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Formästhetische Grundlagen der Filmgestaltung. Ein Handbuch für ...

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<strong>Formästhetische</strong> <strong>Grundlagen</strong> <strong>der</strong> <strong>Filmgestaltung</strong>.<br />

<strong>Ein</strong> <strong>Handbuch</strong> <strong>für</strong> die Videoarbeit<br />

Diplomarbeit zur Diplomprüfung<br />

an <strong>der</strong> Fachhochschule Dortmund, Fachbereich Soziales,<br />

Studiengang Sozialpädagogik, WS 2003/2004<br />

vorgelegt von<br />

Ottlinger, Maren<br />

Graefestr. 8<br />

45147 Essen<br />

1. Referent: Prof. Dr. Helmut H. Die<strong>der</strong>ichs<br />

2. Referent: Dieter Wortmann


Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>Ein</strong>leitung 4<br />

A Visuelle Gestaltungsmittel<br />

1. Grundregeln des Filmens 10<br />

1.1 Vom Stativ filmen! 10<br />

1.2 Die richtige <strong>Ein</strong>stellungslänge wählen! 10<br />

1.3 Bildausschnitt wählen! 10<br />

1.4 Finger weg von Zoom und Tricktasten! 11<br />

2. <strong>Ein</strong>stellung 11<br />

2.1 <strong>Ein</strong>stellungsgröße 14<br />

2.1.1 Weite Aufnahme 14<br />

2.1.2 Totale 15<br />

2.1.3 Halbtotale 15<br />

2.1.4 Halbnahe 15<br />

2.1.5 Amerikanische 16<br />

2.1.6 Nahaufnahme 16<br />

2.1.7 Großaufnahme 16<br />

2.1.8 Detailaufnahme 18<br />

3. Perspektive 18<br />

3.1 Normalsicht 19<br />

3.2 Untersicht 19<br />

3.3 Aufsicht 20<br />

3.4 Schrägsicht 20<br />

4. Kamerabewegung 21<br />

4.1 Kameraschwenk 22<br />

4.1.1 Horizontalschwenk 23<br />

4.1.2 Vertikalschwenk 23<br />

4.2 Schwanken 23<br />

4.3 Rollen 24<br />

4.4 Kamerafahrt 24<br />

4.4.1 Parallelfahrt 26<br />

4.4.2 Kranfahrt 26<br />

4.4.3 Hinfahrt 26<br />

4.4.4 Rückfahrt 27<br />

4.4.5 Kreisfahrt 27<br />

4.4.6 <strong>Ein</strong>e Scheinfahrt- <strong>der</strong> Zoom 28<br />

2


5. Bildkomposition 29<br />

5.1 Offene und geschlossene Form 32<br />

5.2 Plazierung von Personen und Objekten vor <strong>der</strong> Kamera 33<br />

5.3 Beleuchtung 35<br />

5.3.1 Beleuchtungsstile 38<br />

5.4 Farbe 39<br />

5.5 Schärfe 41<br />

6. Montage 42<br />

6.1 Das Kürzen von <strong>Ein</strong>stellungen 43<br />

6.2 Wechsel <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>stellungsgrößen 44<br />

6.3 Montagekriterien 47<br />

6.4 Continuity System 49<br />

6.5 Assoziationsmontage 51<br />

6.6 Montagesequenz 54<br />

6.7 Parallelmontage 54<br />

6.8 Plansequenz 55<br />

6.9 Überleitungen 56<br />

6.10 Titel 58<br />

B Auditive Gestaltungsmittel<br />

7. Ton 59<br />

7.1 Geräusche 60<br />

7.2 Sprache 62<br />

7.3 Musik 65<br />

C Organisation<br />

8. Von <strong>der</strong> Idee zum Drehbuch 68<br />

8.1 Die Franz`sche Pyramide 69<br />

8.2 Filmische <strong>Ein</strong>heiten 69<br />

8.3 Das Prinzip <strong>der</strong> Verkürzung und Auslassung (Ellipse) 70<br />

8.4 Kurzgeschichte und Kurzfilm 72<br />

8.5 Orientierung im Film 73<br />

9. Die Bedeutung von Mythen <strong>für</strong> die Filmstory 74<br />

9.1 Die Stationen <strong>der</strong> Heldenreise 76<br />

10. Erzählsituation 80<br />

10.1 Subjektive und objektive Kamera 82<br />

Resümee 85<br />

Filmverzeichnis 87<br />

Literaturverzeichnis 89<br />

3


<strong>Ein</strong>leitung<br />

„Medienpädagogik will Medienkompetenz sowohl in kritisch-rezeptivem als auch<br />

kreativ-produktivem Sinne bewirken (...).“ 1 Der Begriff Medienkompetenz faßt<br />

die Fähigkeiten zusammen, die <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>zelne innerhalb einer Medien- o<strong>der</strong><br />

Informationsgesellschaft benötigt und ist in drei Kompetenzen aufgefächert:<br />

Wahrnehmungskompetenz, Nutzungskompetenz und Handlungskompetenz.<br />

Wahrnehmungskompetenz ist die Kompetenz, Medien, ihre Strukturen,<br />

Gestaltungsformen und Wirkungsmöglichkeiten zu durchschauen.<br />

Nutzungskompetenz ist die Kompetenz, Medien und ihre Angebote zielgerichtet<br />

und angemessen zu nutzen. Handlungskompetenz ist die Kompetenz, Medien als<br />

Ausdruck seiner Persönlichkeit, Interessen und Anliegen zu gestalten. 2<br />

Durch kritische Reflexion von Medien ist es möglich, prinzipiell aus <strong>der</strong><br />

Rolle des Konsumenten bzw. Objekts in die des Produzenten bzw. gestaltenden<br />

Subjekts zu wechseln. Dem Klienten das Gefühl zu geben, nicht Opfer, son<strong>der</strong>n<br />

Schöpfer seiner Welt zu sein sollte ohnehin stets ein Ziel je<strong>der</strong> pädagogischen<br />

Arbeit sein.<br />

Medienkompetenz ist ein Spezifikum kommunikativer Kompetenz. Der<br />

Alltag wird immer stärker von Medien durchdrungen und teilweise sogar von<br />

ihnen gesteuert. Das macht erfor<strong>der</strong>lich, Medien zum Zwecke <strong>der</strong> Kommunika-<br />

tion zu nutzen und soziale Realität mit ihrer Hilfe zu gestalten. „Der Austausch<br />

mittels Symbolen zwischen Menschen ist immer auch ein Lernprozeß, in dem die<br />

an dem Prozeß Beteiligten über ihre Aussagen und Antworten sich verän<strong>der</strong>n.<br />

Menschliche Kommunikation ist zugleich Interaktion, die ein verän<strong>der</strong>tes<br />

Verhalten <strong>der</strong> Partner zur Folge hat.“ 3<br />

Videoarbeit ist eine <strong>der</strong> wichtigsten Ausprägungsformen alternativer<br />

Medienarbeit. Mit dem Aufkommen tragbarer Videokameras in den 70er Jahren<br />

bekam Videoarbeit einen hohen Stellenwert. Vorrangiges Ziel <strong>der</strong> Videoarbeit ist<br />

<strong>der</strong> Erwerb von Medienkompetenz. Durch das Selbermachen eines Films sollen<br />

Denkanstöße vermittelt werden, wie mit Medien manipuliert werden kann. Die<br />

Jugendlichen lernen beispielsweise, wie durch die Wahl des Blickwinkels die<br />

1<br />

Die<strong>der</strong>ichs, H. H. in: Balázs, B.: Der sichtbare Mensch o<strong>der</strong> die Kultur des Films. Frankfurt am<br />

Main: Suhrkamp 2001, S. 117<br />

2<br />

Hüther, J., Schorb, B., Brehm-Klotz, C.(Hrsg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. München:<br />

KoPäd 1997, S. 236ff.<br />

3<br />

ebd., S. 239ff.<br />

4


Wirklichkeit beeinflußt wird. Medien sollen dadurch kritischer eingeschätzt<br />

werden. Das berührt die Kategorie <strong>der</strong> Wahrnehmungskompetenz.<br />

Aber auch die Handlungskompetenz soll mit Hilfe von Videoarbeit<br />

geför<strong>der</strong>t werden. Das Medium Film soll als Mittel politischer Partizipation<br />

benutzt werden und so als Sprachrohr <strong>für</strong> die Jugendlichen dienen. Die Massenmedien<br />

liegen in den Händen weniger und die veröffentlichte Meinung ist nicht<br />

unbedingt mit <strong>der</strong> Meinung <strong>der</strong> Öffentlichkeit gleichzusetzen. Durch Videoarbeit<br />

kommen Gruppen zur Sprache, die sonst keinen Zugang zu den Massenmedien<br />

haben. 4<br />

Es können beispielsweise politische Themen wie Intoleranz und<br />

Auslän<strong>der</strong>feindlichkeit behandelt werden. Betroffene, wie schwule und lesbische<br />

Jugendliche, haben die Gelegenheit, auf die Probleme <strong>der</strong> Diskriminierung<br />

hinzuweisen, die ihnen zuteil wird. So erfolgt eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong><br />

eigenen Identität, im inneren Dialog und in <strong>der</strong> kommunikativen Interaktion mit<br />

den an<strong>der</strong>en am Dreh Beteiligten. Die Zuschauer des Films erhalten in diesem<br />

Fall in <strong>der</strong> Kommunikation über das Medium Film eine eindeutige Auffor<strong>der</strong>ung,<br />

sich mit dem Thema gleichgeschlechtlicher Liebe auseinan<strong>der</strong>zusetzen.<br />

Die Veröffentlichung kann in Jugend- o<strong>der</strong> Stadtteilzentren, auf regionalen<br />

Festivals o<strong>der</strong> über offene Kanäle stattfinden, auch die <strong>Ein</strong>bindung in ein<br />

herkömmliches Programm wäre möglich. Jedoch findet die Veröffentlichung<br />

meist im kleinen, mit den Problemlagen bereits vertrauten Kreis statt. 5 Somit wird<br />

die Zielkategorie Handlungskompetenz, seine Interessen und Anliegen<br />

auszudrücken und öffentlich mitzuteilen, nicht erreicht.<br />

Schon in den siebziger Jahren ist das Konzept Videoarbeit daran<br />

gescheitert, daß „die Videos niemand sehen wollte und die teils schlechten<br />

Kamera- und Tonaufnahmen auf Unverständnis beim Publikum stießen.“ 6 Es ist<br />

also ebenfalls fraglich, ob die Zielkategorie <strong>der</strong> Wahrnehmungskompetenz erreicht<br />

worden ist, in <strong>der</strong> es darum geht, die Gestaltungsformen und Wirkungsmöglichkeiten<br />

des Mediums zu durchschauen. Es ist kaum anzunehmen, daß die<br />

Jugendlichen die Gestaltungsmöglichkeiten verstanden, aber dennoch nicht<br />

angewandt haben. Bis heute genießt Videoarbeit den Ruf, alberne Filmchen zu<br />

produzieren, die niemand sehen will. Themen <strong>der</strong> Jugendlichen sind Beziehungs-<br />

4 ebd., S. 349<br />

5 ebd., S 29<br />

6 ebd., S. 348<br />

5


und Cliquengeschichten aus ihrem Umfeld, sowie Persiflagen und Satiren auf<br />

Kino- und Fernsehvorbil<strong>der</strong>. Die Jugendlichen denken sich „die irrwitzigsten<br />

Geschichten aus, die dann oft völlig übertrieben über das Ziel hinausschießen und<br />

eher peinlich als komisch sind. So sind James-Bond- o<strong>der</strong> Miami-Vice-<br />

Persiflagen manchmal so überzeichnet, daß Außenstehende mit diesen Filmen oft<br />

nichts anfangen können.” 7 Das kreative Potential <strong>der</strong> Jugendlichen, das mit Hilfe<br />

von Videoarbeit geför<strong>der</strong>t werden soll, ist hier sicherlich nicht voll ausgeschöpft<br />

worden.<br />

Es mangelt den in <strong>der</strong> Videoarbeit tätigen (Sozial-)Pädagogen oftmals an<br />

einer fachlichen Ausbildung. Es erfor<strong>der</strong>t bereits einige Arbeit, sich in die<br />

Technik <strong>der</strong> Kamera und des Schnittgerätes einzuarbeiten. Der Pädagoge benötigt<br />

außerdem Fachwissen um die Organisation eines Films. „<strong>Ein</strong>e Jugendgruppe, die<br />

gerne einen Actionfilm realisieren will und Ideen à la Terminator entwickelt, muß<br />

erst <strong>für</strong> eigene Geschichten sensibilisiert werden. <strong>Ein</strong>e eigene Idee entwickeln und<br />

keinen billigen und schlechten Abklatsch von Profivorbil<strong>der</strong>n zu realisieren, ist<br />

nicht immer einfach.“ 8 Wie entwickelt man mit <strong>der</strong> Jugendgruppe eigene Ideen<br />

und setzt diese in die verschiedenen Stadien des Drehbuches um? Wie funktioniert<br />

eine originelle Geschichte, wie ist ihr dramatischer Aufbau? Wie sorgt man<br />

da<strong>für</strong>, daß <strong>der</strong> Inhalt transportiert, <strong>der</strong> Film auch verstanden wird?<br />

Wie kann <strong>der</strong> Inhalt nun mit filmischen Mitteln ausgedrückt werden? Das<br />

Medium Film verfügt über ein spezifisches Zeichensystem, das nicht ohne Grund<br />

„Filmsprache“ genannt wird. Will man sich über dieses Medium ausdrücken, muß<br />

man diese Sprache erlernen, so wie man jede Sprache erlernen muß, in <strong>der</strong> man<br />

sich verständigen möchte. Das Wissen um die Existenz dieser Sprache ist nicht<br />

sehr verbreitet. Aus dieser Unwissenheit resultieren vielleicht die vielen klägli-<br />

chen Amateurfilme in und außerhalb <strong>der</strong> Videoarbeit. Selbst die professionell mit<br />

dem Medium befaßten Filmkritiker gehen in ihren Filmbesprechungen in den<br />

Feuilletons <strong>der</strong> Tageszeitungen und in ihren Büchern zum Thema Film fast<br />

ausschließlich auf den Inhalt <strong>der</strong> jeweiligen Filme ein; die formalen Gestaltungsmittel,<br />

die den Inhalt transportieren, bleiben außen vor. Welche Gestaltungsmittel<br />

gibt es also im Film? Was bewirken die verschiedenen <strong>Ein</strong>stellungsgrößen,<br />

Perspektiven, Kamerabewegungen? Welche Möglichkeiten gibt es bei <strong>der</strong><br />

Komposition eines Bildes? Was muß beim Schnitt und bei <strong>der</strong> Montage beachtet<br />

7 ebd., S. 350<br />

8 ebd., S. 350<br />

6


werden? Welche Gestaltungsmöglichkeiten gibt es dort? Welche Wirkungen kann<br />

man mit dem Ton erzielen? Wenn man eine gute Idee <strong>für</strong> einen Film entwickelt<br />

hat, geht es im nächsten Schritt also darum, <strong>für</strong> den Inhalt eine adäquate Form zu<br />

finden, also bewußt ausgewählte Gestaltungsmittel anzuwenden.<br />

Wenn die <strong>Grundlagen</strong> <strong>der</strong> Organisation berücksichtigt werden, hat das zur<br />

Folge, daß die in <strong>der</strong> Videoarbeit gedrehten Filme inhaltlich interessanter werden,<br />

da im Idealfall die Themen behandelt werden, die den Jugendlichen wirklich nahe<br />

gehen. Das können Themen sein, die im Spektrum <strong>der</strong> Massenmedien gar nicht<br />

auftauchen, und somit tatsächlich eine Art „Gegenöffentlichkeit“ darstellen, wie<br />

einst die Zielformulierung alternativer Medienarbeit lautete. So könnte dann<br />

Interesse bei einem größeren Publikumskreis geweckt werden. Wenn die<br />

filmischen Gestaltungsmittel richtig angewandt worden sind, kann <strong>der</strong> Film diesen<br />

Publikumskreis auch informieren, ohne zu langweilen.<br />

Wenn die Filme verständlich und ansehbar sind, fällt eine Barriere, die<br />

daran gehin<strong>der</strong>t hat, diese einer breiteren Öffentlichkeit zu zeigen. Damit rückt<br />

man dem Ziel <strong>der</strong> politischen Partizipation wie<strong>der</strong> etwas näher. <strong>Ein</strong>e Möglichkeit<br />

ist die Veröffentlichung <strong>der</strong> Arbeiten über das Medium Internet. Die Filme<br />

können mit Hilfe des Videoschnittprogramms komprimiert werden, so daß sie ins<br />

Internet gestellt werden können, viele sozialpädagogische <strong>Ein</strong>richtungen haben<br />

inzwischen eine eigene Homepage. Die selbst erstellten DVDs o<strong>der</strong><br />

Videokassetten können dort auch zum Verkauf angeboten werden. Dabei muß<br />

klar sein, daß das Werk jetzt nicht „<strong>der</strong> Öffentlichkeit“ zugänglich gemacht<br />

worden ist. <strong>Ein</strong>kommensschwache Bevölkerungsgruppen können sich die<br />

Internetdienste oft nicht leisten.<br />

Außer dem Problem <strong>der</strong> Veröffentlichung gibt es viele weitere Probleme<br />

in <strong>der</strong> Videoarbeit. Man arbeitet in diesem Zweig <strong>der</strong> Sozialpädagogik unter<br />

äußerst schwierigen Bedingungen. Selbst wenn <strong>der</strong> Sozialpädagoge das<br />

entsprechende Know-how besitzt, was Organisation und Gestaltung eines Films<br />

angeht, än<strong>der</strong>t das nichts daran, daß die Produktionen meist mit minimalem<br />

Aufwand realisiert werden müssen. In <strong>der</strong> Jugendarbeit sind Gruppen oft nicht<br />

stabil und Drehtermine können nicht wahrgenommen werden, weil die Gruppe<br />

sich aufgelöst hat. „(...) es fehlt an <strong>der</strong> gründlichen Recherche, es fehlen<br />

Sequenzen zur Fertigstellung des Films, es fehlt an Nachbearbeitungsmöglichkei-<br />

7


ten uvm. (...) Jugendfilmarbeit bleibt Freizeitbeschäftigung, und es ist von vielen<br />

Zufällen abhängig, ob sie gelingt.“ 9<br />

Da stellt sich die Frage, warum Videoarbeit so eng eingegrenzt wird auf<br />

die Arbeit mit Jugendlichen und, wie auch aus dem Zitat entnommen werden<br />

kann, da nur in <strong>der</strong> offenen Jugendarbeit, also beispielsweise in Jugendzentren. Es<br />

bietet sich an, gerade da mit dem Medium Video zu arbeiten, wo über einen<br />

längeren Zeitraum feste Gruppen bestehen. Da fällt zum Beispiel <strong>der</strong> ganze<br />

Bereich Heimarbeit und betreutes Wohnen hinein. Diese Kin<strong>der</strong>, Jugendlichen<br />

und jungen Erwachsenen haben größtenteils Probleme, ihre Freizeit zu gestalten,<br />

was teils am knappen Budget <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>richtungen <strong>für</strong> den Freizeitbereich, vor allen<br />

Dingen aber an <strong>der</strong> mangelnden Sozialkompetenz <strong>der</strong> Klienten liegt, die oft<br />

traumatische Erfahrungen mit ihren Bezugspersonen gemacht haben und aus<br />

diesem Grunde heraus nicht angstlos auf ihre Mitmenschen zugehen können.<br />

Durch das Zusammenleben <strong>der</strong> Klienten mit ihren Betreuern ist bereits ein<br />

Vertrauensverhältnis geschaffen, so daß auch schwierige Themen behandelt<br />

werden können. So findet mit Hilfe des Mediums eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />

den Problemen statt. Worte sind ohnehin nicht das Medium dieser Zielgruppe.<br />

Aber auch in an<strong>der</strong>en sozialpädagogischen Bereichen kann Videoarbeit betrieben<br />

werden. Die einmalige Anschaffung einer digitalen Videokamera, eines Stativs<br />

und ein paar Kassetten ist alles, was dazu nötig ist. Mit etwas Glück erhält man<br />

diese Grundausrüstung in Form einer Spende. <strong>Ein</strong> Schnittprogramm bekommt<br />

man erfahrungsgemäß kostenlos <strong>für</strong> soziale <strong>Ein</strong>richtungen, wenn man an die<br />

Firma schreibt. 10<br />

In dieser Arbeit werden grundlegende Fragen zu Organisation und<br />

Gestaltung eines Films erläutert, um Sozialpädagogen, die in ihrer <strong>Ein</strong>richtung<br />

Videoarbeit anbieten wollen, das nötige Fachwissen zu vermitteln. Darüber hinaus<br />

kann auch je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e am Filmemachen Interessierte diese Arbeit zu Hilfe<br />

nehmen.<br />

Es empfiehlt sich, nach jedem Abschnitt das Gelernte mit <strong>der</strong> Kamera<br />

umzusetzen, also <strong>Ein</strong>stellungsgrößen zu filmen, Perspektiven und Kamerabewegungen<br />

auszuprobieren, etc. Anschließend sollten erst einmal kleine Alltagshandlungen<br />

in <strong>Ein</strong>stellungen aufgelöst, gefilmt und geschnitten werden, bevor<br />

9 ebd., S. 350ff.<br />

10 so die Erfahrung eines Kommilitonen, <strong>der</strong> <strong>für</strong> seine <strong>Ein</strong>richtung das Schnittprogramm Premiere<br />

6.5 kostenlos von <strong>der</strong> Firma Adobe erhielt, nachdem er sie angeschrieben hatte<br />

8


man sich größeren Projekten zuwendet. Projekte, die angefangen wurden, sollten<br />

auch zu Ende gebracht werden, es gibt nichts unbefriedigen<strong>der</strong>es als halbfertige<br />

Filme. In diesen ersten, meist rund zweiminütigen Filmen, macht man Fehler, die<br />

man dann bei den ersten großen Projekten vermeiden kann.<br />

Gestaltungsmittel und ihre Wirkungen werden in dieser Arbeit häufig an<br />

möglichst populären Filmen anschaulich gemacht. Es empfiehlt sich, beim Filme<br />

anschauen auf Gestaltungsmittel zu achten. Hat man sich erst ein wenig in die<br />

Materie eingearbeitet, wird dies ohnehin zur Angewohnheit.<br />

Die Vorgehensweise, die hier <strong>für</strong> den Sozialpädagogen beschrieben wird,<br />

gilt auch <strong>für</strong> die Heranführung <strong>der</strong> Zielgruppe an das Medium. Um den Theorieteil<br />

attraktiver zu machen, kann <strong>der</strong> Sozialpädagoge eine DVD o<strong>der</strong> Videokassette<br />

zusammenstellen, auf denen treffende Beispiele zu den jeweiligen Themengebieten<br />

zu finden sind. Man kann gemeinsam Filmsequenzen anschauen und darüber<br />

diskutieren, wie bestimmte Effekte erzeugt worden sind. Die Jugendlichen werden<br />

froh sein, endlich einmal mehr über einen Film, <strong>der</strong> ihnen gefallen hat, sagen zu<br />

können, als nur „cooler Film“.<br />

Die Arbeit glie<strong>der</strong>t sich in die drei Teile: visuelle Gestaltungsmittel,<br />

auditive Gestaltungsmittel und Organisation. Der Organisationsteil ist bewußt<br />

hinten an gestellt worden, da ein richtiges Drehbuch erst geschrieben werden<br />

kann, wenn man die filmischen Verfahrensweisen verstanden und einige<br />

Erfahrung mit <strong>der</strong> Kamera gesammelt hat.<br />

9


A Visuelle Gestaltungsmittel<br />

1. Grundregeln des Filmens<br />

Das Filmen ist ein komplexer Vorgang: vom Drehbuch über die Kameraführung<br />

bis hin zur Montage gibt es viele Elemente, welche die Qualität eines Films<br />

beeinflussen. Aus schlechtem Rohmaterial läßt sich jedoch kein guter Film mehr<br />

erstellen. Deshalb ist es wichtig, schon beim Drehen wichtige Grundregeln zu<br />

beachten.<br />

1.1 Vom Stativ filmen!<br />

<strong>Ein</strong>en Amateurfilm erkennt man sofort an den wackeligen Bil<strong>der</strong>n. Je<strong>der</strong> Mensch<br />

zittert und diese Erschütterungen sind auf dem Film beson<strong>der</strong>s an den<br />

Randbegrenzungen sichtbar. Erste Wahl sollte ein Dreibeinstativ sein.<br />

Alternativen sind die weniger sperrigen <strong>Ein</strong>beinstative o<strong>der</strong> feste Auflageflächen<br />

in <strong>der</strong> Umgebung, wie Mauern, Baumstümpfe und Autodächer. Als Hilfsmittel,<br />

um die Kamera auszurichten, kann ein Reissäckchen dienen.<br />

1.2 Die richtige <strong>Ein</strong>stellungslänge wählen!<br />

Die <strong>Ein</strong>stellungslänge richtet sich nach <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>stellungsgröße und <strong>der</strong> Bildaussa-<br />

ge. Ist im Bild viel zu sehen, muß die Kamera länger laufen. Als Faustregel gilt:<br />

Fünf Sekunden Vorlaufzeit, dann im Geiste mitsprechen, was im Bild zu sehen<br />

ist, fünf Sekunden Nachlaufzeit. Was bei einer zu kurzen <strong>Ein</strong>stellung fehlt, kann<br />

nicht korrigiert werden, Endloseinstellungen hingegen verlängern das Sichten und<br />

Schneiden unnötig. Die <strong>Ein</strong>stellungslänge richtet sich unter Umständen nach dem<br />

Originalton, z.B. bei einer Rede o<strong>der</strong> einem Konzertmitschnitt.<br />

1.3 Bildausschnitt wählen!<br />

Nicht mehr ganz so amateurhaft wirken die Aufnahmen, wenn man den Bildausschnitt<br />

bewußt wählt. Man wählt einen Ausschnitt aus <strong>der</strong> Wirklichkeit und<br />

bereits das ist ein künstlerischer Akt. Es gilt das Prinzip <strong>der</strong> Ausschließlichkeit:<br />

Es sollte nur das ins Bild, was meinen Aussagewunsch unterstützt und nichts<br />

Zufälliges. Beim professionellen Film wird jede <strong>Ein</strong>stellung minutiös geplant, die<br />

Regisseure arrangieren die kleinen Dinge rechts und links von <strong>der</strong> Geschichte, um<br />

10


dem Filmbild Bedeutung zu geben, Spannung zu erzeugen, zu charakterisieren,<br />

vorauszudeuten o<strong>der</strong> gar ironisch zu kommentieren.<br />

1.4 Finger weg von Zoom und Tricktasten!<br />

Anfänger neigen dazu, unmotiviert am Zoom herumzuspielen. Das Ergebnis sind<br />

unruhige Bil<strong>der</strong> mit unklarer Aussage. Statt mit dem Zoom zu arbeiten, empfiehlt<br />

es sich, die Kamera zum Objekt zu bewegen. Wenn ein Hin<strong>der</strong>nis Objekt und<br />

Kamera trennt, darf <strong>der</strong> Zoom benutzt werden. Die unzähligen Tricktasten an<br />

Kameras kann man getrost vergessen. So wird die Fadetaste beispielsweise nur<br />

benötigt, wenn man keine Möglichkeit zur Nachbearbeitung am Schnittplatz hat,<br />

<strong>der</strong> Bildstabilisator, wenn ohne Stativ gearbeitet wird.<br />

2. <strong>Ein</strong>stellung<br />

Die visuelle Umsetzung einer Filmszene geschieht durch die Auflösung in<br />

einzelne <strong>Ein</strong>stellungen. Die Kamera muß jeweils neu eingestellt werden.<br />

Die <strong>Ein</strong>stellung ist das ohne Unterbrechung gedrehte Filmstück, also <strong>der</strong> Zeitraum<br />

von einem Schnitt zum nächsten. Jede <strong>Ein</strong>stellung definiert sich durch die<br />

Elemente <strong>Ein</strong>stellungsgröße, <strong>Ein</strong>stellungsperspektive, Kamerabewegungen,<br />

Kadrage (Bildaufbau und Komposition), <strong>Ein</strong>stellungslänge und <strong>Ein</strong>stellungs-<br />

zusammenhang.<br />

Die <strong>Ein</strong>stellung ist die kleinste filmische <strong>Ein</strong>heit, es bedarf mindestens<br />

einer <strong>Ein</strong>stellung <strong>für</strong> einen Film. Sie ist jedoch nicht das kleinste Element<br />

filmischer Bedeutung, denn in je<strong>der</strong> <strong>Ein</strong>stellung können Faktoren bedeutsam<br />

werden, wie Akzentsetzungen durch die Beleuchtung, Kamerabewegungen o<strong>der</strong><br />

Bewegungen <strong>der</strong> Akteure. 11<br />

Durch die Wahl <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>stellung trifft man, ob gewollt o<strong>der</strong> nicht,<br />

Aussagen im Bezug auf das Gezeigte und das Nicht-Gezeigte. Aus <strong>der</strong> Vielzahl<br />

<strong>der</strong> möglichen <strong>Ein</strong>stellungen wählt man eine, und das nicht ohne Grund. Die<br />

Tatsache, daß man gerade so bequem auf einem Gartenstuhl sitzt und keine Lust<br />

hat, aufzustehen und bis zu dem Objekt heranzugehen, kann auch ein Grund sein.<br />

Als Betrachter solcher Amateuraufnahmen weiß man oft nicht, wohin man seine<br />

Aufmerksamkeit lenken soll: auf das Bierglas im Vor<strong>der</strong>grund, auf das spielende<br />

11 Rother, R. (Hrsg.): Sachlexikon Film. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 72<br />

11


Kind im Hintergrund, o<strong>der</strong> auf den Mann, <strong>der</strong> plötzlich dicht an <strong>der</strong> Kamera<br />

vorbeigeht. Auch hier wird eine Aussage getroffen: <strong>der</strong> Filmer hatte keine Lust,<br />

etwas auszuwählen, sich <strong>für</strong> das eine Motiv und nicht <strong>für</strong> das an<strong>der</strong>e zu<br />

entscheiden, denn sonst hätte er es ja getan. Diese Lust ist jedoch unabdingbar.<br />

Entscheidungen zu treffen fällt vielen Menschen nicht leicht, es bedeutet auf jeden<br />

Fall Arbeit. Schon ein scheinbar leichtes Vorhaben, wie beispielsweise einen<br />

Baum zu filmen, erfor<strong>der</strong>t viele Entscheidungen. Aus unzähligen Bäumen muß<br />

einer auserwählt werden, dieser sieht in je<strong>der</strong> Jahreszeit und zu je<strong>der</strong> Tageszeit<br />

an<strong>der</strong>s aus, in welchem Licht soll er erscheinen? Will ich ihn in seiner Umgebung<br />

zeigen, o<strong>der</strong> ist die Umgebung unwichtig? Was fasziniert mich an diesem Baum?<br />

Wie die riesigen Wurzeln mit <strong>der</strong> Erde verbunden sind? Die Farbe <strong>der</strong><br />

Birkenrinde, wenn am späten Nachmittag die Sonne darauf scheint? Wie sich die<br />

Krone im Winde wiegt? Von wo nehme ich dieses Wiegen auf? Flach auf dem<br />

Boden, unter dem Baum liegend, o<strong>der</strong> klettere ich in die Krone, bin Teil dieses<br />

Wiegens? O<strong>der</strong> filme ich von einem benachbarten Baum aus? Während dieser<br />

Überlegungen sieht man immer mehr. Wie sich die dunkelgrünen Blätter vom<br />

blauen Himmel absetzen, die schön geschwungene Linie eines Astes, einen<br />

Harztropfen. Mit Hilfe <strong>der</strong> Kamera ist es möglich, diesen Harztropfen wie durch<br />

eine Lupe zu betrachten, mit <strong>der</strong> Kamera kann man Dinge sehen, die man so mit<br />

bloßem Auge nicht sehen kann. Am Ende erhält man eine Vielzahl von Ansichten<br />

eines Objekts und muß wie<strong>der</strong> Entscheidungen treffen, was im Film verwendet<br />

werden soll und was nicht, was in welcher Reihenfolge wie lang gezeigt werden<br />

soll.<br />

Die kürzest denkbare <strong>Ein</strong>stellung ist das <strong>Ein</strong>zelbild. <strong>Ein</strong> <strong>Ein</strong>zelbild wird<br />

aber nur selten eingesetzt, da <strong>der</strong> Mensch es nicht mehr klar und eindeutig wahr-<br />

nehmen kann. In schnellen Montagesequenzen sind <strong>Ein</strong>stellungen von <strong>der</strong> Länge<br />

weniger Bildfel<strong>der</strong> gebräuchlich. 12 <strong>Ein</strong>e <strong>Ein</strong>stellung hat in <strong>der</strong> Regel eine Länge<br />

von fünf bis fünfzehn Sekunden, ein neunzigminütiger Film hat durchschnittlich<br />

sechshun<strong>der</strong>t <strong>Ein</strong>stellungen. <strong>Ein</strong>malig in <strong>der</strong> Filmgeschichte ist Hitchcocks<br />

Experiment, einen Film aufzunehmen, <strong>der</strong> den <strong>Ein</strong>druck vermittelt, er sei in einer<br />

einzigen <strong>Ein</strong>stellung von circa 80 Minuten Länge aufgenommen worden,<br />

COCKTAIL FÜR EINE LEICHE (1948). Zwangsweise Unterbrechungen gab es nur,<br />

wenn nach zehn Minuten die Filmrolle zu Ende war. Die kaschierte er, indem er<br />

12 ebd., S. 71<br />

12


jemanden dicht vor <strong>der</strong> Kamera hergehen ließ, so daß es in diesem Moment<br />

dunkel wurde. So konnte er die Rolle wechseln. Jede Rolle endet mit <strong>der</strong><br />

Großaufnahme einer Jacke und die nächste beginnt mit einer solchen.<br />

Hitchcocks DIE VÖGEL (1963) hat hingegen sogar eintausenddreihun<strong>der</strong>tsechzig<br />

<strong>Ein</strong>stellungen. 13 Heute ist eine Tendenz zu extrem kurzen <strong>Ein</strong>stellungen<br />

festzustellen.<br />

Jede <strong>Ein</strong>stellung eines Films ist eine Information <strong>für</strong> den Zuschauer und<br />

Klarheit ist ein wichtiges Kriterium. Viele Regisseure informieren ungenau o<strong>der</strong><br />

unverständlich, entwe<strong>der</strong>, weil sie selbst nicht wissen, was sie wollen, o<strong>der</strong>, weil<br />

ihre Absichten nicht genau umgesetzt werden. 14 Bevor man die Kamera einstellt,<br />

sollte man einen Aussagewunsch formulieren, und sich dann überlegen, wie dieser<br />

sich am Besten umsetzen läßt. Um das herauszubekommen, muß man auch schon<br />

mal nach <strong>der</strong> „Versuch und Irrtum“-Methode vorgehen. Selbst Alfred Hitchcock<br />

ging so vor, als er 1954 DAS FENSTER ZUM HOF drehte. Als <strong>der</strong> Mann ins Zimmer<br />

kommt, um James Stewart aus dem Fenster zu stoßen, hatte Hitchcock das<br />

zunächst vollkommen realistisch im Ganzen gefilmt und mußte feststellen, daß<br />

das überhaupt nichts hergab. „Dann habe ich die Großaufnahme einer Hand<br />

gedreht, die sich wehrt, dann eine Großaufnahme von Stewarts Gesicht, eine<br />

Großaufnahme von seinen Beinen, eine Großaufnahme des Mör<strong>der</strong>s und dann<br />

alles das in einen angemessenen Rhythmus gebracht. Zum Schluß stimmte <strong>der</strong><br />

<strong>Ein</strong>druck genau.“ 15 Hitchcock erklärt, daß abgefilmte Realität meist irreal<br />

erscheint. Wenn man zwei miteinan<strong>der</strong> kämpfende Männer zeigen will, müsse<br />

man mit <strong>der</strong> Kamera in die Schlägerei hineingehen, damit das Publikum sie spürt.<br />

