kanton nidwalden staatsarchiv geschichte nidwalden s
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KANTON<br />
NIDWALDEN<br />
STAATSARCHIV GESCHICHTE NIDWALDENS<br />
Geschichte Nidwaldens<br />
Ein kurzer Überblick<br />
Die ersten menschlichen Spuren<br />
Die ersten Spuren menschlichen Daseins im Kantonsgebiet stammen aus der Jungsteinzeit,<br />
sind also verhältnismässig jung: Überreste einer Ufersiedlung in Kehrsiten (Stansstad)<br />
bezeugen eine Siedlungstätigkeit am Vierwaldstätter See während einer Zeitspanne zwischen<br />
4000 und 3100 v. Chr. Eine weitere jungsteinzeitliche Dauersiedlung lässt sich bei<br />
der sogenannten Loppburg ob Stansstad belegen. Der Platz diente auch in der Spätbronzezeit<br />
(1400 – 1100 v. Chr.) nochmals über längere Zeit als Siedlungsstätte. Weitere bronzezeitliche<br />
Siedlungsplätze, die aber nicht ganzjährig genutzt wurden, sind daneben am<br />
Renggpass in Hergiswil und bei der Rotzburg in Ennetmoos bekannt. Zumindest der<br />
Renggpass scheint aber schon in der Jungsteinzeit begangen worden zu sein.<br />
Aus der sogenannten La-Tène-Zeit (ca. 500 – 100 v. Chr.) stammt das Grab eines zehnjährigen<br />
Mädchens, das in Stans gefunden wurde. Dieser Fund und vereinzelte weitere<br />
Streufunde lassen eine dauernde Besiedlung im 1. Jahrtausend v. Chr. als sehr wahrscheinlich<br />
erscheinen. Siedlungsstruktur und Lebensformen dieser keltischen Bevölkerung<br />
bleiben aber weitgehend im Dunkeln.<br />
Römische Zeit<br />
Aus römischer Zeit sind in Nidwalden keine Schriftzeugnisse überliefert, einzig aus archäologischen<br />
Funden und Geländenamen lassen sich einige Kenntnisse gewinnen. Das<br />
Gebiet der heutigen Kantone Ob- und Nidwalden war spätestens seit römischer Zeit dauernd<br />
besiedelt. Eine gallorömische Bevölkerung (römisch-keltische Mischbevölkerung) im<br />
1. bis 3. Jahrhundert n. Chr. ist durch Brandgräber in Buochs und Oberdorf und durch einen<br />
Gutsbetrieb (Villa) am Weg zum Brünigpass in Alpnach bezeugt.<br />
Nach dem Untergang des römischen Reiches blieben die Menschen in der Gegend, wie<br />
überlieferte gallorömische Orts- und Geländenamen zeigen: Ortsnamen wie Stans, Buochs<br />
oder Kehrsiten, Bachnamen wie Surenen, Anbach oder Secklisbach, Alp-, Berg- und Flurnamen<br />
wie Niderbawen, Brattelen, Fräckmünd, Pilatus, Glesir, Eltschen oder Rotzloch enthalten<br />
keltische bzw. gallorömische Wortwurzeln.<br />
Einwanderung der Alemannen<br />
Die Alemannen (germanischer Volksstamm), die ab dem 8. Jahrhundert einwanderten,<br />
übernahmen viele gallorömischen Namen als Lehnwörter. Anhand alemannischen Namenguts<br />
lässt sich die alemannische Landnahme im Talboden und in mittleren Berglagen einigermassen<br />
nachvollziehen.<br />
Die Einwanderung verlief friedlich, die Alemannen vermischten sich mit der bereits<br />
ansässigen Bevölkerung. Aus dieser Zeit stammt auch die erste Kirche in Stans, die vermutlich<br />
von der alemannischen Herzogsfamilie gestiftet wurde. Die Stanser Kirche blieb bis<br />
ins 10. Jahrhundert, als die Buochser Kirche gebaut wurde, die einzige im Tal. Die Pfarrei<br />
umfasste wahrscheinlich das ganze heutige Kantonsgebiet und Engelberg. Zu dieser Zeit<br />
