Projekt: Interkulturelle Öffnung einer Suchtberatung
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<strong>Suchtberatung</strong> mit Migranten im Zentrum für ambulante Suchtkrankenhilfe<br />
des Caritasverbandes Koblenz e.V. - Außenstelle Andernach<br />
am Beispiel Drogen konsumierender Spätaussiedler<br />
1. Einleitung<br />
Zu Beginn unserer Beratungstätigkeit in Andernach wurden wir mit <strong>einer</strong> steigenden Zahl<br />
Drogen konsumierender Migranten * aus der ehemaligen Sowjetunion konfrontiert. Durch<br />
Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Suchthilfesystem und Hinweisen aus der<br />
Presse stellten wir bald fest, dass es sich hierbei um kein spezifisches Phänomen für unser<br />
Einzugsgebiet handelte.<br />
Es stellte sich die Frage: Wie finden Menschen mit Migrationshintergrund, hier insbesondere<br />
Spätaussiedler mit Drogenabusus, Zugang zu dem Angebot der <strong>Suchtberatung</strong>? Ein Angebot,<br />
das mit s<strong>einer</strong> Kommstruktur und seinen Prinzipien selbst für Klienten ohne Migrationshintergrund<br />
als hochschwellig gilt und oft erst auf äußeren Druck durch Eltern, Gerichte oder<br />
Arbeitgeber aufgesucht wird.<br />
2. Informationsaustausch und Auseinandersetzung mit dem Thema<br />
Anfangs fanden eine Vielzahl von Gesprächen mit der Kollegin und dem Kollegen aus dem<br />
Migrationsdienst in Andernach statt. Sie hatten bereits seit einiger Zeit mit Jugendlichen und<br />
Familien vor Ort gearbeitet und berichteten uns von ihren Erfahrungen. Von Vorteil erwies<br />
sich die Tatsache, dass unser Kollege selbst Spätaussiedler war und somit von eigenen<br />
Erfahrungen der Übersiedlung berichten konnte und die russische Sprache beherrschte.<br />
Darüber hinaus nahmen die Mitarbeiter des DiCV Trier aus den Referaten Sucht und<br />
Migration an einigen Gesprächen teil. Sie ergänzten die Information und gaben Anregungen<br />
zu möglichen neuen Angeboten. Einen weiteren Informationspool stellte der Arbeitskreis<br />
Migration und Sucht der Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege im Land<br />
Rheinland-Pfalz dar. Der Arbeitskreis ist mit Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeit mit<br />
Migranten und mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aus den Suchthilfeeinrichtungen<br />
besetzt. Es wurden Erfahrungen aus der direkten Arbeit mit den Klienten ausgetauscht und<br />
auf entsprechende Fachliteratur und Broschüren hingewiesen. Die Unterschiede der<br />
Vorgehensweisen aus den beiden Arbeitsfeldern waren oft groß. Immer wieder wurde über<br />
Fragen diskutiert wie:<br />
- Reichen die Deutschkenntnisse der Klienten aus um Beratungsgespräche führen zu<br />
können?<br />
- Brauchen die Klienten niederschwellige Angebote?<br />
- Wie kann/muss die Zusammenarbeit zwischen <strong>Suchtberatung</strong> und<br />
Migrationsdienst gestaltet werden?<br />
3. Die Beratungsstelle<br />
3.1 Prinzipien der Beratungsstelle<br />
- Die Inanspruchnahme der Beratung erfolgt auf der Basis von Freiwilligkeit und<br />
Anonymität.<br />
* Im Folgenden wird aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung nur die männliche Form verwendet. Dies gilt<br />
auch für die Begriffe Klient, Konsument und Spätaussiedler.