So hat es auch Stanley Kubrick in KILLER´S KISS (1955) gemacht: „Kubricks<br />

Kamera steigt direkt zwischen die Boxer in den Ring, und Daveys Gegner schlägt<br />

auf sie ein wie auf seinen Kontrahenten – bis zum <strong>für</strong> Davey bitteren Ende, wenn<br />

die Kamera schließlich mit ihm zu Boden geht. Die <strong>Ein</strong>stellung des<br />

ausgeknockten Davey, <strong>der</strong> in die gleißende Helligkeit <strong>der</strong> Deckenbeleuchtung<br />

starrt, ist bezeichnend <strong>für</strong> den ganzen Film: Immer wie<strong>der</strong> läßt sich Kubricks<br />

Bemühen erkennen, in nur einem treffenden Bild die Figuren und ihre<br />

Lebensumstände zu charakterisieren.“ 16<br />

13 Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München: Heyne 2003, S. 174<br />

14 Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 14<br />

15 Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 258<br />

16 Kilb, A., Rother, R. u.a.: Stanley Kubrick. Berlin: Bertz 1999, S. 46<br />

13


2.1 <strong>Ein</strong>stellungsgröße<br />

Mit „<strong>Ein</strong>stellungsgröße“ wird das Größenverhältnis des abgebildeten Objekts zur<br />

Bildfläche bezeichnet. Die <strong>Ein</strong>stellungsgröße ist abhängig von <strong>der</strong> Distanz <strong>der</strong><br />

Kamera zum Motiv und den Abbildungseigenschaften des gewählten Objektivs<br />

(Weitwinkel, Tele). Man unterscheidet im Allgemeinen acht <strong>Ein</strong>stellungsgrößen:<br />

Weite Aufnahme, Totale, Halbtotale, Halbnah, Amerikanische, Nah, Groß, Detail.<br />

Konventionalisierte <strong>Ein</strong>stellungsgrößen haben sich anhand <strong>der</strong> Motive<br />

Landschaft, Schauplatz und Mensch herausgebildet. 17 Die <strong>Ein</strong>stellungsgrößen<br />

beziehen sich auf die Wertigkeit, die in dem Bildfeld das Objekt des primären<br />

Interesses einnimmt. 18<br />

Die Definitionen <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>stellungsgrößen, sowie ihre Bezeichnungen<br />

weichen teilweise stark voneinan<strong>der</strong> ab. „Die Nahaufnahme des einen ist <strong>für</strong> den<br />

an<strong>der</strong>en eine ´Großaufnahme`, und keine Filmakademie hat (bis jetzt) den<br />

genauen Punkt festzulegen versucht, an dem eine halbtotale <strong>Ein</strong>stellung eine<br />

Totale wird o<strong>der</strong> die Totale sich in eine Panorama-<strong>Ein</strong>stellung verwandelt.“ 19<br />

Es werden oftmals verschiedene englische Begriffe benutzt, die hier aus diesem<br />

Grunde mit angegeben werden. Filmt man im Team, sollte man vorher klären, ob<br />

in dieser Hinsicht auch alle die gleiche Sprache sprechen. Es gibt auch die<br />

Möglichkeit, seinen Aussagewunsch zu beschreiben, indem man beispielsweise<br />

sagt, daß man nur das Gesicht im Bild haben möchte o<strong>der</strong> das ganze Haus.<br />

Dennoch ist es unerläßlich, die verschiedenen Größen und ihre Funktionen zu<br />

kennen.<br />

2.1.1 Weite Aufnahme<br />

auch: Supertotale, Panorama-<strong>Ein</strong>stellung, Panoramaaufnahme, extreme long<br />

shot, long distance shot, panoramatic view<br />

Die Weite Aufnahme ist die <strong>Ein</strong>stellungsgröße mit dem weitesten Aufnahmewinkel,<br />

sie lokalisiert den engeren Handlungsort in seiner weiteren Umgebung.<br />

Weite Aufnahmen zeigen Landschaftspanoramen von Gebirgen, Wüsten o<strong>der</strong><br />

Fel<strong>der</strong>n, beliebt ist auch die Ansicht einer Stadt als Silhouette gegen den Horizont,<br />

17<br />

Borstnar, N.; Pabst, E.; Wulff, H. J.: <strong>Ein</strong>führung in die Film- und Fernsehwissenschaft. a.a.O., S.<br />

90ff.<br />

18<br />

Rother, R. (Hrsg.): Sachlexikon Film. a.a.O., S. 73<br />

19<br />

Monaco, J.: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und <strong>der</strong><br />

Medien. Mit einer <strong>Ein</strong>führung in Multimedia. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002 (1. Aufl.<br />

1977), S. 201<br />

14


z.B. Chicago o<strong>der</strong> New York von Seeseite aus. Die weite Stadtaufnahme ist oft<br />

nur als Aufnahme aus einem Flugzeug zu realisieren. 20 Für den Amateurbereich<br />

spielt die Weite Aufnahme eine untergeordnete Rolle. Die Abgrenzung zur<br />

Totalen ist schwierig, oft wird als die weiteste <strong>Ein</strong>stellungsgröße auch die Totale<br />

genannt.<br />

2.1.2 Totale<br />

auch: long shot, distance shot, total view, vista shot<br />

Im Gegensatz zur Weiten Aufnahme, die das Gesamt des Raumes wie<strong>der</strong>gibt,<br />

zeigt die Totale nur das Gesamt des Handlungsraumes. Sie orientiert über den Ort<br />

<strong>der</strong> Handlung und über Dinge und Personen, die in die Handlung hineinspielen. 21<br />

Im Vergleich zur Person dominiert die Umgebung. Man erhält Informationen über<br />

den Schauplatz, über die Jahreszeit, etc. <strong>Ein</strong> Film, <strong>der</strong> hauptsächlich aus Totalen<br />

besteht, betont den Kontext vor dem Drama und die Dialektik vor <strong>der</strong> Persönlich-<br />

keit. 22<br />

2.1.3 Halbtotale<br />

auch: medium long shot, semi long shot<br />

Zeigt die Totale den gesamten Handlungsraum <strong>der</strong> Szene, löst die Halbtotale den<br />

Menschen aus <strong>der</strong> weiteren Umgebung heraus. Die Halbtotale zeigt den<br />

Menschen in voller Körpergröße in seiner unmittelbaren Umgebung. 23 Der Fokus<br />

liegt sowohl auf <strong>der</strong> Person, als auch auf <strong>der</strong> Umgebung, das Verhältnis ist<br />

ausgeglichen. Gestik, Körperhaltung und Aussehen <strong>der</strong> Person sind erkennbar.<br />

2.1.4 Halbnahe<br />

auch: waist shot, mid shot, full shot<br />

Die Halbnahe bildet eine Person von <strong>der</strong> Hüfte an aufwärts ab und tritt daher<br />

vermehrt bei <strong>der</strong> Abbildung von sitzenden Personen auf. In dieser <strong>Ein</strong>stellungsgröße<br />

wird <strong>der</strong> Zusammenhang von gestischem und mimischem Ausdruck<br />

deutlich. 24 Die Halbnahe ist sehr geeignet, um Beziehungen zwischen Figuren<br />

20 Stichwort: Weite Aufnahme in: Wulff, H.J., Ben<strong>der</strong>, T. (Hrsg.): Lexikon <strong>der</strong> Filmbegriffe.<br />

Online im Internet unter: http://www.ben<strong>der</strong>-verlag.de/lexikon/suche<br />

21 ebd., Stichwort: Totale<br />

22 Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S. 203<br />

23 Stichwort: Halbtotale in: Wulff, H.J., Ben<strong>der</strong>, T. (Hrsg.): Lexikon <strong>der</strong> Filmbegriffe. a.a.O.<br />

24 Stichwort: Halbnahe in: Wulff, H.J., Ben<strong>der</strong>, T. (Hrsg.): Lexikon <strong>der</strong> Filmbegriffe. a.a.O.<br />

15


herauszustellen. Es lassen sich Intimität, Zuneigung o<strong>der</strong> Distanznahme zweier<br />

Figuren ablesen. 25<br />

2.1.5 Amerikanische<br />

auch: medium shot, medium full shot, three quarter shot, mid shot, American shot,<br />

Hollywood Shot<br />

Die Amerikanische bildet eine Person vom Kopf bis zu den Knien ab. Die<br />

Umgebung ist noch wahrnehmbar, die Aufnahme ist jedoch schon stärker auf die<br />

Person fokussiert. 26 Diese <strong>Ein</strong>stellung wurde mit dem Western geboren, bei dem<br />

das wichtigste Utensil des Cowboys, <strong>der</strong> Pistolengurt mit <strong>der</strong> Pistole, unbedingt<br />

mit ins Bild mußte.<br />

2.1.6 Nahaufnahme<br />

auch: close shot, medium shot, medium close shot, medium close-up, mid shot<br />

Die Nahaufnahme ist das Brustbild einer Person. Die Mimik tritt ins Zentrum von<br />

Inszenierung und Aufmerksamkeit, die Hintergrundinformationen sind<br />

verringert. 27 <strong>Ein</strong> Film, <strong>der</strong> hauptsächlich aus Nahaufnahmen besteht, beraubt uns<br />

des umgebenden Raumes und ist daher verwirrend, klaustrophobisch. 28<br />

2.1.7 Großaufnahme<br />

auch: close-up, close shot, big shot, tight shot<br />

Die Großaufnahme ist, bezogen auf die menschliche Gestalt, meist die Aufnahme<br />

des Gesichts. Der Hintergrund fehlt nun weitgehend. Die Aufmerksamkeit wird<br />

auf das Mienenspiel des Darstellers gelenkt, die Aufnahme zeigt die innere<br />

Befindlichkeit einer Person. 29 Die Großaufnahme bietet dem Filmer eine Möglich-<br />

keit, sich auszudrücken. Hier geht es nicht so sehr um die Darstellung des<br />

filmischen Raums, um den Handlungsfluß, son<strong>der</strong>n um die Betonung, um das<br />

Hinweisen auf wichtige Elemente. „Die Großaufnahme im Film ist die Kunst <strong>der</strong><br />

Betonung. Es ist ein stummes Hindeuten auf das Wichtige und Bedeutsame,<br />

womit das dargestellte Leben zugleich interpretiert wird. Zwei Filme mit <strong>der</strong><br />

25<br />

Borstnar, N.; Pabst, E.; Wulff, H. J.: <strong>Ein</strong>führung in die Film- und Fernsehwissenschaft. a.a.O., S.<br />

90ff.<br />

26<br />

Anfang, G., Bloech, M., Hültner, R.: Vom Plot zur Premiere. Gestaltung und Technik <strong>für</strong><br />

Videogruppen. München: KoPäd 1994, S. 15<br />

27<br />

Stichwort: Nahaufnahme in: Wulff, H.J., Ben<strong>der</strong>, T. (Hrsg.): Lexikon <strong>der</strong> Filmbegriffe. a.a.O.<br />

28<br />

Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S. 203<br />

29<br />

Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. Berlin: Volk und Wissen Verlag 1998, S. 14<br />

16


gleichen Handlung, demselben Spiel und denselben Totalen, die aber verschiedene<br />

Großaufnahmen haben, werden zwei verschiedene Lebensanschauungen<br />

ausdrücken.“ 30<br />

Großaufnahmen haben die Funktion, die Aufmerksamkeit des Zuschauers<br />

auf ein handlungsrelevantes Element zu lenken, beispielsweise auf einen<br />

wichtigen Schlüssel o<strong>der</strong> einen Revolver. Neben Großaufnahmen des Gesichts<br />

werden oft Großaufnahmen <strong>der</strong> Hände gefilmt. <strong>Ein</strong> leichtes Zittern, eine geballte<br />

Faust, ein unruhig tippen<strong>der</strong> Zeigefinger kann Auskunft über den Gemütszustand<br />

einer Figur geben. Der Teil spricht <strong>für</strong> das Ganze. „(...) die Lupe des Kinematographs<br />

bringt uns die einzelnen Zellen des Lebensgewebes nahe, läßt uns wie<strong>der</strong><br />

Stoff und Substanz des konkreten Lebens fühlen. Sie zeigt Dir, was deine Hand<br />

macht, die du gar nicht beachtest und merkst, während sie streichelt o<strong>der</strong> schlägt.<br />

Du lebst in ihr und schaust nicht hin. Sie zeigt dir das intime Gesicht all deiner<br />

lebendigen Gebärden, in denen deine Seele erscheint (...)“ 31<br />

Da <strong>der</strong> Kameramann den Blick des Zuschauers festlegt, fühlt sich <strong>der</strong><br />

Zuschauer durch die Großaufnahme in eine intime Nähe zum Akteur gerückt.<br />

„Denn was man wirklich liebt, das kennt man gut und beachtet seine kleinsten<br />

<strong>Ein</strong>zelheiten mit zärtlicher Aufmerksamkeit. (...) Bei Filmen mit vielen guten<br />

Großaufnahmen hat man oft den <strong>Ein</strong>druck, daß es nicht Beobachtungen des guten<br />

Auges, son<strong>der</strong>n des guten Herzens sind.“ 32 Durch die Fokussierung des Gesichts<br />

werden in <strong>der</strong> Mimik mentale Prozesse sichtbar, im <strong>Ein</strong>zelfall kann auf<br />

unbewußte Erlebnisinhalte <strong>der</strong> Figur verwiesen werden. Nicht zuletzt deshalb<br />

bilden Großaufnahmen oftmals den Übergang von einer Außen- zu einer<br />

Innenperspektive einer Figur (Träume, Rückblenden). 33<br />

Problematisch ist es, diese <strong>Ein</strong>stellungsgröße im Dokumentarfilmbereich<br />

zu verwenden, da die Großaufnahme eine intime Beziehung zu den Akteuren<br />

vermittelt, wie <strong>der</strong> Zuschauer sie sonst nur zu Familienangehörigen und engen<br />

Freunden hat. Aus zweierlei Gründen ist Vorsicht geboten: zum <strong>Ein</strong>en kann die<br />

Privatsphäre des gefilmten Menschen verletzt werden und zum An<strong>der</strong>n fühlen<br />

30<br />

Balázs, B.: Der sichtbare Mensch o<strong>der</strong> die Kultur des Films. Frankfurt am Main: Suhrkamp<br />

2001, S. 50 (Erstausgabe 1924)<br />

31<br />

Balázs, B.: Der sichtbare Mensch, a.a.O., S. 49<br />

32<br />

ebd., S. 51<br />

33<br />

Borstnar, N.; Pabst, E.; Wulff, H. J.: <strong>Ein</strong>führung in die Film- und Fernsehwissenschaft. a.a.O., S.<br />

90ff.<br />

17


sich Zuschauer unangenehm berührt, wenn sie Großaufnahmen von Szenen sehen,<br />

bei denen sie sich im täglichen Leben taktvoll abgewendet hätten.<br />

2.1.8 Detailaufnahme<br />

auch: extreme close-up<br />

Die Detailaufnahme zeigt <strong>Ein</strong>zelheiten bildfüllend, z.B. Teile des Gesichts.<br />

Details, wie ein zusammengekniffener Mund, können <strong>für</strong> das Ganze sprechen.<br />

„Augen, Mund und Ohren werden häufig in eigentümlichen Detailaufnahmen<br />

abgebildet, normalerweise, um einen beson<strong>der</strong>en Aspekt <strong>der</strong> Erzählung<br />

hervorzuheben. Zum Beispiel kann auf die <strong>Ein</strong>stellung von einer Frau, die nachts<br />

allein durch eine einsame Straße nach Hause geht, eine Detailaufnahme ihres<br />

Ohres folgen, während man aus <strong>der</strong> Ferne Schritte hört.“ 34 Im Film sind die<br />

Augen wichtig, da sie <strong>der</strong> ausdrucksstärkste Teil des menschlichen Gesichts sind.<br />

Daher liebt <strong>der</strong> Film das Zwinkern, den verstohlenen Blick und das zornige<br />

Funkeln. <strong>Ein</strong> Blick kann mitteilen, dass ein Objekt außerhalb des Bildes Aufmerksamkeit<br />

erregt hat und die Blicklinie einer Person ermöglicht räumliche<br />

Orientierung. Im Italo-Western dienten Detailaufnahmen <strong>der</strong> Augenpartien dazu,<br />

Nichtgeschehen und Langeweile, ebenso wie Furcht und großes Erschrecken zu<br />

kennzeichnen. Die Detailaufnahme eines sprechenden Mundes kann Denunziation<br />

bedeuten. Detailaufnahmen sind immer signifikant und heben das wesentliche<br />

Detail einer Handlung hervor, sie intensivieren die Handlungsdarstellung,<br />

durchsetzen sie mit Bil<strong>der</strong>n, in denen <strong>der</strong> Zeigegestus des Films deutlich<br />

ausgeprägt ist.<br />

3. Perspektive<br />

<strong>Ein</strong>stellungsgröße und Kameraperspektive bilden eine untrennbare <strong>Ein</strong>heit.<br />

Während die <strong>Ein</strong>stellungsgröße festlegt, was die Zuschauer zu sehen bekommen,<br />

bestimmt die Perspektive, wie sie es zu sehen bekommen. Die Kamera kann auf<br />

<strong>der</strong> horizontalen und auf <strong>der</strong> vertikalen Ebene unterschiedliche Positionen<br />

einnehmen. Auf <strong>der</strong> horizontalen Achse unterscheidet man die Frontalansicht und<br />

die verschobene Frontalansicht. Wird die Kamera auf <strong>der</strong> horizontalen Achse<br />

verschoben, kann sie entwe<strong>der</strong> schrägsichtig das Objekt in die Bildmitte setzen<br />

34 Katz, S. D.: Shot by Shot. Die richtige <strong>Ein</strong>stellung. Zur Bildsprache des Films. Das <strong>Handbuch</strong><br />

von Steven D. Katz. 4. Aufl., Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2002, S. 176<br />

18


o<strong>der</strong> die frontale Sicht beibehalten, wodurch das Objekt an den rechten o<strong>der</strong><br />

linken Bildrand rückt.<br />

Mit <strong>der</strong> Verschiebung <strong>der</strong> Kamera auf <strong>der</strong> vertikalen Achse kann man<br />

unterschiedliche Akzente setzen. Allein durch die Höhe <strong>der</strong> Kamera ist es<br />

möglich, Spannung zu erzeugen. Man kann nur die Füße einer Person zeigen und<br />

so die Neugier des Publikums wecken, das sich fragt, wem die Füße wohl<br />

gehören, o<strong>der</strong> die Kamera in Höhe <strong>der</strong> Hand positionieren, die gerade nach <strong>der</strong><br />

Waffe greift.<br />

<strong>Ein</strong>stellungsgröße und Perspektive legen den Blick des Publikums fest und<br />

stellen somit die unmittelbarste psychische und physische Verbindung zwischen<br />

den dargestellten Personen und Objekten und dem Publikum her. 35 Man unterscheidet<br />

Normalsicht, Aufsicht und Untersicht. In Comics wird die Perspektive oft<br />

übertrieben, dort kann man etwas über dramatische Blickwinkel lernen.<br />

3.1 Normalsicht<br />

Bei dieser Perspektive fängt die Kamera die Welt aus Augenhöhe <strong>der</strong> Protagonis-<br />

ten ein. Die Normalsicht ist eine unspektakuläre Perspektive, da wir alle die Welt<br />

Tag <strong>für</strong> Tag aus diesem Blickwinkel wahrnehmen. Interessant wird die Normal-<br />

sicht, wenn die Protagonisten Kin<strong>der</strong> sind. Die Kamera wird dann auf circa 1m<br />

Höhe, <strong>der</strong> Augenhöhe eines Kindes, eingestellt. Man sieht auf diese Weise nicht,<br />

wie im täglichen Leben, auf die Kin<strong>der</strong> herab, son<strong>der</strong>n hat sie als gleichberechtigtes<br />

Gegenüber vor Augen.<br />

3.2 Untersicht<br />

Als Untersicht bezeichnet man alle Aufnahmen, in denen die Kamera deutlich<br />

tiefer als die Blickhöhe <strong>der</strong> Protagonisten postiert ist und in vertikaler Richtung zu<br />

ihnen aufschaut, bis hin zur Froschperspektive. Die extremste Ausprägung ist die<br />

Untersicht, die die Akteure durch gläserne Fußböden filmt. Die Untersicht wird<br />

meist benutzt, um den Dargestellten zu erhöhen o<strong>der</strong>, um eine bedrohliche<br />

Atmosphäre zu kreieren. Jedoch kommt ihr, abhängig vom filmischen Kontext,<br />

eine an<strong>der</strong>e Wirkung zu. „Die Untersicht kann die abgebildete Person heroischüberlegen<br />

wirken lassen wie bei <strong>der</strong> Hitlerdarstellung in den Filmen von Leni<br />

Riefenstahl, ebenso kann sie einen lächerlichen Effekt haben wie Chaplins<br />

35 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 19<br />

19


Hitlerdarstellung in DER GROSSE DIKTATOR (1942).“ 36 Im russischen<br />

Revolutionsfilm wurde eine dominierende, herrschende Person meist aus <strong>der</strong><br />

Perspektive <strong>der</strong> Untersicht gezeigt. Diese, auf hierarchische Strukturen festgelegte<br />

Bedeutung, ist jedoch abhängig vom Kulturkreis. Die beinahe ausschließlich aus<br />

Untersicht aufgenommenen Filme Yazujiro Ozus lassen sich jedenfalls auf diese<br />

Interpretation nicht einengen. Der japanische Filmemacher filmt lediglich aus<br />

Augenhöhe eines japanischen Betrachters, <strong>der</strong> auf einer Tatami-Matte sitzt. 37<br />

3.3 Aufsicht<br />

Die Aufsicht nimmt Personen und Objekte aus einer erhöhten Perspektive auf, bis<br />

hin zur Vogelperspektive, die das Geschehen vertikal von oben filmt. Die<br />

extremste Ausprägung ist <strong>der</strong> top shot, <strong>der</strong> die Szene aus einer 90-Grad-Aufsicht<br />

registriert. Durch Aufsichten wirkt das Geschehen oft überschaubar. Durch<br />

extreme Aufsichten werden auch bedrohliche Blicke nach unten von Klippen o<strong>der</strong><br />

Hochhäusern dargestellt. Außerdem läßt sich darstellen, daß jemand in <strong>der</strong><br />

Hierarchie weiter unten steht o<strong>der</strong> klein und hilflos ist. Aufsichten sind, da sie <strong>der</strong><br />

gewöhnlichen menschlichen Wahrnehmung fremd sind, beson<strong>der</strong>s auffallende<br />

<strong>Ein</strong>stellungen, die oft einen verstörenden Effekt haben.<br />

3.4 Schrägsicht<br />

auch: Verkantung, gekippte Kamera, gekippter Horizont, Dutch angle, Kipper<br />

Die Schrägsicht ist eine seltener eingesetzte Perspektive. Die Kamera wird nach<br />

links o<strong>der</strong> rechts gekippt, so daß <strong>der</strong> Horizont schräg erscheint. Die Bil<strong>der</strong><br />

strahlen eine innere Unruhe aus. Spannung, Verwirrung und Gleichgewichtsverlust<br />

<strong>der</strong> Figuren o<strong>der</strong> <strong>der</strong> erzählten Welt kommen so zum Ausdruck. In <strong>der</strong><br />

subjektiven Kamera gibt die Schrägsicht Hinweise auf das Befinden des<br />

Blickenden, auch Rauschzustände werden gelegentlich so beschrieben. Am<br />

stärksten wirkt die Schrägsicht, wenn es eine markante Horizontale o<strong>der</strong> Vertikale<br />

gibt, die diese ungewöhnliche Kamerastellung noch betont. Es entsteht ein irrealer<br />

<strong>Ein</strong>druck. Dieses Stilmittel wird vielfach in Carol Reeds DER DRITTE MANN (1947)<br />

benutzt, um eine Welt darzustellen, die moralisch und sozial instabil ist. 38<br />

36 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 19<br />

37 Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S. 205<br />

38 Stichwort: Verkantung in: Wulff, H.J., Ben<strong>der</strong>, T. (Hrsg.): Lexikon <strong>der</strong> Filmbegriffe. a.a.O.<br />

20


4. Kamerabewegung<br />

<strong>Ein</strong>e Kamerabewegung ist jede Verän<strong>der</strong>ung des Standpunktes <strong>der</strong> Kamera im<br />

Raum o<strong>der</strong> ihre Drehung um die eigene Achse sowie jede Kombination davon.<br />

Die Kamerabewegung reagiert z.B. auf Bewegungen des Beobachtungsobjektes,<br />

das aus den Bildbegrenzungen zu treten droht. Sowohl die Begleitung von<br />

Figurenbewegungen als auch die autonome Beschreibung eines Schauplatzes<br />

können mit ihr realisiert werden. Doch auch eine selbständige, an<strong>der</strong>s nicht<br />

durchführbare Erzählung kann in einer Kamerafahrt beschlossen liegen. 39<br />

Man unterscheidet zwischen Kamerabewegungen bei stationärer Kamera, bei<br />

denen nur <strong>der</strong> Stativkopf bewegt wird und Bewegungen, bei denen die ganze<br />

Kamera im Raum bewegt wird, also zwischen Schwenks und Fahrten. Beide<br />

Bewegungsgruppen erweitern den Bildraum, verschaffen Überblick und<br />

verstärken das Gefühl von Räumlichkeit. 40 Oftmals dienen sie dazu, Objekte o<strong>der</strong><br />

Personen zu begleiten. Schwenks und Fahrten kommen auch in kombinierter<br />

Form vor.<br />

Für das Tempo <strong>der</strong> Kamerabewegungen gilt: Langsame Fahrten und<br />

Schwenks schaffen eine ruhige Atmosphäre, informieren, identifizieren,<br />

charakterisieren. Schnelle Bewegungen dynamisieren die Erzählung, erzeugen<br />

Spannung und verweigern den analytischen Blick. Neben diesen deutlich<br />

markierten Bewegungen kommen im Film häufig minimale Kamerabewegungen<br />

vor, die kaum wahrnehmbar sind und dazu dienen, das Objekt im Mittelpunkt zu<br />

halten.<br />

Kamerabewegungen tragen entscheidend zur Rhythmisierung eines Films<br />

bei. <strong>Ein</strong> Extrem wäre die absolut statische Kamera, die auf einer festen Position<br />

verbleibt und keinerlei Schwenks vollführt. Das an<strong>der</strong>e Extrem wäre ein in<br />

Handkameraoptik realisierter Film, <strong>der</strong> seine Figuren auf Schritt und Tritt verfolgt<br />

und sich durch eine größtmögliche Dynamisierung <strong>der</strong> Bewegungsführung<br />

auszeichnet. Letzteres wi<strong>der</strong>spricht sowohl den Konventionen filmischen<br />

Erzählens als auch unserer Alltagswahrnehmung, die beständig kognitive<br />

39 Rother, R.(Hrsg.): Sachlexikon Film. a.a.O., S. 167<br />

40 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 23<br />

21


„Ausgleichsschwenks“ im Gehirn vollzieht und uns ein vergleichsweise ruhiges<br />

Bild unseres Umgebungsraumes auf unserer inneren Landkarte liefert. 41<br />

4.1 Kameraschwenk<br />

Der Schwenk erweitert das Blickfeld seitlich, nämlich durch Überführung des Off<br />

mindestens an einer Begrenzung <strong>der</strong> Kadrage in das On, bei entsprechendem<br />

Verlust an abgebildeter Szenerie an <strong>der</strong> gegenüberliegenden Bildgrenze. 42 Die<br />

Kamera bewegt sich bei unverän<strong>der</strong>tem Standpunkt um eine Achse. Man kann<br />

horizontal, vertikal und diagonal schwenken. Der Schwenk verschiebt den<br />

Ausschnitt des Gezeigten und erweitert damit den Bildraum um das bis dahin<br />

Nicht-Gezeigte.<br />

Der Schwenk kann, wie die Fahrt, durch Figurenbewegungen motiviert<br />

sein und ihnen folgen; er wird dabei aber nicht den gleichen Abstand zur Figur<br />

wahren können, son<strong>der</strong>n aus zunehmen<strong>der</strong> Distanz bzw. Nähe die Figur<br />

verfolgen, da er eine Kreisbewegung um den Standort <strong>der</strong> Apparatur vollzieht. 43<br />

Man spricht hier von einem begleitenden Schwenk. Gebräuchlich ist auch <strong>der</strong><br />

Schwenk, <strong>der</strong> einem Blick aus dem Bild hinaus folgt, bis er beim angesehenen<br />

Objekt landet.<br />

Eher deskriptive Schwenks sind unabhängig von Figuren- und Objektbewegungen.<br />

Sie können, als vollständiger 360°-Schwenk, einen Schauplatz<br />

unabhängig von narrativen Zwängen, gleichsam als Bestandsaufnahme vorstellen<br />

und als Ortsbeschreibung dienen. 44 Man nennt diese Schwenks auch panoramierende<br />

Schwenks.<br />

Bei Kameraschwenks verläßt die Kamera ihren Standpunkt nicht und<br />

schwenkt in horizontaler, vertikaler, selten auch diagonaler Richtung. Sie öffnet<br />

also den filmischen Raum in eine Richtung, um entwe<strong>der</strong> Figuren o<strong>der</strong> Objekte zu<br />

verfolgen o<strong>der</strong> abzutasten, o<strong>der</strong> die Umgebung zu zeigen.<br />

Die Schwenkgeschwindigkeit beeinflußt den Informationstransfer. Je<br />

schneller <strong>der</strong> Schwenk, desto weniger Details werden wahrgenommen. Die<br />

schnellste Art des Schwenkens nennt man Reißschwenk, wobei so schnell von<br />

einem Bildobjekt zum an<strong>der</strong>en geschwenkt wird, daß <strong>der</strong> Raum zwischen<br />

41<br />

Borstnar, N.; Pabst, E.; Wulff, H. J.: <strong>Ein</strong>führung in die Film- und Fernsehwissenschaft. a.a.O., S.<br />

97<br />

42<br />

Rother, R. (Hrsg.): Sachlexikon Film. a.a.O., S. 263<br />

43<br />

ebd., S.263<br />

44<br />

ebd., S. 263<br />

22


Anfangs- und Zielbild vollkommen verwischt ist. Plötzliche Aufmerksamkeitsverlagerungen,<br />

aber auch die Simultanität <strong>der</strong> beiden Teilbild-Geschehnisse<br />

können auf diese Art ausgedrückt werden. Der Reißschwenk imitiert die<br />

natürliche Augenreaktion. Der Mensch nimmt punktuell wahr und tastet nicht<br />

permanent den ganzen Raum ab. So auch <strong>der</strong> Reißschwenk. Die Kamera wird<br />

ruckartig geschwenkt, um einen an<strong>der</strong>en Punkt zu zeigen. Es werden nur<br />

Anfangs- und Endpunkt wahrgenommen, <strong>der</strong> Raum dazwischen verschwimmt.<br />

4.1.1 Horizontalschwenk<br />

Horizontalschwenks werden benutzt, um Landschaften zu beschreiben, die vom<br />

Bildausschnitt <strong>der</strong> Kamera gar nicht an<strong>der</strong>s erfaßt werden können (Panoramaschwenks).<br />

Man kann mit ihrer Hilfe Personen o<strong>der</strong> Objekte verfolgen<br />

(Verfolgungsschwenks). In Innenräumen dienen sie zur Erfassung <strong>der</strong> Requisite<br />

und <strong>der</strong> Personen in ihrer räumlichen Beziehung zueinan<strong>der</strong>. In Kombination mit<br />

Neigebewegungen können kurze Schwenks den <strong>Ein</strong>druck des Abtastens o<strong>der</strong><br />

Suchens vermitteln. Wenn jemand den Raum betritt, können wir diesen in <strong>der</strong><br />

Subjektiven „mit seinen Augen“ erkunden. Diese, <strong>der</strong> Orientierung und<br />

Information dienenden Horizontalschwenks, bewegen sich im Normalfall im vor<br />

dem Publikum befindlichen Bildraum, überschreiten also nicht die 180°-Grenze.<br />

<strong>Ein</strong> 360°-Rundumschwenk kann das Glücksgefühl eines Darstellers beschreiben,<br />

<strong>der</strong> sich um die eigene Achse dreht, ebenfalls in <strong>der</strong> Subjektiven. 45<br />

4.1.2 Vertikalschwenk<br />

Vertikalschwenks werden beispielsweise eingesetzt, um Objekte von großer<br />

Höhe, wie Kathedralen o<strong>der</strong> Hochhäuser aufzunehmen. Außerdem ist es möglich,<br />

auf diese Art eine Person mit <strong>der</strong> Kamera abzutasten. Es baut eine Spannung auf,<br />

wenn <strong>der</strong> Schwenk bei den Stiefeln beginnt. Man fragt sich, welches Gesicht wohl<br />

dazugehört und wird <strong>für</strong> die Dauer des Schwenks in Spannung versetzt.<br />

4.2 Schwanken<br />

auch: schwanken<strong>der</strong> Horizont<br />

Beim Schwanken wird die Kamera von rechts nach links und zurück gekantet, so<br />

daß ein desorientieren<strong>der</strong> <strong>Ein</strong>druck entsteht. Auch vertikales Schwanken ist<br />

45 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S.24<br />

23


möglich. Schwanken drückt in <strong>der</strong> subjektiven Kamera rauschhafte und<br />

halluzinatorische Zustände einer Figur aus, kann aber auch das Schwanken von<br />

Objekten darstellen, wie z.B. ein Boot auf hoher See.<br />

In Bernd Eichingers DER GROSSE BAGAROZY (2000) findet man<br />

Dialogeinstellungen, die von links-verkantet nach rechts-verkantet langsam gerollt<br />

werden, was zur Irrealisierung <strong>der</strong> Gesprächsszenen und zur Visualisierung von<br />

Macht und Ohnmacht dient. 46 Oliver Stone arbeitet in NATURAL BORN KILLERS<br />

(1994) mit dem schwankenden Horizont, um die Welt des Serienkillerpärchens<br />

Mickey und Mallory darzustellen, die total aus den Fugen geraten ist.<br />

4.3 Rollen<br />

auch: Rotieren, Rotation<br />

Die Rotation um die Achse zwischen Kamera und Aufnahmegegenstand nennt<br />

man Rollen. 47 Die Kamera wird nur selten um diese Achse gedreht, vielleicht weil<br />

das Rollen die Stabilität des Horizonts zerstört. Es stellt <strong>für</strong> den Menschen eine<br />

unnatürliche Bewegung dar; wir können unsere Köpfe neigen o<strong>der</strong> zur Seite<br />

kippen, aber nicht rollen.<br />

Man könnte so die Bewegung des Horizonts nachahmen, wie sie sich von<br />

einem Schiff auf schwerer See darstellt. Während Schwenken o<strong>der</strong> Neigen<br />

bedeutet, das Bild zu wechseln, wird beim Rollen nur das ursprüngliche Bild<br />

verän<strong>der</strong>t.<br />

Man sieht die Welt erst normal, dann kippt sie seitwärts, um anschließend<br />

auf dem Kopf zu stehen. In <strong>der</strong> Subjektiven kann so beispielsweise dargestellt<br />

werden, wie jemand den Berg hinunterrollt. In Volker Schlöndorffs DIE<br />

BLECHTROMMEL (1979) kippt die Kamera bei <strong>der</strong> Geburt Oskars und nach dem<br />

Tod seines Vaters zur Seite.<br />

4.4 Kamerafahrt<br />

Kamerafahrten sind Bewegungen <strong>der</strong> Kamera, die mit Dollys, Rollspinnen,<br />

Kränen, Hubschraubern o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Steadicam gemacht werden. Die Steadicam ist<br />

eine gefe<strong>der</strong>te Tragekonstruktion, die dem Kameramann verwacklungsfreie Bil<strong>der</strong><br />

bei Bewegungen durch den Raum ermöglicht. Kamerafahrten werden aus Zügen,<br />

46<br />

Stichwort: Schwanken in: Wulff, H.J., Ben<strong>der</strong>, T. (Hrsg.): Lexikon <strong>der</strong> Filmbegriffe. a.a.O.<br />

