Grundmann, Christoffer H., "Er weiss viel tausend Weisen - MMH/MMS
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ÑER WEISS VIEL TAUSEND WEISEN, ZU RETTEN AUS DEM TODì<br />
Heilung theologisch befragt<br />
Vortrag im Rahmen der Tagung ÇAnders heilenë der Evang. Akademie Bad Boll am 9.9.2007<br />
von<br />
<strong>Christoffer</strong> H. <strong>Grundmann</strong>, Valparaiso University, Valparaiso, IN, USA<br />
ÇAnders heilenë, so das Thema dieser Tagung. Das wirft sofort Fragen auf wie: Anders heilen<br />
als wer? Oder: Anders heilen, wie? Schliefllich auch: Warum ¸berhaupt anders heilen?<br />
Diese und ‰hnliche Fragen machen deutlich, dass das gew‰hlte Tagungsthema im<br />
Gegen¸ber zur Dominanz der evidenzbasierten, rational-naturwissenschaftlich begr¸ndeten<br />
Medizin formuliert ist. Es ist demnach ein Thema mit polemischem Unterton gegen den<br />
selbstherrlichen, oft unkritischen Anspruch der etablierten Schulmedizin auf das<br />
Heilungsmonopol in unserem Gesundheits- und Krankenversicherungssystem samt der<br />
damit einhergehenden Marktbehauptung. Zugleich verr‰t das Thema aber auch ein<br />
sp¸rbares Interesse an sogenannten Ñanderenì bzw. Ñalternativen Heilweisenì, deren breites<br />
Spektrum in den vergangenen Tagen ein wenig deutlich geworden ist.<br />
Mit den folgenden Ausf¸hrungen mˆchte ich nun nicht in den Doppelchor des F¸r-und-Wider<br />
einstimmen. Ich mˆchte mich statt dessen von einer ganz anderen, n‰mlich der<br />
theologischen Warte aus dem Thema n‰hern, wobei mir Paul Gerhardts (1607-1676)<br />
Verszeilen in den Sinn kamen: ER WEISS VIEL TAUSEND WEISEN, ZU RETTEN AUS DEM TOD 1 , <strong>Er</strong>,<br />
der lebendige Gott, ¸ber dessen Wirken Theologen ja Rede und Antwort zu stehen haben.<br />
So vertraut und liebgeworden einem auch jene Verse sein mˆgen, so ist doch ñ um der<br />
Sache willen ñ kritisch zu fragen, ob sie eine wirklich hilfreiche und g¸ltige Antwort auf die<br />
uns hier interessierenden Fragen zu geben vermˆgen, und wenn ja, inwiefern. Ist Paul<br />
Gerhardts fromme Behauptung nicht Ausdruck unzul‰ssiger Simplifizierung? Ist sie nicht<br />
Ausdruck einer naiven, oder, wie Sigmund Freud (1856-1936) sagen w¸rde, einer Ñinfantilenì<br />
Lebensanschauung, die sich einer kindischen Sehnsucht nach Geborgenheit verdankt und<br />
sich die Wirklichkeit wunschgem‰fl ñ und damit entstellend ñ zurecht legt, was zu<br />
zwang(s)l‰ufig fatalen Folgen f¸hren muss? 2<br />
Diesen Herausforderungen haben wir uns hier bewuflt zu stellen; denn nur so werden wir vor<br />
frommem Selbstbetrug und ideologischer Schˆnrednerei bewahrt. Da aber eine, sich einzig<br />
auf Kritik von auflen einlassende Auseinandersetzung als blofle Reaktion zu kurz greift, weil<br />
sie die Darstellung der eigentlichen Position durch die vom Gespr‰chspartner aufgenˆtigten<br />
Fragestellungen zu verzerren droht, darum ist Vergewisserung und kritische Aufarbeitung<br />
der entsprechenden eigenen Tradition nˆtig, bevor in eine sinnvolle Sachdiskussion<br />
eingetreten werden kann. Deswegen werde ich in einem ersten Teil zun‰chst einen<br />
allgemein gehaltenen ‹berblick ¸ber die biblische Heilungstradition geben (I), in einem<br />
zweiten dann das Ph‰nomen der Heilung theologisch systematisch aufarbeiten (II), um<br />
abschlieflend in einem dritten Schritt einige der daraus resultierenden Konsequenzen f¸r die<br />
Diskussion um den heilkundlichen Methodenpluralismus aufzuzeigen (III).<br />
1 Aus dem 1667 von ihm nach Ps. 146 gedichteten Lied "Du meine Seele singe", Strophe 7; vgl. EG 108.<br />
2 Vgl. dazu insbesondere seine drei Schriften Totem und Tabu, 1913; die Zukunft einer Illusion, 1927; Der Mann<br />
Moses und die monotheistische Religion, 1937, jetzt in: Gesammelte Werke, Studienausgabe, Frankfurt a. M.<br />
1968, Bd. 9 u. 16.<br />
1
I ñ Die biblische Heilungstradition<br />
Schon bei nur fl¸chtiger Durchsicht wird deutlich, dafl Heilung, obwohl im Alten vorhanden,<br />
wesentlich ein Thema des Neuen Testaments ist, namentlich der Evangelien.<br />
Die Schriften des Alten Bundes, die Gott (‰Â‰È Ìȉχ) als Schˆpfer und <strong>Er</strong>halter der Welt<br />
bezeugen, kennen diesen Gott auch als denjenigen, der sich Israel gegen¸ber als ÑHeilerì<br />
und ÑArztì offenbart. ÑIch bin der HERR (‰Â‰È), dein Arzt (‡Ù¯)!ì heiflt es Exodus 15, 26, und<br />
da dies die einzige Stelle in der Heiligen Schrift ist, an der eine unmittelbare Identifizierung<br />
Gottes mit dem Heilberuf par excellence erfolgt, lohnt es sich, n‰her hinzuschauen.<br />
Nach dem Auszug aus ƒgypten wurden die Befreiten von Moses zu einer Oase namens<br />
Mara gef¸hrt, wo, wie zu erfahren ist, Ñder HERRì (‰Â‰È) ihnen ÑGesetz und Recht gab ... und<br />
sprach: Wirst du des Stimme des HERRN, deines Gottes (Ìȉχ), gehorchen und tun, was<br />
recht ist vor ihm, Ö so will ich dir keine der Krankheiten auferlegen, die ich den ƒgyptern<br />
auferlegt habe; denn ich bin der HERR, dein Arzt.ì (‰Â‰È ‡Ù¯) <strong>Er</strong>st jetzt, im Kontext gelesen,<br />
wird deutlich: Gott heilt nicht nur. <strong>Er</strong> verwundet auch. Gott hat nicht nur Macht, Krankheiten<br />
wegzunehmen, sondern auch Krankheiten aufzuerlegen. Die vitale, existentielle Angst vor<br />
schwerer Krankheit ñ und damit vor unzeitgem‰flem Verlust von Lebensfreude und Vitalit‰t ñ<br />
wird hier also Mittel zum Zweck: Wenn man den Weisungen Gottes nicht Folge leistet,<br />
drohen Krankheit und Tod, eine <strong>Er</strong>fahrung, von der das abtr¸nnige Volk dann sp‰ter in der<br />
W¸ste nicht verschont blieb, als n‰mlich, wie es heiflt, Ñder HERR feurige Schlangenì<br />
sandte, Ñ ..., dass <strong>viel</strong>eì daran starben. ÑDa kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben<br />
ges¸ndigt ... [B]itte den HERRN, dafl er die Schlangen von uns nehme. ... Da machte Mose<br />
eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange bifl, so<br />
sah er die eherne Schlange an und blieb am Leben.ì 3<br />
An anderer Stelle im Pentateuch, im sogenannten ÇLied des Moseë, ist ƒhnliches zu lesen:<br />
ÑSehet nun, dafl ichís allein bin und ist kein Gott (Ìȉχ) neben mir! Ich kann tˆten und<br />
lebendig machen, ich kann schlagen und kann heilen (‡Ù¯).ì 4 Der Allmacht Gottes eignet<br />
also etwas Unheimliches. So gewifl Gott aus Not und Tod erretten kann, so selbstverst‰ndlich<br />
kann er auch in diese hineinf¸hren; und das tut er namentlich bei all denjenigen, die ihn<br />
nicht als lebendigen Gott anerkennen, also Abgˆtterei treiben; so jedenfalls das Alte<br />
