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Biermann, Christine - Universität Bielefeld

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Werkstattheft Nr. 29<br />

<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong>/<br />

Wilhelm Schipper (Hrsg.):<br />

„Ich erklär‘ dir, wie ich rechne“ –<br />

Prävention von Rechenstörungen<br />

Ein Kooperationsprojekt der Versuchsschule und<br />

Wissenschaftlichen Einrichtung Laborschule mit dem<br />

Institut für Didaktik der Mathematik (IDM)<br />

<strong>Bielefeld</strong> 2003


„Kannst du addieren?“, fragte die<br />

Königin. „Wie viel ist eins und<br />

eins und eins und eins und eins<br />

und eins und eins und eins und<br />

eins und eins?“ „Keine Ahnung“,<br />

sagte Alice. „Ich hab‘ den Faden<br />

verloren.“<br />

Lewis Carroll: Hinter den Spiegeln<br />

3


Fotonachweis:<br />

Paula G. Althoff: Seite 151 und 152<br />

Uta Görlich: Seite 52<br />

Theresa Nolte: Seite 42<br />

Axel Schulz: Seite 99 und 111<br />

Von Ernst Herb sind alle weiteren Fotos.<br />

Bei sämtlichen auf den Fotos abgebildeten Schülerinnen und Schülern handelt es sich<br />

nicht um die beschriebenen Förderkinder.<br />

Alle Kindernamen sind anonymisiert.


Inhaltsverzeichnis<br />

Seite<br />

<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong>:<br />

Was soll das Werkstattheft zeigen? 7<br />

<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong>:<br />

Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht.<br />

Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt zur Prävention von<br />

Rechenstörungen 9<br />

Wilhelm Schipper:<br />

Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische<br />

Herausforderung 25<br />

Uta Görlich:<br />

Kim – zwischen den Welten. Beispiel einer Prävention von<br />

Rechenstörungen auf dem Hintergrund sprachlich und kulturell<br />

bedingter Eingliederungsprobleme 49<br />

Paula G. Althoff:<br />

Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung 65<br />

Mircea Radu:<br />

Rechen- und Rechtsschreibschwäche als personengebundene<br />

Anfälligkeit – Leichtfertige Diagnosen und ihre Folgen 79<br />

<strong>Christine</strong> Huth:<br />

„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“ 93<br />

Bianca Beyer:<br />

Eine sperrige Förderung – Katrin und ich 107<br />

Brunhild Zimmer:<br />

„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“ 117<br />

Dagmar Heinrich:<br />

Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel? 135<br />

Anhang:<br />

Glossar 149<br />

Kernziele 155<br />

5


<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />

Was soll das Werkstattheft zeigen?<br />

Bei diesem Werkstattheft handelt sich um die Dokumentation der anderthalbjährigen<br />

Arbeit in einem Forschungs- und Entwicklungsprojekt (FEP, siehe Glossar)<br />

der Wissenschaftlichen Einrichtung Laborschule. Es ist das in der Primarstufe angesiedelte<br />

Projekt „‚Ich erklär‘ dir, wie ich rechne‘ – Prävention von Rechenstörungen“.<br />

Im Sommer 2001 gestartet, wird es im Sommer 2003 abgeschlossen<br />

werden. Alle Mitglieder der Projektgruppe – vier Lehrerinnen der Stufe I (0. bis<br />

2. Jahrgang) und Stufe II (3. und 4. Jahrgang), zwei Wissenschaftler des Instituts<br />

für Didaktik der Mathematik (IDM/siehe Glossar), zwei Studentinnen des<br />

Lehramtes Primarstufe und eine Mitarbeiterin der Wissenschaftlichen Einrichtung<br />

Laborschule – haben im Projekt regelmäßig kooperiert und tragen somit auch<br />

ihren Teil zu diesem Heft bei.<br />

Dieser Artikel führt die LeserInnen zunächst zum Start der Projektplanung Ende<br />

2000 zurück, zeigt erste Überlegungen zum Stand des Mathematikunterrichts in<br />

der (Primastufe der) Laborschule auf und führt in die Schwerpunkte der geplanten<br />

Arbeit ein. In einem zweiten Teil werden dann im Sinne des TZI-Ansatzes 1<br />

die beteiligten Personen(-gruppen), die Bedeutung des Individuums und die Inhalte<br />

und Methoden eines ‚guten‘ Mathematikunterrichts näher betrachtet.<br />

Als kooperierender Hochschullehrer des IDM gibt Wilhelm Schipper in seinem<br />

Theorieteil Auskunft über ‚Angebliche Ursachen und tatsächliche Risikofaktoren‘<br />

von Rechenstörungen und versucht eine begriffliche Klärung im ‚Dyskalkulie-<br />

Dschungel‘. Er breitet ‚kleine und große‘ Diagnoseverfahren aus – auch für die<br />

Hand der einzelnen LehrerInnen. Außerdem beschreibt er anschaulich die drei<br />

großen Förderschwerpunkte ‚Verinnerlichung der Zahlzerlegung‘, ‚Schnelles Sehen‘<br />

und ‚Entwicklung von Rechenstrategien‘. Auch die Auswahl geeigneter Arbeitsmittel<br />

macht er zum Thema. In seinem letzten Abschnitt stellt er im Rahmen<br />

des Kapitels ‚Schulische Prävention‘ einige ‚Leitfragen zur Offenheit und Zielorientierung‘<br />

für einen guten Mathematikunterricht vor.<br />

Im Mittelpunkt dieses Werkstattheftes stehen die Fallstudien von insgesamt<br />

sechs Kindern: Ihr schulischer Werdegang, in vier Fällen der missglückte Start in<br />

einer Regelschule, die Einbindung in ihre Familien, erste mathematische Auffälligkeiten,<br />

die genaue Diagnose ihrer Probleme und die sich daraus ergebende<br />

Förderung. Wir stellen das einzelne Kind in den Vordergrund und machen an ihm<br />

exemplarisch einerseits unsere Sicht auf die vielfältigen Faktoren von Rechenstörungen<br />

deutlich, zeigen aber auch deren mehr oder weniger ‚erfolgreiche Bearbeitung‘<br />

auf. Mit der Auswahl der vorgestellten Kinder wollen wir die große Bandbreite<br />

möglicher Probleme, ihrer Erkennung und den Versuch ihrer Bewältigung<br />

deutlich machen.<br />

1 TZI = Themenzentrierte Interaktion: Die gleichwertige Behandlung des ICH, des WIR und des ES, die (dynamische)<br />

Balance, die in Gruppenprozessen zwischen den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Möglichkeiten des<br />

Einzelnen, der Interaktion der Gruppe und deren inhaltlichen Aufgaben entstehen sollte, wird in der TZI in<br />

den Vordergrund gerückt. Näheres dazu ist z. B. in WILL-International 1998 nachzulesen.<br />

7


8<br />

<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />

Uta Görlich, seit 28 Jahren in der Eingangsstufe der Laborschule tätig, blättert in<br />

ihrer Beschreibung von Kim das weite Feld von Kulturen, von Migration und<br />

Sprachproblemen auf und den damit verbundenen Vorstellungen, Ansprüchen<br />

und Annäherungen.<br />

Paula G. Althoff, ebenfalls langjährige Lehrerin in der Eingangsstufe, beschreibt<br />

mit Lisa ein Kind, das langsam aber stetig – nach Erkennen seiner Schwierigkeiten<br />

und einer entsprechenden Förderung – sein Selbstvertrauen auch in die Bewältigung<br />

mathematischer Aufgaben steigern konnte, dessen Langsamkeit aber<br />

ein stetiger Problemfaktor bleiben wird.<br />

Mircea Radu, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fakultät für Mathematik und<br />

Kooperationspartner im Projekt, beschreibt seinen mühsamen, aber recht erfolgreichen<br />

Weg, Claudias ‚Erschütterungen‘ die ihr durch eine anderthalbjährige<br />

Grundschulzeit widerfahren sind, durch regelmäßige Förderung und Einzelzuwendung<br />

aufzufangen.<br />

Die beiden am Projekt beteiligten Studentinnen schildern ihre ‚spezielle‘, weil<br />

ausschnitthafte Herangehensweise an die Einzelförderung zweier SchülerInnen.<br />

<strong>Christine</strong> Huth arbeitet regelmäßig mit John, einem verschlossenen Viertklässler,<br />

der ebenfalls in einem uns sehr ‚fremden‘ Kulturkreis aufwächst. Auch ihn hat es<br />

erst nach über einem Jahr Grundschulzeit an die Laborschule geführt. In allen<br />

Lernbereichen zeigt er große Schwierigkeiten – besonders aber in der Mathematik.<br />

Bianca Beyer begleitet die jetzt 11-jährige Anna, auch eine Schulwechslerin nach<br />

einem Jahr Regelschule, seit fast zwei Jahren. Geduldig hält die studentische<br />

Förderin zunächst die ‚Launen‘ ihrer Förderschülerin aus. Aber auch hier zeigen<br />

sich nach Monaten der Beharrlichkeit, Zuwendung und gezielten Förderung erste<br />

Erfolge bei einem Mädchen, das zwischen Selbstüberschätzung, Unsicherheit und<br />

Vertuschung von Schwierigkeiten schwankt und bei dem vor allen Dingen große<br />

Konzentrationsprobleme vorliegen.<br />

Im letzten Fallbeispiel zeigt Brunhild Zimmer, über zwanzig Jahre Primar- und<br />

Sekundarstufenlehrerin an der Laborschule, ihre Förderarbeit mit Mike auf. Nach<br />

einem erfolglosen Jahr in einer Grundschule, einem Jahr Eingangsstufe der Laborschule<br />

ist er jetzt, als immerhin schon 12-Jähriger, in einer Gruppe gut aufgehoben,<br />

in der die Altersmischung von Jahrgang 3/4/5 erprobt wird (siehe Glossar).<br />

Mike ist ein besonders ‚schwieriger Fall‘, aber andererseits auch ein ermutigendes<br />

Beispiel für die Begleitung und Förderung sehr schwacher Schüler, die nie<br />

den ‚Stoff‘ ihrer entsprechenden Altersgruppe bewältigen werden.<br />

Dagmar Heinrich, Sonderpädagogin, schließt das Werkstattheft mit einem Beitrag<br />

über ihre ‚Mathe-Gruppe‘ im Jahrgang 4 und 5 ab. Sie macht in ihrem Text deutlich,<br />

wie sich die Sicht auf die einzelnen Kinder zu einem Gesamtbild zusammenfügt,<br />

ja fügen muss, da es eine Gruppe von 21 SchülerInnen zu unterrichten gilt.<br />

Dieses Spannungsfeld zwischen Einzelperson, Gruppe und Thema wird an ihrer<br />

Beschreibung zweier sehr unterschiedlicher Unterrichtsthemen veranschaulicht.


<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />

Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />

Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt zur Prävention<br />

von Rechenstörungen<br />

Ausgangslage: Mathematikunterricht an der Laborschule<br />

„Mathe: Mangelhaft! Setzen!“<br />

Das Lehren und Lernen von Mathematik ist allerorten ein viel diskutiertes Thema.<br />

In der SchülerInnenschaft teilt sich deutlich das Lager nach MathematikliebhaberInnen<br />

und MathematikhasserInnen. In keinem anderen Fach fallen schon in jungen<br />

Jahren viele Sätze wie „Dieses Fach werde ich nie begreifen!“, „Ich bin eben<br />

nicht für die Mathematik begabt!“, „Wozu braucht man das nur alles später?“.<br />

Aber alle SchülerInnen müssen sich zwangsläufig viele Jahre mit diesem Fach<br />

auseinandersetzen. Nach dem ‚TIMSS-Schock‘ ist sogar, zumindestens in Nordrhein-Westfalen<br />

die Möglichkeit, Mathematik in der gymnasialen Oberstufe abzuwählen,<br />

wieder abgeschafft worden. Ob dies allerdings der richtige Weg ist – einfach<br />

nur mehr Mathematikunterricht zu erteilen – sei dahingestellt. Andere Ansätze<br />

wie z. B. in den neuen Mathematikrichtlinien für die Gesamtschulen in<br />

Nordrhein-Westfalen, die verstärkt auf das Lernen in Sinnzusammenhängen und<br />

das problemorientierte Lernen setzen, scheinen da schon sinnvoller zu sein.<br />

Dies ist auch ein Weg, den die Laborschule seit vielen Jahren beschreitet. Mathematik<br />

sollte in den allerersten Planungen der Aufbaukommission gar nicht als<br />

eigenständiges Fach eingerichtet, sondern in den anderen Erfahrungsbereichen,<br />

insbesondere Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften, integriert unterrichtet<br />

werden. Aber schon im Band „Die <strong>Bielefeld</strong>er Laborschule – Allgemeiner<br />

Funktionsplan und Rahmen-Flächenprogramm“ (Hentig 1971) erscheint Mathematik<br />

als ausgewiesenes Fach, wenngleich mit einer geringeren Stundenanzahl<br />

als in der Regelschule, aber verknüpft mit dem Anspruch der Integration in die o.<br />

g. Erfahrungsbereiche. In den achtziger Jahren entstanden viele solcher integrierter<br />

Unterrichtseinheiten, vor allem für die Stufe III, einige wenige für die Stufen<br />

II und IV. Zumeist blieben diese Aufzeichnungen ‚graue‘, d. h. unveröffentlichte<br />

Papiere, einige wenige wurden veröffentlicht (<strong>Biermann</strong> 1986/ Schluckebier<br />

1988). Es war nicht so, dass die Lehrenden nicht immer wieder über ihren eigenen<br />

Unterricht nachdachten. So teilten z. B. Uli Bosse, Uta Görlich u. a. 1987 unter<br />

dem Titel „‚Nicht immer nur Papier‘ – Für einen konkreten, lebensnahen und<br />

Spaß machenden Mathematikunterricht“ dem Kollegium ihre Beobachtungen aus<br />

dem Mathematikunterricht in der Eingangsstufe mit, formulierten ihre Kritik – vor<br />

allen Dingen an ihrem eigenen Unterricht – und stellten am Ende Fragen zur Weiterarbeit<br />

an ihre Kolleginnen und Kollegen. So beschreiben sie den eigenen Mathematikunterricht<br />

und die daraus resultierende Haltung der Kinder folgendermaßen:<br />

„In ihren drei Eingangsstufenjahren haben unsere Kinder somit mehrere 100 Seiten<br />

mathematisch zu wälzen.“ [...] „Die Lust der Kinder an Mathe sinkt tendenziell im<br />

Laufe der 3 Eingangsstufenjahre mit der Menge der verarbeiteten Papiere. Durch<br />

klassische Mechanismen wie ‚Seitenabarbeiten‘ oder ‚Ins nächste Heft kommen‘,<br />

aber auch ‚Ich bin 5 Seiten weiter als Marlene‘ wird eine Grundmotivation aufrecht-<br />

9


10<br />

<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />

erhalten, die – neben den Anforderungen der Lehrerin – den Ablauf der täglichen<br />

Papierverarbeitung gewährleistet.“ [...] „Wir Lehrenden der 2. Fläche sind mit unserem<br />

Mathematikunterricht sehr unzufrieden. Wir glauben zwar, daß die meisten<br />

Kinder im Sinne der Übergangsqualifikationen den erforderlichen Stoff lernen. Wir<br />

fördern auch schwache Kinder nach besten Kräften. Allerdings fürchten wir, daß die<br />

Kinder nicht so recht wissen, was sie da tun – und wofür sie es tun“ (Bosse u. a.<br />

1987, S. 4ff.).<br />

Soweit eine sehr selbstkritische Schrift aus der Eingangsstufe. Diese Diskussion<br />

wurde im Hause leider nicht kontinuierlich weitergeführt.<br />

Mit der Umstrukturierung der wissenschaftlichen Arbeit 1989 stand die Forschungs-<br />

und Entwicklungsarbeit des Faches Mathematik von Anfang an mit im<br />

Vordergrund, nicht zuletzt weil alle Absolventenstudien seit 1980 (Schultz/von<br />

der Groeben 1985) belegen, dass viele LaborschülerInnen in den weiterführenden<br />

Schulen Schwierigkeiten mit diesem Fach haben. Und das ist bis zum heutigen<br />

Tage so geblieben: Die meisten Noten sinken ab, viele Inhalte fehlen, etliche<br />

SchülerInnen fühlen sich nicht genügend von der Laborschule ausgebildet (Meyer<br />

1999). Bestätigung in diese Richtung liefern auch die PISA-Daten der Laborschule<br />

aus dem Jahr 2002. Erreichten insbesondere unsere Schülerinnen gute Werte<br />

im Lesen und in der naturwissenschaftlichen Kompetenz, lagen die Ergebnisse<br />

sowohl für die Schülerinnen als auch Schüler für die Fähigkeiten in Mathematik<br />

eher niedrig.<br />

Anfang der 1990er-Jahre wurde für einige Jahre eine WissenschaftlerInnen-Stelle<br />

in der Wissenschaftlichen Einrichtung für das Fach Mathematik besetzt. „Kern der<br />

Arbeit war das Entwickeln neuer erfahrungs- und anwendungsorientierter Unterrichtseinheiten.<br />

Andererseits das Erstellen eines Minimalcurriculums, durch das<br />

die Verschränkung zwischen der Systematik des Mathematiklernens und den<br />

Formen seiner Vermittlung gewährleistet sein soll“ (Tillmann/Thurn 1995, S. 30).<br />

In dieser Zeit entstanden u. a. das „Kerncurriculum Mathematik für die Jahrgänge<br />

5–10“ (Heinrich 1993), einige Aufsätze zu Integrationsprojekten, wie z. B.<br />

„Mathematik und Müll“ (<strong>Biermann</strong> 1994) und ein Impulsband zum Thema „Lineare<br />

Funktionen“ (Wildt 1996).<br />

Ein Grundsatzproblem blieb aber nach all den Jahren intensiver Arbeit weiterhin<br />

bestehen: die Einbeziehung von Lehrenden anderer Erfahrungsbereiche und damit<br />

die Verankerung der Projekte im Laborschulalltag. Diese Frage wurde u. a.<br />

im FEP 1999/2001 von der Projektgruppe ‚Evaluation der Differenz zwischen institutionellem<br />

und realisiertem Curriculum in den Fächern Wahrnehmen und Gestalten<br />

und Mathematik‘ 1 bearbeitet.<br />

An offiziellen Veröffentlichungen aus der Primarstufe aber gibt es nur wenig: Eine<br />

kurze Erwähnung der Mathematik unter Kulturtechniken im „Schulalltag in der<br />

Eingangsstufe der Laborschule“ (Lenzen 1982). In diesem Band werden auch die<br />

oben angesprochenen Übergangsqualifikationen kurz benannt, die eher eine Auflistung<br />

von abstrakten Lernzielen darstellen (ebd., S. 125). Die Darstellung eines<br />

Konzeptes für den Mathematikunterricht der Stufe II, insbesondere die Verbindung<br />

integrierter Einheiten und ausgewiesener Kurse, findet sich schon ausführlicher<br />

im Band „Schulalltag in der Laborschule Stufe II“ (Lenzen u. a. 1986). Man<br />

kann als Resümee dieses kurzen historischen Exkurses zusammenfassen: Über<br />

Mathematik in der Primarstufe wurde weitgehend geschwiegen. Es bleiben Unsicherheiten<br />

bei den meisten Lehrenden: „Wir haben alle unsere Mathematikprob-<br />

1 Der Abschlussbericht dieses Projektes liegt bisher nur als Graues Material vor.


Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />

lemschülerInnen und wissen oft nicht weiter“ und „Wir haben schon lange keine<br />

Fortbildungen mehr gemacht“. Es war also an der Zeit, ein Mathematik-<br />

Primarstufenprojekt einzurichten.<br />

Soweit unsere Ausgangsüberlegungen zum Zeitpunkt unserer Projektplanung<br />

Ende 2000.<br />

Planung des Projektes<br />

Manchmal kommt eins zum anderen – und passt!<br />

Wilhelm Schipper, Hochschullehrer mit Erfahrungen als Lehrer, langjähriger Leiter<br />

der Beratungsstelle für Kinder mit Rechenstörungen am Institut für Didaktik<br />

der Mathematik, hatte nach vielen Jahren Praxis mit der Diagnose und Einzelförderung<br />

von SchülerInnen in eben dieser Beratungseinrichtung die Idee und das<br />

Interesse, diese Erkenntnisse im schulischen Feld auszuprobieren und zu evaluieren.<br />