47<br />

ebd., Stichwort: Rollen<br />

24


Autos, beim Skifahren o<strong>der</strong> Fallschirmspringen gemacht. Der Kreativität sind hier<br />

keine Grenzen gesetzt. Die Computertechnik erlaubt inzwischen auch<br />

spektakuläre virtuelle Fahrten.<br />

Man unterscheidet die Hinfahrt (Bewegung auf das abgebildete Objekt zu),<br />

die Rückfahrt (Bewegung vom Objekt weg), die seitliche Fahrt und eine freie,<br />

nicht an eine einzige Richtung gekoppelte Bewegung. In <strong>der</strong> Fahrtaufnahme<br />

verän<strong>der</strong>t die Kamera ihren Standpunkt im Raum, im Gegensatz zum Schwenk.<br />

Die Fahrt kann <strong>der</strong> Bewegung einer Figur o<strong>der</strong> eines Objektes folgen, sich einem<br />

Blick aus dem Bildraum heraus entsprechend auf das Angeschaute hinbewegen,<br />

den subjektiven Blick einer sich bewegenden Figur wie<strong>der</strong>geben o<strong>der</strong> eine von<br />

solchen Verbindungen an die Figuren gänzlich freie Bewegung darstellen.<br />

Je weniger die Fahrt durch eine Figurenbewegung veranlaßt ist, desto eher<br />

wird sie als Element <strong>der</strong> filmischen Ausdrucksweise empfunden. <strong>Ein</strong>e fast<br />

zehnminütige Fahrt hält in Jean-Luc Godards WEEKEND (1967) die parodistische<br />

Version eines Wochenendstaus fest. 48<br />

In Hitchcocks BERÜCHTIGT (1946) startet eine Kamerafahrt über einem<br />

Kronleuchter, wo sie den ganzen Salon überschaut, in dem ein großer Empfang<br />

stattfindet, und endet auf dem Türschlüssel in Ingrid Bergmanns Hand. Hitchcock:<br />

„Das ist die Sprache <strong>der</strong> Kamera, die an Stelle des Dialogs tritt. In NOTORIOUS (so<br />

<strong>der</strong> Originaltitel, Anm. d. Verf.) sagt diese lange Kamerabewegung genau dies: In<br />

diesem Haus findet ein großer Empfang statt, aber dabei vollzieht sich ein Drama,<br />

und niemand weiß es, und dieses Drama steht im Zusammenhang mit einer<br />

einzigen Sache, einem winzigen Gegenstand, diesem Schlüssel.“ 49 Mit dieser<br />

Beschreibung gelingt es Hitchcock, den Charakter einer Kamerafahrt darzustellen:<br />

atemlos, spannungsgeladen.<br />

Monaco bezeichnet Kamerafahrten gar als filmische Äquivalente zum<br />

Liebesakt, da <strong>der</strong> Filmemacher zunächst wirbt und sich dann mit seinem Motiv<br />

vereinigt. Murnau und Ophüls gelten als bedeutende Gestalten in <strong>der</strong> Geschichte<br />

<strong>der</strong> beweglichen Kamera. „Sie benutzten sie <strong>für</strong> zutiefst humanistische Ziele, um<br />

ihre Gegenstände lyrisch zu feiern und um ihr Publikum tiefer mit einzubezie-<br />

hen.“ 50<br />

48 Rother, R.(Hrsg.): Sachlexikon Film. a.a.O., S. 94<br />

49 Hitchcock in: Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 105<br />

50 Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S. 208<br />

25


4.4.1 Parallelfahrt<br />

<strong>Ein</strong>e Fahrt auf <strong>der</strong> horizontalen Achse nennt sich Parallelfahrt. Sie eignet sich, um<br />

Personen zu begleiten o<strong>der</strong> Landschaftsansichten zu liefern. Aus dem Auto erhält<br />

man mit gekippter Kamera wun<strong>der</strong>schöne Aufnahmen des vorbeirasenden Bodens<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Baumwipfel.<br />

4.4.2 Kranfahrt<br />

<strong>Ein</strong>e Fahrt auf <strong>der</strong> vertikalen Achse nennt sich Kranfahrt, da sie mit Hilfe eines<br />

Kamerakrans realisiert wird. Im Amateurbereich ist sie kaum realisierbar. <strong>Ein</strong>e<br />

Möglichkeit ist, aus gläsernen Fahrstühlen zu filmen.<br />

<strong>Ein</strong>e Kranfahrt erschließt neue Bildräume, wenn sie beispielsweise über<br />

dem Dach eines Hauses endet und so den Blick auf die Umgebung hinter dem<br />

Haus freigibt. Sie kann ebenfalls Personen erfassen, die sich auf <strong>der</strong> vertikalen<br />

Achse bewegen, also beispielsweise klettern o<strong>der</strong> fallen. Die Kranfahrt kann einen<br />

sogenannten „Fahrstuhleffekt“ erzeugen, ein Gefühl, den Boden unter den Füßen<br />

zu verlieren.<br />

Kranfahrten sind sehr reizvoll, da es eine ungewohnte Erfahrung ist, sich<br />

auf <strong>der</strong> vertikalen Raumachse zu bewegen. Kranfahrten haben etwas Grandioses<br />

und steigern die Dramatik. Zeigt die Kamera ein sich entfernendes Objekt und<br />

fährt dabei nach oben, gibt das einen eindringlichen Effekt. Zu sehen ist das in<br />

Luc Bessons LÉON - DER PROFI (1994), wenn Matilda sich von <strong>der</strong> Schießerei<br />

entfernt. Auch <strong>der</strong> entgegengesetzte Effekt wird gern angewandt. <strong>Ein</strong> Objekt<br />

nähert sich in Richtung Kamera, die Kamera ist erst weit oben und senkt sich<br />

während <strong>der</strong> Annäherung langsam ab. 51<br />

4.4.3 Hinfahrt<br />

Die Hinfahrt, auch Ranfahrt genannt, ist die Bewegung auf <strong>der</strong> Raumachse hin zu<br />

einem Objekt/einer Person. Sie hat einen einführenden Charakter und verengt den<br />

filmischen Raum. Im Extrem kann die Hinfahrt eine deduktive Bewegung von<br />

einer Totalen auf eine Detailaufnahme sein. Auf die Art können wichtige<br />

Informationen über die Raumkonstellation geliefert werden. Die Hinfahrt sollte<br />

mit einem bedeutenden Detail enden. Durch eine langsame Hinfahrt auf eine<br />

Person wird <strong>der</strong> Gefühlszustand einer Person wie durch ein Vergrößerungsglas<br />

51 Vineyard, J.: Crashkurs Filmauflösung. Kameratechniken und die Bildsprache des Kinos. 2.<br />

Aufl., Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2001, S. 24<br />

26


etrachtet. In Francis Ford Coppolas DER PATE - TEIL II (1974) fährt die Kamera<br />

am Ende auf einen nachdenklichen Michael Corleone zu und erzielt eine starke<br />

Wirkung. 52<br />

Folgt die Kamera einer sich entfernenden Person, die sich schneller als die<br />

Kamera bewegt, dem Betrachter also gleichsam entgleitet, gibt das <strong>der</strong> Szene<br />

etwas Endgültiges. Diese Technik nennt sich „gedehnte Fahrt“.<br />

Bei <strong>der</strong> „gestauchten Fahrt“ hingegen fährt die Kamera vor, während ihr jemand<br />

entgegenkommt. Durch die Kombination zweier entgegengesetzter Bewegungen<br />

gewinnt die Vorwärtsbewegung <strong>der</strong> Person an Intensität und erhält einen<br />

dramatischen Unterton. 53<br />

4.4.4 Rückfahrt<br />

Die Rückfahrt, auch Wegfahrt genannt, ist die Bewegung auf <strong>der</strong> Raumachse weg<br />

von einem Objekt/einer Person. Details treten in den Hintergrund, <strong>der</strong> filmische<br />

Raum wird geöffnet. Wichtig ist das, was während <strong>der</strong> Rückwärtsbewegung ins<br />

Blickfeld gerät. „<strong>Ein</strong>e Bewegung, die eine Person bei Feierlichkeiten im Kreis<br />

von Freunden zeigt, kann beispielsweise Geborgenheit signalisieren. <strong>Ein</strong>e<br />

Bewegung, die eine Figur in einer menschenleeren Szenerie zeigt, lässt eher das<br />

Gefühl <strong>der</strong> Isolation und Verlassenheit aufkommen.“<br />

Die Kamerarückfahrt löst den Zuschauer los von den Gefühlen, die er<br />

gerade noch hatte, als er mitten in <strong>der</strong> Situation war, er „gewinnt langsam<br />

Abstand“. So eine Kamerarückfahrt kann aber auch eingesetzt werden, um das<br />

Anfangsbild zu erklären, indem nach und nach mehr von <strong>der</strong> Umgebung gezeigt<br />

wird.<br />

4.4.5 Kreisfahrt<br />

Die Kreisfahrt, auch Umfahrt genannt, fährt um Objekte o<strong>der</strong> Personen herum, so<br />

daß sie von allen Seiten betrachtet werden. Sie bringt Bewegung und Kraft in eine<br />

Szene. Sie setzt Personen und Objekte in physische und psychische Beziehung<br />

zueinan<strong>der</strong> und wird als ästhetisches Ausdrucksmittel <strong>für</strong> persönliche<br />

Beziehungen benutzt. Fährt die Kamera um eine Gruppe herum, hebt sie den<br />

beson<strong>der</strong>en Zusammenhalt <strong>der</strong> Gruppe hervor.<br />

52 ebd., S. 36<br />

53 ebd., S. 47ff.<br />

27


4.4.6 <strong>Ein</strong>e Scheinfahrt: <strong>der</strong> Zoom<br />

<strong>Ein</strong> Zoom imitiert eine Hin- o<strong>der</strong> Rückfahrt. Durch ranzoomen läßt sich im<br />

Extrem eine scheinbare Hinfahrt von einer Totalen zu einer Detailaufnahme<br />

erzeugen, durch wegzoomen entsprechend eine scheinbare Rückfahrt von einer<br />

Detailaufnahme zu einer Totalen.<br />

Durch die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Brennweite lassen sich vom gleichen<br />

Standpunkt aus alle Möglichkeiten <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>stellung zwischen Weitwinkel- und<br />

Teleobjektiv realisieren und unterschiedliche <strong>Ein</strong>stellungsgrößen desselben<br />

Objekts erzeugen. Bei einer Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Brennweite während <strong>der</strong> Aufnahme<br />

läßt sich ein Effekt ähnlich einer Annäherung an das Objekt o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Entfernung<br />

von ihm erreichen.<br />

Der Zoom besitzt jedoch an<strong>der</strong>e Charakteristika als die Fahrt; bei ihr<br />

verän<strong>der</strong>t die Kamera den Standpunkt im Raum bei gleichbleiben<strong>der</strong> Brennweite.<br />

Die Sicht auf die Gegenstände än<strong>der</strong>t sich fortwährend und bisher verdeckte<br />

Objekte werden sichtbar, an<strong>der</strong>e hingegen abgedeckt. Beim Zoom än<strong>der</strong>t sich <strong>der</strong><br />

Kamerastandpunkt im Raum nicht, wohl aber die Größe <strong>der</strong> Gegenstände. Die<br />

relative Größe <strong>der</strong> abgebildeten Objekte zueinan<strong>der</strong> bleibt gleich. Bei <strong>der</strong> Fahrt<br />

hingegen än<strong>der</strong>t sie sich permanent, weil nähere Objekte bei ihr schneller in <strong>der</strong><br />

Größe zunehmen als weiter entfernt liegende. Daher bewirkt das Ranzoomen eine<br />

Verengung des Ausschnitts und wirkt wie eine Vergrößerung des Objektes. Der<br />

umgekehrte Zoom bewirkt eine Vergrößerung des Ausschnitts und wirkt wie eine<br />

Verkleinerung des Objektes. 54<br />

Da die Beziehungen zwischen Objekten auf verschiedenen Ebenen des<br />

Bildes die gleichen bleiben, hat man nicht das Gefühl, in die Szene einzutreten.<br />

Bei <strong>der</strong> Fahrt bewegen wir uns jedoch physisch in die Szene hinein. Der Zoom<br />

schafft eine merkwürdige Distanz: wir begeben uns in größere Nähe, ohne<br />

wirklich näher zu kommen. Das verwirrt, da wir im wirklichen Leben keine<br />

solche Erfahrung haben.<br />

Im Gegensatz zum kosten- und arbeitsintensiven Schienenverlegen<br />

erfor<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Zoom nur die Bewegung des Zeigefingers. Daher wurde er in den<br />

siebziger Jahren auch häufig als Ersatz <strong>für</strong> Kamerafahrten verwendet, was jedoch<br />

bald auf Kritik stieß. Störend am Zoom war <strong>der</strong> unwirkliche visuelle <strong>Ein</strong>druck<br />

und seine Aufdringlichkeit. Er galt als „nicht künstlerisch“ und verschwand bald<br />

54 Rother, R.(Hrsg.): Sachlexikon Film. a.a.O., S. 331<br />

28


wie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Spielfilmästhetik. Im Dokumentarfilm und in <strong>der</strong> aktuellen<br />

Fernsehberichterstattung ist er ein übliches stilistisches Mittel. 55 Wenn überhaupt,<br />

sollte man den Zoom sparsam einsetzen, angebracht ist er z. B. als „Fingerzeig“.<br />

Um die Aufmerksamkeit auf ein Objekt zu lenken, würde man einen schnellen<br />

Zoom, eine sogenannte Schußfahrt benutzen.<br />

Als Vertigo-Effekt ist eine Kamerafahrt zurück, kombiniert mit einem<br />

Zoom nach vorn, in die Filmsprache eingegangen. Der Erfin<strong>der</strong> dieses Effekts ist<br />

Alfred Hitchcock. In seinem Film VERTIGO - AUS DEM REICH DER TOTEN (1958)<br />

wird so James Stewarts Höhenangst visualisiert. Das Wort „Vertigo“ kommt aus<br />

dem Lateinischen und bedeutet „Schwindel“. Mit solch einem Strudeleffekt lassen<br />

sich Schwindel, nahende Ohnmacht, Verwirrung, Extase, Langeweile o<strong>der</strong><br />

Überraschung darstellen.<br />

5. Bildkomposition<br />

Das Bild wird durch seinen Rahmen bestimmt. Der Rahmen isoliert das<br />

Abgebildete von den visuellen Erscheinungen <strong>der</strong> Wirklichkeit. Die Bildhaftigkeit<br />

des Gezeigten wird durch die Bildgrenze und durch die Bildfläche bestimmt. 56<br />

Die Bildgrenze lenkt und haftet das Auge auf das Bild. Durch den Rahmen wird<br />

das in ihm Gezeigte als etwas Zusammengehörendes erklärt. Was in <strong>der</strong> Realität<br />

als zufällig und ungeordnet erscheint, erhält durch den Rahmen eine innere<br />

Ordnung und erklärt das Gezeigte zu einer eigenen Welt. An<strong>der</strong>e Dinge werden<br />

ausgegrenzt. Diese Bestimmung des Rahmens des Bildes, also die <strong>Ein</strong>richtung <strong>der</strong><br />

<strong>Ein</strong>stellung, wird als Kadrage bezeichnet. Die in sich geschlossene Welt, in <strong>der</strong><br />

sich alles aufeinan<strong>der</strong> bezieht, findet durch die Bildgrenzen ihr Ende und wird<br />

durch sie definiert. Wenn die Kamera bewegt wird, wird ein umfassen<strong>der</strong>es<br />

Ensemble sichtbar gemacht. Daher ist das, was außerhalb des Bildrahmens bleibt,<br />

immer ein potentieller Teil des im Filmbild gezeigten. 57 Die Komposition <strong>der</strong><br />

offenen Form betont diesen Aspekt stärker als die <strong>der</strong> geschlossenen Form.<br />

Entscheidend <strong>für</strong> die Komposition des Filmbildes ist die Tatsache, daß aus<br />

<strong>der</strong> dreidimensionalen Wirklichkeit ein zweidimensionales Filmbild erschaffen<br />

wird. Möglichkeiten <strong>der</strong> Komposition ergeben sich in <strong>der</strong> dreidimensionalen<br />

Ausgangssituation, durch die Plazierung <strong>der</strong> Personen und Objekte und <strong>der</strong>en<br />

55<br />

Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 29<br />

56<br />

Hickethier, K.: Film- und Fernsehanalyse. 3., überarb. Aufl., Stuttgart, Weimar: Metzler 2001,<br />

S. 47<br />

57<br />

ebd., S. 50<br />

29


Bewegung vor <strong>der</strong> Kamera, die Auswahl <strong>der</strong> Farben, die Art <strong>der</strong> Beleuchtung.<br />

Beim <strong>Ein</strong>richten <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>stellung komponiert man Vor<strong>der</strong>grund und Hintergrund,<br />

Größenverhältnisse und Relationen im Filmbild, Schärfe und Unschärfe, sowie<br />

Kamerabewegungen.<br />

An<strong>der</strong>s als im Theater, wo <strong>der</strong> Zuschauer seinen Blick schweifen lassen<br />

kann, setzt <strong>der</strong> Filmemacher den Zuschauer den Ausschnitten des Geschehens aus,<br />

die er ausgewählt hat. Die Auswahl erfolgt aus einem potentiell unbegrenzten<br />

Handlungsraum, jede <strong>Ein</strong>stellung hätte auch aus unzähligen an<strong>der</strong>en Perspektiven<br />

und Darstellungsmodi gezeigt werden können. Daher sollte man die Bil<strong>der</strong> mit<br />

dem Wissen komponieren, daß alle oben aufgezählten Elemente eines Filmbildes<br />

dessen Bedeutung verän<strong>der</strong>n können. Der Zuschauer sucht nach Bedeutungszusammenhängen<br />

und interpretiert das, was er im Film sieht. Komponiert man das<br />

Filmbild unüberlegt, so kann es passieren, daß bedeutungslose Dinge dem<br />

Zuschauer wichtig erscheinen, weil sie beispielsweise durch die Größenverhält-<br />

nisse ungewollt hervorgehoben werden. Um diese Gefahr zu vermeiden, aber in<br />

erster Linie natürlich, um seinen Film zu bereichern, ist es sinnvoll, sich mit dem<br />

Thema Komposition auseinan<strong>der</strong> zu setzen.<br />

Der Punkt im Bild, auf den wir automatisch sehen, wenn <strong>der</strong> Blick nicht<br />

durch an<strong>der</strong>e Gestaltungselemente abgelenkt wird, nennt man optische Mitte.<br />

Dieser Punkt ist nicht die Bildmitte. Diese liegt auf dem Schnittpunkt <strong>der</strong><br />

Bilddiagonalen, die optische Mitte liegt leicht darüber. Dinge, die in <strong>der</strong> optischen<br />

Bildmitte plaziert sind, scheinen „gut im Bild“, was außerhalb angeordnet ist,<br />

erscheint auch <strong>für</strong> das Geschehen randständig und wirkt abgedrängt.<br />

Kräftige Linienführungen im Filmbild lösen Assoziationen aus. Harte<br />

Geraden stehen <strong>für</strong> Männlichkeit und Kraft, kurvige, weiche Linien <strong>für</strong><br />

Weiblichkeit. Lange Horizontale stehen <strong>für</strong> Ruhe und Ausgleich, gegeneinan<strong>der</strong><br />

gesetzte Diagonale <strong>für</strong> Konflikt und Aktion. 58 Durch die bekannten Tests <strong>der</strong><br />

Wahrnehmungspsychologie, wie dem <strong>der</strong> „Treppauf-treppab-Illusion“, o<strong>der</strong> dem<br />

<strong>der</strong> „Müller-Lyer-Illusion“ hat man festgestellt, daß wir in <strong>der</strong> westlichen Kultur<br />

bereits dem leeren Bild Bedeutung zuschreiben: unten halten wir <strong>für</strong> wichtiger als<br />

oben, links kommt vor rechts, unten ist fest, oben beweglich, Diagonalen von<br />

links unten nach rechts oben führen „hoch“. Horizontalen erhalten mehr Gewicht<br />

als Vertikalen. Horizontale Linien, die gleich lang sind wie vertikale Linien,<br />

58 ebd., S. 51<br />

30


empfinden wir als länger. Dieses Phänomen wird noch durch das Bildformat des<br />

Fernsehbildes betont. 59<br />

Große, wenig strukturierte Flächen werden oft mit kleinen, vielteilig<br />

geglie<strong>der</strong>ten komponiert. <strong>Ein</strong>e Balance zwischen Bildelementen kann beispielsweise<br />

durch symmetrische o<strong>der</strong> konzentrische Anordnungen hergestellt werden.<br />

Die Komposition <strong>der</strong> Formen dient <strong>der</strong> Blicklenkung des Zuschauers.<br />

In erster Linie jedoch dienen die Bildkompositionen dazu, die abgebildeten<br />

Menschen in ihrem Verhältnis zur Umwelt zu zeigen. Zwischen den abgebildeten<br />

Menschen und ihrem Umraum wird ein Beziehungsfeld aufgebaut. „Häufig beruht<br />

die Wirkung einer <strong>Ein</strong>stellung gerade darauf, daß die gezeigte Person auf<br />

eigentümliche Weise mit den Formen <strong>der</strong> Umgebung verschmilzt und dadurch<br />

eine intensive visuelle Wirkung erzeugt wird.“ 60 Wie im Filmbild Dinge und<br />

Menschen abgebildet werden, zeigt nicht nur eine ästhetische Ordnung, son<strong>der</strong>n<br />

auch immer eine soziale. Auch <strong>der</strong> Standpunkt des Betrachters wird durch das<br />

Bild mit definiert. Die Präsentation for<strong>der</strong>t uns heraus, in <strong>der</strong> Anordnung des<br />

Präsentierten Bedeutung zu sehen: Hierarchien zwischen den Figuren und ihre im<br />

Blick geübte Überwindung, soziale Nähe und Distanz. 61<br />

Patentrezepte <strong>für</strong> Bildkomposition gibt es nicht, da <strong>der</strong> Film in<br />

Neologismen spricht. Im Gegensatz zur gesprochenen Sprache, die situationsbedingt<br />

benutzt wird, erfindet man die Sprache des Films teilweise neu. 62<br />

Hilfreich kann sein, ausgeprägte Sequenzen in Filmen zu analysieren. Anfangen<br />

kann man mit <strong>Ein</strong>zelbil<strong>der</strong>n, die man mit Hilfe <strong>der</strong> Standbildfunktion des<br />

Videorekor<strong>der</strong>s bzw. DVD-Players betrachten kann.<br />

<strong>Ein</strong> Element <strong>der</strong> Bildbeschreibung ist <strong>der</strong> Bildaufbau, also das Verhältnis<br />

von Bildvor<strong>der</strong>grund, Bildmitte und Bildhintergrund. <strong>Ein</strong> weiteres die äußere<br />

Erscheinung <strong>der</strong> Figuren, also Sympathie und Antipathie und das Zustandekommen<br />

dieser Wirkung. Schauplatz, Ausstattung und Dekoration können üppig o<strong>der</strong><br />

karg, mo<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> antiquiert wirken und auch die Figuren und die dramatische<br />

Situation charakterisieren. Licht und Farbe bestimmen maßgeblich die Wirkung<br />

des einzelnen Filmbildes.<br />

59<br />

Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S.194ff.<br />

60<br />

Hickethier, K.: Film- und Fernsehanalyse. a.a.O., S. 52<br />

61<br />

ebd., S. 53<br />

62<br />

Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S.164<br />

31


In einem zweiten Schritt, <strong>der</strong> erweiterten Bildbeschreibung, kann die gesamte<br />

<strong>Ein</strong>stellung analysiert werden, also <strong>der</strong> Zeitraum von einem Schnitt zum nächsten.<br />

Diese Analyse kann zu Bedeutungszusammenhängen führen, die von Handlung<br />

und Dialog allein nicht vermittelt werden, diese sogar gelegentlich konterkarieren.<br />

63 Das gesprochene Wort und die nacherzählbare Handlung sollten daher<br />

immer in enger Beziehung zur Bildkomposition gesehen werden. Das Filmbild<br />

kann mehr Informationen transportieren, als dem Zuschauer zunächst bewußt ist.<br />

Die Elemente <strong>Ein</strong>stellungsgröße, <strong>Ein</strong>stellungsperspektive, Kamerabewegungen,<br />

Kadrage, <strong>Ein</strong>stellungslänge und <strong>Ein</strong>stellungszusammenhang können in je<strong>der</strong><br />

<strong>Ein</strong>stellung untersucht werden. In <strong>der</strong> erweiterten Bildbeschreibung kann man<br />

darauf achten, wie <strong>Ein</strong>stellungsgrößen und Perspektiven sich verän<strong>der</strong>n.<br />

5.1 Offene und geschlossene Form<br />

„Erscheint das Filmbild in allen Aspekten bewußt gestaltet und gibt es einen klar<br />

definierbaren Inhalt wie<strong>der</strong>, spricht man von einer geschlossenen Form. Die<br />

Bil<strong>der</strong> erscheinen durchkomponiert und konzentriert. Innerhalb des Bildrahmens<br />

sind alle handlungsrelevanten Personen und visuellen Informationen in einem<br />

deutlichen Verhältnis zueinan<strong>der</strong> erfaßt. Im klassischen Hollywood-Stil ist dies<br />

das vorherrschende Paradigma.“ 64 In Hollywood-Filmen <strong>der</strong> dreißiger und<br />

vierziger Jahre war man stets bemüht, das Objekt in <strong>der</strong> Bildmitte zu behalten.<br />

Alles an<strong>der</strong>e wurde als gewagt angesehen. Die Arbeiten des Regisseurs Stanley<br />

Kubrick gelten als Musterbeispiele <strong>für</strong> die geschlossene Form. In seinem<br />

Historienfilm BARRY LYNDON (1975) zitiert er Bil<strong>der</strong> des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts und<br />

treibt mit seinen tableauartigen Arrangements die geschlossene Form auf die<br />

Spitze. Rainer Werner Faßbin<strong>der</strong> hat die geschlossene Form nicht im Hollywood-<br />

Stil <strong>für</strong> eine bequeme, gefällige Präsentation <strong>der</strong> Geschichte benutzt, son<strong>der</strong>n<br />

benutzt die Form, um den Inhalt zu kommentieren. In Filmen wie KATZELMACHER<br />

(1969), MARTHA (1973) o<strong>der</strong> ANGST ESSEN SEELE AUF (1974) erscheint die<br />

Abgeschlossenheit <strong>der</strong> Bildkomposition bereits als Kommentar zu den starren<br />

gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Verhältnissen. 65<br />

Bei <strong>der</strong> offenen Form hingegen scheint die Kamera nur einen Ausschnitt<br />

einer viel größeren Realität einzufangen, <strong>der</strong> abgebildete Handlungsraum wirkt<br />

63<br />

Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 54<br />

64<br />

ebd., S. 47<br />

65<br />

ebd., S. 48<br />

32


offen <strong>für</strong> neue Elemente. Der Zuschauer bekommt im Unterbewußtsein ständig<br />

den Raum außerhalb des Filmbildes mit. In Francois Truffauts SIE KÜSSTEN UND<br />

SIE SCHLUGEN IHN (1959) zeigt die Kamera den Protagonisten beim Herumstreunen<br />

in <strong>der</strong> Großstadt. Sie zeigt ihn eher beiläufig und verliert ihn manchmal sogar aus<br />

den Augen. Die offene Form verleiht den Bil<strong>der</strong>n einen halbdokumentarischen<br />

Stil, die Bil<strong>der</strong> wirken direkt und spontan.<br />

5.2 Plazierung von Personen und Objekten vor <strong>der</strong> Kamera<br />

„Je näher ein Gegenstand ist, desto wichtiger scheint er.“ 66 Kunstvolles Beispiel<br />

<strong>für</strong> die Bedeutung von Entfernung und Proportionen ist eine klassische Aufnahme<br />

aus Orson Welles´ CITIZEN KANE (1941). Da steht die Flasche mit einem<br />

Schlafmittel riesig und drohend im Vor<strong>der</strong>grund, im Mittelgrund Kanes Frau im<br />

Bett, während im Hintergrund Kane den Raum betritt. Allein durch diesen<br />

Bildaufbau wird erzählt, daß Kanes Frau einen Selbstmordversuch begangen hat.<br />

Diese Tatsache braucht nicht mehr durch Dialog erklärt zu werden.<br />

Das folgende Beispiel verdeutlicht, wie durch das Arrangement <strong>der</strong><br />

Figuren Beziehungen herausgearbeitet werden können. „In <strong>der</strong> vierten Episode<br />

von Edgar Reitz´ Filmreihe DIE ZWEITE HEIMAT (1992/93), ANSGARS TOD, erhält<br />

<strong>der</strong> ´Gelegenheitsstudent` Ansgar in München überraschenden Besuch von seinen<br />

Eltern aus Rosenheim. <strong>Ein</strong>e Sequenz des Films zeigt, wie die Eltern versuchen,<br />

ihren <strong>Ein</strong>fluss auf den Sohn wie<strong>der</strong>zuerlangen. Dabei wird schon in <strong>der</strong><br />

Bildkomposition die Relation <strong>der</strong> Beziehungen deutlich. Obwohl die Mutter<br />

verbal die Szene beherrscht (...), hebt <strong>der</strong> Bildaufbau den Vater hervor. Er ist<br />

häufig im Bildvor<strong>der</strong>grund platziert und nimmt damit mehr Bildraum ein als die<br />

Mutter. Ansgars Freundin, die bis dahin als selbstbewusste junge Frau porträtiert<br />

wurde, erhält hier nur noch einen Platz im Hintergrund. Das Arrangement <strong>der</strong><br />

Figuren im Filmbild spiegelt wie<strong>der</strong>, wie Ansgar (...) die Situation erlebt und<br />

welchen Platz Vater, Mutter und Freundin in seiner Wahrnehmung einnehmen.“ 67<br />

Indem man Lesbares ins Filmbild einfügt wie beispielsweise Zeitungsüberschriften,<br />

Werbeplakate o<strong>der</strong> Buchtitel, kann man die Handlung kommentieren.<br />

Solche versteckten Botschaften, die nur <strong>der</strong> aufmerksame Zuschauer bemerkt,<br />

bereichern einen Film. Douglas Sirk gilt als Meister dieser vielschichtigen<br />

Bil<strong>der</strong>sprache. In seinem Film IN DEN WIND GESCHRIEBEN (1956) teilt ein Arzt dem<br />

66 Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S. 193<br />

67 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 49ff.<br />

33


trockenen Alkoholiker Kyle Hadley mit, daß er möglicherweise keine Kin<strong>der</strong><br />

mehr zeugen kann. Das Gespräch findet in einem Lokal statt und auf dem Tisch,<br />

an dem die Männer sich unterhalten, stehen drei Karaffen, <strong>der</strong>en Verschlüsse eine<br />

phallische Form aufweisen. Da <strong>der</strong> Hintergrund ein undurchsichtiges, vergittertes<br />

Fenster zeigt, wirkt <strong>der</strong> Bildausschnitt sehr beengend. Als Kyle mit verzweifeltem<br />

Blick das Lokal verläßt, sieht man in einer Halbtotalen große Schil<strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />

Aufschrift „DRUGS HERE“, die im Lokal hängen. Diese Werbeplakate deuten<br />

die Gefahr an, daß Kyle nach dieser schlechten Nachricht einen Rückfall erleiden<br />

wird. Wie zum Hohn begegnet Kyle am <strong>Ein</strong>gang einem Kind, das auf einem<br />

mechanischen Pferd reitet und ihm auch noch hinterherlacht. Es ist die Projektion<br />

seines nun unerfüllbar scheinenden Wunsches nach einer eigenen Familie, das<br />

Reiten eine eindeutig sexuelle Metapher. 68<br />

In Steven Spielbergs DIE FARBE LILA (1985) soll die von ihrem Ehemann<br />

unterdrückte und gedemütigte Celia ihren Mann rasieren. Sie wirkt seltsam ernst<br />

und entschlossen, als sie das Rasiermesser schleift. In einer <strong>Ein</strong>stellung sieht man<br />

groß im Vor<strong>der</strong>grund die Hände Celias, die das Rasiermesser im wahrsten Sinne<br />

des Wortes über ihrem Ehemann wetzt, <strong>der</strong>, ganz klein im Hintergrund, auf einem<br />

Schaukelstuhl schläft. Dies ist ein Beispiel <strong>für</strong> erzählende Bildarrangements.<br />

Allein durch den Bildaufbau wird eine „normale“ Situation mit Bedeutung<br />

aufgeladen und so sieht das Publikum, was Celia plant.<br />

Je mehr die Bil<strong>der</strong> sprechen, desto weniger Dialog ist erfor<strong>der</strong>lich. Wie<br />

durch die Beispiele deutlich wird, ist es möglich, durch die Plazierung von<br />

Personen und Objekten vor <strong>der</strong> Kamera Akzente zu setzen, die Aufmerksamkeit<br />

des Publikums auf Details zu lenken o<strong>der</strong> Gegenständen einen stark symbolischen<br />

Charakter zu verleihen.<br />

Kubricks SHINING (1980) ist streng durchkomponiert, eine Hälfte <strong>der</strong><br />

Leinwand scheint stets <strong>der</strong> Spiegel <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Hälfte zu sein. „Dieses Prinzip <strong>der</strong><br />

Symmetrie hält Kubrick mit solch gnadenloser Konsequenz durch, daß seiner<br />

Erzählung stets die Aura einer kühlen Versuchsanordnung anhaftet.“ 69 Das<br />

Prinzip <strong>der</strong> Spaltung/Zweieinigkeit durchzieht ohnehin Kubricks Œuvre, hier ist<br />

es jedoch allumfassend: die Salons im Overlook Hotel sind allesamt symmetrisch<br />

dekoriert, das Labyrinth und seine Variationen (als Plan des Hotels, als Modell,<br />

als Teppichmuster), die Zwillinge. Diese Tatsache entgeht wohl niemandem, <strong>der</strong><br />

68 ebd., S. 50ff.<br />

69 Kilb, A., Rother, R. u.a.: Stanley Kubrick. Berlin: Bertz 1999, S. 209<br />

34


den Film sieht und for<strong>der</strong>t regelrecht zu Interpretationen und philosophischen<br />

Deutungen heraus. Fest steht, daß Stanley Kubrick etwas mit diesen Spiegelungen<br />

ausdrücken wollte. „Denn es gibt bedeutungslose Worte, aber es gibt kein<br />

bedeutungsloses Bild.“ (Béla Balázs) Die Tatsache, daß man nicht sofort weiß,<br />

was, macht den Film nur interessanter. Die Bil<strong>der</strong> bleiben jahrelang im Kopf, weil<br />

sie so skurril sind. So kann man immer wie<strong>der</strong> mal über die Intention des<br />

Künstlers sinnieren. Vielleicht erlangt man, je nach Lebenserfahrung, mit<br />

steigendem Alter an<strong>der</strong>e Lesarten des Films. Junge Menschen sehen einen<br />

Horrorfilm, wo etwas betagtere Filmkritiker behaupten, SHINING handele vom<br />

Mord an <strong>der</strong> Rasse <strong>der</strong> Indianer und dessen Konsequenzen. 70 Anhaltspunkte bietet<br />

<strong>der</strong> Film einige, jedoch interpretiert meiner Überzeugung nach kaum jemand den<br />

Film auf diese Art. Festgemacht wird diese Behauptung vor allem an <strong>der</strong><br />

Tatsache, daß die Farben <strong>der</strong> amerikanischen Flagge, rot, weiß und blau in dem<br />

Film omnipräsent sind und die Flagge selbst immer wie<strong>der</strong> Teil des Dekors ist.<br />

Auch in <strong>der</strong> Vorratskammer finden sich solche Hinweise in Form von<br />