Testament. Entsprechend dieser Maxime werden in den B¸chern der Kˆnige und der<br />
Chronik Regenten wie Ahasja 5 , Asarja 6 , Usia 7 und Joram 8 gerichtet; vom Geschick des<br />
letzteren heiflt es in 2. Chr. 21, 18 lapidar, dafl Ñder HERR (‰Â‰È) ihn mit einer Krankheit in<br />
seinen Eingeweidenì plagte, die nicht zu heilen war.<br />
Andererseits wiederum vernimmt der todkranke Kˆnig Hiskia, nachdem er sich in verzweifelndem<br />
Gebet an eben diesen Gott wandte: ÑSo spricht der HERR (‰Â‰È) ... Ich habe dein<br />
Gebet gehˆrt und deine Tr‰nen gesehen. Siehe, ich will dich gesund machen ... und ...<br />
f¸nfzehn Jahre zu deinem Leben hinzutun.ì 9 Ein sp‰terer Bericht notiert dieses <strong>Er</strong>eignis kurz<br />
und b¸ndig mit den Worten: ÑHiskia wurde todkrank und betete zum HERRN (‰Â‰È). Der<br />
redete mit ihm und tat an ihm ein Wunder.ì 10 Heilung als Wunder, das ist die eine Seite<br />
gˆttlicher Allmacht, aber eben nur die eine. Daneben gibt es auch die unheimliche, dunkle<br />
weil willk¸rliche Seite Gottes, wie an der Geschichte Hiobs beeindruckend deutlich wird.<br />
3 Nu. 21<br />
4 Dt. 32, 39<br />
5 2. Kˆ. 1<br />
6 2. Kˆ. 15,5<br />
7 2. Chr. 26,20-21<br />
8 2. Chr. 21<br />
9 2. Kˆ. 20,5; vgl. Jes. 38,5<br />
10 Chr. 32,24<br />
2
Der aufgrund himmlischen Ratschlusses mit uns‰glicher Not und Krankheit geschlagene<br />
Hiob wird von seinen Freunden in bester, trˆstender Absicht daran erinnert, dafl gem‰fl<br />
frommer Meinung der Mensch Ñseligì zu preisen ist, Ñden Gott zurechtweistì weil Gott eben<br />
Ñverletzt und verbindet; ... zerschl‰gt und ... heilt.ì 11 Doch das ist f¸r Hiob gerade kein Trost.<br />
<strong>Er</strong> will sich nicht damit abfinden, dafl der lebendige Gott, dem er grenzenlos vertraut und<br />
dessen Gebote er treulich befolgt hat, Krankheit und Not als Mittel zum <strong>Er</strong>weis seiner<br />
Allmacht benutzt. Auch der Allm‰chtige hat sich an gegebene Versprechen zu halten und<br />
darf nicht Willk¸r walten lassen. Daher kann es nicht angehen, dafl er jemanden, der seine<br />
Gebote achtet, Not leiden und krank werden l‰sst. Und wenn doch, dann tut Gott Unrecht<br />
und widerspricht sich selbst. Hiob reibt sich an diesem Konflikt auf. All sein Gr¸beln kommt<br />
aber schliefllich doch an ein Ende, und dies nun interessanterweise nicht dadurch, dass er<br />
eine schl¸ssige Antwort auf die Fragen nach Gottes Gerechtigkeit und den Grund von<br />
Krankheit und Not oder gar Heilung gefunden h‰tte, sondern dadurch, dass Gott sich ihm in<br />
ganz neuer Weise offenbart und gewiss wird so dass Hiob betroffen bekennen mufl: ÑIch<br />
habe unweise geredet ... Ich hatte von dir [HERR; ‰Â‰È] nur vom Hˆrensagen vernommen;<br />
aber nun hat mein Auge dich gesehen.ì 12 In der existentiellen Krise, in die ihn Krankheit und<br />
Not hinein gef¸hrt hatten kam es f¸r Hiob zu einer unmittelbaren Gottesbegegnung; das liefl<br />
ihn verstummen.<br />
Obschon Gottes Allmacht demnach also etwas wirklich durchaus Be‰ngstigendes hat,<br />
kˆnnen Menschen scheinbar nicht anders als dennoch immer wieder Zuflucht zu ihr zu<br />
nehmen. Wohin auch sollten sie sich denn sonst in ihrer ‰uflersten Not wenden? ÑKommt,<br />
wir wollen wieder zum HERRN (‰Â‰È); denn er hat uns zerrissen, er wird uns auch heilen; er<br />
hat uns geschlagen, er wird uns auch verbinden.ì 13 ruft der Prophet Hosea seinen<br />
Volksgenossen zu. Und der Beter von Psalm 6 fleht: ÑAch HERR (‰Â‰È), strafe mich nicht in<br />
deinem Zorn ... Sei mir gn‰dig, denn ich bin schwach; heile mich, HERR, denn meine<br />
Gebeine sind ... sehr erschrocken.ì 14 <strong>Er</strong>greifend auch Psalm 22, der sich sp‰ter ebenfalls im<br />
Munde des sterbenden Jesus findet: ÑMein Gott (Ìȉχ), mein Gott, warum hast du mich<br />
verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. ... Du legst mich in des Todes Staub. ...<br />
HERR (‰Â‰È), sei nicht ferne; meine St‰rke, eile mir zu helfen.ì 15<br />
In sp‰terer Zeit wird Gottes Heil wirkendes Eingreifen aber nicht mehr mit der gleichen<br />
Unmittelbarkeit erlebt wie fr¸her. Es erfolgt indirekt, n‰mlich durch das Tun der ƒrzte und<br />
Apotheker. In der apokryphen Schrift Jesus Sirach, die etwa zweihundert Jahre vor der<br />
Zeitenwende entstanden ist, finden sich dazu folgende, aufschlussreiche Bemerkungen:<br />
ÑEhre den Arzt ..., damit du ihn habest zur Zeit der Not; denn der Herr hat ihn geschaffen,<br />
und die Arznei kommt von dem Hˆchsten. ... [W]enn du krank bist, ... bete zum Herrn, denn<br />
der macht gesund. ... Danach lafl den Arzt zu dir, denn der Herr hat ihn geschaffen; und<br />
[schick ihn nicht fort], solange du seiner bedarfst. Es kommen Zeiten, da dem Kranken auch<br />
11 Hi. 5,17-18<br />
12 Hi. 42,3.5<br />
13 Ho. 6,1<br />
14 Ps. 6,2-4; vgl. Ps. 41,5<br />
15 Im gleichen Sinne flehte auch einst Jeremia: ÑHeile du mich, HERR (‰Â‰È), so werde ich heil, hilf du mir, so ist<br />
mir geholfen; denn du bist mein Ruhm!ì (Jer. 17,14) - Mag auch der augenblickliche Leidensdruck die<br />
Ambiguit‰t gˆttlicher Allmacht vergessen lassen, so ist doch die Zuflucht zum Allm‰chtigen nie ohne ein<br />
gewisses Risiko. Man kann ja nicht wirklich sicher sein, wie Gott sich verhalten wird. Darum wird er<br />
gelegentlich von den Hilfesuchenden an fr¸here Heilstaten erinnert und ihm wird feierlich gelobt, im Falle von<br />
Heilung, auch anderen von diesem wunderbaren, lebenserhaltenden Tun zu erz‰hlen. (z.B. Ps. 22,23-32) So<br />
Psalm 103, 2-5: ÑLobe den HERRN (‰Â‰È), meine Seele, und vergifl nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle<br />
deine S¸nde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlˆst, der dich krˆnet mit<br />
Gnade und Barmherzigkeit, der deinen Mund frˆhlich macht, und du wieder jung wirst wie ein Adler.ì<br />
Desgleichen r¸hmt Psalm 147, dafl es der ÑHERRì ist, der ÑWunden verbindetì und der diejenigen heilt, Ñdie<br />
zerbrochenen Herzens sindì (Ps. 147,3).<br />
3
durch [ihn] geholfen wird.ì 16 Wie einsichtsvoll und pragmatisch n¸chtern. Gott und Arzt, Gott<br />
und Apotheker, Gott und Heilkr‰uter! Dennoch wird nach wie vor an der ‹berzeugung<br />
festgehalten, dass Krankheit verschuldet ist. In Jesus Sirach heiflt es n‰mlich weiter: ÑWer<br />
vor seinem Schˆpfer s¸ndigt, mufl die Hilfe der ƒrzte in Anspruch nehmen.ì 17 Wie damals in<br />
Mara so gilt also auch noch in hellenistischer Zeit: Willst du gesund bleiben, dann halte die<br />
Gebote Gottes, sonst droht dir Krankheit! ñ Schwarze P‰dagogik als Mittel des Heils?<br />
