52<br />

Anregungen und Quellen 62


4 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Einleitung<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 5<br />

Motivation<br />

Everyone lives in his own fantasy world, but most people don’t understand that. No one<br />

perceives the real world. Each person simple calls his private, personal fantasies the Truth.<br />

– Frederico Fellini<br />

<strong>Verschiedene</strong> <strong>Wirklichkeit</strong><br />

Mich interessiert der Begriff der <strong>Wirklichkeit</strong>. Wie ent-<br />

steht unsere <strong>Wirklichkeit</strong>? Wovon hängt sie ab? Durch<br />

welche Informationen entsteht sie? Wie nehmen wir<br />

<strong>Wirklichkeit</strong> wahr? Inwieweit ist es möglich ein objekti-<br />

ves <strong>Wirklichkeit</strong>sbild zu erhalten? Besonders interessiert<br />

mich hierbei die Auseinandersetzung mit filmischen<br />

<strong>Wirklichkeit</strong>en. Wie entstehen <strong>Wirklichkeit</strong>en im Film<br />

und wie entstehen <strong>Wirklichkeit</strong>en durch Film?<br />

In meiner Arbeit möchte ich aus verschiedenen Fragmen-<br />

ten unterschiedlicher <strong>Wirklichkeit</strong>en eine neue, andere<br />

„<strong>Wirklichkeit</strong>” entstehen lassen. Diese neue, andere<br />

<strong>Wirklichkeit</strong> soll sich innerhalb des Prozesses der Diplom-<br />

marbeit entwickeln. Das Ziel ist einen Film zu schaffen,<br />

der auf dieses Thema aufbaut.<br />

Im ersten Teil dieser Dokumentation werde ich mich<br />

anhand von Texten von Paul Watzlawick und Heinz von<br />

Foerster mit dem Begriff der <strong>Wirklichkeit</strong> auseinander-<br />

setzen.<br />

Darauf folgend werde ich mich mit einigen Filmbeispie-<br />

len, u.a. aus dem Genre des sogenannten „Mindfuck“-<br />

Films, beschäftigen, welche sich auf eine besondere Wei-<br />

se mit dem Begriff von <strong>Wirklichkeit</strong> auseinandersetzen.<br />

Im Anschluss werde ich einige meiner bisherigen Arbei-<br />

ten vorstellen, die ebenfalls die Wahrnehmung von<br />

<strong>Wirklichkeit</strong> thematisieren.<br />

Der abschließende Teil der Dokumentation beschreibt<br />

die Entstehung des praktischen Teils der Diplomarbeit.


6 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Hintergrund<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 7<br />

<strong>Verschiedene</strong> <strong>Wirklichkeit</strong><br />

Wie entsteht <strong>Wirklichkeit</strong>? Eine Auseinandersetzung mit dem <strong>Wirklichkeit</strong>sbegriff anhand der Bücher<br />

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners von Heinz von Foerster (Physiker, Mitbegründer der kybernetischen<br />

Wissenschaft, Philosoph) im Gespräch mit Bernhard Pörksen und Wie wirklich ist die<br />

<strong>Wirklichkeit</strong>? von Paul Watzlawicks (Kommunikationswissenschaftler, Philosoph).<br />

Ordnung ist des Himmels oberstes Gesetz. – Alexander Pope<br />

Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können. – Albert Einstein<br />

<strong>Wirklichkeit</strong><br />

<strong>Wirklichkeit</strong> ist das Ergebnis von Kommunikation. Laut<br />

Paul Watzlawick ist das wackelige Gerüst unserer All-<br />

tagsauffassungen der <strong>Wirklichkeit</strong> im eigentlichen Sinne<br />

wahnhaft. Es gibt vielmehr zahllose <strong>Wirklichkeit</strong>sauf-<br />

fassungen, die sehr widersprüchlich sein können. Sie alle<br />

sind Ergebnis von Kommunikation und nicht Wider-<br />

schein ewiger, objektiver Wahrheiten.<br />

Menschen beeinflussen sich gegenseitig durch Kommu-<br />

nikation, wodurch ganz verschiedene „<strong>Wirklichkeit</strong>en”,<br />

Weltanschauungen oder Wahnvorstellungen entstehen<br />

können.<br />

So ist der Glaube, dass die eigene Sicht der <strong>Wirklichkeit</strong><br />

die <strong>Wirklichkeit</strong> schlechthin bedeute, eine gefährliche<br />

Wahnidee. Sie wird dann noch gefährlicher, wenn sie<br />

sich mit der messianischen Berufung verbindet, die Welt<br />

dementsprechend aufklären und ordnen zu müssen<br />

– gleichgültig, ob die Welt diese Ordnung nun wünscht<br />

oder nicht.<br />

Für Heinz von Foerster bedeutet Erkennen, dass inner-<br />

halb des Nervensystems Zusammenhänge zwischen<br />

Empfindungen hergestellt werden. Das Erkennen stellt<br />

einen unendlichen und in ständiger Zirkularität ab-<br />

laufenden Vorgang dar. Von Foerster beschreibt die<br />

Wahrnehmung der Welt stets als „Konstruieren” und<br />

„Erfinden” von <strong>Wirklichkeit</strong>.<br />

Die Welt wird an den Erkennenden gekoppelt; er ist es,<br />

der sich für ihre Existenz entscheidet. Die Welt als eine<br />

Erfindung aufzufassen heißt, sich als ihren Erzeuger zu<br />

begreifen; es entsteht Verantwortung für ihre Existenz.<br />

Kommunikation<br />

Wo entsteht Kommunikation? Für von Foerster entsteht<br />

sie in demjenigen, der mit einem Signal etwas anfangen<br />

kann. Sie ist kein Gebrauchsgegenstand, der sich außer-<br />

halb des wahrnehmenden Bewusstseins befindet. Bücher<br />

und Zeitungen, Ton- und Videobänder, Straßenschilder<br />

usw. enthalten keine Information, sondern sie sind Trä-<br />

ger potentieller Information.<br />

Die Welt enthält keine Information. Sie ist, wie sie ist.<br />

Somit lässt sich Kommunikation als eine individuelle<br />

Sinnkonstruktion beschreiben.<br />

Konfusion und die Entstehung von <strong>Wirklichkeit</strong>sauffas-<br />

sungen<br />

Man kann laut Watzlawick den Zustand der Konfusion<br />

als das Spiegelbild der Kommunikation auffassen. Wir<br />

Menschen hängen, wie alle anderen Lebewesen, von<br />

unserer Umwelt ab. Diese Abhängigkeit bezieht sich<br />

nicht nur auf die Erfordernisse des Stoffwechsels, son-<br />

dern auch auf hinlänglichen Informationsaustausch. Wir<br />

spüren Konfusion wenn wir eine Situation erleben, die<br />

wir nicht kennen, in der wir nicht wissen wie wir uns<br />

verhalten sollen.<br />

Nach einer ursprünglichen Lähmung löst jeder Zustand<br />

der Konfusion eine sofortige Suche nach Anhaltspunkten<br />

aus, die zur Klärung der Ungewissheit und dem damit<br />

verbundenen Unbehagen dienen können. Daraus folgt<br />

zweierlei. Erstens wird diese Suche, wenn erfolglos, auf<br />

alle möglichen und unmöglichen Bezüge ausgedehnt und<br />

wird unter Umständen die unbedeutendsten und abwe-<br />

Verstehen und Begreifen entstehen in Form einer Wech-<br />

selwirkung zwischen dem, was gesagt wird und dem,<br />

was jemand bereits – aufgrund seiner besonderen Kultur<br />

oder Herkunft – weiß, kennt und erwartet.<br />

Daraus ergibt sich für von Foerster das hermeneutische<br />

Prinzip: Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die<br />

Bedeutung einer Aussage.<br />

gigsten Zusammenhänge einbeziehen. Zweitens neigt<br />

man in einem Zustand der Konfusion ganz besonders<br />

dazu sich an die erste konkrete Erklärung zu klammern,<br />

die man durch den Nebel der Konfusion zu erkennen<br />

glaubt.<br />

Eine andere Folge der Konfusion besteht darin, dass sie<br />

unsere Wahrnehmung für unter Umständen kleinste Ein-<br />

zelheiten schärft. In ungewöhnlichen Situationen, zum<br />

Beispiel in großer Gefahr, sind wir unvermutet gewisser<br />

Reaktionen fähig, die vollkommen aus dem Rahmen<br />

unseres Alltagsverhalten fallen können.<br />

Die durch Konfusion erzeugte Unwirklichkeit löst also<br />

eine sofortige Suche nach Ordnung aus.<br />

Es können merkwürdige Störungen der <strong>Wirklichkeit</strong>s-<br />

auffassung auftreten, wenn diese Ordnung schwer zu<br />

erfassen ist oder überhaupt nicht besteht.