- Den Klienten wird Vertraulichkeit und Schweigepflicht garantiert, auch gegenüber<br />
den Eltern.<br />
- Einbeziehung der Angehörigen – soweit wie möglich.<br />
- Angestrebt wird die Entwicklung von Eigenmotivation (von der Absichtslosigkeit<br />
hin zu Veränderungen)<br />
- Selbstverantwortung stärken und Eigeninitiative fördern<br />
3.2 Ziele der Beratung<br />
- Wiederherstellung der Gesundheit und des Wohlbefindens, sowohl körperlich als<br />
auch psychisch<br />
- Soziale und berufliche Rehabilitation<br />
- Mobilisierung der Selbstheilungskräfte und Ressourcen; Aufbau und Unterstützung<br />
von Selbstwertgefühl und Eigenverantwortlichkeit<br />
3.3 Weitere Aufgaben der <strong>Suchtberatung</strong>sstelle<br />
- Prävention<br />
- Begleitung bei Substitution (PSBO)<br />
- Öffentlichkeitsarbeit<br />
- Telefon- und Einzelberatung<br />
- Vorbereitung und Vermittlung in stationäre Entwöhnungsbehandlung<br />
- Ambulante Nachsorge<br />
- Gruppenangebot für Alkohol- und Cannabiskonsumenten<br />
- Statistik<br />
3.4 Die Beratungsstelle aus Sicht der Konsumenten<br />
Aus Sicht o. g. Zielgruppe ist eine Beratungsstelle zunächst eine Institution wie viele andere,<br />
der man erst einmal skeptisch gegenüber steht. Die Beratungsstelle wird als verlängerter Arm<br />
z.B. der Justiz oder des Arbeitgebers betrachtet, vor allem dann, wenn diese Stellen die<br />
Auflage erteilen, eine <strong>Suchtberatung</strong> aufzusuchen. Das Angebot <strong>einer</strong> solchen Stelle ist den<br />
Betroffenen oft nicht bekannt. Der Hinweis auf die Schweigepflicht reicht nicht aus, um ein<br />
vertrauensvolles Verhältnis entstehen zu lassen. Oft wird die Einhaltung der Schweigepflicht<br />
durch die Beratungsstelle vom Klienten zunächst in Frage gestellt.<br />
4. Situation der Drogenkonsumenten<br />
Bei der Zielgruppe handelte es sich um meist junge Männer, die am Übergang zum<br />
Berufsleben standen, bis hin zu Männern mittleren Alters, die bereits in ihrer Heimat <strong>einer</strong><br />
Arbeit nachgegangen waren und teilweise dort ihren Militärdienst (der nicht selten mit<br />
Gewalterfahrungen verbunden war) abgeleistet hatten. Aber auch weibliche Konsumentinnen<br />
waren unter den Hilfesuchenden, jedoch weniger, als wir es aus der Arbeit mit einheimischen<br />
Drogenkonsumenten kennen. Oft wurden besonders die Jüngeren gegen ihren Willen mit nach<br />
Deutschland gebracht und mussten somit die gewohnte Umgebung, Angehörige und den<br />
Freundeskreis verlassen.<br />
In ihrer Heimat wurden sie als „Deutsche“ bzw. „Nazis“ stigmatisiert. Jetzt, in Deutschland,<br />
werden sie als „Russen“ beschimpft. („Wenn du unsere Sprache nicht verstehst, dann geh<br />
doch zurück.“). Die Klienten berichteten oft von Wäldern und Seen in ihrer Heimat (z.B.<br />
Kasachstan), in denen sie sich gerne aufhielten und sich frei fühlten. In Deutschland dagegen<br />
erlebten sie zunächst lediglich die Enge der Übergangswohnheime, was zu Spannungen und
Konflikten führte. Die jugendlichen Spätaussiedler fanden sich meist in Gruppen zusammen<br />
und versuchten diese Enge zu durchbrechen. Es waren verschworene Gemeinschaften, in<br />
denen sie sich akzeptiert fühlten und niemanden verraten durften. Auf Grund sprachlicher<br />
Probleme und fehlender beruflicher Qualifikationen wurden schulische und berufliche Werdegänge<br />
erschwert. Die Gemeinschaft in der Gruppe bekam auch dadurch eine noch größere<br />
Bedeutung, da sich die Jugendlichen in anderen Gemeinschaften, wie z.B. der Schulklasse,<br />
ausgegrenzt fühlten.<br />
4.1 Die Eltern der Betroffenen<br />
Zu Beginn der Beratung wurden die Klienten oft von ihren Müttern begleitet bzw. zur<br />
Beratungsstelle gebracht („Bitte machen sie mein Kind gesund.“). Die Väter hielten sich oft<br />
zurück, wenn es um die Suchtproblematik ihrer Söhne ging. Dies ist daran festzumachen, dass<br />
nur die Mütter an <strong>einer</strong> Elterngruppe teilnahmen. Nicht selten „kämpften“ somit die Mütter<br />
