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KALENDER LITMAN<br />
Oktober<br />
Verantwortliche/r<br />
3. Mo Kursvorstellung<br />
5. “Durchlesene Nächte” von Barbie, Rafik Schami, Dietmar Darth,<br />
Feridan Zaimoglu und anderen<br />
10.Mo Felicitas Hoppe: Der linke Schuh//Kästner und Kirsch Eva<br />
12. FREI<br />
17.Mo Harald Martenstein: „Lauter Irre“// Sibylle Berg: Seien Sie nicht<br />
ironisch, sondern bitter!<br />
19. H.C. <strong>Artmann</strong>: Keine Menschenfresser bitte!<br />
24.Mo Dora Diamant: Kafka und die Puppe<br />
26. Peter Handke: Persönliche Bemerkungen zum Jubiläum der<br />
Republik<br />
31. Mo Julie Zeh: Die Stille ist ein Geräusch<br />
November<br />
2. Thomas Bernhard: Der Vorzugsschüler<br />
7. Mo Max Frisch: Höflichkeit<br />
9. Rainer Maria Rilke: Die Bettlerin und die Rose // Der Panther<br />
14. Mo Ilse Aichinger: Das Fenstertheater<br />
16. Thomas Hürlimann: Der Filialleiter // René Oberholzer: Das<br />
Angebot // Tucholsky: Ans Publikum//Pigor: Fremdschämen<br />
21. Mo Thomas Brasch: Mit sozialistischem Gruβ // Reiner Kunze:<br />
Ordnung+ W.Benjamin: Vierte Geschichtsthese<br />
23. Franz Kafka: Der Nachbar<br />
28. Mo Kathrin Röggla: Wir schlafen nicht (8)<br />
30. Kurt Tucholsky: Ein Ehepaar erzählt einen Witz.//Zitate// An das<br />
Publikum<br />
Dezember<br />
5. Mo Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner/ Nachtlager+Wem<br />
nützt die Güte<br />
7. Irmtraud Morgner: Kaffee verkehrt<br />
12. Mo Robert Walser: Brief // Franz Kafka: Die Abweisung<br />
14. Karl-Markus Gauβ: Xarnego<br />
19. Mo Peter Bichsel: Amerika gibt es nicht (4,5)<br />
21. Gabriele Wohmann: Grün ist schöner<br />
Januar<br />
9. Mo Judith Herrmann: Rote Korallen (5)<br />
11. Musiktexte: MIA: Was es ist // Peter Wolf: Schwarz zu Blau<br />
16. Mo Angelika Mechtel: Hochhausgeschichte1<br />
18. Daniel Glattauer: Es ist sich nicht ausgegangen<br />
Alois Brandstetter: Wien für Linzer Begriffe<br />
23. Mo Lyrik: Ingeborg Bachmann: Reklame // Erklär mir Liebe<br />
Brecht: An die Nachgeborenen +literarische Antworten//Rezitator<br />
1
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"Lauter Irre!"(=Verrückte) Von Harald Martenstein | © DIE ZEIT, 23.10.2008 Nr. 44<br />
Unser Kolumnist weiß, warum er nie den Literaturnobelpreis bekommen wird<br />
Im Romanistikstudium habe ich tatsächlich mal versucht, einen Roman von Le Clézio zu lesen, dem<br />
neuen Nobelpreisträger. Schwülstiger (=rimbombant) geht’s nicht. Tropenkitsch. Wissen Sie, das ist<br />
nett, was Sie da gerade gesagt haben, aber ich selber lege im Grunde überhaupt keinen Wert auf den<br />
Nobelpreis. Franz Kafka, Patricia Highsmith, Cormac McCarthy, Philip Roth, alles Lieblingsautoren<br />
von mir, die haben alle den Nobelpreis nicht bekommen. Was soll ich dann damit. Außerdem habe ich<br />
ein Sachbuch entdeckt, von Bo Svensen, einem ehemaligen Mitglied der Jury. Er hat die Protokolle der<br />
Sitzungen ausgewertet, welche im Nobelpreiskomitee abgehalten wurden, bis 1950. Was nach 1950<br />
passierte, ist noch geheim.<br />
Das Komitee wählt fünf Kandidaten aus, die Akademie bestimmt aus diesen fünf einen Sieger. Weder<br />
Joyce noch Proust, noch Rilke, noch Musil, noch Tschechow, noch Lorca, noch Brecht sind bis 1950<br />
überhaupt von irgendjemandem für den Nobelpreis auch nur vorgeschlagen worden. Stattdessen haben<br />
Karl Gjellerup, Iwan Bunin und Henrik Pontoppidan den Preis gekriegt – ausgerechnet Pontoppidan!<br />
Valéry wurde 1930 als Kandidat abgelehnt,(=rebutjar) weil er »zu pessimistisch« sei. Könnte man mir<br />
auch vorwerfen. (=reprochar)1939 wurde Valéry zum zweiten Mal abgelehnt, Begründung: Er sei<br />
egozentrisch. Was ist denn das für ein Bullshit? 1943 wird er wieder vorgeschlagen. Jetzt lehnen sie ihn<br />
mit der Begründung ab, seine Gedichte würden die Menschen »nicht klüger machen«. In diesem<br />
Komitee saßen lauter Irre.(=Verrückte)<br />
In der Endrunde des Jahres 1902 sind Zola, Ibsen, Tolstoj, Gerhart Hauptmann und der Historiker<br />
Theodor Mommsen. Mommsen gewinnt – gegen Ibsen und Tolstoj, was für eine Jury ist das denn?<br />
Gerhart Hauptmann lehnen sie ab, weil in seinen Stücken zu viel getrunken wird. Zehn Jahre später<br />
bekommt er den Preis immerhin trotzdem. 1903 wollen sie den Nobelpreis Henrik Ibsen geben. Aber<br />
Ibsen ist krank, die Jury befürchtet, dass er vor der Preisverleihung stirbt. Also kriegt den Preis, nur weil<br />
Ibsen krank ist, ein gewisser Björnstjerne Björnson aus Taka-Tuka-Land.(=wohin Pipi Langstrumpf<br />
fährt..)<br />
Lion Feuchtwanger haben sie im Komitee runtergeputzt, (= total kritisiert) er sei nur ein von der Kritik<br />
hochgejazzter Bluffer. Karl Kraus dagegen sei regelrecht abstoßend.(=repugnant) Stefan George sei<br />
überspannt,(=exaltiert) gut, das kann ich nachvollziehen. (=verstehen) Hugo von Hofmannsthal komme<br />
wegen »brutaler Sinnlichkeit« nicht infrage. Was hätten diese Kretins erst über meine Kolumnen<br />
gesagt? Thomas Mann wird 1924 von einem Professor Schück abgelehnt, weil die Buddenbrooks<br />
angeblich schlecht geschrieben seien. 1928 liegt der Zauberberg auf dem Tisch der Jury, es heißt, das<br />
Buch sei schwerfällig (=pesat)und überhaupt schon wieder grottenschlecht geschrieben. Als Thomas<br />
Mann den Preis 1929 dann doch bekommt, loben sie lang und breit Manns relativ unbekanntes Buch<br />
Friedrich und die große Koalition. Es enthalte »männliche Gedanken«. Das sind Irre.<br />
1936 schlägt der Romancier Romain Rolland vor, den Nobelpreis an Sigmund Freud zu vergeben. In<br />
diesem Fall wird die Jury geradezu wütend. Freud habe eine völlig kranke Fantasie. Außerdem<br />
psychologisiere Freud zu viel. Aber Winston Churchill, ja, der kriegt 1953 den Literaturnobelpreis. Ich<br />
will mich weiß Gott nicht loben. Aber lesen Sie bitte mal Churchill, lesen Sie Björnstjerne Björnson,<br />
und dann lesen Sie mich. 1947 wird Hemingway nominiert. Im Preiskomitee sagen sie, Hemingway sei<br />
ein reicher, arroganter Ami und habe das Geld nicht nötig. Als ob Winston Churchill<br />
Kohle(=Geld,“pasta“) gebraucht hätte! Verstehen Sie? Ich werde den Preis ganz sicher nicht kriegen.<br />
3
Seien Sie nicht ironisch, sondern bitter! Von Sibylle Berg<br />
http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,755941,00.html<br />
Liebe Frau Sibylle, ich schreibe schon immer. Soll ich Schriftstellerin werden?<br />
Liebe Leserin, nur zu! Aber vorher müssen Sie leiden!<br />
Folgt man der geschlossenen Meinung aller Literatursachverständigen des deutschsprachigen Raumes, so<br />
können Sie nicht einfach Schriftstellerin werden. Sie müssen vorher leiden. Oder bei der Waffen-SS gewesen<br />
sein, hoppla, kleiner Scherz, auf jeden Fall brauchen Sie nach unserer vorherrschenden literaturkritischen<br />
Diskurstheorie ein Talent, das über Sie kam.<br />
(= überraschend etwas bekomen) Nach dem Leiden.<br />
Das Schreiben, so die Meinung, kann man nicht erlernen, dieses flirrende (centellar)kleine Ding. Ungeachtet<br />
(sense tenir en compte) der Tatsache, dass man heute ohne Kunst zu studieren, kaum ein ernstzunehmender<br />
(meint: verdienender) Künstler werden kann, ungeachtet dessen, dass es keinen Musiker gibt, der nicht<br />
jahrelang studiert hat, geübt, Musiktheorie gepaukt,(=gelernt) kann man schreiben oder eben nicht.<br />
Öffentliche Verachtung (menyspreu) straft angelsächsische Autoren mit ihren perversen creative-writing-<br />
Kursen. Der deutsche Autor leidet und schreibt. Er leidet vor allem an Geldmangel, doch gegen den gibt es<br />
Stipendien und Preise, die verteilt werden. Mit Großmut. Und Ernsthaftigkeit. Für ernsthafte Literatur.<br />
Blocksatz gewordene Selbstfindung. Naturbeschreibungen. Leiden.<br />
Das Land hält sich ein paar Autoren. Und schenkt ihnen ab und zu Geld. Gönnerhaft.(=wie ein Mäzen) Nein,<br />
es befreit Autoren nicht nach irischem Vorbild von Steuern, gibt ihnen nach norwegischem Vorbild keinen<br />
lebenslangen Zuschuss, keine vergünstigten Wohnungen, wenn sie schon Produkte herstellen, die im Markt<br />
keinen hohen Stellenwert haben.<br />
Sechs bis zehn Prozent des Verkaufspreises erhält der Autor. Bekanntere verkaufen an die 4000 Bücher. Es<br />
sei denn, sie waren vorher im Fernsehen. Oder in "Bild". Wollen Sie sich dann noch ein wenig öffentlich<br />
demütigen (=humiliar) lassen: nur zu. Sie können veröffentlichen, was Sie wollen, Sie haben Narrenfreiheit,<br />
Sie sind eine Frau.<br />
Aber rechnen Sie mit kritischen Kommentaren zu Ihrem Äußeren! Es sei denn, Sie sind Migrantin oder<br />
haben ein anderweitig hartes Schicksal, dann werden Sie davon verschont, man hat Mitleid mit Ihnen. Und<br />
behalten Sie im Kopf: Nie werden Sie etwas anerkannt Großes leisten. Sie wissen schon: Schreiben Sie über<br />
ein Paar, wird es immer eine kleine Beziehungsgeschichte sein. Schreibt Ihr männlicher Kollege über<br />
dasselbe Thema, erklärt er die Welt in einem Mikrokosmos - schreiben Sie über die Welt, wird es heißen: Sie<br />
erklärt die Welt aus der Sicht einer Frau.<br />
Verzichten Sie auf Ironie! Frauen sind nicht ironisch, sondern bitter. Schreiben Sie Krimis, Frauen und<br />
Morde, das erregt die Kritiker. Oder machen Sie was mit Kindern. Hüten (=evitar) Sie sich vor<br />
weitergehenden Ambitionen, das haben Frauen einfach nicht drauf.<br />
(=nicht können)<br />
Wo ist denn der weibliche Shakespeare, nicht wahr? Frauen sind gut für das Kleinteilige, Männer erkennen<br />
die großen Zusammenhänge. Man glaubt ihnen eher. Man bespricht sie lieber.<br />
Und versuchen Sie nicht, komisch zu sein. Frauen sind nicht komisch. Am besten, wie gesagt, Sie leiden. Sie<br />
kommen aus irgendeinem außereuropäischen Land und leiden. Bingo. Volltreffer. Schreiben Sie das auf.<br />
Oder machen Sie was über ihre Genitalien. Genitalien und Frauen sind immer ein Gewinnerteam!<br />
Ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen.<br />
4
<strong>Hans</strong> <strong>Carl</strong> (H.C.) <strong>Artmann</strong><br />
*12.Juni 1921 in Breitensee/Wien/Österreich, +5.Dezember 2000<br />
in Wien/Österreich<br />
"Meine heimat ist österreich, mein vaterland europa,<br />
mein wohnort malmö, meine hautfarbe weiß, meine<br />
augen blau, mein mut verschieden, meine laune<br />
launisch, im handumdrehen zufrieden, im<br />
handumdrehen verdrossen, ein freund der fröhlichkeit,<br />
im grunde traurig ... im kriege zerschossen, im frieden<br />
zerhaut, ein hasser der polizei, ein verächter der<br />
obrigkeit, ein brechmittel der linken, ein juckpulver<br />
den rechten"<br />
• Die Autorin Jeannie Ebner sagt folgendes über die Person <strong>Artmann</strong>s: "Nach dem Krieg war H. C.<br />
eine Leitfigur für eine Gruppe von Autoren ... Er hat uns den Surrealismus nähergebracht. Für mich<br />
war er immer ein Don Quijote der Literatur, ein Ritter ohne Furcht und Tadel, der mit dem Schild der<br />
Sprache und der Lanze der Poesie gegen die Windmühlen der Banalität, Gemeinheit und Geldgier<br />
angekämpft. Er ist auch zu Fuß gereist, wenn es nicht anders möglich war, z. B. nach Spanien. Er<br />
kam sehr abgemagert zurück, aber mit einer Luxusausgabe der Werke von Garcia Lorca und den<br />
spanischen Greguerias."<br />
• <strong>Artmann</strong> selbst identifiziert sich mit Don Quijote, er sieht ein Idol in dem spanischen Ritter,<br />
gewissermaßen eine Leitfigur für sein Leben. "Don Quijote ist viel wichtiger, meine Werke sind ganz<br />
unwichtig."<br />
• Zur Wichtigkeit bzw. Unwichtigkeit und zur Macht der Literatur sagt <strong>Artmann</strong>: "Ich glaube, die<br />
Literatur kann die Gesellschaft und das Geschehen nicht verändern. Wäre das möglich, so könnte ich<br />
ja Kriege verhindern. ... In unseren Breiten ist das sicher nicht möglich. Wenn, dann eher in<br />
lateinamerikanischen Ländern, wo Literatur einen anderen Stellenwert hat und wo sie wirklich für<br />
Aufruhr sorgen kann.<br />
Aus: H. C. <strong>Artmann</strong> - "Im Schatten der Burenwurst."<br />
Keine Menschenfresser bitte!<br />
Frau Amtsrat (=Titel ihres verstorbenen Mannes „conseller“) Reißfleisch wollte einen Untermieter<br />
aufnehmen und hatte zu diesem Behuf (Beamtensprache für „deswegen“) tags vorher die<br />
Studentenschaft angerufen. "Vornehmes (=nobel) Gassenkabinett (=Zimmer mit Blick auf Straβe),<br />
elektrisches Licht, Bett, Pendeluhr, Schreibtisch, Universitätsnähe usw. Für nur 900 Schilling, ab<br />
sofort beziehbar... " Nun aber, an diesem Nachmittag, war sie doch ein wenig bedrückt, da sie<br />
fürchtete, man möchte ihr einen dunkelhäutigen Herrn zuschicken. Und das wäre besonders peinlich<br />
vor den Nachbarn und so weiter und so weiter. Vielleicht wären auch Kannibalen und<br />
Mädchenhändler unter ihnen, wie man ja nur zu häufig im Lesezirkel (=Klatschzeitungen) erfahren<br />
kann...<br />
Frau Amtsrat Reißfleisch und ihre Freundin Adele saßen diesen Nachmittag bei Kaffee und<br />
Mohnstrudel und warteten die kommenden Dinge etwas nervös ab. "Am liebsten", sagte Frau<br />