Dem wird von Jesus radikal widersprochen. Als ein blind Geborener zu ihm gebracht wird<br />
und die J¸nger ihn fragen: ÑMeister, wer hat ges¸ndigt, dieser oder seine Eltern, da er blind<br />
geboren ist?ì weist Jesus solche Ursachenergr¸ndung als unsachgem‰fl zur¸ck. An dem<br />
Blinden soll nicht menschliche Hinf‰lligkeit, sondern Gottes Herrlichkeit Ñoffenbar werden.ì<br />
Weil Gott will, dass alle Menschen die F¸lle des Lebens haben 18 , so soll auch jener sehen<br />
kˆnnen. 19 Darin klingt das Grundthema des gesamten Neuen Testaments an, das lautet: in<br />
Jesus Christus ist die unheimliche Ambiguit‰t gˆttlicher Allmacht in Eindeutigkeit ¸berf¸hrt<br />
worden. Der allm‰chtige Gott ist kein nach Lust und Laune willk¸rlich agitierender Potentat,<br />
sondern ein sich um das Heil der Menschen und allen Lebendigen sorgender Vater. 20<br />
Deshalb die Heilungen.<br />
Jesus ging, wie es wiederholt heiflt, Ñin alle St‰dte und Dˆrfer, lehrte in den Synagogen und<br />
predigte das Evangelium vom Reich [Gottes] und heilte alle Krankheit und alle Gebrechen.ì 21<br />
Jesu Verk¸ndigung war also von konkret erfahrbaren Zeichen des Heils begleitet. Das<br />
zeichnet ihn gegen¸ber anderen Religionsstiftern wie z. B. dem Buddha, Laotse oder<br />
Mohammed aus.<br />
Jesus wusste um <strong>viel</strong>e <strong>Weisen</strong> des Heilens. Bei ihm ist keine bestimmte Methode zu<br />
erkennen; denn mal heilte er durch sein machtvolles Wort Menschen in der N‰he 22 wie in der<br />
Ferne 23 , mal ber¸hrte er die Kranken 24 , mal ber¸hrten die Kranken ihn. 25 Ein anderes Mal<br />
benutzte er seinen Speichel, und wiederum ein anders Mal vermischte er diesen mit dem<br />
Staub des Weges. 26 Auch heilte Jesus nicht nur auf ausdr¸cklichen Wunsch der Kranken<br />
oder deren F¸rsprecher. Wo immer es ihn angesichts von Leid und Not Ñjammerteì, wie es<br />
heiflt 27 , heilte er auch ungefragt, wie z.B. den chronisch Kranken am Teich Bethesda. 28 Auch<br />
im Blick auf die Bedeutung des Glaubens f¸r die Heilung ist bei Jesus kein Prinzip<br />
festzustellen. Zwar hat Jesus oft betont, dafl es das fraglose Vertrauen in ihn, also Glaube<br />
war, durch den Heilung bewirkt wurde 29 , und manches Mal konnte er um des ÑUnglaubensì<br />
willen nicht Ñ<strong>viel</strong>e Zeichenì tun wie z.B. in Nazareth. 30 Dennoch machte Jesus weder den<br />
16 Sir. 38,1-2,9-14<br />
17 38,15<br />
18 Joh. 10,10<br />
19 Joh. 9,1ff<br />
20 Vgl. Joh. 3,16-17<br />
21 Mt. 9,35; vgl. 4,23; Mk. 1,39<br />
22 Mk. 2,1ff; Mt. 9,1ff; Lk. 17,11-19<br />
23 Mt. 8,5ff; Lk. 7,1ff; Mt. 15,21-28; Mk. 7,24-30<br />
24 Mt. 8,1ff; Mk. 1,40ff; Lk.5,12ff; Mt. 9,23-26<br />
25 Mt. 9,20-22; Mk. 5,25-34<br />
26 Joh. 9,6f; Mk. 8,22-26; 31ff<br />
27 Mt. 20, 34; Mk. 1,41<br />
28 Joh. 5,1ff; vgl. Lk. 7,11ff<br />
29 Mt. 8,22; Mk. 5,34; 10,52; Lk. 7,50; 8,48; 17,19; 18,42<br />
30 Mt. 13,58<br />
4
Glauben noch die Nachfolge zur Bedingung von Heilung 31 , ja, manchmal wies er Geheilte,<br />
die ihm nachfolgen wollten, ausdr¸cklich zur¸ck. 32 Jesus kann daher nicht als Glaubens-<br />
oder Gebetsheiler vereinnahmt werden. Auch sollte nicht ¸bersehen werden, dass seine<br />
machtvolle Heilungst‰tigkeit nicht ¸berall erw¸nscht war, da sie als Bedrohung empfunden<br />
wurde, so wie bei den Gerasenern in der Dekapolis, die ihn ihrer Gegend verwiesen. 33<br />
Jesus bevollm‰chtigte auch seine J¸nger dazu, es ihm gleich zu tun, n‰mlich die Botschaft<br />
vom Reich Gottes in Wort und Tat zu verk¸ndigen. Nach dem ¸bereinstimmenden Zeugnis<br />
der Evangelien rief er deswegen einst Ñdie Zwˆlf zusammen und gab ihnen Gewalt und Vollmacht<br />
¸ber alle bˆsen Geister, dafl sie Krankheiten heilen konntenì 34 , ein Mandat, dass<br />
durch den Auferstandenen mit globaler, ja universaler Perspektive sp‰ter erneut best‰tigt<br />
wurde. 35 Doch mussten schon die J¸nger damals zugleich die bittere <strong>Er</strong>fahrung machen, dafl<br />
sie nicht alle Krankheiten heilen konnten; denn einmal beklagte sich der Vater eines epileptischen<br />
Knaben bei Jesus mit den Worten: ÑHerr, ... ich habe ihn zu deinen J¸ngern gebracht,<br />
und sie konnten ihm nicht helfen.ì 36 Zwischen dem gewaltigen Anspruch, die Vollmacht zu<br />
besitzen alle Krankheiten heilen zu kˆnnen, und der allt‰glichen Wirklichkeit, die vom<br />
Scheitern auch der edelsten und selbstlosesten Heilungsbem¸hungen gepr‰gt ist, besteht<br />
offensichtlich eine nur schwer zu ertragende Differenz; und es spricht f¸r die Redlichkeit des<br />
Schriftzeugnisses, dafl dies nicht schˆngeredet wird.<br />
Auflerhalb der Evangelien wird im Neuen Testament Heilung nur noch gelegentlich thematisiert.<br />
In der Apostelgeschichte werden, neben anderen 37 , vornehmlich Petrus und Paulus<br />
auch als in der Vollmacht Christi heilende Personen geschildert 38 , und dem ersten<br />
Korintherbrief ist zu entnehmen, dafl in fr¸hchristlichen Gemeinden die Gabe der Heilung<br />
pr‰sent war. 39 Dem letzten Buch der Bibel ist das Thema der Heilung ebenfalls nicht ganz<br />
fremd. In der Vision vom himmlischen Jerusalem sieht der Seher Johannes den Thron<br />
Gottes, von dem ein ÑStrom lebendigen Wassersì entspringt an dessen beiden Seiten je ein<br />
Baum des Lebens w‰chst mit Bl‰ttern, die Ñzur Heilung der Vˆlkerì dienen. 40 Und in der<br />
Offenbarung steht auch, dass Gott einst Ñabwischen wird alle Tr‰nenì, weil Ñder Tod nicht<br />
mehr sein wird, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz.ì 41 Dass Schmerz und Leid, Not<br />
und Tod als Zeichen von Lebensminderung und Lebensvernichtung im Reich Gottes keinen<br />
Platz haben, war ja in Jesu Wirken augenf‰llig geworden. Seitdem gehˆrt dies zum<br />
Gegenstand christlicher Hoffnung. ñ Oder ist es <strong>viel</strong>leicht doch nur Ausdruck frommen<br />
Wunschdenkens?<br />
Dies kritisch zu ¸berpr¸fen verlangt nach einer theologisch-systematischen Kl‰rung des Ph‰nomens<br />
der Heilung, und das soll nunmehr in einem zweiten Schritt geschehen.<br />
II ñ Heilung in theologisch systematischer Perspektive<br />
31 Lk. 17, 11ff; vgl. Mt. 8,4; 9,30, Mk. 1,44; 5,17.43; u.ˆ.<br />
32 Mk. 5,18ff; Lk. 8,38<br />
33 Mt. 8,34; Mk. 5,17<br />
34 Lk.9,1-2; 10,9; Mt.10,1; Mk.6,7-13<br />
35 Mk. 16, 15-18<br />
36 Mt. 17,15f; Mk. 9,18; Lk. 9,40<br />
37 Act. 9,17-19<br />
38 Petrus: Act. 3,1-8; 9,32-35,36-41; Paulus: 14,8-11; 28,8-9<br />
39 12,9-10<br />
40 Apk. 22,1-2<br />
41 Apk. 21,4<br />
5
Die theologisch systematische Verst‰ndigung ¸ber das Ph‰nomen Heilung hat von<br />