8 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Hintergrund<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 9<br />

Es gibt eine Unzahl von Lebenslagen, für deren Bewäl-<br />

tigung man auf seine eigene Umsicht und Findigkeit<br />

angewiesen ist, da diese Situationen neuartig sind und<br />

zu ihrer Lösung keine (oder nur unzureichende) frühere<br />

Erfahrungen zur Verfügung stehen. Dieser Mangel an<br />

direkt anwendbarer Erfahrung und die sich daraus erge-<br />

bende Unfähigkeit, das Wesen der Situation auf Anhieb<br />

Interpunktion<br />

Ein alter Witz von der Laborratte, die einer anderen<br />

Ratte das Verhalten des Versuchsleiters mit den Worten<br />

erklärt: „Ich habe diesen Mann so trainiert, dass er mir<br />

jedes Mal Futter gibt, wenn ich den Hebel drücke.”<br />

Es ist, laut Watzlawick, unerlässlich zu punktieren, das<br />

heißt der <strong>Wirklichkeit</strong> eine bestimmte Ordnung zuzu-<br />

weisen. Ohne diese Ordnung erschiene uns unsere Welt<br />

regellos, chaotisch, völlig unvorhersehbar und daher<br />

äußerst bedrohlich. Das verschiedene Ordnen von Er-<br />

eignisabläufen erzeugt im eigentlichen Sinne des Wortes<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong>en.<br />

Glaubwürdigkeit von Informationen<br />

Laut Watzlawick hängt die Glaubwürdigkeit einer<br />

Information von zwei Faktoren ab: von der Wahrschein-<br />

lichkeit der Information selber und von der Glaubwür-<br />

digkeit ihrer Quelle.<br />

Von Foerster weist darauf hin, dass schon das englische<br />

Wort für Wahrheit, truth, wenn man die Wortgeschichte<br />

analysiert, auf den Begriff der Treue und des Vertrauens,<br />

trust zurück geht. Wenn ich die Wahrheit als ein Ver-<br />

trauen von Mensch zu Mensch begreife, dann brauche<br />

ich keine externen Referenzen mehr.<br />

zu erfassen, führt bei allen Lebewesen zu einer soforti-<br />

gen Suche nach Ordnung und Erklärung. Sobald einmal<br />

das Unbehagen eines Desinformationszustandes durch<br />

eine wenn auch nur beiläufige Erklärung gemildert ist,<br />

führt zusätzliche, aber widersprüchliche Information<br />

nicht zu Korrekturen, sondern zu weiteren Ausarbeitun-<br />

gen und Verfeinerungen der Erklärung.<br />

So entstehen viele zwischenmenschliche Konflikte da-<br />

durch, dass übersehen wird, dass die Konfliktpersonen<br />

ihre zwischenpersönliche <strong>Wirklichkeit</strong> widersprüchlich<br />

geordnet haben und nun blind annehmen, dass es nur<br />

eine <strong>Wirklichkeit</strong> und daher auch nur eine richtige Wirk-<br />

lichkeitsauffassung (nämlich die eigene) gibt. Wir neigen<br />

dazu, nach einer Ordnung im Ablauf der Geschehnisse<br />

zu suchen und sobald wir eine solche Ordnung (Inter-<br />

punktion) in sie hineingelesen haben, wird diese Welt-<br />

schau durch selektive Aufmerksamkeit selbstbestätigend.<br />

Des weiteren geht von Foerster auf die Beständigkeit<br />

und die Absolutheit von Gesetzen und Naturgeset-<br />

zen ein. Ein Naturgesetz hat immer einen Autor. Alle<br />

Gesetze sind Erfindungen, die von uns geschaffen und<br />

verändert werden können. Der Wechsel der Perspektive<br />

macht es möglich den Urheber eines Gesetzes ganz ins<br />

Zentrum zu rücken und sich zu fragen, ob die von ihm<br />

erfundenen Regeln eine Sozialstruktur begünstigen, die<br />

ein schöpferisches, kreatives und freundliches Miteinan-<br />

der gestattet.<br />

Verantwortung<br />

In seiner Abhandlung Laws of Form geht der englische<br />

Logiker George Spencer-Brown davon aus, dass jede<br />

Beobachtung mit dem Akt des Unterscheidens beginnt.<br />

Will ich etwas bezeichnen, muss ich mich zunächst für<br />

eine Unterscheidung entscheiden.<br />

“Draw a distinction and a universe comes into being.”<br />

Der Akt des Unterscheidens wird von ihm als Funda-<br />

mentaloperation des Denkens begriffen. Sie lässt ein<br />

ganzes Universum entstehen und erzeugt <strong>Wirklichkeit</strong>en,<br />

die man vermeintlich in einem externen und von der<br />

eigenen Person losgelösten Raum vermutet.<br />

Medienwirklichkeit<br />

Von Foerster sagt über die Medien, dass sie sich über die<br />

Verantwortung im Klaren sein sollten.<br />

„It is as you tell it!”<br />

Von Foerster stellt des weiteren fest: Wir haben doch nur<br />

Bilder, die wir mit Bildern vergleichen können, wir kön-<br />

nen uns entscheiden, welchem der Berichte und welchem<br />

Foto oder Bild wir eher glauben möchten.<br />

Zu der Frage ob Fotos nicht die <strong>Wirklichkeit</strong> abbilden<br />

erzählt von Foerster einen Witz:<br />

Laut von Foerster steht die Haltung des unbeteiligten Be-<br />

schreibens der Haltung des Mitfühlenden und Beteiligten<br />

gegenüber, der sich selbst als Teil der Welt begreift und<br />

von der Prämisse ausgeht: Was immer ich tue verändert<br />

die Welt! Er ist mit ihr und ihrem Schicksal verbunden,<br />

er ist verantwortlich für seine Handlungen. Die Welt<br />

kann aus dieser Perspektive nicht zu etwas Feindlichem<br />

werden: Sie erscheint als ein Organ, als ein Teil des eige-<br />

nen Körpers, der sich nicht abtrennen lässt.<br />

Da besucht ein reicher amerikanischer Reisender, der genug Geld hat, um ein<br />

Gemälde zu kaufen, Picasso in seinem Schloss. Picasso ist entzückt, führt ihn herum<br />

und zeigt ihm seine Bilder. Schließlich sagt der Amerikaner:<br />

“ Lieber Herr Picasso, warum malen Sie die Menschen nicht so, wie sie sind?” Und<br />

Picasso fragt nach: “Wie soll ich das machen? Wie geht das? Wie sind die Menschen?<br />

Können Sie mir ein Beispiel geben?”<br />

Da zückt der Amerikaner seine Brieftasche und nimmt ein kleines Foto heraus – und<br />

sagt: “Hier sehen Sie, meine Frau, wie sie ist.“ Fasziniert nimmt Picasso das Bild in die<br />

Hand und dreht es herum und meint: “ Aha, das ist Ihre Frau. So klein<br />

ist sie und so flach!”


10 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Hintergrund<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 11<br />

Mindfuck<br />

A sudden boomlet of movies intentionally lie to the audience and manipulate viewers’ emotional investment<br />

in the heroes. In critical circles, these movies have developed a trendy name: mindfucks.<br />

