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Laura Zermin, 17 Jahre, Stäfa „Erwachen“ Als das Metall in Paulas ...

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<strong>Laura</strong> <strong>Zerm<strong>in</strong></strong>, <strong>17</strong> <strong>Jahre</strong>, <strong>Stäfa</strong><br />

<strong>„Erwachen“</strong><br />

<strong>Als</strong> <strong>das</strong> <strong>Metall</strong> <strong>in</strong> <strong>Paulas</strong> Haut glitt keuchte sie auf, liess die Schere fallen und unterdrückte nur mit<br />

Mühe e<strong>in</strong>en Schmerzensschrei. Um ke<strong>in</strong>en Preis durfte sie jemand bemerken.<br />

Ihr Blick wanderte zum Himmel, suchte den Mond, um sich e<strong>in</strong> wenig Mut zu machen. Schon seit<br />

ihrer K<strong>in</strong>dheit hatte die leuchtende Scheibe sie auf seltsame Weise beruhigt. Aber heute war der<br />

Himmel mit Wolken verhangen, nur e<strong>in</strong> heller Fleck zeigte die Stelle an, an der der Mond stand.<br />

Das musste ihr reichen. Schnell wischte sie sich <strong>das</strong> Blut von der Hand, setzte vorsichtig die<br />

Gartenschere wieder an und begann erneut, langsam e<strong>in</strong>en metallnen Strang nach dem anderen zu<br />

durchtrennen.<br />

Plötzlich liess sie e<strong>in</strong> Geräusch auf der anderen Seite des Stacheldrahtzaunes zusammenzucken.<br />

Sie konnte e<strong>in</strong>e dunkle Gestalt im Schatten des grossen Gefängnisbaus ausmachen. Die Gestalt<br />

huschte an der Mauer entlang, näherte sich mit jedem Schritt der Stelle, an der Paula sass. Vor<br />

Schreck hatte sie die Schere schon wieder fallen lassen. Oh bitte, bitte lass es Jack se<strong>in</strong>, betete<br />

Paula lautlos zu e<strong>in</strong>em Gott, an den sie nicht glaubte. Eigentlich war es noch viel zu früh. Jack<br />

hatte ihr gesagt, er würde um zwei kommen und die Zeiger ihrer Uhr sagten ihr im dämmrigen<br />

Licht e<strong>in</strong>er entfernten Strassenlaterne, <strong>das</strong>s es erst viertel nach e<strong>in</strong>s war. Paula presste die<br />

bebenden Lippen aufe<strong>in</strong>ander und hoffte, <strong>das</strong>s der Schatten des Baumes, neben dem sie kniete,<br />

ausreichen würde, um sie vor den Blicken des Fremden zu verbergen. <strong>Als</strong> dieser aber immer näher<br />

kam, fasste sie e<strong>in</strong>en Entschluss.<br />

„Jack?“, ihre Stimme zitterte.<br />

Erst kam ke<strong>in</strong>e Antwort. E<strong>in</strong>e Sekunde lang, <strong>in</strong> der Paula vor Angst fast starb. Jetzt hatte sie ihre<br />

Deckung aufgegeben, und wenn der Schatten dort e<strong>in</strong> Gefängniswärter war, wäre sie verloren.<br />

Doch dann erklang e<strong>in</strong> Flüstern: „Paula? Baby, bist du es?“<br />

„Oh Jack!“ Paula krallte ihre Hände <strong>in</strong> den mit Stacheln gespickten Zaun; am liebsten wäre sie zu<br />

ihm gerannt, aber noch trennten sie die <strong>Metall</strong>drähte. Der Schatten stürzte auf sie zu, ohne auf die<br />

Gefahr zu achten, <strong>in</strong> die er sich begab. E<strong>in</strong>e Sekunde später fühlte sie se<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>ger auf den ihren.<br />

Se<strong>in</strong> Atem g<strong>in</strong>g stossweise, er flüsterte. „Paula, es ist was schief gelaufen, wir müssen uns beeilen!<br />

Los, schneide noch die restlichen Drähte durch, aber so schnell du kannst!“<br />

In suchender Hast tasteten ihre Hände nach der Schere, fanden sie. Paula begann wieder, die<br />