folgenden grundlegenden Tatsachen auszugehen: <strong>Er</strong>stens gilt es sich zu vergegenw‰rtigen,<br />
dafl Heilung nicht nur ein allgemeinmenschliches, sondern ein pan-biologisches Ph‰nomen<br />
ist. Allen Lebewesen widerf‰hrt Heilung in Gestalt der bei jeder Zellteilung sich vollziehenden<br />
Korrektur gesch‰digter DNA, wie sie z. B. durch die ultraviolette Strahlung des Sonnenlichts<br />
verursacht sein kann. Ohne diesen permanenten, lebenserhaltenden Vorgang, der sich ganz<br />
im Verborgenen vollzieht und nur dann zu Bewufltsein kommt, wenn man sich seiner wie z.<br />
B. in der Gentechnik ausdr¸cklich bedienen mˆchte, h‰tten weder niedrige noch hˆhere<br />
Lebewesen eine ‹berlebenschance. Ohne Heilung keine <strong>Er</strong>haltung von Leben. Ohne<br />
Heilung st¸rzt Leben ins Chaos und geht zugrunde! 42<br />
Heilung als bewuflt erlebte Genesung von einer Krankheit aber ist ein spezifisch menschliches<br />
Ph‰nomen. Dies ist die zweite Grundtatsache. Zwar kennen wir auch bei Pflanzen und<br />
Tieren biochemische und funktionale Stˆrungen und haben deswegen Veterin‰re und Pflanzendoktoren,<br />
neuerdings auch Psychologen und Physiotherapeuten f¸r Pferde, Hunde und<br />
andere liebe Haustiere. Nichtsdestotrotz besteht ein qualitativer Unterschied zwischen<br />
Menschen und den ¸brigen Lebewesen darin, dafl Menschen sich ihres Zustandes bewuflt<br />
werden und entsprechend reagieren kˆnnen. W‰hrend Pflanzen verk¸mmern und Tiere<br />
dahinsiechen erschˆpft sich menschliches Kranksein nicht nur in der Wahrnehmung von<br />
Schmerzen und gradueller Lebensminderung, sondern evoziert Angst um Sein oder<br />
Nichtsein, um Leben oder Tod. 43 Das stimuliert das Bem¸hen um Heilung und d¸rfte der<br />
Grundimpuls aller Heilkunde sein; 44 und wie vital der menschliche ‹berlebenswille<br />
angesichts von Krankheit tats‰chlich ist, das l‰flt sich nicht zuletzt auch an den horrenden<br />
Summen ablesen, die in das Gesundheitssystem gesteckt 45 und von denjenigen, die es sich<br />
leisten kˆnnen, f¸r Wellness, Fitnefl sowie Gesundheitskost ausgegeben werden.<br />
Schliefllich ist, drittens, daran zu erinnern, dafl Heilung trotz ihrer Allgegenwart keineswegs<br />
selbstverst‰ndlich ist. Zwar haben Menschen aller Kulturen ¸berall auf der Welt seit urdenklichen<br />
Zeiten Heilung erfahren; dennoch ist l‰ngst nicht allen, die ihrer bed¸rfen, Heilung<br />
zuteil geworden. Heilung kann nicht verf¸gt oder garantiert werden. Alle Behandlungsprozesse<br />
sind in ihrem Ausgang prinzipiell offen, obwohl jede Therapie auf lang bew‰hrte<br />
Praktiken zur¸ckgreift. Stets bleiben heilkundliche Eingriffe ein Tun auf Hoffnung hin, wie es<br />
besonders bei experimentellen Therapien deutlich wird.<br />
Aus diesen Beobachtungen geht auch hervor, dass Heilung nicht etwas spezifisch Christliches<br />
sein kann. Damit mussten sich ¸brigens schon die ersten J¸nger abfinden; denn als<br />
sie sich dar¸ber ‰rgerten, dass jemand zwar in Jesu Namen heilte, sich ihnen aber nicht<br />
anschloss, bekamen sie zu hˆren: ÑWehret ihm nicht!ì, denn Ñwer nicht wider uns ist, der ist<br />
f¸r uns.ì 46 Gibt es also keine christliche, geschweige denn kirchliche Pr‰rogative auf Heilung,<br />
so besagt das allerdings nicht, dafl Heilung christlich nicht von Belang sei. Im Gegenteil,<br />
gerade weil durch Jesu Wirken Heilung als Zeichen der leibhaften Pr‰senz des Reiches<br />
Gottes ñ also des Heils ñ qualifiziert worden ist, darum ist sie theologisch von Belang.<br />
42 Vgl. dazu E. Passarge, Taschenatlas der Genetik, 2., vollst‰ndig ¸berarb. u. erweiterte A., Stuttgart 2004, bes.<br />
Teil I, 'Grundlagen'.<br />
43 Vgl. dazu A. Jores, Der Mensch und seine Krankheit ñ Grundlagen einer anthropologischen Medizin, Stuttgart<br />
1956, bes. S. 11ff, sowie W. Jacob, Kranksein und Krankheit ñ Anthropologische Grundlagen einer Theorie der<br />
Medizin, Heidelberg 1978<br />
44 Vgl. dazu E. Seidler, Prim‰rerfahrungen von Not und Hilfe, in÷ H. Schipperges, E. Seidler, P.U.Unschuld,<br />
Hg., Krankheit, Heilkunst, Heilung, Freiburg i. Br., 1978, S. 399-418; H. Schipperges, Motivation und Legitimation<br />
des ‰rztlichen Handelns, ebd., S. 447-489.<br />
45 F¸r die aktuellen Zahlen vgl. Comparativ National Statistics ñ Health Services, in: Encyclopaedia Britannica<br />
2007 Book of the Year, Chicago et al. 2007, S. 834-839.<br />
46 Mk. 9,39; vgl. Lk. 9,50<br />
6
Trotzdem war Heilung f¸r lange Zeit theologisch ¸berhaupt kein Thema. 47 Heilung z‰hlt nicht<br />
wie die Evangeliumsverk¸ndigung und die Sakramentsverwaltung zu den unverwechselbaren<br />
Merkmalen von Kirche, ist also keine nota ecclesiae. Sie kann es aus den erw‰hnten<br />
Gr¸nden nicht sein. Das entsprechende Schriftzeugnis blieb deswegen f¸r die etablierte<br />
Schultheologie stets ein ƒrgernis, das im Zeitalter von Aufkl‰rung und Rationalismus historisierend<br />
oder entmythologisierend hinweg interpretiert wurde, w‰hrend die offizielle Kirche<br />
dazu neigte, das Feld professionellen Heilkundigen zu ¸berlassen bzw., sofern sie Heilung<br />
nicht als karitativ-diakonisches Engagement umdeutete 48 , kritisch be‰ugten Auflenseitern<br />
wie z.B. Joh. Christoph Blumhardt (1805-1880). 49 Doch was die etablierte Kirche brach<br />
liegen liefl, fand umso lebhaftere Aufnahme in der breiten Volksfrˆmmigkeit sowie in den<br />
freien Allianz- und Gemeinschaftskreisen. Hier kam es im ausgehenden 19. Jahrhundert in<br />
Verbindung mit der methodistisch initiierten Heiligungsbewegung und im 20. Jahrhundert<br />
unter pfingstlerischem Einflufl zu einer regelrechten "Heilungsbewegung", die durch Zentren<br />
f¸r Gebetsheilung und die Praxis einer oft antimedizinisch ausgerichteten sogenannten<br />
'Glaubensheilung' durch Gebetsheiler gekennzeichnet war. 50 Heutzutage sind es aufler den<br />
in entsprechenden Traditionen stehenden Gruppen und charismatischen Zirkeln unz‰hlige<br />
Heilungskirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika, die die Kirche daran erinnern, dafl, wenn<br />
sie denn Kirche im Sinne des Neuen Testaments sein will, sie sich nicht von dem der<br />
J¸ngerschaft Jesu erteilten Heilungsauftrag dispensieren kann. 51 Wie aber gehˆren<br />
Heilsverk¸ndigung und Heilung zusammen? 52<br />
Als pan-biologisches Ph‰nomen ist Heilung, theologisch gedeutet, zun‰chst einmal<br />
Ausdruck von Gottes erhaltendem Schˆpferhandeln. Die Welt ist nach christlicher Glaubenserkenntnis<br />
nicht nur Ñam Anfangì vor aller Zeit durch den Schˆpfer ins Leben gerufen<br />
worden. Die Welt wird auch durch Gottes fortdauerndes, g¸tiges und barmherziges Wirken<br />