Amtsrat, "wär mir halt so ein solider Amerikaner, der was alle Ersten pünktlich seinen Zins (=Miete)<br />
zahlen tut und nicht schnarcht..(=roncar)." "Ganz recht, liebe Melanie", sagte Adele, "die<br />
Amerikaner sind die Solidesten, und Geld haben tun s' auch. Auf keinen Fall darfst du dir ein<br />
Araber, Perser oder gar ein Türken nehmen. Die haben uns schon viermal belagert..."<br />
5
Die Klingel der Wohnungstür schrillte scharf und kriegerisch. Frau Amtsrat Reißfleisch richtete sich<br />
würdig auf, ging ins Vorzimmer, das zugleich als Besenkammerl (=Ort für Haushaltsdinge) diente,<br />
und öffnete einen Spalt die Türe.<br />
"Ich komm wegen Kabinett. Ist noch frei, bitteschön? Mein Name ist Berislav Stojanovic . . "<br />
"Sind Sie der Amerikaner, dem was ich das Zimmer versprochen hab?" fragte die Frau Amtsrat<br />
durch den Türspalt.<br />
"Tut mir leid", sagte Frau Amtsrat kurz, "aber das Zimmer is schon an ein Amerikaner vergeben!"<br />
Die Türe schlug kurz vor der Adlernase des langen Kroaten zu.<br />
"Wer war's denn?" fragte Adele. Aber bevor Frau Amtsrat Reißfleisch noch eine Antwort erstatten<br />
(=geben) konnte, klingelte es abermals.(=noch einmal)<br />
"Ich komme wegen Zimmer. Ist das Zimmer noch frei, bitte? Mein Name ist Wassilis Liolakis . . ."<br />
"Sind Sie der Amerikaner, dem was ich das Zimmer versprochen hab?" fragte Frau Amtsrat mit der<br />
gleichen diplomatischen Schläue (=Intelligenz) wie vorher.<br />
"Ich bin aus Ioannina und das is in Griechenland und..." Die Tür krachte (=laut fallen) ins Schloß.<br />
"Lauter Tschuschen!" (=“moros“) sagte Frau Amtsrat zu ihrer Freundin Adele und wollte seufzend<br />
in ein Stück Mohnstrudel beißen, als es abermals, nun aber sanft und bescheiden, klingelte. Frau<br />
Amtsrat war jedoch schon gewitzigt (=klüger geworden) und sah dieses Mal nur durch das Guckloch<br />
auf den Gang (=Korridor) hinaus. Draußen stand ein gutaussehender Inder mit pechschwarzem<br />
Vollbart und Turban, und in seinen dunklen Augen lag eine tiefe Traurigkeit. Er wußte wohl schon,<br />
daß er dieses billige Kabinett mit Gassenaussicht niemals bekommen würde.<br />
"Wer war's denn?" fragte Adele mit klopfendem Herzen. Sie hatte keine Tür gehen gehört. Es mußte<br />
was Schreckliches draußen gestanden haben. Frau Amtsrat seufzte jetzt wirklich, biß in das<br />
angefangene Stück Mohnstrudel und meinte pikiert: "Jetzt schicken s' einem sogar schon<br />
Menschenfresser in die Wohnung. Ich werde mich bei der Vermittlung (=Agentur) gehörig<br />
beschweren!"(=queixar-se)<br />
Nach einer Weile ging im Vorzimmer alias Besenkammer das Telefon. Frau Amtsrat Reißfleisch<br />
sprach eine Weile. Dann kam sie strahlend und zufrieden zu Adele zurück, die ihrerseits ein neues<br />
Stück Mohnstrudel begonnen hatte und kaute."Wer war's denn, Melanie?" fragte Adele.<br />
"Gott sei Dank", sagte Frau Amtsrat "das nette Fräulein Elfi von der Studentenvermittlung hat<br />
angerufen. In einer halben Stunde kommt ein amerikanischer Herr wegen dem Zimmer. Und stell dir<br />
vor: James Eisenhover heißt er! Ich hab natürlich fest zugesagt.(=akzeptieren) Der kriegt<br />
(=bekommt) das Zimmer und kein anderer, so wahr ich die Frau Amtsrat Melanie Reißfleisch geb.<br />
(=geborene) Krauthaupt bin!"<br />
Nach einer exakten halben Stunde läutete es an der Wohnungstür. Sanft, bescheiden, nicht ohne eine<br />
gewisse Distinktion. Frau Amtsrat erhob sich mit einem bärenzuckersüßen Lächeln und öffnete weit<br />
und einladend die Tür...Ein freundliches "Grissgooooot!" erstarb in ihrer amtsrätlichen Kehle.<br />
(=garganta) "My name is Eisenhover", sagte der dezent gekleidete Gentleman und trat ein. Aus<br />
seinem kohlschwarzen Gesicht blitzte ein tadelloses,(=perfektes) freundliches Gebiß...<br />
."(=dentatura) „Ich kommen wegen das Zimmer..." sagte er.<br />
6
Kafka DoraDiamant die Puppe<br />
Dora Diamant: Kafka und die Puppe<br />
Als wir in Berlin waren, ging Kafka oft in den Steglitzer Park. Ich begleitete ihn manchmal.<br />
Eines Tages trafen wir ein kleines Mädchen, das weinte und ganz verzweifelt (deseperada)zu<br />
sein schien. Wir sprachen mit dem Mädchen. Franz fragte es nach seinem Kummer(=pena),<br />
und wir erfuhren(=aprendre), dass es seine Puppe verloren hatte. Sofort erfindet er eine<br />
plausible Geschichte, um diese Verschwinden zu erklären:“Deine Puppe macht nur gerade eine<br />
Reise, ich weiß es, sie hat mir einen Brief geschickt.“ Das kleine Mädchen ist etwas<br />
misstrauisch (=suspicaç) :“Hast du ihn bei dir?“ „Nein, ich habe ihn zu Hause liegen lassen,<br />
aber ich werde ihn dir morgen mitbringen.“ Das neugierig gewordene Mädchen hatte seinen<br />
Kummer schon halb vergessen,und Franz kehrte sofort nach Hause zurïck, um den Brief zu<br />
schreiben.<br />
Am nächsten Tag trug er den Brief zu dem kleinen Mädchen, das ihn im Park erwartete. Da<br />
die Kleine nicht lesen konnte, las er ihr den Brief laut vor: Die Puppe erklärte darin, dass sie<br />
genug davon hätte,immer in derselben Familie zu leben, sie drückte den Wunsch nach einer<br />
Luftveränderung aus, mit einem Wort sie wolle sich von dem kleinen Mädchen, das sie sehr<br />
gerne hätte, für einige Zeit trennen. Sie versprach, jeden Tag zu schreiben – und Kafka schrieb<br />
tatsächlich (=wirklich) jeden Tag einen Brief, indem er immer wieder von neuem Abenteuern<br />
berichtete,die sich dem besonderen Lebensrhythmus der Puppe entsprechend sehr schnell<br />
entwickelten. Franz schrieb jeden Satz des Romans so ausführlich (=en detall) und so<br />
humorvoll genau, dass die Situation der Puppe völlig fassbar (=klar) wurde: die Puppe war<br />
gewachsen, zur Schule gegangen, hatte andere Leute kennengelernt. Sie versicherte das Kind<br />
immer wieder ihrer Liebe, spielte dabei aber auf andere Pflichten (=obligacions) an (=per<br />
ludir), die ihr im Augenblick (=Moment) nicht gestatteten (=erlauben), das gemeinsame Leben<br />
wieder aufzunehmen.<br />
Das Spiel dauerte mindestens drei Wochen. Franz hatte eine furchtbare (=schreckliche)<br />
Angst bei dem Gedanken, wie er es zu Ende führen sollte. Denn dieses Ende musste ein<br />
richtiges Ende sein, das heißt, es musste der Ordnung ermöglichen, die durch den Verlust des<br />
Spielzeugs heraufbeschworene (=gemachte)Unordnung abzulösen. Er suchte lange und<br />
entschied sich endlich dafür, die Puppe heiraten zu lassen. Er beschrieb den jungen Mann, die<br />
Verlobungsfeier, die Hochzeitsvorbereitungen, dann das Haus der Jungverheirateten. „Du wirst<br />
selbst einsehen (=verstehen und akzeptieren), dass wir in Zukunft auf ein Wiedersehen<br />
verzichten (=renunciar ) müssen.“ Franz hatte den Konflikt eines Kindes durch die Kunst<br />
gelöst, durch das wirksamste Mittel, über das er persönlich verfügte (=haben), um Ordung in<br />
die Welt zu bringen.<br />
aus:<br />
„Als Kafka mir entgegenkam...“ Erinnerungen an Franz Kafka<br />
Herausgegeben von <strong>Hans</strong>-Gerd Koch<br />
Verlag Klaus Wagenbach<br />
7
Peter Handke: Persönliche Bemerkungen zum Jubiläum der Republik.<br />
Rede anlässlich des 20. Jahrestags des österreichischen Staatsvertrags. gekürzt aus: Michael<br />
Scharang (Hrsg.) Geschichten aus der Geschichte Österreichs 1945-1983. 1978<br />
Der österreichische Staatsvertrag, eigentlich: Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines<br />
unabhängigen und demokratischen Österreich, gegeben zu Wien am 15. Mai 1955, wurde am 15. Mai<br />
1955 in Wien im Schloss Belvedere von Vertretern der Alliierten Besatzungsmächten USA, UdSSR,<br />
Frankreich und Großbritannien und der österreichischen Regierung unterzeichnet und trat am 27. Juli<br />
1955 offiziell in Kraft.<br />
Gegenstand des Vertrages war die Wiederherstellung der souveränen und demokratischen Republik<br />
Österreich nach der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich (1938–1945), dem Ende des Zweiten<br />
Weltkrieges (V-E-Day) und der darauf folgenden Besatzungszeit (1945–1955).<br />
Als der Staatsvertrag erreicht wurde, war ich 13 Jahre alt, und es hieß, dass Österreich nun frei<br />
sei und dass Österreich nun frei sei und dass die Besatzungsmächte das Land verlassen würden.<br />
Ich aber - und wenn ich ab jetzt ich sage, bin das hoffentlich nicht ich allein - fühlte mich in dem<br />
befreiten Land alles sonst als frei, und es gab ganz andere Besatzungsmächte, als die so<br />
genannten, weitaus realere, weitaus bedrückendere.(=opresiu)<br />
Der Staatsvertrag wurde von unerereinen eher als sportliches Ereignis aufgenommen, das man<br />
neugierig verfolgt, solange es im Fernsehen übertragen wird. Aber wenn man abschaltet, ist man<br />
in seiner eigenen Welt wieder ganz verriegelt.(=empresionat) Diese eigene Welt war ein<br />
Österreich, in dem man sich auch ohne Russen und Engländer besetzt fühlte, von den<br />
Besatzungsmächten der materiellen Not,(=Armut) der Herzenskälte der Religion, der<br />
Gewalttätigkeit von Traditionen, der brutalen Gespreizheit (=Arroganz) der Obrigkeit<br />
(Behörden,Autorität) , die mir nirgends fetter und stumpfsinniger (=dumm) erschien als in<br />
Österreich.(...)<br />
So wurde weiterhin gebeichtet (=confesar) und kommuniziert (=Hl.Kommunion), nur damit die<br />
Zeit der Unfreiheit irgendwie verging. Aber so schnell ist die nicht vergangen.(...)<br />
Aber das Land ist für jemanden wie mich aus der Ferne wichtig geworden.<br />
Ich denke oft an die Hügel mit den Fichtenwäldern (=picea) und an all die lebendig begrabenen<br />
Leben in dem vielfältigen Land, die nicht das Glück gehabt haben, sich wenigstens halbwegs<br />
freizuschaufeln (=sich befreien) wie zum Beispiel ich. Ich bin Schriftsteller geworden und habe<br />
mehr denn je das Gefühl, es den anderen schuldig zu sein, für sie zu schreiben. (...)<br />
Wenn ich jetzt in Österreich bin, fühle ich manchmal ein schönes Einsinken in dieses Land, fühle<br />
mich fast optimistisch, als einer unter anderen, höre sogar manchmal die Kirchenglocken mit<br />
Freude und schüttle (=sacudir-se) mich doch, wenn die Welt im Fernsehen wie eine<br />
amerikanisierte Lipizzaner-Show erscheint, wenn Soldaten zu Tode geschunden (=maltratar)<br />
werden, wenn im slowenischen Kärnten zweisprachige Ortstafeln (=senyals amb el nom del<br />
poble) umgeworfen (=tumbar) werden usw.<br />
Beides gehört zu dem Land.<br />
Ich liebe Österreich.......nicht, denn ein Land kann man nicht lieben, höchstens Menschen. Aber<br />
Liebesgefühle zu Menschen sind unfrei und in einem Land oder Staat,in dem man sich unfrei<br />
fühlt, weil es noch so viele geheime Besatzungsmächte gibt. Und ich habe Lust, durch meine<br />
Arbeit die mörderische Gewalt dieser doch eigentlichen Besatzungsmächte verhindern<br />
(=impossibilitar) zu helfen; das kann man allerdings nicht mit einem Staatsvertrag erreichen.<br />
8
Robert Walser: Der Nachen (1914) (=das Boot)<br />
Ich glaube, ich habe diese Szene schon geschrieben, aber ich will sie noch einmal schreiben. In einem<br />
Nachen, mitten auf dem See, sitzen ein Mann und eine Frau. Hoch oben am dunklen Himmel steht der<br />
Mond. Die Nacht is still und warm, recht geeignet für das träumerische Liebesabenteuer. Ist der Mann<br />
im Nachen ein Entführer?(=Kidnapper) Ist die Frau die glückliche, bezauberte Verführte?(=seducida)<br />
Das wissen wir nicht; wir sehen nur, wie sie beiden sich küssen. Der dunkle Berg liegt wie ein Riese im<br />
glänzende Wasser. Am Ufer liegt ein Schloss oder Landhaus mit einem erhellten Fenster. Kein Laut,<br />
kein Ton. Alles ist in ein schwarzes, süsses Schweigen (=silenci) gehüllt. Die Sterne zittern (=tremolar)<br />
hoch oben am Himmel und auch von tief unten aus dem Himmel herauf, der im Wasserspiegel liegt.<br />
Das Wasser ist die Freundin des Mondes, es hat ihn zu sich herabgezogen, und nun küssen sich das<br />
Wasser und der Mond wie Freund und Freundin. Der schöne Mond ist in das Wasser gesunken wie ein<br />
junger kühner Fürst (=duc) in eine Flut von Gefahren. Er spiegelt sich im Wasser, wie ein schönes<br />
liebevolles Herz sich in einem andern liebesdurstigen Herzen widerspiegelt. Herrlich ist es, wie der<br />
Mond dem Liebenden gleicht, ertrunken in Genüssen, (=plaers) und wie das Wasser der glücklichen<br />
Geliebten gleicht, umhalsend und umarmend den königlichen Liebsten. Mann und Frau im Boot sind<br />
ganz still. Ein langer Kuss hält sie gefangen. Die Ruder (=timons) liegen lässig auf dem Wasser.<br />
Werden sie glücklich, werden sie glücklich werden, die zwei, die da im Nachen sind, die zwei, die sich<br />
küssen, die zwei, die der Mond bescheint, die zwei, die sich lieben?<br />
Robert Walser: Mittagspause<br />
Ich lag eines Tages, in der Mittagspause, im Gras, unter einem Apfelbaum. Heiß war es, und es<br />
schwamm (=desdibuixar) alles in einem leichten Hellgrün vor meinen Augen. Durch den Baum und<br />
durch das liebe Gras strich der Wind. Hinter mir lag der dunkle Waldrand mit seinen ernsten, treuen<br />
Tannen.(=abetos) Wünsche gingen mir durch den Kopf. Ich wünschte mir eine Geliebte, die zum süßen<br />