Die der Universität angeschlossene Laborschule schien ihm dafür der richtige<br />

Ort zu sein. Auch Mircea Radu, ein Mitarbeiter aus seinem Arbeitszusammenhang,<br />

sah in der Theorie-Praxisverbindung eines solchen Forschungsprojektes ein<br />

interessantes Forschungs- und Einsatzfeld.<br />

Ich selbst, langjährige Mathematiklehrerin in der Primar- und Sekundarstufe der<br />

Laborschule, hatte schon bei meiner Bewerbung 1999 auf eine Stelle als Mitarbeiterin<br />

in der Wissenschaftlichen Einrichtung der Laborschule mein Interesse an<br />

einem Mathematikprojekt – vornehmlich in der Primarstufe – betont. Ich hatte<br />

zunächst in der Eingangsstufe, später in der Stufe II (3. und 4. Schuljahr) von<br />

1979 bis 1990 gearbeitet und in dieser Zeit einige Konzeptionsüberlegungen –<br />

vor allen Dingen für die Stufe II – formuliert (Lenzen u. a. 1986). Mein Anliegen<br />

war es schon während meiner Arbeit im Primarbereich, die Einbeziehung von<br />

mathematischen Inhalten in Projekten voranzutreiben, auszugestalten und zu<br />

dokumentieren (<strong>Biermann</strong> 1986 und 1995). Später, als Sekundarstufenlehrerin,<br />

habe ich insbesondere an dieser ‚Integration‘ weiter gearbeitet. Ich sah in ihr<br />

Chancen, den SchülerInnen auf der einen Seite den Sinn des Stoffes und die Anwendbarkeit<br />

deutlich zu machen und auf der anderen Seite in der Projektarbeit<br />

der Heterogenität der SchülerInnen durch sinnvolle, auf sie zugeschnittene Aufgaben<br />

besser gerecht zu werden. Der großen Heterogenität durch hoch individualisierte<br />

Arbeitsblattarbeit der SchülerInnen zu begegnen oder auch durch die<br />

Einteilung der Gesamtgruppe in feste Kleingruppen eine ‚innere Homogenisierung‘<br />

vorzunehmen, fand und finde ich bis heute keine Lösung. Dennoch blieben<br />

damals und sind auch heute noch für mich viele Fragen bezüglich eines guten<br />

Mathematikunterrichts offen. Diese wollte ich – zunächst in einem Primarstufenprojekt<br />

– angehen.<br />

Die wichtigsten Personen eines Forschungs- und Entwicklungsprojektes an der<br />

Laborschule sind die LehrerInnen2 . Nach ihrem Interesse an einem Mathematikprojekt,<br />

das in beiden Stufen der Primarstufe angesiedelt sein sollte, befragt,<br />

fanden sich sofort eine Reihe von InteressentInnen. Es schien uns Sinn zu machen,<br />

dass jeweils zwei Lehrerinnen aus der Eingangsstufe und der Stufe II in<br />

der FEP-Gruppe arbeiten sollten. Davon ‚outete‘ sich Paula Althoff als ausgesprochene<br />

Expertin, die schon seit einigen Jahren mit verschiedenen Methoden und<br />

Organisationsformen (z. B. dem ‚Mathetreff‘ auf ihrer Fläche) experimentiert hatte.<br />

Zwei andere Lehrerinnen – Uta Görlich, Betreuungslehrerin in der Eingangs-<br />

2 Näheres über das LehrerInnen-ForscherInnen-Konzeptes an der Laborschule ist bei Tillmann 1997 zu finden.<br />

11


12<br />

<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />

stufe, und Brunhild Zimmer, die während des Projektes im Rahmen der Doppelbetreuung<br />

in der Altersmischung 3/4/5 tätig ist und somit auch für die Förderung<br />

einzelner Kinder zuständig ist – unterrichten seit vielen Jahren Mathematik. Sie<br />

waren aber oft recht unzufrieden mit ihrer eigenen Arbeit und erhofften sich neue<br />

Impulse und mehr Effektivität durch neue Erkenntnisse und Diskussionen im Projekt.<br />

Dagmar Heinrich schließlich, die vierte im Bunde, ausgebildete Sonderpädagogin,<br />

sonst häufig im Rahmen des Integrationsschulversuches in der Doppelbetreuung<br />

eingesetzt 3 , unterrichtete seit einem knappen Jahr einen 3. Jahrgang<br />

in Mathematik. Sie hatte großes Interesse an Hinweisen für einen ‚guten‘ Mathematikunterricht<br />

und an Diskussionen von Unterrichtsprinzipien.<br />

Außerdem sollten zwei Studentinnen feste Mitarbeiterinnen in unserem Projekt<br />

werden. Neben ihren üblichen Hilfskraftaufgaben (Kopieren, Protokolle schreiben,<br />

Bibliographien erstellen) förderten sie jeweils drei Kinder regelmäßig ein- bis<br />

zweimal pro Woche. So diente das Projekt gleichzeitig im Rahmen der Primarstufenlehrendenausbildung<br />

als Theorie-Praxis-Feld. Waren sie in der Universität im<br />

Rahmen eines Seminars von Wilhelm Schipper zu ‚Förderinnen‘ ausgebildet worden,<br />

hatten sie im Projekt die Gelegenheit, das Gelernte anzuwenden, in ständigem<br />

Kontakt und Austausch mit den LehrerInnen ihre Einzelförderung mit dem<br />

Gesamtunterricht abzustimmen, ihre Arbeit zu diskutieren und zu dokumentieren.<br />

Ziele des Projektes<br />

Nach erster Problemsichtung und an den Interessen der Projektgruppe ausgerichtet<br />

legten wir folgende Ziele und Schwerpunkte für die Arbeit der kommenden<br />

zwei Projektjahre fest4 :<br />

Ziel des Projektes ist es einerseits, durch Einzeldiagnosen, daraus entwickelte<br />

Förderpläne und gezielte Fördermaßnahmen der Verfestigung von Rechenstörungen<br />

bei ‚gefährdeten‘ Kindern vorzubeugen. Diese Einzelförderung soll in der<br />

Schule und möglichst innerhalb der Lerngruppen stattfinden. Gleichzeitig sollen<br />

im Projekt Konzepte für einen Mathematikunterricht in der Primarstufe entwickelt<br />

und erprobt werden, die im Sinne einer allgemeinen Prävention nicht nur den von<br />

Rechenstörung bedrohten Kindern zugute kommen, sondern insgesamt zu einer<br />

Verbesserung des Mathematikunterrichts beitragen.<br />

Prävention<br />

Die beste präventive Maßnahme ist ein guter Mathematikunterricht. Wesentliche<br />

Eckpfeiler des geplanten Mathematikunterrichts können mit den Begriffen ‚Offenheit<br />

und Zielorientierung‘ gekennzeichnet werden. Beide Begriffe beziehen sich<br />

auf die inhaltliche, die methodische und die kommunikativ-interaktive Ebene5 des<br />

Unterrichts (vgl. Wielpütz 1994 und 1998 sowie Selter/Spiegel 1997 und Schipper<br />

2001). Eine solche nicht bloß organisatorische Öffnung von Mathematikunterricht<br />

ist mit einer klaren Zielperspektive zu verbinden. Sensibilität für kindliche<br />

mathematische Lernprozesse, die Offenlegung der Rechenwege durch die Lehrenden<br />

wie Lernenden und fachdidaktische Kompetenz, um die individuellen Vorgehensweisen<br />

der Kinder auf ihre Fortsetzbarkeit hin beurteilen zu können, sind<br />

3 Näheres über den integrativen Ansatz der Laborschule, den Schulversuch in der Primar- und Sekundarstufe<br />

und das Konzept der Doppelbesetzung und Beratung ist bei Demmer-Dieckmann/Struck 2001 nachzulesen.<br />

4 Im Folgenden Auszüge aus dem gemeinsamen Projektantrag (Althoff u. a. 2001)<br />

5 Diese drei Ebenen werden im Beitrag von Schipper in diesem Heft näher ausgeführt (siehe S. 25ff.).


Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />

daher zentrale Komponenten des Unterrichts. Das Wissen um typische Symptome<br />

für Rechenstörungen und die Fähigkeit, solche Symptome bei und mit den<br />

Kindern, z. B. durch Versprachlichung, identifizieren zu können, soll die Aufmerksamkeit<br />

der LehrerInnen von Anfang an auf in diesem Sinne gefährdete Kinder<br />

fokussieren.<br />

Diagnosen<br />

• An der Beratungsstelle des IDM ist ein System von Aufgaben entwickelt worden,<br />

mit dessen Hilfe eine Rechenstörung symptomatisch diagnostiziert werden<br />

kann. Auffällige Kinder sollen von MitarbeiterInnen des IDM, nebst den<br />

Studentinnen, unter Beteiligung der Lehrkräfte der Laborschule in der Eingangsstufe<br />

(hier in zwei Gruppen) und jeweils in einem 3. und 4. Schuljahr einer<br />

Diagnose unterzogen werden.<br />

• Außerdem sollen in zwei Gruppen der Eingangsstufe die Vorschulkinder mit<br />

einbezogen werden. Wir wollen ihre ersten mathematischen Schritte begleiten,<br />

dokumentieren, genauere Diagnosen durchführen und prüfen, ob sich evtl.<br />

schon früh Rechenstörungen zeigen.<br />

Förderung<br />

Auf der Grundlage der Diagnose wird von allen Beteiligten ein Förderplan für die<br />

betreffenden Kinder entwickelt. Wie muss der Unterricht und wie muss das Material<br />

angelegt sein, um diesen Kindern über ihre Schwierigkeiten hinweg zu helfen?<br />

Besondere Berücksichtigung muss dabei die offene, individuelle, selbstständige<br />

Arbeitsweise besonders in den altersgemischten Gruppen des Hauses I finden.<br />

Die Ergebnisse der Förderung werden laufend kontrolliert und wirken sich<br />

auf eine Rekonstruierung der Förderpläne aus.<br />

Aus der gezielten Förderung dieser Kinder mit Rechenstörungen wollen wir dann<br />

in einem weiteren Schritt allgemeine Prinzipien und Konzepte für einen präventiven<br />

Mathematikanfangsunterricht ableiten. Die oben beschriebenen Bedingungen<br />

in einem offenen, individualisiertem Unterricht sind dabei besonders im Fokus.<br />

Schulinterne Fortbildung<br />

Diese Schritte, die wir natürlich zunächst innerhalb der Projektgruppe beraten,<br />

planen und anschließend in den vier beteiligten Gruppen (jeweils zwei in der StufeI<br />

und der Stufe II) durchführen und dokumentieren wollen, sollen auch in mindestens<br />

zwei schulinternen Fortbildungen mit den KollegInnen der Stufen I und II<br />

diskutiert werden. Die betreffenden KollegInnen beider Stufen haben ihre Einbeziehung<br />

ausdrücklich gewünscht. Damit wollen wir eine langfristige Implementation<br />

in den Mathematikunterricht erreichen.<br />

Durchführung des Projektes<br />

Soweit die Planungen im Vorfeld des Projektes. Zu allen vier Schwerpunkten hat<br />

die Projektgruppe in der bisher anderthalbjährigen Arbeitsphase gearbeitet:<br />

Prävention<br />

Unter diesen Schwerpunkt fallen die Diskussionen des FEPs zum Für und Wider<br />

bestimmter Prinzipien einer ‚spezifischen‘ Laborschuldidaktik und -methodik des<br />

Mathematikunterrichts, wie z. B. individuelles Lernen und gemeinsames Lernen,<br />

Offenheit und Zielorientierung, Selbstständigkeit, Materialanleitung etc. Außer-<br />

13


14<br />

<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />

dem haben sich die Projektmitglieder mit einem ‚Kerncurriculum Mathematik für<br />

die Primarstufe‘ beschäftigt. Die Kernzieldiskussion soll mit einer ‚Wiederbelebung‘<br />

der Diskussion der Übergangsqualifikationen von der Eingangsstufe in den<br />

3. Jahrgang verknüpft werden.<br />

Diagnosen und Förderung<br />

Nach Lehrerinnennennung wurden aus den vier beteiligten Gruppen der Stufen 1<br />

und 2 insgesamt zehn Kinder in der Beratungsstelle der Universität überprüft.<br />

Neun davon kamen in die Einzelförderung, die von den beiden beteiligten Studentinnen,<br />

<strong>Christine</strong> Huth und Bianca Beyer, von Brunhild Zimmer und Mircea<br />

Radu vom IDM seit Herbst 2001 durchgeführt wird. Im Herbst 2002 wurde bei<br />

allen neun Kindern ein zweites Mal eine Diagnose durchgeführt. Eine Förderung<br />

(dieses Mädchen ist inzwischen von Stufe I in Stufe II übergegangen) kann<br />

(weitgehend) als abgeschlossen gelten. Bei allen acht anderen Kindern läuft die<br />

Förderung noch. Vier weitere Kinder sind Ende 2002 getestet und in die Förderung<br />

aufgenommen worden. Jede Einzelförderung wird mit Förderplänen begleitet,<br />

mit Protokollen dokumentiert und immer wieder von der gesamten FEP-<br />

Gruppe diskutiert. Für die ‚typischen Fälle‘, die in diesem Heft dargestellt sind,<br />

hat es eine umfassende Datenerhebung und -sammlung durch alle beteiligten<br />

Personen gegeben:<br />

Datensamlung durch die Lehrerin:<br />

Arbeitsprodukte des Kindes – Einzelblätter, Arbeitshefte, Gruppenprodukte<br />

etc.<br />

Fotos<br />

Beurteilungskopien<br />

Notizen von Gesprächen mit den Eltern, anderen LehrerInnen, ÄrztInnen,<br />

PsycholgInnen u. a.<br />

Forschungstagebuch, in das u. a. Auffälligkeiten und Anekdoten eingetragen<br />

werden<br />

Datensammlung durch die ‚FörderIn‘ (kann Lehrerin, Studentin, wiss. Mitarbeiter<br />

sein):<br />

Evtl. weitere Gesprächsprotokolle mit anderen LehrerInnen, Eltern etc.<br />

Arbeitsprodukte des Kindes aus den Förderstunden<br />

Förderpläne<br />

Protokolle der Förderstunden<br />

Datenerhebung durch die Universität (‚Große‘ Überprüfung):<br />

Schriftliche Testunterlagen<br />

Protokoll und Empfehlungen zur weiteren Förderung<br />

Videoaufzeichnung<br />

Datenerhebung durch die Studentinnen (OTZ = Osnabrücker Test zur Zahlentwicklung):<br />

Schriftliche Unterlagen<br />

Protokoll, Auswertung und Empfehlung zur Förderung<br />

Datensammlung in den Projektsitzungen:<br />

Protokolle über Diskussionen und Empfehlungen zu den einzelnen Kindern


Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />

Im ersten Projektjahr sind alle acht neuen Vorschulkinder aus den beiden beteiligten<br />

Gruppen in der Eingangsstufe mit dem Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung,<br />

kurz OTZ (Van Luit u. a. 2001, siehe Glossar) genannt, im Herbst<br />

2001 überprüft worden. Drei der acht Kinder mussten von ihren Testergebnissen<br />

her als ‚Risikokinder‘ angesehen werden. Sie wurden während ihres Vorschuljahres<br />

besonders aufmerksam begleitet. Nach einer zweiten Diagnose im Herbst<br />

2002 wurde entschieden, dass eines dieser Kinder in die gezielte, zusätzliche<br />

Einzelförderung übernommen werden soll. Im Herbst 2002 wurden wiederum alle<br />

neuen Vorschulkinder, diesmal waren es zehn Kinder, getestet. Keines dieser<br />

Kinder zeigte zu diesem Zeitpunkt auffällige Anfangsprobleme im mathematischen<br />

Verständnis.<br />

Schulinterne Fortbildungen<br />

Bisher fanden drei LehrerInnenfortbildungen für die KollegInnen der Stufen 1<br />

und 2 statt:<br />

• Im Frühjahr 2001 – vor dem eigentlichen Projektstart – breitete Wilhelm<br />

Schipper auf einer gemeinsamen Ganztagsfortbildung die Diskussion um die<br />

Thematik ‚Rechenstörung‘, z. B. die Dyskalkuliediskussion, aus und stellte die<br />

Diagnose- und Fördermaßnahmen der Beratungsstelle des IDM vor.<br />

• Im Laufe des Jahres 2002 führten nun die beiden ‚Stufenpaare‘ in einer Pädagogischen<br />

Konferenz im Haus 1 und in einer Stufe-2-Sitzung in die Handhabung<br />

geeigneter Rechenmaterialien ein.<br />

• Wiederum in einer gemeinsamen Sitzung beider Stufen wurden am 14.1.2003<br />

anhand zweier Fallbeispiele die Grundsätze der Diagnose und Förderung einzelner<br />

auffälliger Kinder im Projekt deutlich gemacht.<br />

• Für den Juli 2003 ist eine abschließende gemeinsame Konferenz beider Stufen<br />

zu Unterrichtsprinzipien, Kernzielen und Übergangsqualifikationen geplant.<br />

Im nächsten Kapitel nun soll insbesondere der Schwerpunkt ‚Prävention‘ beleuchtet<br />

werden. Es soll andiskutiert werden, welche Aspekte zu einem guten und damit<br />

präventiven Mathematikunterricht beitragen können.<br />

Einige Gedanken zu einem guten Mathematikunterricht<br />

Ich bin wichtig und wir sind wichtig<br />

Und die Sache, um die‘s geht, ist wichtig<br />

Und das Umfeld, das Universum sind wichtig.<br />

Und diese Punkte als gleichgewichtig zu behandeln,<br />

in jeder Gruppe und in einem selber,<br />

das ist die Aufgabe.<br />

(Ruth Cohn)<br />

Das deutsche Bildungssystem kann im Vergleich z. B. zu den ‚PISA-<br />

GewinnerInnen‘ als rückständig bezeichnet werden: Es setzt weiterhin auf das<br />

Sortieren und Selektieren von SchülerInnen – deren Aufteilung auf verschiedene<br />

Schulformen ab dem 4. Schuljahr. Noch immer glauben viele PolitikerInnen, Eltern,<br />

Lehrenden, mit der Homogenisierung von Leistungsgruppen das Optimale –<br />

an Stofffülle? an Bildung? – zu erreichen. Sie sortieren in verschiedene Schulen,<br />

in den Schulen wiederum in Grund- und Ergänzungskurse, in Leistungskurse, in<br />

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<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />

Förder- und Forderkurse, in Profilklassen und wie die verschiedenen äußeren Differenzierungsgruppen<br />

alle heißen mögen. Wo das alles nicht hilft, selektieren sie<br />

vom Gymnasium in die Real- oder Gesamtschule, von dort in die Hauptschule<br />

und auch von diesem Punkt geht es noch weiter nach unten in die Sonderschule.<br />

Selten übrigens in diesem System wird nach oben ‚geschoben‘ (Bellenberg/<br />

Klemm 2000). Und was bringt den Beteiligten diese angebliche Homogenisierung<br />

der Unterrichtsgruppen? Jedenfalls keine guten PISA-Ergebnisse. Viele Länder<br />

mit einer Einheitsschule während der Pflichtschulzeit für alle SchülerInnen stehen<br />

auf den ersten Rängen, während Deutschland in allen Bereichen (Lesekompetenz,<br />

mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen) unter dem<br />

OECD-Durchschnitt liegt (Deutsches PISA-Konsortium 2001). Die Grundschulen –<br />

bei uns noch die einzigen Schulen für (fast) alle Kinder – bleiben nicht unberührt<br />

von der Sortierung. Schon früh rufen die Eltern nach Noten und Tests, finden alle<br />