Konservendosen, auf denen die Silhouette eines Indianerhäuptlings abgebildet ist<br />

mit dem Aufdruck „Calumet“, was „Friedenspfeife“ bedeutet. 71<br />

5.3 Beleuchtung<br />

Lichtmenge, Lichtart, Lichthärte, Lichtfarbe und Verteilung des Lichts<br />

beeinflussen den visuellen <strong>Ein</strong>druck einer Szenerie. Außenaufnahmen bei<br />

bedecktem Himmel sind meist sehr unbefriedigend. Das liegt daran, daß kein<br />

Licht- und Schattenspiel die Gegenstände modelliert. Denn es gibt keine Linien,<br />

son<strong>der</strong>n nur Licht und Schatten. Farben sind nichts an<strong>der</strong>es, als die Reflektion und<br />

Absorbation von Licht. Licht ist das wichtigste Element <strong>der</strong> Filmkunst, die ja auch<br />

Lichtkunst genannt wird. Das Filmbild besteht aus Lichtmengen, die sich in<br />

unterschiedlicher Intensität und Farbe zu Konturen und Formen auf <strong>der</strong> Leinwand<br />

o<strong>der</strong> auf dem Bildschirm figurieren. Das Bild ist in seiner grundlegendsten<br />

Dimension das Ergebnis von Licht- und Beleuchtungsverhältnissen. Die reine<br />

Erkennbarkeit des Objektes, aber auch weiterführende, die Stimmung betreffende<br />

Charakteristika werden durch die Art <strong>der</strong> Beleuchtung modelliert. 72<br />

70<br />

Kilb, A., Rother, R. u.a.: Stanley Kubrick. a.a.O., S. 207<br />

71<br />

ebd., S. 207ff.<br />

72<br />

Borstnar, N.; Pabst, E.; Wulff, H. J.: <strong>Ein</strong>führung in die Film- und Fernsehwissenschaft. a.a.O., S.<br />

106<br />

35


Bei Aufnahmen am frühen Morgen o<strong>der</strong> am späten Nachmittag wirken die Farben<br />

voller und die Welt scheint in rötlich-goldenes Licht getaucht. Das liegt daran,<br />

daß nur noch ein Teil des Lichtspektrums die Erde erreicht. Es empfiehlt sich,<br />

möglichst zu diesen Zeiten zu filmen, wenn „schöne“, stimmungsvolle Bil<strong>der</strong><br />

gewünscht werden.<br />

Künstliche Beleuchtung wird sowohl bei Innenaufnahmen, als auch zur<br />

Verstärkung im Freien eingesetzt. Mit breitwinklig und mit fokussiert strahlenden<br />

Lichtquellen ist die Beleuchtung beliebig gestaltbar. Räumliche Tiefeneindrücke<br />

und Plastizität können allein durch die Lichtsetzung vermittelt werden. Indem<br />

bestimmte Teile des Raumes hervorgehoben, an<strong>der</strong>e abgedunkelt werden, kann<br />

durch die Lichtsetzung Vor<strong>der</strong>-, Mittel- o<strong>der</strong> Hintergrund betont o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong><br />

ganze Raum dargestellt werden.<br />

Es ist problematisch, die Lichtführung in einem Film in den Kategorien<br />

realistisch und künstlich beschreiben zu wollen, denn diese <strong>Ein</strong>teilung mißachtet<br />

den Umstand, daß Lichtstimmungen, die dem Zuschauer als neutral und ganz<br />

natürlich erscheinen mögen, produktionsseitig das Ergebnis ausgefeiltester<br />

Lichtsetzung sind, während eine bei realen Lichtverhältnissen gefilmte Szene auf<br />

<strong>der</strong> Leinwand unnatürlich wirken kann.<br />

Die Richtung des Lichts bestimmt die Richtung des Schattenwurfs. Keine<br />

<strong>für</strong> die Kamera sichtbaren Schatten erhält man bei frontalem Licht, das entlang<br />

<strong>der</strong> optischen Achse <strong>der</strong> Kamera auf das Objekt fällt. Das Objekt wirkt dann<br />

jedoch flach. Um Höhen und Tiefen plastisch hervortreten zu lassen, beleuchtet<br />

man das Objekt aus seitlichen Richtungen. Gegenlicht fällt aus dem Hintergrund<br />

in Richtung Kamera und strahlt dabei das Objekt von hinten an. Als Faustregel<br />

gilt: Volle Frontalbeleuchtung läßt das Objekt verschwinden, Oberlicht drückt es<br />

hinab, Unterlicht macht es unheimlich, Spots können die Aufmerksamkeit auf<br />

Details lenken. Spots werden oft auf Haare und Augen geworfen. Gegenlicht kann<br />

das Objekt sowohl unterdrücken als auch hervorheben. Extreme Gegenlichtaufnahmen<br />

von Personen abstrahieren die Personen bis zur Silhouette. 73<br />

In Dokumentationen kann Gegenlicht bei Interviewpartnern angewandt werden,<br />

die nicht erkannt werden wollen. Seitenlicht kann dramatische Effekte erzielen.<br />

73 Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S. 199<br />

36


Im Gegensatz zum Profifilm, wo ein Chefbeleuchter mit seiner Crew <strong>für</strong> die<br />

Kunst <strong>der</strong> Beleuchtung zuständig ist, hat man im Amateurbereich begrenzte<br />

Möglichkeiten.<br />

Die Standardbeleuchtung umfaßt das Haupt- o<strong>der</strong> Führungslicht, das<br />

Seiten- o<strong>der</strong> Fülllicht und das Hintergrund- o<strong>der</strong> Raumlicht. Das leistungsstärkste<br />

Führungslicht prägt die ganze Szenerie, es strahlt das Objekt seitlich zur<br />

Blickachse <strong>der</strong> Kamera an. Das annähernd in Blickrichtung <strong>der</strong> Kamera<br />

aufgestellte Fülllicht hellt die durch das Hauptlicht entstehenden Objektschatten<br />

auf. Das Hintergrundlicht trennt Personen und Objekte vom Hintergrund, so daß<br />

<strong>der</strong> räumliche <strong>Ein</strong>druck verbessert wird. 74<br />

Daneben gibt es eine Fülle von verschiedenen zusätzlichen an<strong>der</strong>en Lichtquellen<br />

und Lichteffekten, die zur Gesamtatmosphäre eines Filmbildes beitragen. Im<br />

Profifilm werden gemeinhin mehr als die drei Standardscheinwerfer eingesetzt.<br />

Teilweise werden eigens Beleuchtungsskizzen <strong>für</strong> einzelne Szenen angefertigt.<br />

Dieses ausgewogene Beleuchtungssystem ist jedoch recht unrealistisch, in unserer<br />

täglichen Wahrnehmung sehen wir selten Szenen, die sowohl gleichmäßig<br />

ausgeleuchtet sind, als auch sorgfältig ausbalancierte Nebenlichtquellen<br />

aufweisen.<br />

Die Lichtführung ist meist so gestaltet, daß sie das Ergebnis <strong>der</strong><br />

Lichtquellen zu sein scheint, die im Bild zu sehen sind o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Anwesenheit<br />

<strong>der</strong> Zuschauer annehmen kann, wie die <strong>der</strong> Sonne. Doch das ist selten wirklich<br />

<strong>der</strong> Fall, außer den im Bild zu sehenden werden zahlreiche an<strong>der</strong>e, starke<br />

Lichtquellen verwendet. Filme <strong>der</strong> französischen Filmbewegung Nouvelle Vague,<br />

die das Ziel hatte, die Maßgaben <strong>der</strong> tradierten Studioästhetik zu überwinden und<br />

zu einem neuen Realismus zurückzufinden, drehten unter Lichtverhältnissen, wie<br />

sie am Drehort vorherrschten. Als Beispiel sei hier Jean-Luc Godards AUSSER<br />

ATEM (1959) genannt, ein Film, <strong>der</strong> viele Unter- und Überbelichtungen aufweist,<br />

da er nur das Licht nutzte, welches er an den Originalschauplätzen, also in<br />

Wohnungen, Restaurants, Autos und Hotels, vorfand. Stanley Kubrick arbeitete in<br />

BARRY LYNDON ebenfalls ohne künstliches Studiolicht. Nur die zahlreichen<br />

Kerzen, die man in den betreffenden <strong>Ein</strong>stellungen sieht, leuchten die Szenen aus.<br />

Ermöglicht wurde dies durch speziell angefertigte Objektive, die bei diesen<br />

dunklen Lichtverhältnissen noch fotografieren konnten. An<strong>der</strong>s als bei Godard<br />

74 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 34<br />

37


war hier <strong>der</strong> Effekt, daß durch den Verzicht auf künstliches Studiolicht sehr<br />

stimmungsvolle Bil<strong>der</strong> erzeugt worden sind. Heute bemühen sich viele<br />

Filmemacher mehr um Naturtreue als um die klassische Ausgewogenheit<br />

Hollywoods. 75<br />

Die Lichthärte ist abhängig von <strong>der</strong> Gerichtetheit des Lichts. Der Begriff<br />

beschreibt, ob das Licht eher diffus o<strong>der</strong> konzentriert auf das Objekt fällt.<br />

Die Schärfe <strong>der</strong> Konturen und die Stärke <strong>der</strong> Schatten sind abhängig von <strong>der</strong><br />

Härte des Lichts. Um Licht zu konzentrieren, werden Lichtquellen mit<br />

Linsensystemen benutzt, diffuses Licht erlangt man durch vor die Scheinwerfer<br />

gespannte Filter o<strong>der</strong> Reflektoren. 76<br />

Hitchcock hat in einem seiner Filme ein ausgefeiltes Spiel mit Licht und<br />

Schatten betrieben: er warf einen Schatten von einem schmiedeeisernen Gitter auf<br />

die Oberlippe eines Mannes, um auf den Stummfilm zu verweisen, in denen <strong>der</strong><br />

Schurke immer einen Schnurrbart trug. Der Schatten wirkte „echter und<br />

drohen<strong>der</strong> als je<strong>der</strong> natürliche“. 77<br />

5.3.1 Beleuchtungsstile<br />

Man unterscheidet drei Stile <strong>der</strong> Lichtgestaltung: Normalstil, Low-Key-Stil und<br />

High-Key-Stil. Bei diesen Begriffen geht es um den Kontrastumfang des Bildes.<br />

Der Normalstil ist <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Film- und Fernsehproduktion am häufigsten<br />

eingesetzte Beleuchtungsstil. Sein Ziel ist, eine möglichst realistische o<strong>der</strong><br />

naturalistische Atmosphäre zu kreieren. Das natürlich vorhandene Licht wird<br />

betont. Die Hell-Dunkel-Verteilung ist ausgewogen.<br />

Die Low-Key-Ausleuchtung ist hingegen eine Beleuchtung, in <strong>der</strong> kein<br />

generelles Führungslicht dominiert. Die Ausleuchtung erscheint dunkel und stark<br />

von Schatten betont. Die seitlich postierten Aufhelllichter dominieren, wodurch<br />

Personen, Objekte und Schauplätze ungleichmäßig beleuchtet werden. 78 Der<br />

Kontrastumfang ist mithin sehr hoch. Die Filmform, in <strong>der</strong> diese Ausleuchtung<br />

beson<strong>der</strong>s häufig eingesetzt wurde, hat dem „Film Noir“ seinen Namen gegeben.<br />

Sie drückt die pessimistische Grundstimmung <strong>der</strong> Geschichten aus, die sich meist<br />

um Korruption und Verrat drehen. Zu finden ist dieser Beleuchtungsstil auch im<br />

75<br />

Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S. 199<br />

76<br />

Borstnar, N.; Pabst, E.; Wulff, H. J.: <strong>Ein</strong>führung in die Film- und Fernsehwissenschaft. a.a.O., S.<br />

107<br />

77<br />

Hitchcock in: Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 59<br />

78<br />

Rother, R. (Hrsg.): Sachlexikon Film. a.a.O., S. 190<br />

38


Horror-, Science-Fiction- und Kriminalfilm, da sich auf die Art Spannung und<br />

eine bedrohliche Atmosphäre erzeugen lassen. In Friedrich Wilhelm Murnaus<br />

NOSFERATU (1921) wird nur <strong>der</strong> Schatten gezeigt, als <strong>der</strong> Vampir sich auf den<br />

Weg zu seinem letzten Opfer macht. <strong>Ein</strong> Unterlicht läßt den Schatten des Vampirs<br />

langsam anwachsen, während Nosferatu die Treppe hinaufsteigt.<br />

Im Gegensatz zum Low-Key dominieren beim High-Key-Stil helle<br />

Tonwerte, da Haupt-, Führungs- und Hintergrundscheinwerfer die Szene<br />

gleichmäßig o<strong>der</strong> sogar übermäßig ausleuchten. Die Helligkeitskontraste sind<br />

niedrig, da fast überall im Bild ähnliche Helligkeitswerte vorherrschen. Durch<br />

High-Key wird eine optimistische Grundstimmung erzeugt. Es sind keine<br />

Schattenpartien sichtbar, alles ist in helles, bisweilen auch diffuses Licht getaucht.<br />

In den Screwball Comedies <strong>der</strong> 30er und 40er Jahre angewandt, um eine positive,<br />

leichte Stimmung zu erzeugen, wird sie heute eher unbeabsichtigt, da ökonomiebedingt<br />

in Endlosserien wie <strong>der</strong> LINDENSTRASSE eingesetzt. <strong>Ein</strong>en Set gleichmäßig<br />

auszuleuchten ist einfacher, als mit Hilfe einer komplexen Lichtdramaturgie<br />

Schatten herauszuarbeiten.<br />

Als bewußtes Stilmittel zur Verfremdung benutzt Stanley Kubrick diese<br />

Ausleuchtungsart in 2001 - ODYSSEE IM WELTRAUM (1968) und in UHRWERK<br />

ORANGE (1971). Mit Hilfe <strong>der</strong> grellen Ausleuchtung wird dort das beklemmende<br />

Empfinden einer hermetisch geschlossenen, antiseptischen und gefühlskalten Welt<br />

dargestellt. 79 Wie diese Beispiele zeigen, muß eine High-Key-Ausleuchtung nicht<br />

zwangsläufig eine positive Stimmung erzeugen, wie umgekehrt eine Low-Key-<br />

Szene nicht unbedingt düster sein muß. Low-Key könnte man auch das muntere<br />

Treiben in einer Kneipe ausleuchten.<br />

5.4 Farbe<br />

Farbe im Film kann außer <strong>der</strong> reinen Wie<strong>der</strong>gabe <strong>der</strong> Natur auch als dramaturgisches<br />

Element eingesetzt werden. Farbe ist ein Mittel zur Stimmungserzeugung<br />

und Stimmungsverstärkung. Sie kann physische und psychische Grundstimmungen<br />

symbolisieren.<br />

In Luchino Viscontis Farbfilmen präsentiert jede Farbe einen Zustand. „In<br />

Viscontis TOD IN VENEDIG (1970) dominieren die Farben Weiß (Unschuld), Rot<br />

79 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 37<br />

39


(unerfülltes Verlangen, Eros) und Schwarz (Künstlerkrise, Tod); sie<br />

korrespondieren exakt mit den zentralen Motiven von Thomas Manns Novelle.“ 80<br />

Miloš Forman stellt in AMADEUS (1984) die psychische und physische<br />

Verän<strong>der</strong>ung Mozarts durch das farbliche Dekor dar. Während Mozarts steile<br />

Karriere durch Pastellfarben signalisiert wird, verwendet Forman von <strong>der</strong><br />

einsetzenden Krankheit des Komponisten an vornehmlich das dunkle Farbspektrum<br />

(braun bis grau). 81<br />

Hitchcock stellte das Thema Nekrophilie in VERTIGO - AUS DEM REICH DER<br />

TOTEN (1958) allein über die farbdramaturgische Ebene dar. In dem Film kann<br />

Detektiv Ferguson den vermeintlichen Selbstmord seiner Geliebten nicht<br />

verkraften. Er verliebt sich in Judy, die ihr bis auf Haare und Kleidung gleicht.<br />

Also drängt er sie, Kleidung und Haarfarbe zu verän<strong>der</strong>n. „Um es ganz einfach zu<br />

sagen: <strong>der</strong> Mann möchte mit einer Toten schlafen, es geht um Nekrophilie.“ 82 Als<br />

Judy aus dem Bad kommt, steht sie in einem grünen Licht da, das von einer<br />

blinkenden Neonreklame an <strong>der</strong> Hotelfassade hereinscheint. „Sie steht in dem<br />

grünen Neonlicht da, als käme sie wirklich aus <strong>der</strong> Totenwelt. Dann wie<strong>der</strong><br />

Stewart, sie betrachtend, und wie<strong>der</strong> das Mädchen, diesmal ganz normal<br />

aufgenommen, denn Stewart ist wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Wirklichkeit. <strong>Ein</strong>en Augenblick hat<br />

James Stewart gespürt, daß Judy wirklich Madeleine ist.“ 83<br />

In <strong>der</strong> Psychologie gelten Rottöne als warm und Blautöne als kalt. Volkstümlich<br />

steht gelb <strong>für</strong> Neid und grün <strong>für</strong> Hoffnung. Weiß bedeutet Unschuld und<br />

Reinheit, schwarz das Böse und <strong>der</strong> Tod. Rot wird in unserem Kulturkreis mit<br />

Liebe und Erotik assoziiert, blau ist die Sehnsucht.<br />

In Tim Burtons EDWARD MIT DEN SCHERENHÄNDEN (1990) sind Häuser und<br />

Autos in aufeinan<strong>der</strong> abgestimmten Bonbonfarben gestrichen und lackiert. Burton<br />

symbolisiert und kritisiert somit die „heile Welt“ <strong>der</strong> amerikanischen Mittelschicht,<br />

die als oberflächlich und fremdbestimmt dargestellt wird und die nun<br />

durch den Außenseiter Edward angekratzt und in ihren Grundfesten erschüttert<br />

wird.<br />

Hitchcocks MARNIE (1964) beginnt mit einer Großaufnahme <strong>der</strong> leuchtend<br />

gelben Brieftasche Marnies. Die an<strong>der</strong>en Farbwerte <strong>der</strong> Szene sind eher neutral.<br />

80 ebd., S. 40<br />

81 ebd., S. 40<br />

82 Hitchcock in: Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 238<br />

83 Hitchcock in: Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 239<br />

40


Das hat die Wirkung, daß man den <strong>Ein</strong>druck hat, daß die Brieftasche die Frau<br />

trägt und nicht umgekehrt. Allein durch diese Farbgestaltung ist <strong>der</strong> Zuschauer<br />

über das Thema des Films informiert. Richtig, die Handtasche trägt die Frau,<br />

Marnies Leben ist von ihrer Kleptomanie bestimmt. Farbe ist ein zentrales Thema<br />

in diesem Hitchcockfilm, Marnie leidet an einer Rotphobie.<br />

In dem Film COLOR OF NIGHT (1994) von Richard Rush gibt es ein<br />

ähnliches Thema. Bruce Willis spielt einen Psychotherapeuten, <strong>der</strong> sich schuldig<br />

am Selbstmord einer Patientin fühlt. Als sie sich aus dem Fenster seiner Praxis in<br />

die Tiefe stürzt, verblaßt <strong>für</strong> ihn die rote Blutlache zu einem Grau. Seitdem kann<br />

er kein Rot mehr sehen. Alle Rottöne, die aus seiner Subjektiven gefilmt wurden,<br />

sind in Grautöne verwandelt worden.<br />

Beliebt ist es, Traumsequenzen in einer an<strong>der</strong>en Farbe o<strong>der</strong> in schwarzweiß<br />

darzustellen. Es gibt Linsen, die farbig sind und auf das Objektiv aufgesetzt<br />

werden. Außerdem gibt es Filteraufsätze, die das Licht filtern und so an<strong>der</strong>e<br />

Farben erzielen. Auf die Art ist <strong>der</strong> Grünstich entstanden, als James Stewart Judy<br />

in VERTIGO auf den Friedhof folgt. Das Sonnenlicht wurde durch einen Nebelfilter<br />

gefilmt.<br />

Es ist jedoch auch möglich, bei <strong>der</strong> Nachbearbeitung mit dem digitalen<br />

Videoschnittprogramm diverse Farbfilter zu verwenden. Hier kann man gefahrlos<br />

herumprobieren, da das Original je<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong>hergestellt werden kann. <strong>Ein</strong><br />

leichter Braunton eignet sich beispielsweise <strong>für</strong> Innenaufnahmen, während <strong>für</strong><br />

Außenaufnahmen eher Blautöne in Frage kommen.<br />

5.5 Schärfe<br />

Man unterscheidet Schärfentiefe von flacher Schärfe. Während die Schärfentiefe<br />

verschieden weit von <strong>der</strong> Kamera entfernte Objekte gleich scharf abbildet, hebt<br />

die flache Schärfe eine Bildebene heraus. Flache Schärfe bildet üblicherweise den<br />

Vor<strong>der</strong>grund scharf ab, während <strong>der</strong> Hintergrund verwischt ist. Schärfentiefe kann<br />

den sehr nahen Vor<strong>der</strong>grund bis zum weit entfernten Hintergrund gleichermaßen<br />

scharf abbilden.<br />

Schärfentiefe ist eines <strong>der</strong> wichtigsten ästhetischen Kennzeichen <strong>der</strong> Mise<br />

en Scène. 84 In einem Abbildungsraum, <strong>der</strong> von vorne bis hinten scharf ist, hat man<br />

den nötigen Spielraum, um die Dinge „in Szene zu setzen“.<br />

84 Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S. 203<br />

41


Orson Welles verzichtet in seinem Film CITIZEN KANE teilweise auf die Montage<br />

zugunsten <strong>der</strong> ausgespielten, kontinuierlich aufgenommenen und durch Schärfentiefe<br />

<strong>für</strong> den Zuschauer gleichermaßen präsenten Handlung in zwei o<strong>der</strong> mehr<br />

Bildebenen. Die Verwendung <strong>der</strong> Schärfentiefe als dominierendes Mittel <strong>der</strong><br />

filmischen Artikulation ist auch international die Ausnahme geblieben. 85<br />

Schärfenmitführung ermöglicht, einen sich bewegenden Gegenstand,<br />

scharf zu behalten. Wegen ihrer Fähigkeit bewun<strong>der</strong>t, die Aufmerksamkeit auf<br />

einem Gegenstand zu belassen, war Schärfenmitführung eines <strong>der</strong> grundlegenden<br />

Mittel des Hollywoodstils.<br />

Im Gegensatz dazu gibt es die Schärfenverlagerung. Hier wird die Schärfe<br />

verän<strong>der</strong>t, um unsere Aufmerksamkeit von einem Gegenstand zum an<strong>der</strong>en zu<br />

lenken. Ohne die Kamera zu bewegen o<strong>der</strong> zu zoomen, kann mit Hilfe <strong>der</strong><br />

Schärfenverlagerung ein Dialog zwischen einer Person im Vor<strong>der</strong>grund und einer<br />

Person im Bildhintergrund aufgenommen werden. Schärfenverlagerung ist ein<br />

Kennzeichen des mo<strong>der</strong>neren, eindringlichen Stils. 86<br />

6. Montage<br />

„Die Montage ist Teil <strong>der</strong> Post-Produktion, die nach Beendigung <strong>der</strong> Dreharbeiten<br />

beginnt. Die einzelnen, unzusammenhängend gedrehten <strong>Ein</strong>stellungen und die<br />

Tonquellen werden unter dem Aspekt einer raum-zeitlichen Kontinuität<br />

zusammengesetzt.“ 87<br />

Da eine Szene in verschiedene <strong>Ein</strong>stellungen aufgelöst wird, weist die<br />

Handlung auf dem Rohmaterial zahlreiche Unterbrechungen auf. Bei <strong>der</strong> Montage<br />

werden diese <strong>Ein</strong>zelteile zu einem ansehbaren und begreifbaren Ganzen<br />

zusammengesetzt. Der Cutter montiert <strong>Ein</strong>stellungen zu Szenen, Szenen zu<br />

Sequenzen. Es wird in <strong>der</strong> Regel wesentlich mehr Material produziert als benötigt<br />

wird. Üblich ist ein Drehverhältnis von 1:10 o<strong>der</strong> gar 1:20. Aus zehn, bzw.<br />

zwanzig Minuten Rohmaterial entsteht eine Minute des fertigen Produkts. Die<br />

selben Bewegungsabläufe werden mehrmals hintereinan<strong>der</strong> aufgenommen, in<br />

verschiedenen <strong>Ein</strong>stellungsgrößen und Perspektiven. Aus Material, das <strong>für</strong> eine<br />

Szene aus unterschiedlichen <strong>Ein</strong>stellungen gedreht wurde, muß so viel weggeschnitten<br />

werden, daß <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>druck eines flüssigen Bewegungsablaufs entsteht.<br />

85 Rother, R. (Hrsg.): Sachlexikon Film. a.a.O., S.258ff.<br />

86 Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S. 204ff.<br />

87 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 58<br />

42


Da man beim Dreh nicht genau abschätzen kann, welche Aufnahmen den<br />

Aussagewunsch am Besten treffen, sammelt man verschiedenes Material. Der<br />

Verantwortliche <strong>für</strong> den Schnitt (Editor, Cutter) muß das vorhandene Material<br />

sichten und eine Auswahl treffen. Aus Interviews müssen die Kernsätze herausgearbeitet<br />

werden. Nichtssagende, langweilige Passagen, sowie Passagen, die nicht<br />

hun<strong>der</strong>tprozentig dem Aussagewunsch entsprechen, dürfen nicht in den Film.<br />

Diese Arbeiten fanden früher am Schneidetisch statt und werden heute zunehmend<br />

an digitalen Computerschnittplätzen vollzogen, was platz-, geld- und<br />

zeitsparend ist.<br />

Diese erste Schnittfassung, den Rohschnitt, zu erarbeiten, erfor<strong>der</strong>t, das<br />

Material unzählige Male anzusehen, um immer neue Entscheidungen zu treffen,<br />

darüber, was in den Film soll und was nicht, und ist somit sehr zeit- und arbeitsintensiv.<br />

Für den Feinschnitt müssen die <strong>Ein</strong>stellungen die richtige Länge und <strong>der</strong><br />

Film somit seinen spezifischen Rhythmus erhalten. Außerdem werden Auf- und<br />

Abblenden, Überblendungen, Titel, Geräusche und Musik in den Film eingefügt,<br />

bis <strong>der</strong> Film seine endgültige Gestalt angenommen hat. Auch das ist noch einmal<br />

ein enormer Arbeitsaufwand, <strong>der</strong> oft unterschätzt wird.<br />

Im professionellen Bereich sind die Bereiche Regie, Kamera und Schnitt<br />

arbeitsteilig. Das ist auch sinnvoll, da <strong>der</strong> Kameramann am Drehort war und seine<br />

Aufnahmen <strong>für</strong> ihn daher immer verständlich sind, aufgrund seines Kontextwissens<br />

und Erlebnishorizontes. 88 Da <strong>der</strong> Cutter nicht am Drehort war, ist er eine<br />

gute Kontrollinstanz, um zu beurteilen, ob die Bil<strong>der</strong> den Aussagewunsch transportieren.<br />

Im Amateurbereich ist man unter Umständen Drehbuchautor,<br />

Regisseur, Kameramann und Cutter zugleich. Dann sollte man hin und wie<strong>der</strong> mal<br />

jemanden bitten, sich das Material anzuschauen und auf Verständlichkeit hin zu<br />

überprüfen.<br />

6.1 Das Kürzen von <strong>Ein</strong>stellungen<br />

Als Beispiel sollen im Folgenden Aufnahmen von einem einfachen handwerklichen<br />

Arbeitsprozeß dienen: jemand hämmert auf einem Werkstück herum. Der<br />

Kameramann filmt diese Tätigkeit aus unterschiedlichen Positionen und läßt die<br />

Kamera jeweils zehn Sekunden laufen, um Überlappungen <strong>der</strong> Bewegungen <strong>für</strong><br />

88<br />

Kerstan, P.: Der journalistische Film. Jetzt aber richtig. Frankfurt am Main: Zweitausendeins<br />

2000, S. 150<br />

43


den genauen Anschnitt zu ermöglichen. Je<strong>der</strong> Kameralauf enthält vielleicht<br />

zwanzig Hammerschläge. Nun sucht <strong>der</strong> Cutter <strong>Ein</strong>stellungen aus, in denen<br />

möglichst ähnliche Bewegungsabläufe vorkommen. Er verbindet eine totalere mit<br />

einer nahen <strong>Ein</strong>stellung an <strong>der</strong> Stelle, an <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Arm des Arbeiters in <strong>der</strong><br />

gleichen Position befindet. Dabei verwendet er vielleicht nur noch fünf Hammerschläge<br />

pro <strong>Ein</strong>stellung. Der Betrachter vermißt die fehlenden Hammerschläge<br />

nicht. 89<br />

Man benötigt ebenso viel Zeit, ein Bild zu erkennen, wie man benötigen<br />

würde, um das Erkannte zu beschreiben. Diesen Zusammenhang kann man sich<br />

zu Nutze machen, um die richtige <strong>Ein</strong>stellungslänge zu ermitteln. Die denkbar<br />

kürzeste <strong>Ein</strong>stellung, die wir bewußt verarbeiten können, liegt bei etwa zwei<br />

Sekunden. Das entspricht <strong>der</strong> Länge des Satzes „Ich sehe eine Person.“ Je länger<br />

man die <strong>Ein</strong>stellung stehen läßt, desto mehr zusätzliche Informationen werden<br />

wahrgenommen. Sollen diese Informationen transportiert werden, muß man die<br />

<strong>Ein</strong>stellung also entsprechend länger stehen lassen. Das kann dann so aussehen:<br />

„Ich sehe eine Person, eine Frau, in einem Marktstand, mit viel Gemüse und<br />

Obst.“ Das entspricht dann einer <strong>Ein</strong>stellungslänge von etwa sieben Sekunden.<br />

Wenn eine Person o<strong>der</strong> ein Objekt bereits eingeführt sind, verkürzt sich die<br />

benötigte Zeit.<br />

Der Schnitt ist maßgeblich <strong>für</strong> das Tempo und den Rhythmus eines Films.<br />

Ebenso bestimmt er den Informationsgehalt des Films mit. Die Rezeptionsfähigkeit<br />

des Zuschauers nimmt proportional zur Schnittgeschwindigkeit ab. Filme wie<br />

Camerons TERMINATOR 2 (1991) und NATURAL BORN KILLERS kommen auf eine<br />

Verweildauer von zwei Sekunden pro Bild. Ältere Generationen sind teilweise<br />

nicht mehr in <strong>der</strong> Lage, Filmen mit einer solchen Montagegeschwindigkeit zu<br />

folgen. 90 In Videoclips und in <strong>der</strong> Werbung sind schnelle Schnitte vorherrschend.<br />

In den siebziger Jahren galt <strong>für</strong> einen neunzigminütigen Spielfilm als Orientierungsgröße<br />

700-1000 <strong>Ein</strong>stellungswechsel.<br />

6.2 Wechsel <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>stellungsgrößen<br />

Aufgrund jahrzehntelanger filmischer Tradition erwartet <strong>der</strong> Zuschauer, daß <strong>der</strong><br />

Bil<strong>der</strong>fluß durch unterschiedliche <strong>Ein</strong>stellungsgrößen und Perspektiven bestimmt<br />

wird. Der ständige Wechsel im Zeigen bildet eine Konvention im Gebrauch <strong>der</strong><br />

89 ebd., S.156ff.<br />

90 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 89<br />

44


audiovisuellen Medien. Filme ohne jeden Wechsel des Kamerablicks, wie Andy<br />

Warhols EMPIRE (1964) o<strong>der</strong> SLEEP (1963) werden als strapaziös empfunden. 91<br />

Der Film bringt uns dem zu zeigenden Geschehen ständig näher und rückt uns<br />

weiter weg. Er setzt uns durch dieses beständige Hin und Her in eine Wahrnehmungserregung.<br />

Dieses Moment des ständigen Wechsels mit seinen Beschleunigungen<br />

und Verlangsamungen wirken aufmerksamkeitsför<strong>der</strong>nd, stimulierend und<br />

erlebnisför<strong>der</strong>nd. Der Zuschauer setzt sich in seinem Kopf aus den verschiedenen,<br />

unterschiedlich nahen <strong>Ein</strong>stellungen eine <strong>für</strong> ihn plausible Raumvorstellung<br />

zusammen.<br />

Im klassischen Erzählkino sind bestimmte Abfolgen von <strong>Ein</strong>stellungsgrößen<br />

standardisiert worden. Oft wird eine Sequenz durch eine Abfolge von<br />

Total- zu Nahaufnahmen eröffnet, um erst einmal den Schauplatz und seine<br />

Figuren vorzustellen. Das ist wichtig, da <strong>der</strong> Mensch sich stets erst orientieren<br />

muß, bevor er sich an<strong>der</strong>en Dingen zuwenden kann. Der Zuschauer braucht<br />

Informationen über Raum und Zeit, damit er sich orientieren kann. Schneidet man<br />

abwechselnd von einer Halbtotalen eines Autos zu einer Halbtotalen einer<br />

Radfahrerin, so entsteht ohne eine orientierende Totale beim Zuschauer die Angst,<br />

die Radfahrerin könne überfahren werden. So wird durch die Auswahl <strong>der</strong><br />

<strong>Ein</strong>stellungsgrößen und ihren Wechsel etwas dramatisiert, was gar nicht<br />

dramatisch ist. Das Auto kann ja auch das des Ehemannes sein, <strong>der</strong> kurz vor<br />

seiner radfahrenden Ehefrau in die heimatliche Straße einbiegt. Diesen Effekt<br />

kann man sich natürlich umgekehrt auch zu Nutze machen, indem man in<br />

spannenden Szenen dem Zuschauer bewußt eine Orientierung verweigert.<br />

Nähe bedeutet im Film eine Verkleinerung des Ausschnitts und eine<br />

Vergrößerung des Gezeigten. In <strong>der</strong> alltäglichen Wahrnehmung erzielt man diesen<br />

Effekt, indem man sich auf das Objekt zubewegt und ihm seine Aufmerksamkeit<br />

zuwendet. Die Hervorhebung geschieht also durch eigenes Tun. Im Film übernimmt<br />

diese Arbeit das Medium. Die verän<strong>der</strong>te Ausschnittsgröße suggeriert dem<br />

Zuschauer, dem Gezeigten mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, als bei einer<br />

an<strong>der</strong>en Nähe-Distanz-Relation. Das Medium Film selektiert <strong>für</strong> den Zuschauer<br />

aus <strong>der</strong> Vielfalt des zu Sehenden, bringt ihm etwas nahe, zwingt ihm Aufmerksamkeit<br />

ab.<br />

91<br />

Hickethier, K.: Film- und Fernsehanalyse. 3., überarb. Aufl., Stuttgart, Weimar: Metzler 2001,<br />

S. 47<br />

45


Distanz entsteht im Film durch eine Vergrößerung des Ausschnitts und eine<br />

Verkleinerung des Gezeigten. Bil<strong>der</strong> aus großer Nähe, die ein schnelles Geschehen<br />

zeigen, irritieren die Wahrnehmung. Der Zuschauer benötigt zwischendurch<br />

immer wie<strong>der</strong> Überblicke, um sich räumlich orientieren zu können. Aus <strong>der</strong><br />

Distanz erhält er mehr Informationen über eine Situation. Der Wechsel zwischen<br />

Nähe erzeugenden und Distanz haltenden Aufnahmen ist ein Grundprinzip des<br />

Films. 92<br />

Für den Wechsel <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>stellungsgrößen gilt, daß er die Handlung<br />

begleiten, ihr aber nicht vorausgehen soll. Die Kamera darf den Platz nie<br />

wechseln, mit <strong>der</strong> bloßen Absicht, das Folgende vorzubereiten. Wenn eine Person<br />

aufsteht und die Kamera schon vorher von <strong>der</strong> Großaufnahme in die Totale<br />

wechselt, um das Aufstehen einfangen zu können, wird die Handlung durch die<br />

Kameraführung vorhersehbar. 93 Das nimmt die Spannung.<br />

Aber durch den Wechsel <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>stellungsgrößen ist es sogar möglich,<br />

Spannung zu erzeugen. Hitchcock komponiert seine <strong>Ein</strong>stellungen regelrecht.<br />

Über die <strong>Ein</strong>stellungsfolge bei <strong>der</strong> Ermordung des Inspektor Arbogast auf <strong>der</strong><br />

