Ausgabe 6/2012 Oktober - November - Gemeinde Rammelsbach
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Gedankengebäude eindringen, das heute selbst für gebildete Laien schwer zugänglich<br />
ist. So wird es auch damals gewesen sein. Das Volk konnte ohnehin nicht lesen. Die<br />
Vorstellung, nach dem Thesenanschlag habe es so etwas wie einen kleinen Aufstand<br />
unter dem allgemeinen Christenvolk gegeben, ist vermutlich ziemlich abwegig. Die<br />
Thesen waren zu allererst gedacht zur Lektüre für die hochgelehrten Wissenschaftler<br />
der Wittenberger Universität. Für diese war der regelmäßige Kirchgang Pflicht, sie<br />
waren auch in der Lage, das komplizierte Gedankengebäude Luthers zu verstehen.<br />
Luther hatte mit der Kirchentür eine Form der Kommunikation gewählt, die heute<br />
nicht mehr zur Verfügung steht. Kein Professor einer Universität würde sich heute für<br />
irgendwelche Zettel an einer Kirchentür interessieren. Heute stünden solche Texte<br />
vermutlich im Internet. Im Übrigen gibt es unter den Wissenschaftlern Zweifel an dem<br />
Vorgang des Thesenanschlages, obwohl er durch Luthers Freund Melanchthon<br />
überliefert ist.<br />
Mit Luthers Thesen brachen ganze kirchliche Lehrgebäude zusammen, die bis<br />
dahin um die tausend Jahre gehalten hatten. Dieser rebellische Vorgang war wohl der<br />
erfolgreichste Antrieb bei der Verbreitung der Thesen. Aus dem jungen<br />
Wissenschaftler war ein Ketzer und Rebell geworden. Luthers Thesen waren eine Art<br />
Revolution in der Kirche und stellten Ihre Allmacht in Frage. Durch den Zweifel an<br />
der bisherigen Funktion der römischen Kirche drohten die Einnahmen aus dem<br />
Ablasshandel zu versiegen, zum anderen verlor die römische Kirche mit den Zweifeln<br />
an der dringenden Notwendigkeit der Bußübungen eine ordentliche Portion an Macht<br />
über ihre Gläubigen. Es ist also kein Wunder, dass Luther umgehend zur Rechenschaft<br />
gezogen wurde. Der Vorladung nach Rom wegen notorischer Ketzerei entzog er sich<br />
erfolgreich; vermutlich hätte er die Reise nach Rom nicht lebend überstanden. So<br />
folgte die Vorladung durch den römischen Kaiser Karl V. nach Worms mit den<br />
allbekannten Folgen.<br />
„Hier stehe ich und kann nicht anders, Gott helfe mir“<br />
soll er angeblich gesagt haben, als er widerrufen sollte. Vermutlich war ihm bei<br />
diesen Worten klar, auch diese Reise würde er nicht überleben. Aber sein Landesherr<br />
Friedrich der Weise dachte gar nicht daran, sich seinen klugen Wittenberger<br />
Theologen von irgendwelchen kaiserlichen Landsknechten auf das sichere Schafott<br />
führen zu lassen. So ließ er ihn für alle kaiserlichen Schächer unerreichbar auf die<br />
Wartburg bei Eisenach bringen.<br />
Es ist nicht verwunderlich, dass Luthers Landesherr Friedrich der Weise seine<br />
schützende Hand über diesen jungen theologischen Rebellen gehalten hat. Auch für<br />
die Fürsten im heiligen römischen Reich war eine gewisse Loslösung von den<br />
römischen Machtansprüchen hoch willkommen. Plötzlich sahen sie die Möglichkeit,<br />
auf dieser Erde niemandem mehr Rechenschaft schuldig zu sein. Letztlich auch dem<br />
Kaiser nicht, denn der hatte ohnehin keine allzu starke Stellung im römischen Reich.<br />
Vermutlich sind Erfolg und Wirkung dieses Thesenanschlages zur damaligen Zeit nur<br />
erklärbar mit der Chance erheblicher Machtverschiebungen und finanzieller<br />
Unabhängigkeit der Fürsten im damaligen Kaiserreich.<br />
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