jetzt am Leben erhalten. Nach Luthers ber¸hmter <strong>Er</strong>kl‰rung zum ersten Artikel im Kleinen<br />
Katechismus sollte jedem Gl‰ubigen bewuflt sein, dafl ein Bekenntnis zu Gott als dem<br />
Schˆpfer der Welt das Wissen darum mit einschlieflt, dafl Gott mich Ñgeschaffen hat samt<br />
allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne<br />
gegeben hat und noch erh‰lt ... aus lauter v‰terlicher, gˆttlicher G¸te und Barmherzigkeit.ì 53<br />
Leben ist demnach keine fraglose Selbstverst‰ndlichkeit und besteht auch nicht dank einer<br />
anonym wirkenden vitalen Kraft oder Mutter Natur. Nein, so die christliche Glaubenseinsicht,<br />
Leben hat Bestand, weil es von Gott als solches gewollt wird. Weil Gott am Werk ist korrigiert<br />
sich defekte DNA, heilen Wunden und klingen Entz¸ndungen ab; weil Gott am Werk ist,<br />
darum kˆnnen die Heilbem¸hungen von ƒrzten und Heilern ¸berhaupt von <strong>Er</strong>folg gekrˆnt<br />
sein, zumindest vor¸bergehend; denn in der Tat: ER WEISS VIEL TAUSEND WEISEN ...<br />
47 Zum folgenden siehe bei Chr. H. <strong>Grundmann</strong>, Heilung als Thema der Theologie, in: Theologische<br />
Literaturzeitung, 130 (2005), S. 231-246.<br />
48 Vgl. dazu Die Macht der N‰chstenliebe ñ Einhundertf¸nfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848 fl 1998,<br />
Im Auftrag des Deutschen Historischen Museums und des diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in<br />
Deutschland hrg. Von U. Rˆper und C. J¸llig, Berlin 1998.<br />
49 Vgl. D. Ising, Johann Christoph Blumhardt Leben und Werk, Gˆttingen 2002<br />
50 Siehe dazu S. Holthaus, Heil ñ Heilung ñ Heiligung ñ Die Geschicthe der deutschen Heiligungs- und<br />
Evangelisationsbewegung (1874-1909), Giessen / Basel 2005 (Lit.!)<br />
51 Zu diesem zeitgenˆssischen ekklesiologischen Ph‰nomen siehe Chr. H. <strong>Grundmann</strong>, Leibhaftigkeit des Heils ñ<br />
Ein missionstheologischer Diskurs ¸ber das Heilen in den zionistischen Kirchen im s¸dlichen Afrika, Hamburg /<br />
M¸nster 1996 (Lit.!); ders.: Heaven below here and now! ñ The Zionist churches in southern Africa, in:<br />
International Journal fort he Study of the Christian Church, vol. 6, no. 3, Oct. 2006, S. 256-269.<br />
52 Vgl. Chr. H. <strong>Grundmann</strong>, Die Leibhaftigkeit des Heils bezeugen. ñ ‹ber Heilungen, die Verk¸ndigung des<br />
Wortes und den ureigenen Auftrag der Kirche, in: Chr. Gestrich, Th. Wabel, Hg., An Leib und Seele gesund ñ<br />
Dimensionen der Heilung, Beiheft zur Berliner Theologischen Zeitschrift, Berlin 2007, S. 154-176.<br />
53 M. Luther, Der kleine Katechismus, in: Luther Deutsch ñ Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl f¸r die<br />
Gegenwart herausgegeben, K. Aland, Stuttgart / Gˆttingen Bd. 6, Kirche und Gemeinde. - 2., erw. u. neubearb.<br />
Aufl. ñ 1966, S.138-159.<br />
7
Doch was ist damit eigentlich ausgesagt? Was liegt schon daran, die letzte Ursache f¸r eine<br />
Heilung auf ÑGottì zur¸ckzuf¸hren? Sind das nicht blofl leere Worte? Ist es letztendlich nicht<br />
egal, wem die Heilkraft zugeschrieben wird, ob einer sogenannten ÑMutter Naturì oder vitalen<br />
Kr‰ften, ob dem professionellen Kˆnnen von ƒrzten, dem Charisma von Heilern, einer<br />
Wundermedizin oder dem lebendigen Gott?<br />
Das scheint auf dem ersten Blick durchaus so zu sein, und die meisten Menschen werden es<br />
dabei bewenden lassen. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass es die<br />
fundamentalen Grundeinsichten sind, die nicht nur die menschliche Wahrnehmung von Welt<br />
und Leben bestimmen, sondern auch das allt‰gliche Verhalten der Menschen zur Welt.<br />
Derlei Grundeinsichten sind nun aber trotz offensichtlicher Unterschiede<br />
¸berraschenderweise nicht beliebig; denn die Anzahl sinnstiftender Mˆglichkeiten, die als<br />
handlungsleitende Maximen in allem menschlichen Verhalten zum Tragen kommen, ist durch<br />
biologische und sozial-kulturelle Determination relativ begrenzt.<br />
Im heilkundlichen Kontext l‰flt sich der Einfluss des Weltbildes auf das alltagspraktische<br />
Handeln am Zusammenhang von Diagnose und Therapie verdeutlichen; denn die Diagnose<br />
bestimmt die Therapie. Es macht einen groflen Unterschied, ob Geister und D‰monen,<br />
Miflgunst und der Çbˆse Blickë oder Bakterien, Viren und genetische Disposition als<br />
Krankheitsursache gelten. W‰hrend man n‰mlich Bakterien und Viren mittels Antibiotika<br />
behandeln kann, sind D‰monen auszutreiben und muss der Çbˆse Blickë durch Magie und<br />
Amulette gebannt werden. Wird also eine krankhafte Schilddr¸senvergrˆflerung wie der<br />
Kropf statt als Jodmangel als ÑHexenkrankheitì diagnostiziert, so wie bei den Dormaa im<br />
Nordwesten Ghanas, 54 dann ist damit nicht medikamentˆs, sondern sozialtherapeutisch<br />
umzugehen, will sagen: weil die unter einem Kropf leidende Person in der Wahrnehmung<br />
ihrer unmittelbaren Lebensumwelt als physische Bedrohung empfunden wird, mufl sie,<br />
horrible dictu, ausgestoflen und vernichtet werden, w‰hrend demgegen¸ber ein Jodmangel<br />
durch entsprechende Medikation kompensiert werden kann.<br />
Dergleichen Unterschiede schlagen sich letztlich auch im <strong>Er</strong>leben von Heilung nieder; denn<br />
so wie die Diagnose f¸r die Therapie bestimmend ist, so ist die Kenntnis des Heilung<br />
bewirkenden Agens f¸r den Therapieerfolg von ausschlaggebender Bedeutung. Ein rein<br />
physiologisches, funktionales Verst‰ndnis von Heilung wird unweigerlich zu einer technokratisch-materialistischen<br />
Lebenshaltung f¸hren, dergem‰fl Krankheit ein medizinisch zu<br />
behebender Defekt bzw. eine Funktionsstˆrung ist, die repariert werden kann. Leben wird<br />
dabei als ein rein biologischer Prozefl angesehen, dessen gelegentliche Fehlfunktionen<br />
durch geschickte medizinische Intervention repariert und behoben werden kˆnnen. Und<br />
wenn schliefllich nichts mehr greift, wenn ein Mensch Ñaustherapiertì ist, wie es heiflt, dann<br />
ist halt Schlufl, Ende des Lebens, Exitus.<br />
Wird Heilung, andererseits, auf vitale, nat¸rliche Kr‰fte zur¸ckgef¸hrt, dann wird sich das<br />
Interesse darauf richten, diese Lebenskr‰fte unter allen Umst‰nden zu erhalten und zu<br />
fˆrdern. Leben als Vitalit‰t, als Lebenskraft verstanden, hat in der Kulturgeschichte der<br />
Menschheit zur starken Betonung von Nachkommenschaft gef¸hrt, durch die ja der Fortbestand<br />
des Lebens, insbesondere der eigenen Spezies ¸ber die individualisierte Existenz<br />
