Stumme Zeugen: - Weißes Kreuz
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Andacht zu 2. Samuel 13<br />
Die bitteren Früchte<br />
zwanghafter Begierde<br />
Es ist ein Thema, vor dem viele gern die Augen verschließen.<br />
Man spricht nicht gern darüber, man hört nur immer wieder<br />
davon: Sexueller Missbrauch.<br />
Wenn man die abstoßenden Berichte in den Medien liest, ist<br />
man leicht versucht, sich die gute alte Zeit zurückzuwünschen.<br />
Ein Irrtum, denn das Thema ist so alt, wie es schrecklich ist.<br />
Das Alte Testament kennt nicht ohne Grund eine Vielzahl von<br />
Gesetzen, die verführte Mädchen und Vergewaltigte schützen.<br />
In Sodom und Gomorra kam es zu Ausschweifungen jeder Art,<br />
so dass ein Lot, um seine Gäste zu verschonen, seine Töchter<br />
(Jungfrauen!) fremden Männern anbieten zu müssen meint.<br />
Der Stamm Benjamin wird in Richter 19 als Folge von Vergewaltigung<br />
beinahe vollständig ausgerottet. Die Bibel ist kein<br />
beschönigendes Märchenbuch. Sie berichtet von wahren Gegebenheiten<br />
und nimmt kein Blatt vor den Mund.<br />
Auch in 2. Samuel 13 begegnet uns eine tragische Geschichte<br />
zum Thema Missbrauch. Dort lesen wir von Tamar, einer<br />
Tochter Davids, die von ihrem Halbbruder Amnon missbraucht<br />
wird und entdecken in ihrer Geschichte viel Allgemeingültiges,<br />
das sexuellen Missbrauch kennzeichnet:<br />
Schon lange hat Amnon Interesse an seiner schönen<br />
Schwester, bezeichnet sich gar als „krank vor Liebe“. Unerfüllte<br />
Begierde schaukelt sich auf. Amnon hat seine Augen<br />
und seinen Verstand nicht unter Kontrolle. Perfide plant er<br />
mit seinem Freund, wie er seine Begierde ausleben kann. Der<br />
weitere Verlauf macht bereits deutlich, dass es sich um keine<br />
echte Liebesgeschichte handelt, sondern eine leidenschaftliche<br />
sexuelle Begierde von Amnon Besitz ergriffen hat, die er<br />
ohne Rücksicht auf Verluste hegt und pflegt. Schließlich ist<br />
es nur noch ein kleiner Schritt, der zur Auslebung der Phantasie<br />
fehlt.<br />
Alles beginnt mit einer Lüge. Amnon stellt sich krank und<br />
bittet seinen Vater David, Tamar zur Krankenpflege zu ihm zu<br />
senden. Das Wohlwollen und die Gutmütigkeit anderer, ihr<br />
Mitgefühl, werden hemmungslos ausgenutzt und für die eigenen<br />
Zwecke vor den Wagen gespannt. Anfangs wirkt alles<br />
noch harmlos und ungefährlich.<br />
Nun zieht Amnon die Schlinge langsam zu: Alle sollen hinausgehen,<br />
nur Tamar soll bleiben. Der Täter inszeniert die<br />
Bühne für den Übergriff und bleibt mit dem Opfer allein<br />
zurück. Er ist für alle Einwände des Opfers taub. So kurz<br />
vor dem vermeintlichen Ziel ist er kaum noch er selbst und<br />
Marionette der Phantasien, denen er sich willentlich hingegeben<br />
hatte. Die Entscheidung ist schon vorher gefallen und nun<br />
zählt nur noch die eigene Triebbefriedigung.<br />
Das Ergebnis: Auf die brutale Tat folgt die Ernüchterung.<br />
Bewunderung schlägt um in blanken Hass. Faszination<br />
wird Ekel vor sich selbst und vor der vermeintlich geliebten<br />
Schwester, die wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen wird.<br />
Hier wird zum zweiten Mal klar, dass von echter Liebe ganz<br />
sicher nicht die Rede gewesen ist.<br />
Oft geschieht gerade dies in Teenagerbeziehungen. Die Hormone<br />
spielen verrückt. Ist es Liebe? Mann verspürt ein großes,<br />
inneres Drängen. Es folgt das große Missverständnis: „Ich<br />
dachte, er liebt mich. Wir gehörten doch zusammen!“ Der Begriff<br />
„Liebe“ wird unterschiedlich gedeutet, man geht weiter<br />
als geplant, es folgt die Ernüchterung – und das war’s. Die Trophäe<br />
ist erobert. Der Reiz ist weg, auf zu neuen Zielen!<br />
Tamar hingegen bleibt entehrt, vergewaltigt zurück. Sie ist<br />
keine Jungfrau mehr, das ist zukünftig auch äußerlich an ihrer<br />
Kleidung zu sehen. Ihr Leben ist dauerhaft zerstört, keine<br />
Hoffnung mehr auf eine ehrenwerte Hochzeit. Wertlos,<br />
verachtet, weggeworfen läuft sie schreiend davon. Sie<br />
wusste noch von keinem Mann. Ihre Unerfahrenheit wurde<br />
schamlos ausgenutzt, keine Aufklärung, die ihr zuvor Einsichten<br />
vermittelt hätte.<br />
Doch damit nicht genug. Sie steht allein da, niemand<br />
schützt sie umfassend. Auch ihr Bruder Abshalom rät ihr zunächst,<br />
sie möge die Sache nicht so ernst nehmen. Ja, selbst<br />
König David greift nicht ein. Er ist zwar zornig, aber das allein<br />
ist nicht genug. Das Unrecht, das an ihr geschah, wird<br />
von ihm nicht gesühnt. Er schützt den Täter, seinen Sohn.<br />
Eine weitere Demütigung für Tamar. Was mit ihr geschah,<br />
scheint egal zu sein.<br />
Erst ihr Bruder Abshalom nimmt Rache, drei Jahre später,<br />
und muss daraufhin fliehen. Das macht alles noch komplizierter<br />
und dreht dennoch das Rad der Geschichte nicht zurück. Tamars<br />
Leben im damaligen Kulturkreis ist zerstört. Eine Biografie,<br />
die so hoffnungsvoll begann, ein Leben als Königstocher,<br />
endet in Zurückgezogenheit und Einsamkeit.<br />
Es wäre so wünschenswert, wenn es uns gelänge, aus dieser<br />
bitteren Erzählung zu lernen: Begierden von echter Liebe zu<br />
unterscheiden, das Gegenüber zu achten, statt es besitzen zu<br />
wollen, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen,<br />
Handlungsketten zu unterbrechen, rechtzeitig hinzusehen, junge<br />
Menschen gut aufzuklären, Opfern hilfreich zur Seite zu<br />
stehen und Täter nicht ungestraft davonkommen zu lassen.<br />
Dr. Ute Buth<br />
Diese Andacht hielt der Psychotherapeut und Eheberater<br />
Reinhold Ruthe sinngemäß am 12.5.2007 in Weltersbach.<br />
Sie wurde von der Frauenärztin Dr. Ute Buth<br />
verschriftlicht und mit eigenen Gedanken ergänzt.<br />
Neben ihrer beratenden Tätigkeit beim Weißen <strong>Kreuz</strong><br />
unterrichtet sie im Rahmen von Sexualkundeprojekten, erstellt Aufklärungsmaterial<br />
und hält Vorträge zur Sexualerziehung.<br />
Weisses<strong>Kreuz</strong> Zeitschrift für Lebensfragen 5