Beteiligten, bis auf die integrativ geführten Schulen, das Selektieren in die Sonderschule<br />

vernünftig und diskutieren viel zu früh die Sortierung in die weiterführenden<br />

Schulen. Dennoch beweisen sie z. B. in der Vergleichsuntersuchung IGLU<br />

(Bos u. a. 2003), dass die gemeinsame Unterrichtung aller Kinder, ohne äußere<br />

Leistungsdifferenzierung, möglich ist und sogar recht vorzeigbare Ergebnisse<br />

erbringen kann. Soweit eine kurze, nicht gerade ermutigende Analyse des deutschen<br />

Schulsystems.<br />

Was wäre ein erfolgversprechenderes Modell?<br />

• Eines, das nicht an homogene Gruppen ‚glaubt‘, sondern die Heterogenität, die<br />

in allen Gruppen entsteht, zunächst akzeptiert, ja als Bereicherung nutzt.<br />

• Eines, das die individuellen Wege jedes einzelnen Kindes und Jugendllichen<br />

verfolgt und unterstützt.<br />

• Und eines, das Schule durch die Auswahl ‚sinnstiftender Inhalte‘ (Jahnke-Klein<br />

2001), durch vielfältige Methoden und eine unterstützende Lernkultur zu mehr<br />

als einem Aufbewahrungs- und ‚Stundenabsitzer‘-Ort macht.<br />

Wie setzt die Laborschule diese Ansprüche für ihren Mathematikunterricht in der<br />

Primarstufe um? Wo gibt es noch Verbesserungsmöglichkeiten? Am Beispiel<br />

wichtiger Prinzipien der Eingangsstufendidaktik soll dies verdeutlicht werden. (Einen<br />

Eindruck vom Mathematikunterricht in der Stufe II gibt der Beitrag von<br />

Dagmar Heinrich in diesem Heft).<br />

In der Laborschule lernen die Vorschulkinder, sie werden auch liebevoll als ‚Nuller‘<br />

bezeichnet, die ‚Einer‘ und die ‚Zweier‘, die Kinder, die sich im zweiten oder<br />

dritten (manchmal auch vierten) Jahr in der Eingangsstufe befinden, zusammen<br />

in einer altersgemischten Gruppe (siehe Gloassar ‚Altersmischung‘). Mathematisches<br />

Lernen findet in diesen Gruppen an vielen Stellen statt:<br />

• Z. B. bei einigen Kindern schon ganz früh am Morgen – zwischen 8 und 8.30<br />

Uhr – in der Zeit des gleitenden Schulanfangs. Hier holen sich Kinder allein<br />

oder mit PartnerInnen ein Mathematikspiel vom ‚Mathewagen‘ (siehe Glossar),<br />

arbeiten schon in ihren Arbeitsheften oder setzen sich vor den Computer und<br />

üben mit dem ‚Matheland‘, einer CD-Rom (Cornelsen).<br />

• In der sich anschließenden kleinen Versammlung wird zunächst das Datum<br />

genannt und aufgeschrieben, in einigen Gruppen wird auch das Wetter mit<br />

Temperatur- und Windmessungen verfolgt. Meist gibt es in dieser Zusammenkunft<br />

schon die ersten Aufgaben aus der Alltagsmathematik zu lösen. Einige<br />

Kinder – nicht unbedingt nur die Vorschulkinder – schauen mit großen Augen


Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />

auf diese Aufgaben, andere – nicht nur die Zweier – steigern ihr Ego, weil sie<br />

alles ganz schnell durchblicken. Niemand stöhnt über die zu schwere oder zu<br />

leichte Aufgabe. Die einen sehen, dass andere es gelernt haben, sie zu lösen<br />

und diese wiederum erinnern sich an die Zeiten, in denen sie die Rechenwege<br />

und Lösungen auch noch nicht kannten – und bleiben geduldig. In der Versammlung<br />

wird noch schnell der Tagesablauf geklärt – Uhrzeiten spielen eine<br />

Rolle. Es wird das Frühstück geplant – das benötigte Geld für die Milch wird<br />

gezählt.<br />

• Jetzt beginnt die Arbeitszeit.<br />

Zunächst holt sich jedes Kind<br />

sein Mathematikarbeitsbuch<br />

aus dem eigenen Fach. Es<br />

bearbeitet die nächsten Seiten,<br />

holt sich Hilfe von anderen<br />

Kindern oder seiner Lehrerin.<br />

Meist hat es zu den Übungen<br />

eine Einführung im ‚Mathetreff‘<br />

(siehe Glossar), der in bestimmten<br />

Wochen zwei-, dreimal<br />

in der Woche stattfindet,<br />

oder in einer Teilgruppe von<br />

der eigenen Lehrerin erhalten.<br />

Hier hat es gelernt, wie man<br />

mit dem Rechenrahmen richtig<br />

arbeitet (vgl. Beitrag von<br />

Schipper in diesem Heft, S.<br />

41), kennt jetzt die Methode<br />

des ‚Schnellen Sehens‘ (vgl.<br />

ebd., S. 38) und wendet sie in<br />

der PartnerInnenarbeit mit anderen<br />

an, hat gute Strategien<br />

bei Additions- und Subtraktionsaufgaben<br />

gelernt und übt<br />

sie zunächst einmal allein<br />

u.v.m.<br />

Die gemeinsame Arbeitszeit ist geprägt durch eine rege, ruhige Atmosphäre,<br />

in der möglichst alle Kinder mit einer von ihnen mehr oder weniger frei gewählten<br />

Aufgabe selbstständig arbeiten. Oft bieten diese Materialien die Möglichkeit<br />

der Selbstkontrolle, so dass die Lehrerin weitgehend ‚überflüssig‘ wird<br />

– vor allen Dingen für die Kinder, die keine Probleme mit dem Lernen haben.<br />

Es herrscht ein selbstverständliches HelferInnensystem – die Kleinen lernen<br />

von den Großen. Manchmal ziehen allerdings die Jüngeren mit ihren Kenntnissen<br />

und Fortschritten an den Älteren vorbei. Oft, aber nicht immer, wird das<br />

mit Bewunderung und nicht mit Neid oder Mutlosigkeit bedacht.<br />

• In der Gruppenzeit nach dem Frühstück gibt es neben sportlichen Aktivitäten<br />

Projekt- bzw. Sachunterrichtsphasen. Hier werden, allerdings noch viel zu selten,<br />

mathematische Inhalte in Projekte eingebunden. Besonders mit dieser<br />

Methode, die Aspekte wie Sinnhaftigkeit, Demokratie, Teamwork, Produktorientierung<br />

u. v. m. beinhaltet, kann in extrem heterogenen Gruppen, wie die<br />

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<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />

der Eingangsstufe, die individuelle ‚Passung‘ für jedes einzelne Kind erreicht<br />

werden6 .<br />

Die Gruppen der Eingangsstufe – genauer die Lehrerinnen – arbeiten insgesamt<br />

sehr unterschiedlich. Sie unterscheiden sich in der mehr oder weniger systematischen<br />

Anleitung von Kleingruppen, z. B. bei der Einführung von Inhalten, Methoden<br />

und Arbeitsmitteln innerhalb eines gruppenübergreifenden Mathetreffs, arbeiten<br />

mit und ohne Wochenplan, verwenden unterschiedliche Mathematikbücher<br />

und -arbeitshefte, binden bewusst mathematische Inhalte in kleine Projekte ein<br />

oder haben dies bisher noch nicht ausprobiert.<br />

Individualisieren – der Blick auf das einzelne Kind<br />

Doch in einer Sache sind sich alle Eingangsstufenlehrerinnen einig: Das einzelne<br />

Kind steht vom Tag seiner Einschulung an im Fokus der Entscheidungen der LehrerInnen<br />

über Inhalte, Methoden, Arbeitsmitteleinsatz, spezifische Förderung,<br />

Leistungsmessung und -rückmeldung u. v. m. Das einzelne Kind wird ernst genommen,<br />

dort abgeholt, wo es steht und dort hingeführt, wo es optimal seine<br />

Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz entwickeln kann. Die Wellenbewegungen<br />

seines Lernwillens und -vermögens, seine Anstrengungsbereitschaft, Konzentration<br />

und damit seine Erfolge wie Misserfolge werden beobachtet und zunächst<br />

akzeptiert. Manchmal gilt es allerdings nicht nur Angebote zu machen und abzuwarten,<br />

bis die Kinder diese Lernangebote annehmen. Einige SchülerInnen entwickeln<br />

Blockaden, die sie unfähig machen, auch nur die einfachsten Dinge<br />

selbstständig anzufassen. Ein Mehr an mathematischer Diagnosefähigkeit – natürlich<br />

verbunden mit Kenntnissen über die wichtigsten Inhalte, entsprechende<br />

Methodik und Didaktik (vgl. S. 15ff.) – führt zu mehr Sicherheit der Lehrenden<br />

bei der individuellen Förderung. Häufen sich ‚Problemkinder‘ in einer Gruppe,<br />

werden auch schon mal Grenzen der integrativen Förderung erreicht. Einzelne,<br />

besonders schwache Kinder benötigen manchmal über einen gewissen Zeitraum<br />

Einzelförderung, wie die Fallbeispiele in diesem Heft zeigen. Wie unsere Beispiele<br />

auch zeigen, reagieren diese Kinder positiv auf die Einzelförderung, weil sie sehr<br />

rasch deutliche Fortschritte in ihrem Kenntniserwerb sehen und damit an Selbstvertrauen<br />

gewinnen. Unsere ‚Ängste‘, dass sie sich schämen würden, weil sie<br />

über begrenzte Zeiträume eine erwachsene ‚HelferIn‘ an die Seite bekommen,<br />

waren und sind in den meisten Fällen unbegründet. Alle Kinder einer Gruppe<br />

kennen die Leistungsfähigkeit aller Kinder sehr genau. Somit geht es tagtäglich<br />

um die Frage, wie wer was lernt.<br />

Die schwierigere Frage ist die nach der Machbarkeit von Einzelförderung. Wie<br />

dies letztlich sowohl für die Laborschule als auch für Regelschulen zu organisieren<br />

ist, bedarf mehrerer Antworten. Andere Länder, z. B. die Niederlande, machen<br />

gute Erfahrungen mit einer gezielten, auf Diagnose beruhenden, zeitlich<br />

begrenzten Einzelförderung (Kats 2001). Anstatt ein Kind in die Sonderschule<br />

auszusortieren – immerhin vier unserer sechs beschriebenen Fälle stand dies in<br />

der Regelschule bevor – könnten verschieden abgestufte Modelle einer integrativen<br />

Förderung probiert werden. Es muss nicht in allen Gruppen sofort die Doppelsetzung<br />

von Lehrkräften sein, wie sie Integrationsschulen bzw. -gruppen berechtigterweise<br />

erhalten.<br />

6 Mehr über das Konzept des Projektunterrichts in der Eingangsstufe – allerdings ohne Beispiele für die Einbindung<br />

von Mathematik – ist bei Deterding u. a. 1997 nachzulesen.


Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />

‚Sozialisieren‘ – die Arbeit mit der ganzen Gruppe<br />

„Sozialkompetenz als Ziel schulischer Bemühungen bedeutet kompetentes, (mit-)<br />

verantwortliches Handeln eines Einzelnen in einer Gemeinschaft, wobei sich eine<br />

entsprechende Mitmenschlichkeit und Verantwortlichkeit gegenüber dem gesamten<br />

Umfeld am ehesten entwickelt, wenn man sich und andere als eigenständige, sich<br />

möglichst selbst regulierende Individuen akzeptiert und durch demokratische Formen<br />

ein verantwortungsbewusstes und fürsorgliches Miteinander praktiziert“ (Peschel<br />

2002, S. 159).<br />

Die wichtigsten Aspekte einer umfassenden Sozialerziehung sind hiermit benannt.<br />

Die Schule stellt einen sozialen Raum für alle dar. Genauso wie die Kinder<br />

den Sinn ihres Lernens erfassen, Wissenserwerb für eine spannende, sich lohnende,<br />

nie endende Sache betrachten (sollen), so müssen sie auch die Notwendigkeit<br />

eines sozialen Miteinanders begreifen. Die Vorschulkinder der Laborschule<br />

kommen in ein System, in dem es zwar schon ‚Regeln‘ gibt, wo aber immer wieder<br />

das Miteinander aller – der Kinder wie Erwachsenen – neu ausgehandelt werden<br />

muss. Gerade sind – zwei Tage nach den Sommerferien – die ‚Zweier‘ ins<br />

‚große Haus‘ übergegangen und die ‚Einer‘ zu Großen und damit Paten für die<br />

ganz Kleinen geworden. Viel lernen die ‚Nuller‘ anfangs durch Abschauen und<br />

Hineinwachsen, aber auch durch Auseinandersetzung mit den Regeln. Warum<br />

müssen die Materialien immer wieder an denselben Ort gestellt werden? Wieso<br />

darf man in der Arbeitszeit nicht über die Fläche toben? Wieso soll man zunächst<br />

seinen Tischpartner fragen und nicht sofort zur Lehrerin eilen?<br />

Das Anfangszitat sagt etwas sehr Wichtiges darüber, wie Individuum und Gruppe<br />

miteinander verbunden sind. Wer sich selbst wichtig nimmt und schätzt, dem<br />

gelingt das Akzeptieren der anderen am besten. Unglückliche Kinder ohne<br />

Selbstbewusstsein können nur wenig zum Gruppengefüge beitragen. Fürsorglich<br />

kann nur der sein, der Fürsorge erfährt. Eine Lehrerin, die schon vor der Einschulung<br />

Hausbesuche macht, weiß mit welchem ‚Päckchen‘ manche Vorschulkinder<br />

in die Schule kommen. Sie weiß, dass es manchmal lange dauern wird – oder<br />

auch nicht gelingt –, bis ein Kind ‚gruppenfähig‘ geworden ist und dass es diese<br />

Kompetenz auch wieder ‚verlieren‘ kann. Wichtige Faktoren, die zum sozialen<br />

Lernen beitragen, sind die regelmäßige, gleichberechtigte Kommunikation der<br />

Kinder untereinander, die Mitbestimmung von Lerninhalten und gemeinsamen<br />

Vorhaben, die Transparenz der Bewertungen, Rituale, die Fürsorge und Anerkennung<br />

deutlich machen, wie z. B. Geburtstagsfeste, Einschulungs- und Ausschulungsfeiern,<br />

Patenschaften etc. Gemeinsames Problemlösen zum Beispiel im Mathematikunterricht<br />

führt zu der Erkenntnis, dass Teamarbeit sinnvoll ist. Gemeinsame<br />

Produkterstellung im Projekt und anschließende Präsentation vor den Eltern<br />

macht die Einzelleistung als Teil einer Gruppenarbeit wichtig. Das Helfen<br />

untereinander in heterogenen Gruppierungen fördert alle Beteiligten – die HelferInnen,<br />

die durch die Didaktisierung die Sache noch einmal besser verstehen lernen,<br />

und die anderen, die Hilfe annehmen können und denen Fragen durch kompetentere<br />

MitschülerInnen erläutert werden.<br />

Für den Mathematikunterricht stellen sich in diesem Zusammenhang folgende<br />

Fragen: Wieviel Individualisierung ist wichtig? Wo ist das Lernen mit und in der<br />

Gruppe sinnvoller? Welche Voraussetzungen in einer Gruppe ermöglichen erst<br />

guten Mathematikunterricht? Wo liegen die besonderen Probleme in der Gruppenfindung?<br />

Dagmar Heinrich beantwortet diese Fragen zum Teil mit der Darstellung zweier<br />

sehr unterschiedlicher Unterrichtsthemen in einem 4. und 5. Schuljahr. Es blei-<br />

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<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />

ben Fragen offen nach nur schwer integrierbaren SchülerInnen, die ganze Gruppen<br />

durcheinander bringen können. Immer wieder gibt es SchülerInnen, die verstummen,<br />

weil sie (vermeintlich) nicht gemocht werden oder solche, die sich nur<br />

schwer in die Kommunikation begeben können, weil sie die gemeinsame Sprache<br />

nicht gut genug beherrschen. Und auch schon in der Primarstufe gibt es Mädchen<br />

und Jungen, die glauben, Mathematik wäre ein Berg, den sowieso nur die ganz<br />

Schlauen bezwingen können. Manche Mädchen, schon im Grundschulalter,<br />

schreiben das Rechnen als männliche Domäne ab und damit weg von sich. Sie<br />

haben vielleicht von ihren Müttern, Großmüttern, Tanten gehört, dass auch für<br />

sie die Mathematik ein ‚Buch mit sieben Siegeln‘ gewesen ist. Und in Mathematik<br />

zu versagen, ist gesellschaftlich immer noch akzeptierter als nicht schreiben und<br />

lesen zu können – und wird damit weniger genau beachtet.<br />

Didaktisieren – die Bedeutung von Inhalt, Methode und<br />

Unterrichtskultur<br />

Wilhelm Schipper schreibt in diesem Heft (und das nicht zum ersten Mal): „Die<br />

beste Prävention von Rechenstörungen besteht – so banal das klingt in einem<br />

guten Mathematikunterricht“. An dieser Stelle soll der letzte Punkt des TZI-<br />

Dreiecks – die ‚Sache‘ – ergänzt werden Hierzu werden die Aspekte ‚Inhalte, Methoden<br />

und Unterrichtskultur‘ kurz angerissen. Sie stellen ebenso Eckpfeiler eines<br />

guten, präventiven Mathematikunterrichts dar wie die schon ausgeführten Punkte<br />

‚Individuum‘ und ‚Gruppe‘.<br />

Jahnke-Klein fasst die Ergebnisse ihrer Befragung von Schülerinnen und Schülern<br />

über den erlebten Mathematikunterricht in der Sekundarstufe I folgendermaßen<br />

zusammen:<br />

• „Sowohl die befragten Schülerinnen als auch die befragten Schüler waren angetan;<br />

• von Mathematikunterricht, der die Vielfalt der Dimensionen von Mathematik lebendig<br />

werden ließ;<br />

• von Mathematikunterricht, in dem die empirische Basis der Mathematik einbezogen<br />

und dementsprechend mit ‚Kopf, Herz und Hand‘ gelernt wurde;<br />

• von kooperativen Arbeitsweisen, wie z. B. Gruppenunterricht;<br />

• von Phasen der Ruhe und Konzentration;<br />

• von einer angenehmen Unterrichtsatmosphäre, verursacht durch ‚lockere‘ und nette<br />

LehrerInnen sowie kooperative und hilfsbereite MitschülerInnen“ (Jahnke-Klein 2001,<br />

S. 220).<br />

Diese Vorschläge der Schülerinnen und Schüler greift sie in ihrem Konzept eines<br />

‚Sinnstiftenden Mathematikunterrichts‘ auf:<br />

• „‚Sinnstiftender Mathematikunterricht‘;<br />

• versucht ein ganzheitliches Bild von der Mathematik zu zeichnen; [...]<br />

• ersetzt die bisherige methodische Monokultur des Unterrichts durch methodische Vielfalt;<br />

[...]<br />

• verlangt eine sinnstiftende Unterrichtskultur“ (ebd., S. 250).<br />

Mathematik ist nicht nur Rechnen. „Die Vielfalt der Dimensionen von Mathematik<br />

sollte im Unterricht sichtbar werden“ (ebd., S. 225f.). Für den Grundschulunterricht<br />

zeichnen sich für mich folgende Felder ab:<br />

1. Die formale, ‚reine‘ Mathematik, die Fertigkeiten und Fähigkeiten in Arithmetik,<br />

Geometrie und Größen vermittelt: Hier sollte allerdings weniger mehr sein,<br />

d. h. die Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschulen sollten auf einen


Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />

‚Kern‘ reduziert werden (in Nordrhein-Westfalen ist dies in Arbeit). Wir haben<br />

in unserem Projekt ebenfalls damit begonnen 7 .<br />

2. Eine Alltagsmathematik, die so oft wie möglich versucht, Erscheinungen, Erlebnisse,<br />

Vorhaben, Handlungen zu mathematisieren: Dies wurde schon bei<br />

der Beschreibung des Unterrichts in der Eingangsstufe (vgl. S. 16ff.) näher<br />

ausgeführt. Einerseits lernen die Kinder Rechenverfahren aus der Alltagsmathematik<br />

und sie wenden diese Fertigkeiten in ‚Alltagssituationen‘ wieder an.<br />

Nicht gemeint sind im übrigen sogenannten Textaufgaben, deren Sinnzusammenhänge<br />

den Kindern oft nicht klar sind und ihnen den Zugang zum eigentlichen<br />

Anwenden ihrer Fertigkeiten eher versperren als dass sie eine Sache<br />

deutlicher machen.<br />

3. Fächerübergreifende Projekte, die Probleme aufwerfen, die einer mathematischen<br />

Herangehensweise bedürfen 8 : Gute Beispiele gibt es im Themenbereich<br />

der Größen. Beim Bauen eines Käfigs müssen Bretter gekauft, also vorher<br />

vermessen werden. Wie macht man das? Hier könnte die historische Dimension<br />

mit einfließen. So könnte man zunächst ohne Maßband arbeiten. Es könnten<br />

verschiedene Verfahren, z. B. das Messen mit den Füßen, Armen, Händen<br />

probiert und für genau und genauer erklärt werden. Handlungs- und Produktorientierung<br />

sind weitere wichtige Aspekte der Projektarbeit.<br />

7 Unsere Kernzielformulierungen für die Bereiche Arithmetik, Geometrie und Größen/Sachrechnen (Jg. 0 bis 4)<br />

sind im Anhang zu finden.<br />

8 PISA hat dies als Modellieren bezeichnet (Deutsches PISA-Konsortium 2001).<br />

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<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />

Damit wären wir mitten in der Methodendiskussion. Jahnke-Klein fasst zusammen:<br />

„Wünschenswert ist ein Gleichgewicht von individualisierendem, moderiertem<br />

und lehrgangsförmigen Unterricht“ (Jahnke-Klein a.a.O., S. 299).<br />

Die Bedeutung, die dem Individuum zukommt, ist bereits an anderer Stelle ausgeführt<br />

worden. SchülerInnen lernen unterschiedlich. Also brauchen sie auch<br />

zeitweise Phasen, in denen sie allein lernen: In Ruhe, mit sich selbst erklärenden<br />

Aufgaben, möglichst mit Selbstkontrolle. Das gelingt z. B. mit guten Arbeitsheften,<br />

mit Freiarbeitsmaterialien, mit kleinen interaktiven Computerprogrammen.<br />

Einzelarbeit ist auch deshalb wichtig, weil ‚Abhängigkeiten‘ von HelferInnen damit<br />

gelöst und eigenständiges Arbeiten noch einmal verstärkt wird.<br />

Daneben sollten eher durch die Lehrperson angeleitete Phasen stehen. Das kann<br />

bei der Einführung in ein neues Themen ein guter Vortrag der LehrerIn sein.<br />

Auch das ‚Geschichtenerzählen‘ stellt eine für die SchülerInnen oft sehr nachhaltige<br />

Vortragsform dar (Meyer 1989, S. 302ff.).<br />

Und als drittes seien die verschiedensten Formen von Zusammenarbeit der SchülerInnen<br />

noch einmal zusammengefasst: die Tischgruppenarbeit, bei der mehrere<br />

SchülerInnen an einer Sache arbeiten, verschiedene Formen aktivierenden Unterrichts,<br />

z. B. Stationenlernen, gemeinsame Langzeitaufgaben (Meisner 1999),<br />

Mathematikspiele, Vorbereitung von Paaren oder kleinen Gruppen auf ein mathematisches<br />

Referat u. v. m.<br />

Alle Methoden sollten eine hohe Versprachlichung einschließen: Die einzelnen<br />

SchülerInnen erläutern ihre Arbeit und machen dadurch z. B. auf ‚Fehlerwege‘<br />

aufmerksam. Die Lehrperson hält nicht nur einen Vortrag, sondern leitet ihn in<br />

ein Gespräch über. Die Arbeitspaare und -gruppen halten kleine Referate, erläutern<br />

Plakate, zeigen kleine mathematische Experimente.<br />

Gerade die zuletzt genannten SchülerInnenaktivitäten gelingen nur in einer Atmosphäre<br />

des Vertrauens. Vertrauen darin, dass Fehler dazu da sind, es das<br />

nächste Mal besser zu machen, dass alle die Unterstützung erfahren, die sie<br />

brauchen, dass niemand mit seinen Schwächen vorgeführt wird und dass Arbeit<br />

und Einsatz gewürdigt werden. Zu einer guten Unterrichtskultur gehört außerdem<br />

eine Zeitökologie, die vor allen Dingen die einzelnen SchülerInnen in den<br />

Mittelpunkt stellt. „Es kommt in Zukunft immer mehr darauf an, eine Didaktik<br />

der Ruhe, der Konzentration und der Intensität zu entwickeln“ (Jank/Meyer<br />

1994, S. 345). Diese kann nur entstehen, wenn wiederum das exemplarische<br />

Lernen im alten Sinne Wagenscheins erfolgt. „Der ‚Mut zur Gründlichkeit‘ (Wagenschein<br />

1977, S. 10) verlangt den ‚Mut zur Lücke‘ (a.a.O.)“ (Jahnke-Klein<br />

2001, S. 238). Und damit wären wir wieder bei den Inhalten angelangt.<br />

Es ist deutlich geworden, dass es immer wieder um das Herstellen einer Balance<br />

aller angesprochenen Aspekte geht – die einzelnen SchülerInnen, die Gruppe als<br />

soziales Netz, das Zusammenspiel sinnvoller Inhalte, Methoden und einer guten<br />

Unterrichtskultur. Das im Zitat von Ruth Cohn zu Anfang angesprochene ‚Umfeld‘<br />

ist hier nicht weiter ausgeführt worden. Es bezieht sich auf das Gesamtsystem.<br />

Das sind z. B. die Vereinbarungen und die Zusammenarbeit in einem LehrerInnenteam,<br />

das Miteinander vieler Gruppen in einer Schule, verlässliche Rahmenbedingungen,<br />

geeignete Räumlichkeiten, in denen sich alle wohl fühlen, genügend<br />

gute Arbeitsmaterialien, eine Schulleitung, die stützt und Innovationen anregt<br />

u. v. m. – alles wichtige Teilaspekte, die aber oft vernachlässigt werden<br />

bzw. nicht in den Blick genommen werden, wenn es um die Verbesserung von<br />

Mathematikunterricht geht.


Literatur<br />

Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />

Althoff, G. P. u. a.: „Ich erklär‘ dir, wie ich rechne“ – Prävention von Rechenstörungen.<br />

In: Tillmann, K.-J./Weingart, G. (Hrsg.): Laborschulforschung 2001–2003: Projekte<br />

im Forschungs- und Entwicklungsplan. Werkstattheft Nr. 21. <strong>Bielefeld</strong> 2001, S.<br />

115–121<br />

Bellenberg, G./Klemm, K.: Scheitern im System, Scheitern des Systems? Ein etwas anderer<br />

Blick auf Schulqualität. In: Rolff, H.-G. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung.<br />

Daten, Beispiele und Perspektiven. Band 11. Weinheim und München: Juventa<br />

2000, S. 51–75<br />

<strong>Biermann</strong>, C.: Der „lange Dünne“ und die „kleine Dicke“ – Messen und Wiegen. In:<br />

Grundschullehrer, 1986, Heft 5, S. 4/5<br />

<strong>Biermann</strong>, C.: Mädchen, Mathe und Müll. In: Praxis Schule 5–10. 5. Jahrgang, 1994, Heft<br />

4, S. 36–41<br />

<strong>Biermann</strong>, C. u. a.: Laborschule (Stufe II): Das Projekt „Körper, Ernährung; Gesundheit.<br />

In: Hänsel, D.(Hrsg.): Das Projektbuch Grundschule. Weinheim Basel: Beltz 1995,<br />

S. 140–160<br />

Bos, W./Lankes, E.M./Prenzel, M./Schippert, K./Walter, G./Valtin, R. (Hrsg.): Erste Ergebnisse<br />

aus IGLU. Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen<br />

Vergleich. Münster: Waxmann 2003<br />

Bosse, U./Görlich, U./Körber, G./Niemöller, R.: „Nicht immer nur Papier“ – Für einen<br />

konkreten, lebensnahen und Spaß machenden Mathematik-Unterricht in der Eingangsstufe.<br />

Graues Papier. <strong>Bielefeld</strong> 1987<br />

Cornelsen: Matheland (Für Klasse 1 und 2). CD-Rom/ISBN 3-464-90902-6<br />

Demmer-Dieckmann, I.: Das Konzept der Integrativen Pädagogik an der Laborschule. In:<br />

Demmer-Dieckmann, I./Struck, B. (Hrsg.): Gemeinsamkeit und Vielfalt. Pädagogik<br />

und Didaktik einer Schule ohne Aussonderung. Weinheim und München: Juventa<br />

2001, S. 24–46<br />

Deterding, R. u. a.: Die Fächergrenzen überwinden – Projektunterricht im Schulalltag. In:<br />

Thurn, S./Tillmann, K.-J. 1997, S. 203–223<br />

Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von SchülerInnen<br />

und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich 2001<br />

Heinrich, R. u. a.: Kerncurriculum Mathematik für die Jahrgänge 5–10. Universität <strong>Bielefeld</strong>.<br />

Wissenschaftliche Einrichtung. Schulinternes Papier 1993<br />

Hentig, H. von et al.: Die <strong>Bielefeld</strong>er Laborschule. Sonderpublikation der Schriftenreihe<br />

der Schulprojekte Laborschule/Oberstufen-Kolleg, Heft 2. Stuttgart: Klett 1971<br />

Jahnke-Klein, S.: Sinnstiftender Mathematikunterricht für Mädchen und Jungen. Baltmannsweiler:<br />

Schneider Verl. Hohengehren 2001<br />

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Meyer, H.: Unterrichtsmethoden. II: Praxisband. Frankfurt a. M.: Cornelsen. 1989<br />

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23


24<br />

<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />

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IMPULS-Band 8. <strong>Bielefeld</strong> 1985<br />

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Werkstattheft Nr. 1. <strong>Bielefeld</strong> 1995<br />

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„Lineare Funktionen“. IMPULS-Band 29. <strong>Bielefeld</strong> 1996<br />

WILL-International: Studienbuch für die Aus- und Fortbildung in Themenzentrierter Interaktion<br />

für die deutschsprachigen Länder. Darmstadt 1998


Wilhelm Schipper<br />

Prävention vom Rechenstörungen –<br />

eine schulische Herausforderung<br />

Schule hat u. a. die Aufgabe, Kindern beim Lernen von Mathematik zu helfen –<br />

auch (und wohl gerade dann in besonderer Weise), wenn den Kindern das Mathematiklernen<br />

schwer fällt. Dennoch werden in Deutschland immer mehr Kinder<br />

– in zunehmendem Maße auch Jugendliche – wegen ‚Dyskalkulie‘ in außerschulischen<br />

‚Dyskalkulie-Instituten‘ ‚therapiert‘. Auf diese Weise wird eine zentrale<br />

Aufgabe von Schule zunehmend außerschulischen Einrichtungen und ihren ‚Therapeuten‘<br />

überlassen. Für diesen Berufsstand gibt es keine staatlich kontrollierten<br />

Ausbildungsstandards, so dass sich jeder – unabhängig von seiner Qualifikation<br />

– selbst dazu ernennen kann. Das, was ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern<br />

nicht gelungen ist, nämlich Kindern erfolgreich beim Mathematiklernen zu<br />

helfen, wird außerschulischen ‚Experten‘ überlassen, deren Qualifikation unbekannt<br />

ist. Diese Entwicklung ist für das Ansehen von Schule schädlich, für manche<br />

Kinder eher kontraproduktiv und in gesamtgesellschaftlicher Sicht ein großes<br />

Problemfeld (vgl. Schipper 2002b).<br />

Die Alternative besteht darin, die – mangels Ausbildung bisher nur selten vorhandene<br />

– schulische Kompetenz im Umgang mit Rechenstörungen zu stärken.<br />

Das an der Laborschule in <strong>Bielefeld</strong> durchgeführt FEP (Forschungs- und Entwicklungsprojekt,<br />

siehe Glossar) mit dem Titel „‚Ich erklär‘ dir, wie ich rechne‘ – Prävention<br />

von Rechenstörungen“ ist der Versuch, auf lokaler Ebene die Kompetenzen<br />

einer Schule im Umgang mit solchen Kindern zu stärken, denen das Mathematiklernen<br />

besonders schwer fällt (vgl. dazu den Beitrag von <strong>Biermann</strong> in diesem<br />

Heft).<br />

Die Rahmenbedingungen für dieses Projekt waren gut. Einerseits hat die Laborschule<br />

ausgesprochen große Kompetenzen im Umgang mit Heterogenität und<br />

versteht es, jeden Einzelnen in seiner individuellen Entwicklung zu fördern. Andererseits<br />

gibt es seit vielen Jahren am IDM (Institut für Didaktik der Mathematik)<br />

der Universität <strong>Bielefeld</strong> eine Beratungsstelle für Kinder mit Rechenstörungen<br />

(siehe Glossar). Dort sind Diagnose- und Förderkonzepte entwickelt worden, die<br />

teilweise in diesem Bericht vorgestellt werden. Diese Konzepte wurden bisher nur<br />

in der Einzelarbeit mit Kindern umgesetzt, nicht im schulischen Feld. Eines der<br />

Ergebnisse der erfolgreichen Umsetzung dieser Konzepte in der Laborschule ist<br />

es, nun Hinweise geben zu können für schulische Prävention von Rechenstörungen.<br />

Dies ist Gegenstand dieses Beitrags.<br />

Eine frühzeitige Diagnose und Prävention von besonderen Problemen ist gerade<br />

beim Mathematiklernen so wichtig, weil die Unterrichtsinhalte aufeinander aufbauen.<br />

Fehlen grundlegende Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, dann wird<br />

die Schere zwischen den Kompetenzen des einzelnen Kindes und denen seiner<br />

Mitschülerinnen und -schüler immer größer. Nicht selten ist dies der Beginn eines<br />

Teufelskreises, der mit schlechten Leistungen in Mathematik und Angst vor diesem<br />

Unterrichtsfach beginnt und in eine generelle Schulphobie mündet – mit allen<br />

damit verbundenen Beeinträchtigungen des Selbstkonzepts.<br />

Im ersten Abschnitt wird der Versuch einer begrifflichen Klärung unternommen,<br />

danach im zweiten Abschnitt auf angebliche Ursachen und tatsächliche Risikofak-<br />

25


26<br />

Wilhelm Schipper<br />

toren eingegangen. Das wesentliche Ergebnis ist, dass die Gründe für die besonderen<br />

Schwierigkeiten einiger Kinder beim Mathematiklernen nicht nur beim Kind<br />

gesucht werden dürfen. Das familiäre und das schulische Umfeld stellen ebenfalls<br />

Risikofaktoren dar, die dann zu Ursachen für Rechenstörungen werden können,<br />

wenn die schulische Kompensation durch einen auf die individuellen Stärken und<br />

Schwächen eines Kindes abgestimmten Mathematikunterricht nicht gelingt. Der<br />

dritte Abschnitt beschreibt Symptome für Rechenstörungen, gibt Hinweise auf<br />

Möglichkeiten einer frühzeitigen Diagnostik und stellt einige der an der Beratungsstelle<br />

entwickelten Förderkonzepte vor. Die beste Prävention von Rechenstörungen<br />

ist selbstverständlich ein guter Mathematikunterricht. Deshalb werden<br />

im vierten Abschnitt zwei einander ergänzende Komponenten eines guten Mathematikunterrichts<br />

vorgestellt, nämlich Offenheit und Zielorientierung. Leitfragen<br />

für Unterrichtsvorbereitung, -durchführung und -nachbereitung konkretisieren<br />

dieses Konzept.<br />

Versuch einer begrifflichen Klärung<br />

Worüber reden wir eigentlich, wenn wir Begriffe verwenden wie Rechenstörung,<br />

Rechenschwäche, Dyskalkulie, Arithmasthenie? Gibt es tatsächlich eine ‚hereditäre<br />

Dsykalkulie‘, also eine erbliche Dyskalkulie, wie sie Nissen (1977) annimmt?<br />

Und wie unterscheiden sich Zahlendyslexie und Zahlendyssymbolismus?<br />

Etwa 40 Begriffe dieser Art listen Lorenz und Radatz (1993, S. 17) auf und betonen<br />

zugleich, dass ihre Sammlung bei weitem nicht abgeschlossen sei. Sie entstammen<br />

verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit den Erscheinungsformen,<br />

dem Variantenreichtum und den Ursachen der besonderen Schwierigkeiten<br />

einiger Kinder beim Erlernen des Rechnens befassen – von der Medizin, der<br />

Psychodiagnostik und Neuropsychologie über die kognitive Psychologie und Pädagogische<br />

Psychologie sowie die Sonderpädagogik bis hin zur Mathematikdidaktik.<br />

Die Vielfalt der Begriffe zeigt nicht nur, dass sich zahlreiche unterschiedliche<br />

Disziplinen mit ihrem je fachspezifischem Vokabular mit dieser Problematik auseinander<br />

setzen, sie belegt vielmehr auch, dass es bisher nicht gelungen ist, einen<br />

gemeinsamen interdisziplinären Forschungsansatz zu diesem Problemfeld zu<br />

entwickeln.<br />

Daraus resultiert u. a. das Problem, dass es bisher keine einheitliche, über die<br />

Grenzen der einzelnen Disziplinen hinaus anerkannte Definition solcher Begriffe<br />

wir Rechenschwäche, Rechenstörung, Dyskalkulie gibt. Vielfach werden diese<br />

Begriffe synonym verwendet. Jedoch sind durchaus Tendenzen erkennbar, dass<br />

verschiedene Disziplinen unterschiedliche Begriffe bevorzugen. ‚Dyskalkulie‘ und<br />

(seltener) ‚Arithmasthenie‘ werden vor allem im Kontext kommerzieller ‚Therapieangebote‘,<br />

sonderpädagogisch und psychologisch orientierter Ausführungen<br />

sowie in den Medien benutzt, ‚Rechenschwäche‘ und ‚Rechenstörung‘ sind eher<br />

im Kontext Schule und Mathematikdidaktik gebräuchlich. In dieser unterschiedlichen<br />

Verwendung wird zugleich ausgedrückt, worauf es den einzelnen Gruppen<br />

besonders ankommt: Mit den Begriffen Rechenschwäche und Rechenstörung soll<br />

ausgedrückt werden, dass es hier um besondere Schwierigkeiten im schulischen<br />

Inhaltsbereich Rechnen geht, die ‚Zuständigkeit’ für dieses Problemfeld damit bei<br />

der Schule, bei der Lehrerausbildung und bei der Mathematikdidaktik liegt. Die<br />

Begriffe Dyskalkulie und Arithmasthenie suggerieren dagegen das Vorhandensein<br />

einer Krankheit und dokumentieren zugleich, dass die ‚Zuständigkeit‘ bei Medizinern,<br />

Psychologen und außerschulischen Lerntherapeuten angesiedelt sein soll.<br />

Aus der Sicht von Schule und Mathematikdidaktik sind die vorliegenden Versu-


Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />

che, Begriffe wie Dyskalkulie oder Rechenstörung zu definieren, pädagogisch bedenklich.<br />

Sie lassen sich im wesentlichen zwei Typen zuordnen (vgl. Kaufmann<br />

2002, S. 11ff.):<br />

(1) Diskrepanzdefinitionen<br />

Lange Zeit wurde ‚Legasthenie‘ als ‚erwartungswidrig‘ schlechte Leistung beim<br />