hinaus gesichert wird. In der modernen, von Individualismus und Wohlstand<br />
gekennzeichneten westlichen Kultur mit ihrer Vergˆtzung des gut aussehenden,<br />
leistungstarken und genuflfreudigen Kˆrpers dagegen hat solcher Vitalismus f¸r <strong>viel</strong>e<br />
Zeitgenossen Wellness, Gesundheit und Kˆrperpflege zum Lebensinhalt schlechthin werden<br />
lassen, mit geradezu fatalen Folgen f¸r das Verst‰ndnis von und den Umgang mit Krankheit<br />
und Alter. Wer krank wird, ist offenbar selbst schuld. Man h‰tte sich ja beizeiten um die<br />
richtige <strong>Er</strong>t¸chtigung bem¸hen kˆnnen. ñ Wiederum andere Konsequenzen zeitigt die dem<br />
Wirken charismatischer Personen und magischer Kr‰fte zugeschriebene Heilung; denn die<br />
‰ngstliche Sorge um den <strong>Er</strong>halt des Wohlbefindens f¸hrt in bedenkliche Abh‰ngigkeiten von<br />
Menschen, Dingen und Verhaltensweisen.<br />
54 Vgl. dazu Fink, H. E., Religion, Disease, and Healing in Ghana ñ A case study of traditional Dormaa medi-<br />
cine, M¸nchen 1989.<br />
8
Wird Heilung demgegen¸ber als aktuelle, jetzt geschehende Neuschˆpfung verstanden,<br />
durch die der lebendige Gott mein akut gef‰hrdetes Leben vor unzeitgem‰flem Tod bewahrt<br />
ñ und damit mich und meine Existenz jetzt erneut bejaht ñ , dann tritt die personale<br />
Dimension des Geschehens hervor, die den Geschenk- und Antwortcharakter menschlichen<br />
Lebens deutlich erkennen l‰sst. Menschliches Leben erschˆpft sich nicht im stumpfsinnigen<br />
Dahinvegetieren bis zum Lebensende als dem Zerfall des individualisierten biologischen<br />
Systems. Vielmehr ist menschliches Leben Sinn orientiert und weist ¸ber sich selbst hinaus,<br />
und genau das ist es, was eine dank Gottes erhaltender Schˆpfermacht erlebte Heilung zu<br />
Bewusstsein bringt. Das vereitelt biologistisch-materialistische und vitalistische Reduktionen,<br />
ern¸chtert diffus-esoterische Verkl‰rungen und befreit zugleich von falschen Bindungen und<br />
Abh‰ngigkeiten. Menschliches Leben ist eben nicht nur biologischer Prozefl, Vitalit‰t oder<br />
verkl‰rtes Geheimnis, sondern Gabe und Aufgabe, verdankte Existenz und Aufruf zu<br />
menschlicher Gestaltung der Welt in Verantwortung vor Gott als dem unbedingten,<br />
letztg¸ltigen Gegen¸ber. Selbstverst‰ndlich ist Leben immer auch biologischer Prozefl und<br />
Vitalit‰t, und selbstverst‰ndlich bleibt Leben immer auch ein nicht ganz zu ergr¸ndendes<br />
Geheimnis. Aber all das macht nicht das typisch Menschliche des Lebens aus. Das typisch<br />
Menschliche des Lebens ist durch eine spezifische Sozialit‰t und Geistigkeit, durch<br />
Verstehen und Begreifen, durch bewuflte Willensentscheidung und deshalb auch durch<br />
persˆnlich zu verantwortendes Handeln gekennzeichnet. Und dazu zu bef‰higen, dafl nach<br />
einer ¸berstandenen Krankheit die neu geschenkte Lebenszeit demgem‰fl sinnvoll<br />
zugebracht und verlebt werden kann, was ist das anderes als das ultimativ erstrebte Ziel<br />
aller Heilungsbem¸hungen? 55<br />
Heilung als Ausdruck von Gottes erhaltender Schˆpfermacht anzuerkennen ist nicht<br />
<strong>Er</strong>gebnis begrifflicher Argumentation oder logischer Deduktion. Es erschieflt sich aus der<br />
Konfrontation mit dem Heilsgeschehen in Jesus Christus, in dem sich der allm‰chtige Gott<br />
als ein leidenschaftlich das Heil der Menschen Wollender zu erkennen gegeben hat. Damit<br />
m¸ssen Menschen nat¸rlich explizit vertraut gemacht werden oder, um dies in konventionell<br />
theologischer Weise auszudr¸cken: es muss das Evangelium verk¸ndigt werden. Das aber<br />
erschˆpft sich keineswegs in einer blofl verbalen Informationsvermittlung, sondern vermittels<br />
der Botschaft eines jeweils ganz konkreten Lebenszeugnisses, durch das jenes<br />
Heilsgeschehen bis in die Gegenwart hinein wirklichkeitsbestimmend wird.<br />
Was aber tr‰gt das im heilkundlichen Methodenstreit aus? Dazu nun abschlieflend einige<br />
weitere ‹berlegungen.<br />
III ñ Zum Beitrag christlicher Glaubenserkenntnis im heilkundlichen Methodenstreit<br />
Im heilkundlichen Methodenstreit wird der Beitrag christlicher Glaubenserkenntnis wesentlich<br />
in der <strong>Er</strong>mˆglichung eines reifen Pragmatismus, in der Fˆrderung selbstkritischer Kompetenz<br />
sowie in der Bef‰higung zu wahrhaft menschlichem Verhalten angesichts von Krankheit,<br />
Sterben und Tod bestehen.<br />
Ein reifer heilkundlicher Pragmatismus, so wie er bereits im Buch Jesus Sirach angedeutet<br />
ist, zeichnet sich durch sachliche N¸chternheit aus. Frei von jedweder ideologischen Engf¸hrung<br />
und allem puristischen Dogmatismus bef‰higt er dazu, kranken Menschen mit dem<br />
zur Verf¸gung stehenden professionellen Kˆnnen und Geschick im Rahmen der gegebenen<br />
Mˆglichkeiten zu helfen. <strong>Er</strong> disponiert zu n¸chterner Akzeptanz auch des Unerwarteten,<br />
macht zur Anwendung unkonventioneller Mittel und auch zur Kooperation mit medizinischen<br />
55 Die Geschichte von den zehn Auss‰tzigen (Lk. 17,11-19) belehrt vˆllig illusionslos, dass Heilung nur von<br />
einem Bruchteil derjenigen, die sich ihrer erfreuen, auch wirklich so erlebt wird. Die meisten, denen Genesung<br />
zuteil wird, gehen zur Tagesordnung ¸ber, obwohl sie durchaus begreifen kˆnnten, was an ihnen wirklich<br />
geschehen ist. (vgl. Rˆ.1,18f ) Anstatt existentieller Vergewisserung und Bew‰hrung ist Heilung f¸r sie das<br />
Gl¸ck, noch einmal "davon gekommen zu sein". Nicht ganz grundlos fragt Jesus daher so pointiert ÑSind ihrer<br />
nicht zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte und<br />
g‰be Gott die Ehre, denn dieser Fremdling?ì (Lk. 17,17-18)<br />
9
Auflenseitern geneigt, vorausgesetzt, dass all dies dem Wohle der Kranken dient, wie es ja<br />
schon Anfang des 20. Jh. Eugen Bleuler (1857-1939) 56 seinen Kollegen ins Stammbuch<br />
geschrieben hatte. Einer wirklich um Heilung bem¸hten pragmatischen Haltung ist es<br />
n‰mlich nicht um die schulbuchm‰flige Behandlung von Krankheiten oder die Best‰tigung<br />
bestimmter heilkundlicher Konzepte zu tun, die dazu verleiten, nur das wahrzunehmen, was<br />
ihnen gem‰fl ist. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf wird all das, was den Schulmeinungen<br />
widerspricht oder fremd ist, ignoriert und ausgeblendet. Nat¸rlich sind heilkundliche<br />
Konzepte f¸r die Deutung von Krankheitssymptomen und die Durchf¸hrung einer<br />
erfolgversprechenden Behandlung unerl‰sslich, und selbstredend stecken in jeder heilkundlichen<br />