duftenden Wind paßte. Da ich nun die Augen schloß und so dalag, mit gegen den Himmel gerichtetem<br />
Gesichte, bequem und träg auf dem Rücken, umsummt vom sommerlichen Gesumm,(=brunzit)<br />
erschienen mir, aus all der sonnigen Meeres- und Himmelshelligkeit herab, zwei Augen, die mich<br />
unendlich liebenswürdig anschauten. Auch die Wangen (=galtes) sah ich deutlich, die sich den<br />
meinigen näherten, als wollten sie sie berühren, und ein wunderbar schöner, wie aus lauter Sonne<br />
geformter, feingeschweifter und üppiger (=voluptós) Mund kam aus der rötlich-bläulichen Luft nahe bis<br />
zu dem meinigen, ebenfalls so, als wolle er ihn berühren. Das Firmament, das ich zugedrückten Auges<br />
sah, war ganz rosarot, umsäumt (=envoltar) von edlem Sammetschwarz. Es war eine Welt von lichter<br />
Seligkeit, (=felicitat) in die ich schaute. Doch da öffnete ich dummerweise plötzlich die Augen, und da<br />
waren Mund und Wangen und Augen verschwunden, und des süßen Himmelskusses war ich mit einmal<br />
beraubt. Auch war es ja Zeit, in die Stadt hinunterzugehen, in das Geschäft, an die tägliche Arbeit.<br />
Soviel ich mich erinnere, machte ich mich nur ungern auf die Beine, um die Wiese, den Baum, den<br />
Wind und den schönen Traum zu verlassen. Doch in der Welt hat alles, was das Gemüt bezaubert<br />
(=encantar) und die Seele (=anima) beglückt, seine Grenze, wie ja auch, was uns Angst und Unbehagen<br />
(=malestar) einflößt, glücklicherweise begrenzt ist. So sprang ich denn hinunter in mein trockenes<br />
Bureau und war hübsch fleißig (=diligent) bis an den Feierabend.<br />
Robert Walser: Der Traum (1914)<br />
Ich habe einen traurigen, freudlosen Traum gehabt in der vergangenen Nacht.<br />
Wohl sechsmal erwachte ich davon, aber immer wieder, so, als sollte ich stets von neuem geprüft<br />
werden, fiel ich hinunter in die Gewalt der düsteren (=dunklen) Einbildungen, (=Fantasien) in die<br />
Macht des fieberartigen Traumes. Mir träumte, daß ich in eine Art von Anstalt und Institut<br />
hineingekommen sei, in einen Sonderbund,(=spezieller Ort) in eine verriegelte,(=tancat) unnatürliche<br />
9
Absonderung, welche von höchst kalten und eigentümlichen (=sonderbaren) Verordnungen (=Regeln)<br />
regiert wurde.<br />
Elend (=miserable) war mir zumute, und eiskalter Schauder (=sotrac) rieselte mir durch die entsetzte,<br />
angsterfüllte Seele,(=anima) die sich vergeblich sehnte, ein Verständnis zu finden. Alles war mir<br />
unverständlich, doch das Grausamste (=el més cruel) war, daß sie nur über die Ratlosigkeit und<br />
Hilflosigkeit lächelten, in der sie mich sahen. Nach allen Seiten schaute ich mich mit flehenden<br />
(=bittenden) Augen um, damit ich ein freundliches Auge sähe, doch ich sah nur den offenen<br />
mitleidlosen Hohn (=desdeny) mich mit seinen Blicken messen.<br />
Alle, die da waren, musterten (=ansehen) mich auf so sonderbare Weise, auf so rätselhafte Weise.<br />
Meine Angst vor der ringsum herrschenden Ordnung, deren Wesen (=naturalesa) mich mit Grauen<br />
(=horror) erfüllte, wurde von Minute zu Minute größer, und mit ihr vergrößerte sich die Unfähigkeit,<br />
(=incapaçitat) die ich offenbarte, (=zeigen) mich in die seltsamen, absonderlichen Verhältnisse zu<br />
schicken. (=integrieren, akzeptieren) Deutlich (=klar) erinnere ich mich, wie ich bald zu diesem, bald<br />
zu jenem Beamten in kummervoller, bittender Tonart sagte, daß ich "alles das", so drückte ich mich in<br />
der höchsten Herzbeklemmung (=ansietat) aus, ja ganz und gar nicht verstehe, und daß man mich doch<br />
lieber hinaus in die Welt ziehen lassen wolle, damit ich meinen Mut und meinen angeborenen Geist<br />
wiederfände.<br />
Doch statt mir zu antworten, zuckten sie nur die Achseln,(= arronsar les espatlles )liefen hin und her,<br />
zeigten sich sehr in Anspruch genommen,(=ocupats) gaben mir zu verstehen, daß sie keine Zeit hätten,<br />
sich näher mit mir und mit meinem Unglück zu beschäftigen, und ließen mich in all der<br />
unaussprechlichen, fürchterlichen Bestürzung (=consternació) stehen. Augenscheinlich paßte ich gar<br />
nicht zu ihnen. Warum denn nun war ich zu ihnen hineingekommen in diese enge und kalte<br />
Umgrenzung? Durch viele Zimmer und Nebenzimmer tastete (=a les palpentes )ich mich; ich<br />
schwankte (=bambolear) hin und her wie ein Verlorener.<br />
Mir war, als sei ich im Begriff,(=gerade<br />
dabei sein etwas zu tun) in dem Meer der Befremdung zu<br />
ertrinken. Freundschaft, Liebe und Wärme waren verwandelt in Haß, Verrat und Tücke, (=malicia) und<br />
das Mitempfinden schien gestorben seit tausend Jahren oder schien in unendliche Entfernung gestoßen.<br />
Eine Klage (=lament, queixa) wagte ich nicht zu äußern. (=sagen) Ich hatte zu keinem, zu keinem<br />
dieser unverständlichen Menschen ein Vertrauen. Jeder hatte seine strenge, enge, stumpfe,<br />
wohlabgemessene Beschäftigung, und darüber hinaus stierte (=mirada fixe wie ein Stier=bou) er wie in<br />
eine grenzenlose Leere. Ohne Erbarmen mit sich selbst kannten sie auch kein Erbarmen(=misericordia)<br />
mit einem andern. Tot, wie sie waren, setzten sie nur Tote voraus. Endlich erwachte ich aus all dem<br />
Hoffnungslosen. O wie freute ich mich, daß es nur ein Traum war.<br />
Thomas Bernhard: Der Vorzugsschüler<br />
Der Vorzugsschüler (=amb menció), dessen Leben mehr Methode hat als das Leben der Erwachsenen,<br />
träumt, dass er eine Rechenaufgabe (=càlculs) nicht lösen kann und die Lösung auch dann noch nicht<br />
gefunden hat, als der Lehrer die Schulaufgaben einverlangt. Der Lehrer stellt den Vorzugsschüler in der<br />
Klasse zur Rede (=s’ha de justificar) und droht ihm, seine Eltern von dem Vorfall (=incident) zu<br />
benachrichtigen. Die Mitschüler sind voll Schadenfreude und stoβen den Vorzugsschüler, der körperlich<br />
ein Schwächling ist, in einen Kanal, aus dem er sich nur mit äuβerster Anstrengung befreien kann. Am<br />
nächsten Tag getraut (=atrevir-se) er sich gar nicht in die Schule hineinzugehen und bleibt zehn<br />
Minuten nach Schulbeginn unter dem Schultor stehen. Er macht kehrt und schwänzt.(=saltar la clase)<br />
Er irrt in einem Park umher und wird dort plötzlich vom Schuldiener entdeckt, der den Vorfall in der<br />
Direktion meldet. Jetzt erwacht der Vorzugsschüler aus seinem Traum. Er stürzt schwitzend und<br />
halbnackt in das Schlafzimmer seiner Eltern. Aber so tief und mit welchen Mitteln sie auch in ihn<br />
eindringen, er sagt ihnen nicht den Inhalt seines Traums. Er weigert (=negar-se) sich immer wieder, ihn<br />
zu erzählen.<br />
10
Aus: Max Frisch: Tagebücher 1946-1949<br />
Höflichkeit<br />
Wenn wir zuweilen die Geduld verlieren, unsere Meinung einfach auf den Tisch werfen<br />
und dabei bemerken, daß der andere zusammenzuckt, berufen wir uns mit Vorliebe darauf,<br />
daß wir halt ehrlich sind. Oder wie man so gerne sagt, wenn man sich nicht mehr halten<br />
kann: Offen gestanden! Und dann, wenn es heraus ist, sind wir zufrieden; denn wir sind<br />
nichts anderes als ehrlich gewesen, das ist ja die Hauptsache, und im weiteren überlassen<br />
wir es dem andern, was er mit den Ohrfeigen anfängt, die ihm unsere Tugend versetzt.<br />
Was ist damit getan?<br />
Wenn ich einem Nachbarn sage, daß ich ihn für einen Hornochsen halte - vielleicht braucht<br />
es Mut dazu, wenigstens unter gewissen Umständen, aber noch lange keine Liebe, so<br />
wenig wie es Liebe ist, wenn ich lüge, wenn ich hingehe und ihm sage, ich bewundere ihn.<br />
Beide Haltungen, die wir wechselweise einnehmen, haben eines gemeinsam: sie wollen<br />
nicht helfen. Sie verändern nichts. Im Gegenteil, wir wollen nur die Aufgabe loswerden ...<br />
Max Frisch: Fragebogen: Heimat und Fremde<br />
1. Wenn Sie sich in der Fremde aufhalten und Landsleute treffen: befällt Sie dann<br />
Heimweh oder dann gerade nicht?<br />
2. Hat Heimat für Sie eine Flagge?<br />
3. Worauf könnten Sie eher verzichten:<br />
a. auf Heimat?<br />
b. auf Vaterland?<br />
c. auf die Fremde?<br />
4. Was bezeichnen Sie als Heimat:<br />
a. ein Dorf?<br />
b. eine Stadt oder ein Quartier (=Stadtviertel) darin?<br />
c. einen Sprachraum?<br />
d. einen Erdteil?<br />
e. eine Wohnung?<br />
5. Gesetzt den Fall, Sie wären in der Heimat verhaßt: könnten Sie deswegen bestreiten, daß<br />
es Ihre Heimat ist?<br />
6. Was lieben Sie an Ihrer Heimat besonders:<br />
a. die Landschaft?<br />
b. daß Ihnen die Leute ähnlich sind in ihren Gewohnheiten, d. h. daß Sie sich den Leuten<br />
angepaßt haben und daher mit Einverständnis rechnen können?<br />
c. das Brauchtum? (=constums)<br />
d. daß Sie dort ohne Fremdsprache auskommen?<br />
e. Erinnerungen an die Kindheit?<br />
7. Haben Sie schon Auswanderung erwogen?<br />
8. Welche Speisen essen Sie aus Heimweh (z. B. die deutschen Urlauber auf den<br />
11
Kanarischen Inseln lassen sich täglich das Sauerkraut mit dein Flugzeug nachschicken)<br />
und fühlen Sie sich dadurch in der Welt geborgener?(=sicher, beschützt)<br />
9. Gesetzt den Fall, Heimat kennzeichnet sich für Sie durch waldiges Gebirge mit<br />
Wasserfällen: rührt es Sie, wenn Sie in einem andern Erdteil dieselbe Art von waldigem<br />
Gebirge mit Wasserfällen treffen, oder enttäuscht es Sie?<br />
10. Warum gibt es keine heimatlose Rechte?(=dreta polìtica)<br />
11. Wenn Sie die Zollgrenze (=aduana) überschreiten und sich wieder in der Heimat<br />
wissen: kommt es vor, daß Sie sich einsamer fühlen gerade in diesem Augenblick, in dem<br />
das Heimweh sich verflüchtigt (=weniger werden), oder bestärkt Sie beispielsweise der<br />
Anblick von vertrauten Uniformen (Eisenbahner, Polizei, Militär usw.) im Gefühl, eine<br />
Heimat zu haben?<br />
12. Wieviel Heimat brauchen Sie?<br />
13 Wenn Sie als Mann und Frau zusammenleben, ohne die gleiche Heimat zu haben:<br />
fühlen Sie sich von der Heimat des andern ausgeschlossen oder befreien Sie einander<br />
davon?<br />
14. Insofern Heimat der landschaftliche und gesellschaftliche Bezirk ist, wo Sie geboren<br />
und aufgewachsen sind, ist Heimat unvertauschbar: sind Sie dafür dankbar?<br />
15. Wem?<br />
16. Gibt es Landstriche, Städte, Bräuche usw., die Sie auf den heimlichen Gedanken<br />
bringen, Sie hätten sich für eine andere Heimat besser geeignet?(=ser adequats)<br />
17. Was macht Sie heimatlos:<br />
a. Arbeitslosigkeit?<br />
b. Vertreibung aus politischen Gründen?<br />
c. Karriere in der Fremde?<br />
d. daß Sie in zunehmendem Grad anders denken als die Menschen, die den gleichen Bezirk<br />
als Heimat bezeichnen wie Sie und ihn beherrschen?<br />
18. Haben Sie eine zweite Heimat? Und wenn ja:<br />
19. Können Sie sich eine dritte und vierte Heimat vorstellen oder bleibt es dann wieder bei<br />
der ersten?<br />
20. Kann Ideologie zu einer Heimat werden?<br />
21. Gibt es Orte, wo Sie das Entsetzen (=horror) packt bei der Vorstellung, daß es für Sie<br />
die Heimat wäre, z. B. Harlem, und beschäftigt es Sie, was das bedeuten würde, oder<br />
danken Sie dann Gott?<br />
22. Empfinden Sie die Erde überhaupt als heimatlich?<br />
23. Auch Soldaten auf fremdem Territorium fallen bekanntlich für die Heimat: wer<br />
bestimmt, was Sie der Heimat schulden?<br />
24. Können Sie sich überhaupt ohne Heimat denken?<br />
25. Woraus schließen Sie, daß Tiere wie Gazellen, Nilpferde, Bären, Pinguine, Tiger,<br />
Schimpansen usw., die hinter Gittern oder in Gehegen aufwachsen, den Zoo nicht als<br />
Heimat empfinden?<br />
12
Die Bettlerin (=captaire) und die Rose<br />
Von Rainer Maria Rilke gibt es eine Geschichte aus der Zeit seines ersten Pariser<br />
Aufenthaltes:<br />
Gemeinsam mit einer jungen Französin kam er um die Mittagszeit an einem Platz vorbei,<br />
an dem eine Bettlerin saβ, die um Geld anhielt.(=bitten) Ohne zu irgendeinem Geber je<br />
aufzusehen, ohne ein anderes Zeichen des Bittens oder Dankens zu äuβern als nur immer<br />
die Hand auszustrecken, saβ die Frau stets am gleichen Ort. Rilke gab nie etwas, seine<br />
Begleiterin gab häufig ein Geldstück. Eines Tages fragte die Französin verwundert nach<br />
dem Grund, warum er nichts gebe, und Rilke gab ihr zur Antwort: "Wir müssen ihrem<br />
Herzen schenken, nicht ihrer Hand." Wenige Tage später brachte Rilke eine eben<br />
aufgeblühte weiβe Rose mit, legte sie in die offene, abgezehrte (=alt und dünn) Hand der<br />
Bettlerin und wollte weitergehen.<br />
Da geschah das Unerwartete: Die Bettlerin blickte auf, sah den Geber, erhob (=elevar) sich<br />
mühsam (=mit Anstrengung,Mühe) von der Erde, tastete nach der Hand des fremden<br />
Mannes, küsste sie und ging mit der Rose davon.<br />
Eine Woche lang war die Alte verschwunden, der Platz, an dem sie vorher gebettelt hatte,<br />
blieb leer. Vergeblich suchte die Begleiterin Rilkes eine Antwort darauf, wer wohl jetzt der<br />
Alten ein Almosen gebe.<br />
Nach acht Tagen saβ plötzlich die Bettlerin wieder wie früher am gewohnten Platz. Sie war<br />
stumm wie damals, wiederum nur ihre Bedürftigkeit zeigend durch die ausgestreckte<br />