Erlernen des Lesens und Rechtschreibens ‚definiert‘, bis Schlee (1976) eindrucksvoll<br />

gezeigt hat, dass allein aus statistischen Gründen die sogenannten<br />

‚erwartunsgwidrig‘ schlechten Leistungen beim Lesen und Rechtschreiben durchaus<br />

erwartungskonform sind (vgl. auch Mann/Oberländer/Scheid 2001). Das hat<br />

nicht verhindert, dass auch im Bereich der besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen<br />

des Rechnens versucht wurde, ‚Dyskalkulie‘ als ‚erwartungsgwidrig‘<br />

schlechte Leistung beim Rechnen, also in Diskrepanz zu Leistungen beim Lesen<br />

und Rechtschreiben, bei allgemeinen schulischen Leistungen oder in Diskrepanz<br />

zu ‚normalen‘ Intelligenzleistungen zu definieren. Grissemann und Weber (1982,<br />

S. 14) schlagen für solche Diskrepanzdefinitionen verschiedenen Möglichkeiten<br />

(z. B.: „Teilleistungsschwäche bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz“) vor.<br />

Die wohl bekannteste Diskrepanzdefinition der ‚dyscalculia‘ bzw. (in der deutschen<br />

Übersetzung) „Rechenstörung“ ist von der Weltgesundheitsorganisation<br />

vorgenommen worden:<br />

„Rechenstörung<br />

Diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten,<br />

die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene<br />

Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung<br />

grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division,<br />

weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie,<br />

Geometrie oder Differential- und Integralrechnungen benötigt werden“<br />

(DIMDI 1994, S. 387).<br />

Dieser Definitionsversuch ist sowohl für wissenschaftliche Zwecke (z. B. im Sinne<br />

eindeutiger, Grenzen ziehender Diagnostik), als auch für die praktische Arbeit<br />

mit betroffenen Kindern (Diagnose, Förderung) unbrauchbar. Die tatsächlichen<br />

Probleme werden nicht beschrieben, nur Problembereiche benannt. Die Beschränkung<br />

auf Rechenfertigkeiten ist aus mathematikdidaktischer Perspektive<br />

falsch, denn die Schwierigkeiten liegen auch im Bereich der Rechenfähigkeiten<br />

und beim Verständnis. Beide genannten Ausschlusskriterien (Intelligenzminderung,<br />

unangemessene Beschulung) sind höchst problematisch, denn sie führen<br />

dazu, dass Kindern öffentlich finanzierte Förderung verweigert wird, wenn ihre<br />

rechnerischen Probleme Folge einer ‚Intelligenzminderung‘ oder einer ‚unangemessenen<br />

Beschulung‘ sind.<br />

(2) Phänomenologische Definitionen<br />

Bei solchen Definitionen werden Art, Häufigkeit und Dauerhaftigkeit von Fehlleistungen<br />

bei der Bewältigung von mathematischen Aufgabenstellungen als Kriterien<br />

für die Definition herangezogen. Versuche, Rechenstörungen auf diese Weise<br />

zu definieren, sind für die schulische Arbeit sicher brauchbarer, weil sie sich auf<br />

den Inhaltsbereich beziehen, in dem das Kind auffällig wird, dort also auch beobachtbar<br />

sind. Sie sind jedoch auch nicht unproblematisch, denn sie setzen voraus,<br />

dass es möglich sei, zwischen ‚normalen‘, zu jedem Lernprozess dazu gehörenden<br />

Fehlern und besonders auffälligen, ‚pathologischen‘ Fehlern eine Grenze<br />

zu ziehen. Eine solche exakte Grenzziehung ist nicht möglich. Die Fehler der in<br />

27


28<br />

Wilhelm Schipper<br />

Mathematik besonders leistungsschwachen Kinder unterscheiden sich in ihrer Art<br />

nicht von denjenigen, die auch mathematisch leistungsstärkere Kinder machen,<br />

wenn sie sich einen neuen Inhaltsbereich aneignen. Der Unterschied besteht jedoch<br />

darin, dass die leistungsstärkeren Kinder weniger Fehler machen und von<br />

ihnen lernen, sie schließlich überwinden können, während diejenigen Kinder, die<br />

in Mathematik besonders auffällig sind, besonders häufig Fehler machen, über<br />

ein ‚großes Repertoire‘ unterschiedlicher Fehlerstrategien verfügen und ihre Fehlerstrategien<br />

über Jahre verfestigen.<br />

Ein eigener Versuch der begrifflichen Klärung<br />

An dieser Stelle setzt auch der eigene – sicher auch nicht unproblematische –<br />

Versuch der begrifflichen Klärung an. Auf der Grundlage langjähriger Beobachtungen<br />

und zahlreicher Diagnosen von Kindern, deren Leistungen im Mathematikunterricht<br />

von ihren Lehrerinnen und Lehrern als besonders schlecht bezeichnet<br />

wurden, haben wir versucht, typische Muster in der Art der Interaktion dieser<br />

Kinder mit mathematischen Aufgabenstellungen und auffällige Kombinationen<br />

von fehlerhaften Vorgehensweisen zu identifizieren. Die beobachteten Auffälligkeiten<br />

nennen wir ‚Symptome für Rechenstörungen‘, wobei wir erst dann eine<br />

Rechenstörung annehmen, wenn eine Kombination von mindestens zwei der vier<br />

Symptome vorliegt.<br />

Folgende Symptome haben wir bei der Mehrzahl der als mathematisch besonders<br />

leistungsschwach eingestuften Kinder beobachten können:<br />

1. Verfestigtes zählendes Rechnen<br />

2. Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />

3. Einseitige Zahl- und Operationsvorstellungen<br />

4. Intermodalitätsprobleme<br />

Genauere Ausführungen zu den beiden erstgenannten Symptomen erfolgen im<br />

Kapitel ‚Symptome, Diagnostik und Förderkonzepte‘ (S. 31ff.). Über Intermodalitätsprobleme<br />

und einseitige Zahl- und Operationsvorstellungen geben Radatz u.<br />

a. (1999, S. 42ff.) und Lorenz/Radatz (1993, S. 50ff.) nähere Auskunft.<br />

Auch mit diesem phänomenologisch ausgerichteten Klärungsversuch sind die o.<br />

g. Abgrenzungsprobleme nicht gelöst. Eine trennscharfe Grenzziehung zwischen<br />

‚Rechenstörung‘ und ‚keine Rechenstörung‘ ist auch in unserem Ansatz nicht<br />

möglich. Wir halten eine solche Grenzziehung für schulische Zwecke aber auch<br />

nicht für notwendig, denn Aufgabe von Schule sollte es nicht sein, Kinder zu etikettieren,<br />

um sie anschließend unterschiedlichen Sonderbehandlungen zuzuführen.<br />

Aufgabe von Schule ist vielmehr die Förderung und (Heraus-) Forderung aller<br />

Kinder. In diesem Sinne ist unser Versuch der begrifflichen Klärung sicher ungeeignet,<br />

Kinder für ‚Sonderbehandlungen‘ zu selektieren. Er erscheint uns aber<br />

geeignet, einerseits auf solche Kinder aufmerksam zu machen, die einer besonderen<br />

Förderung bedürfen, andererseits solche Problemfelder im Mathematikunterricht<br />

aufzuzeigen, die bei nicht hinreichender Beachtung bei einigen Kindern<br />

schwerwiegende Beeinträchtigungen ihrer mathematischen Kompetenzen nach<br />

sich ziehen können. Mit unserem Versuch einer begrifflichen Klärung wollen wir<br />

Lehrerinnen und Lehrer auf zentrale Klippen im mathematischen Lernprozess<br />

aufmerksam machen sowie ihre Diagnose- und Förderkompetenzen stärken und<br />

erweitern. Wir wollen kein Werkzeug für die Selektion und Segregation von Kindern<br />

liefern.


Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />

Angebliche Ursachen und tatsächliche Risikofaktoren<br />

Sucht man im Internet auf einschlägigen Seiten nach Ursachen für Rechenstörungen<br />

oder gar für ‚Dyskalkulie‘, dann drängt sich ein Vergleich mit einem orientalischen<br />

Basar auf: Das Angebot an vermeintlichen Ursachen ist nahezu unüberschaubar;<br />

der eine Anbieter versucht den anderen zu übertrumpfen in der<br />

Anzahl der ‚Ursachen‘ und der scheinbaren wissenschaftlichen Seriosität; je unverständlicher<br />

der Begriff, desto wissenschaftlicher soll der Sachverhalt (und sein<br />

Beschreiber) erscheinen. Neben visuellen Teilleistungsstörungen und Störungen<br />

der akustischen oder der taktilen Wahrnehmung werden cerebrale Funktionsstörungen,<br />

einseitige Hirnhemisphärendominanz, linkshirniges Denken, kortikale<br />

Assoziationsdefizite u. v. a. m. angeboten.<br />

Bei seriöser Betrachtungsweise muss jedoch festgestellt werden, dass die Ursachen<br />

für Rechenstörungen unbekannt sind, wenn man den Begriff ‚Ursache‘ im<br />

Sinne von Kausalität verwendet. Denn wenn z. B. ‚visuelle Teilleistungsstörungen‘<br />

im kausalen Sinne Ursachen für Rechenstörungen wären, dann dürfte es<br />

kein beim Rechnen unauffälliges Kind geben, das eine Störung im visuellen Bereich<br />

hat.<br />

Damit ist nicht behauptet, dass Beeinträchtigungen in z. B. der visuellen Wahrnehmung<br />

sich nicht negativ auf das Mathematiklernen auswirken können. Tatsächlich<br />

stellt eine solche Beeinträchtigung einen großen Risikofaktor dar, weil<br />

Mathematiklernen über weite Strecken gerade über den visuellen Lernkanal<br />

stattfindet. So haben etwa Kinder, deren Figur-Grund-Unterscheidung beeinträchtigt<br />

ist, erhebliche Probleme, aus den manchmal graphisch überfrachteten<br />

Schulbuchseiten die relevanten Informationen herauszufiltern. Aus dem Risikofaktor<br />

‚visuelle Teilleistungsstörung‘ wird für das individuelle Kind aber erst dann<br />

eine Ursache für Rechenstörungen, wenn die schulische Kompensation dieser Beeinträchtigung<br />

(z. B. durch Lernen auch über andere Kanäle) nicht gelingt.<br />

Risikofaktoren in diesem Sinne dürfen nicht nur beim Kind gesucht werden. Systematische<br />

Erziehung zur Unselbstständigkeit durch überbehütende Eltern oder<br />

soziale Vernachlässigung der Kinder können dazu führen, dass Kinder erhebliche<br />

Schwierigkeiten beim Mathematiklernen bekommen. So ist es für das Mathematiklernen<br />

z. B. von großer Bedeutung, dass die Kinder in der vorschulischen Zeit<br />

ausreichend Gelegenheit hatten, sich auf spielerische Weise Raumerfahrungen<br />

anzueignen. Vermutlich müssten sehr viel weniger Kindern ergotherapeutische<br />

Maßnahmen verordnet werden, wenn sie in ihrer vorschulischen Zeit mehr Gelegenheit<br />

gehabt bzw. genutzt hätten, mit anderen Kindern herumzutollen, auf<br />

Bäume zu klettern, Sandburgen zu bauen u. v. a. m.<br />

Kinder nichtdeutscher Muttersprache sind grundsätzlich nicht gefährdeter als solche<br />

mit deutscher Muttersprache. Zu beachten ist dabei jedoch, dass die Fähigkeit,<br />

an einem in deutscher Sprache durchgeführten Mathematikunterricht teilzunehmen,<br />

ein Mindestmaß an Beherrschung dieser Sprache voraussetzt. Wenn<br />

dieses gegeben ist, dann können auch Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache<br />

grundsätzlich in gleicher Weise vom Mathematikunterricht profitieren. Zu Interferenzen<br />

kann es allerdings kommen, wenn die Kinder Rechenaufgaben in die eigene<br />

Muttersprache übersetzen, dort lösen und das Ergebnis wieder in die deutsche<br />

Sprache übersetzen, weil in vielen nichtdeutschen Sprachen die zwei- und<br />

mehrstelligen Zahlwörter (wie im Englischen) beginnend mit dem größten Stellenwert<br />

gesprochen werden. Dadurch kann es zu gehäuften Zahlendrehern<br />

kommen. In einem guten Unterricht können diese Fehler aber schnell behoben<br />

werden.<br />

29


30<br />

Wilhelm Schipper<br />

Ursachen im Sinne von Risikofaktoren können auch im Curriculum liegen, im<br />

Lehrbuch und nicht zuletzt auch im schlechten Mathematikunterricht, der möglicherweise<br />

Folge schlechter Lehrerausbildung ist. Wenn wir ‚Ursachen‘ in diesem<br />

Sinne als Risikofaktoren verstehen, die das Aufkommen von besonderen Schwierigkeiten<br />

beim Erlernen des Rechnens begünstigen können, sie aber nicht<br />

zwangsläufig ausbilden, dann müssen immer drei Ursachenfelder berücksichtigt<br />

werden, nämlich das Individuum, das schulische Umfeld sowie das familiäre und<br />

soziale Umfeld. Dabei sollten wir davon ausgehen, dass bei der Ausbildung einer<br />

Rechenstörung in nahezu jedem einzelnen Fall alle drei Ursachenfelder mitwirken<br />

(vgl. Abb. 1).<br />

Abb. 1: Ursachenfelder für Rechenstörungen<br />

Das Individuum<br />

• Fähigkeiten, Begabung<br />

• (Vor-)Wissen<br />

• Anstrengungsbereitschaft<br />

• Sensorische Beeinträchtigungen<br />

(visuell, auditiv,<br />

...)<br />

• Aufmerksamkeit, Konzentration,<br />

Gedächtnis<br />

• Angst...<br />

Schulisches Umfeld<br />

• Die Lehrkraft<br />

• Unterrichtsmethode<br />

• Umgang mit Material<br />

• Lehrbuch<br />

• Mitschüler<br />

• Sprache und Gespräche<br />

auf der Meta-Ebene<br />

• Förderunterricht<br />

• Lehrerausbildung ...<br />

Familiäres und soziales Umfeld<br />

• familiäre Situation (Überbehütung; Vernachlässigung; Scheidung;<br />

Konkurrenz zwischen Geschwistern; Beherrschung der deutschen<br />

Sprache; Freizeitangebote; ...)<br />

• Art der Hausaufgabenbetreuung; Möglichkeiten der Nachhilfe (z. B.<br />

auch die finanzielle Situation der Familie); der psychologischen Beratung;<br />

der Fähigkeit der Eltern, die Probleme wahrzunehmen ...<br />

Unsere Aufmerksamkeit muss sich sehr viel mehr als bisher auf die Ursachenfelder<br />

schulisches und familiäres Umfeld konzentrieren. So zeichnen sich z. B. Kinder,<br />

die erhebliche Probleme beim Rechnen haben, dadurch aus, dass sie nicht in<br />

angemessener Weise mit den Materialien umgehen können, die ihnen beim<br />

Rechnenlernen helfen sollen, während die mathematisch leistungsstarken Kinder<br />

diese Materialien nicht (mehr) benötigen (Rottmann/Schipper 2002). Dass die<br />

leistungsschwachen Kinder solche Probleme bei ihren Materialhandlungen haben,<br />

liegt auch daran, dass zu wenige Lehrerinnen und Lehrer ihre Aufmerksamkeit<br />

auf die Materialhandlungen der Kinder konzentrieren. Mit einem Satz wie „Wer<br />

die Aufgaben noch nicht so lösen kann, darf das Material benutzen.“ ist es eben<br />

nicht getan, im Gegenteil: Auf diese Weise werden Handlungen an Materialien als<br />

Tätigkeiten leistungsschwacher Kinder diskriminiert.<br />

Für Lehrerinnen und Lehrer sollten die im schulischen Umfeld liegenden Risikofaktoren<br />

eine herausragende, nämlich eine vorrangig zu berücksichtigende Rolle<br />

spielen, denn in diesem Bereich können sie am ehesten Veränderungen vornehmen.<br />

Zu empfehlen ist daher, die Ursachen für die besonderen Schwierigkeiten<br />

eines Kindes beim Mathematiklernen zunächst im eignen Unterricht zu vermuten<br />

und Handlungskonsequenzen zunächst ebenfalls hier, im eigenen Unterricht, zu<br />

realisieren. Dabei dürfen die anderen Ursachenfelder selbstverständlich nicht aus<br />

dem Blick verloren gehen.


Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />

Symptome, Diagnostik und Förderkonzepte<br />

Es gibt gegenwärtig kein allgemein anerkanntes Verfahren zur Diagnose von Rechenstörungen,<br />

erst recht keines für deren Früherkennung. Jedoch hat sich im<br />

Rahmen unseres FEP der OTZ – Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung<br />

(Van Luit/Van de Rijt/Hasemann 2001, siehe Glossar) als geeignet erwiesen, die<br />

„Risikokinder“ unter den Vorschulkindern frühzeitig zu identifizieren. Der Nachteil<br />

dieses Tests ist – neben der Durchführung als Einzeltest und dem Zeitaufwand<br />

von fast 30 Minuten je Kind – vor allem der, dass sich aus den Testergebnissen<br />

nicht direkt ein Förderplan ableiten lässt.<br />

In der Beratungsstelle für Kinder mit Rechenstörungen am IDM (siehe Glossar)<br />

arbeiten wir mit einem informellen Test, der sich vorrangig, aber nicht ausschließlich<br />

auf die arithmetischen Inhalte der Grundschulmathematik konzentriert.<br />

Wichtiger als die richtige Lösung der Aufgaben sind uns die Prozesse der<br />

Lösung, also die Verfahren, mit denen die Kinder die Aufgaben lösen. Denn aus<br />

der Art der Lösung von mathematischen Aufgaben lassen sich tatsächlich die<br />

notwendigen Fördermaßnahmen für die jeweiligen Kinder ableiten. Jede Überprüfung<br />

wegen Verdachts auf Rechenstörungen wird daher per Video aufgezeichnet.<br />

Auf der Grundlage dieses Dokumentes und der Beobachtung während der Überprüfung<br />

wird ein Protokoll angefertigt, in dem die Art und Weise der kindlichen<br />

Interaktion mit mathematischen Aufgabenstellungen beschrieben wird, die zentralen<br />

Auffälligkeitsbereiche dargestellt werden und ein Förderplan für das Kind<br />

aufgestellt wird.<br />

Bei aller Individualität der Erscheinungsformen von Rechenstörungen konnten wir<br />

im Laufe der Jahre bestimmte Problembereiche identifizieren, die bei der überwiegenden<br />

Mehrheit der uns vorgestellten Kinder mit besonders großen Problemen<br />

beim Rechnen beobachtet werden konnten. Diese immer wieder zu beobachtenden<br />

typischen Problemfelder, die jeweils eine Vielzahl an einzelnen Fehlern<br />

der Kinder erklären konnten, haben wir Symptome für Rechenstörungen genannt.<br />

Vier besonders häufige und sich besonders nachteilig auf das Rechnen<br />

auswirkende Symptome haben wir identifizieren können (vgl. S. 28), darunter<br />

besonders häufig das verfestigte zählende Rechnen und Probleme bei der Links-<br />

/Rechts-Unterscheidung. Auf diese beiden Symptome wird im Folgenden ausführlicher<br />

eingegangen. Dabei nimmt die Problematik des verfestigten zählenden<br />

Rechnens den größten Raum ein, weil dieses Symptom einerseits bei nahezu jedem<br />

Kind festgestellt wurde, das schließlich in die Förderung in der Beratungsstelle<br />

aufgenommen wurde, andererseits gerade bei diesem Symptom schulische<br />

Präventions- und Interventionsmaßnahmen besonders naheliegend sind.<br />

Das häufigste Symptom für Rechenstörungen: Verfestigtes<br />

zählendes Rechnen<br />

Erstes Rechnen ist immer ein zählendes Rechnen, unabhängig von Kulturen und<br />

meistens vor einer institutionellen Beschulung (vgl. z. B. Carpenter/Moser/Romberg<br />