Tradition handfeste <strong>Er</strong>fahrungen und praktisch bew‰hrtes, oft erst auf schmerzlichen<br />
Umwegen erlangtes Wissen, so dass man schlecht beraten w‰re, dies leichtfertig in den<br />
Wind zu schlagen; einem heilkundlichen Relativismus soll hier also keineswegs das Wort<br />
geredet werden. Doch die Verst‰ndigung dar¸ber, was als eigentliche Ursache einer<br />
Krankheit anzusehen ist und wie diese am besten behoben werden kann, ist oft heftig<br />
umstritten, und das nicht nur zwischen den Vertretern verschiedener Heilweisen, sondern<br />
oftmals auch innerhalb ein- und derselben Tradition. Wieso?<br />
Jede Diagnosestellung ist Resultat menschlicher <strong>Er</strong>kenntnis. Sie ist daher prinzipiell Irrtums<br />
behaftet und also mˆgliches Missverstehen. Das erkl‰rt, zumindest teilweise, wieso ein- und<br />
derselbe Sachverhalt ¸berhaupt unterschiedlich beurteilt werden kann und warum manche<br />
Therapien effektiver sind als andere. Mit zu ber¸cksichtigen sind dabei nat¸rlich auch die<br />
verschiedenen soziokulturell etablierten Plausibilit‰tsstrukturen, die faktische Komplexit‰t<br />
menschlichen Krankseins und der Umstand, dass Krankheit nicht gleich Krankheit ist. Ein<br />
trivialer Husten mag f¸r den Brieftr‰ger vor¸bergehende Beschwerden bringen, aber einer<br />
Operndiva kann er die Karriere kosten, also biographisch hˆchst folgenschwer sein. Und<br />
dieweil ein gebrochener Arm einem Penn‰ler die willkommene Legitimation f¸r die Befreiung<br />
von ungeliebten Hausaufgaben verschafft so stellt der medizinisch identische Befund eine<br />
Mutter mit kleinen Kindern oder einen Handwerker oder einen K¸nstler wiederum vor ganz<br />
andere Herausforderungen der Lebensbew‰ltigung; und all das hat einen erheblichen<br />
Einfluss auf den Heilungsprozess, wie sicherlich nicht nur den Vertretern der<br />
anthropologischen Medizin stets bewusst gewesen ist. 57<br />
Die Kunst rechter Diagnosestellung und erfolgversprechender Therapie erfordert daher weit<br />
mehr als eine mˆglichst genaue Kenntnis pathophysiologischer Vorg‰nge, erfordert auch<br />
weit mehr als gute heilkundliche F‰higkeiten. Alles Kˆnnen und Fachwissen muss sich mit<br />
kluger Menschenkenntnis zwecks gelingender Kommunikation angesichts von Schmerzen,<br />
Todesangst und Hoffnung verbinden, etwas, auf das sich Laien oft besser verstehen als<br />
hoch spezialisierte Fachleute. Es ist nicht die Medizin, die den Arzt macht. Vielmehr haben<br />
ƒrzte die Medizin zu meistern und Heiler wie Heilerinnen ihr Expertenwissen situationsgem‰fl<br />
so zu ¸bersetzen, dass die Krise der Krankheit von den Betroffenen erfolgreich<br />
bew‰ltigt werden kann.<br />
All diejenigen, denen die Heilung kranker Menschen wirklich am Herzen liegt, sind daher gut<br />
beraten, sich nicht durch Fachwissen und systembedingte Zust‰ndigkeiten den n¸chternen,<br />
klaren Blick daf¸r tr¸ben zu lassen, was mittels der von ihnen zu verantwortenden Intervention<br />
tats‰chlich bewirkt wird. Die Gewissheit, dass Gott um <strong>viel</strong> <strong>tausend</strong> <strong>Weisen</strong> weifl,<br />
aus dem Tode zu erretten, wird ihnen dabei nicht nur die eine solche Haltung erst<br />
ermˆglichende vertrauende Gelassenheit geben, sondern wird sie auch vor anmaflender<br />
Selbstsicherheit und Selbstgef‰lligkeit bewahren.<br />
Ein weiterer, wichtiger Beitrag christlicher Glaubenseinsicht im heilkundlichen Methodenstreit<br />
besteht in der Fˆrderung selbstkritischer Kompetenz in Bezug auf die Wahrnehmung der<br />
eigenen Leistungsf‰higkeit sowie in der Anerkennung der unvermeidlichen Diskrepanz zwi-<br />
56 Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine ‹berwindung, Berlin 1919; 1966 2.Neudruck<br />
5.A.<br />
57 Hier ist besonders an Ludolf v. Krehl (1861-1937), Richard Siebeck (1883-1965), Viktor v. Weiz‰cker (1886-<br />
1957) und ihre Sch¸ler zu denken.<br />
10
schen Anspruch und Wirklichkeit heilkundlichen Tuns; denn christlicher Glaube weifl um die<br />
Spannung zwischen dem 'Schon' und 'Noch nicht', weifl um die Vorl‰ufigkeit und Hinf‰lligkeit<br />
aller menschlichen Anstrengungen, ohne dabei in fatalistische Resignation, professionellen<br />
Aktionismus oder aggressiven Zynismus zu verfallen. Es ist der bewusste Ausblick, die<br />
Hoffnung auf das Ende, an dem "Gott selbst alle Tr‰nen abwischen wird", es ist die<br />
theologisch sogenannte 'eschatologische Dimension', durch die echter Realit‰tssinn<br />
¸berhaupt erst entstehen kann. Das ist f¸r das Gelingen aller Heilversuche deswegen<br />
entscheidend, weil dadurch falsche, tr¸gerische Hoffnungen unterbunden und zus‰tzliche<br />
Kr‰fte zur Krisenbew‰ltigung frei werden.<br />
Eine jede Heilkunst erhebt ja den Anspruch, in ihrer je eigenen Weise erfolgreich zu sein und<br />
wird dabei nicht nur entsprechende <strong>Er</strong>folge aufzuweisen haben, sondern auch ihre eigene<br />
Rationalit‰t unter Beweis stellen und maflgebliche Autorit‰ten zitieren kˆnnen. Dennoch ist<br />
allen Heilkundigen, welcher Schule und Tradition sie auch angehˆren mˆgen, durchaus<br />
bewusst, dass ihren Therapiebem¸hungen keineswegs immer <strong>Er</strong>folg beschieden ist, sondern<br />
eher das Gegenteil. Oftmals sind alle M¸hen vergeblich. Dieser Umstand aber wird h‰ufig<br />
ausgeblendet, da er Heiler wie Heilung Suchende verunsichert. Heilerpersˆnlichkeiten sehen<br />
ihre Selbstsicherheit gef‰hrdet, und Kranken gegen¸ber wird das Wissen um jene schwer zu<br />
ertragende Spannung h‰ufig in der ausdr¸cklichen Absicht vorenthalten, ihnen ja nicht die<br />
Hoffnung zu nehmen; denn Hoffnung, von der ja nicht grundlos gesagt wird, dass sie das ist,<br />
was als letztes stirbt, Hoffnung ist ein vitales Element menschlichen Lebens. Doch was ist,<br />
wenn angesichts einer plˆtzlich erschreckend zu Bewusstsein kommenden Situation jene<br />
blofl vorget‰uschte Hoffnung wie ein Kartenhaus in sich zusammen f‰llt und als Illusion<br />
entpuppt? Echte Lebensangst l‰sst sich eben nicht mit Zweckoptimismus ¸berspielen. Das<br />
Vorgaukeln falscher Hoffnung ist T‰uschung ¸belster Art, da sie das Leben eines Menschen<br />
in seiner <strong>viel</strong>leicht alles entscheidenden Phase interessegeleitet funktionalisiert und dessen<br />
vitale Angst vor radikaler Existenzbedrohung ignoriert, anstatt diese wahr sein zu lassen um<br />
damit den Betroffenen die Mˆglichkeit zu sinnvoller Bew‰ltigung ihrer ultimativen<br />
Lebenskrise zu geben.<br />
Echte Heilkunst besteht nicht im Vorgaukeln falscher Sicherheiten, sondern darin, dem<br />