wurde die Region auch ins alemannische Bistum Konstanz eingegliedert.<br />
1
Überblick über die Geschichte Nidwaldens<br />
Landesausbau im Mittelalter<br />
Etwa ab dem 12. Jahrhundert wuchs die Bevölkerung, neues Ackerland und Weiden mussten<br />
gerodet werden. Vor allem Adelsfamilien und Klöster aus dem Mittelland und den<br />
Voralpen organisierten diesen Landesausbau: die Adelshäuser Lenzburg, Sellenbüren-Regensberg,<br />
Habsburg und Brienz-Ringgenberg-Raron, sowie die Klöster Muri und Murbach-<br />
Luzern. Die Herrschaft der Adelshäuser über die neuen Besitzungen war jedoch nur oberflächlich.<br />
Lokale Verwalter, die sogenannten Dienstadligen, handelten zwar offiziell im Auftrag<br />
der Adelsfamilien, in Wirklichkeit herrschten sie jedoch recht selbstständig.<br />
Viele der Adelsbesitzungen verschwanden bald wieder. Bis 1283 gingen die meisten Güter<br />
durch Schenkungen, Verkauf oder Tausch an die Klöster über. Im 13. Jahrhundert blieben<br />
nur die beiden Klöster Murbach-Luzern und Engelberg sowie die Adelsfamilie der Habsburger<br />
als grössere Herrschaften im Kantonsgebiet übrig. Die Besitzungen der Klöster waren<br />
grundherrschaftlich organisiert: Die einzelnen Bauerngüter wurden von Verwaltungszentren,<br />
den Dinghöfen, aus verwaltet. Das Kloster Murbach-Luzern hatte einen solchen Dinghof<br />
in Stans mit 18 abhängigen Erblehen und 30 zinspflichtigen Gütern. Das Kloster Engelberg<br />
hatte einen etwas kleineren Dinghof in Buochs.<br />
Landwirtschaft im Mittelalter<br />
Die weitaus meisten Menschen im Mittelalter waren Bauern. In Nidwalden wurde das Land<br />
im Hochmittelalter auf verschiedene Arten genutzt: Alp- und Weidewirtschaft, einfacher<br />
Ackerbau und Gartenwirtschaft. Die Landwirtschaft diente der Eigenversorgung, der Handel<br />
war gering. Eine komplexere Zelgenverfassung (genossenschaftlich geregelte Dreifelderwirtschaft),<br />
wie sie in anderen Gegenden üblich war, konnte jedoch nicht entstehen, die<br />
unterschiedlichen Nutzungsformen und die nur schwach ausgebildete Herrschaft standen<br />
dem entgegen.<br />
Wie in anderen Alpentälern ist ab dem 14. Jahrhundert eine Spezialisierung der Landwirtschaft<br />
zu beobachten. Grossviehhaltung und Käseproduktion wurden ausgebaut, bis andere<br />
Wirtschaftsformen (z. B. Ackerbau) im 16. Jh. fast vollständig verschwanden. Die<br />
steigende Nachfrage nach Fleisch und Käse in den oberitalienischen Städten machte den<br />
Export von Grossvieh und Käse über die Alpen lukrativ, gleichzeitig ermöglichten sinkende<br />
Preise den Import von Getreide aus dem süddeutschen Raum. Neben Zürich stieg vor allem<br />
die Bedeutung Luzerns als Marktplatz für Getreide. Der Wandel führte aber auch zu<br />
Konflikten zwischen Gross- und Kleinbauern um den knapper werdenden Weideplatz für<br />
das Vieh.<br />
Entwicklung der Ürten (Genossenschaften)<br />
Der wirtschaftliche Wandel stärkte die Ürten, wie die lokalen landwirtschaftlichen Genossenschaften<br />
in Nidwalden heissen. Ürten gab es bereits seit längerer Zeit, aber erst im<br />
Verlauf des landwirtschaftlichen Wandels im Spätmittelalter wuchsen sie zu Organisationen,<br />
in denen sich Dorfleben und lokale Politik abspielten.<br />