– Jonathan Eig<br />

In einem neueren Genre des Films, dem sogenannten<br />

Mindfuck-Film, geschieht eine besondere Behandlung<br />

des Themas <strong>Wirklichkeit</strong>.<br />

Hierbei scheint eine Fokussierung eher auf dem “Wie”<br />

des filmischen Erzählens zu liegen. Diese Art von Film<br />

besitzt ein beachtliches Irritationspotenzial für die<br />

Zuschauer und stellt eine erhebliche Herausforderung in<br />

Rezeption und Aneignung der Filme dar.<br />

Viele der aktuellen Filme, wie zum Beispiel Donnie<br />

Darko, The Sixth Sense, The Others und Fight Club,<br />

thematisieren und problematisieren in ihrer Narration<br />

die Identität ihrer Hauptfiguren. Eine Verunsicherung<br />

der Identität findet statt. Hauptfiguren sind Subjekte,<br />

deren Identisch-Sein-Mit-Sich-Selbst das Produkt von<br />

Traumata und psychotischer Halluzinationen oder der<br />

Effekt virtueller Realitäten und der Simulation von<br />

<strong>Wirklichkeit</strong>en ist. Sie beinhalten eine andere Struktur<br />

als der herkömmliche Hollywoodfilm, der sich auf den<br />

im Laufe der Zeit herausstrukturierten Aufbau aus “Ex-<br />

position-Konflikt-Auflösung” bezieht.<br />

Filmprotagonisten begegnen nach ihrer Vorstellung und<br />

der Einführung in Ort und Zeit des Geschehens (Ex-<br />

position) mindestens einem Problem, das zu lösen ist<br />

(Konflikt), was sie schließlich zumeist unter Aufbietung<br />

trickreicher Mittel und dem Einsatz aller Kräfte auch<br />

schaffen (Auflösung).<br />

In neueren Filmen mit Bezug zur Identitätsthematik<br />

ist die “Auflösung” allerdings keine Problemlösung.<br />

Vielmehr wird die bisher erzählte Geschichte (Exposition<br />

und Konflikt) aufgelöst in einem anderen Sinne, jenem<br />

der Dekonstruktion:<br />

Exposition und Konflikt erweisen sich als eine Sinnver-<br />

schiebung, welche in der verzerrten Wahrnehmung der<br />

Hauptfigur begründet liegt.<br />

In verschiedenen Filmen ( z.B. The Others, The Sixth<br />

Sense) halten sich bereits tote Hauptfiguren bis zum<br />

Ende der Geschichte für lebendig und normal. Sie hallu-<br />

zinieren sich in ein anders Leben hinein.<br />

Der Erzähler (die Hauptfigur) kommt in diesen Filmen<br />

seiner Aufgabe der Wissensvermittlung in höchstem<br />

Maße “unzuverlässig” nach und steht in einem starken<br />

Missverhältnis zu dem, was “eigentlich” passiert. Dieses<br />

beruht auf Auslassungen, Non-Linearität des Gezeigten<br />

und vor allem der Präsentation der Narration aus der<br />

Traumata wurden schon in früheren Filmen als Thema<br />

behandelt, zum Beispiel in Suspense-Filmen, wie Vertigo<br />

und Spellbound von Alfred Hitchcock. Dort weiß jedoch<br />

sowohl die Hauptfigur als auch der Zuschauer rasch um<br />

seinen traumatisierten Zustand Bescheid. Bei Filmen hin-<br />

gegen, die sich dem Genre des Mindfuck-Films zuordnen<br />

lassen, sitzt der Zuschauer der Täuschung bis zum Ende<br />

auf.<br />

Die meisten herkömmlichen Mainstream-Filme zeigen,<br />

dass sich der Film auf einen idealen Endzustand zube-<br />

wegt, der die aufgeworfenen Probleme löst, seine Fragen<br />

beantwortet und mit Weltsicht, Werthaltungen und<br />

Sympathien übereinstimmt. Dies zeigt auch das Modell,<br />

das Michaela Krützen in dem Buch Die Dramaturgie<br />

des Films entwirft. Hierbei vollführt der Held während<br />

des Films eine Reise ( sowohl eine innere als auch eine<br />

äußere ), bei der er aus seinem ihm bekannten Umfeld<br />

heraus aufbricht, in eine unbekannte Welt reist und am<br />

Ende wieder in seiner ihm bekannten Welt ankommt.<br />

verzerrten Perspektive des Helden. Dies führt dazu, dass<br />

der Zuschauer Zusammenhänge konstruiert, welche<br />

sich am Ende des Films, wenn die ganze Geschichte<br />

rekonstruierbar wird, meist als falsch herausstellen. Der<br />

Zuschauer hat durch die Struktur des Films an der ima-<br />

ginierten bzw. simulierten Realität des Helden, seinen<br />

Wahnvorstellungen und Halluzinationen oder Träumen,<br />

ohne dies zu wissen, teilgenommen. So schreibt der<br />

Filmkritiker und Drehbuchautor Jonathan Eig in seiner<br />

Abhandlung A beautiful Mind(fuck): Hollywood struc-<br />

tures of identity:<br />

„First, in these films the character with the surprise invariably is the protagonist, as<br />

opposed to a supporting character who affects a more “normal” hero. The next two<br />

characteristics work in tandem. The hero in question does not know the true nature of<br />

his identity and so is not simply keeping a secret from us. And the audience does not<br />

know the backstory either. We are not let in on a secret the hero does not know.“<br />

Das Auftauchen des Genre des Mindfucks lässt sich<br />

vielleicht durch die Erfahrung der Virtualiät der<br />

Welt erklären: Vor allem mit der Veralltäglichung der<br />

<strong>Wirklichkeit</strong>seffekte produzierenden Medien TV, Kino,<br />

Radio, Computer und Internet und der entsprechenden<br />

Installation eines immer schwieriger zu reduzierenden<br />

Möglichkeitsraums alternativer Sinn- und Deutungsan-<br />

gebote geht dem Menschen die Unterscheidbarkeit von<br />

„<strong>Wirklichkeit</strong>” und „Fiktion” verloren.<br />

Der Mindfuck-Film könnte den Zuschauer auf die<br />

Konstruktionsleistungen aufmerksam machen, die not-<br />

wendig sind, damit uns unsere <strong>Wirklichkeit</strong> als objektiv<br />

gegeben und selbstverständlich erscheint und damit<br />

Relativität und Kontingenz der scheinbar selbstverständ-<br />

lichen Alltagswelt betonen.<br />

Er wird somit vielleicht auch zu einer Aufklärung über<br />

die Medien.


12 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Hintergrund<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 13<br />

In dem Film Stranger Than Fiction wird die Hauptperson durch eine grafische Ebene zusätzlich charakterisiert.<br />

Andere <strong>Wirklichkeit</strong>sebenen<br />

In einigen Filmen taucht eine die normale Filmwirklichkeit brechende Ebene auf. Sie erweitert<br />

den Film, beziehungsweise die Hauptfigur, um eine weitere Aussage.<br />

Weitere Beispiele für eine, meiner Meinung nach, interes-<br />

sante Auseinandersetzung mit <strong>Wirklichkeit</strong> sind Eternal<br />

Sunshine of the Spotless Mind, I Heart Huckabees und<br />

Stranger Than Fiction.<br />

Eternal Sunshine of the Spotless Mind setzt sich in einer<br />

besonderen Weise mit der <strong>Wirklichkeit</strong> auseinander.<br />

Über weite Teile des Films befinden wir uns in den<br />

Erinnerungen eines Mannes, der seine Erinnerungen<br />

an seine Freundin löschen will. Während des Lösch-<br />

vorganges, der von einer Firma durchgeführt wird, die<br />

die Möglichkeit Erinnerungen zu löschen entwickelt<br />

hat, möchte er sich nicht mehr von den Erinnerungen<br />

an seine Freundin trennen. Er versteckt sie in anderen<br />

Erinnerungen. Der Film wird zu einer bildlich umgesetz-<br />

ten Collage aus wirklichen Erinnerungen und “neu-<br />

entstandenen” Erinnerungen, die durch den Versuch<br />

die Freundin der Hauptfigur zu verstecken, entstehen.<br />

I Heart Huckabees und Stranger Than Fiction sind auf<br />

eine andere Art interessant. Sie erweitern die bildliche<br />

filmische Realität um eine weitere Komponente: eine gra-<br />

fische. Diese grafische Komponente bricht die eigentliche<br />

filmische Realität, vermittelt aber eine weitere Aussage<br />

über den Hauptcharakter bzw. die Philosophie des Films.<br />

Der Film I Heart Huckabees setzt sich mit zwei unter-<br />

schiedlichen Weltanschauungen auseinander: Alles ist<br />

verbunden und Nichts ist verbunden, alles ist Chaos.<br />

Während des Films kommt es mehrmals zu einer visuel-<br />

len Veranschaulichung dieser Theorien,<br />

wodurch die filmische Realität um eine grafische<br />

Ebene gebrochen aber gleichzeitig erweitert wird.<br />

Bei dem Film Stranger Than Fiction tauchen wiederum-<br />

mehrmals grafische Elemente auf, die die Darstellung<br />

des Hauptcharakters unterstützen. Die Hauptfigur<br />

des Films ist ein sehr ordentlicher, präziser, korrekter,<br />

ständig berechnender Mensch. Die grafische Ebene<br />

unterstützt dieses Bild, da sie seine Kalkulationen visu-<br />

alisiert. Des weiteren könnten sie auch einen Bezug zu<br />

dem Thema des Films herstellen. Die Hauptfigur ist eine<br />

Romanfigur der in dem Film vorkommenden Autorin.<br />

Szene aus dem Film I Heart<br />

Huckabees bei der die Philo-<br />

sophie, alles sei miteinander<br />

verbunden, visualisiert wird.


14 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Hintergrund<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 15<br />

Mockumentary<br />

Eine andere Form des Films, die sich auf eine ganz andere Art und Weise mit dem Thema <strong>Wirklichkeit</strong><br />

beschäftigt ist der sogenannte Mockumentary. Hier wird der Zuschauer durch die gewählte Form<br />

in dem Glauben gelassen, es handele sich bei dem betrachteten Film um einen Dokumentarfilm.<br />

Hierfür sei Kubrick, Nixon und der Mann im Mond<br />

als Beispiel genannt. Dieser Film, für den William Karel<br />

2003 den Adolf-Grimme-Preis erhielt, behandelt als<br />

zentrales Thema die Möglichkeit der Manipulation und<br />

Irreführung durch Medien.<br />

Die vermeintliche Dokumentation „beweist“ mit<br />

geschickt zusammengeschnittenen Informationsfetzen<br />

aus anderen Filmen und realen und fiktiven Interviews,<br />

dass Stanley Kubrick von der US-amerikanischen<br />

Regierung engagiert worden war, um die erste Landung<br />

auf dem Mond zu inszenieren und somit vorzutäuschen.<br />

Hiermit sollte vom Vietnamdesaster abgelenkt werden.<br />

Dieser Film berichtet nicht über Manipulationsfälle,<br />

sondern führt die Manipulation selbst gelungen vor.<br />

Er stellt Zusammenhänge zwischen Nixon, Kubrick,<br />

der Mondlandung und dem Vietnamkrieg her und wird<br />

im Verlauf langsam aber stetig immer abstruser, bleibt<br />

jedoch immer der Form des Dokumentarfilms treu.<br />

Auch durch das Auftreten von bekannten realen Zeit-<br />

zeugen wie Buzz Aldrin (Astronaut der Apollo 11),<br />

Henry Kissinger, Donald Rumsfeld und der Ehefrau<br />

Stanley Kubricks, Christiane Kubrick, wird weitere<br />

Glaubwürdigkeit beim Zuschauer erzeugt.<br />

Weitere Manipulationen des Filmes bestehen auch in<br />

der Aneinanderreihung kurzer, ausgewählter Interview-<br />

fragmente, so dass durch den nun entstanden Kontext<br />

eine völlig neue, vom Interviewten nicht beabsichtigte<br />

Bedeutung aufgebaut wird. Bei Interviews in Sprachen,<br />

die dem vermeintlichen Zuschauer fremd sind, wurden<br />

die Untertitel bewusst falsch und in der Form über-<br />

setzt, dass sie der Aussage des Filmes entsprachen.<br />

Zu authentischen Ton- und Bildaufnahmen erzählt<br />

eine als glaubwürdig wahrgenommene Erzählerstimme<br />

von nicht immer wahren „Tatsachen“ und konstruiert<br />

so in Zusammenhang mit der stimmig untermalenden<br />

Musik eine neue der Theorie entsprechende „Wirklich-<br />

keit“. Weitere „Glaubwürdigkeit“ erhält der Film durch<br />

die Tatsache, dass einer der Interviewten (Vernon<br />

Walters) kurz nach dem Interview starb, was als Beweis<br />

für eine Vertuschung hingestellt wird.<br />

Der Abspann des Films löst die scheinbare <strong>Wirklichkeit</strong><br />

des Dokumentarfilmes jedoch auf, indem einige entlar-<br />

vende Versprecher und Kommentare von„Zeitzeugen”<br />

gezeigt werden.<br />

Interessant ist hierbei auch, dass dieser Film von eini-<br />

gen Anhängern dieser Verschwörungstheorie, trotz des<br />

Abspannes, für wahr erachtet und damit als Beweis für<br />

die eigene Theorie gesehen wurde. Künstliche “Wirk-<br />

lichkeit” wird zu einer neuen <strong>Wirklichkeit</strong>.<br />

Dieses Beispiel bestätigt wieder die Theorie Watzla-<br />

wicks, dass man sich von einer, zunächst für wahr<br />

gehaltenen Theorie, trotz gegensätzlicher Beweise<br />

schwer wieder trennen kann.<br />

In dem Film Kubrick, Nixon und der Mann im Mond wird Kubrick mit der Inszenierung der Mondlandung in Verbindung gebracht.