Hand. "Aber wovon hat sie denn all die Tage, da sie nichts erhielt, nur gelebt?", frage die<br />
Französin. Rilke antwortete: "Von der Rose . . ."<br />
Der Panther (1902)<br />
Im Jardin des Plantes, Paris<br />
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe<br />
so müd geworden, dass er nichts mehr hält. (=contenir)<br />
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe (=barra)<br />
und hinter tausend Stäben keine Welt.<br />
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,<br />
der sich im allerkleinsten Kreise dreht, (=girar)<br />
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,<br />
in der betäubt ein großer Wille steht. (=atordit)<br />
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille (=teló)<br />
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,<br />
geht durch der Glieder angespannte Stille – (=membre)<br />
und hört im Herzen auf zu sein.<br />
13
Ilse Aichinger: Das Fenstertheater<br />
Die Frau lehnte am Fenster und sah hinüber. Der Wind trieb in leichten Stößen vom<br />
Fluss herauf und brachte nichts Neues. Die Frau hatte den starren Blick (=mirada fixe)<br />
neugieriger Leute, die unersättlich (=insaciable) sind. Es hatte ihr noch niemand den<br />
Gefallen (=favor) getan , vor ihrem Haus niedergefahren (=atropellat) zu werden. ...<br />
Außerdem wohnte sie im vorletzten Stock, die Straße lag zu tief unten. Der Lärm<br />
rauschte nur mehr leicht herauf. Alles lag zu tief unten. Als sie sich eben vom Fenster<br />
abwenden wollte, bemerkte sie, dass der Alte gegenüber Licht angedreht hatte. Da es<br />
noch ganz hell war, blieb dieses Licht für sich und machte den merkwürdigen<br />
(=sonderbar) Eindruck, den aufflammende Straßenlaternen unter der Sonne machen.<br />
Als hätte einer an seinen Fenstern die Kerzen (=vela) angesteckt, noch ehe die<br />
Prozession die Kirche verlassen hat. Die Frau blieb am Fenster.<br />
Der Alte öffnete und nickte (=fer una inclinació de cap) herüber. Meint er mich? dachte<br />
die Frau. Die Wohnung über ihr stand leer und unterhalb lag eine Werkstatt (=taller),<br />
die um diese Zeit schon geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte<br />
wieder. Er griff (=tocar) sich an die Stirne (=front), entdeckte, dass er keinen Hut<br />
aufhatte, und verschwand im Inneren des Zimmers.<br />
Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und lächelte. Dann<br />
nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu winken. Erst leicht und dann<br />
immer eifriger. Er hing über die Brüstung (=baranda), dass man Angst bekam, er würde<br />
vornüberfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das schien ihn zu bestärken. Er<br />
ließ das Tuch fallen, löste seinen Schal vom Hals - einen großen bunten Schal - und ließ<br />
ihn aus dem Fenster wehen (=flotar). Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren<br />
Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal<br />
wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und<br />
verneigte sich (=fer una reverència). Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu,<br />
(=zumachen) als herrsche zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete<br />
(=machen) ihr so lange Vergnügen (=Spaβ), bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in<br />
dünnen, geflickten Samt(=vellut)hosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf.<br />
Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die<br />
Polizei verständigt.(=rufen)<br />
Und während er, in ein Leintuch (=tela) gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern<br />
erschien, unterschied sie schon drei Gassen (=Straβen) weiter über dem Geklingel der<br />
Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen (=claxó) des<br />
Überfallautos.(Polizeiauto) Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme<br />
erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so dass sich sein Gesicht in tiefe Falten<br />
legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde (=gest) darüber, wurde ernst, schien das<br />
Lachen eine Sekunde lang in der hohlen(=leeren) Hand zu halten und warf es dann<br />
hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von<br />
seinem Anblick loszureißen.<br />
Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge (=multitud) hatte sich um den<br />
Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam<br />
hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen (=disipar) suchte,<br />
14
erklärten sie einstimmig, in diesem Hause zu wohnen. Einige davon kamen bis zum<br />
letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr<br />
Klopfen vergeblich (=en va) blieb und die Glocke allem Anschein nach nicht<br />
funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von<br />
der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof<br />
sahen, zögerten (=vacilar) sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus<br />
und schlichen (=leise gehen) um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie<br />
stießen an einen Kleiderständer, gewahrten (=sehen) den Lichtschein am Ende des<br />
schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich hinter ihnen her.<br />
Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt noch immer<br />
am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen (=coixí)auf dem Kopf, das er immer<br />
wieder abnahm, als bedeutete (=zeigen) er jemandem, dass er schlafen wolle. Den<br />
Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er<br />
schwerhörig war, wandte (=girar) er sich auch nicht um, als die Männer auch schon<br />
knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster<br />
sah.<br />
Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die<br />
Wohnung oberhalb musste eine neue Partei (=hier: „Familie“) eingezogen sein. An<br />
eines der erleuchteten Zimmer war ein Gitterbett (=bressol) geschoben, in dem aufrecht<br />
ein kleiner Knabe (=Junge) stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die<br />
Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte (=hacer señas)herüber und krähte<br />
vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das<br />
Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf (=llançar) er es mit<br />
aller Kraft den Wachleuten(=Polizisten) ins Gesicht.<br />
-------------------------<br />
Quelle: Ilse Aichinger, Der Gefesselte. Erzählungen, Frankfurt//M.: S. Fischer-Verlag<br />
1963, S.61ff.) - Werke von Ilse Aichinger im S. Fischer-Verlag<br />
15
Orthographie: In der Schweiz gibt es kein „β“.<br />
Thomas Hürlimann: Der Filialleiter (=cap d’una sucursal)<br />
Als der Filialleiter des Supermarktes auf dem Fernsehschirm (=pantalla) seine Frau erblickte,<br />
erschrak (=espantar) er zu Tode. Nein, er täuschte sich nicht (=equivocar-se) – das erste<br />
Programm zeigte Maria-Lisa, seine eigene Frau. Im schicken Blauen sass sie in einer grösseren<br />
Runde, und gerade jetzt, da der Filialleiter seinen Schock überwunden glaubte, wurde Maria-Lisa<br />
von der Moderatorin gefragt, was sie für ihren Ehemann empfinde. (=fühlen)<br />
«Nichts», sagte Maria-Lisa.<br />
«Maria-Lisa!», entfuhr es dem Filialleiter, und mit zittriger(=tremolar) Hand suchte er den<br />
Unterarm seiner Frau. Wie jeden Abend sassen sie nebeneinander vor dem Fernseher, und beide<br />
hatten ihre Füsse in rote Plastikeimerchen (=cubo) gestellt, in ein lauwarmes Kamillenbad – das<br />
stundenlange Stehen im Supermarkt machte ihnen zu schaffen.<br />
Die Bildschirm-Maria-Lisa lächelte. Dann erklärte sie, über den Hass, ehrlich gesagt, sei sie<br />
schon hinaus. (=deixat darrere)<br />
Der Filialleiter hielt immer noch Maria-Lisas Arm. Er schnaufte,(=respirar fort) krallte seine<br />
Finger in ihr Fleisch und stierte (=mirar fixament, com un Stier=bou)) in den Kasten.(=TV) Hier,<br />
fand er, war sie flacher (=més pla) als im Leben. Sie hatte ihr Was-darfs-denn-sein-Gesicht<br />
aufgesetzt und bemerkte (=sagen) leise, aber dezidiert: «Mein Willy ekelt mich an.» (=fa fàstic)<br />
Und das in Grossaufnahme! (=primer plà)<br />
Nun sprach eine blonde Schönheit über die Gefahren der Affektverkümmerung (=atròfia) und<br />
der Filialleiter, dem es endlich gelang, die Augen vom Apparat zu lösen, versuchte seine<br />
Umgebung unauffällig zu überprüfen. Jedes Ding war an seinem Platz. In der Ecke stand der<br />
Gummibaum, (=un ficus) an der Wand tickte die Kuckucksuhr, und neben ihm sass die Frau, mit<br />
der er verheiratet war. Kein Spuk (=espectre)– Wirklichkeit! Maria-Lisa war auf dem<br />
Bildschirm, und gleichzeitig griff sie zur Thermosflasche, um in die beiden Plastikeimer heisses<br />
Wasser nachzugiessen.<br />
Sein Fussbad erfüllte Willy auch an diesem Abend mit Behagen. Dann rief er sich in Erinnerung,<br />
was ablief. Ungeheuerlich!(=indignant) Auf dem Schirm wurde das emotionale Defizit eines<br />
Ehemanns behandelt, und dieser Ehemann war er selbst, der Filialleiter Willy P.! Er griff zum<br />
Glas und hatte Mühe, das Bier zu schlucken. Hinter seinem Rücken war Maria-Lisa zu den<br />
Fernsehleuten gegangen. Warum? Willy hatte keine Ahnung. Willy wusste nur das eine: Vor<br />
seinen Augen wurde sein Supermarkt zerstört.<br />
Maria-Lisa reichte ihm das Frotteetuch, (=tovaolla) aber der Filialleiter stieg noch nicht aus dem<br />
Eimer. Er hielt das Tuch in der Hand, und so stand er nun, nur mit Unterhemd und Unterhose<br />
bekleidet, minutenlang im Kamillenbad – ein totes Paar Füsse, im Supermarkt plattgelatscht.<br />
(=pla per caminar pensosament)<br />
«Das Wasser wird kalt», sagte Maria-Lisa.<br />
Der Filialleiter rieb (=frotar) sich die Füsse trocken, dann gab er Maria-Lisa das Tuch. Als die<br />
Spätausgabe der Tagesschau begann, sassen sie wieder auf dem Kanapee. Maria-Lisa und der<br />
Filialleiter, Seite an Seite, er trank sein Bier und sie knabberte (=rosegar) Salzstangen.<br />
(Aus: Thomas Hürlimann: Die Satellitenstadt. © 1992 by Ammann Verlag & Co., Zürich.<br />
René Oberholzer: Das Angebot<br />
Es sprach sich weltweit herum, dass ein Mann bis zu seinem Tod nicht mehr sprechen wolle. Das<br />
veranlasste (=motivar) einen reichen Amerikaner, eine Million Dollar auszuschreiben, um dem<br />
Mann drei Sätze entlocken zu können. Viele versuchten es, scheiterten (=fracasar) aber. Erst als<br />
seine Frau ihn vor die laufenden Kameras zerrte und alles über sein Privatleben erzählte, sagte<br />
der Mann drei Sätze und schwieg bis an sein Lebensende. Seine Frau übrigens auch.<br />
16
http://www.dradio.de/aktuell/1434180/<br />
Pigor: Fremdschämen im Mai<br />
Hasi dieser Mai<br />
Wird wunder wunderschön<br />
Komm lass uns wieder mal gemeinsam<br />
Unserm Hobby fröhn'n<br />
Wir gehn nicht in die Natur<br />
Wir begeben uns zu zweit<br />
Auf die Suche<br />
Nach der monatlichen Peinlichkeit<br />
Andere blamier'n sich<br />
Und wir finden was dabei<br />
Komm lass uns Fremdschämen<br />
Fremdschämen im Mai<br />
Fremdschämen im Mai<br />
Ein bunter Strauß voll Peinlichkeiten<br />
Fremdschämen im Mai<br />
Kein Vergleich mit andern Jahreszeiten<br />
Weihnachten ist peinlich<br />
Aber viel zu schnell vorbei<br />
Komm lass<br />
Wir gehn auf den Parteitag<br />
- der F.D.P.<br />
Der starke Mann ist Phillipp Rösler (=Chef der<br />
FDP)<br />
Aua das tut weh<br />
Was ist los mit Guido? (=Guido Westerwelle,<br />
Ex-Chef)<br />
Übt er Selbstkritik<br />
Oder lobt er selber<br />
Seine triumphale Außenpolitik?<br />
Und wenn dann Brüderle spricht (FDP-<br />
Fraktionsvorsitzender)<br />
Geht ein Ruck durch die Partei<br />
Fremdschämen im Mai<br />
Vor Scham in den Boden versinken<br />
Fremdschämen im Mai<br />
Von der FDP bis zu der Linken<br />
Kommt jetzt Lafontaine zurück (Politiker der<br />
Partei Die Linke)<br />
Riesenschreierei<br />
Wir werden - rot vor Scham das steht heute schon fest<br />
In Düsseldorf beim Eurovision Song Contest<br />
Lena Meyer - Landrut ist zu allem bereit (deutsche<br />
Kanditatin)<br />
Mit ihrer - nervenaufreibenden Natürlichkeit<br />
Dieser Mai bietet außerdem was ganz besonders peinliches<br />
Sieben Tage lang Kachelmannprozeß (Kachelmann, Ex-<br />
Wettermann, der Vergewaltigung angeklagt)<br />
Wo Alice Schwarzer wieder exklusiv für Bild enthüllt<br />
(prominente Feministin)<br />
Und wer weiß welcher Skandal noch die Schlagzeilen füllt<br />
Ob Sarrazin wieder über Migranten herzieht (Sarrazin, Ex-<br />
SPD, hat ein ausländerfeindliches Buch geschrieben)<br />
Und zwar jetzt explizit als SPD - Mitglied<br />
Uaaa! Blamabel auch dieses Mal<br />
Diese unsäglich klägliche Sozialwahl<br />
Alle wählen irgendein obskures Parlament<br />
Wobei keiner auch nur einen Kandidaten kennt<br />
Uaaa! -- Was vielleicht auch richtig peinlich wird<br />
Wenn sich Norbert Röttgen nochmal von sich selber<br />
distanziert (CDU-Umweltminister)<br />
Und den Austieg aus dem Austieg aus dem Austieg<br />
Aus dem Austieg aus dem Austieg aus dem Austieg<br />
proklamiert<br />
Fremdschämen im Mai<br />
Ein Monat voller Peinlichkeiten<br />
Fremdschämen im Mai<br />
Sie werd'n uns durch den Mai begleiten<br />
Du siehst dem Ganzen<br />