Maschen zu durchtrennen, ungeachtet der stachligen Drähte, die ihr die Haut zerkratzten. „Was …<br />

was ist passiert?“ brachte sie hervor.<br />

„Lloyd hat mir erst heute Morgen gesagt, <strong>das</strong>s heute gar nicht der Wachmann Aufsicht hat, den wir<br />

bestochen haben, sondern <strong>das</strong>s der erst übermorgen um diese Zeit dran ist. Ich hab versucht, ihm<br />

und Richie klar zu machen, <strong>das</strong>s ich nicht warten kann, <strong>das</strong>s du heute kommst und nicht<br />

übermorgen. Sie haben gesagt, tja, dann musst du halt alle<strong>in</strong>e gehen, aber <strong>das</strong> sei Wahns<strong>in</strong>n. <strong>Als</strong>o<br />

b<strong>in</strong> ich alle<strong>in</strong> gegangen, aber es gab e<strong>in</strong> paar Schwierigkeiten, ich musste drei Männer<br />

niederschlagen, und ich denke, sie haben me<strong>in</strong> Verschw<strong>in</strong>den schon bemerkt.“ Wie als Bestätigung<br />

se<strong>in</strong>er Worte erklang auf e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Hundebellen <strong>in</strong>nerhalb des Gefängnisses und Paula me<strong>in</strong>te<br />

auch, Rufe zu hören. Sie war fast fertig, nur noch zwei Maschen, dann konnte sich Jack durch <strong>das</strong><br />

Loch zwängen. „Beeil dich!“, <strong>in</strong> Jacks Stimme schwang Panik mit, die dafür sorgte, <strong>das</strong>s <strong>Paulas</strong><br />

Hände noch mehr zitterten. „Ich b<strong>in</strong> fast fertig. Die Harley steht e<strong>in</strong>e Ecke weiter, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em alten<br />

Schuppen. Wenn ich hier fertig b<strong>in</strong>, dann rennen wir h<strong>in</strong> und wenn wir da s<strong>in</strong>d, haben wir es fast<br />

geschafft!“, sagte sie, um sich selbst und Jack zu beruhigen.<br />

Der letzte Draht kam ihr besonders widerspenstig vor, sie drückte auf die Schere, aber er wollte<br />

nicht nachgeben. „Baby, mach schon, sie kommen!“ schrie Jack. Paula wollte ihn gerade<br />

ermahnen, leise zu se<strong>in</strong>, da sah sie, <strong>das</strong>s an der Mauer des Gefängnisses die Aussentür<br />

aufgegangen war und zwei Männer mit Hunden sich suchend umsahen.<br />

Ke<strong>in</strong>e Sekunde zu früh gab der Draht endlich unter der Gartenschere nach. „Fertig!“ Paula bog <strong>das</strong><br />

Stück Maschendraht zurück. Fl<strong>in</strong>k schlüpfte der schwarze Schatten durch <strong>das</strong> entstandene Loch<br />

und Paula f<strong>in</strong>g an zu rennen, während h<strong>in</strong>ter ihnen die Stimmen immer lauter wurden und die<br />

Hunde zu bellen begannen.<br />

Neben ihr keuchte Jack, als sie um die Strassenecke bogen. Sie stürmte zu dem Schuppen, riss die<br />

Tür auf und stiess e<strong>in</strong>en erleichterten Seufzer aus: Die Harley Davidson, die sie ihrem Vater<br />

geklaut hatte, war noch da.<br />

Jack, der h<strong>in</strong>ter ihr stand, drückte ihr e<strong>in</strong>en Kuss auf den Nacken, als er <strong>das</strong> Motorrad sah. „Baby,<br />

du bist spitze!“<br />

Wach auf, Paula!, die Stimme me<strong>in</strong>er Schwester kl<strong>in</strong>gt besorgt.<br />

Ich schlage die Augen auf und blicke <strong>in</strong> ihr rundes, braungebranntes Gesicht.<br />

Hast du schlecht geträumt?, fragt sie. Du hast gestöhnt im Schlaf.<br />

Ich will die Hand heben, um mir e<strong>in</strong>e Strähne aus dem Gesicht zu wischen. Doch es geht nicht, ich<br />

kann me<strong>in</strong>e Hand nicht heben.<br />

Was ist los?, frage ich Heather, e<strong>in</strong> bisschen panisch. Wieso kann ich me<strong>in</strong>e Hand nicht bewegen?