16 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – eigene Referenzen<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 17<br />

U2x2<br />

Berlin erkundet anhand der Umgebung von 29 U-Bahnstationen der U-Bahnlinie 2. Fotografiert<br />

aus der Sicht von zwei Fotografen. Zwei verschiedene Wahrnehmungen der Orte im Vergleich.<br />

U2x2 ist ein Fotoprojekt, das in Zusammenarbeit mit<br />

Valeria Galassi im Jahre 2004 entstand. Diese Arbeit<br />

beschäftigt sich mit der Thematik der unterschiedlichen<br />

Wahrnehmung des gleichen Ortes durch unterschiedliche<br />

Personen. Wie nimmt eine Person einen Ort wahr? Was<br />

erscheint ihr als Motiv interessant?<br />

Hierbei wählten wir das direkte Umfeld sämtlicher<br />

Stationen der U-Bahnlinie 2 als zu fotografierende Orte<br />

Gleisdreieck aus der Sicht von Valeria Galassi<br />

aus und fotografierten diese unabhängig von einander.<br />

Dabei sollte ein Zeitrahmen von nur wenigen Minuten<br />

pro Station eingehalten werden, so dass nur eine kurze<br />

Orientierung möglich war und das Motiv durch den<br />

Zeitdruck relativ intuitiv gefunden werden musste.<br />

Die dabei entstandenen Fotos stellten wir einander<br />

gegenüber.<br />

Gleisdreieck aus der Sicht von Janek Jonas


18 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – eigene Referenzen – U2x2<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 19<br />

Kasierdamm<br />

Deutsche Oper<br />

Nollendorfplatz<br />

Potsdamer Platz<br />

Klosterstraße<br />

Märkisches Museum<br />

Sophie-Charlotte-Platz<br />

Ruhleben


20 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – eigene Referenzen<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 21<br />

Noisulli<br />

Ein Mann, eine Frau, eine zufällige Begegnung, die jedoch unbemerkt bleibt. Wie oft laufen wir an<br />

Menschen vorbei, die es wert wären kennengelernt zu werden, ohne sie zu bemerken? In dem Kurzfilm<br />

Noisulli schenken die Spiegelbilder der Begegnung jedoch Beachtung.<br />

Noisulli aus dem Jahr 2005, ist ein Kurzfilm mit ver-<br />

schiedenen <strong>Wirklichkeit</strong>sebenen. Die erste Ebene<br />

beinhaltet einen Mann und eine Frau, die eine zufällige<br />

Begegnung haben, sich aber nicht bemerken. Auf der<br />

zweiten Ebene befinden sich ihre Spiegelbilder. Die Spie-<br />

gelbilder des Mannes und der Frau bemerken einander<br />

und scheinen sich gegenseitig interessant zu finden. Auf<br />

der dritten Ebene kommuniziert das männliche Spiegel-<br />

bild mit seinem realen „Vorbild”.<br />

Das Spiegelbild bringt sein Vorbild dazu ihm zu folgen.<br />

Es kommt schließlich zu einem Wiedersehen der Spiegel-<br />

bilder und der realen Menschen. Die realen Menschen<br />

bemerken sich erneut nicht, während sich die Spiegelbil-<br />

der (auch als Sinnbild der Fiktion zu betrachten) jedoch<br />

freudig in die Arme schließen und gemeinsam ihre realen<br />

Vorbilder verlassen.


22 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – eigene Referenzen<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 23<br />

Zu dem, was er mal war...<br />

Die Vergangenheit ist nicht rekonstruierbar, sondern nur von uns mit Hilfe der Sprache beschreibbar.<br />

Was war, ist weg.<br />

– Heinz von Foerster<br />

Der Film Zu dem, was er mal war... ist u.a. eine Ausei-<br />

nandersetzung mit Erinnerung und Rekonstruktion von<br />

Vergangenem. Er entstand in Zusammenarbeit mit Tarik<br />

Schirmer im Jahr 2005/2006 im Rahmen der Ausein-<br />

andersetzung mit dem Lenné-Park in Baruth, Branden-<br />

burg. Der Film stellt eine Erforschung der Geschichte<br />

des Parks dar. Zeitzeugen wandern durch den Park<br />

und berichten von ehemals im Park vorhandenen aber<br />

inzwischen verschwundenen Anlaufpunkten wie einer<br />

Freilichtbühne, einem Parkrestaurant, einem Sportplatz,<br />

einer Schule, einem Kindergarten und einem Kino.<br />

In ihren Erinnerungen lebt das Vergangene wieder auf,<br />

was, je nach Erzähler, manchmal zu unterschiedlichen<br />

vergangenen <strong>Wirklichkeit</strong>en führt.<br />

Zeitzeugen berichten von ihren Erinnerungen.


24 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – eigene Referenzen<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 25<br />

Janis Vartukapteinis<br />

Er war ein anerkannter Künstler und Fotograf, der sich mit dem Thema Identität auseinandersetzte.<br />

In den 60er - 80er Jahren lebte und arbeitete er in New York. Vartukapteinis war ein produktiver Künstler.<br />

Jedoch war er nur erfunden.<br />

Fotoprojekt i am you<br />

Während des Seminars im Wintersemester 2005/2006<br />

Das Medium Lüge bei Professor Gerburg Treusch-Dieter<br />

entstand in Zusammenarbeit mit Daniel Urria die Kunst-<br />

figur Janis Vartukapteinis. Wir schufen für Vartukaptei-<br />

nis eine Lebensgeschichte und einige Kunstwerke. Eine<br />

im Internet entdeckte Sammlung an Passfotos diente der<br />

Erschaffung seiner Identität. Als Herkunftland wählten<br />

wir Lettland, von dem wir annahmen, dass seine Ge-<br />

schichte den Kursteilnehmern nicht näher bekannt sei.<br />

Ziel dieses Projektes war der Versuch, eine real nicht<br />

existierende Person zum Leben zu erwecken und zu<br />

erproben, ob sich dies im Rahmen einer universitären<br />

Veranstaltung umsetzen ließ.<br />

Janis Vartus (Vartukapteinis)<br />

18.12.1939 Geboren in Ludza, Lettland.<br />

1958 –1960 Kunststudium an der Hochschule der<br />

Künste Reskene.<br />

1960 Umzug nach Riga.<br />

1961 – 64 Studium an der Kunstakademie Riga.<br />

Anschluss an die Lettische Künstler-<br />

bewegung Melideja (Lügentanz).<br />

1965 Flucht nach New York.<br />

ab 1967 Mitarbeit als freier Fotograf für ver<br />

1989 gestorben in NY<br />

schiedene Zeitungen und Zeitschriften<br />

Ausgewählte Arbeiten<br />

1973 Fotoaustellung you are me<br />

Passfotos von anderen Menschen mit Namen von Janis<br />

Vartukapteinis<br />

1974 Fotoaustellung i am you<br />

Passfotos von Janis Vartukapteinis, auf denen er die Na-<br />

men anderer Personen annimmt und sich entsprechend<br />

verkleidet<br />

1975 Performance Do you look like me? / Ausstellung<br />

Do I look like you?<br />

Veröffentlichung der Biografie


26 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – eigene Referenzen<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 27<br />

Dame mit Teddy<br />

Eine ältere Frau sitzt an einem öffentlichen Platz. Sie hat einen Teddybär auf ihrem Schoß.<br />

Eine Handkamera beobachtet das Geschehen.<br />

Man weiß nicht wer die ältere Dame ist, was sie macht.<br />

Sie wirft einen Teddybären freudig in die Luft, spielt<br />

mit ihm. Sie schaut ihn sich genauer an, stutzt seine<br />

Fingernägel und bemalt seine Ohren. Sie scheint ein inni-<br />

ges Verhältnis zu ihm zu haben. Sie scheint in einer<br />

anderen <strong>Wirklichkeit</strong> zu sein, nur auf ihren Teddybär<br />

konzentriert. Es ist eine skurrile Situation. Der Film lässt<br />

nicht erkennen, ob er inszeniert ist oder ob es sich nur<br />

um eine zufällige Aufnahme handelt.<br />

Wer ist diese Frau? Ist sie eine Schauspielerin oder eine<br />

reale Person? Was ist wirklich? Dieser Film enstand<br />

im jahre 2006.