Kopfschüttelnd zu<br />
Und ich schäme mich<br />
Genauso fremd wie du<br />
Es wird schrecklich schön peinlich<br />
Und wir sind mit dabei<br />
Komm lass uns Fremdschämen<br />
Fremdschämen im Mai<br />
Peinlich schön!<br />
(Musik u. Text: Thomas Pigor)<br />
"Fremdschämen" ist Wort des Jahres 2010 http://stmv1.orf.at/stories/486379<br />
Das Wort und Unwort des Jahres 2010 ist gekürt: Die Fachjury unter Leitung eines Grazer Professors hat<br />
sich für "Fremdschämen" und "humane Abschiebung" entschieden.<br />
Sich genieren für politische Zustände?<br />
"Fremdschämen" beschreibt die Empfindung, die auftritt, wenn man das Verhalten anderer Personen oder<br />
Gruppen als beschämend peinlich empfindet, während sich die handelnden Personen dessen gar nicht<br />
bewusst sind.<br />
17
Reiner Kunze: ORDNUNG aus: Die wunderbaren Jahre.(1978)<br />
Die Mädchen und Jungen, die sich auf die Eckbank der leeren Bahnhofshalle setzten, kamen aus<br />
einem Jazzkonzert. Ihr Gespräch verstummte rasch. Einer nach dem anderen legten sie den<br />
Kopf auf die Schulter ihres Nebenmanns. Der erste Zug fuhr 4.46 Uhr. Zwei<br />
Transportpolizisten, einen Schäferhund an der Leine, erschienen in der Tür, wandten sich der<br />
Bank zu und zupften (=kurz angreifen) die Schlafenden am Ärmel. „Entweder Sie setzen sich<br />
gerade hin oder Sie verlassen den Bahnhof, Ordnung muss sein!“ „Wieso Ordnung?“ fragte<br />
einer der Jungen, nachdem er sich aufgerichtet hatte. „Sie sehen doch, dass jeder seinen Kopf<br />
gleich wiedergefunden hat.“ „Wenn Sie frech werden, verschwinden Sie sofort, verstanden?“<br />
Die Polizisten gingen weiter. Die jungen Leute lehnten sich nach der anderen Seite. Zehn<br />
Minuten später kehrte die Streife(=die Polizisten) zurück und verwies sie des Bahnhofs. (=fer<br />
fora) Draußen ging ein feiner Regen nieder. Der Zeiger der großen Uhr wippte (=balancear) auf<br />
die Eins wie ein Gummiknüppel.(=porra)<br />
Walter Benjamin: Vierte Geschichsthese<br />
Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der<br />
aussieht, als wäre er im Begriff,(=gerade etwas tun) sich von etwas zu entfernen, worauf er<br />
starrt.(=mirada fixa) Seine Augen sind aufgerissen,(=molt oberts) sein Mund steht offen und<br />
seine Flügel sind ausgespannt.(=offen)<br />
Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz (=Gesicht) der Vergangenheit<br />
zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten (=incidents) vor uns erscheint, da sieht er eine<br />
einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer (=runes) auf Trümmer häuft und sie ihm vor die<br />
Füße schleudert.(=brutal werfen) Er möchte wohl verweilen,(=hier bleiben) die Toten wecken<br />
und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in<br />
seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann.<br />
Der Sturm treibt ihn unaufhaltsam (=inexorablement) in die Zukunft,(=futur) der er den<br />
Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir<br />
Fortschritt (=progrès) nennen, ist dieser Sturm.<br />
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19
Franz Kafka: Der Nachbar<br />
Mein Geschäft ruht ganz auf meinen Schultern. Zwei Fräulein mit Schreibmaschinen und<br />
Geschäftsbüchern im Vorzimmer, mein Zimmer mit Schreibtisch, Kasse, Beratungstisch,<br />
Klubsessel und Telephon, das ist mein ganzer Arbeitsapparat. So einfach zu<br />
überblicken,(=supervisar) so leicht zu führen. Ich bin ganz jung und die Geschäfte rollen vor<br />
mir her. Ich klage nicht, ich klage nicht.(=queixar-se)<br />
Seit Neujahr hat ein junger Mann die kleine, leerstehende Nebenwohnung, die ich<br />
ungeschickterweise (=imprudentment) so lange zu mieten gezögert (=dubtar) habe, frischweg<br />
(=schnell) gemietet. Auch ein Zimmer mit Vorzimmer, außerdem aber noch eine Küche. -<br />
Zimmer und Vorzimmer hätte ich wohl brauchen können - meine zwei Fräulein fühlten sich<br />
schon manchmal überlastet -, aber wozu hätte mir die Küche gedient? Dieses kleinliche<br />
Bedenken (=reparo) war daran schuld, daß ich mir die Wohnung habe nehmen lassen. Nun sitzt<br />
dort dieser junge Mann. Harras heißt er. Was er dort eigentlich macht, weiß ich nicht. Auf der<br />
Tür steht: ›Harras, Bureau‹. Ich habe Erkundigungen eingezogen(=fer consultes), man hat mir<br />
mitgeteilt, es sei ein Geschäft ähnlich dem meinigen. Vor Kreditgewährung könne man nicht<br />
geradezu warnen, denn es handle sich doch um einen jungen, aufstrebenden Mann, dessen Sache<br />
vielleicht Zukunft habe, doch könne man zum Kredit nicht geradezu raten, denn gegenwärtig sei<br />
allem Anschein nach kein Vermögen (=Geld) vorhanden.(=es gibt) Die übliche (=normale)<br />
Auskunft,(=Information) die man gibt, wenn man nichts weiß.<br />
Manchmal treffe ich Harras auf der Treppe, er muß es immer außerordentlich eilig haben,(=tenir<br />
pressa) er huscht (=läuft) formlich an mir vorüber. Genau gesehen habe ich ihn noch gar nicht,<br />
den Büroschlüssel hat er schon vorbereitet in der Hand. Im Augenblick hat er die Tür geöffnet.<br />
Wie der Schwanz einer Ratte ist er hineingeglitten und ich stehe wieder vor der Tafel 'Harras,<br />
Bureau', die ich schon viel öfter gelesen habe, als sie es verdient.<br />
Die elend dünnen Wände, die den ehrlich tätigen Mann verraten (=trair) den Unehrlichen aber<br />
decken. Mein Telephon ist an der Zimmerwand angebracht, die mich von meinem Nachbar<br />
trennt. Doch hebe ich das bloß als besonders ironische Tatsache hervor.<br />
Selbst wenn es an der entgegengesetzten Wand hinge, würde man in der Nebenwohnung alles<br />
hören. Ich habe mir abgewöhnt, den Namen der Kunden beim Telephon zu nennen. Aber es<br />
gehört natürlich nicht viel Schlauheit (=Intelligenz) dazu, aus charakteristischen, aber<br />
unvermeidlichen (=inevitable)Wendungen des Gesprächs die Namen zu erraten. - Manchmal<br />
umtanze ich, die Hörmuschel am Ohr, von Unruhe gestachelt, auf den Fußspitzen den Apparat<br />
und kann es doch nicht verhüten,(=evitar) daß Geheimnisse preisgegeben werden.<br />
Natürlich werden dadurch meine geschäftlichen Entscheidungen unsicher, meine Stimme zittrig.<br />
(=tremolar) Was macht Harras, während ich telephoniere? Wollte ich sehr übertreiben - aber das<br />
muß man oft, um sich Klarheit zu verschaffen -, so könnte ich sagen: Harras braucht kein<br />
Telephon, er benutzt meines, er hat sein Kanapee an die Wand gerückt und horcht,(=orejear) ich<br />
dagegen muß, wenn geläutet wird, zum Telephon laufen, die Wünsche des Kunden<br />
entgegennehmen, schwerwiegende Entschlüsse fassen, großangelegte Überredungen ausführen -<br />
vor allem aber während des Ganzen unwillkürlich durch die Zimmerwand Harras Bericht<br />
erstatten.<br />
Vielleicht wartet er gar nicht das Ende des Gespräches ab, sondern erhebt (=aufstehen) sich nach<br />
der Gesprächsstelle, die ihn über den Fall genügend aufgeklärt hat, huscht nach seiner<br />
Gewohnheit durch die Stadt und, ehe ich die Hörmuschel (=Telefon) aufgehängt habe, ist er<br />
vielleicht schon daran, mir entgegenzuarbeiten.<br />
20
Kurt Tucholsky: Ein Ehepaar erzählt einen Witz (=chiste)<br />
»Herr Panter, wir haben gestern einen so reizenden (=nett) Witz gehört, den müssen wir Ihnen ...<br />
also den muß ich Ihnen erzählen. Mein Mann kannte ihn schon ... aber er ist zu reizend. Also passen<br />
Sie auf:<br />
Ein Mann, Walter, streu (=esparcir) nicht den Tabak auf den Teppich, da! Streust ja den ganzen<br />
Tabak auf den Teppich, also ein Mann, nein, ein Wanderer verirrt (=perder-se) sich im Gebirge.<br />
Also der geht im Gebirge und verirrt sich, in den Alpen. Was? In den Dolomiten, also nicht in den<br />
Alpen, ist ja ganz egal. Also er geht da durch die Nacht, und da sieht er ein Licht, und er geht grade<br />
auf das Licht zu ... laß mich doch erzählen! das gehört dazu! ... geht drauf zu, und da ist eine Hütte,<br />
da wohnen zwei Bauersleute drin. Ein Bauer und eine Bauersfrau. Der Bauer ist alt, und sie ist jung<br />
und hübsch, ja, sie ist jung. Die liegen schon im Bett. Nein, die liegen noch nicht im Bett ... «<br />
»Meine Frau kann keine Witze erzählen. Laß mich mal. Du kannst nachher sagen, obs richtig war.<br />
Also nun werde ich Ihnen das mal erzählen.<br />
Also, ein Mann wandert durch die Dolomiten und verirrt sich. Da kommt er – du machst einen ganz<br />
verwirrt, so ist der Witz gar nicht! Der Witz ist ganz anders. In den Dolomiten, so ist das! In den<br />
Dolomiten wohnt ein alter Bauer mit seiner jungen Frau. Und die haben gar nichts mehr zu essen;<br />
bis zum nächsten Markttag haben sie bloß noch eine Konservenbüchse (=lata) mit Rindfleisch. Und<br />
die sparen sie sich auf. Und da kommt ... wieso? Das ist ganz richtig! Sei mal still ... , da kommt in<br />
der Nacht ein Wandersmann, also da klopft es an die Tür, da steht ein Mann, der hat sich verirrt,<br />
und der bittet um Nachtquartier.(=allotjament) Nun haben die aber gar kein Quartier, das heißt, sie<br />
haben nur ein Bett, da schlafen sie zu zweit drin. Wie? Trude, das ist doch Unsinn ... Das kann sehr<br />
nett sein!«<br />
»Na, ich könnte das nicht. Immer da einen, der – im Schlaf strampelt (=patalear)... , also ich könnte<br />
das nicht!«<br />
»Sollst du ja auch gar nicht. Unterbrich mich nicht immer.«<br />
»Du sagst doch, das wär nett. Ich finde das nicht nett.«<br />
»Also ... «<br />
»Walter! Die Asche!(=ceniza) Kannst du denn nicht den Aschbecher nehmen?«<br />
»Also ... der Wanderer steht da nun in der Hütte, er trieft vor Regen, und er möchte doch da<br />
schlafen. Und da sagt ihm der Bauer, er kann ja in dem Bett schlafen, mit der Frau.«<br />
»Nein, so war das nicht. Walter, du erzählst es ganz falsch! Dazwischen, zwischen ihm und der<br />
Frau – also der Wanderer in der Mitte!«<br />
»Meinetwegen (ok, por mí) in der Mitte. Das ist doch ganz egal.«<br />
»Das ist gar nicht egal ... der ganze Witz beruht ja darauf.« (=basar-se)<br />
»Der Witz beruht doch nicht darauf, wo der Mann schläft!«<br />
21
»Natürlich beruht er darauf! Wie soll denn Herr Panter den Witz so verstehen ... laß mich mal – ich<br />
werd ihn mal erzählen! – Also der Mann schläft, verstehen Sie, zwischen dem alten Bauer und<br />
seiner Frau. Und draußen gewittert es. (=tormenta) Laß mich doch mal!«<br />
»Sie erzählt ihn ganz falsch. Es gewittert erst gar nicht, sondern die schlafen friedlich ein. Plötzlich<br />
wacht der Bauer auf und sagt zu seiner Frau – Trude, geh mal ans Telefon, es klingelt. – Nein, also<br />
das sagt er natürlich nicht ... Der Bauer sagt zu seiner Frau ... Wer ist da? Wer ist am Telefon? Sag<br />
ihm, er soll später noch mal anrufen – jetzt haben wir keine Zeit! Ja. Nein. Ja. Häng ab! Häng doch<br />
ab!«(=penjar)<br />
»Hat er Ihnen den Witz schon zu Ende erzählt? Nein, noch nicht? Na, erzähl doch!«<br />
»Da sagt der Bauer: Ich muß mal raus, nach den Ziegen (=cabres) sehn – mir ist so, als hätten die<br />
sich losgemacht, und dann haben wir morgen keine Milch! Ich will mal sehn, ob die Stalltür<br />
(=estable) auch gut zugeschlossen ist.«<br />
»Walter, entschuldige, wenn ich unterbreche, aber Paul sagt, nachher kann er nicht anrufen, er ruft<br />
erst abends an.«<br />
»Gut, abends. Also der Bauer – nehmen Sie doch noch ein bißchen Kaffee! – Also der Bauer geht<br />
raus, und kaum ist er rausgegangen, da stupst (=tocar, empujar) die junge Frau ... «<br />
»Ganz falsch. Total falsch. Doch nicht das erstemal! Er geht raus, aber sie stupst erst beim<br />
drittenmal – der Bauer geht nämlich dreimal raus – das fand ich so furchtbar komisch! Laß mich<br />
mal! Also der Bauer geht raus, nach der Ziege sehn, und die Ziege ist da; und er kommt wieder<br />
rein.«<br />
»Falsch. Er bleibt ganz lange draußen. Inzwischen sagt die junge Frau zu dem Wanderer –«<br />
»Gar nichts sagt sie. Der Bauer kommt rein ... «<br />
»Erst kommt er nicht rein!«<br />
»Also ... der Bauer kommt rein, und wie er eine Weile schläft, da fährt er plötzlich aus dem Schlaf<br />
hoch und sagt: Ich muß doch noch mal nach der Ziege sehen – und geht wieder raus.«<br />
»Du hast ja ganz vergessen, zu erzählen, dass der Wanderer furchtbaren Hunger hat!«<br />
»Ja. Der Wanderer hat vorher beim Abendbrot gesagt, er hat so furchtbaren Hunger, und da haben<br />
die gesagt, ein bißchen Käse wäre noch da ... «<br />
»Und Milch!«<br />
»Und Milch, und es wär auch noch etwas Fleischkonserve da, aber die könnten sie ihm nicht geben,<br />
weil die eben bis zum nächsten Markttag reichen muß. Und dann sind sie zu Bett gegangen.«<br />
»Und wie nun der Bauer draußen ist, da stupst sie den, also da stupst die Frau den Wanderer in die<br />
Seite und sagt: Na ... «<br />
»Keine Spur! (=überhaupt nicht) Aber keine Spur! Walter, das ist doch falsch! Sie sagt doch nicht:<br />
Na ... !«<br />
22
»Natürlich sagt sie: Na ... ! Was soll sie denn sagen?«<br />
»Sie sagt: Jetzt wäre so eine Gelegenheit ... «(=oportunitat)<br />
»Sie sagt im Gegenteil: Na ... und stupst den Wandersmann in die Seite ... «<br />
»Du verdirbst (=fer malbé) aber wirklich jeden Witz, Walter!«<br />