Wichtig für die Entwicklung waren die Kirchenstrukturen mit Pfarreien und Zehntbezirken:<br />
Die Ürten entfalteten sich innerhalb dieser Grenzen und umfassten zuerst oft die selben<br />
Menschen. So sind genossenschaftliche Elemente zuerst in den Pfarreien Stans und Buochs<br />
fassbar, wo wohl auch gemeinsame Wuhrbauten am Aawasser eine Rolle spielten.<br />
Ab dem 14. Jahrhundert traten die Ürten vermehrt in Erscheinung und lösten sich von den<br />
Kirchenstrukturen. Gleichzeitig nahm ihre politische Bedeutung zu: Die Ürten entwickelten<br />
sich zu Vorläufern der heutigen Gemeinden und blieben bis ins 19. Jahrhundert neben den<br />
Pfarreien tragende Elemente der Staatsorganisation.<br />
2
Überblick über die Geschichte Nidwaldens<br />
Ob- und Nidwalden – die Herkunft Unterwaldens<br />
Ob- und Nidwalden wurden bereits im Spätmittelalter als Unterwalden zusammengefasst.<br />
Während die Entstehung der anderen Halb<strong>kanton</strong>e – Basel und Appenzell – recht genau<br />
bekannt ist, kann die Herkunft Unterwaldens wegen der Quellenarmut nur lückenhaft belegt<br />
werden. Der Name Unterwalden bedeutet "im Wald gelegen" und taucht zuerst in lateinischer<br />
Form im 12. Jahrhundert als Bezeichnung für die klösterlichen Besitzungen in<br />
der Region auf.<br />
Die gemeinsame Bezeichnung Ob- und Nidwaldens als Unterwalden geht wahrscheinlich<br />
auf die Habsburger und auf die Reichsvogtei Waldstätte zurück. 1291 kaufte König Rudolf<br />
von Habsburg die Besitzungen des Klosters Murbach-Luzern in den beiden Tälern (v. a.<br />
die Grundherrschaft in Stans, Alpnach und Giswil). Zusammen mit Vogteirechten über die<br />
lokal begüterten Klöster Engelberg, Beromünster und der Obervogtei über Murbach-Luzern<br />
bestand eine Herrschaftsklammer über wichtige Teile beider Täler. Diese blieb aber wohl<br />
blosser Anspruch. Die lokalen Adligen walteten recht selbständig, bezogen sich jedoch<br />
gerne auf Habsburg, um ihre Legitimation zu steigern. So siegelten ab 1304 und bis in die<br />
1330er Jahre lokale Adlige als Unterwaldner Ammänner. Nach dem Tod König Albrechts<br />
bestätigte König Heinrich VII. 1309 die Reichsfreiheit und schlug Unterwalden zur Reichsvogtei<br />
neuen Waldstätte. Unterwalden war also der rechtstopographische Begriff für einen<br />
Teil der Reichsvogtei, es war keine autonome Gemeinde. Nach dem Niedergang der<br />
Reichsvogtei und dem Wegfallen der Landesherrschaft (Abzug der Habsburger nach Österreich)<br />
entwickelten sich die Waldstätten nach 1320 selbständig weiter, in Ob- und Nidwalden<br />
entstanden eigenständige Talgemeinden.<br />
Die alten Rechtsverhältnisse der Reichsvogtei Waldstätten wurden jedoch in der sich bildenden<br />
Eidgenossenschaft bewahrt, der Name Unterwalden erschien nur noch in eidgenössischen<br />
Bündnissen. Ob- und Nidwalden mussten so die Aufteilung ihrer Bundesstimme<br />
in zwei halbe Stände akzeptieren. Bis 1798 hatten die beiden Täler zusammen nur<br />
eine Stimme und konnten ihre Gesandten nur abwechslungsweise an die eidgenössische<br />
Tagsatzung schicken. Diese Regelung führte immer wieder zu mehr oder weniger heftigen<br />
Streitigkeiten zwischen Ob- und Nidwalden.<br />