28 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – eigene Referenzen<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 29<br />

Nearly one year me<br />

Was ist mein stabiler Wert? Wie verändere ich mich im Laufe der Diplomarbeit? Verändere ich mich?<br />

Ich erkenne mich immer wieder. Ich bleibe ich. Es entstand ein kurzer Film, bei dem jede Sekunde durch<br />

12 Tage gefüllt wird. Das Ich in einem zeitlichem Fluss.<br />

Selbst:<br />

Die Vorsilbe Selbst- enthält ein Moment der Zirkulari-<br />

tät, der Begriff verweist auf denjenigen, der ihn ge-<br />

braucht zurück. Das Bewusstsein des Bewusstseins ist<br />

das Selbstbewusstsein. Das Selbst erscheint nicht als<br />

etwas Statisches oder Festes, sondern wird permanent<br />

und immer wieder erzeugt. Es gerät in Bewegung. Das<br />

Selbst ändert sich, in jedem Moment, in jeder einzigen<br />

Sekunde. Der Begriff des Selbst ist die engste und letzte<br />

Spielform der Zirkularität. Es ist die Zirkularität des<br />

Ichs.<br />

Das Ich ist demnach die Reflexion der Reflexion ad infi-<br />

nitum. Das Ich kann als der Eigenwert der unendlichen<br />

Reflexion über sich selbst verstanden werden.<br />

Selbsterkennen:<br />

Man sieht sich morgens im Spiegel und gelangt zu der<br />

Überzeugung man ist es selbst, der da in den Spiegel<br />

schaut. Jedoch sieht man niemals dasselbe Bild in dieser<br />

ununterbrochenen, sich verändernden Welt. Wie lässt<br />

sich jetzt dieser Eindruck von Stabilität vor dem Hinter-<br />

grund des fortwährenden Wandels begründen? Mathe-<br />

matisch kann man dieses Phänomen als das Errechnen<br />

von Invarianten begreifen: als die Errechnung von<br />

Konstanz und stabilen Werten in einem Prozess fortwäh-<br />

render Transformation.<br />

(Aus dem Buch Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners<br />

von Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen)


30 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – eigene Referenzen – Nearly one year me<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 31<br />

Das Projekt begann im Mai 2006. Fast täglich nahm ich ein Foto auf. Die letzten Bilder entstanden im April 2007.


32 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 33<br />

„Mondmanns Faden“<br />

Der folgende Teil dieser Dokumentation beinhaltet die Entwicklung des Diplomprojektes<br />

– von den ersten konzeptionellen Ansätzen bis zum fertigen Film.


34 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Projektansätze<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 35<br />

Konzept-Ansätze<br />

Während der Überlegungen zu der Umsetzung des praktischen Teils schwankte ich zwischen verschiedenen<br />

Konzepten, die mir interessant erschienen. Eine kurze Beschreibung einiger Ansätze.<br />

Weißraum<br />

Entwicklung einer episodenartigen Geschichte, in der<br />

sich der Protagonist in einem undefinierbaren Raum<br />

befindet. Er hat keinerlei Erinnerungen an sein vorheri-<br />

ges Leben. Er ist zu schwach um das Bett zu verlassen.<br />

Informationen über sein Leben erhält er durch Besucher,<br />

Fake-Dokumentation<br />

Entwicklung eines Mockumentary um eine in Deutsch-<br />

land unbekannte Musikgruppe, die in einem anderen<br />

Land großen Erfolg hat. Mit Hilfe von Interviewschnip-<br />

seln von bekannten Persönlichkeiten der Musikbranche,<br />

Video-Tagebuch<br />

Entwicklung eines videotagebuchartigen Kurzfilmes. An<br />

mehreren Stellen gibt es einen Bezug zu tatsächlichen<br />

aktuellen Ereignissen. Der Film beschreibt die Zeit eines<br />

Virtuelles Kunstwerk<br />

Die Entwicklung eines virtuellen Kunstwerks. Mit<br />

verschiedenen Mitteln, beispielsweise „gefälschten”<br />

Presseberichten, Ausstellungskatalogen, Programman-<br />

zeigen, Nachrichten, Reportagen usw. wird versucht ein<br />

Zwei Orte<br />

Entwicklung eines Kurzfilms, welcher an zwei verschie-<br />

denen Orten spielt. An diesen Orten leben zwei Men-<br />

schen, die auf irgendeine Art und Weise verbunden sind.<br />

Ihre Leben beeinflussen sich gegenseitig. Sie sind abhän-<br />

die ihm über sich selber, sein früheres Leben und die<br />

Welt “draußen” erzählen. In verschiedenen Episoden, in<br />

denen dieselben Schauspieler als Charaktere auftreten,<br />

werden dem Protagonisten hierdurch verschiedene Iden-<br />

titäten übergestülpt. Mal ist er Held, mal der Schurke.<br />

montierten Konzerten vor scheinbar riesigem Publikum,<br />

Interviews mit Band und Fans und mit Hilfe von Mon-<br />

tage und Effekten, Auftritten in Shows und Nachrichten<br />

soll die Fiktion einer Band entstehen.<br />

Studenten in der Diplomphase. Er beginnt scheinbar<br />

realistisch und könnte ein authentisches Videotagebuch<br />

sein, wird jedoch immer abstruser und unwirklicher.<br />

Kunstwerk entstehen zu lassen, welches nicht existiert.<br />

Es wird eine Geschichte um dieses Kunstwerk geschaf-<br />

fen.<br />

gig voneinander. Begegnen sie sich? Kennen sie sich?<br />

Die beiden Personen leben in unterschiedlichen Wirk-<br />

lichkeiten, werden jedoch durch eine gemeinsame Wirk-<br />

lichkeit verbunden.


36 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – zwei Orte – Konzept<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 37<br />

Zwei Orte - Konzept<br />

Nach einiger Recherche entschied ich mich für das Konzept der zwei Orte. Mir erschien es als sehr interessant<br />

zwei verschiedene Orte, die vermeintlich nicht sehr viel miteinander zu tun haben zu verbinden,<br />

an zwei unterschiedlichen Orten eine gemeinsame <strong>Wirklichkeit</strong> zu konstruieren.<br />

Ich suchte nach Hintergründen und Konstruktionen,<br />

die die Verbindung zwischen den beiden Orten bzw. den<br />

beiden Personen, die an diesen beiden Orten leben,<br />

erklären konnten. Während meiner Suche stieß ich auf<br />

einige Mythen, Redewendungen und Ansätze, die<br />

im Zusammenhang mit Verbundenheit stehen.<br />

Der Mann im Mond bindet vor der Geburt jedem Neugeborenen einen Faden um<br />

den großen Zeh. Das andere Ende des Fadens bindet er um den Zeh eines zweiten<br />

Neugeborenen. Auf diese Art und Weise entsteht eine Verbundenheit zwischen zwei<br />

Menschen, die sich an völlig verschiedenen Orten befinden können.<br />

Chinesischer Mythos<br />

Der Wind ist ein Faden, der die Welt zusammen hält.<br />

Altindische Vorstellung<br />

Jeder kennt jeden über sechs Ecken.<br />

Allgemeinbekannte Theorie<br />

Wenn in China ein Reissack umfällt, kann er bewirken, dass in Europa ein Sturm<br />

entsteht.<br />

Volksweisheit<br />

Im Mond spiegelt sich das Antlitz der Erde.<br />

Altgriechischer Philosoph<br />

Yin und Yang<br />

Begriffe aus der chinesischen Philosophie. Bei Yang handelt es sich um das Prin-<br />

zip Himmel, bei Yin um das Prinzip Luft. Der Übergang von Yin zu Yang ist dabei<br />

fließend. Yin und Yang sind vor allem durch ihr Zusammenspiel gegeben. Harmonie<br />

und Ausgeglichenheit zwischen diesen beiden entgegengesetzten Kräften sind in der<br />

chinesischen Philosophie ein zentraler Punkt.<br />

In dem Buch Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners<br />

von Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen stieß ich<br />

ebenfalls auf ein paar Ansätze zum Thema der Verbun-<br />

denheit:<br />

Im Englischen heißt es: You can’t tango alone! You need two to tango. Man braucht<br />

den anderen und führt sich gegenseitig, erspürt den gemeinsamen nächsten Schritt und<br />

verschmilzt mit den Bewegungen des anderen zu ein und derselben Person, zu einer<br />

Wesenheit, die mit vier Augen sieht. <strong>Wirklichkeit</strong> wird zur Gemeinsamkeit und zur<br />

Gemeinschaft.<br />

Die Frage, ob wir von der Welt getrennt oder mit ihr<br />

verbunden sind, so von Foerster, lässt sich prinzipiell<br />

nicht endgültig klären. Wir können uns nur für eine<br />

dieser beiden Haltungen entscheiden und für diese Wahl<br />

Verantwortung übernehmen. Man entschließt sich, die<br />

Dinge, die Welt und seine Mitmenschen auf eine beson-<br />

dere Weise zu betrachten und entsprechend zu handeln.<br />

Man wird verantwortlich für die Entscheidung, die<br />

Ich begab mich auf die Suche nach zwei zu verbinden-<br />

den Orten. Meine Wahl fiel relativ schnell auf Berlin und<br />

Hoima (Uganda). Berlin aus dem Grund, weil ich hier<br />

lebe und so jederzeit unter dem Einfluss der Stadt stehe,<br />

ich dadurch die Möglichkeit habe in unmittelbarer Nähe<br />

ohne großen Aufwand drehen zu können.<br />

Viele Leute sehen diese Verbindung nicht, sie schneiden die Seile durch - und stürzen<br />

in die Tiefe. Aber gemeinsam am Seil zu gehen heißt, dass wir ganz<br />

und gar eins sind. Man trennt sich nicht, sondern ist verbunden mit der Welt und dem<br />

anderen, der einen nicht fallen lässt. Und was dir geschieht,<br />

geschieht mir. Und was mir geschieht, geschieht dir.<br />

man getroffen hat und die einem niemand abnehmen<br />

kann.<br />

Von Foerster und Pörksen sprechen an einer Stelle des<br />

Buches konkret über die Idee der Verbundenheit zwi-<br />

schen Menschen. Die Betrachtung des Bergsteigens, bei<br />

dem die Bergsteiger mit einem Seil miteinander verbun-<br />

den sind, führt zu der Vorstellung des gemeinsamen Am-<br />

Seil-Gehens als Konkretion der Idee von Verbundenheit:<br />

Für Hoima entschied ich mich, weil mein Vater in dieser<br />

Stadt zur Zeit arbeitet und mir so die Möglichkeit gege-<br />

ben war an einen Ort zu gelangen, den ich nicht kannte<br />

und der eine im Gegensatz zu Berlin andere „Wirklich-<br />

keit” zu besitzen schien.