Immerh<strong>in</strong> sprechen kann ich, merke ich erleichtert. Aber Heather, die auf e<strong>in</strong>em Stuhl neben<br />

me<strong>in</strong>em Bett sitzt, schaut mich an, <strong>das</strong> Entsetzen <strong>in</strong> ihrem Gesicht spiegelt fast me<strong>in</strong>e eigenen<br />

Gefühle wieder.<br />

Ne<strong>in</strong>, Paula, sagt sie, nicht.<br />

Was nicht?, will ich wissen. Was? Es ist doch e<strong>in</strong>e berechtigte Frage!, als ich <strong>das</strong> sage, kommt zu<br />

dem Entsetzen Angst dazu. Wieso b<strong>in</strong> ich überhaupt hier? Wo ist Jack?, frage ich weiter.<br />

Paula, sagt Heather wieder, komm zu dir. Du hast geträumt.<br />

Ich will mich aufsetzen, aber als ich me<strong>in</strong>e Muskeln anspanne, passiert nichts. Ich spüre, wie sich<br />

Panik <strong>in</strong> mir ausbreitet und versuche noch e<strong>in</strong>mal, aufzustehen, aber es passiert nichts.<br />

Heather!, rufe ich, was ist los mit mir? Wieso kann ich nicht aufstehen?<br />

Aber me<strong>in</strong>e Schwester schaut mich nur traurig an und sagt: Beruhige dich, Paula, sonst bekommst<br />

du wieder e<strong>in</strong>en Anfall.<br />

Anfall?, schreie ich verzweifelt, wieso denn e<strong>in</strong>en Anfall? Sag mir, was hier los ist, Heather! Wieso?<br />

Wieso kann ich mich nicht bewegen?<br />

Me<strong>in</strong>e Angst ist so gross, <strong>das</strong>s ich beg<strong>in</strong>ne, zu we<strong>in</strong>en. Immer wieder versuche ich, mich<br />

aufzusetzen, aber nichts passiert. Das kann doch nur e<strong>in</strong> Albtraum se<strong>in</strong>. Gerade war ich doch noch<br />

mit Jack auf Dads Harley unterwegs! Was ist passiert? Das kann nur e<strong>in</strong> Albtraum se<strong>in</strong>, sage ich<br />

mir wieder. Aber wenn es e<strong>in</strong> Albtraum ist, wieso fühlt sich dann alles so beängstigend wirklich an?<br />

Heather, wimmere ich, Heather, wo ist Jack? Bitte sag mir, was passiert ist.<br />

Heather steht auf. Das weißt du doch ganz genau, was passiert ist, sagt sie, bitte quäl mich nicht.<br />

Beruhige dich lieber, sonst muss ich dir e<strong>in</strong>e Spritze geben.<br />

Ne<strong>in</strong>, Heather, flehe ich sie an, was ist passiert? Sag es mir!<br />

Sie steht vom Stuhl auf, wendet ihr Gesicht von mir ab und sagt leise: Du bist<br />

querschnittsgelähmt, schon seit zehn <strong>Jahre</strong>n. Seit der Nacht, <strong>in</strong> der du mit Vaters Harley fliehen<br />

wolltest, zusammen mit Jack. Ihr seid nicht weit gekommen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kurve hat er die Kontrolle<br />

über <strong>das</strong> Motorrad verloren.<br />

Ne<strong>in</strong>. Ich flüstere: Das kann nicht se<strong>in</strong>.<br />

Langsam wird mir dieser Albtraum zu bunt.<br />

Ne<strong>in</strong>! schluchze ich, Heather, ne<strong>in</strong>, <strong>das</strong> … <strong>das</strong> ist nicht wahr!<br />

Mit Schrecken bemerke ich, wie mir Speichel aus dem Mund läuft. Angewidert will ich ihn<br />

wegwischen, aber ich kann mich immer noch nicht bewegen<br />

Beruhige dich! Heather wischt mir mit e<strong>in</strong>em Tuch über den Mund. Ich werde dir e<strong>in</strong>e Spritze<br />

geben, dann kommst du wieder zu dir.<br />

Ne<strong>in</strong>, bitte nicht, Heather, bitte …, bettle ich, aber sie zieht schon die Spritze auf, schlägt e<strong>in</strong>en Teil<br />

der Decke zurück, um an me<strong>in</strong>en Arm zu kommen.<br />

„Hey, Baby!“ Paula stöhnte erleichtert, als sie Jacks Stimme hörte. Sie schlug die Augen auf und<br />

bemerkte, <strong>das</strong>s sie immer noch auf der Harley sass, die Jack am Rande e<strong>in</strong>er grossen Wiese<br />

geparkt hatte.<br />

Steifbe<strong>in</strong>ig liess sie sich von der Masch<strong>in</strong>e und <strong>in</strong>s nasse Gras gleiten, wo Jack schon an <strong>das</strong><br />