1982). So lösen nicht wenige Kinder schon vor der Einschulung solche Rechengeschichten<br />

wie „Stelle dir vor, du hast 3 Bonbons und bekommst von mir<br />

noch 4 dazu. Wie viele Bonbons hast du dann?“ dadurch, dass sie zunächst 3<br />

Plättchen abzählend legen, dann 4 Plättchen und schließlich den Wert der Summe<br />

durch Abzählen von vorn bestimmen. Zählendes Rechnen zu Schulbeginn ist<br />

also ganz „normal“.<br />

31


32<br />

Wilhelm Schipper<br />

Wenn dagegen ein Kind im dritten Schuljahr zur Lösung der Aufgabe 368 + 473<br />

beginnen würde, zunächst 368 Plättchen einzeln abzählend zu legen, um auch<br />

diese Aufgabe mit dem Verfahren des Alles-Zählens am Material zu lösen, würde<br />

wohl keine Grundschullehrerin, kein Grundschullehrer dieses Vorgehen als ‚normal’<br />

ansehen. Tatsächlich ist verfestigtes zählendes Rechnen das zentrale Merkmal<br />

für Leistungsschwäche in Mathematik (vgl. z. B. Gray 1991). Wo aber liegt<br />

die Grenze? Wann kann zählendes Rechnen noch als ‚normal’ angesehen werden,<br />

wann sollten unterrichtliche Bemühungen zur Ablösung vom zählenden Rechnen<br />

einsetzen, wann ist zählendes Rechnen auffällig bis ‚dramatisch‘?<br />

Zeitpunkt der Auffälligkeit<br />

In der Regel werden zählende Rechner erst in der ersten Hälfte des zweiten<br />

Schuljahres beim Addieren und Subtrahieren im erweiterten Zahlenraum bis 100<br />

auffällig. Denn nun sind die gleichen Kinder, die beim Rechnen im ersten Schuljahr<br />

als ‚etwas langsam‘ galten, plötzlich dramatisch langsam. Beim Rechnen im<br />

Zahlenraum bis 20 ist es häufig ein diagnostisches Problem zu erkennen, ob ein<br />

Kind eine Aufgabe wie 7 + 5 noch etwas langsam, aber mit einem guten Verfahren<br />

(z. B. 7 + 3 + 2 oder 5 + 5 + 2) oder mit Hilfe eines schnellen weitererzählenden<br />

Rechnens ([7] 8, 9, 10, 11, 12) gelöst hat. Nicht selten sind zählende Rechner<br />

bei solchen Aufgaben schneller als solche Kinder, die den Zehnerübergang z.<br />

B. mit Hilfe des schrittweisen Rechnens („bis 10 und dann weiter“) noch etwas<br />

mühsam bewältigen, weil sie z. B. die Zerlegungen der Zahlen bis 10 noch nicht<br />

alle auswendig wissen. Im größeren Zahlenraum bis 100 sind die zählenden<br />

Rechner aber deutlich langsamer und werden nun auffällig.<br />

Beobachtungsmöglichkeiten<br />

Den meisten zählenden Rechnern ist bewusst, dass ihr zählendes Rechnen Ausdruck<br />

einer Leistungsschwäche in Mathematik ist. Sie versuchen daher, offensichtliches<br />

zählendes Rechnen zu vermeiden. Insbesondere wollen sie häufig<br />

auch nicht das ihnen angebotene Material benutzen. Statt dessen versuchen sie,<br />

ihr zählendes Rechnen zu verbergen. Folgende Verhaltensweisen von Kindern<br />

können als Indikatoren für zählendes Rechnen interpretiert werden:<br />

• Die Kinder verstecken ihre Hände unter den Oberschenkeln, hinter dem Rücken,<br />

unter dem Tisch, ...<br />

• Alle möglichen Materialien – die Fenster im Klassenraum, die Blumentöpfe auf<br />

den Fensterbänken, die Stifte in der Federtasche ... – werden als Zählmaterialien<br />

benutzt. Häufig wird das zählende Rechnen an solchen Gegenständen mit<br />

rhythmischen Kopfbewegungen begleitet.<br />

• Zählendes Rechnen an den Fingern gelingt manchen Kindern mit nur minimalen<br />

Fingerbewegungen. Man sollte daher Kindern sehr genau ‚auf die Finger<br />

schauen‘, auch wenn die Hände scheinbar unbeweglich auf dem Tisch liegen<br />

oder den Kopf stützen.<br />

• Aufgaben mit Zehnerüberschreitung (z. B. 8 + 7; 12 – 5; 46 + 8; 63 – 7) sind<br />

besonders aufschlussreich in dem Sinne, dass sie gerade für zählende Rechner<br />

kritische Prüfaufgaben sind. Wer solche Aufgaben schnell und sicher mit einer<br />

guten Strategie (z. B. bis zum vollen Zehner, dann weiter) rechnet, ist vermutlich<br />

kein zählender Rechner.<br />

• Bei schriftlich vorliegenden Aufgabenlösungen deuten gehäufte ±-1-Fehler<br />

beim Rechnen im Zahlenraum bis 20 und ±10-Fehler beim Rechnen bis 100<br />

auf zählendes Rechnen hin.


Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />

Bei diesen und allen weiteren Beobachtungen muss beachtet werden, dass nicht<br />

jeder Schnupfen ein Anzeichen für eine lebensbedrohende Grippe ist. Erst dann,<br />

wenn die Symptome über einen längeren Zeitraum und bei verschiedenen Aufgabentypen<br />

beobachtet werden, dann kann zunehmend sicherer angenommen<br />

werden, dass tatsächlich ein verfestigtes zählendes Rechnen bzw. eines der anderen<br />

Symptome vorliegt.<br />

Begleiterscheinungen<br />

Kennzeichnend für verfestigte zählende Rechner sind Auffälligkeiten in vier Bereichen,<br />

die eng mit dem zählenden Rechnen zusammenhängen.<br />

• Die Zerlegungen der Zahlen bis 10 sind nicht memorisiert.<br />

Am Ende des ersten Schuljahres sollten möglichst alle Kinder alle Zerlegungen<br />

aller Zahlen bis einschließlich 10 auswendig wissen, weil dieses eine wichtige<br />

Voraussetzung für die Entwicklung der operativen Strategie des schrittweisen<br />

Rechnens („bis 10, dann weiter“) ist. Die meisten zählenden Rechner kennen<br />

nur ganz wenige Zahlzerlegungen auswendig; sie erschließen sich diese meistens<br />

durch Zählen.<br />

Ein Tipp zur Prüfung, wie Kinder Aufgaben zur Zahlzerlegung lösen:<br />

Erarbeiten Sie mit dem Kind das Aufgabenformat, dass Sie die erste Zahl nennen,<br />

das Kind die Ergänzung bis 10, also etwa „Sechs“ – „Vier“ usw. Wenn das<br />

Kind mit dem Aufgabenformat vertraut ist, fordern Sie es auf, die Ergänzung<br />

zur Zahl 8 zu sagen, kurz darauf die Ergänzung zur Zahl 2 und vergleichen Sie<br />

die Zeit, die das Kind für die Bearbeitung dieser beiden Aufgaben benötigt. Eine<br />

deutlich längere Bearbeitungszeit bei der zweiten Aufgabe kann als Indiz<br />

für zählendes Vorgehen angesehen werden.<br />

Ein ergänzender Hinweis:<br />

Bei einigen Kindern haben wir festgestellt, dass sie falsche Zahlzerlegungen<br />

auswendig gelernt haben, also z. B. zur Zahl 6 immer 3 als Ergänzung nennen.<br />

Auch dieses sollten Sie überprüfen. Das ist natürlich nur dann möglich, wenn<br />

Sie die Überprüfung mehrfach durchführen und Ihre Beobachtungen protokollieren.<br />

• Verfestigte zählende Rechner zeigen ein insgesamt nur geringes aktives Repertoire<br />

an auswendig gewussten Aufgaben.<br />

Am Ende des ersten Schuljahres sollten möglichst alle Kinder alle Additions-<br />

und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 10 und möglichst alle Verdoppelungs-<br />

und Halbierungsaufgaben im Zahlenraum bis 20 auswendig wissen.<br />

Dieses Wissen ist eine hervorragende Basis für die Entwicklung operativer<br />

Strategien des Rechnens. Kinder, die das zählende Rechnen verfestigt haben,<br />

verfügen in der Regel nur über ganz wenige auswendig gewusste Aufgaben.<br />

Dies ist ein Teufelskreis. Weil die Kinder so wenige Aufgaben auswendig wissen,<br />

müssen sie immer wieder auf zählendes Rechnen zurückgreifen. Und weil<br />

diese Kinder immer wieder zählend rechnen, lernen sie nur so wenige Aufgaben<br />

auswendig. Denn zählendes Rechnen stellt einerseits eine so hohe mentale<br />

Belastung dar, dass die Kinder nach der Ermittlung der Lösung häufig die<br />

Aufgabe selbst vergessen haben, so dass es nicht zu einem Einprägen der<br />

Verbindung von Aufgabe und Lösung kommen kann. Andererseits ist zählendes<br />

Rechnen besonders fehleranfällig, so dass die Kinder zur gleichen Aufgabe<br />

unterschiedliche Lösungen erhalten, was wiederum das Einprägen einer stabilen<br />

Aufgabe-Lösung-Verbindung verhindert.<br />

33


34<br />

Wilhelm Schipper<br />

Ein Tipp:<br />

Manche Kinder verfügen über ein größeres Repertoire an auswendig gewussten<br />

Aufgaben, als sie im Unterrichtsalltag zeigen, weil sie lieber auf das ihnen<br />

subjektiv sicher erscheinende Zählen zurückgreifen, statt sich auf ihr Gedächtnis<br />

zu verlassen. In Form von Tempo-Übungen (alle 2 Sekunden eine Aufgabe)<br />

zum kleinen 1 + 1 und 1 – 1 kann man herausfinden, ob Kinder nicht tatsächlich<br />

mehr auswendig wissen, als sie normalerweise zeigen.<br />

• Operative bzw. heuristische Strategien des Rechnens sind auch bei zählenden<br />

Rechner manchmal (latent) vorhanden, werden aber nur selten genutzt.<br />

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über Strategien ersten und weiterführenden<br />

Rechnens.<br />

Tab. 1: Strategien ersten und weiterführenden Rechnens<br />

1. Schuljahr 2. Schuljahr<br />

1. Das Verdoppeln bzw. Halbieren nutzen<br />

6 + 8 = 14<br />

aus<br />

„doppel-sechs plus<br />

zwei“<br />

14 – 6 = 8<br />

aus<br />

14 – 7 = 7<br />

7 + 1 = 8<br />

2. Gegen- bzw. gleichsinniges Verändern<br />

6 + 8 = 14<br />

aus<br />

(6 + 1) + (8 – 1)<br />

= „doppel-sieben“<br />

3. Analogien nutzen<br />

13 + 4 = 17<br />

weil<br />

3 + 4 = 7<br />

4. Hilfsaufgaben nutzen<br />

6 + 8 = 14<br />

aus<br />

6 + 10 – 2<br />

12 – 7 = 5<br />

aus<br />

(12 – 2) – (7 – 2)<br />

= 10 – 5<br />

19 – 6 = 13<br />

weil<br />

9 – 6 = 3<br />

16 – 9 = 7<br />

aus<br />

16 – 10 + 1<br />

25 + 28 = 53<br />

aus<br />

„doppelfünfundzwanzig<br />

plus drei“<br />

34 + 58 = 92<br />

aus<br />

(34 – 2) + (58 + 2)<br />

= 32 + 60<br />

30 + 40 = 70<br />

weil<br />

3 + 4 = 7<br />

34 + 58 = 92<br />

aus<br />

34 + 60 – 2<br />

50 – 26 = 24<br />

aus<br />

50 – 25 – 1<br />

76 – 28 = 48<br />

aus<br />

(76 + 2) – (28 + 2)<br />

= 78 – 30<br />

76 – 5 = 71<br />

weil<br />

6 – 5 = 1<br />

76 – 28 = 48<br />

aus<br />

76 – 30 + 2<br />

5. Schrittweises Rechnen (Zerlegen des zweiten Summanden bzw. des Minuenden)<br />

6 + 8 = 14<br />

aus<br />

6 + 4 + 4<br />

6. Stellenwerte extra<br />

14 – 6 = 8<br />

aus<br />

14 – 4 – 2<br />

34 + 58 = 92<br />

aus<br />

34 + 50 + 8<br />

34 + 58 = 92<br />

aus<br />

30 + 50 = 80<br />

4 + 8 = 12<br />

80 + 12 = 92<br />

76 – 28 = 48<br />

aus<br />

76 – 20 – 8<br />

76 – 28 = 48<br />

aus<br />

70 – 20 = 50<br />

6 – 8 = – 2<br />

50 + ( – 2) = 48


Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />

Ziel des Mathematikunterrichts in der Grundschule ist es, die Kinder zu befähigen,<br />

aus diesem Repertoire an Verfahren flexibel das jeweils optimale – abhängig<br />

von den zu verrechnenden Zahlen – auszuwählen. Zählende Rechner<br />

sind von diesem Ziel weit entfernt. Dennoch verfügen auch sie nicht selten über<br />

einige dieser Strategien (meistens: das Verdoppeln bzw. Halbieren nutzen<br />

und schrittweises Rechnen, leider auch Stellenwerte extra, obgleich dieses<br />

Verfahren bei der Subtraktion mit Zehnerüberschreitung höchst fehleranfällig<br />

ist), nutzen sie jedoch nur selten, weil sie ihrer zählenden Vorgehensweise<br />

mehr vertrauen.<br />

• Bei zählenden Rechnern ist die Einsicht in Strukturen bzw. die Fähigkeit, diese<br />

zu nutzen, häufig nur gering ausgeprägt.<br />

Strukturierte Arbeitsmittel (z. B. die Hunderter-Tafel) sollen Kindern helfen,<br />

ein Verständnis für den Zahlenraum und für Operationen in ihm zu entwickeln.<br />

Dazu ist es notwendig, dass die Kinder die Struktur des Arbeitsmittels verstanden<br />

haben. Bei nicht wenigen zählenden Rechnern ist dieses Verständnis<br />

jedoch nicht zu beobachten. Sie nutzen das Material nahezu ausschließlich als<br />

Zählhilfe, d. h. sie nutzen es, um in Einzelschritten daran abzuzählen (vgl.<br />

Rottmann/Schipper 2002).<br />

Ein Tipp:<br />

Lassen Sie sich von dem Kind z. B. die Zahl 37 auf dem Hunderter-Feld zeigen.<br />

Kinder, die dieses Arbeitsmittel verstanden haben, zeigen ohne zu zögern<br />

sofort das entsprechende Feld. Kinder ohne Strukturverständnis dieses Materials<br />

suchen längere Zeit, bis sie mehr oder weniger zufällig das Feld 37 entdecken.<br />

Förderkonzepte<br />

Zwei Grundsätze bestimmen die Förderarbeit in der <strong>Bielefeld</strong>er Beratungsstelle<br />

für Kinder mit Rechenstörungen.<br />

1. Grundsatz: An die Vorkenntnisse anknüpfen<br />

Dies ist ein allgemeiner pädagogisch-didaktischer Grundsatz („Die Kinder dort<br />

abholen, wo sie stehen.“), der selbstverständlich für alle Kinder gilt, aber in ganz<br />

besonderer Weise bei solchen Kindern zu beachten ist, denen das (Mathematik-)<br />

Lernen schwer fällt. Für die zählenden Rechner bedeutet dieser Grundsatz u. a.,<br />

dass ihnen ihre zählende Vorgehensweise nicht schlicht verboten, sondern bewusst<br />

an ihr zählendes Rechnen angeknüpft wird. Jedoch müssen den Kindern<br />

geeignete Angebote (s. u.) gemacht werden, die es ihnen ermöglichen, sich vom<br />

zählenden Rechnen zu lösen.<br />

2. Grundsatz: Den Aufbau mentaler Vorstellungen unterstützen<br />

Es ist immer wieder überraschend, mit welchem geringen didaktischen Aufwand<br />

bei einigen Kindern erfolgreich Lernprozesse in Gang gesetzt werden können.<br />

Manchmal reicht schon die einmalige Demonstration eines Rechenverfahrens am<br />

Material, verbunden mit einer kurzen sprachlichen Erläuterung durch die Lehrerin,<br />

um einen Teil der Kinder zu befähigen, Aufgaben des gerade besprochenen<br />

Typs im Kopf und ohne weitere Hilfsmittel fehlerfrei zu lösen. Kinder mit Rechenstörungen<br />

gehören nicht zu dieser Art schnell lernender Schüler. Im Gegenteil:<br />

Bei ihnen drängt sich häufig der Verdacht auf, dass alle Erklärungen, aller Materialeinsatz<br />

und alle weiteren Hilfen ergebnislos bleiben. Sobald die Kinder allein<br />

auf sich gestellt sind, verfallen sie in ihre alten fehlerhaften und zählenden Routinen.<br />

35


36<br />

Wilhelm Schipper<br />

Kinder mit Rechenstörungen profitieren offensichtlich nicht in gleicher Weise von<br />

Handlungen an Materialien, wie die leichter lernenden Kinder. Das liegt einerseits<br />

an den Materialhandlungen selbst, die häufig unstrukturiert, manchmal abenteuerlich<br />

erscheinende Eigenproduktionen sind, sehr regelhaft, aber falsch, so dass<br />

die Materialhandlung nicht einmal zur richtigen Lösung der Aufgabe führt, geschweige<br />

denn dem Kind helfen kann, aus den Handlungen eine Kopfrechenstrategie<br />

zu entwickeln. Das liegt andererseits aber auch daran, dass diesen Kindern<br />

der Prozess der Verinnerlichung von Handlungen zu (mentalen) Vorstellungen<br />

ohne zusätzliche Hilfe nicht gelingt. Für manche von ihnen hat die Welt der materialgebundenen<br />

Lösung von Aufgaben nichts zu tun mit der Welt der materialunabhängig<br />

zu lösenden Rechenaufgaben (Intermodalitätsproblem). Die Übersetzung<br />

von Handlungen in Bilder bzw. in Sprache und Symbole (z. B. Gleichung)<br />

gelingt ihnen nicht.<br />

An dieser Stelle setzt unser zweiter Fördergrundsatz an. Der Prozess der Entwicklung<br />

mentaler Vorstellungsbilder aus Handlungen am Material soll unterstützt<br />

werden. Durch geeignete Maßnahmen soll erreicht werden, dass die Kinder<br />

auch bei der materialunabhängigen Lösung von Rechenaufgaben noch die Vorstellung<br />

des Materials haben, das ihnen bei der materialgebundenen Lösung solcher<br />

Aufgaben geholfen hat, mit einer guten Strategie zu einer richtigen Lösung<br />

zu kommen. Das bedeutet zweierlei. Erstens müssen die Materialhandlungen<br />

strukturell mit den angestrebten Kopfrechenstrategien übereinstimmen. Es muss<br />

also ein Material ausgewählt werden, das solche Handlungen nahe legt, die zu<br />

dem Kopfrechenverfahren passen. Zweitens muss die Loslösung vom Material auf<br />

eine solche Weise geschehen, dass die Vorstellung der Materialhandlungen bestehen<br />

bleibt. Das uns dafür geeignet erscheinende Verfahren besteht darin, dass<br />

wir den Kindern nach und nach die Sicht auf das Material und die Möglichkeit der<br />

konkreten Handlungen nehmen (z. B. durch das Verbinden der Augen oder dadurch,<br />

dass das Material hinter einem Sichtschirm verborgen wird), wir zugleich<br />

aber die Kinder auffordern zu sagen, mit welchen Materialhandlungen diese Aufgabe<br />

gelöst werden könnte (vgl. Abb. 2 auf S. 42). Unsere Erfahrungen zeigen,<br />

dass beim späteren materialunabhängigen Rechnen häufig der Hinweis „Denke<br />

an das Material!“ ausreicht, um Kinder wieder zu einem guten Rechenverfahren<br />

zu führen, wenn sie in der Gefahr sind, wieder auf ihr zählendes Rechnen zurückzufallen.<br />

Förderschwerpunkte<br />

Zentrales Ziel der Förderarbeit ist es, die Kinder zu guten und erfolgreichen Strategien<br />

des Kopfrechnens zunächst bei Additions- und Subtraktionsaufgaben zu<br />

führen. Zu diesem Zweck konzentriert sich die Förderung auf drei Schwerpunkte,<br />

von denen die beiden ersten als flankierende, aber unverzichtbare Maßnahmen<br />

für den dritten Förderschwerpunkt zu verstehen sind.<br />

1. Verinnerlichung der Zahlzerlegungen<br />

Mit diesem Förderschwerpunkt soll erreicht werden, dass die Kinder alle Zerlegungen<br />

aller Zahlen bis 10 auswendig können. Die Übung knüpft im Sinne des<br />

ersten Fördergrundsatzes an die bei den Kindern hervorragend entwickelte Fähigkeit<br />

im Umgang mit ihren Fingern an. Im Sinne des zweiten Fördergrundsatzes<br />

wird versucht, die Ablösung von dieser Hilfe durch die Ausbildung mentaler<br />

Vorstellungsbilder zu erreichen.


Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />

Aufgabenformat 1.1: Zerlegung der Zahl 10 an den Händen mit Hilfe eines Stiftes<br />

Das Kind legt beide Hände mit ausgestreckten Fingern,<br />

Daumen an Daumen, auf den Tisch. Als Leserichtung<br />

wird die übliche von links nach rechts verabredet, d. h.<br />

der kleine Finger der linken Hand ist der erste Finger,<br />

der Daumen der rechten Hand der sechste Finger usw.<br />

Mit einem Stift werden nun alle möglichen Zerlegungen<br />

der Zahl 10 dargestellt. Das Kind antwortet möglichst<br />

schnell (um Zählen zu reduzieren) nur mit der Nennung<br />

der beiden Summanden in Leserichtung von links nach<br />

rechts. Im dargestellten Beispiel wird von dem Kind also<br />

nur „drei, sieben“ erwartet. Die Lösung „sieben, drei“<br />

wird zu diesem Zeitpunkt nicht akzeptiert, weil sie gegen<br />

die Leserichtung verstößt.<br />

Aufgabenformat 1.2: Zerlegung der Zahl 10 an den Händen ohne Hilfe eines Stiftes<br />

Wenn die Kinder mit dieser Art der Aufgabenstellung (z. B. auch mit Hilfe von<br />

Partnerübungen) vertraut sind, kann mit der allmählichen Ablösung von konkreten<br />

Handlungen an den Händen begonnen werden: Im Aufgabenformat 1.2 lässt<br />

das Kind beide Hände auf dem Tisch liegen. Die Zahlzerlegung wird aber nicht<br />

mehr mit einem Stift angezeigt, sondern die Förderin sagt die erste Zahl, das<br />

Kind die Ergänzung bis 10. Auch solche Übungen bieten sich für Partnerübungen<br />

an.<br />

Aufgabenformat 1.3: Zerlegung der Zahl 10 mit Hilfe verdeckter Hände<br />

Eine erhebliche Erschwerung ist es, wenn die Hände mit einem Tuch abgedeckt<br />

werden. Denn nun haben die Kinder nicht mehr die Möglichkeit, durch visuell gestütztes<br />

Abzählen an den Fingern diese Aufgaben zu lösen. Eine typische Reaktion<br />

einiger Kinder ist, dass sie die fehlende visuelle Möglichkeit durch eine taktile<br />

ersetzen: Die Finger ‚tanzen‘ unter dem Tuch. Das zeigt, dass diese Kinder noch<br />

auf die Stütze der Finger angewiesen sind. Für die Förderung bedeutet dies, dass<br />

nun immer zwischen Aufgabenformat 1.2 und 1.3 gewechselt wird, bis die Kinder<br />

zunehmend mehr, letztlich alle Zerlegungen der Zahl 10 auswendig wissen.<br />

Aufgabenformat 1.4: Zerlegungen weiterer Zahlen<br />

Beherrschen die Kinder erst einmal alle Zerlegungen der Zahl 10, dann ist die<br />

Erarbeitung der weiteren Zahlzerlegungen meistens nicht mehr so mühsam. Einige<br />

Beispiele:<br />

• Comic-Figuren haben nur 4 Finger an jeder Hand, insgesamt also 8 Finger.<br />

„Machen wir’s wie die Comic-Figuren: 3,5 – 4,4 – 1,7 – ...“<br />

• 2 Kinder legen ihre 4 Hände nebeneinander, 20 Finger: 13,7 – 10,10 – 4,16 –<br />

...<br />

• „Stell dir vor, 10 Kinder sitzen nebeneinander, 100 Finger liegen auf dem<br />

Tisch: 30,70 – 10,90 – 99,1... 75,25 – 51,49 – ...“<br />

Eine Randbemerkung: Die Aufforderung „Stell dir vor“ gehört zu den wichtigsten<br />

Anforderungen in einem handlungsorientierten Mathematikunterricht, denn das<br />

Ziel jeder Handlung ist der Aufbau von Vorstellungen.<br />

37


38<br />

Wilhelm Schipper<br />

2. Schnelles Sehen<br />

Wesentliche Intention dieser Übung ist es, die Kinder schon bei der Zahlauffassung<br />

(und nicht erst beim Rechnen) von zählenden Verfahren wegzuführen. Deshalb<br />

werden den Kindern Zahldarstellungen für nur so kurze Zeit präsentiert,<br />

dass ein Abzählen der einzelnen Elemente nicht möglich ist.<br />

Bei unstrukturiert dargebotenen Mengen ist eine solche simultane Zahlauffassung<br />

nur bis zu etwa fünf Elementen möglich. Größere Anzahlen können quasisimultan<br />

aufgefasst werden, wenn die Zahldarstellung in strukturierter Form<br />

(‚Kraft der 5, Kraft der 10‘) erfolgt.<br />

Aufgabenformat 2.1: Schnelles Sehen am Rechenrahmen<br />

Am strukturierten (20er- oder 100er-)Rechenrahmen<br />

werden – nach Klärung der Konvention, dass alle Kugeln<br />

nach rechts verschoben Null bedeutet – Zahlen hinter<br />

einem Sichtschirm für das Kind verdeckt eingestellt.<br />

Diese Zahldarstellung wird dem Kind für nur sehr kurze<br />

Zeit (etwa eine Sekunde) präsentiert. Die Aufgabe des<br />

Kindes besteht darin, aus dem wahrgenommenen Bild<br />

die Anzahl mental zu rekonstruieren: 3 volle Stangen,<br />

also 30; auf der nächsten Stange noch eine Fünfergruppe<br />

und 2 einzelne, also 7; macht zusammen 37. Eine Festigung<br />

des Stellenwertverständnisses ist bei dieser Übungsform<br />

ein erwünschtes Nebenergebnis.<br />

Aufgabenformat 2.2: Schnelles Sehen am Computer<br />

Die gleiche Übungsform ist auch als Computer-Programm unter dem Namen<br />

‚Schnelles Sehen‘ erhältlich (D.&J. Wohlrab – SoWoSoft – Große Oker 24, 38707<br />

Altenau). Gegenüber dem Aufgabenformat 2.1 bietet dieses Programm einige<br />

Vorteile. So kann das Kind diese Übungen durchführen, ohne dass ein menschlicher<br />

Aufgabensteller notwendig ist. Durch Voreinstellungen im Programm können<br />

die Übungen den aktuellen Kompetenzen der Kinder angepasst werden (Beschränkung<br />

auf den Zahlenraum bis 10, 20, 30, ... 100; Verhinderung von Darstellungen<br />

‚schwerer‘ Einer wie z. B. 7 oder 8 u. Ä.). Die Zeiten für die Zahldarstellung<br />

werden vom Computer exakt kontrolliert und – der entscheidende Vorteil<br />

– die gesamte Übung wird protokolliert, so dass die Lehrerin bzw. der Lehrer zu<br />

einem späteren Zeitpunkt kontrollieren kann, wie viele Übungen das Kind durchgeführt<br />

hat, wie viele Aufgaben falsch bzw. richtig gelöst wurden und – vor allem<br />

– welche Art von Fehlern das Kind gemacht hat. Das sei an einem Ausschnitt eines<br />

Protokolls erläutert.<br />

FRANZISK 20.11.2002 Arbeitszeit: 11 min 29 sec bearbeitete Aufgaben: 22<br />

Zahl 0,2 Sek<br />

ˇ Zahl/Zeit<br />

0,5 Sek<br />

Zahl/Zeit<br />

1 Sek<br />

Zahl/Zeit<br />

2,5 Sek<br />

Zahl/Zeit<br />

5 Sek<br />

Zahl/Zeit<br />

ˇ88 89 34,8 88 11,8 46,6<br />

ˇ33 33 10,0 10,0<br />

ˇ36 53 11,0 63 8,6 36 9,7 29,3<br />

ˇ55 52 5,9 55 7,5 13,4<br />

ˇ24 42 6,8 24 18,7 25,5<br />

ˇ77 86 10,3 87 19,3 77 9,4 39,0<br />

ˇ 7 6 6,5 7 6,4 12,9<br />

ˇ87 93 9,0 87 9,4 18,4<br />

ˇ69 54 37,4 57 35,3 68 15,3 67 15,9 69 84,0 187,9<br />

ok?<br />

Zeit


Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />

ˇ41 43 9,1 41 13,3 22,4<br />

ˇ 9 10 5,0 7 34,0 9 6,2 45,2<br />

ˇ99 90 25,5 99 8,4 33,9<br />

ˇ10 10 4,6 4,6<br />

ˇ90 90 6,4 6,4<br />

ˇ71 61 7,2 71 7,4 14,6<br />

ˇ28 62 8,7 26 9,6 27 9,4 28 11,9 39,6<br />

Am 20.11.2002 hat Franziska 11 Minuten und 29 Sekunden am Programm<br />

‚Schnelles Sehen‘ gearbeitet und in dieser Zeit insgesamt 22 Aufgaben bearbeitet.<br />

Als erste Aufgabe wurde ihr die Darstellung der Zahl 88 für zunächst 0,2 Sekunden<br />

präsentiert. Nach 34,8 Sekunden gibt sie „89“ als Lösung ein, macht also<br />

einen +1-Fehler. Ihr zweiter Lösungsversuch ist richtig. Für die Bearbeitung der<br />

ersten Aufgabe hat sie insgesamt 46,6 Sekunden gebraucht. Als dritte Aufgabe<br />

wird ihr die Darstellung der Zahl 36 gezeigt. Sie gibt zunächst „53“ als Lösung<br />

an. Nach der zweiten, nunmehr 0,5 Sekunden währenden Präsentation der gleichen<br />

Zahl gibt sie „63“ als Lösung an; erst im dritten Versuch (1 Sekunde Präsentationszeit)<br />

gelingt ihr die richtige Lösung. Vermutlich hat sie die dargestellte<br />

Zahl 36 im ersten Versuch als 35 gelesen, jedoch den Zahlendreher 53 eingetippt;<br />

dafür spricht, dass sie im zweiten Versuch 63 als Zahlendreher von 36 eingibt.<br />

Der weitere Protokollausschnitt zeigt, dass Franziska noch weitere solche<br />

Zahlendreher schreibt.<br />

3. Entwicklung von Rechenstrategien<br />

Die o. a. Übungen zur Verinnerlichung der Zahlzerlegungen und zum schnellen<br />

Sehen sind flankierende Maßnahmen für die im Folgenden dargestellte zentrale<br />

Übungsform, deren Intention es ist, die Kinder vom zählenden Rechnen wegzuführen<br />

hin zur Nutzung leistungsfähiger Strategien des Kopfrechnens. Diese beiden<br />

Übungsformen sind insofern flankierend, als für das Nutzen der operativer<br />

Strategie des schrittweisen Rechnens das Auswendigwissen der Zahlzerlegungen<br />

äußerst hilfreich ist und die quasi-simultane Zahlauffassung und Zahldarstellung<br />

das Zählen im Zusammenhang mit Materialhandlungen verhindert.<br />

Das Problem der Auswahl von Rechenstrategien<br />

Die Tabelle 1 (S. 34) gibt einen Überblick über die möglichen Strategien des ersten<br />

und des weiterführenden Rechnens. Schön wäre es, wenn alle Kinder alle<br />

Strategien jeweils optimal angepasst an die vorgegebene Zahlenkonstellation<br />

nutzen könnten. Für verfestigte zählende Rechner ist das eine völlig unrealistische<br />

Vorstellung. Für diese Kinder ist vielmehr ein Verfahren auszuwählen, das<br />

einerseits universell ist, andererseits fortsetzbar. Mit dem Attribut ‚universell‘<br />

werden solche Verfahren gekennzeichnet, deren Anwendung nicht von spezifischen<br />

Zahlenkonstellationen abhängig ist. Das Nutzen des Verdoppels etwa ist in<br />

diesem Sinne nicht universell. Dieses Verfahren liegt nur dann nahe, wenn die<br />

beiden Summanden nahe beieinander liegen; die Aufgabe 25 + 28 kann z. B. von<br />

Zweit- und Drittklässlern (hoffentlich) über ‚das Doppelte von 25, plus 3‘ gerechnet<br />

werden. Bei einer Aufgabe wie 24 + 68 wird aber kaum jemand auf die Idee<br />

kommen, diese über ‚das Doppelte von 24 plus Differenz aus 68 und 24‘ zu lösen.<br />

Unter den in Tabelle 1 aufgelisteten Verfahren sind nur das schrittweise<br />

Rechnen (schon ab Klasse 1) und das Verfahren ‚Stellenwerte extra‘ (ab Klasse<br />

2) universell. Da das schrittweise Rechnen (anders als ‚Stellenwerte extra‘) auch<br />

gut fortsetzbar ist, also auch noch für das Kopfrechnen mit dreistelligen Zahlen<br />

39


40<br />

Wilhelm Schipper<br />

gut genutzt werden kann, ist für uns diese Art des (additiven) Rechnens das<br />

Mindestverfahren, das auch die verfestigten zählenden Rechner mindestens lernen<br />

sollen. Vorteilhaft ist dieses Verfahren auch deshalb, weil es – anders als<br />

‚Stellenwerte extra‘ – bei Subtraktionen mit Zehnerüberschreitung keine besonderen<br />

Probleme erzeugt. Im Mittelpunkt der Förderung steht daher die Entwicklung<br />

des schrittweisen Rechnens als Kopfrechenverfahren bei Addition und Subtraktion,<br />

vom Rechnen im Zahlenraum bis 20 bis hin zum (gestützten) Kopfrechnen<br />

im Zahlenraum bis 1000.<br />

Das Problem der Auswahl eines geeigneten Arbeitsmittels<br />

Kopfrechenstrategien sollen als mentale Verinnerlichung aus Handlungen an Materialien<br />

entstehen. Daher müssen die Handlungen strukturell mit der angestrebten<br />

Form des Kopfrechnens übereinstimmen. Prüft man auf diesem Hintergrund,<br />

welche Handlungen notwendig sind, um etwa mit Steckwürfeln eine Aufgabe wie<br />

6 + 8 zu lösen, dann wird deutlich, dass dieses Material nicht für die Entwicklung<br />

des schrittweisen Rechnens geeignet ist. Denn mit Steckwürfeln müssen die Kinder<br />

zunächst den ersten Summanden 8 durch Abzählen darstellen, dann wiederum<br />

durch Abzählen in Einerschritten den zweiten Summanden 6. Da der so geschaffene<br />

Repräsentant des Ergebnisses (in der Regel, d. h., wenn die Kinder<br />

nicht bestimmte Konventionen eingehalten haben) nicht quasi-simultan erfassbar<br />

ist, müssen sie erneut zählen, um den Wert der Summe zu ermitteln. Eine solche<br />

Vorgehensweise stabilisiert das Verfahren des Alles-Zählens, dessen Ablösung<br />

das erklärte Ziel der Arbeit mit Material ist.<br />

Benötigt wird daher ein Material, das es erstens gestattet, die Zahl 6 simultan<br />

(‚mit einem Fingerstreich‘) darzustellen, das zweitens das Auffüllen bis 10 vom<br />

Material her fordert (und nicht als mühsam zu erarbeitende Konvention, an die<br />

Kinder sich strikt halten müssen) und das es drittens erlaubt, nach der Darstellung<br />

der restlichen 4 den so insgesamt dargestellten Wert der Summe quasisimultan<br />

(‚mit einem Blick‘) aufzufassen. Der strukturierte (20er- bzw. 100er-)<br />

Rechenrahmen bietet genau diese Möglichkeiten. Er fordert Handlungen geradezu<br />

heraus, die strukturell mit dem angestrebten schrittweisen Rechnen „im Kopf“<br />

übereinstimmen. Dies sei am Beispiel der Aufgabe 6 + 8 verdeutlicht.<br />

Die Kinder stellen zunächst den ersten Summanden<br />

dar, füllen danach die erste Stange vollständig bis 10<br />

auf und stellen dann den Rest auf der nächsten Stange<br />

dar.<br />

Voraussetzung für die Anwendung dieser Strategie ist,<br />

dass die Kinder die Zerlegungen des zweiten Summanden<br />

möglichst auswendig wissen. Deshalb müssen die<br />

Zerlegungen der Zahlen bis einschließlich 10 intensiv<br />

geübt werden (vgl. die Übungsformen 1.1 bis 1.4).<br />

Wichtig ist, dass die Kinder ihre Handlungen sprachlich<br />

begleiten: „Sechs – zehn – vierzehn“. Weniger wichtig<br />

ist die Form der schriftlichen Notation dieser Rechnung.<br />

Solche schriftlichen Notationen sollten höchstens die<br />

Funktion eines Protokolls der Handlung haben, aber<br />

nicht zu einem Selbstzweck werden, indem in immer<br />

wiederkehrenden Übungen die Kinder gezwungen werden,<br />

die ‚schriftliche Normalform‘ zu verwenden, obgleich<br />

sie die Rechnung längst im Kopf beherrschen.<br />

Zunächst die 6 oben ...<br />

... dann die restlichen 4<br />

auf der oberen Stange<br />

...<br />

... und noch die fehlenden<br />

4 auf der unteren<br />

Stange.<br />

6 + 8 =<br />

„Sechs – zehn – vierzehn“


Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />

Aufgabenformat 3.1: Handlungen am Rechenrahmen<br />

Zunächst müssen die Kinder lernen, die zum schrittweisen Rechnen passenden<br />

Handlungen am Rechenrahmen durchzuführen und sie in der o. g. prägnanten<br />

Form sprachlich zu beschreiben. Ein häufiges Problem dabei ist, dass die Kinder,<br />

die sich ja zumeist schon in Klasse 3 oder 4 befinden, nicht mehr unbefangen mit<br />

diesem Arbeitsmittel umgehen können, einem Arbeitsmittel, von dem sie wissen,<br />

dass es im ersten Schuljahr benutzt wird. Hier ist es oft hilfreich, diese Kinder in<br />

die Situation eines ‚großen Bruders‘ bzw. einer ‚großen Schwester‘ zu versetzen,<br />

die der/dem ‚Kleinen‘ erklärt, wie solche Aufgaben mit Hilfe dieses Materials gelöst<br />

werden können.<br />

Auf einige Punkte muss besonders geachtet werden. Die Zahldarstellungen erfolgen<br />

mit einem ‚Fingerstreich‘ bzw. mit so wenigen wie möglich. Jede Handlung<br />

ist sprachlich zu begleiten. Optimal ist die sehr kurze, prägnante sprachliche Begleitung<br />

mit der Angabe der jeweils vorgenommenen Zahldarstellung: „sechs –<br />

zehn – vierzehn“. Vor allem die Nennung des Zwischenstandes „zehn“ ist zu fordern,<br />

weil sonst die Gefahr besteht, dass die Kinder nach Durchführung der<br />

Handlungen doch wieder anfangen zu zählen. Die gleiche Gefahr besteht, wenn<br />

die Kinder statt der Zwischenstände die Operationen („vier dazu, dann noch einmal<br />

vier dazu“) benennen.<br />

Auch schon in dieser ersten Übungsphase sollten Aufgaben mit Übergängen über<br />

die weiteren Zehner (bis 90) gestellt werden, also Aufgaben vom Typ ZE + E, wie<br />

z. B. 37 + 5, 78 + 7 etc. Ob zugleich Subtraktionsaufgaben mit Zehnerübergang<br />

behandelt werden sollen, muss im Einzelfall entschieden werden. Tendenziell ist<br />

es besser, sich zunächst auf Additionen zu konzentrieren, Subtraktionen erst<br />

dann zu behandeln, wenn mindestens das Aufgabenformat 3.2 gesichert ist.<br />

Aufgabenformat 3.2: Erste Ablösung von den Handlungen<br />

Wenn das Aufgabenformat 3.1 von dem Kind beherrscht wird, beginnt die behutsame<br />