Entstehung des Standes Nidwalden<br />
Nach dem allmählichen Rückzug der Habsburger Landesherrschaft ab den 1330er Jahren<br />
wuchs Nidwalden mit der Zeit zu einem eigenständigen Territorium zusammen. Grundlage<br />
der Entwicklung waren das Reichsland Unterwalden und die Reichsvogtei Waldstätte, in<br />
denen das Tal erstmals in einem relativ einheitlichen Herrschaftsgebiet zusammengefasst<br />
war.<br />
Gleichzeitig gewannen die reichen Grossbauern durch den landwirtschaftlichen Wandel<br />
(Ausbau der Grossviehzucht) grösseren politischen Einfluss. Um sich weitere Weidegebiete<br />
zu erschliessen, machten sie dem Kloster Engelberg und den verbliebenen Dienstadligen<br />
die Weiderechte streitig. So sind aus dieser Zeit verschiedene, zum Teil heftige Konflikte<br />
um Weideland und Holzschläge bekannt. 1382 eskalierte der Streit so weit, dass die<br />
führenden Dienstadelsfamilien aus Nidwalden verbannt wurden. Bis um 1400 lösten sich<br />
dann die grundherrlichen Dinghöfe vollends auf, und die Ürten traten an ihre Stelle: Lokalpolitik<br />
wurde fortan in den Ürten gemacht. Gleichzeitig werden die ersten Anzeichen eines<br />
eigenständigen Nidwaldner Staats sichtbar: Ab 1398 tauchen ein Rat und die Landsgemeinde<br />
in den Quellen auf, und ab 1400 ist ein sogenanntes Elfergericht mit Vertretern aus<br />
allen elf Ürten belegt.<br />
Im 15. Jahrhundert konnten die Nidwaldner ihre Herrschaft auf Kosten des Klosters Engelberg<br />
erweitern, und 1417 erhielten sie mit dem Blutbann das Recht, Kapitalverbrechen zu<br />
bestrafen. Dennoch blieb die staatliche Ordnung insgesamt so schwach, dass Nidwalden<br />
zur Lösung innerer Konflikte regelmässig auf eidgenössische Schiedsgerichte angewiesen<br />
3
Überblick über die Geschichte Nidwaldens<br />
war. Erst mit der Expansion ins Tessin (zusammen mit Uri und Schwyz) und den französischen<br />
Soldpensionen festigte sich der Staat.<br />
Arnold von Winkelried – der Nidwaldner Held<br />
Arnold von Winkelried, der den Eidgenossen 1386 mit seiner Heldentat den Sieg in der<br />
Schlacht von Sempach geschenkt haben soll, ist in zeitgenössischen Quellen nicht belegt.<br />
Er taucht erst im 16. Jahrhundert in Heldenliedern auf. Die Forschung muss heute davon<br />
ausgehen, dass Winkelried keine historische Person war. Der Mythos des Schlachthelden<br />
Winkelried war dennoch bedeutend. Seit dem 14. Jahrhundert war in Nidwalden eine eigenständige<br />
Ordnung entstanden, die noch auf unsicheren Beinen stand und gefestigt<br />
werden musste. In dieser Entwicklung diente Winkelried den Nidwaldnern – und den Eidgenossen<br />
– als Vorbild und als Identifikationsfigur. Das erklärt auch, wieso Winkelried zu<br />
dieser Zeit zwar in Heldenliedern, jedoch nicht in Gefallenenlisten auftaucht.<br />
Eine ähnliche Rolle für das Selbstbewusstsein der Nidwaldner spielten auch die Herkunfts-<br />
und Wappenlegenden, die im 16. Jahrhundert in Chroniken, Liedern und Sagen auftauchen.<br />
Diese erzählen etwa, wie die Nidwaldner von noblen Römern abstammten und vor<br />
langer Zeit im Kampf für den Papst den Schlüssel als Wappen erhielten. Aufgrund dieser<br />
Geschichten erlaubte Papst Julius II. den Nidwaldnern 1512, den päpstlichen Doppelschlüssel<br />