Treppe in PSYCHO (1960) sagt er: „Der (...) hauptsächliche Grund, mit <strong>der</strong> Kamera<br />

so hoch zu gehen, war aber, daß ich einen starken Kontrast wollte zwischen <strong>der</strong><br />

Totale <strong>der</strong> Treppe und <strong>der</strong> Großaufnahme seines Gesichts, wenn ihn das Messer<br />

trifft. Das ist genau wie Musik. Die Kamera oben: Geigen. Und plötzlich groß das<br />

Gesicht: ein Beckenschlag!“ 94 An an<strong>der</strong>er Stelle: „Manchmal habe ich das Gefühl,<br />

ein Dirigent zu sein, ein Trompetenstoß entspricht einer Großaufnahme, und bei<br />

einer Totale denkt man an ein gedämpft spielendes großes Orchester.“ 95<br />

<strong>Ein</strong> Prinzip des <strong>Ein</strong>stellungswechsels, nach dem auch Hitchcock arbeitet,<br />

ist, vom Entferntesten zum Nächsten, vom Größten zum Kleinsten zu gehen. Aber<br />

auch die umgekehrte Vorgehensweise ist interessant: mit Detailaufnahmen<br />

beginnen, die man erst gar nicht in Zusammenhang bringen kann, um dann nach<br />

und nach mit immer größeren <strong>Ein</strong>stellungen aufzuklären, wo man sich befindet.<br />

In Hitchcocks DER FALL PARADIN (1947) sieht man den Gerichtssaal, in dem man<br />

sich schon seit fünfzig Minuten befindet, zum ersten Mal ganz, wenn Gregory<br />

Peck gedemütigt weggeht. Hitchcock wählt die Größe <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> im Verhältnis zu<br />

92 ebd., S. 61<br />

93 Hitchcock in: Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 259ff.<br />

94 Hitchcock in: Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 266<br />

95 Hitchcock in: Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 328<br />

46


ihrem dramatischen und emotionellen Zweck aus, wobei die Totalen den<br />

dramatischen Momenten vorbehalten sind. Er „verschwendet“ eine Totale nicht in<br />

<strong>der</strong> bloßen Absicht, ein Dekor zu zeigen. Er weist darauf hin, daß man das<br />

Polizeirevier nicht zeigen muß, wenn man den Polizeibeamten mit den drei<br />

Streifen auf dem Ärmel angeschnitten im Bild hat. 96<br />

Großaufnahmen sind wichtig, um Emotionen zu zeigen und eine<br />

Identifikation des Publikums mit dem Darsteller zu erreichen. So lange diese<br />

Wirkungen erwünscht sind, darf nicht in totalere <strong>Ein</strong>stellungen umgeschnitten<br />

werden, da die Gefühle des Darstellers so wie<strong>der</strong> relativiert würden.<br />

Stanley Kubricks Horrorfilm SHINING eignet sich als Beispiel, wie man mit<br />

<strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung von <strong>Ein</strong>stellungsgrößen Effekte erzeugt. „Der Film beginnt mit<br />

einer Landschaftstotale und endet mit <strong>der</strong> Großaufnahme eines Gesichts auf einem<br />

Gruppenfoto; fast hat es den Anschein, als sei alles Dazwischenliegende Teil<br />

dieser Bewegungsrichtung, als fliege und fahre die Kamera immer tiefer hinein<br />

und immer näher heran an das rätselhafte Labyrinth <strong>der</strong> Geschichte. Schon <strong>der</strong><br />

anfängliche Kameraflug entwickelt das Gefühl eines Soges (das die vielen<br />

Steadicam-Fahrten später noch verstärken werden), immer näher wird <strong>der</strong> Blick<br />

an das Overlook Hotel herangezogen, bis es schließlich das Bild füllt. Hat die<br />

Familie Torrance ihr Winterquartier erst einmal bezogen, gewährt die Kamera<br />

immer seltener einen Überblick, verläßt kaum noch den Hotelkomplex (zu dem<br />

das Heckenlabyrinth zählt) und betont mit immer kleineren <strong>Ein</strong>stellungsgrößen<br />

die zunehmend klaustrophobische Situation. Gleichzeitig öffnen sich die<br />

visionären Räume: (...)“ 97<br />

6.3 Montagekriterien<br />

Nicht immer passen zwei <strong>Ein</strong>stellungen aneinan<strong>der</strong>. Wenn die Linienführungen<br />

des Bildaufbaus in beiden <strong>Ein</strong>stellungen recht ähnlich verlaufen, hat man das<br />

Gefühl, daß das Bild „springt“. Man spricht dann von einem Konturenfehler. Wir<br />

sind es gewohnt, bei jedem <strong>Ein</strong>stellungswechsel einen völlig neuen Bildinhalt zu<br />

sehen. „Das neue Bild mit seinen verän<strong>der</strong>ten Konturen for<strong>der</strong>t unser Gehirn aufs<br />

Neue heraus, den Inhalt zu identifizieren. Ohne diese Reizerneuerung versagt die<br />

96 Hitchcock in: Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 214ff.<br />

97 Kilb, A., Rother, R. u.a.: Stanley Kubrick. a.a.O., S. 203<br />

47


Erkennungsfunktion, wir sind irritiert und versuchen uns neu zu orientieren. Die<br />

begriffliche Wahrnehmung, die wir angestrebt hatten, ist empfindlich gestört.“ 98<br />

Es sollte stets eine Beziehung zwischen zwei montierten <strong>Ein</strong>stellungen<br />

bestehen. Wichtiges Kriterium ist bei <strong>der</strong> Montage von <strong>Ein</strong>stellungen, daß<br />

Orientierung möglich ist. Die Totale eines Raumes, kombiniert mit Aufnahmen,<br />

auf denen nach dem Prinzip <strong>der</strong> Ausschließlichkeit jeweils ein Sessel, ein Regal,<br />

ein Kamin zu sehen ist, verwirren nur. Man benötigt Verbindungseinstellungen, in<br />

denen die räumliche Beziehung <strong>der</strong> Gegenstände zueinan<strong>der</strong> deutlich wird. Die<br />

räumliche Überlappung von einer <strong>Ein</strong>stellung zur an<strong>der</strong>en ist ein wesentliches<br />

Element, um Orientierung zu ermöglichen. In <strong>der</strong> Realität bauen wir mit sehr<br />

schnellen, orientierenden Rundumblicken einen Horizont in unserem Gehirn auf,<br />

alle weiteren Wahrnehmungen werden automatisch durch diesen Horizont<br />

verbunden. Bei <strong>der</strong> <strong>Filmgestaltung</strong> sollte man versuchen, diesen Prozeß zu<br />

simulieren. 99 <strong>Ein</strong>e Bildfolge, wie Kirchturm – Radfahrer – Entenfamilie wirkt<br />

ohne eine eingeschobene Verbindungseinstellung, in <strong>der</strong> man sieht, wie die<br />

Elemente angeordnet sind, auf den Zuschauer wie ein Bil<strong>der</strong>rätsel. Gleichwohl<br />

kann man mit <strong>der</strong> Erfahrung des Zuschauers arbeiten, <strong>der</strong> sich beispielsweise aus<br />

den Elementen Topf, Herd und Spüle ohne Weiteres die begriffliche Orientierung<br />

„Küche“ erschließt. 100<br />

Zum Thema Montage sollte man wissen, daß <strong>der</strong> Mensch alles, was er<br />

sieht, zueinan<strong>der</strong> in Beziehung setzt. Fügt man <strong>Ein</strong>stellungen aneinan<strong>der</strong>, die<br />

keine Handlung gemein haben, keinen gemeinsamen Raum, keine Ähnlichkeit,<br />

sind wir doch von einem Zusammenhang nahestehen<strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> überzeugt. Wenn<br />

wir ihn nicht gleich erkennen, probiert unser Gehirn alle nur möglichen Formen<br />

<strong>der</strong> Verbindung zwischen zwei Objekten aus, um doch noch einen Zusammen-<br />

hang zu entdecken. Dies ist die Grundlage <strong>für</strong> die Assoziationsmontage. Die<br />

Bildfolge Auspuff, Regen, toter Wald, läßt, abhängig von Bildungsstand und<br />

Kulturkreis, die Bedeutung „saurer Regen“ entstehen. 101<br />

Die berühmteste Montage <strong>der</strong> Filmgeschichte fügt Geschehnisse<br />

aneinan<strong>der</strong>, die 2,5 Millionen Jahre auseinan<strong>der</strong>liegen: in Kubricks 2001 wird von<br />

einem Knochen, den ein Affe in <strong>der</strong> Vorzeit gen Himmel geworfen hat, direkt auf<br />

98<br />

Kerstan, P.: Der journalistische Film. a.a.O., S.154ff.<br />

99<br />

ebd., S. 158ff.<br />

100<br />

ebd., S. 162ff.<br />

101<br />

ebd., S. 162ff.<br />

48


ein Raumschiff im Weltall geschnitten. Unendlich viele technologische<br />

Entwicklungsschritte werden hier in nur zwanzig Sekunden Filmzeit<br />

zusammengefaßt. <strong>Ein</strong> ebenfalls sehr origineller Schnitt findet sich in Kubricks<br />

LOLITA (1962). Die Großaufnahme des hübschen Mädchens geht direkt in die<br />

Fratze von Frankensteins Monster über. Wie sich dann herausstellt, handelt es<br />

sich hier um eine Aufnahme <strong>der</strong> Leinwand im Autokino, wo Lolita und ihre<br />

Mutter um Humbert Humberts Gunst duellieren. Auf diese elegante Art weist<br />

Kubrick darauf hin, wer hier das eigentliche Ungeheuer ist. 102<br />

6.4 Continuity System<br />

auch: Klassischer Hollywoodstil, découpage classique, unsichtbare Montage<br />

Im kommerziellen Film soll die Aufmerksamkeit des Publikums vollständig auf<br />

den Inhalt <strong>der</strong> Geschichte, den Handlungsverlauf und die Charaktere gelenkt<br />

werden. Daher müssen all jene Aspekte des Films, die auf die technische<br />

Fertigung o<strong>der</strong> auf die Künstlichkeit <strong>der</strong> Filmwelt hindeuten, unbemerkt bleiben.<br />

Die wichtigsten Ziele des kommerziellen Films sind: Identifikation mit den<br />

dargestellten Figuren und Situationen und die damit einhergehende<br />

Emotionalisierung des Publikums. Jede technische Auffälligkeit führt von diesen<br />

Zielen weg. Um diese störungsfreie Vermittlung <strong>der</strong> Geschichte zu gewährleisten,<br />

haben sich Konventionen filmischer Darstellung herausgebildet, die solch eine<br />

reibungsfreie Vermittlung des Inhalts unterstützen. Diese Konventionen waren in<br />

ihren Grundmustern bereits in den dreißiger Jahren als dominante Erzählweise<br />

ausgeprägt. 103 Im Folgenden wird dargestellt, wie eine Szene nach dem Continuity<br />

System üblicherweise montiert ist:<br />

<strong>Ein</strong>geleitet wird die Szene durch einen Establishing Shot, das ist die<br />

bildliche Vorstellung des Handlungsortes. Als <strong>Ein</strong>stellungsgrößen werden<br />

Panoramaeinstellungen o<strong>der</strong> Totalen verwendet. Panoramaeinstellungen zeigen<br />

oft die Ansicht einer Stadt, in <strong>der</strong> die Handlung spielen soll. Bei einigen Serien,<br />

wie z.B. David E. Kelleys ALLY MCBEAL (1997) ist das die Ansicht <strong>der</strong> Stadt New<br />

York von Seeseite aus (auch nach dem 11.9.2001 sah man die Zwillingstürme,<br />

was gar nicht im Sinne des Continuity Systems war, da es auf die künstliche<br />

Gemachtheit <strong>der</strong> Serie verwies). Totalen zeigen dann entsprechend die Ansicht<br />

eines Hauses. Establishing Shots sind recht kurz, da sie nur zur Orientierung<br />

102 Kilb, A., Rother, R. u.a.: Stanley Kubrick. a.a.O., S. 113<br />

103 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 72<br />

49


dienen sollen. „Genau dies ist ein wichtiges Ziel <strong>der</strong> unsichtbaren Montage. Die<br />

Zuschauerinnen und Zuschauer müssen je<strong>der</strong>zeit wissen, wo sie sich in <strong>der</strong><br />

erzählten Welt befinden. Jede Art <strong>der</strong> Verwirrung o<strong>der</strong> Unsicherheit würde sie aus<br />

<strong>der</strong> Handlung reißen und die Identifikationsangebote zerstören.“ 104<br />

Dem Establishing Shot folgt ein Umschnitt nach innen. Aus <strong>der</strong> Bildfolge<br />

außen - innen schließt <strong>der</strong> Zuschauer, daß sich das Folgende in dem Gebäude<br />

abspielt, welches gerade gezeigt wurde. Diese erste <strong>Ein</strong>stellung im Innenraum<br />

heißt Master Shot. Auch sie dient <strong>der</strong> Orientierung. In <strong>der</strong> Totalen o<strong>der</strong> Halbtotalen<br />

wird <strong>der</strong> Raum und die Personenkonstellation eingefangen. Oft beginnt die<br />

Szene mit dem <strong>Ein</strong>tritt einer Figur in den Handlungsraum. „Dieses theaterhafte<br />

Element bedeutet ebenfalls eine Rückversicherung an den Zuschauer: Sie haben<br />

noch keine wichtigen Informationen verpasst. Die geschil<strong>der</strong>te Situation bleibt<br />

nachvollziehbar.“ 105<br />

Die dritte <strong>Ein</strong>stellung ist <strong>der</strong> Cut In, meist in den <strong>Ein</strong>stellungsgrößen<br />

Amerikanisch o<strong>der</strong> Halbnah gedreht. Nachdem <strong>der</strong> Handlungsort etabliert ist,<br />

rückt jetzt zunehmend <strong>der</strong> Inhalt des Gesprächs, das die Protagonisten führen, in<br />

den Mittelpunkt des Interesses.<br />

Die vierte <strong>Ein</strong>stellung im Continuity System wäre etwa eine halbnahe o<strong>der</strong><br />

nahe <strong>Ein</strong>stellung eines Protagonisten bei <strong>der</strong> Unterhaltung. Es folgt die Auflösung<br />

<strong>der</strong> Unterhaltung in Schuß-Gegenschuß-Manier o<strong>der</strong> over the shoul<strong>der</strong> shot-<br />

Verfahren. Nach einer gewissen Anzahl von Naheinstellungen wird es notwendig,<br />

dem Zuschauer eine Information zu liefern, ob sich an den äußeren Bedingungen<br />

etwas geän<strong>der</strong>t hat.<br />

Es folgt <strong>der</strong> Cut Back, <strong>der</strong> Schnitt zurück auf eine raumgreifen<strong>der</strong>e<br />

<strong>Ein</strong>stellung. Das kann die halbtotale des Cut In o<strong>der</strong> die Totale des Master Shot<br />

sein. Oft ist hiermit eine Positionsverän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Figuren im Raum verbunden:<br />

ein Schritt an die Hausbar, neue Gesprächspartner betreten den Raum, jemand<br />

verläßt den Raum. Diese Tatsachen sind typische Motivationen <strong>für</strong> einen Cut<br />

Back. Auch wenn die Szene beendet werden soll, wird diese <strong>Ein</strong>stellung gewählt,<br />

die Kamera entfernt sich von den Protagonisten, um die Szene abzuschließen und<br />

den Übergang zur nächsten vorzubereiten.<br />

Außerdem wird beim Continuity System die 180°-Regel eingehalten.<br />

Dabei ist die Kamera auf einer Seite des Geschehens positioniert und die Akteure<br />

104 ebd., S. 72<br />

105 ebd., S. 73<br />

50


auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. Die gedachte Linie zwischen den Akteuren, die sogenannte<br />

Handlungsachse, darf nicht übersprungen werden. Auf <strong>der</strong> einen Seite <strong>der</strong> Linie<br />

sind die Kamerapositionen völlig variabel, nach einer Daumenregel muß <strong>der</strong><br />

Wechsel des Kamerawinkels jedoch mindestens 30° betragen, sonst scheint das<br />

Bild zu „springen“ und es entsteht <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>druck eines Anschlußfehlers. Wird die<br />

Handlungsachse übersprungen, spricht man vom Achsensprung. Die Folge ist, daß<br />

sich die Links-Rechts-Verhältnisse verdrehen. Zeigt eine <strong>Ein</strong>stellung einen von<br />

links nach rechts durch das Bild fahrenden Zug, und die Kamera wechselt dann<br />

auf die an<strong>der</strong>e Seite <strong>der</strong> Schienen, so fährt <strong>der</strong> Zug im Bild nun von rechts nach<br />

links. <strong>Ein</strong> Positionswechsel <strong>der</strong> Kamera im Raum ist gewöhnlich durch Bewegungen<br />

<strong>der</strong> Akteure o<strong>der</strong> Objekte motiviert, denen die Kamera folgt.<br />

Ziel des Continuity Systems ist, daß zu verschiedenen Zeiten, an<br />

verschiedenen Orten aufgenommene Sequenzen möglichst wie aus einem Guß<br />

wirken sollen. Es werden eigens Mitarbeiter da<strong>für</strong> abgestellt, darauf zu achten,<br />

daß es keine Anschlußfehler gibt, <strong>der</strong> Schauspieler also nicht in <strong>der</strong> einen Szene<br />

schwarze Schuhe, in <strong>der</strong> nächsten plötzlich braune anhat. Das Continuity System<br />

ist vergleichbar mit dem dramatischen Theater, es geht um <strong>Ein</strong>fühlen und<br />

Miterleben. Man weint mit den Weinenden und lacht mit den Lachenden. Aber es<br />

gibt auch Regisseure, die eher die Ziele des epischen Theaters verfolgen und<br />

bewußt gegen die Regeln des klassischen Erzählkinos verstoßen. Anstelle von<br />

<strong>Ein</strong>fühlung steht Erkenntnisgewinn. Unter Umständen lacht man mit den<br />

Weinenden und weint über die Lachenden. In Stanley Kubricks FULL METAL<br />

JACKET (1987) liegt <strong>der</strong> Soldat „Cowboy“ mal auf <strong>der</strong> einen, mal auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Seite des Ganges, je nachdem wo er gerade gebraucht wird, um die Handlung<br />

voranzutreiben. 106 Ähnlich wie Brecht in seinem Modell des epischen Theaters<br />

präsentiert Kubrick keine perfekte Illusion, son<strong>der</strong>n baut solche Verfremdungseffekte<br />

ein, um den Zuschauer auf Distanz zu halten.<br />

6.5 Assoziationsmontage<br />

Grundlage <strong>für</strong> die Assoziationsmontage ist die Erkenntnis des Regisseurs Lew<br />

Wladimirowitsch Kuleschow, daß ein Bild A und ein Bild B in <strong>der</strong> direkten<br />

Konfrontation zu einer neuen Assoziation C führt.<br />

106 Kilb, A., Rother, R. u.a.: Stanley Kubrick. a.a.O., S. 282<br />

51


<strong>Ein</strong>es seiner Experimente nannte er „Schöpferische Geographie“. „<strong>Ein</strong> Mann und<br />

eine Frau werden jeweils an unterschiedlichen Orten in Moskau aufgenommen.<br />

Der Mann geht von rechts nach links, die Frau in die umgekehrte Richtung. Beide<br />

lächeln. In einer dritten <strong>Ein</strong>stellung begegnen sie sich - wie<strong>der</strong>um an einer<br />

an<strong>der</strong>en Stelle Moskaus -, geben sich die Hand und schauen beide in dieselbe<br />

Richtung außerhalb des Bildes. Diese drei <strong>Ein</strong>stellungen wurden kurz<br />

hintereinan<strong>der</strong> geschnitten und durch eine vierte Aufnahme - das weiße Haus in<br />

Washington - ergänzt. Die Wirkung ist verblüffend. Die reale Topografie wird<br />

durch die Zusammenstellung des Filmmaterials auf den Kopf gestellt. Der<br />

Betrachter hat den <strong>Ein</strong>druck, weit voneinan<strong>der</strong> entfernte Moskauer Gebäude<br />

rückten zusammen und das Weiße Haus stehe in Moskau.“ 107<br />

Der Regisseur Spike Jonze baute seinen Film BEING JOHN MALCOVICH<br />

(1999) vollständig auf <strong>der</strong> Methode <strong>der</strong> schöpferischen Geographie auf.<br />

Im 12 ½ ten Stockwerk eines Hochhauses existiert eine Tür, durch die man direkt<br />

in das Bewußtsein John Malcovichs gelangt. Durch die Kombination mit <strong>der</strong><br />

subjektiven Kamera wird <strong>der</strong> Plot „glaubwürdig“. Dieser Film ist ein gutes<br />

Beispiel, wie das Wissen um filmische Verfahrensweisen ein Millionenbudget<br />

ersetzen kann. Filme nach einem solchen Strickmuster kann man auch leicht im<br />

Amateurbereich drehen.<br />

In seinem berühmtesten Experiment kombinierte Lew Kuleschow immer<br />

die selbe Nahaufnahme des russischen Schauspielers Iwan Mossuchin, in <strong>der</strong><br />

dieser neutral blickt, mit an<strong>der</strong>en Bil<strong>der</strong>n, die in keiner Verbindung zur ersten<br />

Aufnahme standen. In <strong>der</strong> Kombination mit einem Teller Suppe assoziierten seine<br />

Studenten: Mossuchin hat Hunger. Die Kombination Mossuchin mit einem Sarg<br />

führte zur Assoziation Trauer, während die Verbindung Mossuchin mit einer<br />

halbentblößten schlafenden Frau eine erotische Grundstimmung evozierte. Zwei<br />

disparate Bil<strong>der</strong> in <strong>der</strong> direkten Kombination miteinan<strong>der</strong> können eine bestimmte<br />

Aussage o<strong>der</strong> Assoziation beim Betrachter erzielen. Diese bedeutsame Erkenntnis<br />

wurde nach seinem Erfin<strong>der</strong> als „Kuleschow-Effekt“ benannt.<br />

Die Erkenntnis, daß ein Bild A und ein Bild B zu einer neuen Assoziation<br />

C führen kann, beherrschte das Montageprinzip des russischen Revolutionsfilms.<br />

Sergej Eisenstein wandte die Assoziationsmontage erstmals in seinem Debütfilm<br />

STREIK (1924) an. Die Filmhandlung wird durch Bil<strong>der</strong> unterbrochen, die <strong>für</strong> die<br />

107 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 64<br />

52


kontinuierliche Erzählung nicht unmittelbar relevant sind. Eisenstein kombinierte<br />

beispielsweise dokumentarische Aufnahmen von <strong>der</strong> Schlachtung eines Rindes<br />

mit inszenierten Szenen von <strong>der</strong> blutigen Nie<strong>der</strong>schlagung einer Arbeiterdemonstration<br />

durch zaristische Kavallerie. Die Verbindung von inszenierten und<br />

dokumentarischen Handlungen hebt zwar die Linearität <strong>der</strong> Handlung auf, wirkt<br />

aber auf das Publikum nicht verwirrend. Es steigert die Emotionalisierung und<br />

Polarisierung des Publikums in <strong>der</strong> Absicht, es <strong>für</strong> die revolutionären Ziele des<br />

Sozialismus einzunehmen. 108 In den Revolutionsfilmen <strong>der</strong> zwanziger Jahre<br />

bedeutete die Bildfolge Melone, Zigarre und dicker Bauch „Kapitalist“, wollte<br />

man ausdrücken, daß Produktionsmittel in falscher Hand sind, kombinierte man<br />

die Bil<strong>der</strong> rauchen<strong>der</strong> Schornstein, schwitzende Arbeiter und saufen<strong>der</strong> Kapitalist.<br />

Eisenstein trieb die Assoziationsmontage immer weiter voran, mit dem Ziel, einen<br />

rein intellektuellen Film zu erschaffen, <strong>der</strong> direkte Formen <strong>für</strong> Gedanken, Systeme<br />

und Begriffe erzielt, was das Publikum jedoch teilweise überfor<strong>der</strong>te. 109<br />

Unterschiedliche Gesellschaftsschichten bilden jeweils unterschiedliche<br />

Assoziationen zu demselben Thema. Das mußte Eisenstein feststellen, als er in<br />

seinem Film OKTOBER (1927) die Idee vermitteln wollte, das aufständische Volk<br />

werde abgeschlachtet wie Vieh. Dazu hatte er Kampfszenen mit Bil<strong>der</strong>n aus dem<br />

Schlachthof vermischt. Diese Metapher war jedoch nur bei bourgeoisen<br />

Zuschauern wirksam. Seine proletarische Zielgruppe reagierte darauf ganz an<strong>der</strong>s.<br />

Das Schlachten von Ochsen war <strong>für</strong> diese armen Leute ein Zeichen von Reichtum<br />

und Wohlstand, was nicht mit dem grausigen Geschehen vor dem Winterpalais in<br />

Verbindung zu bringen war. 110<br />

In DEUTSCHLAND NEU(N) NULL (1991) bildet Jean-Luc Godard regelrechte<br />

intellektuelle Assoziationsketten. <strong>Ein</strong> Verstehen ist nur bei Informiertheit über die<br />

deutsche Geschichte möglich, das Publikum muß außerdem eigene Schlüsse<br />

ziehen. 111 Solche Filme spielen nur eine kleine, untergeordnete Rolle, Film ist<br />

meist reine Unterhaltungsware.<br />

108 ebd., S. 64ff.<br />

109 ebd., S. 67<br />

110 Kerstan, P.: Der journalistische Film. a.a.O., S. 165<br />

111 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 70ff.<br />

53


6.6 Montagesequenz<br />

In <strong>der</strong> Montagesequenz ist die Erzählzeit nicht gleich erzählter Zeit, son<strong>der</strong>n<br />

schnell montierte Bil<strong>der</strong> und Töne stellen einen größeren Zusammenhang dar.<br />

Man unterscheidet die beschreibende von <strong>der</strong> zusammenfassenden Montagesequenz.<br />

In <strong>der</strong> beschreibenden Montagesequenz sind Bil<strong>der</strong> nach dem Kriterium<br />

des Typischen ausgewählt. Die Kombination von Bil<strong>der</strong>n mit hohem Wie<strong>der</strong>erkennungswert<br />

soll eine Situation o<strong>der</strong> Stimmung beschreiben. Das nächtliche<br />

Großstadtleben New Yorks kann folgen<strong>der</strong>maßen montiert werden: Leuchtreklamen<br />

am Broadway, Menschen auf <strong>der</strong> Straße, die sich amüsieren, Taxifahrer,<br />

Schlangen vor den Kinokassen, volle Restaurants. Diese Montagesequenz<br />

vermittelt einen Gesamteindruck und evoziert eine gewisse Stimmung beim<br />

Publikum. 112 Den Zusammenhalt <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> signalisiert oft eine musikalische<br />

Klammer.<br />

In <strong>der</strong> zusammenfassenden Montagesequenz werden größere Handlungszusammenhänge<br />

filmisch gestaltet. Das kann eine große Reise sein o<strong>der</strong> das<br />

Verstreichen von Lebensjahren. Für die Auswahl <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> ist wie<strong>der</strong> das<br />

Element des Typischen von Bedeutung. Für eine Reise würde man eine Reihe von<br />

Postkartenansichten aneinan<strong>der</strong> reihen, <strong>für</strong> das Verstreichen von Lebensjahren<br />

beispielsweise Zeitungsüberschriften. Angewandt wird dies in Coppolas DER PATE<br />

(1971) o<strong>der</strong> auch in Orson Welles` CITIZEN KANE. Dort werden außerdem Früh-<br />

stücksszenen aus dem ganzen Eheleben <strong>der</strong> Kanes so montiert, daß es wie ein<br />

Frühstück wirkt, <strong>der</strong> Dialog scheint durchgehend zu sein. Die Aufmerksamkeit<br />

des Publikums darf nicht durch das Interpretieren mehrdeutiger Bil<strong>der</strong> vom<br />

zentralen Konflikt abgelenkt werden, jede Ambivalenz muß vermieden werden.<br />

Die Vermittlung <strong>der</strong> Handlung und die emotionale <strong>Ein</strong>bindung des Publikums<br />

stehen im Vor<strong>der</strong>grund. 113 Die vorherrschende <strong>Ein</strong>stellungskonjunktion ist die<br />

Überblendung, das filmgrammatische Zeichen <strong>für</strong> einen Zeitsprung o<strong>der</strong><br />

Ortswechsel.<br />

6.7 Parallelmontage<br />

In <strong>der</strong> Parallelmontage wechseln sich zwei o<strong>der</strong> mehr Handlungsebenen ständig<br />

ab, so daß sie vom Publikum in Verbindung gebracht werden. Sie wird häufig zur<br />

112 ebd., S. 76<br />

113 ebd., S. 78<br />

54


Erzeugung von Spannung eingesetzt, wobei die verschiedenen Erzählstränge<br />

aufeinan<strong>der</strong> zulaufen, um sich dann in einem gemeinsamen Spannungshöhepunkt<br />

zu entladen.<br />

In Spielbergs JURASSIC PARK (1993) wird in vier Minuten zwischen drei<br />

Handlungssträngen siebenundzwanzig Mal hin- und hergeschnitten, nämlich als<br />

Ellie die Sicherheit im Park wie<strong>der</strong>herstellen will und damit Dr. Grant und die<br />

Kin<strong>der</strong> gefährdet. Die wollen über den Elektrozaun klettern, <strong>der</strong> bald von Ellie<br />

wie<strong>der</strong> unter Strom gesetzt werden wird. Durch die Parallelmontage weiß das<br />

Publikum mehr als beide Seiten, dadurch entsteht eine spezielle Form <strong>der</strong><br />

Spannung, <strong>der</strong> Suspense. Der Begriff geht auf Hitchcock zurück und meint die<br />

Spannungserzeugung, die dadurch entsteht, daß das Publikum mit Informationen<br />

versorgt wird, die <strong>der</strong> Protagonist nicht hat, aber dringend bräuchte. Auch <strong>für</strong> den<br />

Wechsel <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>stellungsgrößen wird hier ein konventionelles Muster verwendet:<br />

Mit zunehmen<strong>der</strong> Dramatik wird <strong>der</strong> Bildraum immer enger, bis nur noch Groß-<br />

und Detailaufnahmen von den angespannten Gesichtern und den zahlreichen<br />

Schaltern, die Ellie nach und nach umlegt, vorherrschend sind.<br />

6.8 Plansequenz<br />

„Als eine beson<strong>der</strong>e Alternative zur konventionellen filmischen Auflösung einer<br />

Handlung durch Schnitte gilt die Plansequenz. Sie ist durch eine überdurchschnittlich<br />

lange Dauer definiert und durch die relative Kompliziertheit <strong>der</strong> Kameraoperationen<br />

zu ihrer Realisierung.“ 114 Innerhalb eines Handlungssegments wird<br />

auf Schnitte verzichtet, so daß das Geschehen vor und mit <strong>der</strong> Kamera genau<br />

choreographiert werden muß. Personen bewegen sich mitunter durch Räume mit<br />

unterschiedlichen Lichtverhältnissen, die Handlung kann einen Wechsel <strong>der</strong><br />

<strong>Ein</strong>stellungsgrößen notwendig machen, so daß ein enormer Planungsaufwand<br />

entsteht.<br />

Hitchcocks COCKTAIL FÜR EINE LEICHE besteht aus acht zehnminütigen<br />

Plansequenzen und ist wohl das berühmteste Beispiel <strong>für</strong> diese Art <strong>der</strong><br />

Filmauflösung. Es ist, abgesehen vom Experimentalfilmbereich, <strong>der</strong> einzige<br />

Versuch in <strong>der</strong> Filmgeschichte, über die gesamte Spielfilmlänge auf jeden Schnitt<br />

zu verzichten. Doch die Plansequenz wird hin und wie<strong>der</strong> als ein Gestaltungsmittel<br />

unter an<strong>der</strong>en eingesetzt.<br />

114 ebd., S. 86<br />

55


In Brian De Palmas FEGEFEUER DER EITELKEITEN (1990) übernimmt die Planse-<br />

quenz eine dramaturgische und erzählerische Funktion. Der Journalist Peter<br />

Fallow (Bruce Willis) wird beim <strong>Ein</strong>treffen seines Wagens von einer aufgeregten<br />

Journalistengruppe erwartet. Die unentwegt daherplappernde Organisatorin macht<br />

sich mit dem schwer alkoholisierten Fallow auf den Weg zu einem großen,<br />

festlichen Ereignis, bei dem er offenbar im Mittelpunkt stehen soll. Die Kamera<br />

folgt ihm, teil vor, teils hinter ihm fahrend, durch endlose Flure, in den Aufzug<br />

und über weitere Flure, über die er torkelt, während um ihn herum helle Aufregung<br />

herrscht, an ihm gezerrt wird und ihm sogar noch ein neues Oberhemd<br />

angezogen wird. Fallow verhält sich dabei apathisch und arrogant. Als Fallow auf<br />

<strong>der</strong> Bühne steht, setzt ein erläutern<strong>der</strong> Kommentar Fallows ein, erst dann folgt <strong>der</strong><br />

erste Schnitt. Die fast fünfminütige Plansequenz am Anfang des Films ist eine Art<br />

Prolog, <strong>der</strong> uns ohne filmisches Interpunktionszeichen in die Handlung hineinziehen<br />

will. Durch die lang andauernde und fließende Bewegung <strong>der</strong> Kamera, fällt es<br />

schwer, den Blick abzuwenden und sich dem Bil<strong>der</strong>fluß zu entziehen. Dieselbe<br />

<strong>Ein</strong>stellung eröffnet ständig neue Ansichten und Perspektiven, man erfährt immer<br />

etwas mehr und beginnt, nach und nach die dargestellte Situation zu verstehen.<br />

„Ähnlich wie <strong>der</strong> Protagonist von den aufgeregten Veranstaltern des Abends zu<br />

seinem Auftritt halb geführt und halb gezerrt wird, werden wir von <strong>der</strong> Kamera<br />

durch das Geschehen geleitet. Die Plansequenz fesselt unseren Blick, während wir<br />

gleichzeitig in die Fiktion eingeführt werden. Ziel ist es, das Publikum am Ende<br />

dieser langen <strong>Ein</strong>stellung schon so weit in die fiktive Welt verstrickt zu haben,<br />

daß es <strong>der</strong> Handlung dann gespannt folgt.“ 115<br />

6.9 Überleitungen<br />

Die häufigste Überleitung von einem Stück Film zum an<strong>der</strong>en ist <strong>der</strong> Schnitt.<br />

Daneben gibt es an<strong>der</strong>e Überleitungen, die spezifische Bedeutungen haben.<br />

<strong>Ein</strong>e beson<strong>der</strong>s elegante Überleitung ist <strong>der</strong> Match Cut. Zwei räumlich<br />

und/o<strong>der</strong> zeitlich getrennte <strong>Ein</strong>stellungen werden miteinan<strong>der</strong> verbunden, indem<br />

durch eine visuelle Parallele im Bild o<strong>der</strong> eine Bewegung Entsprechungen o<strong>der</strong><br />

Ähnlichkeiten hervorgehoben werden. 116 Die Ansicht einer Frau, die tagsüber<br />

Auto fährt könnte mit <strong>der</strong> Ansicht <strong>der</strong>selben, autofahrenden Frau bei Nacht<br />

gekoppelt werden. Die beiden <strong>Ein</strong>stellungen würde man mit einer Überblendung<br />

115 ebd., S. 88<br />

116 ebd., S. 79<br />

56


versehen und schon entstünde die Aussage, die Frau sei den ganzen Tag, bis in die<br />

Nacht hinein, Auto gefahren. Das gemeinsame Bildelement nennt man Matching<br />

Element. In Robert Altmans SHORT CUTS (1993) gibt es einige solcher Match<br />

Cuts. Die Geschichten <strong>der</strong> zweiundzwanzig Protagonisten sind mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

locker miteinan<strong>der</strong> verwoben. Endet eine Sequenz beispielsweise damit, daß ein<br />

Protagonist eine Tür öffnet und im Begriff ist, den Raum zu verlassen, ist das<br />