über ihre psychischen und körperlichen Grenzen hinaus für ihre Kinder. Die Söhne erlebten<br />
ihre Väter als wortkarge und strenge Männer, die man zu respektierten hatte. Die Erwartungen<br />
der Eltern an das Leben in Deutschland wurden oft nicht erfüllt, somit waren sie bereits mit<br />
dieser Situation belastet. Hinzu kam dann noch das Gefühl (Mit-)Schuld an der Suchtproblematik<br />
der Kinder zu haben.<br />
Insgesamt herrschte in den Familien eine große „Sprachlosigkeit“. Man sprach nicht über das<br />
Suchtproblem und schon gar nicht mit den Menschen außerhalb der Familie. Eine Lösung für<br />
das Problem sollte innerhalb der Familie gefunden werden. In ihrer Hilflosigkeit sperrten die<br />
Eltern ihre Kinder ein und kontrollierten sie auf Schritt und Tritt. Die Schuld an der Drogenabhängigkeit<br />
wurde häufig nicht dem Konsumenten sondern dem „Dealer“ gegeben.<br />
4.2 Das Konsummuster<br />
Auffällig an dem Konsummuster der Betroffenen war der schnelle Einstieg mit sog. „harten<br />
Drogen“ wie Heroin und Kokain und die Verwendung von Spritzen. Erste Erfahrungen mit<br />
Suchtmitteln wurden teilweise bereits vor der Aussiedlung mit Cannabis, Alkohol aber auch<br />
schon mit Opiaten gemacht. Alkohol wird dabei nicht als Suchtstoff betrachtet.<br />
4.3 Das Suchtverständnis<br />
Die Betroffenen fühlen sich krank, wenn sie in den körperlichen Entzug der Drogen kommen.<br />
Wenn sie dann Drogen konsumieren sprechen sie davon, sich wieder „gesund zu machen“.<br />
Eine psychische Abhängigkeit wird von den Konsumenten zunächst nicht erlebt bzw. wird<br />
negiert. Deshalb scheint eine körperliche Entgiftung für sie ausreichend.<br />
Aus unserer Sicht ist die Sucht multifaktoriell begründet, d.h., dass viele ungünstige Faktoren<br />
zusammen kommen (geringe soziale Kompetenzen, Arbeitslosigkeit, Kontakt zum<br />
Suchtstoff). Aus Sicht der Spätaussiedler entsteht die Sucht eher auf Grund <strong>einer</strong> Willensschwäche<br />
(Charakter- oder Willensmodell). Die Behandlung wird auf kurze stationäre<br />
Maßnahmen reduziert, eine über die Therapie andauernde Verhaltensänderung und Auseinandersetzung<br />
mit der Suchtproblematik findet selten statt. Ziel ist, schnell wieder im Alltag<br />
funktionieren zu können.<br />
4.4 Die Besonderheiten<br />
Die Mitarbeiter der Beratungsstelle sahen sich <strong>einer</strong> für sie unbekannten Mentalität<br />
gegenüber. Das Normen- und Wertesystem dieser Menschen stand im Gegensatz zu dem was<br />
sie in Deutschland erlebten. Die große Solidarität und das ausgeprägte Gruppenverhalten<br />
erschwerten die Arbeit mit den Klienten zusätzlich. Der Ehrenkodex der Gruppe verhinderte<br />
das Ausbrechen aus der Gemeinschaft. Die Position innerhalb der Gruppe steigerte den
Selbstwert der Gruppenmitglieder. Man achtete darauf, keine Schwächen (Gefühle) zu zeigen,<br />
um sein Gesicht vor der Gruppe nicht zu verlieren.<br />
4.5 Die Sprache<br />
Der Großteil der Klienten hatte die Schule in Deutschland besucht und verfügte daher über<br />
ausreichende Deutschkenntnisse, um Gespräche in der Beratungsstelle oder in weiteren<br />
therapeutischen Einrichtung führen zu können. Einige der Betroffenen fielen trotz Sprachkurs<br />
durch schlechte Sprachkenntnisse auf. Wieder anderen gelang es nur in Deutsch über<br />
Probleme und Gefühle zu sprechen. Neben der schulischen und beruflichen Perspektive<br />
spielte die Sprache auch eine große Bedeutung, wenn es um die Vermittlung in Einrichtungen<br />
der Suchthilfe ging. Die Zahl der Einrichtungen mit russisch sprechenden Therapeuten war<br />
gering und somit musste auch in andere Kliniken vermittelt werden.<br />
5. Wie hat sich die Arbeit in unserer Beratungsstelle verändert?<br />
5.1 Angebotserweiterungen<br />
- Herausgabe von Broschüren in russischer Sprache<br />
- Gemeinsame Beratung/Betreuung der Klienten mit dem Migrationsdienst<br />
(Dolmetscher)<br />