38 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Mondmanns Faden<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 39<br />

Mondmanns Faden<br />

In Anlehnung an den chinesichen Mythos, der die Verbindung zwischen Menschen durch den Mann im<br />

Mond beschreibt, entschied ich mich für den Titel „Mondmanns Faden“.<br />

Nach verschiedenen Ansätzen eine konkrete Geschichte<br />

zu erzählen verabschiedete ich mich von der Idee, im<br />

Vorfeld der Reise nach Uganda ein konkretes Drehbuch<br />

zu erarbeiten. Ich wollte mir Freiheiten lassen, da ich<br />

das erste Mal in Uganda sein würde. Ich kannte weder<br />

das Land noch die Menschen. Ich wusste nicht, was<br />

mich erwarten würde. Daher war es mir nicht möglich,<br />

mich im Vorhinein gedanklich an diesen Ort zu ver-<br />

setzen und eine mir nicht bekannte <strong>Wirklichkeit</strong> zu<br />

konstruieren. Mich reizte die Idee, mich von dem Ort,<br />

von den Gegebenheiten und den Menschen inspirieren<br />

zu lassen.<br />

So entstand das Konzept zuerst in Afrika zu drehen<br />

und dann auf diese Bilder aufbauend in Berlin mit<br />

einer Schauspielerin den Film weiterzuentwickeln.<br />

Aus diesem Grund erarbeitete ich im Vorfeld der Reise<br />

einen Katalog an möglichen Einstellungen und Kon-<br />

zepten, die Verbindungen zwischen den beiden Orten<br />

und Personen darstellen könnten, von denen ich einige<br />

umsetzen wollte. Daraus ergaben sich folgende<br />

mögliche Verbindungen...<br />

Inhaltlich:<br />

Ein erklärender verbindender Mythos<br />

Ein Erzähler erzeugt eine Verbindung<br />

Eine gemeinsame Handlung<br />

Ein Buch erzählt die Geschichte<br />

Sich überschneidene Ereignisse: Nachrichten<br />

Übertreten von Gegenständen, Objekten, Gebäuden von einem Ort zum anderen:<br />

Fliegende Objekte: Seifenblasen, Luftballon, Papierflieger<br />

Treibende Objekte: Flasche, Papierschiff, Abfall,<br />

Inhaltliche Objekte: Zeitung, Bild, Stoff, Elefant, Briefe, Geld<br />

Sich überschneidene Handlungen: Radio hören, Fernsehen, Suchen / Finden<br />

Wasser wird verschüttet und wird zu Regen<br />

Staub wird zu Schnee<br />

Formal:<br />

Farbe: gleiche Farbwerte, die die beiden Orte verbinden<br />

Form: gleiche bzw. ähnliche Form<br />

Bewegung: U-Bahn, Fahrtaufnahmen, gleiche Bewegungen, die fortgesetzt<br />

werden können:<br />

Gehen, umrühren, Musizieren, Ballspielen (Tennis, Tischtennis), Hände-<br />

schütteln, Schreiben, Hinstellen, Wegstellen, Schwimmen, Geben / Nehmen<br />

Ton: derselbe Ton, Musik oder Geräusche, die sich ergänzen, afrikanische<br />

und europäische Anteile<br />

Schnitt: Schnitt / Gegenschnitt, Blickrichtung, Bewegung, Reißschwenks<br />

Grafisch: grafische Übergänge, Elemente aus Kulturkreisen,<br />

Fäden, Verwandlung vom Abstrakten zum Bild, Verwandlung<br />

vom Text zum Bild, Zeichnungen, Cartoon, Bild zur Karte<br />

Collage: ineinander komponierte Bilder, Wasser und Spiegelungen,<br />

Foto im Hintergrund, das sich langsam bewegt, Splitscreen<br />

Gegensätze: hell-dunkel; Sommer-Winter; Glück-Trauer;<br />

einsam-gesellig; warm-kalt; aktiv-passiv


40 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Mondmanns Faden<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 41<br />

Dreharbeiten in Uganda<br />

Mit dem im vorherigen Abschnitt erwähnten Konzept im Gepäck reiste ich nach Uganda.<br />

Während eines Aufenthaltes in der Hauptstadt Kampala entstanden erste Aufnahmen.<br />

Erste Impressionen und Stimmungsbilder wurden einge-<br />

fangen, die im späteren Film mit Berliner Aufnahmen<br />

kombiniert werden und auch als Sehnsuchtsort, der<br />

Berliner Person, die sich an einen anderen fernen Ort<br />

wünscht, dienen konnten. Dabei entstanden auch Auf-<br />

nahmen von Zwischenorten, Orte die sich beim losge-<br />

lösten Betrachten nicht eindeutig vom Zuschauer als<br />

zu Uganda gehörig zuordnen ließen. Diese sollten beim<br />

Betrachter ein Gefühl der Konfusion und Irritation<br />

auslösen, ihn loslösen von einer <strong>Wirklichkeit</strong> mit realen,<br />

getrennten Orten und ihn zu einer andern <strong>Wirklichkeit</strong><br />

eines verbundenen Ortes führen.<br />

Während einer Rundreise entstanden auch einige stereo-<br />

type Sehnsuchtsbilder von Landschaft und wilden Tier-<br />

en, Fahrtaufnahmen, die mit Fahrtaufnahmen in Berlin<br />

verbunden werden und so eine surreale Reise entstehen<br />

lassen konnten.


42 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Mondmanns Faden – Dreharbeiten in Uganda<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 43<br />

Während meines Aufenthaltes wurde mir klar, dass ich<br />

mich, so wie ich mich der mir zugänglichen ugandischen<br />

<strong>Wirklichkeit</strong> näherte, der <strong>Wirklichkeit</strong> des Filmprojektes<br />

nähern wollte; das ganze Projekt mehr als einen ständig<br />

sich entwickelnden Prozess zu sehen.<br />

In Hoima entstanden konkretere Bilder. Ich wollte Bilder<br />

einfangen, die mit Berliner Situationen vergleichbar<br />

waren, jedoch auf ihre afrikanische Art und Weise auch<br />

total verschieden. Ich nahm verschiedene Stadtimpres-<br />

sionen auf, versuchte möglichst viel abzudecken und mir<br />

so später in der Kombination mit den Berliner Aufnah-<br />

men viel Freiheit zu lassen.<br />

Da ich in Berlin bereits eine mögliche Schauspielerin<br />

ausgewählt hatte, wollte ich auch in Uganda mit einer<br />

Frau als Schauspielerin arbeiten. Einerseits um eine<br />

bessere Vergleichbarkeit der beiden Personen zu erzielen<br />

und andererseits um beim Betrachter nicht zu sehr die<br />

Idee einer Liebesgeschichte aufkommen zu lassen.


44 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Mondmanns Faden – Dreharbeiten in Uganda<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 45<br />

Über eine Arbeitskollegin meines Vaters lernte ich die<br />

Studentin Juliet kennen, die Interesse hatte am Projekt<br />

mitzuwirken. Mit ihr führte ich zunächst ein Interview<br />

zu einigen Themen von <strong>Wirklichkeit</strong> und Wahrnehmung<br />

der Welt. Welche Probleme sieht sie? Welche Verbin-<br />

dungen? Mögliche Vorurteile von Afrikanern gegenüber<br />

Europäern und umgekehrt. Die Idee war, später im Film<br />

mit Hilfe von Schnitt und Gegenschnitt und passenden<br />

Aufnahmen der Berliner Person ein Gespräch entstehen<br />

zu lassen.<br />

Während des Interviews stieß ich allerdings auf einen<br />

Teil der ugandischen <strong>Wirklichkeit</strong>. Zu dem Zeipunkt des<br />

Interviews gab es einen der relativ häufigen Stromaus-<br />

fälle und im Nachbarhaus lärmte ein Generator, der den<br />

Ton relativ unbrauchbar machte.<br />

Im Folgenden entstanden einige Aufnahmen und ich<br />

konnte einige der im Vorfeld erdachten Szenen umset-<br />

zen.<br />

Ich hatte die Idee, dass die beiden Personen in einer Art<br />

Traum direkt miteinander kommunizieren und sich<br />

gegenseitig ihre Welt zeigen könnten. Dazu entstanden<br />

dokumentarische Aufnahmen in denen Juliet in direkter<br />

Kommunikation durch ihr Wohnhaus und die Stadt<br />

Hoima führt.<br />

Unter anderem entstand so auch eine Szene vor einem<br />

Spiegel, die im Film eine direktes Erblicken der anderen<br />

Person ermöglichen sollte. Die beiden Personen sehen in<br />

dem Anderen ihr eigenes Spiegelbild.<br />

Im späteren Film sollten verbindende Übergänge von der<br />

einen Welt zur anderen entstehen. In diesem Zusam-<br />

menhang entstand die Aufnahme eines Kindes, das mit<br />

einem Spielzeugauto spielte. Die Nahaufnahme des<br />

Autos sollte in eine Aufnahme eines realen in Berlin<br />

aufgenommen Autos übergehen und so eine Verbindung<br />

erschaffen.<br />

Juliet hatte nur begrenzt Zeit zum Drehen, weil sie wie-<br />

der in die Hauptstadt zum Studieren zurück musste. Mit<br />

den aufgenommen Bildern war ich schon recht zufrie-<br />

den. Jedoch hatte ich das Gefühl noch nicht alles, was<br />

ich an Aufnahmen brauchen würde, mitgenommen zu<br />

haben.