Motorrad gelehnt sass. „Hey, Baby“, sagte er wieder, diesmal zärtlicher, und zog ihr Gesicht zu<br />

se<strong>in</strong>em. „Ich hab mich noch gar nicht richtig bei dir bedankt.“ Der Kuss liess Paula die Schrecken<br />

ihres Albtraums vergessen, holte sie wieder zurück <strong>in</strong> die Wirklichkeit. Trotzdem sagte sie, als Jack<br />

Atem holte: „Ich hatte e<strong>in</strong>en grauenvollen Traum, Jack. Ich habe geträumt, wir wären …“<br />

„Schsch!“ machte er und gab ihr e<strong>in</strong>en Kuss aufs Ohr. Sie kicherte. „Jetzt bist du ja wieder hier.<br />

Siehst du den Sonnenaufgang?“ fragte er und küsste sie wieder. Paula drehte sich um, was ihr e<strong>in</strong><br />

wenig schwer fiel, weil Jack sie immer noch leidenschaftlich küsste. „Oh!“ Über den sanften Hügeln<br />

am Horizont g<strong>in</strong>g strahlend die Sonne auf, <strong>in</strong> allen erdenklichen Lila-, Rot-, Blau- und Grüntönen.<br />

Am Rande dieses Farbspiels, dort, wo der Himmel immer noch dunkel war, stand glänzend der<br />

Mond. „Wie wunderschön!“ seufzte Paula.<br />

„Und all <strong>das</strong> hast du mir wiedergegeben“, hauchte Jack an ihrem Ohr. „Jetzt ist wieder alles<br />

möglich!“ Dann sprang er auf, rannte die leicht abfallende Wiese herunter. Ganz abrupt blieb er<br />

stehen, stellte sich breitbe<strong>in</strong>ig h<strong>in</strong>, breitete se<strong>in</strong>e Arme aus und schrie: „Paula, wir fliegen zum<br />

Mond!“ Lachend zog sie ihre Schuhe aus und rannte ihm h<strong>in</strong>terher. <strong>Als</strong> sie bei ihm angekommen<br />

war, wirbelte er sie herum wie e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>d. Lachend fielen beide zu Boden.<br />

„So wie Neil Armstrong gerade?“, fragte sie, immer noch lachend. Er wurde ernst. „Ja, Paula, so<br />

wie Neil.“<br />

Später lagen sie nebene<strong>in</strong>ander im Gras und schauten <strong>in</strong> den klaren Julihimmel. Die Harley<br />

Davidson hatte Jack <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nahen Baumgruppe versteckt und sie hatten beschlossen, erst am<br />

nächsten Morgen weiterzufahren.<br />

„Ich b<strong>in</strong> so glücklich“, sagte Paula, wie so oft <strong>in</strong> den letzten Stunden mit e<strong>in</strong>em Lächeln auf den<br />

Lippen. Sie drehte sich zu Jack um, der mit e<strong>in</strong>em Strohhalm im Mund <strong>in</strong> den Himmel blickte. Se<strong>in</strong>e<br />

braunen Augen leuchteten, als er ihre Worte hörte. Im Gefängnis waren se<strong>in</strong>e Haare lang<br />

geworden, genauso wie se<strong>in</strong> Bart. Sanft strich sie über se<strong>in</strong>e Lippen. „Woh<strong>in</strong> fahren wir jetzt?“<br />

„Ich hatte im Gefängnis genügend Zeit, mir <strong>das</strong> alles auszudenken“, sagte Jack und stütze sich mit<br />

dem Ellenbogen auf <strong>das</strong> Gras, um ihr besser <strong>in</strong> die Augen blicken zu können. „Wir fahren nach San<br />