im Wappen zu tragen.<br />
Gegenreformation<br />
In der Reformationszeit blieb Nidwalden zusammen mit der ganzen Innerschweiz der katholischen<br />
Religion treu und unterstützte die Gegenreformation. Insbesondere Landammann<br />
Melchior Lussi, der führende Nidwaldner Politiker im 16. Jahrhundert, engagierte<br />
sich in der Gegenreformation. Ein Freund von Erzbischof Karl Borromäus, war Lussi 1562-<br />
63 Gesandter der katholischen Orte am Konzil von Trient.<br />
Die Kirchenreformen des Konzils von Trient mussten in Nidwalden anfänglich gegen den<br />
Volkswillen durchgesetzt werden. Zum Durchbruch verhalf ihnen schliesslich der<br />
Kapuzinerorden, den Melchior Lussi 1582 nach Stans geholt hatte.<br />
Bevölkerung und Wirtschaft bis 1800<br />
Übers Ganze gesehen, wuchs in der frühen Neuzeit die Bevölkerung. Lebten Ende des<br />
Mittelalters geschätzte 7'000 Menschen in ganz Unterwalden, wurden 1799 in der helvetischen<br />
Volkszählung allein in Nidwalden 8'496 Einwohner erfasst. Im Vergleich mit anderen<br />
Regionen war das Wachstum jedoch eher gering, und die Bevölkerungszahl schwankte<br />
stark. Die Wirtschaftsweise liess kein schnelleres Wachstum zu, und in wiederholten Pestepidemien<br />
starben viele Menschen.<br />
Die Vieh- und Alpwirtschaft, die sich im Spätmittelalter herausgebildet hatte, blieb auch in<br />
der Frühneuzeit bestimmend, so dass Nidwalden im 18. Jahrhundert als Hirtenland bezeichnet<br />
wurde. Neben der Landwirtschaft lassen sich in den grösseren Ortschaften auch<br />
Kleingewerbe und Handwerk nachweisen. Bescheidene Anfänge von Industrie sind ab<br />
1598 im Rotzloch (Stansstad) nachweisbar, wo sich neben einer Papierfabrik bis 1626<br />
weitere Betriebe ansiedelten: Öltrotte, Sägerei, Pulvermühle, Gerberei und Eisenschmelze.<br />
Die Wirtschaft vermochte jedoch nicht allen Einwohnern ein Auskommen zu verschaffen.<br />
Vielen ärmeren Männern blieb nur der Ausweg, sich in den Solddienst anwerben zu lassen<br />
und in einem der zahlreichen Schweizer Regimente in der Fremde Dienst zu leisten.<br />
Ancien Régime<br />
Die Soldbündnisse, welche die führenden Geschlechter mit Venedig, Spanien, Savoyen<br />
und insbesondere Frankreich schlossen, brachten dem Staatsschatz, vor allem jedoch ih-<br />
4
Überblick über die Geschichte Nidwaldens<br />
nen selbst reiche Geldeinkünfte. Dennoch verstand sich Nidwalden im Ancien Régime (Zeit<br />
zwischen 1600 und 1798) als Popularstand und "Demokratie", war doch jeder Landmann<br />
ab dem 14. Altersjahr an der Landsgemeinde stimmberechtigt. Jedoch beschränkte sich<br />
die Entscheidungsfreiheit auf die Vorschläge einer kleinen, familiär eng verbundenen Elite.<br />
Die führenden Familien der Zelger, Lussi/Trachsler, Leu/Achermann und Keyser, welche<br />
die Regierungsämter unter sich aufteilten, übten die tatsächliche Macht aus. Mehrmals<br />
versuchten sie zudem, die Rechte der Landleute an der Landsgemeinde abzuschaffen<br />
oder wenigstens einzuschränken.<br />
Trotz kleinster Verwaltung war das Leben der Landleute vor der Aufklärung rigoros geregelt.<br />
Das Volk war der Obrigkeit zum unbedingten Gehorsam verpflichtet, Abweichler oder<br />