Anfangsbild <strong>der</strong> nächsten Sequenz die Ansicht einer Tür, durch die gerade ein<br />

an<strong>der</strong>er Protagonist herauskommt. <strong>Ein</strong> Beispiel, in dem die Kamerabewegung als<br />

Matching Element dient, ist Russell Mulcahys HIGHLANDER (1986). Die Kamera<br />

bewegt sich in einer Tiefgarage in New York langsam nach oben, scheinbar durch<br />

die Decke hindurch, fährt weiter aufwärts und kommt schließlich hinter einem<br />

Hügel in Schottland hervor, wo sie eine Landschaft in <strong>der</strong> Totalen einfängt. Der<br />

Match Cut überspringt Raum- und Zeitbarrieren und weist auf Gemeinsamkeiten<br />

<strong>der</strong> unterschiedlichen Handlungsstränge hin.<br />

Das Gegenprinzip zum flüssigen Match Cut ist <strong>der</strong> Jump Cut. Als Jump<br />

Cut bezeichnet man technisch-gestalterische Vorgänge, die als Effekt die Störung<br />

des als kontinuierlich wahrgenommenen Filmerlebens beabsichtigen. 117 Aus einer<br />

durchgängig abgefilmten Bewegung wird beispielsweise ein Stück herausge-<br />

schnitten, mit dem Ergebnis, daß das Bild „springt“. Jean-Luc Godard benutzt<br />

diese Montageform in AUSSER ATEM. Ebenso wird <strong>der</strong> unvermittelte Übergang von<br />

einer Schuß-Gegenschuß-Sequenz in eine an<strong>der</strong>e als Jump Cut bezeichnet, das<br />

heißt, wenn Person A an Person B eine Frage stellt und in <strong>der</strong> Folgeeinstellung<br />

Person C auf diese Frage zu antworten scheint. Der Jump Cut wendet sich gegen<br />

Standards und Ziele des Continuity Systems. Jedoch wird <strong>der</strong> Jump Cut auch in<br />

klassisch erzählten Filmen eingesetzt. Als dramaturgisch beabsichtigter Effekt<br />

kann er hier Schockmomente, (Alb-)Träume, Phantasien und Rauschzustände<br />

darstellen. 118<br />

Die Überblendung ist das allmähliche Abblenden eines Bildes bei<br />

gleichzeitigem Aufblenden eines zweiten. Das erste Bild verblaßt, während<br />

gleichzeitig das Bild <strong>der</strong> nächsten <strong>Ein</strong>stellung immer deutlicher wird. Die<br />

Überblendung ist im Normalfall als deutlicher <strong>Ein</strong>griff merklich. Es wird ein<br />

Augenblick gezeigt, <strong>der</strong> uns auf die Gleichzeitigkeit verschiedener Situationen<br />

hinweist. Dieses Mittel wird häufig <strong>für</strong> die Aussage „zur selben Zeit, an einem<br />

117 ebd., S. 80<br />

118 ebd., S. 80<br />

57


an<strong>der</strong>en Ort“ verwendet. Es kann auf das Vergehen von Zeit, ebenso wie auf<br />

Rückblenden und subjektive Bil<strong>der</strong> wie z.B. Traumsequenzen hindeuten. Die<br />

Überblendung zählt, wie die meisten an<strong>der</strong>en Blenden auch, zu den<br />

<strong>Ein</strong>stellungsverbindungen und ist ein filmisches Interpunktionsmittel. 119<br />

Bei <strong>der</strong> Aufblende erscheint das Bild allmählich aus einem schwarzen o<strong>der</strong><br />

monochrom gefärbten Grund. Sie ist vergleichbar mit einer Kapitelüberschrift im<br />

Buch. Die Aufblende signalisiert den Beginn einer filmischen <strong>Ein</strong>heit.<br />

Bei <strong>der</strong> Abblende wird das Bild langsam und stetig abgedunkelt, bis hin zum<br />

einheitlichen Schwarz o<strong>der</strong> einer monochromen Farbe. Sie signalisiert das Ende<br />

einer filmischen <strong>Ein</strong>heit.<br />

Heutzutage fügt man die Blenden am Computer mit Hilfe des digitalen<br />

Videoschnittprogramms ein. Diese Programme verfügen in <strong>der</strong> Regel über rund<br />

achtzig Trickblenden. In <strong>der</strong> Regel kommt man jedoch mit diesen drei Blenden<br />

aus. Teilweise ist <strong>der</strong> filmsprachliche Sinn <strong>der</strong> angebotenen Blenden nur schwer<br />

zu erkennen.<br />

6.10 Titel<br />

Manchmal sind Filme in verschiedene Episoden aufgeteilt, die mit Titeln<br />

gekennzeichnet sind. In Tarantinos PULP FICTION (1994) gibt es drei solcher<br />

Episoden: „Die Bonnie Situation“, „Vincent Vega und Marsellus Wallaces Frau“<br />

und „Die goldene Uhr“. Durch die Titel wird dem Zuschauer signalisiert, daß eine<br />

neue Episode beginnt, um Verwirrung zu vermeiden.<br />

Aber Zwischentitel dienen nicht immer <strong>der</strong> Information; auch mit ihnen<br />

kann man spezielle Effekte erzielen. In SHINING steuert Kubrick mit ihrer Hilfe die<br />

Zeiterfahrung, eine zunächst suggerierte Klarheit löst sich auf und wird ad<br />

absurdum geführt. Die Titel am Anfang lauten „Die Bewerbung“, „Letzter Tag<br />

<strong>der</strong> Saison“, „<strong>Ein</strong> Monat später“ und dienen dem Zuschauer zur Orientierung.<br />

Doch die darauf folgenden Titel „Dienstag“, „Samstag“, „Montag“, „Mittwoch“<br />

und „vier Uhr nachmittags“ helfen dem Zuschauer nicht, den zeitlichen Ablauf zu<br />

begreifen, son<strong>der</strong>n mit ihrer Hilfe wird ebenfalls das Gefühl eines Strudels o<strong>der</strong><br />

Soges erzeugt, <strong>der</strong> uns immer mehr in die wahnsinnigen Ereignisse des Overlook<br />

Hotels hineinzieht.<br />

119 Stichwort: Blende II in: Wulff, H.J., Ben<strong>der</strong>, T. (Hrsg.): Lexikon <strong>der</strong> Filmbegriffe. Online im<br />

Internet unter: http://www.ben<strong>der</strong>-verlag.de/lexikon/suche<br />

58


B Auditive Gestaltungsmittel<br />

7. Ton<br />

Die Töne, die die Bil<strong>der</strong> eines Films begleiten, beeinflussen unser Verständnis <strong>der</strong><br />

Bil<strong>der</strong> sehr stark. Das Hörerlebnis eines Films kann uns in eine bestimmte<br />

Richtung lenken. Der Ton verän<strong>der</strong>t die Darstellung und Rezeption räumlicher<br />

Situationen. Er verleiht dem Filmbild, etwa durch Staffelung von leisen<br />

Hintergrundgeräuschen und akzentuierten Dialogen, eine akustisch wahrnehmbare<br />

Tiefe. Im professionellen Film arbeiten stellenweise bis zu 150 Menschen am<br />

Sounddesign. Auch <strong>der</strong> Stummfilm war nie stumm. Er wurde von einem<br />

Pianisten, einem kleinen Ensemble o<strong>der</strong> sogar einem Sinfonieorchester begleitet.<br />

Außerdem gab es einen Kinoerzähler, <strong>der</strong>, neben <strong>der</strong> Leinwand stehend, die<br />

Zwischentitel vorlas, den jeweiligen Sprachduktus eines Dialogs imitierte und die<br />

atmosphärische Stimmung des Films durch entsprechende Kommentare<br />

verstärkte. 120<br />

Die auditiven Gestaltungsmittel eines Films lassen sich in die Kategorien<br />

Geräusche, Sprache und Musik einteilen. In allen drei Kategorien unterscheidet<br />

man den On-Ton vom Off-Ton. Von On-Ton spricht man, wenn die Tonquelle im<br />

Bild zu sehen ist, von Off-Ton, wenn sie nicht zu sehen ist. Durch den Off-Ton<br />

können Handlungselemente, die räumlich außerhalb <strong>der</strong> Handlungsbegrenzung<br />

situiert sind, in die Erzählung eingebunden werden. Die Bezeichnungen kommen<br />

aus dem Englischen on the screen, bzw. off the screen.<br />

Karel Reisz, Filmmacher und -theoretiker, unterscheidet jede Art von Ton<br />

in synchron und asynchron. Synchroner Ton hat seine Quelle im Bild, asynchroner<br />

Ton kommt von außerhalb des Bildes. Weiterhin unterscheidet man parallelen<br />

und kontrapunktischen Ton. „Paralleler Ton ist aktuell, synchron und mit dem<br />

Bild verbunden. Kontrapunktischer Ton ist kommentierend, asynchron und dem<br />

Bild entgegengesetzt (...).“ 121 Diese Unterscheidung kann man <strong>für</strong> alle auditiven<br />

Gestaltungsmittel vornehmen. Paralleler und kontrapunktischer Ton unterscheidet,<br />

ob <strong>der</strong> Ton mit dem Bild o<strong>der</strong> gegen das Bild arbeitet.<br />

120<br />

Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. Berlin: Volk und Wissen Verlag 1998,<br />

S. 41ff.<br />

121<br />

Monaco, J.: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und<br />

<strong>der</strong> Medien. Mit einer <strong>Ein</strong>führung in Multimedia. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002 (1. Aufl.<br />

1977), S. 217<br />

59


„Der Hollywood-Tonstil war ausgesprochen parallel. Die programmatische Musik<br />

<strong>der</strong> Filme in den dreißiger Jahren deutete an, unterstrich, betonte, charakterisierte<br />

und beeinflußte sogar die einfachsten Szenen, so daß die langweiligsten wie auch<br />

die fesselndsten Bil<strong>der</strong> gründlich durchdrungen waren von den Gefühlen, die die<br />

Komponisten des fast ununterbrochenen Soundtracks erzielen wollten.“ 122<br />

In den sechziger und siebziger Jahren wurde hingegen oftmals mit<br />

kontrapunktischem Ton experimentiert.<br />

7.1 Geräusche<br />

Befindet sich sichtbar im Bild, also im On ein dudelndes Radio, muß das<br />

Geräusch sich fortsetzen, wenn die Kamera dem Protagonisten ins Nebenzimmer<br />

folgt, das Radio ist jetzt also im Off und entsprechend leiser zu hören. Da man<br />

normalerweise Szenen in einzelne <strong>Ein</strong>stellungen auflöst und die Kamera <strong>für</strong> jede<br />

<strong>Ein</strong>stellung neu einrichten muß, wäre es in diesem Fall unmöglich, mit dem<br />

Originalton zu arbeiten, also das Radio während <strong>der</strong> Aufnahme wirklich aufzudrehen.<br />

Die Folge wären Tonsprünge, da die Kamera in dem Zeitraum, in dem man<br />

eine neue <strong>Ein</strong>stellung einrichtet, das dudelnde Radio nicht aufnimmt. Das Radiogeräusch<br />

muß also in <strong>der</strong> Nachbearbeitung eingefügt werden. <strong>Ein</strong>e Möglichkeit<br />

besteht darin, nach Beendigung <strong>der</strong> Dreharbeiten das spielende Radio am Drehort<br />

separat aufzunehmen. Dazu kann man das eingebaute Mikrofon <strong>der</strong> Kamera<br />

benutzen. Der Vorteil bei dieser Methode ist, daß man die spezifische Raumatmo<br />

einfängt. So bezeichnet man die Atmosphäre eines Raums. Je<strong>der</strong> Raum hat einen<br />

an<strong>der</strong>en Klang, die Schallwellen werden je nach Größe und Ausstattung des<br />

Raumes unterschiedlich reflektiert. Bei den digitalen Videoschnittprogrammen<br />

stehen mehrere Tonspuren zur Verfügung: auf eine kann man das Radiogeräusch<br />

unterlegen, während auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en <strong>der</strong> Dialog <strong>der</strong> Akteure zu hören ist. Jedes<br />

Teilstück einer jeden Tonspur kann beliebig lauter o<strong>der</strong> leiser gestellt werden.<br />

Unterlegt man einfach ein Musikstück, kann es sein, daß es sich nicht so anhört,<br />

als ob es von dem Radio im Bild käme, son<strong>der</strong>n wie Filmmusik. Mit speziellen<br />

Computerprogrammen kann man den Sound von Musikstücken verän<strong>der</strong>n, was<br />

aber zeit- und arbeitsintensiv ist.<br />

„Häufig ist auch ein Übergang vom asynchronen zum synchronen<br />

Geräuscheinsatz zu finden: Wir hören zunächst ein Geräusch, das im Bild noch<br />

122 Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S. 217<br />

60


nicht zu orten ist und sind verunsichert, dann wird durch eine Kamerabewegung<br />

o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Bildverän<strong>der</strong>ungen die Lautquelle sichtbar, so dass das Geräusch vom<br />

Zuschauer eingeordnet werden kann.“ 123<br />

Alle Geräusche zusammen ergeben die Atmosphäre (kurz Atmo) eines<br />

Films und tragen wesentlich zu seiner Glaubwürdigkeit bei. Die akustische<br />

Atmosphäre steigert den Wirklichkeitseindruck des Visuellen. <strong>Ein</strong> ständiges,<br />

leicht unregelmäßiges Hintergrundgeräusch, signalisiert Lebendigkeit. Wird die<br />

Atmo plötzlich ausgeblendet, stellt sich ein Gefühl <strong>der</strong> Unsicherheit und Irrealität<br />

ein. Das Geschehen wirkt unvollständig und unwirklich. Absolute Stille verheißt<br />

im Film gewöhnlich nichts Gutes.<br />

In phantastischen Genres müssen Klänge, die es in <strong>der</strong> Realität nicht gibt,<br />

eigens <strong>für</strong> den Film hergestellt werden. Das Bewegungsgeräusch des Titelhelden<br />

in Paul Verhoevens Science-Fictionfilm ROBOCOP (1987) erzeugte man, indem<br />

das Geräusch vom <strong>Ein</strong>legen einer Videokassette in den Rekor<strong>der</strong> verfremdet<br />

wurde. 124 Aber auch außerhalb dieses Genres werden Geräusche synthetisch<br />

hergestellt. Das liegt daran, daß die Fähigkeit des Menschen, Geräuschen<br />

bestimmte Bedeutungen zuzuordnen, nur schwach ausgeprägt ist. <strong>Ein</strong> in <strong>der</strong><br />

Badewanne erzeugtes Plätschern klingt glaubwürdiger nach einem Rauschen des<br />

Amazonas als das am Amazonas selbst aufgenommene Geräusch. 125<br />

„Stehen Geräusche im Wi<strong>der</strong>spruch zum visuellen Wahrnehmungsraum,<br />

gewinnen sie fast immer symbolischen Charakter. Wenn z.B. im Fernsehfilm<br />

VERLORENE LEIDENSCHAFT (1992) von Andreas Kleinert am Anfang des Films in<br />

einer Liebesszene im Bett plötzlich ein lautes Motorengeräusch zu hören ist,<br />

kündigt sich auf diese Weise eine Bedrohung <strong>der</strong> privaten Situation an; sie wird<br />

<strong>für</strong> den Zuschauer dadurch lokalisierbar, dass die Figuren plötzlich nach oben<br />

sehen und damit einen Verweis auf den Ort <strong>der</strong> Geräuschquelle im fiktionalen<br />

Raum geben. Für den Zuschauer wird damit erkennbar, dass es sich um<br />

Flugzeuglärm handeln muss.“ 126<br />

Häufig werden Naturgeräusche mit Beziehungskonstellationen<br />

parallelgeführt: Vogelgezwitscher bei Verliebtheit, donnerndes Gewitter bei<br />

Konflikten. Das kann jedoch schnell unangemessen und unfreiwillig komisch<br />

123<br />

Hickethier, K.: Film- und Fernsehanalyse. 3., überarb. Aufl., Stuttgart, Weimar: Metzler 2001,<br />

S. 96<br />

124<br />

Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 43<br />

125<br />

Hickethier, K.: Film- und Fernsehanalyse. a.a.O., S. 96ff.<br />

126<br />

ebd., S. 97<br />

61


wirken. Mit wachsen<strong>der</strong> Medienerfahrung sind die Zuschauer sensibler <strong>für</strong><br />

überzeichnete Geräusche und den <strong>Ein</strong>satz von Effektgeräuschen geworden. Die<br />

im Krimi <strong>der</strong> sechziger Jahre angewandten Effektgeräusche <strong>der</strong> knarrenden Türen<br />

und vom Wind aufgeschlagenen Fenster erzeugen heute nur noch Belustigung, da<br />

sie als Geräuschstereotypen identifiziert werden. 127<br />

Geräusche können als verbindende Klammern dienen. Außerdem werden<br />

sie als Überleitungen angewendet, in dem sie die Geräuschkulisse <strong>der</strong> folgenden<br />

<strong>Ein</strong>stellungen vorwegnehmen. Um gelungene Überleitungen zwischen Szenen<br />

und Sequenzen herzustellen, kann man mit dem vorwegnehmenden o<strong>der</strong><br />

nachhallenden Ton arbeiten.<br />

<strong>Ein</strong>e Szene mit vorwegnehmendem Ton könnte so aussehen: <strong>Ein</strong><br />

Fabrikarbeiter quält sich morgens aus dem Bett. Während er sich anzieht und<br />

rasiert, hört man Maschinenlärm, <strong>der</strong> immer weiter anschwillt. Dann wird auf die<br />

Fabrikhalle geschnitten, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Arbeiter am Fließband steht. Weil wir erfahren<br />

wollen, warum <strong>der</strong> Maschinenlärm im Badezimmer zu hören ist, wird <strong>der</strong> Schnitt<br />

in die Fabrikhalle, <strong>der</strong> die Antwort liefert, nicht als willkürlich empfunden.<br />

<strong>Ein</strong>e an<strong>der</strong>e Möglichkeit wäre, mit dem nachhallenden Ton zu arbeiten.<br />

Erst zeigt man den Arbeiter am Fließband, um dann auf den Arbeiter beim<br />

Abendessen umzuschneiden. Während <strong>der</strong> Mann erschöpft am Tisch sitzt und ißt,<br />

wird <strong>der</strong> nachklingende Fabriklärm allmählich ausgeblendet. Beide Varianten<br />

schaffen gelungene Übergänge und enthalten einen psychologischen Kommentar.<br />

Im ersten Beispiel wird <strong>der</strong> Mann vom aggressiven Fabriklärm aus seinem<br />

Schlafzimmer getrieben, im zweiten verfolgt er ihn bis in sein Heim. Der<br />

Fabriklärm in seinem Kopf ist allgegenwärtig. 128<br />

7.2 Sprache<br />

Meist werden im Film agierende Figuren gezeigt und wir hören, was sie sagen.<br />

Sprache und Bild stimmen überein. Wendet die Kamera ihren Blick von <strong>der</strong><br />

sprechenden Person ab, um die Reaktion des Zuhörers zu zeigen, wird <strong>der</strong> On-Ton<br />

zum Off-Ton und die Aufmerksamkeit des Publikums muß sich teilen. Häufig gibt<br />

es im Film einen Off-Erzähler, <strong>der</strong> dem Zuschauer Informationen vermittelt, die er<br />

<strong>für</strong> das Verständnis <strong>der</strong> Geschichte benötigt. Man nennt das Voice-Over.<br />

127 ebd., S. 97<br />

128 Rabiger, M.: Dokumentarfilme drehen. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2000, S. 450<br />

62


Im Dokumentarfilm kommt man um einen Kommentar nicht umhin. Beim<br />

Verfassen des Kommentars sind einige Aspekte zu beachten. Der Satzbau muß die<br />

Reihenfolge berücksichtigen, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Zuschauer die Elemente einer Szene<br />

wahrnimmt. Der Kommentar sollte sich auf sinnvolle, sachliche Informationen<br />

beschränken und die Emotionen des Zuschauers nicht manipulieren. Werturteile,<br />

die nicht durch das Bildmaterial belegt sind, sind zu vermeiden. Der Zuschauer<br />

soll nicht beeinflußt werden, gleichwohl ist es gerechtfertigt, seine Aufmerksamkeit<br />

auf bestimmte Aspekte des Materials zu lenken, dessen Bedeutung er<br />

ansonsten vielleicht übersehen würde. Der Kommentar überläßt es dem<br />

Zuschauer, sich anhand dessen, was er sieht, seine eigene Meinung zu bilden. 129<br />

Auch Erinnerungen und Gedanken von Akteuren können durch Off-<br />

Sprache vermittelt werden. Manchmal wird auch ein Gespräch zeitversetzt<br />

wie<strong>der</strong>gegeben. In Oliver Hirschbiegels DAS EXPERIMENT (2001) hört man das<br />

Gespräch zwischen Moritz Bleibtreu und seiner Freundin während einer<br />

Taxifahrt, aber keiner bewegt die Lippen. Das Gespräch muß kurze Zeit vorher<br />

stattgefunden haben. Manchmal sieht man auch eine weinende Frau, die eine<br />

nächtliche Straße entlang fährt und hört dazu den vorausgegangenen Streit mit<br />

ihrem Ehemann, o<strong>der</strong> ähnliche Situationen. Wenn Ton und Bild auseinan<strong>der</strong>-<br />

gehen, wird die Aufmerksamkeit stärker beansprucht, da wir dem visuellen<br />

Geschehen folgen müssen und uns gleichzeitig ein Bild von dem Geschehen<br />

machen müssen, von dem wir nur die Töne hören.<br />

Das Verhältnis von <strong>der</strong> Sprache zu den Bil<strong>der</strong>n kann zu großen<br />

Bedeutungsverschiebungen führen. Tarantino erzielt die charakteristische<br />

Wirkung seiner Filme vor allem durch den <strong>Ein</strong>satz von Dialogen, die im absoluten<br />

Kontrast zur Situation stehen. Aus zahlreichen Gangsterfilmen, die wir Zuschauer<br />

schon gesehen haben, „wissen“ wir, was „man“ in den Situationen sagt, die wir<br />

am Bildschirm miterleben. Wir erwarten wortkarge tough guys, die wir aber nicht<br />

bekommen. Statt dessen schwadronieren die Killer über Fastfood und<br />

Fußmassagen. Aberwitz und Irritation entstehen durch den Kontrast zu den<br />

Erwartungen <strong>der</strong> Zuschauer. Die Sprache wirkt in den Filmen Tarantinos oftmals<br />

<strong>der</strong> Situation grotesk unangemessen. 130<br />

129<br />

ebd., S. 455<br />

130<br />

Fischer, R., Körte, P., Seeßlen, G.: Quentin Tarantino. Berlin: Bertz 2000, 3. erw. und aktual.<br />

Aufl., S. 30ff.<br />

63


Dem Publikum kann durch kontrapunktischen Toneinsatz beispielsweise<br />

signalisiert werden, daß eine Person lügt. In den ersten Minuten von Bernd<br />

Eichingers DER GROSSE BAGAROZY sehen wir Til Schweiger im Gespräch mit<br />

seiner Therapeutin Corinna Harfouch. Als er ihr erzählt, daß ihm Maria Callas<br />

erschienen sei, entgegnet sie: „Die Callas? Aha, interessant! Das muß ich<br />

notieren.“ Daraufhin sehen wir, wie sie das Wort „Zwiebeln“ auf ihren<br />

<strong>Ein</strong>kaufszettel schreibt.<br />

Im Dokumentarfilmbereich kann man Sprache kontrapunktisch einsetzen,<br />

indem man beispielsweise das Statement eines Lehrers, in dem er von seinen<br />

spannenden und fortschrittlichen Unterrichtsmethoden spricht, mit Bil<strong>der</strong>n seines<br />

Unterrichts unterlegen, in dem gähnende und gelangweilte Schüler zu sehen sind.<br />

Da Wort und Bild auseinan<strong>der</strong> gehen, muß <strong>der</strong> Zuschauer darüber nachdenken,<br />

warum das so ist. Er wird zur aktiven Mitarbeit aufgefor<strong>der</strong>t, muß das, was er<br />

sieht und hört, abwägen und interpretieren. Dabei kommt er dann zu <strong>der</strong> Feststellung,<br />

daß <strong>der</strong> Lehrer sich selbst nicht kennt.<br />

Ton und Bild können auch asynchron sein, sich jedoch gegenseitig<br />

unterstützen. Man kann beispielsweise von einem Mann, <strong>der</strong> über das Problem <strong>der</strong><br />

Arbeitslosigkeit spricht, auf eine deprimierende Stadtlandschaft mit stillgelegten<br />

Fabriken schneiden, so daß seine Worte über den Bil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Stadt verhallen. Die<br />

Bil<strong>der</strong> unterstreichen seine Aussage. Dieser Unterschnitt imitiert den Blick des<br />

Zuhörers, <strong>der</strong> seinen Blick aus dem Fenster schweifen läßt und sich ausmalt, wie<br />

deprimierend es wäre, in einem dieser Häuser zu wohnen. 131<br />

Der vorwegnehmende, beziehungsweise nachhallende Ton kann geeignete<br />

Übergänge zwischen Szenen und Sequenzen schaffen. Den Plot: ein Junge und ein<br />

Mädchen möchten miteinan<strong>der</strong> ausgehen und die Mutter des Mädchens verbietet<br />

es, würde man normalerweise wie folgt auflösen: Der Junge und das Mädchen<br />

unterhalten sich darüber, daß sie am Abend zusammen ausgehen möchten. Das<br />

Mädchen sagt: „Mach dir darüber keine Sorgen, ich werde sie schon überreden.“<br />

In <strong>der</strong> nächsten Szene sieht man die Mutter, wie sie die Kühlschranktür zuschlägt<br />

und ihrer verärgerten Tochter sagt: „Kommt nicht in Frage!“ Der harte Schnitt<br />

imitiert einen theatralischen Szenenwechsel. Interessanter wäre es, bereits auf die<br />

Mutter umzuschneiden, die die Kühlschranktür zuschlägt, während das Mädchen<br />

sagt: „Ich werde sie schon überreden.“ Darauf folgt dann das „Kommt nicht in<br />

131 Rabiger, M.: Dokumentarfilme drehen. a.a.O., S. 442<br />

64


Frage!“ <strong>der</strong> Mutter. Bei dieser Variante wurde mit dem nachhallenden Ton<br />

gearbeitet. Der Ton <strong>der</strong> vorangegangenen Szene ist noch da, während das Bild <strong>der</strong><br />

folgenden Szene schon zu sehen ist. Die an<strong>der</strong>e Möglichkeit besteht darin, mit<br />

dem vorwegnehmenden Ton zu arbeiten. Hier hört man schon die strenge Stimme<br />

<strong>der</strong> Mutter, während die beiden Teenager noch im Bild sind. 132<br />

7.3 Musik<br />

Aufgabe <strong>der</strong> Musik ist, die Bil<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Leinwand emotional zu unterstützen.<br />

Musik soll nicht dazu mißbraucht werden, Gefühle zu erzeugen, die <strong>der</strong> Film nicht<br />

imstande ist, hervorzurufen. Sie soll die Handlung ergänzen und uns Zugang zum<br />

inneren, unsichtbaren Leben <strong>der</strong> Protagonisten verschaffen. Die Titelmusik gibt<br />

bereits vor Beginn <strong>der</strong> Handlung eine Grundstimmung vor. Pompöse Fanfaren<br />

stimmen auf eine an<strong>der</strong>e Geschichte ein als sanfte Streicher. Im Verlauf des Films<br />

unterstützt die Musik die filmische Erzählung. Sie setzt dramatische Akzente in<br />

spannenden Situationen und illustriert Gemütszustände <strong>der</strong> Figuren.<br />

Der Filmmusik-Komponist Hans Zimmer (Gladiator, König <strong>der</strong> Löwen)<br />

sieht seine Aufgabe darin, „das erklingen zu lassen, was sich in Worten und<br />

Bil<strong>der</strong>n nicht elegant sagen lässt. Und dabei geht es um die innersten Sachen, <strong>für</strong><br />

die niemand geeignete Worte findet – außer Shakespeare vielleicht.“ 133 Er ist<br />

überzeugt davon, daß sich niemand gegen gut gemachte Musik wehren kann, da<br />

sie direkt auf die Seele ziele. <strong>Ein</strong> Film ohne Musik könne meistens, von<br />

Meisterbeispielen abgesehen, keine Gefühle transportieren. „Die Musik schreibt<br />

einen eigenen Subtext; durch sie erfährt <strong>der</strong> Zuschauer, wie eine Leinwandfigur<br />

gerade empfindet.“ 134<br />

<strong>Ein</strong> Nachdenken über das eigene Medium, respektive über die Erzeugung<br />

von Stimmungen mittels Filmmusik findet sich in PULP FICTION. Quentin<br />

Tarantino läßt Mia Wallace genau das tun, was er auf höherer Ebene als Regisseur<br />

macht: Mia legt Dusty Springfields Son of a Preacher Man auf, um eine von ihr<br />

beabsichtigte Atmosphäre zu schaffen, als Vincent Vega kommt, um sie<br />

abzuholen und sie ihn absichtlich warten läßt. Mia manipuliert die gesamte<br />

132 ebd., S. 449<br />

133 „Ich pirsche mich ans Publikum an“. Der Filmmusik-Komponist Hans Zimmer über die<br />

Erzeugung von Gefühlen im Film, den <strong>Ein</strong>satz des Computers beim Komponieren und die<br />

Vertonung von Michelangelos Schöpfungsfresko in: Der Spiegel. Hamburg: Nr.31/28.07.03, S.142<br />

134 Hans Zimmer in: Der Spiegel, a.a.O., S. 142<br />

65


Situation wie ein Regisseur, gibt Anweisungen über die Sprechanlage und<br />

beobachtet Vincent über Videokameras.<br />

Durch den <strong>Ein</strong>satz einer eindeutigen Musik wird die Rezeption<br />

mehrdeutiger Bil<strong>der</strong> gelenkt. 135 Unterlegt man eine nächtliche Autofahrt durch die<br />

Großstadt mit einer sinfonischen Musik, wird die Szene überhöht und entrückt<br />

wirken, unterlegt man die gleichen Bil<strong>der</strong> mit schneller Hip-Hop-Musik, entsteht<br />

eine aggressive o<strong>der</strong> hektische Stimmung.<br />

Unvergeßlich ist <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>satz des Walzers An <strong>der</strong> schönen blauen Donau<br />

von Johann Strauß in 2001- ODYSSEE IM WELTRAUM. „Beschwingte, schwerelos<br />

dahinwirbelnde Walzermusik hat den Weckruf <strong>der</strong> Zarathustra-Fanfaren abgelöst.<br />

Die Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> vor dem Nichts dahingleitenden, über die Dreidimensionalität des<br />

Raumes frei verfügenden Flugobjekte gehen eine unwi<strong>der</strong>stehliche, beglückende<br />

Verbindung mit dem Dreivierteltakt ein. Der große, bogenförmige Schwung <strong>der</strong><br />

Straußschen Komposition scheint in die Unendlichkeit hinauszuweisen, mit jedem<br />

kreiselnden Takt entziehen sich Bild, Ton und Wahrnehmung <strong>der</strong> gesetzmäßigen<br />

Linearität <strong>der</strong> Schwerkraft.“ 136<br />

Von einem kontrapunktischen <strong>Ein</strong>satz <strong>der</strong> Musik spricht man, wenn<br />

Stimmung und Aussage <strong>der</strong> Musik im krassen Gegensatz zu den Bil<strong>der</strong>n des<br />

Films stehen. So kann eine dritte, kommentierende Aussage entstehen, die we<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> optischen, noch <strong>der</strong> akustischen Ebene allein eigen ist. Barry Levinson zeigt in<br />

seinem Film GOOD MORNING, VIETNAM (1987) eine Folge von Kriegs- und<br />

Gewaltbil<strong>der</strong>n, begleitet von Louis Armstrongs Won<strong>der</strong>ful World. Aus <strong>der</strong><br />

Kombination <strong>der</strong> eindeutigen Aussage <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> (Krieg, Elend) und <strong>der</strong><br />

eindeutigen Aussage <strong>der</strong> Musik (schöne Welt) entsteht eine dritte Bedeutung, die<br />

nur durch die Verbindung zustande kommt. „Die erzeugte Diskrepanz bewirkt in<br />

diesem Fall einen sarkastisch-zynischen Kommentar über die Präsenz<br />

amerikanischer Truppen in Vietnam.“ 137<br />

Die Filmmusik in UHRWERK ORANGE ist ebenfalls kontrapunktisch<br />

eingesetzt, jedoch erzielt <strong>der</strong> kontrapunktische <strong>Ein</strong>satz eine an<strong>der</strong>e Wirkung als<br />

<strong>der</strong> in GOOD MORNING, VIETNAM. Auch in UHRWERK ORANGE wird Gewalt<br />

permanent mit schöner Musik kombiniert. Doch das Ergebnis ist, im Gegensatz zu<br />

GOOD MORNING, VIETNAM eine Ästhetisierung <strong>der</strong> Gewalt. „Die Verbindung von<br />

135 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 45<br />

136 Kilb, A., Rother, R. u.a.: Stanley Kubrick. Berlin: Bertz 1999, S. 139ff.<br />

137 Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. a.a.O., S. 45<br />

66


Bil<strong>der</strong>n und Musik verwandelt Prügeleien in perfekt choreographierte<br />

Tanznummern.“ 138 „Nicht nur, daß die konsequente Verwendung klassischer<br />

Musik den Film gegen eine Alterung in einer Weise resistent macht, wie es<br />

Popmusik nicht vermag, die Wahl <strong>der</strong> Stücke entlarvt insbeson<strong>der</strong>e auch jene<br />

Kunstauffassung als trügerisch, die <strong>der</strong> Hochkultur auch eine moralisch-ethische<br />

Wirkung zuschreibt. Ausgerechnet Beethovens Neunte Sinfonie, den ´Hochgesang<br />

des bürgerlichen Optimismus`, nutzt <strong>der</strong> destruktive Rebell Alex als Inspirationsquelle.“<br />

139 In beiden Filmen wird, unterstützt durch den kontrapunktischen<br />

<strong>Ein</strong>satz von Musik, zur intellektuellen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Thema<br />

Gewalt eingeladen, nur die Wege sind an<strong>der</strong>s.<br />

Musik hat in vielen Fällen eine Klammerfunktion. Sie verbindet disparate<br />

Bil<strong>der</strong> und schafft so einen Zusammenhang. <strong>Ein</strong> Ortswechsel o<strong>der</strong> Zeitsprung<br />

wird durch eine musikalische Figur verknüpft und in <strong>der</strong> Chronologie <strong>der</strong><br />

Erzählung als eindeutig zusammengehörig definiert. Auch größere Montagese-<br />

quenzen werden durch die musikalische Klammer zusammengehalten. Sobald die<br />

Musik aufhört, vermissen wir sie. Daher muß man intensive Geräusche, wie eine<br />

turbulente Bahnhofsatmosphäre folgen lassen o<strong>der</strong> mit dem einsetzenden Dialog<br />

Ersatz schaffen.<br />

138 Kilb, A., Rother, R. u.a.: Stanley Kubrick. a.a.O., S. 175<br />

139 ebd., S. 171<br />

67


C Organisation<br />

8. Von <strong>der</strong> Idee zum Drehbuch<br />

Auf die Frage, welches die Voraussetzungen eines guten Filmes seien, antwortete<br />

Hitchcock einmal: „Es gibt drei Voraussetzungen: 1. <strong>Ein</strong> gutes Drehbuch. 2. <strong>Ein</strong><br />

gutes Drehbuch. und 3. <strong>Ein</strong> gutes Drehbuch.“ 140 Neben Kreativität, Originalität<br />

und Phantasie braucht man auch <strong>Grundlagen</strong>wissen um das filmische Erzählen,<br />

um einen guten Film zu produzieren. Das Drehbuchschreiben ist ein Handwerk,<br />

welches erlernbar ist. Das Wort „Drehbuch“ ist ein Sammelbegriff <strong>für</strong> verschiedene<br />