Diego und von dort nehmen wir <strong>das</strong> Schiff nach Australien.“ „Australien!“ Paula entfuhr e<strong>in</strong>


egeisterter Schrei. „In Australien“, fuhr Jack fort, „kaufe ich uns e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Farm. Ich arbeite<br />

tagsüber auf dem Feld und du backst mir ganz viele von diesen leckeren Schokoladenkuchen.“<br />

„Das wird wundervoll“, sagte Paula verträumt. Dann sah sie Jack gespielt streng an. „Aber wann<br />

fliegen wir dann zum Mond?“<br />

„Wenn du willst, lasse ich <strong>das</strong> mit der Feldarbeit und baue dir stattdessen <strong>in</strong> unserer Garage e<strong>in</strong>e<br />

Mondfähre und wir kommen noch vor Neil dort oben an!“ er lachte se<strong>in</strong> kehliges Lachen, <strong>das</strong> sie so<br />

an ihm liebte.<br />

„Ja“, sagte sie, „<strong>das</strong> machen wir.“<br />

Den ganzen Tag über schmiedeten sie Pläne und als die Sonne unterg<strong>in</strong>g holte Jack se<strong>in</strong><br />

Transistorradio aus dem Rucksack und sie bereiteten ihr Nachtlager vor. Zum Abendessen gab es<br />

nur kalte Suppe aus Dosen, aber Paula fühlte sich so beschw<strong>in</strong>gt wie schon sehr lange nicht mehr.<br />

Nach dem Essen legte sich Paula <strong>in</strong> ihren Schlafsack, Jack baute <strong>das</strong> Transistorradio vor ihr auf und<br />

dann kroch er zu ihr. Flüsternd erzählte er ihr vom Mond, davon, <strong>das</strong>s se<strong>in</strong>e Oberfläche aus Kratern<br />

und Löchern bestehe und <strong>das</strong>s die Anziehungskraft dort so niedrig sei, <strong>das</strong>s Neil nur e<strong>in</strong> wenig<br />

spr<strong>in</strong>gen musste, um drei Meter weit nach oben zu schweben. <strong>Als</strong> Paula nach oben zu der hellen<br />

Sichel sah, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Meer aus Sternen stand, konnte sie gar nicht glauben, was Jack ihr da<br />

erzählte. Von se<strong>in</strong>en Geschichten und von Jacks Stimme wurde Paula ganz schläfrig. Auf e<strong>in</strong>mal<br />

erstarben Jacks leise Worte und er sagte: „Hör mal, Paula.“ Paula war viel zu müde, um sich auf<br />

die Geräusche zu konzentrieren. Sie war schon halb am schlafen, aber ihr Name liess sie noch<br />

e<strong>in</strong>mal aufschrecken. Im Radio verkündete e<strong>in</strong>e knisternde Stimme: „Wie die NASA vor wenigen<br />

M<strong>in</strong>uten bekannt gab, hat Neil Armstrong heute um 21 Uhr 56 als erster Mensch den Mond<br />

betreten. Während …“ E<strong>in</strong> leiser Jubelschrei erklang h<strong>in</strong>ter Paula. „Hast du <strong>das</strong> gehört, Baby?“ se<strong>in</strong>e<br />

Stimme überschlug sich fast. „Hast du <strong>das</strong> gehört? Neil Armstrong ist auf dem Mond gelandet!“<br />

Leise Stimmen wecken mich. Ich höre me<strong>in</strong>e Schwester sagen: Gestern Abend war sie ganz<br />

aufgeregt, Dr. Jason. Ich habe ihr e<strong>in</strong>e Spritze gegeben, aber sie schlief trotzdem sehr unruhig.<br />

Me<strong>in</strong> Dad fügt an: Ich weiss nicht, was wir tun sollen, sie bekommt immer wieder diese Anfälle. Sie<br />

sche<strong>in</strong>t nicht mehr zu wissen, was Realität ist.<br />

Ne<strong>in</strong>, flüsterte ich, ne<strong>in</strong>, bitte nicht. Jack, weck mich, bitte, Jack.<br />

Aber es passiert nichts. Ohne es versuchen zu müssen, weiss ich, <strong>das</strong>s ich mich nicht bewegen<br />

kann. E<strong>in</strong>e Träne läuft mir die Backe herunter. Ich will sie wegwischen, aber ich kann es nicht.<br />