"Unruhige" wurden unerbittlich verfolgt und hart bestraft – oft mit Billigung des Volkes, wie<br />
die Hexenprozesse zeigen.<br />
Der "Franzosenüberfall" von 1798<br />
Auch nach dem Untergang des Ancien Régimes und der Errichtung der helvetischen<br />
Republik 1798 hatte das Gedankengut der Aufklärung in Nidwalden kaum ein Echo gefunden.<br />
Die helvetische Verfassung stiess aus religiösen und politischen Gründen auf breite<br />
Ablehnung. Fanatisiert durch ultrakonservative Geistliche stürzten sich die Nidwaldner<br />
Truppen am 9. September 1798 in eine aussichtslose Schlacht gegen die französische<br />
Armee unter General Schauenburg. Rund 100 Nidwaldner und ebenso viele Franzosen<br />
fielen im Kampf, und weitere gut 300 Nidwaldnerinnen und Nidwaldner kamen bei den anschliessenden<br />
Massakern ums Leben. Die Dörfer Ennetmoos, Stansstad, Buochs und<br />
Stans wurden stark verwüstet.<br />
Elend und Not der Überlebenden waren gross, weshalb in der ganzen Schweiz "Liebesgaben"<br />
für die notleidende Bevölkerung gesammelt wurden. Johann Heinrich Pestalozzi kam<br />
nach Nidwalden, um sich der Waisenkinder anzunehmen. Die militärische Besatzung,<br />
Zwangsmassnahmen der neuen helvetischen Behörden, Verhaftungen und Deportationen<br />
verschlimmerten die Lage zusätzlich und verschärften den Groll in der Bevölkerung.<br />
Rückkehr zur alten Ordnung und neue Gedanken<br />
Die helvetische Ordnung hatte keinen Bestand: Nach dem Abzug der französischen Truppen<br />
aus der Schweiz 1802 wurde in Nidwalden die Landsgemeinde wieder eingeführt und<br />
Schritt für Schritt zur alten Ordnung zurückgekehrt. 1815 verweigerte Nidwalden trotzig und<br />
politisch ungeschickt die Zustimmung zum neuen eidgenössischen Bundesvertrag und trat<br />
gar aus dem Bund aus. Erst nach dem Einmarsch von Bundestruppen lenkte Nidwalden<br />
ein, bezahlte seinen Widerstand jedoch mit dem Verlust Engelbergs an Obwalden. Darauf<br />
folgende Ressentiments und Unruhen prägten die 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts und verstärkten<br />
die Spannungen zwischen konservativen und fortschrittlichen Kräften im Kanton.<br />
Ab den 1830er Jahren nahmen vermehrt auch liberale, eidgenössisch gesinnte Persönlichkeiten<br />
Einfluss auf das öffentliche Leben. Sie fanden sich in der "Rotzloch-Gesellschaft“ –<br />
benannt nach ihrem Tagungsort – oder im Vaterländischen Verein zusammen. Ihre Zeitung,<br />
das "Nidwaldner Wochenblatt", wurde jedoch auf Betreiben der Geistlichkeit 1844<br />
nach wenigen Nummern verboten. Viele Liberale und auch aufgeschlossene Konservative<br />
begannen, sich im Privaten sozial zu engagieren: Sie waren massgeblich an der Gründung<br />
der ersten Bank im Kanton (Ersparniskasse Nidwalden), an der Förderung der Bildung<br />
(Sekundarschulen) sowie an der Errichtung des Kantonsspitals beteiligt.<br />
Nidwalden im Sonderbund und im Bundesstaat<br />
Den Bemühungen um die Bundesstaatsgründung stand die konservative Mehrheit<br />
entschieden ablehnend gegenüber. Nidwalden schloss sich 1845 dem Sonderbund der<br />
katholischen Kantone an, der die Bundesrevision bekämpfte. Auch nach der Niederlage<br />
5
Überblick über die Geschichte Nidwaldens<br />