Textformen, die einen Film durch Anweisungen an die am Film beteiligten<br />

konzipieren und die szenische Gestaltung vorbestimmen. Es ist Grundlage <strong>für</strong> die<br />

finanzielle Kalkulation, die Arbeitsplanung und den Schnitt des gedrehten Films.<br />

Das Drehbuch steht am Ende einer Textgenese, die beim Exposé<br />

beginnt. 141 Hier wird die Idee, die Grundsituation <strong>der</strong> Geschichte auf ein bis zwei<br />

Seiten festgehalten. Die nächste Stufe ist das Treatment. Auf zwanzig bis dreißig<br />

Seiten wird die Geschichte in erzählen<strong>der</strong> Form konkretisiert, indem sie in<br />

einzelne Sequenzen umgesetzt wird. Beschrieben wird immer das, was die<br />

Kamera sieht. Unter Berücksichtigung dramaturgischer Gesichtspunkte wird <strong>der</strong><br />

Handlungsablauf ausführlich skizziert. Kameraführung und Dialog sind zu diesem<br />

Zeitpunkt noch nicht exakt festgelegt. Das erfolgt in <strong>der</strong> letzten Stufe, in <strong>der</strong><br />

Erarbeitung des Drehbuches. Hier sollen Beschreibungspassagen das Bild <strong>der</strong><br />

künftigen <strong>Ein</strong>stellungen beim Lesen entstehen lassen. Beschrieben wird alles<br />

Sichtbare, verbunden mit <strong>der</strong> Handlung und Logik, in <strong>der</strong> es zueinan<strong>der</strong> steht. Die<br />

Elemente <strong>der</strong> akustischen Ebene werden dann den Beschreibungspassagen<br />

zugeordnet. Im Technotext werden alle zusätzlichen, <strong>für</strong> Dreharbeiten und<br />

Nachbearbeitung wichtigen Größen fixiert. Dazu gehören beispielsweise<br />

Kamerabewegung, Perspektive, <strong>Ein</strong>stellungsgröße, -verknüpfung und -dauer,<br />

sowie Effekte.<br />

140<br />

zitiert nach: Schnei<strong>der</strong>, M.: Vor dem Dreh kommt das Buch. <strong>Ein</strong> Leitfaden <strong>für</strong> das filmische<br />

Erzählen. Gerlingen: Bleicher 2001, S. 7<br />

141<br />

Rother, R.(Hrsg.): Sachlexikon Film. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 65ff.<br />

68


8.1 Die Franz`sche Pyramide<br />

Um die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu erhalten, sollte <strong>der</strong> Film nach einem<br />

Dramaturgiekonzept aufgebaut sein. Die Franz`sche Pyramide ist ein einfaches<br />

Dramaturgiekonzept und besteht aus fünf Teilen: <strong>Ein</strong>leitung, Aufbau, Konflikt,<br />

Abbau, Ausklang.<br />

In <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>leitung stellt man das Wo, Wer, Wann und Was dar, also<br />

Schauplatz des Geschehens, handelnde Personen, Zeit des Geschehens, und<br />

Objekte, die eine Rolle spielen.<br />

Beim Aufbau werden Personen und Objekte mit Attributen ausgestattet.<br />

Die Basis <strong>für</strong> den bevorstehenden Konflikt wird gebildet, Argumente zum Für und<br />

Wi<strong>der</strong> des Konfliktes werden gegenübergestellt und Informationen, die zu einer<br />

glaubhaften Darstellung des Konfliktes notwendig sind, geliefert. Konflikt bedeutet<br />

manchmal auch nur „Kern <strong>der</strong> Aussage“. Formal und inhaltlich ist es <strong>der</strong><br />

Höhepunkt <strong>der</strong> Story.<br />

Bis zum Abbau wird die Spannung immer weiter gesteigert, so gut es<br />

möglich ist. Diese soll nun abgebaut werden. Im berichterstattenden Film wird<br />

jetzt durch wie<strong>der</strong>holen, zusammenfassen und resümieren <strong>der</strong> Informationstransfer<br />

gesichert.<br />

Der Ausklang kann den Film abschließen, wie <strong>der</strong> Happyendkuß vor dem<br />

Filmende, o<strong>der</strong>, auf eine Sequenz bezogen, eine Überleitung in die nächste<br />

Sequenz sein und eine neue Erwartungshaltung wecken.<br />

Das Dramaturgiekonzept <strong>der</strong> Franz`schen Pyramide läßt sich auf Szenen,<br />

Sequenzen und ganze Filme anwenden. 142 Im berichterstattenden Film ist die<br />

häufig verwendete Dramaturgieform <strong>der</strong> Aufzählung uneffektiv <strong>für</strong> den<br />

Informationstransfer. Um die Aufmerksamkeit des Publikums sinnvoll zu steuern,<br />

ist die Struktur: <strong>Ein</strong>leitung - drei Fallbeispiele - Resümee ideal, wobei die<br />

Beispiele sich nacheinan<strong>der</strong> in ihrer Dramatik steigern sollten. Es empfiehlt sich,<br />

sowohl <strong>für</strong> den gesamten Film, als auch <strong>für</strong> die Funktionsteile <strong>Ein</strong>leitung, Aufbau,<br />

Konflikt, Abbau und Ausklang jeweils einen Aussagewunsch zu formulieren.<br />

8.2 Filmische <strong>Ein</strong>heiten<br />

Filmtheoretiker und -praktiker streiten über die Definition <strong>der</strong> kleinsten<br />

filmischen <strong>Ein</strong>heit. Es wird zum Beispiel die Meinung vertreten, die kleinste<br />

142<br />

Kerstan, P.: Der journalistische Film. Jetzt aber richtig. Frankfurt am Main: Zweitausendeins<br />

2000, S. 216<br />

69


filmische <strong>Ein</strong>heit sei die Sequenz, da eine <strong>Ein</strong>stellung nicht filmisch sei. 143 Dann<br />

wäre die kleinste <strong>Ein</strong>heit gleichzeitig die größte, das macht keinen Sinn. Denen,<br />

die hingegen behaupten, die <strong>Ein</strong>stellung sei die kleinste filmische <strong>Ein</strong>heit, hält<br />

man entgegen, daß innerhalb einer <strong>Ein</strong>stellung viele Faktoren wirksam sind, wie<br />

Komposition o<strong>der</strong> Bewegungen. Das ist zweifelsohne richtig, nur dann läßt sich<br />

die kleinste filmische <strong>Ein</strong>heit nicht festlegen. Damit ist keinem geholfen, <strong>der</strong> sich<br />

theoretisch mit Film auseinan<strong>der</strong>setzen will. Daher benutze ich dennoch die<br />

letztere Definition.<br />

Die kleinste filmische <strong>Ein</strong>heit ist die <strong>Ein</strong>stellung, das ohne Unterbrechung<br />

gedrehte Stück Film. Aus beliebig vielen <strong>Ein</strong>stellungen realisiert man eine Szene.<br />

Die Szene ist eine Handlungseinheit, meist an einem Ort spielend und zeitlich<br />

kontinuierlich wie<strong>der</strong>gegeben. Die einzelnen Fragmente, also die verschiedenen<br />

<strong>Ein</strong>stellungen, werden so verknüpft, daß <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>druck eines in sich vollständigen<br />

und lückenlosen Ganzen erweckt wird. Bevor man anfängt zu filmen, muß man<br />

die Szene in verschiedene <strong>Ein</strong>stellungen auflösen. Kleine Alltagshandlungen, wie<br />

eine Zigarette rauchen o<strong>der</strong> einen Tee zubereiten, werden meist in acht bis zehn<br />

<strong>Ein</strong>stellungen aufgelöst. Die <strong>Ein</strong>stellungen repräsentieren das Geschehen<br />

fragmentiert aus unterschiedlichen Perspektiven und Distanzen. Sequenzen<br />

repräsentieren eine einheitliche Handlung, bezogen auf ihre zeitliche Dauer,<br />

unvollständig. Sie können Irrelevantes auslassen, sich auf einen Teil <strong>der</strong> Handlung<br />

beschränken, dessen verkürzte Repräsentation <strong>für</strong> den Zuschauer ausreicht, um die<br />

vollständige Handlung zu verstehen (Ellipse). 144<br />

8.3 Das Prinzip <strong>der</strong> Verkürzung und Auslassung (Ellipse)<br />

<strong>Ein</strong> Film entsteht erst im Kopf des Zuschauers, mit Hilfe seiner Phantasie. Die<br />

beginnt jedoch nur zu arbeiten, wenn ihr etwas Unfertiges, Ergänzungsbedürftiges<br />

vorgesetzt wird. Das beginnt die Phantasie dann auszubauen. Im Film sollten also<br />

permanent Dinge angedeutet, künstlich knapp gehalten, verkürzt werden, um die<br />

Phantasie des Publikums zu ihrer Ergänzung herauszufor<strong>der</strong>n. Jedoch muß hier<br />

<strong>der</strong> gesunde Mittelweg gefunden werden: teilt man zu wenig mit, läßt man<br />

Informationen aus, die <strong>der</strong> Zuschauer benötigt, um eine Situation zu verstehen,<br />

entsteht Verwirrung, läßt man zu wenig aus, unterfor<strong>der</strong>t man gleichsam die<br />

Phantasie des Publikums und es entsteht Langeweile. Beim Drehbuchschreiben ist<br />

143 ebd., S. 100<br />

144 Rother, R.(Hrsg.): Sachlexikon Film. a.a.O., S. 267<br />

70


man also angehalten, mit einem Minimum an Bild- und Dialoginformationen<br />

beim Zuschauer ein Maximum an Vorstellungen zu erzeugen, und zwar so, daß<br />

die hervorgerufenen Vorstellungen auf <strong>der</strong> Linie <strong>der</strong> vom Autor erzählten<br />

Geschichte liegen. 145<br />

Auslassungen werden erst durch die Grundannahme möglich, daß ein<br />

Prozeß, <strong>der</strong> in Bewegung gesetzt wurde, sich fortsetzt, bis er vollendet ist.<br />

Außerdem setzen wir voraus, daß das Wissen, das wir früher von einem Ereignis<br />

erworben haben, auch <strong>für</strong> ein ähnliches Ereignis in Gegenwart und Zukunft gilt.<br />

Ohne diese Annahmen würden wir uns nicht zurechtfinden. <strong>Ein</strong>e Auslassung wird<br />

Ellipse genannt. „Die Ellipse ist das Auslassen von je<strong>der</strong> Art Information, die man<br />

durch Schlussfolgerung erkennen und verstehen kann. Dies ist <strong>der</strong> Prozess, <strong>der</strong><br />

uns erlaubt, reale Zeit zu filmischer Zeit zu verkürzen.“ 146 Die Ellipse ist eine <strong>der</strong><br />

wichtigsten Prinzipien dramatischen Schreibens. Es geht darum, den Kern <strong>der</strong><br />

Story zu entdecken, die wichtigsten und zwingendsten Elemente <strong>der</strong> Geschichte<br />

auszuwählen und anzuordnen.<br />

Wenn jemand im Film in Sekundenschnelle ein Testament verfaßt o<strong>der</strong><br />

sich schlafen legt und nach wenigen Minuten wie<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Szene erscheint,<br />

wun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Zuschauer sich nicht, obwohl dieser zeitliche Ablauf seiner<br />

Wirklichkeitserfahrung wi<strong>der</strong>spricht. Das liegt daran, daß alles im Film in einer<br />

viel kürzeren Zeit als im Leben vor sich geht, Film ein System von Verkürzungen<br />

ist. Innerhalb dieses Systems würde nur das Unverkürzte, das <strong>der</strong> Wirklichkeit des<br />

Alltags entsprechende Zeitmaß als störend auffallen. Schwerwiegende<br />

Entschlüsse, die ein vernünftiger Mensch in einer Bedenkzeit von Tagen o<strong>der</strong><br />

Wochen faßt, sind im Film binnen weniger Minuten Tatsache. Der Kern<br />

psychologischer Probleme und Entwicklungen wird angedeutet, <strong>der</strong> Anlauf einer<br />

Entwicklung wird gezeigt, eventuell ein späteres Zwischenstadium und<br />

schließlich das endgültige Resultat. Der ganze psychologische Prozeß spielt sich<br />

hauptsächlich in uns selbst ab. 147<br />

Dieses Prinzip <strong>der</strong> Verkürzung gilt nicht nur <strong>für</strong> die Handlung, son<strong>der</strong>n<br />

auch <strong>für</strong> die Charaktere. In jedem Film treten so wenige Personen wie nötig auf.<br />

Statt <strong>der</strong> zahlreichen Eigenschaften, die eine Person hat, wird nur eine, die<br />

hervorstechendste und <strong>für</strong> den darzustellenden Konflikt notwendige,<br />

145<br />

Schnei<strong>der</strong>, M.: Vor dem Dreh kommt das Buch. a.a.O., S. 18<br />

146<br />

ebd., S. 18<br />

147<br />

ebd., S. 19<br />

71


herausgearbeitet. Es werden uns stets nur die Pointen, die Gegensätze, Krisen,<br />

Zusammenstöße und Entscheidungen gezeigt, alles an<strong>der</strong>e bleibt unserer<br />

Phantasie überlassen.<br />

8.4 Kurzgeschichte und Kurzfilm<br />

Das Schreiben von Kurzgeschichten ist eine gute Übung <strong>für</strong> den Drehbuchautor.<br />

Kurzgeschichten stellen den wichtigsten Rohstoff <strong>für</strong> gute Kurzfilme dar. Als<br />

Kurzfilm bezeichnet man Filme, die deutlich kürzer sind als abendfüllende<br />

Spielfilme. Das trifft wohl auf die meisten Amateurfilme zu. Kurzgeschichten<br />

zwingen den Autor, eine Story in ihre knappste Form zu bringen und die Technik<br />

<strong>der</strong> Ellipse zu erlernen.<br />

Die Kurzgeschichte stellt die dramatische Urform in Miniaturform dar, da<br />

sie einen schlagkräftigen und dramatischen Aufbau erfor<strong>der</strong>t. Kurzgeschichten<br />

sind durch zielstrebige, straffe, lineare und bewußte Komposition auf eine<br />

unausweichliche o<strong>der</strong> überraschende Lösung hin komponiert. Im Mittelpunkt<br />

steht eine unerhörte Begebenheit, die sich auf ein äußeres o<strong>der</strong> inneres Ereignis<br />

beziehen kann, auf eine Situation, die den Helden in eine akute Gefahr bringt, in<br />

einen Konflikt stürzt o<strong>der</strong> ihm eine Entscheidung abverlangt. <strong>Ein</strong> entscheiden<strong>der</strong><br />

Lebensausschnitt wird in äußerster Kürze so wie<strong>der</strong>gegeben, daß dadurch ein<br />

Blick in das Ganze des Lebens getan wird. Kurzgeschichten sollen mindestens<br />

eine und höchstens zehn Schreibmaschinenseiten lang sein. Dies erfor<strong>der</strong>t<br />

sorgfältiges Vorausdenken und straffes Gestalten. Nur das Geschehen ist von<br />

Wichtigkeit, nicht Stimmungsmalerei, Träumerei, Gedankenketten o<strong>der</strong><br />

Charakterzerglie<strong>der</strong>ung. 148 Die Exposition stellt die Hauptperson vor, ihren<br />

hervorstechendsten Charakterzug, beziehungsweise ihr Motiv. Außerdem werden<br />

Informationen über Ort und Zeit des Geschehens gegeben. Der Hauptteil führt die<br />

Hauptperson in die bedrohliche Situation, die durch seinen hervorstechenden<br />

Charakterzug bedingt sein muß. Der Held charakterisiert sich am Besten durch<br />

das, was er tut o<strong>der</strong> nicht tut. Die Bedrohung wird immer stärker, die Lage scheint<br />

aussichtslos. Der Schlußteil führt zu einer folgerichtigen Lösung, das heißt, die<br />

Lösung muß als Möglichkeit bereits in <strong>der</strong> Geschichte enthalten und darf nicht aus<br />

<strong>der</strong> Luft gegriffen sein. 149<br />

148 ebd., S. 21<br />

149 ebd., S. 22<br />

72


Für Drehbuchautoren gibt es keine anregen<strong>der</strong>e Lektüre als die Tageszeitung.<br />

Dort findet man des Öfteren Kurzmeldungen mit unerhörten Begebenheiten.<br />

Diese kuriosen, grotesken o<strong>der</strong> skurrilen Begebenheiten eignen sich als Stoffkern<br />

<strong>für</strong> eine Kurzgeschichte. Nun muß man eine originelle Erzählperspektive finden,<br />

das kann die Sicht eines Dritten o<strong>der</strong> eines Tieres sein. O<strong>der</strong> man denkt die<br />

Geschichte weiter und spitzt sie zu, so daß man einen überraschenden Höhepunkt<br />

erhält. Man kann auch versuchen, in <strong>der</strong> Exposition das Geheimnis o<strong>der</strong> Rätsel zu<br />

etablieren, dessen Lösung dann die überraschende Wendung am Ende bietet. Es<br />

empfiehlt sich, auf die überraschende Wendung am Ende, die Pointe, hin zu<br />

schreiben. <strong>Ein</strong>e originelle Kurzgeschichte kann auch durch das Kreuzen zweier<br />

Zeitungsmeldungen entstehen. 150<br />

Der Kurzfilm unterliegt demselben Gesetz <strong>der</strong> Reduktion wie die<br />

Kurzgeschichte. Er hat außerdem dieselbe dramatische Struktur: eine klare<br />

Exposition, <strong>der</strong> Protagonist verfolgt ein klar definiertes Ziel und muß<br />

verschiedene Wi<strong>der</strong>stände überwinden, die ihm die Erreichung des Ziels<br />

erschweren. Für Nebenhandlungen ist ebenso wenig Platz wie <strong>für</strong> differenzierte<br />

Charakterzeichnung. 151<br />

8.5 Orientierung im Film<br />

<strong>Ein</strong>e <strong>der</strong> wichtigsten Regeln <strong>für</strong> die <strong>Filmgestaltung</strong> ist: Orientierung schaffen.<br />

Orientierung ist eine wichtige Überlebensfunktion beim Menschen. Ob man aus<br />

dem Schlaf erwacht, unvermittelt an einen an<strong>der</strong>en Ort kommt o<strong>der</strong> ein Film mit<br />

einer Aufblende beginnt. Immer drängt sich zuerst die Frage auf: Wo bin ich?<br />

Ehe diese Frage nicht zufriedenstellend beantwortet ist, kann <strong>der</strong> Mensch sich<br />

nicht mit an<strong>der</strong>en Dingen auseinan<strong>der</strong>setzen. Wenn man nachts eine unbekannte<br />

Straße entlang geht, kann man unmöglich seinen Gedanken nachhängen, im<br />

Gegensatz zu vertrauten Orten, wo man keine neue Orientierung braucht, wie im<br />

eigenen Wohnzimmer. Orientierung sorgt im Gehirn <strong>für</strong> eine zusammenhängende<br />

Vorstellung von unserer Umgebung, <strong>für</strong> einen Horizont. 152<br />

Räumliche Orientierung wird meist über totale <strong>Ein</strong>stellungen erreicht. <strong>Ein</strong>e<br />

Möglichkeit, Horizonte zu bilden, liegt im Bereich <strong>der</strong> Zeichen und ihrer<br />

150 ebd., S. 28ff. mit zahlreichen Beispielen, wie Studenten des Fachbereichs Drehbuch <strong>der</strong><br />

Filmakademie Baden-Württemberg aus Zeitungsmeldungen Kurzgeschichten verfaßt haben<br />

151 ebd., S. 40ff<br />

152 Kerstan, P.: Der journalistische Film. a.a.O., S. 39ff.<br />

73


Bedeutung. Peter Kerstan beschreibt seine Probleme bei <strong>der</strong> Berichterstattung<br />

über Armut in <strong>der</strong> dritten Welt. 153 Auch neben <strong>der</strong> ärmsten Hütte stehen dort ein<br />

paar Bananenstauden. Hierzulande verwechseln wir diese mit Palmen und<br />

assoziieren Tropenromantik. Da dies gar nicht seinem Aussagewunsch entspricht,<br />

bittet er in solchen Fällen ein paar Kin<strong>der</strong>, nach einer toten Ratte zu suchen, die er<br />

vor die Hütte legt. Beginnt er mit einer <strong>Ein</strong>stellung des toten Rattenkadavers und<br />

schwenkt anschließend auf die Hütte unter Bananenstauden, denkt niemand mehr<br />

an Tropenromantik und es eröffnet sich die Möglichkeit, das Leben <strong>der</strong> armen<br />

Menschen darzustellen. Die Zeichen „Palme“ und „Ratte“ werden in unserer<br />

Kultur als Symbole <strong>für</strong> „Luxus, Urlaub“ beziehungsweise „Armut, Elend“<br />

gedeutet. Daher kann man die Orientierung des Zuschauers mit ihnen in die<br />

beabsichtigte Richtung lenken.<br />

Die Orientierungsphase bei <strong>der</strong> Wahrnehmung von Personen dauert länger<br />

als die bei <strong>der</strong> Wahrnehmung von Gegenständen. Es läuft ein vorbewußter<br />

Prozess ab, bei dem wir bei je<strong>der</strong> unbekannten Person klären, ob sie uns<br />

sympathisch o<strong>der</strong> unsympathisch, Freund o<strong>der</strong> Feind ist. Wir überprüfen, was<br />

diese Person mit uns machen könnte, wie wir darauf reagieren würden, welchen<br />

Wert eine Aussage dieser Person <strong>für</strong> uns haben kann und ob wir ihr vertrauen<br />

könnten. Das dauert seine Zeit. Erst wenn dieser Prozeß abgeschlossen ist, kann<br />

begriffliche Wahrnehmung stattfinden, erst dann kann man dem Inhalt des<br />

gesprochenen Wortes folgen. Diese Tatsache sollte man unbedingt berücksichtigen<br />

und die Personen regelrecht einführen. Es sollte Zeit verstreichen, bevor sie<br />

etwas sagen.<br />

9. Die Bedeutung von Mythen <strong>für</strong> die Filmstory<br />

Der Begriff Mythos kommt von griechisch: Geschichte, sagenhafte Erzählung.<br />

Im Mythos wird versucht, frühe Kulturstufen, den Ursprung <strong>der</strong> Welt, ihr Ende,<br />

die Entstehung <strong>der</strong> Götter, die Erschaffung des Menschen o<strong>der</strong> bestimmte<br />

Naturphänomene in Erzählungen zu deuten. Der Mythos hat eine sinnstiftende<br />

Funktion und Bedeutung <strong>für</strong> das Existenzverständnis des Menschen, er ist somit<br />

stets Ausdruck einer Weltanschauung. 154<br />

153<br />

ebd., S. 46ff.<br />

154<br />

Stichwort: Mythos in: Microsoft® Encarta® Professional 2002. © 1993-2001 Microsoft<br />

Corporation<br />

74


Der Mythos ist eine Geschichte, die über die individuelle Erfahrung des <strong>Ein</strong>zelnen<br />

hinausreicht und zu uns allen spricht, weil sie eine kollektive, universelle<br />

Erfahrung ausdrückt. Es gibt Mythen, die auf wahren Geschichten basieren.<br />

Martin Luther King, Mahatma Gandhi und Nelson Mandela haben eine mythische<br />

Aura, weil sie <strong>für</strong> ein kollektives Bedürfnis stehen, in dem Fall <strong>für</strong> das <strong>der</strong><br />

Befreiung von Herrschaft und Unterdrückung.<br />

An<strong>der</strong>e Mythen sind Schöpfungen <strong>der</strong> kollektiven Phantasie und des „kollektiven<br />

Unbewußten“ (C.G. Jung). In ihnen spiegeln sich Wunsch- und Angstträume <strong>der</strong><br />

Menschen. Dazu gehören die Faustus-Sagen ebenso wie Vampir- und Frankenstein-Mythen.<br />

Im Mythos tauchen bestimmte Archetypen immer wie<strong>der</strong> auf. Neben dem<br />

Helden gibt es den Boten, <strong>der</strong> die Botschaft übermittelt, von <strong>der</strong> <strong>der</strong> Ruf ins<br />

Abenteuer ausgeht. Der Bote kann auch ein Tier o<strong>der</strong> Medium sein. Der Mentor<br />

unterstützt den Helden bei seiner Reise, stattet ihn mit dem nötigen Wissen o<strong>der</strong><br />

mit Gaben aus. Der Schwellenwächter bewacht die geheimste Höhle. Der<br />

Gestaltwandler ist kaum zu fassen, da er eine Maske trägt o<strong>der</strong> ständig an<strong>der</strong>e<br />

Erscheinungsformen annimmt. Von ihm geht eine faszinierende Anziehung und<br />

Wirkung aus, obwohl er sich als Feind des Helden entpuppt. In Liebesgeschichten<br />

ist <strong>der</strong> Gestaltwandler oft <strong>der</strong> o<strong>der</strong> die Geliebte. 155<br />

Die Mythen aller uns bekannten Kulturkreise weisen die gleichen<br />

Urelemente und Grundmuster auf. 156 Dieser Grundstruktur begegnen wir bei den<br />

alten Griechen, bei indianischen Kulturen ebenso wie in den Erzählungen <strong>der</strong><br />

Filmemacher von heute. Die Mythen <strong>der</strong> verschiedenen Völker und Kulturen<br />

folgen einem einheitlichen Grundmuster, dessen vielfältige Varianten die<br />

Vielfältigkeit <strong>der</strong> Weltkultur ergeben. „Die Struktur des Mythos hilft nicht nur<br />

verstehen, warum Filme einen ganz bestimmten dramatischen Aufbau haben, sie<br />

ist auch ein wichtiges Werkzeug <strong>für</strong> die Analyse, Entwicklung und Erarbeitung<br />

von Filmstoffen.“ 157 Wesentliche Elemente des Mythos sind die Schatzsuche und<br />

die Heldentat. Der Wunsch, im Leben etwas beson<strong>der</strong>s Wertvolles und<br />

Wun<strong>der</strong>bares zu finden, ist ein universelles menschliches Bedürfnis. Diese<br />

Schatzsuche bezieht sich im Mythos nie auf etwas Äußerliches, wie Reichtum,<br />

Erfolg, Ruhm o<strong>der</strong> Karriere. Sie gilt stets auch inneren Werten, wie<br />

155<br />

Schnei<strong>der</strong>, M.: Vor dem Dreh kommt das Buch. a.a.O., S. 67<br />

156<br />

ebd., S. 50<br />

157<br />

ebd., S. 51<br />

75


Selbstachtung, Sicherheit, Selbstverwirklichung, Liebe, Heimat o<strong>der</strong> eine<br />

beson<strong>der</strong>e Erkenntnis. Solche Geschichten entspringen unserem Wunsch,<br />

Wi<strong>der</strong>stände zu überwinden und etwas Beson<strong>der</strong>es zu vollbringen. Wir bangen<br />

mit dem Helden und freuen uns, wenn er sein Ziel erreicht, weil die Reise des<br />

Helden unserer eigenen Lebensreise ähnelt. 158<br />

Meist spielt das Motiv des Wie<strong>der</strong>-Heil-Werdens eine entscheidende<br />

Rolle. Der Held leidet unter einem körperlichen o<strong>der</strong> seelischen Defizit und muß,<br />

um zu gesunden, sein Zuhause verlassen. Im Prozeß dieser Ausfahrten wird <strong>der</strong><br />

angeschlagene Held wie<strong>der</strong> gesund und ausgeglichen und empfänglich <strong>für</strong> die<br />

Liebe. Liebe ist oft eine heilende Kraft in diesen Geschichten und eine Belohnung<br />

<strong>für</strong> überstandene Gefahren.<br />

Der Held ist nichts weiter als <strong>der</strong> Protagonist einer Reise, die er<br />

unternimmt, die auch immer eine Reise nach innen ist. Erst durch diese Reise<br />

wird <strong>der</strong> Protagonist zum Helden, dadurch das er wächst, reift, sich verän<strong>der</strong>t und<br />

zu einem neuen Selbst findet. Aus dem zyklischen Dreischritt: Aufbruch aus <strong>der</strong><br />

gewöhnlichen Welt, Reise in die an<strong>der</strong>e Welt, Rückkehr in die gewöhnliche Welt,<br />

ergibt sich ganz organisch eine Dreiakte-Struktur. 159<br />

Das Publikum wird von einer Story eher mitgerissen, wenn es spürt, daß<br />

sie aus einem universellen Stoff ist, eine überpersönliche, kollektive Erfahrung<br />

ausdrückt. Man kann seiner Story nicht künstlich einen Mythos aufpfropfen, aber<br />

wenn es eine mythische Spur in <strong>der</strong> Geschichte gibt, sollte man sie unbedingt<br />

verfolgen. Die Stationen <strong>der</strong> Heldenreise sind kein Schema o<strong>der</strong> unumstößliches<br />

Dogma, die Reihenfolge <strong>der</strong> Stationen kann umgestellt, manche Stationen können<br />

ganz weggelassen werden.<br />

9.1 Die Stationen <strong>der</strong> Heldenreise 160<br />

Die gewöhnliche Welt<br />

Zunächst lebt <strong>der</strong> Held in seiner gewohnten Welt und tut ganz gewöhnliche<br />

Dinge. Durch die Darstellung <strong>der</strong> gewöhnlichen Welt kann erst <strong>der</strong> Kontrast zu<br />

<strong>der</strong> fremden Welt, in die er reisen wird, dargestellt werden. Hier wird oft auch <strong>der</strong><br />

Mangel des Helden, seine Achillesferse, die ihn verwundbar macht, gezeigt.<br />

158 ebd., S. 52<br />

159 ebd., S. 54<br />

160 dieses Kapitel folgt: Schnei<strong>der</strong>, M.: Vor dem Dreh kommt das Buch. <strong>Ein</strong> Leitfaden <strong>für</strong> das<br />

filmische Erzählen. Gerlingen: Bleicher 2001, S. 55ff.<br />

76


Oft ist es ein beschädigtes Selbstwertgefühl, ein Schuldgefühl o<strong>der</strong> ein Gefühl des<br />

eigenen Ungenügens, das den Helden zur Ausfahrt ins Abenteuer treibt. Es kann<br />

auch ein unhaltbarer Zustand im familiären Umfeld des Helden sein, <strong>der</strong> ihn zu<br />

<strong>der</strong> Reise antreibt, o<strong>der</strong> ein trügerisches Bild von einem geliebten Menschen, das<br />

<strong>der</strong> Protagonist sich gemacht hat und von dem er sich im Laufe <strong>der</strong> Reise trennen<br />

muß.<br />

Die Berufung<br />

<strong>Ein</strong> unerwartetes, beson<strong>der</strong>es Ereignis reißt den Helden aus seinem alltäglichen<br />

Leben. Der Held muß sich, ob er will o<strong>der</strong> nicht, auf ein Abenteuer einlassen, da<br />

er mit einem Problem konfrontiert wird. Die Berufung steckt das Ziel des Helden<br />

deutlich ab: ein bedrohtes Leben o<strong>der</strong> eine bedrohte Gemeinschaft zu retten, um<br />

seine Selbstachtung o<strong>der</strong> um Liebe zu kämpfen, Rache zu nehmen, Unrecht aus<br />

<strong>der</strong> Welt zu schaffen, einen Wettkampf zu bestehen o<strong>der</strong> einen lang gehegten<br />

Traum endlich zu verwirklichen sind gängige Ziele eines Helden.<br />

Die Weigerung<br />

Der Held will seine gewohnte Welt nicht verlassen, weil er Angst vor dem<br />

Unbekannten und den Gefahren hat, die ihn erwarten. Er weicht zurück und<br />

weigert sich, dem Ruf ins Abenteuer zu folgen, weil er ahnt, daß er in Situationen<br />

geraten wird, die ihm Eigenschaften abverlangen, die er nicht o<strong>der</strong> nur in<br />

ungenügendem Maße besitzt. Er ahnt, daß er <strong>der</strong> größten seiner Ängste begegnen<br />

wird.<br />

Der Mentor<br />

Während seiner Reise benötigt <strong>der</strong> Held meistens Hilfe von einem Mentor. Das<br />

kann beispielsweise ein Zauberer, ein Trainer o<strong>der</strong> ein Professor sein. Es muß eine<br />

Person sein, die ein beson<strong>der</strong>es Wissen, beson<strong>der</strong>e Kenntnisse o<strong>der</strong> Fähigkeiten<br />

hat, die er dem Helden übermittelt. Oft hat <strong>der</strong> Mentor die Reise ins Unbekannte,<br />

die dem Helden bevorsteht, bereits hinter sich, kennt ihre Gefahren und kann<br />

durch Ratschläge o<strong>der</strong> magische Requisiten zu ihrem Gelingen beitragen.<br />

Der Held erreicht sein Ziel nur, weil er empfänglich <strong>für</strong> diesen Rat ist. Im<br />

Märchen scheitern die beiden ältesten Söhne oftmals daran, daß sie nicht bereit<br />

sind, die Hilfen <strong>der</strong> Ratgeber anzunehmen und werden <strong>für</strong> ihren Hochmut bestraft.<br />

77


Der jüngste in <strong>der</strong> Geschwisterreihe, <strong>der</strong> <strong>für</strong> seine Naivität o<strong>der</strong> Ungeschicklichkeit<br />

von den älteren verachtet wird, erreicht sein Ziel gerade durch die Naivität.<br />

Naivität schließt Zutrauen zu an<strong>der</strong>en Menschen ebenso ein wie das Wissen um<br />

die eigene Bedürftigkeit.<br />

Das Überschreiten <strong>der</strong> ersten Schwelle (Erster Wendepunkt)<br />

Erst wenn <strong>der</strong> Held das Nötige von seinem Mentor gelernt hat, kann er es wagen,<br />

sich den Gefahren jenseits <strong>der</strong> Schwelle <strong>der</strong> fremden Welt auszusetzen. Er sieht<br />

seiner Angst zum ersten Mal bewußt ins Auge. Seine Angst kann durch einen<br />

furchterregenden Hüter <strong>der</strong> Schwelle repräsentiert sein. Erst wenn er den Test<br />

besteht, weiß er, daß er auch die an<strong>der</strong>en Gefahren und Prüfungen bestehen kann,<br />

die noch auf ihn zukommen. Mit dem Überschreiten <strong>der</strong> Schwelle hat er einen<br />

entscheidenden Schritt getan, jetzt gibt es kein Zurück. Das Schiff sticht in See,<br />

die Liebesgeschichte fängt an, <strong>der</strong> Prozeß beginnt, das Raumschiff hebt ab. Meist<br />

wird ein neuer Schauplatz betreten, das Reich des Antagonisten.<br />

Die äußere Reise entspricht einer inneren: die Begegnung mit den<br />

Monstern und Ungeheuern entspricht <strong>der</strong> Begegnung mit verdrängten, verleugneten<br />

und abgespaltenen Erfahrungen, Ängsten und Komplexen <strong>der</strong> eigenen<br />

Psyche. Damit ist <strong>der</strong> erste Wendepunkt erreicht, <strong>der</strong> uns in den zweiten Akt führt.<br />

Proben, Verbündete, Feinde<br />

Der Held muß von nun an ein Hin<strong>der</strong>nis nach dem an<strong>der</strong>en überwinden, um den<br />

Feind zu besiegen und an sein Ziel zu gelangen. Er lernt die Regeln <strong>der</strong> fremden<br />

Welt kennen, lernt, wer ihm Freund, wer Feind ist, gewinnt Verbündete und lernt<br />

Stärken und Waffen des Feindes kennen.<br />

Annäherung an die geheimste Höhle<br />

Der Held gelangt in die unmittelbare Nähe des gefährlichen Ortes, <strong>der</strong> das<br />

eigentliche Ziel seiner Reise verkörpert. In dieser „geheimsten Höhle“ ist <strong>der</strong><br />

Schatz, das Geheimnis o<strong>der</strong> das Hauptquartier des Feindes verborgen. Im<br />

Märchen wäre dies beispielsweise das verwunschene Schloß, wo die Prinzessin<br />

gefangen gehalten wird. Bevor er diesen Ort betritt, legt er eine Rast ein, um<br />