Verzweiflung breitet sich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Körper aus. Mir kommt der irrs<strong>in</strong>nige Gedanke, <strong>das</strong>s Jack mich<br />

vielleicht hört, wenn ich nur laut genug schreie. Ich schreie, so laut ich kann, lege all me<strong>in</strong>e<br />

Verzweiflung <strong>in</strong> den Schrei: Jack! Jack, weck mich auf!<br />

Durch me<strong>in</strong>e halb geschlossenen Augen sehe ich drei Gestalten, die an me<strong>in</strong> Bett stürmen. Ich<br />

presse me<strong>in</strong>e Augen noch mehr zusammen, schreie, obwohl ich weiss, <strong>das</strong>s es nichts nützt. Aber<br />

ich kann nicht anders, ich habe <strong>das</strong> Gefühl, vor Verzweiflung und Elend zu platzen, wenn ich nicht<br />

schreie.<br />

Jack, tu mir <strong>das</strong> nicht an! Bitte Jack, weck mich! Ich reisse me<strong>in</strong>e Augen auf, sehe, <strong>das</strong>s Heather<br />

an der gegenüberliegenden Wand steht und sich die Hände auf die Ohren presst. Ich habe Mitleid<br />

mit ihr, aber ich kann nicht aufhören zu schreien. Dr. Jason fühlt me<strong>in</strong>en Puls, wie gerne würde ich<br />

ihn abschütteln, aber stattdessen geht me<strong>in</strong> Schreien <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Schluchzen über. Me<strong>in</strong> Vater blickt<br />

mich an, ich erschrecke, als ich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Blick Ekel erkenne. Dr. Jason packt e<strong>in</strong>e Spritze aus, ja,<br />

denke ich, ja. Gleich b<strong>in</strong> ich wieder bei Jack.<br />

Aber da ist nur Dunkelheit, ich kann nichts sehen. Jack?, frage ich und me<strong>in</strong>e Stimme hallt<br />

seltsam, als stände ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Höhle. Aber nichts passiert, sehr lange Zeit passiert nichts. <strong>Als</strong> ich<br />

me<strong>in</strong>e Augen öffne, blendet mich Licht, ich will schon aufspr<strong>in</strong>gen und nach Jack suchen, aber ich<br />

kann nicht, noch immer b<strong>in</strong> ich gelähmt.<br />

Stattdessen blicke ich, als me<strong>in</strong>e Augen sich an <strong>das</strong> Licht, <strong>das</strong> durch <strong>das</strong> grosse Fenster fällt,<br />

gewöhnt haben, <strong>in</strong> <strong>das</strong> Gesicht von Heather.<br />

Heather …, sage ich leise. Ihr Gesicht hellt sich auf, sie lächelt mich an.<br />

Paula! Paula, wie geht es dir? Sie streicht mir über die Wange.<br />

Heather, wo ist Jack?, will ich wissen sie und über ihr Gesicht legt sich wieder e<strong>in</strong>e dunkle Wolke.<br />

Jack ist tot. Ihre Stimme kl<strong>in</strong>gt kalt und unbarmherzig. Jack ist tot, Paula, sieh <strong>das</strong> endlich e<strong>in</strong>. Er<br />

ist bei dem Unfall gestorben, bei dem auch du verletzt wurdest.<br />

Ihre Worte treffen mich wie Ste<strong>in</strong>e, die mich wieder zurück <strong>in</strong> die Hoffnungslosigkeit treiben. Ne<strong>in</strong>,<br />

sage ich, wehre mich mit me<strong>in</strong>en Worten gegen den unbarmherzigen Sog. Ne<strong>in</strong>, Heather, er ist<br />

nicht tot. Wir s<strong>in</strong>d zusammen auf der Flucht.<br />

Da bricht sie zusammen. Sie lässt sich auf den Boden fallen und we<strong>in</strong>t. Ne<strong>in</strong>, Paula, ne<strong>in</strong>, hör auf<br />

damit, schreit sie. F<strong>in</strong>de dich endlich mit der Wirklichkeit ab, hör auf, uns <strong>das</strong> Leben schwer zu<br />

machen. Weißt du, was du uns mit de<strong>in</strong>en Ausbrüchen antust? Vater ist nur noch e<strong>in</strong> Schatten<br />

se<strong>in</strong>er Selbst, es war schon schwer genug für ihn, <strong>das</strong>s du diesen Unfall hattest, aber jetzt … Sie<br />

schluchzt, schlägt mit den Fäusten auf den Boden.<br />

In der Tür ersche<strong>in</strong>t me<strong>in</strong> Vater. Er geht zu Heather, nimmt sie <strong>in</strong> die Arme und drückt auf e<strong>in</strong>en<br />