Leben und den Lebendigen zu dienen, auch dann, wenn ein baldiges Ende abzusehen ist.<br />
Doch, wie erst k¸rzlich in der Presse zu lesen war, bekennen angesehene medizinische<br />
Koryph‰en als die groflen Macher, dass sie den Tod "hassen" und das Versterben "eines<br />
Patienten Ö als eine persˆnliche Niederlage" empfinden obwohl man doch "nichts falsch<br />
gemacht" habe. 58 Wie tˆricht, und doch: wie so unvermeidlich; denn wenn man<br />
medizinischen Fortschritt will, dann muss man st‰ndig mehr wagen und immer wieder bis an<br />
die Grenzen gehen, ja diese ¸berschreiten, stellt doch jede Begrenzung nur wieder neue<br />
Herausforderungen dar. Und je mehr Herausforderungen erfolgreich gemeistert werden<br />
kˆnnen, desto grˆfler das Selbstvertrauen. Schliefllich wird daraus Selbst¸bersch‰tzung,<br />
Hochmut und gef‰hrlicher Wahn, mit all den lebensfeindlichen Konsequenzen, die dann in<br />
medizinethischen Disputen und vor Gericht verhandelt werden. Hat der Homo faber erst<br />
einmal sein Mafl verloren, dann ist auch die Heilkunst perdu; denn die Heilkunst hat<br />
unzeitgem‰flen Tod zu verhindern, nicht mehr und auch nicht weniger. Ihre Aufgabe ist aber<br />
nicht, Tod als solchen zu beseitigen.<br />
Einer dem Leben dienenden ‰rztlichen Haltung ist solcher Wahn genauso fremd wie ¸berhaupt<br />
alles selbstherrliche Expertentum, ohne dabei freilich die berufliche Kompetenz zu<br />
kompromittieren. Weit davon entfernt selbstgen¸gsam zu sein aber frei von aktivistischem<br />
Leistungsdruck wird sie ‰uflerst sachlich reagieren kˆnnen; denn obwohl sie um die Begrenztheit<br />
menschlicher <strong>Er</strong>kenntnis weifl wird sie selbst auf die Gefahr des Scheiterns hin<br />
stets alles Notwendige tun, Mˆgliches mit mutigem Bedacht wagen und von dem, was nicht<br />
oder nicht mehr dem Leben dient, Abstand nehmen. Alle dem Leben wie den Lebenden<br />
58 So der erfolgreiche Transplanteur Prof. Dr. Bruno Reichart vom Herzzentrum Groflhadern, in: Die Zeit, Nr.<br />
24, 6.6. 2007, S.15ff. - I. Niermann, in: Ein Star greift zum Skalpell (Die Zeit, Nr. 28, 5.7.2007, S. 13), schrieb<br />
¸ber Prof. Dr. Chr. Broelsch aus Essen, dass er sich in seiner Praxis einfach st‰ndig "¸ber ethisch-moralische<br />
Standards" hinweg setze, wie einige seiner fr¸heren Mitarbeiter zu berichten wussten.<br />
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wirklich dienenden Heilkundigen wissen n‰mlich auch darum, dass angesichts von Sterben<br />
und Tod ihre Kunst letztlich doch immer nur Flickschusterei bleibt.<br />
Aufler der Fˆrderung solch selbstkritischer Kompetenz und jenes reifen Pragmatismus<br />
besteht der Beitrag christlicher Glaubenserkenntnis im heilkundlichen Methodendiskurs<br />
schliefllich auch ñ und dies vor allem ñ in der Bef‰higung zu wahrhaft menschlichem<br />
Verhalten angesichts der Herausforderungen durch Krankheit, Sterben und Tod.<br />
Das, was menschlich zu nennen ist, ergibt sich n‰mlich nicht aus dem Humanum wie von<br />
selbst. Es erschlieflt sich im Gegen¸ber zu einem Letztg¸ltigen personalen Charakters, dem<br />
lebendigen Gott, von dem bekannt wird, dass er nicht nur den Menschen nach seinem Bilde<br />
geschaffen hat 59 , sondern selbst als Mensch geboren wurde und Schmerzen ertragen, ja<br />
auch den Tod erlitten hat. Darum brauchen Menschen nicht mehr Gott zu spielen, auch nicht<br />
Halbgˆtter in weifl oder erfolgreiche Wunderheiler, die vorgeben ¸ber Not und Tod erhaben<br />
zu sein.<br />
Gott wurde Mensch, damit Menschen wirkliche Menschen bleiben kˆnnen, auch dann, wenn<br />
sie sich der Heilkunst verschrieben haben; d.h. Hilfe suchende Kranke d¸rfen, wenn ihre Zeit<br />
gekommen ist, auch getrost sterben. Sterben und Tod sind nicht Niederlagen der Heilkunst,<br />
sondern Ausdruck der conditio humana. Sie mˆgen ‰ngstigen und verzweifeln lassen, aber<br />
im Horizont des christlichen Glaubens bedeuten sie nicht endg¸ltige Auslˆschung oder<br />
Nichtigung. Sicherlich, Sterben und Tod bringen Leben zu einem Ende, so, wie es bisher<br />
gekannt ist. Die hoffende Gewissheit aber, dass dermaleinst weder Not noch Tod mehr sein<br />
werden, erˆffnet den Ausblick auf eine Zukunft ganz anderer Art, die ad‰quat in Worte zu<br />
fassen uns nicht mˆglich ist. Es heiflt, dass auch dieses Leben sein wird, ewiges Leben,<br />
Leben in seiner ganzen F¸lle, Leben bei und mit Gott, ohne Schmerzen, ohne Krankheit,<br />
ohne Tod. Aber das ist menschlicher <strong>Er</strong>fahrung ñ jetzt noch ñ entzogen, weshalb man<br />
dar¸ber nur in Andeutungen stammelnd reden kann.<br />
Heilendes Handeln im Horizont solcher Endzeiterwartung aber als ein Handeln im zuversichtlichen<br />
Vertrauen darauf, dass es tats‰chlich einmal wirklich so sein wird, ist ein Tun,<br />
durch welches jene Wirklichkeit bereits hier und heute antizipiert wird zum Wohle der<br />
Notleidenden, indem es diese vor unmenschlichen Genesungstortouren bewahrt.<br />
Schluss<br />
Zum Schluss. Heilkundige sind die Handlanger, nicht die Meister des Lebens. Diese Einsicht<br />
ger‰t jedoch in der Routine des beruflichen Alltags allzu oft in Vergessenheit. Deswegen ist<br />
die <strong>Er</strong>innerung daran, dass es letztlich der lebendige Gott ist, der aus Not und Tod errettet,<br />
eine der wohl wichtigsten Aufgaben christlichen Glaubenszeugnisses im heilkundlichen<br />
Methodenstreit.<br />
<strong>Christoffer</strong> H. <strong>Grundmann</strong> (Prof. Dr. theol.): 1979-1983 Dozent am Tamilnadu Theological Seminary,<br />
Madurai/lndien; 1983-1992 Theologischer Referent am Deutschen Institut f¸r ‰rztliche Mission (DIFƒM) und<br />
Krankenhausseelsorger in der Paul-Lechler-Tropenklinik, T¸bingen. 1992- 1999 Hochschulassistent am<br />
Seminarf¸r Missions- und Religionswissenschaften der Universit‰t Hamburg mit den Forschungsschwerpunkten<br />
Heilung als Dimension des christlichen Glaubens und ‰rztliche Mission. 1999-2001 stellvertretender Direktor<br />
des ÑZentrums f¸r Gesundheitsethikìan der Evang. Akademie Loccum, Hannover. Seit 2001 Professor an der<br />
Universit‰t Valpareiso/USA, Inhaber des John R. Eckrich Lehrstuhls in Religion and Healing Arts.<br />
Zahlreiche Fachverˆffentlichungen, Buch- und Lexikabeitr‰ge, unter anderem: Gesandt zu heilen! Aufkommen<br />
und Entwicklung der ‰rztlichen Mission im neunzehnten Jahrhundert. G¸tersloh: 1992. Leibhaftigkeit des Heils.<br />
Hamburger Theologische Studien Bd.11, Hamburg 1997.<br />
http://faculty.valpo.edu/cgrundma/Person.htm<br />
59 Gen. 1, 27<br />
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