Kräfte zu sammeln, sowie einen Plan zu entwickeln und die gefährlichen<br />

Schwellenhüter zu überlisten, die die geheimste Höhle bewachen.<br />

78


Bevor er diesen Ort seiner größten Angst betritt, muß <strong>der</strong> Held schon eine<br />

Wandlung durchgemacht haben: er kann den bevorstehenden Kampf, die äußerste<br />

Prüfung nur bestehen, wenn er zu einem annähernd wahren Bild seiner selbst<br />

gelangt ist und seine Kräfte und Grenzen richtig einschätzt.<br />

Äußerste Prüfung (2. Wendepunkt)<br />

Der Held wird mit seiner größten Angst konfrontiert und tritt in den Kampf mit<br />

seinem größten Wi<strong>der</strong>sacher o<strong>der</strong> Feind. Er sieht dem Tod ins Auge. Wir wissen<br />

nicht, ob er überleben o<strong>der</strong> untergehen wird. Der Held wächst über sich hinaus,<br />

durchbricht alles, was ihn bisher begrenzt hat und läßt seine Ängste hinter sich.<br />

Diese äußerste Prüfung ist <strong>der</strong> zweite Wendepunkt, <strong>der</strong> in den dritten Akt führt.<br />

Nun scheint <strong>der</strong> Held am Ende zu sein und macht im wirklichen o<strong>der</strong> symbolischen<br />

Sinne eine Todeserfahrung durch.<br />

Das bisherige Geschehen hat die Identifikation mit dem Helden geför<strong>der</strong>t:<br />

was ihm geschieht, geschieht auch dem Zuschauer. In diesem hochdramatischen<br />

Augenblick erlebt <strong>der</strong> Zuschauer nun gemeinsam mit dem Helden den Moment<br />

<strong>der</strong> Todesnähe, in dem es um Alles o<strong>der</strong> Nichts geht, seine Auferstehung und<br />

Wie<strong>der</strong>geburt. Diese elementare, tiefe menschliche Erfahrung darf in keinem<br />

Mythos fehlen.<br />

Belohnung (Das Ergreifen des Schatzes, des Schwertes)<br />

Nachdem <strong>der</strong> Held die Todesgefahr überlebt hat, ergreift er die Belohnung, die<br />

das Ziel seiner Reise darstellte. In alten Mythen ist es oft ein Zauberschwert, das<br />

ihn unbesiegbar macht, o<strong>der</strong> ein Elixier, welches das dahinsiechende Land wie<strong>der</strong><br />

zu heilen vermag. Der Schatz kann auch eine neue Erkenntnis, Weisheit, eine<br />

reifere Haltung, ein Zugewinn an Menschlichkeit sein, die den Helden mitunter<br />

befähigt, sich mit seinem Feind zu versöhnen. Im echten Mythos repräsentiert <strong>der</strong><br />

Schatz immer auch einen neuen Bewußtseinszustand des Helden.<br />

Die Rückkehr<br />

Die besiegten Mächte bedrängen den Helden auf seinem Rückweg und wollen<br />

Rache nehmen. Sie verfolgen den Helden. Dieser muß nun die letzten Hin<strong>der</strong>nisse<br />

überwinden, bis er wirklich gerettet ist. Er muß unbeschadet zurückkehren, denn<br />

von ihm hängt die Rettung <strong>der</strong> Familie, des Königreiches o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Welt ab.<br />

79


Reinigung, Katharsis, Auferstehung<br />

In vielen alten Kulturen mußten sich Krieger und Jäger einer rituellen Reinigung,<br />

Waschung o<strong>der</strong> Ölung unterziehen, ehe sie in die Gemeinschaft zurückkehren<br />

durften, da sie ihre Hände mit Blut befleckt hatten. Der Held muß sich einer<br />

letzten Prüfung unterziehen. Diese bringt ihn meist nochmals in Todesnähe und<br />

gipfelt in seiner Auferstehung. Er muß seine neu gewonnene Reife unter Beweis<br />

stellen, zeigen, daß er seine Lektion gelernt hat, daß er über sich selbst<br />

hinausgewachsen ist.<br />

Rückkehr mit dem Elixier<br />

Der Held kehrt mit dem Schatz o<strong>der</strong> dem Zugewinn an Reife in die gewöhnliche<br />

Welt zurück. Die anfangs gestörte Ordnung ist wie<strong>der</strong> hergestellt, die Prinzessin<br />

erlöst, <strong>der</strong> Kriminalfall abgeschlossen, das Rätsel gelöst, das Glück <strong>der</strong> Liebenden<br />

gesichert. Die Rückkehr des Helden kann auch tragisch mit seinem Untergang<br />

enden. Dies ist immer dann <strong>der</strong> Fall, wenn <strong>der</strong> Held seine Prüfung nicht<br />

bestanden, seine Lektion nicht gelernt, keine Wandlung durchgemacht hat o<strong>der</strong><br />

einem destruktiven Zug seines Wesens gefolgt ist.<br />

10. Erzählsituation<br />

Die meisten Filme werden, wie die meisten Romane, von einer allwissenden<br />

Perspektive aus erzählt. Der Zuschauer hört und sieht, was <strong>der</strong> Filmemacher ihn<br />

hören und sehen lassen will. Der allwissende Erzählstil erlaubt uns, alles aus <strong>der</strong><br />

idealen Perspektive zu sehen.<br />

Es gibt jedoch auch Erzählstile, die eher die Getrenntheit und die<br />

Individualität <strong>der</strong> Kamera betonen. Der Kamerastandpunkt ist distanzierter. Indem<br />

man sich von dem Geschehen distanziert, ist es möglich, es amüsiert zu<br />

beobachten, ohne involviert zu sein. Roberto Begnini wählt häufig einen solchen<br />

Kamerastandpunkt. Antonioni filmt oftmals eine Szene, die eine Person noch gar<br />

nicht betreten o<strong>der</strong> schon verlassen hat. So bekommt die Kamera einen eigenständigen<br />

Charakter und die Umgebung wird vor den Personen und <strong>der</strong> Handlung<br />

betont, <strong>der</strong> Kontext vor dem Inhalt. 161<br />

161 Monaco, J.: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und<br />

<strong>der</strong> Medien. Mit einer <strong>Ein</strong>führung in Multimedia. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002 (1. Aufl.<br />

1977), S. 213<br />

80


Es ist möglich, den Zuschauer in die Lage des Täters, dann wie<strong>der</strong> in die Lage des<br />

Opfers zu versetzen. Der Film ermöglicht dem Zuschauer, sich mit den Personen<br />

auf <strong>der</strong> Leinwand zu identifizieren. <strong>Ein</strong>e Zeitungsreportage über eine Katastrophe<br />

hat bei Weitem nicht eine solche Wirkung, wie ein Film darüber, da man die<br />

Betroffenen nicht kennt. Der Film macht sie einem vertraut und man zittert <strong>für</strong> sie<br />

und weint <strong>für</strong> sie. Der Regisseur kann diese Identifikation des Publikums mit den<br />

Akteuren des Films bewußt steuern. Wir bangen sogar um den Dieb, <strong>der</strong> die<br />

Schubladen durchwühlt, während <strong>der</strong> Wohnungseigentümer die Treppen<br />

hinaufsteigt und möchten ihn am liebsten warnen.<br />

In PSYCHO hat Janet Leigh 40 000 Dollar gestohlen, die sie <strong>für</strong> ihren<br />

Arbeitgeber zur Bank bringen sollte. Man hofft, daß sie nicht erwischt wird. Dann<br />

wird sie überraschen<strong>der</strong>weise von Anthony Perkins unter <strong>der</strong> Dusche ermordet<br />

und nachdem er alle Indizien beiseite gebracht hat, wendet man ihm seine Gunst<br />

zu und hofft, daß er nicht gestellt wird. „Später, als man durch den Sheriff erfährt,<br />

daß Perkins´ Mutter schon seit acht Jahren tot ist, wechselt man wie<strong>der</strong> unvermittelt<br />

das Lager und ist gegen Anthony Perkins, aber aus bloßer Neugier.“ 162<br />

Christopher Nolan gelingt es, das Publikum in seinem Film MEMENTO<br />

(2001) in die Lage eines Mannes zu versetzen, <strong>der</strong> sein Kurzzeitgedächtnis<br />

verloren hat und versucht, den Vergewaltiger und Mör<strong>der</strong> seiner Frau zu finden.<br />

Der Film beginnt mit dem Ende und wird Szene <strong>für</strong> Szene rückwärts erzählt. Man<br />

weiß also genau so wenig wie <strong>der</strong> Protagonist, wie man in die Lage gekommen<br />

ist, in <strong>der</strong> man sich gerade befindet. Man erlebt eine totale Verwirrung, weiß nie,<br />

ob man seinem Gegenüber trauen kann, weiß nicht, ob man vielleicht selbst die<br />

Frau getötet hat, man kann sogar daran zweifeln, ob sie überhaupt tot ist. Es wird<br />

keine Geschichte erzählt, im Internet bitten zahlreiche Zuschauer des Films um<br />

Erklärungen. Der Regisseur wollte auch keine Geschichte erzählen, wenn doch,<br />

dann ist er kläglich gescheitert, denn sie wurde ja anscheinend nicht verstanden.<br />

Was er geschafft hat, ist, uns in die Lage eines Menschen zu versetzen, <strong>der</strong> sich an<br />

nichts erinnern kann, was länger als fünf Minuten her ist. Er hat uns diese<br />

ungewöhnliche Perspektive gezeigt.<br />

Es ist möglich, mit Kameramitteln etwas wie<strong>der</strong>zugeben, was nur in <strong>der</strong><br />

subjektiven Wahrnehmung einer Person so aussieht. <strong>Ein</strong> Kriterium ist die<br />

Auswahl, was man zeigt und was nicht.<br />

162<br />

Truffaut in: Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München: Heyne 2003, S.<br />

265<br />

81


In Hitchcocks REBECCA (1940) gibt es eine unheimliche Haushälterin, die die<br />

Heldin tyrannisiert. Wenn die Haushälterin in das Zimmer kommt, in dem die<br />

Heldin sich aufhält, ist sie in ihrer Wahrnehmung immer schon da, hoch<br />

aufgerichtet, unbewegt. Entsprechend dieser Wahrnehmung ist es auch gefilmt:<br />

man sieht die Haushälterin nie gehen. Das gibt ihr etwas Unmenschliches. 163<br />

Beim Erzählen mittels Film gibt es eine Beson<strong>der</strong>heit zu beachten: Das<br />

Bild hat eine beson<strong>der</strong>e Affinität zur Wahrheit. Im Roman kann man ohne<br />

Weiteres Figuren lügen lassen. Auch im Film kann ein gesprochener Satz eine<br />

Lüge sein. Daß Bil<strong>der</strong> nicht lügen dürfen, stellte Hitchcock fest, als er in seinem<br />

Film DIE ROTE LOLA (1950) eine seiner Figuren eine Rückschau, die gelogen war,<br />

erzählen ließ und dies als Rückblende darstellte. Die Zuschauer reagierten empört,<br />

daß das Bild gelogen haben soll. 164<br />

Das Bild ist mit einer unantastbaren Aura von Gültigkeit ausgestattet. Das,<br />

was man „mit eigenen Augen gesehen“ hat, darf sich im Nachhinein nicht als<br />

Lüge herausstellen. <strong>Ein</strong>e ursprüngliche und wesentliche Aufgabe von Bil<strong>der</strong>n ist,<br />

das Abwesende im Bild anwesend zu machen, sei es bei <strong>der</strong> Verehrung eines<br />

Gottes o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Beschwörung eines Dämonen. Das Bild steht stellvertretend <strong>für</strong><br />

etwas, das nicht anwesend ist, dessen Existenz jedoch durch das Bild behauptet<br />

wird. Das Abbild wurde häufig nicht nur als Bild, son<strong>der</strong>n als das Abgebildete<br />

selbst verstanden und <strong>für</strong> wahr und lebendig erklärt. „Diesem Glauben an die<br />

verwirklichende Kraft <strong>der</strong> Vertretung, diese Gleichsetzung von Vertretenem und<br />

Vertretendem unterliegt auch <strong>der</strong> aufgeklärteste Mensch in irgendeiner Weise.“ 165<br />

10.1 Subjektive und objektive Kamera<br />

Die Kamera darf in einem Film jeden beliebigen Standpunkt einnehmen und<br />

diesen permanent wechseln. Im Film findet man häufig voyeuristische Elemente,<br />

man hat das Gefühl, die Menschen auf <strong>der</strong> Leinwand zu beobachten o<strong>der</strong> gar<br />

auszuspionieren. Es ist eine Eigenart des Films an sich, daß er voyeuristisch ist,<br />

wir stillen unsere Sehnsucht nach einer Welt, die nicht die unsere ist. Wir haben<br />

<strong>Ein</strong>blick in Lebenswelten, die uns sonst nicht zugänglich sind. Filme haben oft<br />

diese Lust am Schauen zum Thema, wie David Lynchs BLUE VELVET (1986),<br />

163 Hitchcock in: Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 119<br />

164 Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 185<br />

165 Hamann, R.: Theorie <strong>der</strong> bildenden Künste. Berlin: 1980, S. 18f., zitiert nach: Hickethier, K.:<br />

Film- und Fernsehanalyse. 3., überarb. Aufl., Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S.43<br />

82


Phillip Noyces SLIVER (1993) o<strong>der</strong> Hitchcocks DAS FENSTER ZUM HOF (1954).<br />

Dort findet man oftmals voyeuristische Perspektiven, Aufnahmen durch die<br />

Sehschlitze einer Schranktür o<strong>der</strong> einer Jalousie, Aufnahmen aus einem Gebüsch<br />

heraus und <strong>der</strong>gleichen mehr. Diese Perspektiven bauen eine enorme Spannung<br />

beim Zuschauer auf, er hat quasi Angst, erwischt zu werden. Die voyeuristische<br />

Perspektive wird daher häufig in Psychothrillern und Horrorfilmen angewandt.<br />

Die Kamera kann das Geschehen einfach beobachten (objektive Kamera),<br />

aber auch aus <strong>der</strong> Sicht eines Beteiligten „erleben“ (subjektive Kamera). Bei <strong>der</strong><br />

subjektiven Kamera wird eine Person gezeigt, die irgendwo hin schaut, um dann<br />

umzuschneiden und genau das zu zeigen, was sie dort sieht. Die subjektive<br />

Kamera ist eine Kameraposition, die suggeriert, vom exakten Standpunkt eines<br />

Darstellers aufgenommen worden zu sein. <strong>Ein</strong>zelne <strong>Ein</strong>stellungen mit subjektiver<br />

Kamera sind nicht ungewöhnlich, behalten jedoch etwas Auffälliges. Strikt<br />

subjektive Aufnahmen durchbrechen die meist gewahrte Zuschauerposition des<br />

allwissenden, unbemerkten Beobachters. Sie bewirken eine partielle Identifikation<br />

mit <strong>der</strong> Figur, <strong>der</strong>en Standpunkt eingenommen wird, und sind geeignet, Ungewißheit<br />

und Bedrohung <strong>der</strong> Figur wie<strong>der</strong>zugeben. 166<br />

In DER FALSCHE MANN versetzt Hitchcock den Zuschauer in die Lage eines<br />

unschuldig Verurteilten. Das erreicht er mit Hilfe des <strong>Ein</strong>satzes <strong>der</strong> subjektiven<br />

Kamera. <strong>Ein</strong>geleitet wird die Subjektive mit einer Großaufnahme Henry Fondas,<br />

<strong>der</strong> nach links schaut. Mit seinen Augen sieht man nun das massige Profil seines<br />

Bewachers. „Er schaut nach rechts, sein zweiter Bewacher steckt sich eine Zigarre<br />

an. Er schaut nach vorn und sieht im Rückspiegel die Augen des Fahrers, die ihn<br />

beobachten. Der Wagen fährt ab, und er hat gerade noch Zeit, einen Blick auf sein<br />

Häuschen zu werfen. An <strong>der</strong> Straßenecke das Café, in das er zu gehen pflegt und<br />

vor dem kleine Mädchen spielen. In einem parkenden Wagen dreht ein hübsches<br />

Mädchen das Radio an. Um ihn herum geht das Leben weiter, als sei nichts<br />

passiert. Alles scheint ganz normal, nur er, im Auto, ist ein Gefangener. Die<br />

Inszenierung ist vollkommen subjektiv. Man hat ihm Handschellen angelegt, die<br />

ihn an eine <strong>der</strong> Begleitpersonen fesseln. Während seines Weges vom<br />

Kommissariat ins Gefängnis wechseln seine Aufpasser mehrmals, aber weil er<br />

sich so schämt, schaut er immer nach unten, er sieht seine Aufpasser gar nicht.<br />

Von Zeit zu Zeit öffnet sich eine Handschelle und ein neues Handgelenk<br />

166 Rother, R. (Hrsg.): Sachlexikon Film. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 287<br />

83


übernimmt ihn. Man sieht während dieses ganzen Weges nur die Füße, die Waden<br />

<strong>der</strong> Polizisten, den Fußboden und das untere Stück von Türen.“ 167<br />

<strong>Ein</strong>e Variante <strong>der</strong> Subjektiven ist die „Subjektive mit Blickfeldattribut“.<br />

Etwas, was die Person, <strong>der</strong>en Blickwinkel die Kamera einnimmt, in <strong>der</strong> Hand hält,<br />

ragt ins Bild hinein. Hierbei kann es sich z.B. um einen Gewehrlauf o<strong>der</strong> eine<br />

Speerspitze handeln. Hitchcocks ICH KÄMPFE UM DICH (1945) endet damit, daß <strong>der</strong><br />

Doktor einen Revolver in sein Gesichtsfeld hebt, ihn umdreht und sich erschießt.<br />

<strong>Ein</strong>e ganz spezielle Perspektive ist die Objektsubjektive, die Perspektive eines<br />

unbelebten Gegenstands. Das kann ein Anrufbeantworter sein, kurz bevor jemand<br />

die Taste drückt, um ihn abzuhören. Berühmt ist die Objektsubjektive des<br />

fliegenden Pfeils in Kevin Reynolds´ ROBIN HOOD - KÖNIG DER DIEBE (1991).<br />

Solche Sichtweisen sind völlig neu und deshalb interessant <strong>für</strong> uns.<br />

Manchmal ist es unerläßlich, die objektive Kamera zu verwenden.<br />

Hitchcock erklärt dies am Beispiel seines Films DIE VÖGEL. Würde die Szene, in<br />

<strong>der</strong> Tippi Hedren im Boot von einer Möwe in die Stirn gehackt wird, in <strong>der</strong><br />

subjektiven Kamera gedreht, würde man folgendes sehen: Die Frau im Boot (man<br />

muß die Subjektive immer erst einleiten, damit man weiß, wessen Sicht das<br />

Folgende sein soll), dann aus ihrem Blick den Landesteg und plötzlich würde ihr<br />

etwas ins Gesicht fliegen. Das geht zu schnell, das könnte genau so gut ein Stück<br />

Papier gewesen sein. Die einzige Möglichkeit ist hier, vom subjektiven zum<br />

objektiven Standpunkt zu wechseln und die Möwe zu zeigen, bevor sie die Frau<br />

angreift, damit das Publikum weiß, worum es geht. 168<br />

Es gab nur einen wichtigen Film, <strong>der</strong> durchweg die subjektive Kamera<br />

benutzt hat, DIE DAME IM SEE (1946) von Robert Montgomery. Er hat versucht,<br />

die im Roman gebräuchliche Ich-Erzählung nachzuahmen; man sah nur das, was<br />

<strong>der</strong> Held sah. Den Erzähler sah man nur in Spiegeln. Der Versuch gilt als<br />

gescheitert, da es <strong>für</strong> den Zuschauer eine verkrampfte, klaustrophobische<br />

Erfahrung war 169 und das Ziel, die Identifikation mit dem Erzähler, durch die<br />

fortdauernde subjektive Kamera nicht erreicht wurde. 170<br />

167 Hitchcock in: Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 232<br />

168 Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, a.a.O., S. 249<br />

169 Monaco, J.: Film verstehen. a.a.O., S. 47<br />

170 Rother, R. (Hrsg.): Sachlexikon Film. a.a.O., S. 287<br />

84


Resümee<br />

In dieser Arbeit wurden Aspekte <strong>der</strong> Gestaltung und Organisation eines Films<br />

aufgezeigt, um Videoarbeit wie<strong>der</strong> näher an ihr Ziel <strong>der</strong> Vermittlung von<br />

Medienkompetenz heranzurücken. Wie in <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>leitung beschrieben, werden in<br />

<strong>der</strong> Videoarbeit häufig recht belanglose, <strong>für</strong> Außenstehende sogar teilweise<br />

unverständliche Filmchen produziert, die auch auf Grund ihrer Mankos oft nur<br />

einem kleinen Kreis vorgeführt werden. Mit dieser Arbeit soll das Fachwissen an<br />

Sozialpädagogen vermittelt werden, wie ein Film inhaltlich und formal gestaltet<br />

werden kann, so daß er auch <strong>für</strong> eine größere Öffentlichkeit interessant wird. <strong>Ein</strong><br />

Beispiel <strong>für</strong> Videoarbeit, die ihre Ziele erfüllt, findet sich auf <strong>der</strong> Homepage des<br />

Galluszentrums in Frankfurt am Main.<br />

Unter <strong>der</strong> Leitung des Medienpädagogen und Soziologen Bernhard<br />

Kayser entstanden dort seit <strong>Ein</strong>richtung <strong>der</strong> Videoabteilung im Jahre 1992 etwa<br />

150 Jugendvideos und Multimediaproduktionen, die zum Teil mit Auszeichnungen<br />

auf Landes- und Bundesebene dekoriert wurden. 171<br />

Das Galluszentrum hat keine eigene Gruppe, es stellt an<strong>der</strong>en Trägern<br />

<strong>der</strong> Jugendarbeit im Stadtteil Gallus seine Kompetenz zur Verfügung. Es werden<br />

zeitlich begrenzte Projekte mit Jugendgruppen von jeweils 5 bis 15 Personen im<br />

Alter von ca. 12 bis 25 Jahren durchgeführt.<br />

Der dort praktizierte Stadtteilansatz etabliert Medienarbeit als<br />

dauerhaftes Angebot an die Jugendlichen. „Im Gegensatz zur Kurzzeitpädagogik<br />

hat dies den Vorteil, daß die höhere Flexibilität in Hinblick auf Projektform und<br />

Zeitrahmen die optimale Umsetzung von guten Ideen ermöglicht. Man hat Zeit,<br />

sich gegenseitig besser kennenzulernen und kann feste Gruppen durch mehrere<br />

Projekte hindurch begleiten, was dem Niveau <strong>der</strong> Videos zugute kommt.“ 172<br />

Die Jugendgruppen werden während <strong>der</strong> gesamten Projektphase, von<br />

<strong>der</strong> Themenfindung bis zur Präsentation betreut. Jedes Projekt wird in den<br />

<strong>Ein</strong>richtungen und öffentlich im Gallus Theater präsentiert. Außerdem wirken die<br />

Filme über die Weitergabe <strong>der</strong> Videokassetten an Freunde und Familie, auch über<br />

die Vorführung in <strong>der</strong> Schulklasse. Zudem ist das Galluszentrum Mitveranstalter<br />

<strong>der</strong> jährlich stattfindenden „Hessischen Jugendfilmtage“. Die im Galluszentrum<br />

171 Homepage des Galluszentrum Frankfurt am Main: online im Internet unter:<br />

http://www.galluszentrum.de/video<br />

172 ebd.<br />

85


entstandenen Produktionen werden regelmäßig bei Videowettbewerben eingereicht.<br />

Medienarbeit wird im Galluszentrum als eine Mischung zwischen<br />

Sozialarbeit und Kulturarbeit verstanden. Die Jugendlichen werden bei ihren<br />

Problemen abgeholt, ihr reales Umfeld einbezogen, ihre Probleme ernstgenommen<br />

und die eigenen Themen <strong>der</strong> Jugendlichen filmisch umgesetzt. Über das<br />

filmische Moment soll ihr Leben transzendiert werden, indem es ästhetisiert,<br />

visualisiert und neu montiert wird.<br />

Das Medium Video wird bei dem im Galluszentrum praktizierten sozialökologischen<br />

Ansatz in den Alltag <strong>der</strong> Jugendlichen eingebunden. „Die Kamera wird in<br />

das Geflecht von Sozialbeziehungen, Freunden und Stadtteil mit hineingenommen,<br />

sie wird selbstverständlich. Der fertige Film wird dann wie<strong>der</strong> an diesen<br />

sozialen Nahraum „zurückgegeben“, wo er diskutiert, kritisiert o<strong>der</strong> gelobt<br />

wird.“ 173<br />

Themen <strong>der</strong> Videos sind Kriminalität und Gewalt, Drogen und<br />

Arbeitslosigkeit. Diese Themen haben aufgrund <strong>der</strong> Sozial- und Wirtschafts-<br />

struktur im Stadtteil Gallus große Bedeutung. Am Übergang zwischen Schule und<br />

Beruf werden dort viele Biographien problematisch, illegale Aktivitäten<br />

erscheinen den jungen Menschen oft als einziger Ausweg aus einem perspektivlosen<br />

Leben.<br />

In dem Film „Legende Gallus“ inszenierten sich 1992 einige dreizehnjährige<br />

Schüler selbst als Kriminelle mit sichtlicher Lust an Gewalt. Fünf Jahre<br />

später drehten teilweise dieselben Jugendlichen, mittlerweile alle arbeitslos, eine<br />

Fortsetzung. In <strong>der</strong> Geschichte geht es um <strong>Ein</strong>bruch, geschnappt werden, Knast<br />

und „Läuterung“ in Form von Arbeit. Die jungen Menschen inszenierten damit<br />

den Ausstieg aus <strong>der</strong> Kriminalität und den <strong>Ein</strong>stieg ins geregelte Berufsleben, den<br />

sie real noch gar nicht vollzogen haben. 174 Mit Hilfe des Mediums Film hat eine<br />

intensive Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Thema stattgefunden, die <strong>der</strong> erste Schritt<br />

in Richtung Legalität sein kann. Im sozialen Umfeld <strong>der</strong> Jugendlichen kann <strong>der</strong><br />

Film als Signal, auszusteigen aufgefaßt werden und als Warnung an jüngere<br />

davor, eine kriminelle Laufbahn einzuschlagen.<br />

Mit <strong>der</strong> Hoffnung, daß es in Zukunft mehr solch erfolgreiche Projekte<br />

im Bereich <strong>der</strong> Videoarbeit gibt, schließe ich diese Arbeit.<br />

173 ebd.<br />

174 ebd.<br />

86


Filmverzeichnis<br />

ALLY MCBEAL (1997), David E. Kelley, S. 49<br />

AMADEUS (1984), Milos Forman, S. 40<br />

ANGST ESSEN SEELE AUF (1974), Rainer Werner Faßbin<strong>der</strong>, S.32<br />

AUSSER ATEM (1959), Jean-Luc Godard, S. 37, S. 57<br />

BARRY LYNDON (1975), Stanley Kubrick, S. 32, S. 37<br />

BEING JOHN MALCOVICH (1999), Spike Jonze, S. 52<br />

BERÜCHTIGT (1946), Alfred Hitchcock, S. 25<br />

DIE BLECHTROMMEL (1979), Volker Schlöndorff, S. 24<br />

BLUE VELVET (1986), David Lynch, S. 82<br />

CITIZEN KANE (1941), Orson Welles, S. 33, S. 42, S. 54<br />

COCKTAIL FÜR EINE LEICHE (1948), Alfred Hitchcock, S. 12, S. 55<br />

COLOR OF NIGHT (1994), Richard Rush, S. 41<br />

DIE DAME IM SEE (1946), Robert Montgomery, S. 84<br />

DEUTSCHLAND NEU(N) NULL (1991), Jean-Luc Godard, S. 53<br />

DER DRITTE MANN (1947), Carol Reed, S. 20<br />

EDWARD MIT DEN SCHERENHÄNDEN (1990), Tim Burton, S. 40<br />

EMPIRE (1964), Andy Warhol, S. 45<br />

DAS EXPERIMENT (2001), Oliver Hirschbiegel, S. 63<br />

DER FALL PARADIN (1947), Alfred Hitchcock, S. 46<br />

DER FALSCHE MANN (1957), Alfred Hitchcock, S. 83<br />

DIE FARBE LILA (1985), Steven Spielberg, S. 34<br />

FEGEFEUER DER EITELKEITEN (1990), Brian De Palma, S. 56<br />

DAS FENSTER ZUM HOF (1954), Alfred Hitchcock, S. 83<br />

FULL METAL JACKET (1987) Stanley Kubrick, S. 51<br />

GOOD MORNING, VIETNAM (1987), Barry Levinson, S. 66<br />

DER GROSSE BAGAROZY (2000), Bernd Eichinger, S. 24, S. 64<br />

DER GROSSE DIKTATOR (1942), Charlie Chaplin, S. 20<br />

HIGHLANDER (1986), Russell Mulcahy, S. 57<br />

ICH KÄMPFE UM DICH (1945), Alfred Hitchcock, S. 84<br />

IN DEN WIND GESCHRIEBEN (1956), Douglas Sirk, S. 33<br />

JURASSIC PARK (1993), Steven Spielberg, S. 55<br />

KATZELMACHER (1969), Rainer Werner Faßbin<strong>der</strong>, S. 32<br />

87


KILLER´S KISS (1955), Stanley Kubrick, S. 13<br />

LÉON - DER PROFI (1994), Luc Besson, S. 26<br />

LINDENSTRASSE (1985), Hans W. Geissendörfer, S. 39<br />

LOLITA (1962), Stanley Kubrick, S. 49<br />

MARNIE (1964), Alfred Hitchcock, S. 40<br />

MARTHA (1973), Rainer Werner Faßbin<strong>der</strong>, S. 32<br />

MEMENTO (2001), Christopher Nolan, S. 81<br />

NATURAL BORN KILLERS (1994), Oliver Stone, S. 24, S. 44<br />

NOSFERATU (1921), Friedrich Wilhelm Murnau, S. 39<br />

OKTOBER (1927) Sergej Eisenstein, S. 53<br />

DER PATE (1971), Francis Ford Coppola, S. 54<br />

DER PATE - TEIL II (1974), Francis Ford Coppola, S. 27<br />

PSYCHO (1960), Alfred Hitchcock, S. 46, S. 81<br />

PULP FICTION (1994), Quentin Tarantino, S. 58<br />

REBECCA (1940), Alfred Hitchcock, S. 82<br />

ROBIN HOOD - KÖNIG DER DIEBE (1991), Kevin Reynolds, S. 84<br />

ROBOCOP (1987), Paul Verhoeven, S. 61<br />

DIE ROTE LOLA (1950), Alfred Hitchcock, S. 82<br />

SHINING (1980), Stanley Kubrick, S. 34, S. 35, S. 47, S. 58<br />

SHORT CUTS (1993), Robert Altman, S. 57<br />

SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN (1959), Francois Truffaut, S. 33<br />

SLEEP (1963), Andy Warhol, S. 45<br />

SLIVER (1993), Phillip Noyce, S. 83<br />

STREIK (1924), Sergej Eisenstein, S. 52<br />

TERMINATOR 2 (1991), James Cameron, S. 44<br />

TOD IN VENEDIG (1970), Luchino Visconti, S. 39<br />

UHRWERK ORANGE (1971), Stanley Kubrick, S. 39, S. 66<br />

VERLORENE LEIDENSCHAFT (1992), Andreas Kleinert, S. 61<br />

VERTIGO - AUS DEM REICH DER TOTEN (1958), Alfred Hitchcock, S. 29, S. 40, S. 41<br />

DIE VÖGEL (1963), Alfred Hitchcock, S. 13, S. 84<br />

WEEKEND (1967), Jean-Luc Godard, S. 25<br />

DIE ZWEITE HEIMAT: ANSGARS TOD (1992/93), Edgar Reitz, S. 33<br />

2001 - ODYSSEE IM WELTRAUM (1968), Stanley Kubrick, S. 39, S. 48, S. 66<br />

88


Literaturverzeichnis<br />

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und Technik <strong>für</strong> Videogruppen. München: KoPäd 1994<br />

• Balázs, B.: Der sichtbare Mensch o<strong>der</strong> die Kultur des Films. Frankfurt am<br />

Main: Suhrkamp 2001 (Erstausgabe 1924)<br />

• Borstnar, N.; Pabst, E.; Wulff, H. J.: <strong>Ein</strong>führung in die Film- und<br />

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• Fischer, R., Körte, P., Seeßlen, G.: Quentin Tarantino. 3. erw. und aktual.<br />

Aufl., Berlin: Bertz 2000<br />

• Galluszentrum Frankfurt am Main: Online im Internet unter<br />

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• Hamann, R.: Theorie <strong>der</strong> bildenden Künste. Berlin: 1980, zitiert nach:<br />

Hickethier, K.: Film- und Fernsehanalyse. 3., überarb. Aufl., Stuttgart,<br />

Weimar: Metzler 2001<br />

• Hüther, J., Schorb, B., Brehm-Klotz, C.(Hrsg.): Grundbegriffe<br />

Medienpädagogik. München: KoPäd 1997<br />

• „Ich pirsche mich ans Publikum an“. Der Filmmusik-Komponist Hans<br />

Zimmer über die Erzeugung von Gefühlen im Film, den <strong>Ein</strong>satz des<br />

Computers beim Komponieren und die Vertonung von Michelangelos<br />

Schöpfungsfresko in: Der Spiegel. Hamburg: Nr.31/28.07.03<br />

• Hickethier, K.: Film- und Fernsehanalyse. 3., überarb. Aufl., Stuttgart,<br />

Weimar: Metzler 2001<br />

• Jugendhof Steinkimmen/LAG Jugend und Fernsehen Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

(Hrsg.): „Wir machen unser Fernsehen selbst!“. <strong>Ein</strong> video-pädagogisches<br />

<strong>Handbuch</strong>. Redaktion: Jürgen Fiege. Steinkimmen/Walsrode 2001<br />

• Kamp, W., Rüsel, M.: Vom Umgang mit Film. Berlin: Volk und Wissen<br />

Verlag 1998<br />

• Katz, S. D.: Shot by Shot. Die richtige <strong>Ein</strong>stellung. Zur Bildsprache des<br />

Films. Das <strong>Handbuch</strong> von Steven D. Katz. 4. Aufl., Frankfurt am Main:<br />

Zweitausendeins 2002<br />

• Kerstan, P.: Der journalistische Film. Jetzt aber richtig. Frankfurt am<br />

Main: Zweitausendeins 2000<br />

• Kilb, A., Rother, R. u.a.: Stanley Kubrick. Berlin: Bertz 1999<br />

89


• Microsoft® Encarta® Professional 2002. © 1993-2001 Microsoft<br />

Corporation<br />

• Monaco, J.: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und<br />

Theorie des Films und <strong>der</strong> Medien. Mit einer <strong>Ein</strong>führung in Multimedia.<br />

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002 (1. Aufl. 1977)<br />

• Rabiger, M.: Dokumentarfilme drehen. Frankfurt am Main:<br />

Zweitausendeins 2000<br />

• Rother, R. (Hrsg.): Sachlexikon Film. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt<br />

1997<br />

• Schnei<strong>der</strong>, M.: Vor dem Dreh kommt das Buch. <strong>Ein</strong> Leitfaden <strong>für</strong> das<br />

filmische Erzählen. Gerlingen: Bleicher 2001<br />

• Truffaut, F.: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München: Heyne<br />

2003<br />

• Vineyard, J.: Crashkurs Filmauflösung. Kameratechniken und die<br />

Bildsprache des Kinos. 2. Aufl., Frankfurt am Main: Zweitausendeins<br />

2001<br />

• Wulff, H.J., Ben<strong>der</strong>, T. (Hrsg.): Lexikon <strong>der</strong> Filmbegriffe. Online im<br />

Internet unter: http://www.ben<strong>der</strong>-verlag.de/lexikon/suche<br />

90


Erklärung:<br />

Ich versichere, daß ich die vorgelegte Diplomarbeit selbständig angefertigt<br />

und alle verwendeten Hilfsmittel angegeben habe.<br />

Essen, 22. Nov. 2003<br />

______________________<br />

Maren Ottlinger<br />

91

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