Knopf über me<strong>in</strong>em Bett. Ingrid wird dich jetzt waschen, sagt er zu mir gewandt.<br />

Das Waschen ist e<strong>in</strong>e entwürdigende Prozedur. Ich schäme mich, aber Ingrid geht ihrer Arbeit<br />

gewissenhaft nach und als sie fertig ist, zieht sie mir e<strong>in</strong> neues Nachthemd an und geht. E<strong>in</strong> paar


M<strong>in</strong>uten später kommt sie wieder und füttert mich mit e<strong>in</strong>er heissen Suppe. Am liebsten würde ich<br />

sie ihr <strong>in</strong>s Gesicht spucken, aber ich beherrsche mich. Endlich ist sie fertig und verschw<strong>in</strong>det.<br />

Ich b<strong>in</strong> alle<strong>in</strong> mit me<strong>in</strong>en Gedanken, die nur noch um e<strong>in</strong>e Frage kreisen: Wie komme ich aus<br />

diesem Albtraum raus? Ich versuche, e<strong>in</strong>zuschlafen, vielleicht wache ich dann ja auf und b<strong>in</strong> bei<br />

Jack. Und er würde mich küssen und mir sagen, <strong>das</strong>s ich mir ke<strong>in</strong>e Gedanken machen muss, <strong>das</strong>s<br />

ich jetzt ja wieder bei ihm b<strong>in</strong>.<br />

Ich schlafe e<strong>in</strong> und b<strong>in</strong> wieder <strong>in</strong> der Dunkelheit, <strong>in</strong> der me<strong>in</strong>e Frage nach Jack verhallt. Ich wehre<br />

mich gegen <strong>das</strong> Aufwachen, ich habe zu grosse Angst, <strong>das</strong>s ich mich wieder nicht bewegen kann,<br />

<strong>das</strong>s wieder e<strong>in</strong> Stückchen Hoffnung verschw<strong>in</strong>det.<br />

<strong>Als</strong> ich me<strong>in</strong>e Augen aufschlage, ist es Nacht. Durch <strong>das</strong> Fenster sehe ich den Mond und höre Jack<br />

sagen: „So wie Neil Armstrong.“ Ich presse me<strong>in</strong>e Lippen aufe<strong>in</strong>ander, um nicht wieder laut<br />

aufzuschreien. Das hier ist nicht die Wirklichkeit, <strong>das</strong> hier kann nicht die Wirklichkeit se<strong>in</strong>. Da b<strong>in</strong><br />

ich mir ganz sicher. Ich kneife me<strong>in</strong>e Augen zusammen und sehe zum Mond. Jack hat gesagt, er<br />

bestehe aus Kratern. Und tatsächlich: Wenn ich genau h<strong>in</strong>sehe, kann ich dunkle Flecken erkennen.<br />

Ich muss hier weg. Ich halte es nicht mehr länger aus. Ich muss endlich aufwachen. Me<strong>in</strong> Herz<br />

schmerzt vor Sehnsucht nach Jack, vor Sehnsucht nach Leben. „Hast du <strong>das</strong> gehört Baby?“ sagt<br />

Jack <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Kopf. Jack, flüstere ich leise. Jack, ich komme zu dir. Ich mache diesem Albtraum<br />

e<strong>in</strong> Ende.<br />

Me<strong>in</strong>e Zunge liegt schwer <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Mund und als ich sie zwischen me<strong>in</strong>e Zähne schiebe, sehe ich<br />

Jacks Gesicht vor mir, jede Furche, jedes Detail. Se<strong>in</strong>e braunen Augen. Die Grübchen, wenn er<br />

lächelt. Die ersten Falten auf se<strong>in</strong>er Stirn. Das Leuchten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen, als er mir von unserer<br />

Zukunft erzählte.<br />

Dann beisse ich zu.<br />

„Jack? Jack!“ wisperte sie.<br />

„Komm mit, Baby!“, Jack riss die Arme hoch, „wir fliegen zum Mond!“

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