diogenes 78 - sh.asus innsbruck
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d r e i m e t e r t u r m<br />
dreimeterturm<br />
Januar 2012.<br />
Er sieht mich an. „Ist was<br />
los?“ So vieles ist los! So vieles,<br />
das meinen Kopf füllt, so vieles,<br />
das ich fühle, das ich denke. So vieles,<br />
das mich zum Heulen bringt und so vieles,<br />
das mich nicht schlafen lässt.<br />
Ja, ich möchte ihm alles erzählen, möchte es<br />
der ganzen Welt erzählen. Will es rausschreien,<br />
alles rauslassen, mich befreien von den Kreisen,<br />
in denen meine Gedanken laufen.<br />
Warum mache ich es nicht einfach? Was hält<br />
mich zurück?<br />
Irgendwann im Sommer 2000. Ich stehe vor<br />
den Betontreppen, vor- und hinter mit weitere<br />
Kinder meiner Gruppe, lachend, angebend,<br />
voller Vorfreude. Wir frösteln alle ein bisschen,<br />
trotz brennender Sonne, in unseren nassen<br />
Badeanzügen und mit dem verdunstenden<br />
Wasser auf unserer Haut. Die Schlange wird<br />
permanent kürzer, ich nähere mich mehr und<br />
mehr dem Aufstieg. Diesmal will ich es schaffen.<br />
Es wäre mein erster Sprung vom Turm. Eigentlich<br />
ist es nicht schwer, und eigentlich habe ich keine<br />
Angst. Trotzdem ging es nie. Aber diesmal! Alle<br />
anderen sind schon einige Male gesprungen.<br />
Es ist der Höhepunkt am Ende jedes<br />
Kurstages, nachdem wir durch das große<br />
Becken gekrault, getaucht und<br />
gestürmt<br />
s i n d .<br />
Alle freuen<br />
sich darauf.<br />
Außer ich? Nein,<br />
diesmal freue<br />
ich mich auch. Ich<br />
mag Wasser, ich mag<br />
schwimmen. Ich werden<br />
den freien Fall mögen, den<br />
Aufklatsch vielleicht weniger,<br />
dafür aber das tiefe Abtauchen.<br />
Dann werden nur ich und das<br />
Wasser da sein, einige wertvolle<br />
Sekunden lang. Fast eine Ewigkeit.<br />
Es wird mich auffangen, gefangen<br />
nehmen, umarmen, festhalten,<br />
beschützen. Aber es wird mich nicht<br />
erdrücken: Bald wird es mich freigeben,<br />
ich werde aufsteigen, hervorgehen als neuer<br />
Menschen, zufrieden, glücklich.<br />
Ich bin an der kalten, grauen Treppe angelangt. Das<br />
Mädchen vor mir beginnt gerade, sie zu erklimmen.<br />
Ich kann ihre Beine sehen, die aus dem gelben<br />
Badeanzug mit den roten Blümchen hervorwachsen,<br />
wie sie flink eine um die andere Stufe besteigen.<br />
Der Stoff spannt und entspannt sich, die Blümchen<br />
werden kleiner und größer, je nachdem, welches<br />
Bein sie gerade hebt oder senkt. Sie verschwindet<br />
auf der Plattform, gleich wird sie springen, gleich<br />
wird man den kleinen Körper aufs Wasser klatschen<br />
hören. Gleich bin ich dran. „Diesmal schaffst du es!<br />
Einfach fallen lassen!“ Der Lehrer steht neben mir.<br />
Ich mag ihn nicht sonderlich, aber eigentlich ist er<br />
nicht unfreundlich zu mir, wie die in der Schule. Er<br />
klopft mir aufmunternd auf die Schulter und schiebt<br />
mich leicht vorwärts. „Na los jetzt!“<br />
Ich setzte den Fuß auf die erste Stufe, ziehe<br />
meinen Körper nach. Es geht ganz einfach. Linker<br />
Fuß, rechter Fuß, eine Stufe nach der anderen.<br />
Ich komme oben an, drehe mich nicht um, gehe<br />
einfach nach vorne. Ich werde nicht zögern, werde<br />
kurz hinunterschauen und dann springen. Ich bin<br />
da. Stehe ganz am Rand des Podests. Vor mir nur<br />
Luft. Es macht mir keine Angst. Oder? Ich schaue<br />
nach unten. Wasser. Tiefes Wasser, weites. Nur<br />
Wasser. Es wartet auf mich. Es wird mich auffangen<br />
wie ein Haufen Federn. Es wird wunderbar sein.<br />
Ich muss mich nur fallenlassen. Loslassen.<br />
Nase zu, Augen zu, ein bisschen in die<br />
Knie und Springen. Auf festen Boden habe<br />
ich es schon hundertmal gemacht. Es macht<br />
doch keinen Unterschied! Ich werde zwar nicht<br />
sofort landen. Aber es wird nicht wehtun. Ich will<br />
es. Die Bewegung ist doch die gleiche! Mein Hirn<br />
kennt sie auswendig. Warum machen meine Beine<br />
nichts?! Los, springt!, sage ich ihnen. Befehle ich<br />
ihnen. Warum tun sie es nicht? Sie können doch<br />
nicht selber denken, nicht selber entscheiden. Sie<br />
machen immer das, was das Hirn ihnen sagt. Kurz in<br />
die Knie, dann ausstrecken, Beine einziehen, schon<br />
bin ich in der Luft, und einfach fallen lassen. Ich<br />
habe den Ablauf genau im Kopf, weiß genau, wie<br />
sich mein Körper anfühlt, wenn er meinen Befehl<br />
ausführt. Aber meine Beine machen nichts. Stehen<br />
da. Steif, unbewegt. Hören nicht auf mich. Warum<br />
geht es nicht? Ich wünsche es mir doch so sehr! Los.<br />
Jetzt. Bis drei. Eins, zwei, drei. Ich öffne die Augen.<br />
Ich bin immer noch da. Mein stocksteifer Körper<br />
beginnt langsam, wirklich zu frieren. Ich spüre das<br />
feuchte, dunkelblaue Stück Stoff auf meiner Haut<br />
kleben. Ich spüre, wie sich meine Augen mit Tränen<br />
füllen. Es geht nicht. Es geht einfach nicht. Warum<br />
geht es nicht? Warum hört mein Körper nicht auf<br />
mich?<br />
„Nein, es ist nichts. Alles bestens! Warum fragst du?“<br />
„Du hast nur grade so nachdenklich ausgesehen...<br />
Ok, gut, kannst du dir das kurz mal anschauen? Ich<br />
finde den Anfang richtig gut, aber was hältst du<br />
vom Schluss?“