gegen die eidgenössischen Truppen im Sonderbundskrieg von 1847 verstummte die konservative<br />
Opposition nicht, doch fügte sich Nidwalden diesmal dem Mehrheitsentscheid der<br />
Kantone.<br />
Die Nidwaldner Kantonsverfassung von 1850 enthielt grundlegende demokratische Neuerungen:<br />
Die neu geschaffenen Bezirksgemeinden (heute Politische Gemeinden) übernahmen<br />
die politischen Aufgaben der Ürten. Die Pressefreiheit wurde garantiert, die Amtsdauer<br />
der Behördenmitglieder beschränkt. Eine Gewaltentrennung gab es aber noch nicht,<br />
der regierende Landammann war zum Beispiel immer noch oberster Richter, und der<br />
Landrat blieb für Strafrechtsprozesse zuständig. Dennoch stehen zahlreiche neu erstellte<br />
Schulhäuser und Infrastrukturbauten, die Durchführung des Eidgenössischen Schützenfests<br />
in Stans 1861 sowie der Bau des Winkelrieddenkmals 1865 für eine behutsame Öffnung<br />
und die wachsende Akzeptanz des Bundesstaats.<br />
In der revidierten Kantonsverfassung von 1877 erschienen die Armen- und Schulgemeinden<br />
als autonome kommunale Körperschaften. Die autonomen Schulgemeinden existieren<br />
als Nidwaldner Spezialität bis heute, die Armengemeinden wurden 1980 aufgehoben.<br />
Wirtschaft und Bevölkerung bis zum Zweiten Weltkrieg<br />
Bis ins 20. Jahrhundert war Nidwalden ein Agrar<strong>kanton</strong>. Verkehrsmässig war der Kanton<br />
schlecht erschlossen, und Industrialisierung hatte es im 19. Jahrhundert kaum gegeben:<br />
Die Bevölkerung stand dem "Fabrikleben" skeptisch gegenüber, und die vermögenden<br />
Gruppen bevorzugten die traditionellen Wirtschaftszweige Viehzucht, Käseherstellung und<br />
-handel sowie Obstbau. Die Papierfabrik im Rotzloch und die Seidenspinnerei in Buochs<br />
blieben lange die einzigen grösseren Industriebetriebe in Nidwalden.<br />
Neue Verdienstmöglichkeiten – auch für Frauen – brachte ab Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
der Tourismus. Nach der pionierhaften Erschliessung des Bürgenstock mit Drahtseilbahn<br />
und Luxushotel wurde in praktisch allen Gemeinden die touristische Infrastruktur ausgebaut.<br />
Die modernen Errungenschaften wie elektrisches Licht und verbesserte Wasserversorgung<br />
kamen auch der einheimischen Bevölkerung zu Gute. Der Tourismus-Boom ging<br />
mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu Ende, die Branche brach ein und vermochte<br />
sich auch nach Kriegsende nur zögerlich zu erholen.<br />
Wegen dem Ausbleiben der Industrialisierung und der schlechten Verkehrslage war das<br />
Bevölkerungswachstum im Vergleich zur Schweiz bis 1870 unterdurchschnittlich, und bis<br />
1930 blieb es gering. Erst mit der Ansiedlung neuer Industrie im Zweiten Weltkrieg (Militärflugplatz,<br />
Pilatus-Flugzeuwerke) wuchs die Bevölkerung stärker.<br />
Der Bannalp-Streit<br />
Zu Auseinandersetzungen quer durch die Parteien führte in den 1930er Jahren die Idee<br />
der Eigenversorgung mit elektrischem Strom. 1934 setzte sich nach heftigen Kämpfen eine<br />
Volksbewegung für den Bau eines Elektrizitätswerks auf der Bannalp gegen die Mehrheit<br />
von Regierung und Landrat durch. Neun der elf Regierungsräte traten daraufhin zurück.<br />
Der Entscheid zum Bau des eigenen Kraftwerk sollte sich als klug erweisen. Die Gewinne<br />