- Infoveranstaltungen und Prävention in Schulklassen mit Spätaussiedlern<br />
- Einrichtung <strong>einer</strong> Elterngruppe<br />
- Angebot an das Gericht: Kurs für straffällige jugendliche Spätaussiedler mit<br />
Drogenproblemen mit dem Ziel langfristige Kontakte zu den Klienten aufzubauen<br />
5.2 Im Gespräch<br />
Wichtig für die Arbeit mit Migranten ist das Erkennen von möglichen Zusammenhängen<br />
zwischen der Migrationserfahrung und der Suchtentwicklung. Was könnten suchtauslösende<br />
und was die Sucht aufrechterhaltende Bedingungen sein? Was sind die prädisponierenden<br />
Faktoren (z. B. Sozialisation)?<br />
Wie auch in der Arbeit mit anderen Klienten war und ist der Beziehungsaufbau durch<br />
Akzeptanz, positiver Wertschätzung und Orientierung an den Werten und Zielen der Klienten<br />
Grundlage der therapeutischen Arbeit. Die Mentalität der Klienten sowie deren eigene<br />
Lösungsversuche (z.B. Arbeit als Lösung des Problems) müssen in der Arbeit akzeptiert und<br />
berücksichtigt werden.<br />
Durch o. g. Informationen über die Situation der Konsumenten können wichtige Fragen<br />
formuliert werden, z.B.:<br />
a) Wie haben sie die Übersiedlung erlebt? (Übergangswohnheim, Schule, etc.)<br />
b) Wie ist die Situation in der Gleichaltrigengruppe<br />
c) Wie war das Leben in der Heimat?<br />
d) Was ist anders in Deutschland?<br />
e) Wie hat sich ihr Leben durch den Konsum verändert?<br />
f) usw.<br />
Bei den Fragen geht es darum, ein Problembewusstsein beim Klienten aufzubauen, um die<br />
Möglichkeit für Veränderung zu schaffen.
6. Die Suchtverläufe<br />
Bei der Zielgruppe können ähnliche Suchtverläufe beobachtet werden, wie bei anderen<br />
Drogenabhängigen:<br />
- zunächst wird nur die körperliche Abhängigkeit behandelt, Entgiftung (u.a. mit in<br />
Deutschland eher untypischen Maßnahmen wie Implantaten und Hypnosetechniken<br />
bzw. Kodierung)<br />
- es kommt zu Rückfällen<br />
- Heilungsversuch durch Arbeit, Partnerschaft, Glauben etc.<br />
- Klienten lernten Suchthilfesystem in Deutschland für sich zu nutzen (Suchthilfe als<br />
Teil der Sozialisation)<br />
- stationäre Therapien folgen, oft auch christliche Therapien<br />
- Substitution mit Ersatzstoffen (z.B. Methadon)<br />
Wie auch bei anderen Konsumenten illegaler Suchtmittel sind Gefängnisstrafen nicht selten.<br />
7. Zusammenfassung<br />
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es für uns zunächst wichtig war viele<br />
Informationen über das Leben der Spätaussiedler in Deutschland und ihrer Heimat zu<br />
bekommen. Der Austausch mit Fachkollegen und -kolleginnen über die Spezifika des<br />
Konsumverhaltens ergänzte die Informationen und es entstand das Bild <strong>einer</strong> neuen<br />
Zielgruppe in der <strong>Suchtberatung</strong>.<br />
Vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse wurden die aus unserer Sicht<br />
notwendigen Veränderungen und Angebotserweiterungen vorgenommen. Berücksichtigung<br />
fand dabei, dass die Klienten über das Angebot unserer Beratungsstelle auch in die Lage<br />
versetzt werden sollten, das vorhandenen Suchthilfesystem mit all seinen Möglichkeiten<br />
nutzen zu können. Letztlich gilt jedoch auch bei dieser Zielgruppe, dass jeder Fall für sich<br />
gesehen werden muss.<br />
Im Hinblick auf die „<strong>Interkulturelle</strong> <strong>Öffnung</strong> und Kompetenz der Beratung und Behandlung<br />
der Suchthilfe“ scheinen dabei folgende Punkte beachtenswert:<br />
- klare Entscheidung, Auftrag und Bereitschaft für die Arbeit mit Migranten<br />
- Gewinnung von Informationen über die Lebenswelten der Zielgruppe, z.B. durch<br />
die Einrichtung gemeinsamer Gremien aus den Bereichen Migration und Sucht<br />
- Entwicklung von Konzepten und Bekanntmachung des Angebotes<br />
- Interesse bzw. Neugier der beratenden Mitarbeiter an den Lebenswelten der<br />
Migranten<br />
- Einzelfallbesprechung/Supervision<br />
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!