46 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Mondmanns Faden – Dreharbeiten in Uganda<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 47<br />

Im Verlauf des Aufenthaltes lernte ich einen Journalisten<br />

aus Hoima kennen, der sich für das Projekt interessier-<br />

te. Mit ihm zusammen entwickelte ich einen typischen<br />

Tagesablauf einer in Hoima wohnenden Person. Über<br />

ihn lernte ich auch die Darstellerin für diese Aufnahmen,<br />

Jovia, kennen.<br />

Das Filmen des zum Teil inszenierten Tagesablaufes<br />

ermöglichte mir im Vorfeld der Aufnahme eine bessere<br />

Planung der Kamerapositionierung. Dies führte im Ver-<br />

gleich zu den vorherigen Aufnahmen zu ruhigeren und<br />

konzentrierteren Bildern.


48 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Mondmanns Faden<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 49<br />

Weiterentwicklung des Konzeptes<br />

Nach dem Sichten und Vorschneiden des in Uganda gedrehten Materiales entwickelte ich das ursprüngliche<br />

Konzept weiter. Auf das Sammeln des Materiales folgte eine Rückbesinnung zur Frage,<br />

was ich erzählen wollte.<br />

Ich entwickelte verschiedene Ansätze einer Geschichte,<br />

die man mit dem vorhandenen Material erzählen könn-<br />

te. Hierzu entstanden zunächst einige gröbere Verbin-<br />

dungskonzepte:<br />

Ein Buch tritt als Erzähler auf. Dieses Buch taucht sowohl in der ugandischen als<br />

auch in der deutschen <strong>Wirklichkeit</strong> auf. Es erzählt von dem Mythos und schafft so die<br />

Verbindung. Die Person in Hoima und die Person in Berlin lesen voneinander in dem<br />

Buch und treten so miteinander in Verbindung. Sie bemerken, dass sie die Geschichte<br />

verändern können, indem sie sie schreiben.<br />

Ein weiblicher Erzähler erzählt die Geschichte beider Personen. Es ist nicht genau<br />

zuzuordnen, zu wem diese Stimme gehört. Sie könnte zu beiden gehören. Durch die<br />

Stimme werden die beiden Personen zu einer.<br />

Zwei Personen an zwei Orten. Der Ort des einen ist der Imaginationsraum des ande-<br />

ren. Dinge, die er sich vorstellt, passieren an dem anderem Ort.<br />

Ein Erzähler versucht der Berliner Person, sie heißt Lena, davon zu überzeugen, dass<br />

es eine Geschichte gibt. Er stellt zunächst beide Personen vor. Lena hört irgendwann<br />

die Stimme des Erzählers und diskutiert mit ihm. Sie glaubt ihm nicht. Der Erzähler<br />

versucht immer wieder auf unterschiedlichste Art sie davon zu überzeugen, dass es<br />

eine Verbindung gibt. Schließlich zeigt er ihr den verbindenden Faden. Sie sagt, dann<br />

müsste ja jeder Mensch einen Faden an seinem Zeh haben. Dies bestätigt der Erzähler.<br />

Man sieht Menschen an deren Füßen Fäden gebunden sind. Daraufhin bemerkt Lena,<br />

dass der ganze Globus ein Netz aus Fäden sein müsste. Man sieht den Globus von<br />

Fäden umspannt. Der Wind ist ein Faden, der die Welt zusammenhält.<br />

Nachdem mich keiner der Geschichtsansätze wirklich<br />

überzeugte, entfernte ich mich davon eine konkrete<br />

Handlung zeigen zu wollen. Mich interessierte mehr die<br />

Möglichkeit mit gestalterischen Mitteln aus Alltagssitua-<br />

tionen der beiden Personen eine Verbindung zu entwi-<br />

ckeln. Was wollte ich also erzählen?<br />

Mir war die Aufladung verschiedener Bedeutungen Af-<br />

rikas in der westlichen Welt durchaus bewusst. Afrika,<br />

zum einen als Sehnsuchtsort, mit der Weite der Natur,<br />

der Ursprünglichkeit, der mystischen Andersartigkeit<br />

und Afrika, zum anderen als KKKK-Kontinent. Krank-<br />

heit, Krisen, Krieg, Katastrophen.<br />

In dem Buch Ach, Afrika - Berichte aus dem Inneren<br />

eines Kontinents von Bartholomäus Grill heißt es zu der<br />

Berichterstattung über Afrika:<br />

Der Erzähler sucht. Fährt nach Afrika. Sucht nach Verbindungen. Eine Metageschich-<br />

te. Er erzählt von dem Mythos. Von der Reise. Von den Dingen, die passieren. Er stellt<br />

beide Personen vor. Das hier ist Lena. Und das Juliet. Lena lebt in Berlin und macht<br />

sich auf die Suche nach Verbindungen. Konstruiert sie. Der Erzähler wird in seinem<br />

Alltag gezeigt. Der Alltag der anderen Personen wird gezeigt. Der Erzähler kommt<br />

mit seiner Geschichte nicht voran. Er liest. Surft im Internet. Beobachtet die Nach-<br />

barn. Redet mit Mitbewohnern. Wälzt sich im Bett. Flieht vor der Realität. Träumt.<br />

Verschwindet in anderen Welten, um nicht an seiner Geschichte arbeiten zu müssen.<br />

Schließlich kommt der Erzähler darauf, dass die Geschichte hier spielt. Auch in der<br />

Fremde ist nur Alltag.<br />

„Gefragt ist in der Regel die oberflächliche, flinke Depe-<br />

sche, die Sensationsmeldung oder die impressionistische<br />

Katastrophenstory, nicht die nachdenkliche Analyse<br />

oder die gelassen erzählte Geschichte.“<br />

Ich wollte keinen politischen Film über Afrika schaffen,<br />

sondern eine gelassen erzählte Geschichte über die Idee<br />

der Verbindung zwischen Menschen an unterschiedli-<br />

chen Orten.<br />

Das Problem war an diesem Punkt, dass immer noch<br />

alles zu offen war. Noch war jede Richtung möglich. Ich<br />

entschied mich aufgrund der ruhigeren und konzentrier-<br />

teren Art der Bilder, und der besseren Kombinierbarkeit<br />

gegen die Aufnahmen mit Juliet und für die Aufnahmen<br />

mit der Darstellerin Jovia und konzentrierte mich dar-<br />

auf, welche Art von Berliner Aufnahmen ich mit diesen<br />

in Verbindung bringen konnte.


50 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Mondmanns Faden<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 51<br />

Dreharbeiten in Berlin<br />

Die Aufnahmen in Berlin bauen auf den Aufnahmen aus Uganda auf. Es werden den in Uganda<br />

gedrehten Szenen entsprechende, weiterführende und vorhergehende Bilder aufgenommen.<br />

In Berlin entstanden Aufnahmen, die eine parallele<br />

Handlung zeigten. Ich ließ mich von ugandischen Auf-<br />

nahmen inspirieren und entwickelte sie weiter. Ein weite-<br />

res Element war die Suche nache einem Zwischenort auf<br />

Berliner Seite. Hierfür bot sich der Botanische Garten<br />

an, der beim Betrachter im ersten Momente eine gewis-<br />

sen Konfusion erzeugen sollte. Eine künstliche Welt ent-<br />

steht, deren Künstlichkeit durch Aufnahmen des derzei-<br />

tigen Umbauprozesses verdeutlicht werden. Es ent-<br />

steht eine Sehnsucht nach der anderen Welt.<br />

Kleine Details erzeugen weiterhin eine Verbindung. So<br />

findet sich die Farbe der Morgenbekleidung der Person<br />

aus Hoima in dem Rock der Berliner Person wieder.<br />

Die Berliner Person läuft an einem Treff-International<br />

vorbei. Passend zu den ugandischen Aufnahmen<br />

entstehen Bilder, die einen direkten Blickkontakt zwi-<br />

schen den beiden Hauptpersonen erzeugen können und<br />

scheinbar direkte Interaktion zulassen.<br />

Des weiteren nahm ich Bilder auf, die in der Postpro-<br />

duktion die Entstehung kleiner, traumartiger Verbindun-<br />

gen und Verweise zur anderen Welt ermöglichten.<br />

Zusätzlich entstanden Szenen, die den chinesischen<br />

Mythos der Verbindung illustrierten, Bilder die mit der<br />

Idee des verbindenden Fadens spielten. Hierbei wurde<br />

die Idee in Bilder umgesetzt, jeder Mensch hätte tatsäch-<br />

lich eine von dem Mann im Mond geknüpfte Verbin-<br />

dung am Zeh, die ihn mit jemand anderem auf der Welt<br />

verbindet.