aus dem Stromverkauf erleichterten es dem Kanton, weitere grosse Infrastrukturprojekte<br />
zu finanzieren.<br />
Wirtschaftlicher Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
Der 1935 in Buochs errichtete Militärflugplatz und die 1939 gegründeten privaten Pilatus-<br />
Flugzeugwerke lösten eine beträchtliche Zuwanderung aus und wurden zu den grössten<br />
Arbeitgebern im Kanton. Neben diesen Industriebereichen war es – wie überall – der<br />
Dienstleistungssektor, der am stärksten wuchs. Die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft<br />
sank von 38% im Jahr 1900 auf lediglich noch 4% im Jahr 2000. Einen weiteren Ent-<br />
6
Überblick über die Geschichte Nidwaldens<br />
wicklungsschub bewirkten die Bahn- und Strassenprojekte (Anschluss an SBB und Nationalstrassen),<br />
welche die Landsgemeinde 1954 beschloss. Sie befreiten Nidwalden aus<br />
seiner isolierten Verkehrslage.<br />
Die zurückhaltende Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen bewirkte ein grosses<br />
Wachstum der Steuereinkünfte (namentlich in Hergiswil), weshalb sich die Verschuldung in<br />
Grenzen halten liess. Weitere Folge dieser Steuerpolitik war die Ansiedlung von Unternehmen<br />
sowie der Zuzug von Privatpersonen.<br />
Politischer und gesellschaftlicher Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
1965 gab sich Nidwalden als einer der ersten Kantone eine neue Kantonsverfassung nach<br />
modernen verfassungsrechtlichen Grundsätzen. Nach wie vor blieben die traditionellen<br />
Parteien CVP und FDP die dominierenden politischen Kräfte, auch wenn sich ab den<br />
1980er Jahren mit dem links-grünen Demokratischen Nidwalden (DN) eine Oppositionspartei<br />
etablieren konnte.<br />
In den 1980er und 1990er Jahren konzentrierten sich die politischen Auseinandersetzungen<br />
auf das von der Nagra geplante Endlager für radioaktive Abfälle im Wellenberg (Wolfenschiessen).<br />
Ähnlich wie die Diskussion um das Bannalpwerk vermochte auch dieses<br />
Projekt die Massen zu mobilisieren. Es scheiterte am mehrfachen Nein des Volkes. Im<br />
Gefolge dieser Auseinandersetzungen wurde die Landsgemeinde 1996 an der Urne mit<br />
grosser Mehrheit abgeschafft. Die Zahl der Regierungsräte wurde in einer Verwaltungsreform<br />
von neun auf sieben reduziert. Die ersten beiden Frauen wurden 2002 in die Regierung<br />
gewählt und 2006 bestätigt.<br />
Das konstant hohe Bevölkerungswachstum nach 1930 löste eine gesellschaftliche Durchmischung<br />
aus. Trotz den vielen Neuzuzügern verhinderte ein traditionell aktives Kultur- und<br />
Dorfleben, dass die Nidwaldner Gemeinden zu reinen Schlafgemeinden der Agglomeration<br />
Luzern wurden. Dazu trugen neben Sport- und Kulturvereinen auch Veranstaltungen mit<br />
überregionaler Ausstrahlung wie beispielsweise die Stanser Musiktage bei.<br />
März 2007<br />
Überarbeitet Mai 2010<br />
Hansjakob Achermann<br />
Karin Schleifer<br />
Emil Weber<br />
Staatsarchiv Nidwalden<br />
Stansstaderstrasse 54<br />
6371 Stans<br />
Tel.: 041 618 51 51<br />
E-Mail: <strong>staatsarchiv</strong>@nw.ch<br />
Internet: www.<strong>staatsarchiv</strong>.nw.ch<br />
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