»Das ist großartig! Ich verderbe jeden Witz? Du verdirbst jeden Witz – ich verderbe doch nicht<br />
jeden Witz! Da sagt die Frau ... «<br />
»Jetzt laß mich mal den Witz erzählen! Du verkorkst (=fer malbé) ja die Pointe ...(=gracia) !«<br />
»Also jetzt mach mich nicht böse, Trude! Wenn ich einen Witz anfange, will ich ihn auch zu Ende<br />
erzählen ... «<br />
»Du hast ihn ja gar nicht angefangen ... ich habe ihn angefangen!« – »Das ist ganz egal – jedenfalls<br />
will ich die Geschichte zu Ende erzählen; denn du kannst keine Geschichten erzählen, wenigstens<br />
nicht richtig!« – »Und ich erzähle eben meine Geschichten nach meiner Art und nicht nach deiner,<br />
und wenn es dir nicht paßt, dann mußt du eben nicht zuhören ... !« – »Ich will auch gar nicht<br />
zuhören ... ich will sie zu Ende erzählen – und zwar so, dass Herr Panter einen Genuß (=plaer) von<br />
der Geschichte hat!« – »Wenn du vielleicht glaubst, dass es ein Genuß ist, dir zuzuhören ... « –<br />
»Trude!« – »Nun sagen Sie, Herr Panter – ist das auszuhalten! (=suportar)Und so nervös ist er<br />
schon die ganze Woche ... ich habe ... « – »Du bist ... « – »Deine Unbeherrschtheit ... « (=manqua<br />
de control)– »Gleich wird sie sagen: Komplexe! Deine Mutter nennt das einfach schlechte<br />
Erziehung ... « – »Meine Kinderstube ... !«(alt für =educació) – »Wer hat denn die Sache beim<br />
Anwalt (=advocat) rückgängig gemacht?<br />
(=cancel.lar) Wer denn? Ich vielleicht? Du! Du hast<br />
gebeten, dass die Scheidung nicht ... « – »Lüge!« – Bumm: Türgeknall(=portazo) rechts. Bumm:<br />
Türgeknall links.<br />
Jetzt sitze ich da mit dem halben Witz.<br />
Was hat der Mann zu der jungen Bauersfrau gesagt?<br />
Peter Panter (=Synonym von Kurt Tucholsky) aus: Vossische Zeitung, 29.09.1931, Nr. 458.<br />
Zitate von Kurt Tucholsky<br />
1. Als deutscher Tourist im Ausland steht man immer vor der Frage, ob man sich anständig<br />
(=decente) benehmen muss oder ob schon deutsche Touristen dagewesen sind.<br />
2. Was darf Satire? Alles!<br />
3. Alle Soldaten sind Mörder.<br />
4. Erfahrungen vererben sich nicht - jeder muss sie allein machen.<br />
5. Ein skeptischer Katholik ist mir lieber als ein gläubiger Atheist.<br />
23
6. Nichts ist schöner und nichts erfordert mehr Charakter als sich in offenem Gegensatz zu seiner<br />
Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!<br />
7. Dumme und Kluge unterscheiden sich dadurch, dass der Dumme immer dieselben Fehler<br />
macht und der Kluge immer neue.<br />
8. Menschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen, und solche, die<br />
beherrscht werden.<br />
Rezitiert André Jung, gut aber schnell: http://www.youtube.com/watch?v=iDToULu92v8<br />
An das Publikum<br />
O hochverehrtes Publikum,<br />
sag mal: Bist du wirklich so dumm,<br />
wie uns das an allen Tagen<br />
alle Unternehmer sagen?<br />
Jeder Direktor mit dickem Popo (=culito)<br />
spricht: "Das Publikum will es so!"<br />
Jeder Filmfritze sagt: "Was soll ich machen?<br />
Das Publikum wünscht diese zuckrigen<br />
Sachen!"<br />
Jeder Verleger zuckt die Achseln (=arronsa les<br />
espatlles)<br />
und spricht:<br />
"Gute Bücher gehn eben nicht!" (=verkaufen<br />
sich nicht gut)<br />
Sag mal, verehrtes Publikum:<br />
Bist du wirklich so dumm?<br />
So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,<br />
immer weniger zu lesen steht?<br />
Aus lauter Furcht, (=Angst) du könntest verletzt<br />
sein;<br />
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;<br />
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn<br />
könnten mit Abbestellung drohn?<br />
(=cancel.lació)<br />
Aus Bangigkeit, (=Angst) es käme am Ende<br />
einer der zahllosen Reichsverbände (asociació<br />
oficial)<br />
und protestierte und denunzierte<br />
und demonstrierte und prozessierte...<br />
Sag mal, verehrtes Publikum:<br />
Bist du wirklich so dumm?<br />
Ja dann...<br />
Es lastet auf dieser Zeit<br />
der Fluch der Mittelmäβigkeit. (=mediocre)<br />
Hast du so einen schwachen Magen?<br />
Kannst du keine Wahrheit vertragen?<br />
Bist also nur ein Griesbrei-Fresser? (=papilla)<br />
Ja, dann...<br />
Ja, dann verdienst du‘s nicht besser<br />
24
Bert Brecht<br />
Was nützt die Güte (=bondat)<br />
Was nützt die Güte<br />
Wenn die Gütigen sogleich erschlagen<br />
(=getötet) werden, oder es<br />
werden erschlagen<br />
Die, zu denen sie gütig sind?<br />
Was nützt die Freiheit<br />
Wenn die Freien unter den Unfreien leben<br />
müssen?<br />
Was nützt die Vernunft<br />
Wenn die Unvernunft allein das Essen<br />
verschafft, das jeder (=proporcionar)<br />
benötigt?<br />
Anstatt nur gütig zu sein, bemüht euch<br />
Einen Zustand zu schaffen, der die Güte<br />
ermöglicht, und<br />
besser:<br />
Sie überflüssig macht! (=superflu)<br />
Anstatt nur frei zu sein, bemüht euch<br />
Einen Zustand zu schaffen, der alle befreit<br />
Auch die Liebe zur Freiheit<br />
Überflüssig macht!<br />
Anstatt nur vernünftig zu sein, bemüht euch<br />
Einen Zustand zu schaffen, der die<br />
Unvernunft der<br />
einzelnen<br />
Zu einem schlechten Geschäft macht!<br />
Vergnügungen (=plaers)<br />
Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen<br />
Das wiedergefundene alte Buch<br />
Begeisterte Gesichter<br />
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten<br />
Die Zeitung<br />
Der Hund<br />
Bequeme Schuhe<br />
Begreifen<br />
Neue Musik<br />
Schreiben, Pflanzen<br />
Reisen<br />
Singen<br />
Die Nachtlager<br />
Ich höre, daß in New York<br />
An der Ecke der 26.Straße und des Broadway<br />
Während der Wintermonate jeden Abend ein<br />
Mann steht<br />
Und den Obdachlosen,(=sense sostre) die sich<br />
ansammeln<br />
Durch Bitten an Vorübergehende ein Nachtlager<br />
verschafft.<br />
Die Welt wird dadurch nicht anders<br />
Die Beziehungen zwischen den Menschen<br />
bessern sich nicht<br />
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht<br />
verkürzt<br />
Aber einige Männer haben ein Nachtlager<br />
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang<br />
abgehalten<br />
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße.<br />
Leg das Buch nicht nieder, der du das liesest,<br />
Mensch.<br />
Einige Menschen haben ein Nachtlager<br />
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang<br />
abgehalten<br />
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße<br />
Aber die Welt wird dadurch nicht anders<br />
Die Beziehungen zwischen den Menschen<br />
bessern sich dadurch nicht<br />
Das Zeitalter der Ausbeutung (=explotació) wird<br />
dadurch nicht verkürzt.<br />
25
Freundlich sein<br />
Geschichten vom Herrn Keuner (1930) http://susannealbers.de/03philosophie-literatur-<br />
Brecht1.html<br />
Maßnahmen gegen die Gewalt<br />
Als Herr Keuner, der Denkende, sich in einem Saale vor vielen gegen die Gewalt aussprach, merkte<br />
er, wie die Leute vor ihm zurückwichen und weggingen. Er blickte sich um und sah hinter sich<br />
stehen - die Gewalt."Was sagtest du?" fragte ihn die Gewalt."Ich sprach mich für die Gewalt aus",<br />
antwortete Herr Keuner. Als Herr Keuner weggegangen war, fragten ihn seine Schüler nach seinem<br />
Rückgrat. Herr Keuner antwortete: "Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muß<br />
länger leben als die Gewalt."<br />
Vaterlandsliebe, der Haß gegen Vaterländer<br />
Herr K. hielt es nicht für nötig, in einem bestimmten Lande zu leben. Er sagte: "Ich kann überall<br />
hungern." Eines Tages aber ging er durch eine Stadt, die vom Feind des Landes besetzt war, in dem<br />
er lebte. Da kam ihm entgegen ein Offizier dieses Feindes und zwang ihn, vom Bürgersteig<br />
herunterzugehen. Herr K. ging herunter und nahm an sich wahr, daß er gegen diesen Mann empört<br />
war, und zwar nicht nur gegen diesen Mann, sondern besonders gegen das Land, dem der Mann<br />
angehörte, also daß erwünschte, es möchte vom Erdboden vertilgt werden. "Wodurch", fragte Herr<br />
K., "bin ich für diese Minute ein Nationalist geworden? Dadurch, daß ich einem Nationalisten<br />
begegnete. Aber darum muß man die Dummheit ja ausrotten, weil sie dumm macht, die ihr<br />
begegnen."<br />
Hungern<br />
Herr K. hatte anläßlich einer Frage nach dem Vaterland die Antwort gegeben: "Ich kann überall<br />
hungern." Nun fragte ihn ein genauer Hörer, woher es komme, daß er sage, er hungere, während er<br />
doch in Wirklichkeit zu essen habe. Herr K. rechtfertigte sich, indem er sagte: "Wahrscheinlich<br />
wollte ich sagen, ich kann überall leben, wenn ich leben will, wo Hunger herrscht. Ich gebe zu, daß<br />
es ein großer Unterschied ist, ob ich selber hungere oder ob ich lebe, wo Hunger herrscht. Aber zu<br />
meiner Entschuldigung darf ich wohl anführen, daß für mich leben, wo Hunger herrscht, wenn nicht<br />
ebenso schlimm wie hungern, so doch wenigstens sehr schlimm ist. Es wäre ja für andere nicht<br />
wichtig, wenn ich Hunger hätte, aber es ist wichtig, daß ich dagegen bin, daß Hunger herrscht."<br />
Der hilflose Knabe<br />
Herr K. sprach über die Unart, erlittenes Unrecht stillschweigend in sich hineinzufressen, und<br />
erzählte folgende Geschichte: "Einen vor sich hin weinenden Jungen fragte ein Vorübergehender<br />
nach dem Grund seines Kummers. >Ich hatte zwei Groschen für das Kino beisammenda kam ein Junge und riß mir einen aus der HandHast du denn nicht um Hilfe geschrien?< fragte der Mann.<br />
>DochHat dich niemand gehört?< fragte ihn<br />
der Mann weiter, ihn liebevoll streichelnd. >NeinKannst du denn nicht<br />
lauter schreien?< fragte der Mann.>NeinDann gib auch den her
Herr K. und die Katzen<br />
Herr K. liebte die Katzen nicht. Sie schienen ihm keine Freunde der Menschen zu sein; also war er<br />
auch nicht ihr Freund."Hätten wir gleiche Interessen", sagte er, "dann wäre mir ihre feindselige<br />
Haltung gleichgültig." Aber Herr K. verscheuchte die Katzen nur ungern von seinem Stuhl. "Sich<br />
zur Ruhe zu legen, ist eine Arbeit", sagte er, "sie soll Erfolg haben." Auch wenn Katzen vor seiner<br />
Tür jaulten, stand er auf vom Lager, selbst bei Kälte, und ließ sie in die Wärme ein. "Ihre Rechnung<br />
ist einfach", sagte er, "wenn sie rufen, öffnet man ihnen. Wenn man ihnen nicht mehr öffnet, rufen<br />
sie nicht mehr. Rufen, das ist ein Fortschritt."<br />
Herrn K.s Lieblingstier<br />
Als Herr K. gefragt wurde, welches Tier er vor allen schätze, nannte er den Elefanten und<br />
begründete dies so: Der Elefant vereint List mit Stärke. Das ist nicht die kümmerliche List, die<br />
ausreicht, einer Nachstellung zu entgehen oder ein Essen zu ergattern, indem man nicht auffällt,<br />
sondern die List, welcher die Stärke für große Unternehmungen zur Verfügung steht. Wo dieses<br />
Tier war, führt eine breite Spur. Dennoch ist es gutmütig, es versteht Spaß. Es ist ein guter Freund,<br />
wie es ein guter Feind ist. Sehr groß und schwer, ist es doch auch sehr schnell. Sein Rüssel führt<br />
einem enormen Körper auch die kleinsten Speisen zu, auch Nüsse. Seine Ohren sind verstellbar: Er<br />
hört nur, was ihm paßt. Er wird auch sehr alt. Er ist auch gesellig, und dies nicht nur zu Elefanten.<br />
Überall ist er sowohl beliebt als auch gefürchtet. Eine gewisse Komik macht es möglich, daß er<br />
sogar verehrt werden kann. Er hat eine dicke Haut, darin zerbrechen die Messer; aber sein Gemüt ist<br />
zart. Er kann traurig werden. Er kann zornig werden. Er tanzt gern. Er stirbt im Dickicht. Er liebt<br />
Kinder und andere kleine Tiere. Er ist grau und fällt nur durch seine Masse auf. Er ist nicht eßbar.<br />
Er kann gut arbeiten. Er trinkt gern und wird fröhlich. Er tut etwas für die Kunst: Er liefert<br />
Elfenbein.<br />
Der unentbehrliche Beamte<br />
Von einem Beamten, der schon ziemlich lange in seinem Amt saß, hörte Herr K. rühmenderweise,<br />
er sei unentbehrlich, ein so guter Beamter sei er. "Wieso ist er unentbehrlich?" fragte Herr K.<br />
ärgerlich. "Das Amt liefe nicht ohne ihn", sagten seine Lober."Wie kann er da ein guter Beamter<br />
sein, wenn das Amt nicht ohne ihn liefe?" sagte Herr K., "er hat Zeit genug gehabt, sein Amt so<br />
weit zu ordnen, daß er entbehrlich ist. Womit beschäftigt er sich eigentlich? Ich will es euch sagen:<br />
mit Erpressung!"<br />
Herr Keuner und die Flut<br />
Herr Keuner ging durch ein Tal, als er plötzlich bemerkte, daß seine Füße in Wasser gingen. Da<br />
erkannte er, daß sein Tal in Wirklichkeit ein Meeresarm war und daß die Zeit der Flut herannahte.<br />
Er blieb sofort stehen, um sich nach einem Kahn umzusehen, und solange er auf einen Kahn hoffte,<br />
blieb er stehen. Als aber kein Kahn in Sicht kam, gab er diese Hoffnung auf und hoffte, daß das<br />
Wasser nicht mehr steigen möchte. Erst als ihm das Wasser bis ans Kinn ging, gab er auch diese<br />
Hoffnung auf und schwamm. Er hatte erkannt, daß er selber ein Kahn war.<br />
27
Hypertext mit Worterklärungen: http://yang.case.edu/german313/kaffee_verkehrt.html<br />
Irmtraud Morgner: Kaffee verkehrt aus: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz<br />
nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, Berlin [u. a.] 1974<br />
Viertes Buch, 19. Kapitel Das die Geschichte wiedergibt, die Laura als zu wahr<br />
bezeichnet<br />
Kaffee verkehrt: Als neulich unsere Frauenbrigade im Espresso am Alex Kapuziener<br />
trank, betrat ein Mann das Etablissement, der meinen Augen wohltat. Ich pfiff also eine<br />
Tonleiter rauf und sah mir den Herren an, auch rauf und runter. Als er an unserem Tisch<br />
vorbeiging, sagte ich "Donnerwetter". Dann unterhielt sich unsere Brigade über seine<br />
Füße, denen Socken fehlten, den Taillenumfang schätzten wir auf siebzig, Alter auf<br />
zweiunddreißig. Das Exquisite Hemd zeichnete die Schulterblätter ab, was auf Hagerkeit<br />
schließen ließ. Schmale Schädelform mit rausragenden Ohren, stumpfes Haar, das<br />
irgendein hinterweltlerischer Friseur im Nacken rasiert hatte, wodurch die Perücke nicht<br />
bis zum Hemdkragen reichte, was meine Spezialität ist. Wegen schlechter Haltung der<br />
schönen Schultern riet ich zu Rudersport. Da der Herr in der Ecke des Lokals Platz<br />
genommen hatte, mussten wir sehr laut sprechen. Ich ließ ihm und mir einen doppelten<br />
Wodka servieren und prostete ihm zu, als er der Bedienung ein Versehen anlasten wollte.<br />
Später ging ich zu seinem Tisch, entschuldigte mich, sagte, dass wir uns von irgendwoher<br />
kennen müssten, und besetzte den nächsten Stuhl. Ich nötigte dem Herrn die<br />
Getränkekarte auf und fragte nach seinen Wünschen. Da er keine hatte, drückte ich meine<br />
Knie gegen seine, bestellte drei Lagen Sliwowitz und drohte mit Vergeltung für den<br />
Beleidigungsfall, der einträte, wenn er nicht tränke. Obgleich der Herr weder dankbar<br />
noch kurzweilig war, sondern wortlos, bezahlte ich alles und begleitete ihn aus dem<br />
Lokal. In der Tür ließ ich meine Hand wie zufällig über eine Hinterbacke gleiten, um zu<br />
prüfen, ob die Gewebestruktur in Ordnung war. Da ich keine Mängel feststellen konnte,<br />
fragte ich den Herrn, ob er heute Abend etwas vorhätte, und lud ihn ein ins Kino<br />
"International" . Eine innere Anstrengung, die zunehmend sein hübsches Gesicht<br />
zeichnete, verzerrte es jetzt grimassenhaft, konnte die Verblüffung aber doch endlich<br />
lösen und die Zunge, also dass der Herr sprach:"Hören Sie mal, Sie haben ja unerhörte<br />
Umgangsformen." - "Gewöhnliche" , entgegnete ich, "Sie sind nur nicht Gutes gewöhnt,<br />
weil sie keine Dame sind."<br />
28
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Franz Kafka: Die Abweisung<br />
Wenn ich einem schönen Mädchen begegne (=treffen) und sie bitte: "Sei so gut, komm<br />
mit mir" und sie stumm vorübergeht, so meint sie damit:<br />
"Du bist kein Herzog (=duc) mit fliegendem Namen, kein breiter Amerikaner mit<br />
indianischem Wuchs, mit waagrecht ruhenden Augen, mit einer von der Luft der<br />
Rasenplätze und der sie durchstömenden Flüsse massierten Haut, Du hast keine Reisen<br />
gemacht zu den großen Seen und auf ihnen, die ich weiß nicht wo zu finden sind. Also<br />
ich bitte, warum soll ich, ein schönes Mädchen, mit Dir gehn?"<br />
" Du vergißt, Dich trägt kein Automobil in langen Stößen schaukelnd (=balancear)<br />
durch die Gasse; ich sehe nicht die in ihre Kleider gepreßten Herren Deines Gefolges,<br />
die Segenssprüche (=bendicions) für Dich murmelnd (=murmuri) in genauem Halbkreis<br />
hinter Dir gehn; Deine Brüste sind im Mieder (=cosset) gut geordnet, aber deine<br />
Schenkel (=muslo) und Hüften entschädigen (=se autocompensan) sich für jene<br />
Enthaltsamkeit; Du trägst ein Taffetkleid mit plissierten Falten,(=plecs) wie es im<br />
vorigen Herbste uns durchaus allen Freude machte, und doch lächelst Du - diese<br />
Lebensgefahr auf dem Leibe - bisweilen."<br />
"Ja, wir haben beide recht und, um uns dessen nicht unwiderleglich (=irrefutablement)<br />
bewusst zu werden, wollen wir, nicht wahr, lieber jeder allein nach Hause gehen."<br />
Heinrich Heine: Wenn wir es recht überdenken, so stecken wir doch alle nackt in<br />
unseren Kleidern.<br />
Ernst R. Hauschka:Versuchungen sind wie eine Stechmückenplage: Während wir eine<br />
erschlagen, sind tausend andere da.<br />
Konrad Paul Liessmann: "Das Schlimme am Glück ist, dass jede Definition des Glückes<br />
zum Unglück führt."<br />
Kafka über Literatur:<br />
Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen (=mossegar)<br />
und stechen.(puntxar) Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag<br />
(=cop de puny) auf den Schädel (=Kopf) weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit<br />
es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch,<br />
wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten<br />
wir zur Not (=al pitjor dels casos) selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die<br />
auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir<br />
lieber hatten als uns, wenn wir in Wälder verstoßen (=exiliat) würden, von allen<br />
Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt (=destral) sein für das<br />
gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.<br />
Franz Kafka (Briefe 1900 – 1912)<br />
30
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Gabriele Wohmann: Grün ist schöner (1960)<br />
Ich bin ein grüner Mensch. Grün mit grünblauen Placken. (=taques) Grüne Haut.(=pell) Die Lippen<br />
von einem so schwärzlichen Grün, daß die Leute sich fürchten. Das wird überhaupt schlimm, wenn<br />
ich mal unter Leute komme. In der Schule und dann als Erwachsener. Ich muß soviel wie möglich<br />
verdecken.(=cubrir,amagar) Doktor Stempel hat auch immer Handschuhe an. Er hat Ekzem. Bei<br />
mir werden die Leute auch neugierig darauf sein, was ich unter den Handschuhen habe. Sie werden<br />
denken, ich hätte Ekzem. Ich muß auch einen Namen dafür finden.<br />
Das Kind drehte sich vor dem langen Badezimmerspiegel, betrachtete seinen nackten Körper, hob<br />
die stengeldünnen Ärmchen – alles grün, unten, oben; innen auch? Es trat an den Spiegel, streckte<br />
die Zunge (=llengua) heraus: finstere bläuliche Lippen. Also auch innen grün. Es wischte den Tau<br />
(=rosada) seines Atems vom Glas, es lächelte sich zu: die blassen (=pàl.lid) Zähne gefielen ihm.<br />
Häßlich bin ich nicht. Nur unheimlich. (=sinistre) Grüne Haut ist eigentlich schöner als braune oder<br />
rosige.<br />
Bist du schon im Wasser? rief die Stimme der Mutter die Treppe herauf und durch den<br />
Gangschlauch zu ihm ins Badezimmer. Bist du schon ein Frosch (=rana) im Wasser? Grüner<br />
Frosch im Wasser.<br />
Ja! Schrie es<br />
Es platschte (=machen, indem man ins Wasser schlägt) sich schnell die knisternden Schaumwolken,<br />
(=escuma) glitschte an der Wannenschräge (=bany) hinunter und schwitzte und schnaubte.(=laut<br />
atmen)<br />
Aber das grüne Gesicht wird jeder sehn. Grün mit grünblauen Sprenkeln (=taques petites) und einer<br />
fast schwarzen Zunge hinter fast schwarzen Lippen. Ich trag das grüne Haar tief in der<br />
Stirn,(=front) später kriege ich auch einen Bart, der wird auch grün. Ich habe einen grünen Hals, ich<br />
winde immer einen Schal drumherum, der verdeckt auch den Nacken. Die Leute können denken,<br />
ich wär bloß im Gesicht grün. Alles andere ist normal. Ich sag: an den Händen hab ich Ekzem,<br />
deshalb die Handschuhe. Sonst zeigt man ja nichts. Ich werde immer lange Hosen tragen.<br />
Ist´s schön im Wasser, du Frosch? rief die Mutter<br />
Ja! schrie es.<br />
Alle werden denken: wie ein Frosch sieht er aus. Aber ich kann natürlich nicht mit Mädchen und so,<br />
wie Dickie das macht, baden gehen. Ich bin ganz zurückhaltend,(=reserviert) alle wollen mit mir<br />
baden gehen, alle Mädchen, immer werde ich gequält (=maltratat)von allen Mädchen, baden zu<br />
gehen, aber ich bin ganz vornehm und ganz grün. Ich geh in der heißesten Sonne mit meinem Schal<br />
spazieren und mit den Handschuhen.<br />
-Fröschlein, rief die Mutter, gleich komm ich und seh nach, ob du sauber bist.<br />
Das Grüne wird mich natürlich von den anderen absondern. (=trennen) Ich werde wie Onkel<br />
Walter: ein einsamer (=solitari) alter Mann. Nur schon, bevor ich alt bin.<br />
Von der Badewanne konnte es in den Spiegel sehn. Es hob einen Arm aus dem Wasser:<br />
Schaumbläschen flüsterten; das nasse Grün glänzte,(=brillar) es sah schärfer und krasser aus als das<br />
trockene.<br />
Schade, daß niemand je meine strahlende nasse Grünhaut sehen wird. Ich werde ein einsamer<br />
grüner Mann. Wie eine Schlange. Ein Schlangenmann.<br />
Fröschlein, rief die Mutter, gleich hol ich dich raus!<br />
Ja, rief es.<br />
Jetzt hab ich noch die Mutter, die weiß es. Später weiß es keiner mehr.<br />
Es hörte die flinken (=schnellen) Schritte auf der Treppe, im Gang. Die Tür klaffte; (=offen stehen)<br />
es hielt die Hände vor die Augen, denn dazu hatte es gar keine Lust! Ein Strom frischer Luft zog<br />
herein, und die Mutter knipste die Höhensonne aus und schaltete das gelbe weiche Deckenlicht an<br />
und sagte:<br />
-So, nun komm, mein blasser sauberer Froschmann.<br />
http://www.youtube.com/watch?NR=1&v=ozsk73p9Tbs Das kleine Ichbinich<br />
33
Peter Fox: Schwarz zu Blau<br />
Komm aus'm Club, war schön gewesen<br />
Stinke nach Suff, (=Alkohol) bin kaputt, s‘ist 'n schönes Leben<br />
Steig' über Schnapsleichen, (=Betrunkene) die auf meinem Weg verwesen<br />
Ich seh die Ratten sich satt fressen im Schatten der Dönerläden<br />
Stapf' durch die Kotze (=vomit)am Kotti, Junks (=junkies) sind benebelt<br />
Atzen (=Kinder) rotzen in die Gegend, benehmen sich daneben (=sich schlecht benehmen)<br />
Szeneschnösel (=arrogante pijos) auf verzweifelter Suche nach der Szene<br />
Gepiercte Mädels die wollen, dass ich Strassenfeger (=Zeitung der Obdachlosen)lese<br />
Halb Sechs, meine Augen brennen<br />
Tret' auf 'nen Typen, der zwischen toten Tauben (=coloms) pennt (=schlafen)<br />
Hysterische Bräute (=novias, hier: Frauen) keifen (=laut schimpfen) und haben Panik denn<br />
an der Ecke gibt es Stress zwischen Tarek und Sam<br />
Tarek sagt: „Halt's Maul (=Mund) oder ich werd' dir ins Gesicht schlagen“<br />
Sam hat die Hosen voll, aber kann auch nicht nichts sagen<br />
Die rote Suppe tropft auf den Asphalt, mir wird schlecht<br />
Ich mach' die Jacke zu, denn es ist kalt<br />
Guten Morgen Berlin<br />
du kannst so häßlich sein<br />
so dreckig(=schmutzig) und grau<br />
Du kannst so schön schrecklich sein<br />
deine Nächte fressen mich auf<br />
es wird für mich wohl das Beste sein<br />
ich geh nach Hause und schlaf mich aus<br />
Und während ich durch die Straßen laufe<br />
Wird's langsam... Schwarz zu Blau<br />
Müde Gestalten im Neonlicht<br />
mit tiefen Falten im Gesicht (=arrugas)<br />
Frühschicht schweigt, jeder bleibt für sich (=torn de matí)<br />
Frust kommt auf, denn der Bus kommt nicht<br />
Und überall liegt Scheiße, man muss eigentlich schweben (=flotar)<br />
Jeder hat 'nen Hund, aber keinen zum Reden<br />
Ich atme ständig (=immer) durch den Mund, das ist Teil meines Lebens<br />
Ich fühl mich ungesund, brauch was reines dagegen<br />
Ich hab 'nen dicken Kopf, ich muss 'nen Saft haben<br />
Ich hab dringlichen Bock auf (=Lust auf) Bagdads Backwaren<br />
Da ist es warm, da geb ich mich meinen Träumen hin<br />
Bei Fatima, der süßen Backwarenverkäuferin<br />
R&B Balladen pumpen aus 'nem parkenden Benz<br />
Feierabend für die Straßengangs<br />
Ein Hooligan liegt 'ner Frau in den Armen und flennt (=weinen)<br />
Diese Stadt ist eben doch gar nicht so hart, wie du denkst<br />
Guten Morgen Berlin<br />
34
Ich bin kaputt<br />
Und reib mir aus meinen Augen deinen Staub (=pols)<br />
Du bist nicht schön<br />
Und das weißt du auch<br />
Dein Panorama versaut (=kaputt gemacht)<br />
Siehst nicht mal schön von weitem aus<br />
Doch die Sonne geht gerade auf<br />
Und ich weiß, ob ich will oder nicht,<br />
dass ich dich zum Atmen brauch (brauch, brauch, brauch...)<br />
MIA: Es ist was es ist<br />
Ich dreh den kopf und bin noch müde<br />
ich hatte eine kurze nacht<br />
lass meine augen zu und frag mich<br />
was hat mich um den schlaf gebracht<br />
ich fühl dich bei mir und genieβe<br />
(=gaudir)<br />
deine hand in meiner hand<br />
was ich jetzt weiß und noch nicht wusste<br />
bin nicht mehr fremd in meinem land<br />
ein schluck vom schwarzen kaffee macht<br />
mich wach<br />
dein roter mund berührt mich sacht (=soft)<br />
in diesem augenblick es klickt<br />
geht die gelbe sonne auf<br />
es ist was es ist sagt die liebe<br />
was es ist fragt der verstand<br />
wohin es geht, das woll'n wir wissen<br />
hmhmhmhmhmhmhmhmhmmmmm...<br />
es ist was es ist sagt die liebe<br />
was es ist fragt der verstand<br />
ich freu mich auf mein leben<br />
mache frische spuren (=huellas) in den<br />
weißen strand<br />
luise schreibt mir aus amerika<br />
man schätze (=valorar) dort ihre direkte<br />
art<br />
und auf ibiza tanzt mathias im pacha<br />
das ist unsere gegenwart<br />
ich fühle wie sich alles wandelt (=verändert)<br />
und wie ich selber ändern kann<br />