52 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Mondmanns Faden<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 53<br />

Verbindung der beiden <strong>Wirklichkeit</strong>en<br />

Im auf die Dreharbeiten folgenden Prozess entwickelte ich zunächst verschiedene Szenen, die die Protagonisten<br />

und die beiden Welten miteinander verbinden. Aus diesen Sequenzen baute sich der fertige<br />

Film auf.<br />

Dabei entstanden zunächst einerseits Sequenzen, die<br />

durch den Schnitt in Verbindung gebracht wurden.<br />

Zum anderen kreierte ich kurze Sequenzen, bei denen<br />

kleine vom Betrachter vielleicht nur unbewusst wahr-<br />

genommene traumartige beziehungsweise surreale<br />

Momente eine Verbindung zur anderen Welt erzeugten.<br />

Diese entstanden in der Postproduktion durch Kom-<br />

bination von Aufnahmen aus Hoima und Berlin.<br />

Während des morgendlichen Zähneputzen bemerkt die Person aus Hoima etwas. Im anschließenden Bild ist die<br />

Berliner Person zu sehen. Sie scheint auch etwas bemerkt zu haben und wirft einen genaueren Blick in den Spiegel.<br />

An dem einen Ort werden Milch und Kaffee in die Tasse gegossen, an dem anderen Ort werden sie umgerührt,<br />

vermischt und ausgetrunken.<br />

Beide hören scheinbar das Gleiche im Radio. Wenn die eine Person den Sender verstellt, bemerkt die andere es.<br />

Durch die Montage entsteht ein kurzer Zweikampf um die Wahl des Senders.<br />

Mittagspause: Ein kleiner Snack in der U-Bahn. Eine Stärkung im Bistro. Ein zugeworfener Blick.<br />

Bemerken sie sich gegenseitig?


54 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Mondmanns Faden – Verbindung der beiden <strong>Wirklichkeit</strong>en<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 55<br />

Nachdem sich beide Personen scheinbar auf einen Sender geinigt haben, schauen sie sich durch einen Blick durch den<br />

Betrachter hindurch gegenseitig an.<br />

Eine an den Füßen der ugandischen Person auftauchende Reflexion inspirierte mich zu dieser Szene. Die Person in<br />

Berlin betrachtet sich in einem Handspiegel. Sie bewegt den Spiegel hin und her. Eine Reflexion wandert über ihr<br />

Gesicht. Im nächsten Bild in Hoima ist die Reflexion zu erkennen.<br />

Eine Bewegung wird von einer Person angefangen und von der anderen weitergeführt. In diesem Fall setzt sich das<br />

Überschlagen der Beine von der einen Welt in die andere fort.<br />

Eine Person ruft jemanden an. Die andere Person wird angerufen. Telefonieren sie miteinander oder telefonieren<br />

sie nur zufällig zur selben Zeit?<br />

Die beiden Personen scheinen sich zu bemerken. Es komt scheinbar zu einem direktem Blickwechsel.


56 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Mondmanns Faden – Verbindung der beiden <strong>Wirklichkeit</strong>en<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 57<br />

In Berlin tritt die Person auf den Balkon. In der Spiegelung der Glastür ist zunächst eine Spiegelung der umliegen-<br />

den Häuser zu sehen. Wird sie jedoch geöffnet ist eine Spiegelung eines in Hoima stehenden Hauses zu erkennen.<br />

Eine U-Bahnfahrt in Berlin. Im Hintergrund sieht man<br />

zunächst Berliner Landschaft vorbeiziehen. Langsam<br />

verdeutlichen sich in der Spiegelung des Fensters<br />

Fahraufnahmen aus Hoima.<br />

Im Stadtbild Berlins taucht ein Elefanten-Graffiti auf. Es bewegt sich ganz langsam und erzeugt so eine<br />

sehnsuchtsvolle Verbindung zu dem anderen Ort.<br />

Die Berliner Person läuft an einer Häuserwand aus<br />

Hoima vorbei.


58 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Mondmanns Faden – Verbindung der beiden <strong>Wirklichkeit</strong>en<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 59<br />

Durch das Hineinmontieren unaufälliger Gegenstände<br />

wird bei dem Betrachter eine teilweise unbewusste<br />

Irritation ausgelöst. Im weiteren Verlauf deutlicher<br />

werdende Bilder lösen eine Konfusion über die Eindeu-<br />

tigkeit eines Ortes aus. In einer ugandischen Zeitung<br />

lassen sich Berliner Bilder erkennen. Der Bildschirm-<br />

hintergrund zeigt eine Berliner Stadtansicht.<br />

Ein Ansatz war durch grafische Elemente die beiden Orte zu verbinden. Ein Ort zerfließt in Farben.<br />

Aus diesen Farben entsteht der andere Ort.<br />

Ein in Hoima gekaufter Stoff dient der Berliner Person als Vorhang. Er kommt in beiden Welten vor und verbindet sie.<br />

Eine direkte Visualisierung des verbindenden Fadens. Die Bewegung einer Person löst die Bewegung der anderen<br />

Person aus. Nur wer beeinflusst wen?


60 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> – Mondmanns Faden – Verbindung der beiden <strong>Wirklichkeit</strong>en<br />

verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 61<br />

Direkte Visualisierung des verbindenden Fadens. Der Faden an einem Zeh. Der Faden am Zeh jedes Menschen.<br />

Fäden verbinden die Welt.<br />

Zu Beginn des entstandenen Films gibt es eine Sequenz,<br />

bei der die Berliner Figur im Schlaf abwechselnd mit<br />

eindeutig afrikanischen Impressionen gezeigt wird.<br />

Diese Impressionen können zum einen als Traum-, aber<br />

auch als eigenständige Welt gedeutet werden. In dieser<br />

anderen Welt wird ein Stück Stoff erworben, welches der<br />

Berliner Person als Vorhang dient. Diese zieht nach dem<br />

sie aufgewacht ist den Vorhang auf. Durch das Fenster<br />

sieht man ugandische Landschaft. Das Fenster zur ande-<br />

ren Welt ist, zumindest für den Betrachter, geöffnet.<br />

Der Film ist so geschnitten, dass sich reale, teilweise<br />

dokumentarisch erscheinende Bilder mit Bildern aus<br />

einer anderen <strong>Wirklichkeit</strong> mischen. Beide Personen<br />

werden eingeführt und in ihrem Alltag vorgestellt. Es<br />

entsteht eine Verbindung der beiden. Sie treten in<br />

einigen Szenen scheinbar direkt miteinander in Interak-<br />

tion. Szenen, in denen sich Hinweise auf die andere Welt<br />

befinden, treten verstärkt auf. Die Berliner Person<br />

bemerkt etwas von dieser anderen Welt, es entsteht<br />

eine Sehnsucht. Sie begibt sich auf die Suche und landet<br />

an einem Zwischenort.<br />

Die beiden Welten vermischen sich zusehends. Auf der<br />

Audioebene entwickelt sich aus dem anfänglichen<br />

O-Ton eine Verbindung der beiden Welten. Es entsteht<br />

ein gemeinsamer Audioraum.<br />

Zum Ende des Films gibt es einen Blickkontakt, bei<br />

dem sich die beiden Personen scheinbar direkt an-<br />

schauen und sich einander bewusst werden. Danach<br />

sind sie wieder alleine. Sind sie verbunden oder nicht?<br />

Zum Abschluss dieser Dokumentation möchte ich an<br />

dieser Stelle noch einmal auf Heinz von Foerster zurück-<br />

kommen.<br />

Die Frage, ob wir von der Welt getrennt oder mit ihr<br />

verbunden sind, so von Foerster, lässt sich prinzipiell<br />

nicht endgültig klären. Wir können uns nur für eine<br />

dieser beiden Haltungen entscheiden und für diese Wahl<br />

Verantwortung übernehmen. Man entschließt sich, die<br />

Dinge, die Welt und seine Mitmenschen auf eine beson-<br />

dere Weise zu betrachten und entsprechend zu handeln.<br />

Man wird verantwortlich für die Entscheidung, die man<br />

getroffen hat und die einem niemand abnehmen kann.


62 verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> verschiedene <strong>Wirklichkeit</strong> 63<br />

Anregungen und Quellen<br />

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners<br />

Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Heidelberg 2004<br />

Wie wirklich ist die <strong>Wirklichkeit</strong>?<br />

Paul Watzlawick, München 1976<br />

Ach, Afrika – Berichte aus dem Inneren eines Kontinents<br />

Bartholomäus Grill, München 2005<br />

Afrika - Mythos und Zukunft<br />

Katja Böhler / Jürgen Hoeren, Freiburg am Breisgau 2003<br />

Lost in the Funhouse<br />

Bill Zehme, New York 1999<br />

Das Gefühl des Augenblicks<br />

– zur Dramaturgie des Dokumentarfilms<br />

Thomas Schadt, Bergisch Gladbach 2002<br />

Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt<br />

Michaela Krützen, Frankfurt 2004<br />

Handbuch der Filmmontage<br />

Hans Beller, München 1993<br />

A beautiful mind(fuck): Hollywood structures of identity<br />

Jonathan Eig<br />

http://www.ejumpcut.org/archi-<br />

ve/jc46.2003/eig.mindfilms/<br />

Der mindfuck als postmodernes Spielfilm-Genre<br />

Alexander Geimer<br />

http://www.jump-cut.de/mindfuck1.html<br />

Dank an:<br />

Prof. Maria Vedder, Prof. Joachim Sauter, Prof. Anna Anders, Isabell Spengler,<br />

Dr. Anja Osswald, Jovia Tumuhaise, William Rwebembera, Juliet Tsume,<br />

Virginia Maiorino, Holger Jonas, Sigrid Jonas, Irene von Alberti, Frieder Schlaich,<br />

Jonas von Poser, Nina Ahrens, Anke Schmidt, Sören Stange, Johannes Edelhoff<br />

und Merle Völkner.<br />

Ich versichere, meine Diplomarbeit ohne fremde<br />

Hilfe angefertigt zu haben.<br />

Berlin im April 2007<br />

Janek Jonas

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