was mich beengt in meinem leben<br />
(=restringir)<br />
denn mit ändern fängt geschichte an<br />
fragt man mich jetzt woher ich komme<br />
tu ich mir nicht mehr selber leid<br />
ich riskier was für die liebe<br />
ich fühle mich bereit<br />
und die schwarze nacht hüllte uns ein<br />
mein roter mund will bei dir sein<br />
in diesem augenblick es klickt<br />
leuchtet uns ein heller tag<br />
es ist was es ist sagt die liebe<br />
was es ist fragt der verstand<br />
wohin es geht das woll'n wir wissen<br />
und betreten neues deutsches land<br />
es ist was es ist sagt die liebe<br />
was es ist fragt der verstand<br />
ich freu mich auf mein leben<br />
mache frische spuren in den weißen strand<br />
35
Z i n'Lnei'-],'V,,r lr r. lrng ir cl.er' .lioch ha ussiedlLtr g a nr S f.rd[r'au.]<br />
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Del V;iet hai seil"r Leccn .iar.ach einqerichfei r-rncl verdierrt l'.icl-rf<br />
sclrl,rclu cl.rbei.<br />
IrC!us, *.'^<br />
.!r irociri-rrus mcirliei'f seine Frau lrene c-las Wohr.rzimtner. Auch<br />
sie ninrm i Tea klr olz. ilrrc Ct uc\sarnitrir' ubertilff die Cer Sch.radeger'ioclrler<br />
bci '..a,,eii.elr. UrC Heinz Kelier ha! ein hltrnanistisches<br />
Gyir.nasi',rtr<br />
7 ZLL ,A,nc1ere haben ein Bein verloren.<br />
Das rnacl"rt die Kellers zufrieden.<br />
Die Hochhar-rssiedlttng kant'r ar-r den Fensterreiher-r abgezzihlt<br />
werden.<br />
An derr Narnensschild err-r.<br />
Sechs Wohnungerl auf einer Etage.<br />
Vielzehn Etagen.<br />
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,A.n den langgestreckten Balkons.<br />
Irene verblingt die Zeit, die nicht rnehr rnit Kindem ausgefr-rllt ist,<br />
rnil Prtnrrerr<br />
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Der Sohn rrirg;f dcn Eirkel. Er komnrf aus eitiern guten Slgll LrnC Vierurrdachtzig Mietparteien in einern Haus.<br />
irhrf den N;-.i:'.r'r'r I(elie:' r^;eitc:.<br />
h5;r]1rr''f !. r, , |,<br />
-.19 Lcsc-t*ccli: s::l'.': ilrc:li Jr-15.<br />
3"j,,..1-riE} jai'rre wohnen l{ejnz Keller r-u-rcl seine Frar-t nltn irn<br />
]-lc--cl',ha irs an r 5 i-.rcl ir-a n i1.<br />
Enenenemu'.<br />
Zel-rn Hochhausblocke liegen urn einen kunstlichen See. Das Baden<br />
irn See ist verboten.<br />
Achthr,rr-idertu r-rclvierzig MietparLeien.<br />
De:' Soh rL ir,,! r 1] 1-19111111'rclzwanzig.<br />
Irene hat vor drei8ig Jahlen die N;ichte, in denen Nachbarn ab-<br />
Drc Tocl-r':cr z w.. nziq.<br />
jrcrre :,.rg1., ste [at z',t h'u| ge\eilatef.<br />
fransportiert wurden, un-bgggli
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Daniel Glattauer:<br />
"Es ist sich nicht ausgegangen"<br />
Heimische Mentalität, die auch Börsencrashes und andere Weltuntergänge schadlos<br />
übersteht. (=überlebt) (aus: Der Standard, 2008)<br />
"Es ist sich nicht ausgegangen." - Österreichischer geht‘s nicht mehr. Jedes Wort stützt und<br />
schützt das Sprachkulturerbe der heimischen Mentalität, die auch Börsencrashes und andere<br />
Weltuntergänge schadlos übersteht.<br />
1.) ES. Weder er noch sie, schon gar nicht man selbst. "Es" ist eine übergeordnete Instanz, ein<br />
Abgesandter (=ambaixador) des hiesigen (=von hier) Schicksals (=destí).<br />
2.) ES IST. Da klingt bereits die von außen gelenkte höhere Gewalt (força superior) an. Der<br />
Deutsche hätte die Verantwortung übernommen und selbstzerfleischend(=autodestructiu)<br />
"Ich habe" gesagt.<br />
3.) ES IST SICH. Wenn sich etwas außerhalb unseres Einflussbereiches auch noch auf sich<br />
selbst bezieht, dann ist der Kreis geschlossen - und wir haben damit also wirklich absolut nichts<br />
zu tun.<br />
4.) ES IST SICH NICHT. "Nicht" war zu erwarten.<br />
5.) AUSGEGANGEN. Wenn der Deutsche geht, dann läuft er, wenn er läuft, dann rennt er, und<br />
wenn er rennt, dann joggt er. Wenn dem Deutschen die Zeit davonläuft, ist er - selber schuld und<br />
sehr zerknirscht.(=contrit) Wenn der Österreicher die Zeit ziehen lässt,(=deixar passar) dann<br />
mit reinem Gewissen,(=bona conciència) gesundem Magen und aus gutem Grund. Dann ist es<br />
sich halt nicht ausgegangen.<br />
Alois Brandstetter:<br />
Wien für Linzer Begriffe (1971)<br />
Wien ist ein bisserl zu groβ für Österreich. Das heutige Österreich ist ein bisserl zu klein für<br />
seine Hauptstadt. Wien liegt ein bisserl am Rande.(marge) Es wäre wirtschaftlich gesehen ein<br />
bisserl günstiger, wenn Österreich im Osten noch ein bisserl weiterginge. Österreich bricht aber<br />
hinter Wien ein bisserl jäh ab.(s’acaba bruscament) Immer sind die übrigen Österreicher ein<br />
bisserl schlecht auf die Wiener zu sprechen. Die Wiener wiederum verachten (menysprear) die<br />
übrigen Österreicher ein bisserl. Sie sagen, sie sind ein bisserl gschert.(=comú,ximple) Dabei<br />
würde Wien ohne den Zuzug aus den Bundesländern ein bisserl aussterben. Die Bevölkerung ist<br />
auch so schon ein bisserl zurückgegangen. Wer aus der Provinz das erste Mal nach Wien kommt,<br />
ist schon ein bisserl erstaunt.(=überrascht) Die Häuser sind ein bisserl gar (=sehr) hoch für<br />
Linzer Begriffe. In Linz ist alles ein bisserl kleiner, auch der Verkehr ist ein bisserl schwächer in<br />
Linz. Die Donau ist bei Wien ein bisserl breiter. Dafür ist sie aber in Linz noch ein bisserl<br />
sauberer. Blau ist die Donau bei Wien kein bisserl. Die Wiener sind ein bisserl faul. Oft sitzen<br />
sie in Heurigenlokalen ein bisserl herum und singen und tanzen ein bisserl. Im Parlament wird<br />
ein bisserl über den Fortschritt debattiert. Die Vorarlberger hätten gern ein bisserl mehr<br />
Föderalismus. Da raunzen (=queixar-se) die Wiener Abgeordneten ein bisserl.<br />
40
Erklär mir Liebe<br />
Ingeborg Bachmann<br />
Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind,<br />
dein unbedeckter Kopf hat's Wolken angetan,<br />
dein Herz hat anderswo zu tun,<br />
dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,<br />
das Zittergras im Land nimmt überhand,<br />
Sternblumen bläst der Sommer an und aus,<br />
von Flocken blind erhebst du dein Gesicht,<br />
du lachst und weinst und gehst an dir zugrund,<br />
was soll dir noch geschehen -<br />
Erklär mir, Liebe!<br />
Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad,<br />
die Taube stellt den Federkragen hoch,<br />
vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft,<br />
der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt<br />
das ganze Land, auch im gesetzten Park<br />
hat jedes Beet ein goldner Staub umsäumt.<br />
Der Fisch errötet, überholt den Schwarm<br />
und stürzt durch Grotten ins Korallenbett.<br />
Zur Silbersandmusik tanzt scheu der Skorpion.<br />
Der Käfer riecht die Herrlichste von weit;<br />
hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch,<br />
daß Flügel unter ihrem Panzer schimmern,<br />
und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch!<br />
Erklär mir, Liebe!<br />
Wasser weiß zu reden,<br />
die Welle nimmt die Welle an der Hand,<br />
im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt.<br />
So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus!<br />
Ein Stein weiß einen andern zu erweichen!<br />
Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann:<br />
sollt ich die kurze schauerliche Zeit<br />
nur mit Gedanken Umgang haben und allein<br />
nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun?<br />
Muß einer denken? Wird er nicht vermißt?<br />
Du sagst: es zählt ein andrer Geist auf ihn ...<br />
Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander<br />
durch jedes Feuer gehen.<br />
Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.<br />
REKLAME<br />
Wohin aber gehen wir<br />
ohne Sorge sei ohne sorge<br />
wenn es dunkel und wenn es kalt wird<br />
sei ohne sorge<br />
aber<br />
mit musik<br />
was sollen wir tun<br />
heiter und mit musik<br />
und denken<br />
heiter<br />
angesichts eines Endes<br />
mit musik<br />
und wohin tragen wir<br />
am besten<br />
unsre Fragen und den Schauer aller Jahre<br />
in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge<br />
was aber geschieht<br />
am besten<br />
wenn Todesstille<br />
eintritt<br />
41
Bert Brecht: An die Nachgeborenen (1939)<br />
I<br />
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!<br />
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn (=de buena fe – front)<br />
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende (=indicar)<br />
Hat die furchtbare Nachricht<br />
Nur noch nicht empfangen.<br />
Was sind das für Zeiten, wo<br />
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist (=crim)<br />
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! (=incloure)<br />
Der dort ruhig über die Straße geht<br />
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde (=accessible)<br />
Die in Not sind? (=apuros)<br />
Es ist wahr: Ich verdiene nur noch meinen Unterhalt (=Geld)<br />
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts (=casualitat)<br />
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen.<br />
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.) (=perdonado)<br />
Man sagt mir: Iss und trink du! Sei froh, dass du hast!<br />
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn<br />
Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und (=gewaltsam wegnehmen)<br />
Mein Glas Wasser einem Verdursteten fehlt?<br />
Und doch esse und trinke ich.<br />
Ich wäre gerne auch weise. (=savi)<br />
In den alten Büchern steht, was weise ist:<br />
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit<br />
Ohne Furcht verbringen<br />
Auch ohne Gewalt auskommen<br />
Böses mit Gutem vergelten (=devolver)<br />
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen<br />
Gilt für weise.<br />
Alles das kann ich nicht:<br />
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!<br />
II<br />
In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung<br />
Als da Hunger herrschte.<br />
Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs (=revolta)<br />
42
Und ich empörte mich mit ihnen. (=indignar-se)<br />
So verging meine Zeit<br />
Die auf Erden mir gegeben war.<br />
Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten (=massacres)<br />
Schlafen legte ich mich unter die Mörder<br />
Der Liebe pflegte ich achtlos (=descuidat)<br />
Und die Natur sah ich ohne Geduld.<br />
So verging meine Zeit<br />
Die auf Erden mir gegeben war.<br />
Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit. (=pantà)<br />
Die Sprache verriet mich dem Schlächter. (=carnisser)<br />
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden (=können)<br />
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.<br />
So verging meine Zeit<br />
Die auf Erden mir gegeben war.<br />
Die Kräfte waren gering. Das Ziel (=wenig,klein)<br />
Lag in großer Ferne<br />
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich<br />
Kaum zu erreichen. (=fast nicht)<br />
So verging meine Zeit<br />
Die auf Erden mir gegeben war.<br />
III<br />
Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut (=emerger), (=inundació)<br />
In der wir untergegangen sind<br />
Gedenkt (=recordar)<br />
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht<br />
Auch der finsteren Zeit<br />
Der ihr entronnen seid. (=escapar)<br />
Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd<br />
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt<br />
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.<br />
Dabei wissen wir doch:<br />
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit (=baixesa)<br />
Verzerrt die Züge. (=distorsiona les faccions de la cara)<br />
Auch der Zorn über das Unrecht (=Wut)<br />
Macht die Stimme heiser. Ach, wir (=ronc)<br />
43
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit (=preparar)<br />
Konnten selber nicht freundlich sein.<br />
Ihr aber, wenn es soweit sein wird<br />
Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist<br />
Gedenkt unsrer<br />
Mit Nachsicht. (=indulgència)<br />
Paul Celan<br />
Was sind das für Zeiten,<br />
wo ein Gespräch<br />
beinah ein Verbrechen ist,<br />
weil es soviel Gesagtes<br />
mit einschlieβt?<br />
<strong>Hans</strong> Magnus Enzensberger<br />
Zwei Fehler<br />
Ich gebe zu,(=admetre) seinerzeit<br />
habe ich mit Spatzen auf<br />
Kanonen geschossen.*<br />
Dass das keine Volltreffer gab,<br />
sehe ich ein.<br />
Dagegen habe ich nie behauptet,<br />
nun gelte es zu schweigen.<br />
Erich Fried<br />
Gespräch über Bäume<br />
Seit der Gärtner die Zweige (=branques) gestutzt<br />
(=kürzer machen) hat<br />
sind meine Äpfel gröβer<br />
Aber die Blätter des Birnbaums<br />
sind krank. Sie rollen sich ein<br />
In Vietnam sind die Bäume entlaubt (=defoliat)<br />
(....)<br />
Schlafen, Luftholen, Dichten:<br />
das ist fast kein Verbrechen.<br />
Ganz zu schweigen<br />
von dem berühmten Gespräch über Bäume.<br />
Kanonen auf Spatzen, das hieβe doch<br />
in den umgekehrten Fehler verfallen.<br />
*mit Kanonen auf Spatzen schieβen: die<br />
Verhältnismäβigkeit (=proporcionalitat)<br />
stimmt nicht.<br />
44