Ablösung vom Material. Sie geschieht jedoch auf eine Weise, dass die Vorstellung<br />

der Materialhandlung erhalten bleibt.<br />

Der Rechenrahmen wird für das Kind sichtbar so weit entfernt aufgestellt, dass<br />

Handlungen am Material für das Kind nicht mehr möglich sind, der Rechenrahmen<br />

nur noch angeschaut werden kann. Zur Lösung einer Aufgabe (z. B. 37 + 6)<br />

soll das Kind beschreiben, wie die zugehörigen Handlungen am Material aussehen:<br />

„Erst die 37 einstellen, dann 3 dazu sind 40; noch einmal 3 sind 43“ oder<br />

kürzer: „37 – 40 – 43“.<br />

Aufgabenformat 3.3: Rechnen mit verbundenen Augen<br />

Im nächsten Schritt wird vom Kind erwartet, die Lösung von Aufgaben mit Zehnerübergang<br />

nur noch mit vorgestellten Handlungen am Rechenrahmen zu lösen.<br />

Das Material selbst ist für das Kind weder greifbar noch sichtbar.<br />

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42<br />

Wilhelm Schipper<br />

Abb. 2: Das Kind löst Aufgaben zur Zehnerüberschreitung mit Hilfe der Vorstellung<br />

des Rechenrahmens, indem es der Förderin die Handlungen zur Lösung<br />

der Aufgabe diktiert.<br />

Dazu werden dem Kind die Augen verbunden (vgl. Abbildung 2) bzw. der Rechenrahmen<br />

wird hinter einem Sichtschirm verborgen so aufgestellt, dass die<br />

Förderin darauf zugreifen kann. Die Förderin diktiert dem Kind eine Aufgabe vom<br />

Typ ZE±E mit Zehnerüberschreitung, das Kind diktiert die Handlungen, die die<br />

Förderin zur Lösung der Aufgabe am Material vollziehen soll.<br />

Perspektiven für die weitere Förderung<br />

Das eben beschriebene Aufgabenformat 3.3 ist die entscheidende Hürde bei der<br />

Ablösung vom zählenden Rechnen. Gelingt den Kinder die Versprachlichung und<br />

damit die Vorstellung der notwendigen Handlungen, dann gelingt es nicht wenigen<br />

von ihnen, in den nächsten zwei bis drei Förderstunden Aufgaben vom Typ<br />

HZE±HZE mit Zehner- und Hunderterüberschreitung erfolgreich zu lösen – im<br />

Kopf bzw. halbschriftlich und in angemessener Zeit. Voraussetzung dafür ist jedoch,<br />

dass das Rechnen mit vollen Zehner (ZE±Z) gelingt. Falls bei diesem Aufgabentyp<br />

Probleme bestehen, dann sollte nicht mit dem Rechenrahmen, sondern<br />

mit der Hunderter-Tafel gearbeitet werden, weil sich an diesem Material die Addition<br />

und Subtraktion voller Zehner gut als Wege nach unten bzw. oben darstellen<br />

und vorstellen läßt. Der komplexeste Aufgabentyp beim Rechnen im Zahlenraum<br />

bis 100, nämlich ZE±ZE mit Zehnerüberschreitung, sollte ganz ohne konkrete<br />

Materialhandlungen gelöst werden, weil die Addition voller Zehner nicht gut am<br />

Rechenrahmen, die Addition von Einern über den Zehner nicht gut an der Hunderter-Tafel<br />

darstellbar ist. Statt dessen sollten die Kinder den ersten Teilschritt<br />

(ZE±Z) mit der Vorstellung der Hunderter-Tafel vollziehen, den zweiten Teilschritt<br />

(ZE±E) mit der Vorstellung des Rechenrahmens.<br />

Verfestigte zählende Rechner lösen häufig auch die Aufgaben des kleinen Einmalseins<br />

auf zählende Weise. Daher besteht bei den meisten Kinder auch noch in<br />

diesem Bereich Förderbedarf. Die Kinder sollten lernen, sich die Einmaleinsauf-


Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />

gaben mit Hilfe der auswendig gewussten ‚Königsaufgaben‘ zu erschließen (vgl.<br />

Radatz u. a. 1998, S. 81ff.). Letztlich ist es aber auch hier wichtig, dass die Kinder<br />

das kleine 1 x 1 auswendig wissen.<br />

Das zweithäufigste Symptom für Rechenstörungen: Links-/Rechts-<br />

Problematik<br />

Ein auffällig hoher Prozentsatz von Kindern mit Verdacht auf Rechenstörungen ist<br />

nicht sicher bei der Unterscheidung von links und rechts, weder an sich selbst<br />

noch am Gegenüber. Diese Kompetenz kann leicht mit Aufgaben der folgenden<br />

Art überprüft werden: „Zeige mir deinen rechten Arm, dein linkes Ohr, stelle dich<br />

auf dein linkes Bein. Zeige mir meine rechte Hand, meinen linken Fuß und (damit<br />

nicht alles so fürchterlich ernst zugeht) meine linke Nase.“ Aufgaben dieser Art<br />

sind zugleich auch Fördermöglichkeiten, um eine noch fehlende Links-/Rechts-<br />

Unterscheidung zu sichern.<br />

Die Fähigkeit zur Links-/Rechts-Unterscheidung wird im Mathematikunterricht vor<br />

allem beim Arbeiten mit Material benötigt, denn alle Arbeitsmittel und alle Veranschaulichungen<br />

im Mathematikunterricht der Grundschule operieren mit Richtung,<br />

nicht nur der Zahlenstrahl. So korrespondiert das Addieren eindeutig mit<br />

einer Bewegung nach rechts und ggf. nach unten auf der Hunderter-Tafel, aber<br />

mit einem Schieben von Perlen von rechts nach links am Rechenrahmen usw.<br />

Kinder, die nicht sicher links und rechts unterscheiden, sollten, so<br />

wie im 1. Schuljahr, wieder ein farbiges Band oder, weniger auffällig<br />

im 3. Schuljahr, eine Armbanduhr tragen. Auf diese Weise haben sie<br />

eine ständige Orientierungshilfe bei sich.<br />

Nicht selten ist die Unsicherheit bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />

mit falscher Ziffernschreibweise (spiegelverkehrte Ziffern) und<br />

mit Zahlendrehern (32 statt 23; vgl. auch das Protokoll von Franziskas<br />

Arbeit am Programm „Schnelles Sehen“) beim Schreiben von<br />

zweistelligen Zahlen verbunden. Manche der betroffenen Kinder<br />

schreiben die Zahlen von rechts nach links. Die scheinbare Hilfe, die<br />

Zahlen so schreiben zu lassen, „wie man sie spricht“, das Schreiben<br />

der Zahl 23 also von rechts nach links beginnend mit der Ziffer 3 zu<br />

erlauben, erweist sich spätestens im 3. Schuljahr als Sackgasse.<br />

Zahlendiktate am Taschenrechner sind in diesen Fällen hilfreiche<br />

Übungen.<br />

Die nebenstehende Abbildung zeigt ein Zahlendiktat eines Kindes<br />

mit einer auffälligen Links-/Rechts-Problematik. Die beiden letzten<br />

Zahlen stehen für 23 und 35.<br />

Beobachtungsschwerpunkte<br />

Im Sinne einer frühzeitigen Diagnose von sich entwickelnden Problemen im Mathematikunterricht<br />

sollten vor allem die folgenden Aspekte beobachtet werden.<br />

• Zählkompetenz<br />

Das Aufsagen der Zahlwortreihe einerseits (verbales Zählen) und die Fähigkeit,<br />

Mengen richtig abzählen zu können andererseits (Abzählen), sind wichtige<br />

Voraussetzungen für eine erfolgreiche Teilnahme am arithmetischen Anfangsunterricht,<br />

die sich in der Regel bereits in der vorschulischen Zeit entwickeln.<br />

Diese Kompetenzen können bei Vorschulkindern ausgebaut, müssen bei<br />

Schulanfängern gefestigt werden. Das ist sowohl mit eher ganzheitlich ange-<br />

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44<br />

Wilhelm Schipper<br />

legten, projektorientierten, herausfordernden Aufgaben möglich (Radatz u. a.<br />

1996, S. 51ff.) als auch mit isolierten Übungen (ebd., S. 57ff.). Besondere Beachtung<br />

verdient das Rückwärtszählen, weil diese Fähigkeit durch Anregungen<br />

zu Hause selten gefördert wird, sie aber eine wichtige Voraussetzung für die<br />

Zwischenphase des rückwärtszählenden Lösens von Subtraktionsaufgaben ist.<br />

Fehlt diese Fähigkeit, dann besteht die Gefahr, dass im Extremfall das Kind<br />

kein Grundverständnis für die Subtraktion entwickelt.<br />

• Zahlauffassung, Zahldarstellung und Zahlzerlegung<br />

Erste Zahlauffassungen („Wie viele Plättchen sind das?“) erfolgen abzählend.<br />

Schon Drei- bis Vierjährige sind ganz stolz, wenn sie mit „Eins, zwei, drei, viele“<br />

abzählen können, wie viele Bonbons sie haben. Solche (und bessere) Formen<br />

der Zahlauffassungen sind elementare Grundvoraussetzungen für die<br />

quantitative Bewältigung auch von Alltagsanforderungen. Im Laufe des ersten<br />

Schuljahres sollen die Kinder auch nicht-zählende, quasi-simultane Zahlauffassungen<br />

und Zahldarstellungen an strukturierten Materialien (z. B. am Rechenrahmen)<br />

lernen (vgl. ‚Schnelles Sehen‘). Darüber hinaus ist es wichtig, den<br />

Kindern ein Angebot zu machen für Zahlauffassungen mit vielen Sinnen (‚Zahlen<br />

hören, fühlen, tasten’; vgl. Bauersfeld/O´Brien 2002), denn solche Übungen<br />

können dazu beitragen, die quantitativen Zahlvorstellungen der Kinder zu<br />

sichern, und vielleicht bewirken, dass Kinder bei Zahlen statt nur an Zahlzeichen<br />

(Ziffern) zu denken, sich wirklich Anzahlen vorstellen. Zusammen mit gesicherten<br />

Kenntnissen der Zerlegungen der Zahlen bis 10 fördern solche Übungen<br />

die Fähigkeit, flexibel mit Zahlen umzugehen, eine Fähigkeit, in der<br />

sich die leistungsstarken Kinder deutlich von den leistungsschwachen unterscheiden.<br />

• Handelnde Lösung von Rechengeschichten<br />

Auf den ersten Blick scheinen Materialien vor allem Lösungshilfen zu sein. Immer<br />

dann, wenn eine gegebene Rechenaufgabe von dem Kind noch nicht ohne<br />

Hilfsmittel bewältigt werden kann, greift es auf sein Arbeitsmittel zurück. Aus<br />

Sicht des Kindes ist diese Funktion als Lösungshilfe sehr wichtig, weil es das<br />

Kind in die Lage versetzt, vorgegebene rechnerische Anforderungen zu bewältigen.<br />

Aus didaktischer Sicht kann der Einsatz von Material nicht auf diese<br />

Funktion reduziert bleiben, denn dann unterschieden sich solche Materialien<br />

nicht vom Taschenrechner, der auch nur die Lösung liefert.<br />

Tatsächlich finden in solchen Handlungen zur Lösung von Aufgaben auch schon<br />

sehr viel mehr Lernprozesse statt. Die Übersetzung einer Rechengeschichte<br />

(„Vier Kinder spielen im Sandkasten, fünf Kinder kommen dazu.“) oder einer<br />

kontextfreien Aufgabe (4 + 5) in eine Handlung (Erst 4, dann 5 Plättchen legen,<br />

danach abzählen, wie viele es insgesamt sind.) fordert und fördert das<br />

Grundverständnis für Zahlen und Rechenoperationen. Die Fähigkeiten, Additionsaufgaben<br />

in Handlungen des Dazulegens, Subtraktionen in Handlungen des<br />

Wegnehmens übersetzen zu können, sind grundlegende Voraussetzungen für<br />

die erfolgreiche Teilnahme am arithmetischen Anfangsunterricht.<br />

Im ersten Halbjahr des ersten Schuljahres sollte daher ein unterrichtlicher<br />

Schwerpunkt bei der Übersetzung von Rechengeschichten in Handlungen an<br />

Material liegen. Ziel solcher Übungen zur Übersetzung von Rechengeschichten<br />

(und später auch von kontextfreien Rechenaufgaben wie 6 + 3 = bzw. 7 – 5<br />

= ) in Handlungen ist der Aufbau von mentalen Vorstellungen des Zusammenlegens<br />

als Grundvorstellung für die Addition bzw. des Wegnehmens oder<br />

Abtrennens als Grundvorstellung für die Subtraktion, so dass die Kinder letzt-


Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />

lich nur noch mit den Vorstellungen operieren, auf den konkreten Handlungsvollzug<br />

verzichten können. Vor allem eine Maßnahme ist geeignet, diesen Prozess<br />

des Aufbaus von Grundvorstellungen zu unterstützen, nämlich die<br />

Versprachlichung der Handlungen. Dadurch werden die Handlungen am Material<br />

den Kindern bewusster. Wichtig ist dabei, dass nicht nur die eigentliche<br />

Lösungshandlung beschrieben wird, sondern jeweils die Beziehungen zwischen<br />

Teilen der Rechengeschichte und den zugehörigen Handlungen herausgearbeitet<br />

werden, z. B.: „Ich lege zuerst 4 Plättchen für die 4 Puppen von Friederike,<br />

dann ...“<br />

• Links-/Rechts-Unterscheidung<br />

Die Fähigkeit, links und rechts unterscheiden zu können, ist für ein erfolgreiches<br />

Mathematiklernen unabdingbar, weil alle Arbeitsmittel und Veranschaulichungen<br />

mit Richtung operieren. Im Anfangsunterricht sollte daher einerseits<br />

überprüft werden, welche Kinder schon sicher sind in der Richtungsunterscheidung,<br />

welche nicht, andererseits sollte mit gezielten, auch spielerischen Maßnahmen<br />

(z. B. einschlägige Memory-Spiele) die Fähigkeit zur Links-/Rechts-<br />

Unterscheidung gefördert werden. Hierbei können auch die Eltern eingebunden<br />

werden.<br />

• Zehnerübergang<br />

Der Zehnerübergang ist die entscheidende Hürde im Mathematikunterricht des<br />

ersten Schuljahres. Seine Behandlung bietet erstmals die Chance, Kindern bei<br />

der Entwicklung operativer Strategien des Rechnens zu helfen, eine Chance,<br />

die wahrzunehmen dringend empfohlen wird, weil die Kinder so die Gelegenheit<br />

haben, an dieser Stelle Rechenstrategien zu lernen, mit denen sie dann<br />

auch in den Folgeschuljahren Rechenaufgaben in größeren Zahlenräumen lösen<br />

können. Wie Kindern beim Prozess der Verinnerlichung von Handlungen<br />

am Material geholfen werden kann, ist auf den Seiten 40ff. beschrieben worden.<br />

Guter Mathematikunterricht als bestes Mittel schulischer<br />

Prävention<br />

Das Feld der besonderen Schwierigkeiten einiger Kinder beim Erlernen des Rechnens<br />

wird in zunehmendem Maße – auch mit Unterstützung der Medien – von<br />

außerschulischen ‚Dyskalkulie-Instituten‘ besetzt. Die Zuschreibung von ‚Symptomen<br />

von Krankheitswert‘ (eine in zahlreichen Diagnosen kommerzieller Einrichtungen<br />

zu findende Formulierung) setzt einen Teufelskreis in Gang, der aus Kindern,<br />

die zunächst ‚bloß‘ im Mathematikunterricht auffallen, psychisch kranke<br />

Kinder macht (vgl. Schipper 2002a), die einer außerschulischen ‚Therapie‘ bedürfen.<br />

Diese ist – der attestierten ‚seelischen Behinderung‘ entsprechend – häufig<br />

nicht auf die Förderung der mathematischen Kompetenzen der Kinder ausgerichtet,<br />

sondern zielt ausschließlich auf die Stärkung des Selbstbewusstseins der<br />

Kinder oder auf deren Förderung basaler Fähigkeiten (z. B. Figur-Grund-<br />

Unterscheidung).<br />

Eine solche Verlagerung von schulischer Förderung hin zur außerschulischen<br />

‚Therapie‘ ist nur dann möglich, wenn auch Schule der Ansicht ist, bei Rechenstörungen<br />

handele es sich um eine Krankheit. Selbstverständlich besteht die Gefahr,<br />

dass Kinder, die dauerhaft schulische Misserfolge erleiden, Angst vor Schule und<br />

Zweifel an der eigenen Persönlichkeit entwickeln, letztlich „seelisch behindert<br />

oder von einer solchen Behinderung bedroht“ (KJHG § 35a; siehe Glossar) sind.<br />

Eine Rechenstörung ist aber zunächst einmal keine Krankheit, sondern der miss-<br />

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Wilhelm Schipper<br />

lungene Versuch, das Rechnen zu lernen. Und für dieses Rechnenlernen ist ohne<br />

jeden Zweifel die Schule zuständig und besser gerüstet als wohl jedes kommerzielle<br />

‚Dyskalkulie-Institut‘. Deshalb ist die Prävention von Rechenstörungen eine<br />

ureigene Aufgabe von Schule.<br />

Die beste Prävention besteht – so banal das klingt – in einem guten Mathematikunterricht.<br />

Zwei wesentliche, einander ergänzende Merkmale eines solchen guten<br />

Mathematikunterrichts sind Offenheit und Zielorientierung (vgl. Schipper 2001).<br />

Beide Begriffe beziehen sich auf die inhaltliche, die methodische und die kommunikativ-interaktive<br />

Ebene des Unterrichts. Ein inhaltlich offener Mathematikunterricht<br />

gibt Gelegenheit für ein „Mathematiklernen in Sinnzusammenhängen“<br />

(Schütte 1994) und stellt beziehungshaltige und fortsetzbare Probleme in den<br />

Mittelpunkt des Unterrichts. In einem methodisch offenen Unterricht gibt es keine<br />

Vorschriften über einheitliche Rechenverfahren für alle Kinder. Vielmehr werden<br />

Aufgaben bewusst so ausgewählt, dass sie unterschiedliche Zugänge und<br />

Lösungswege erlauben, so weit den Kindern dies möglich ist. Ein kommunikativinteraktiv<br />

offener Unterricht gibt den Kindern die Chance, eigene Ideen zu entwickeln<br />

und zu äußern, und betont insgesamt die Notwendigkeit sozialen Lernens<br />

sowie der Kommunikation und Interaktion der Kinder untereinander und mit ihrer<br />

Lehrerin. Diese Form der Offenheit im Mathematikunterricht muss einhergehen<br />

mit einer klaren Zielorientierung. Das bedeutet auch, dass der Offenheit durch<br />

die Zielorientierung Grenzen gesetzt werden müssen. So kann und muss z. B.<br />

der grundsätzlich begrüßenswerten Individualität der Lösungswege Grenzen gesetzt<br />

werden, wenn ein Kind in der Gefahr steht, für sich ein einziges Verfahren<br />

des Rechnens zu stabilisieren, das auf Dauer in eine Sackgasse führt, nämlich<br />

das Verfahren des zählenden Rechnens. Wir brauchen eine Offenheit ohne Beliebigkeit<br />

und zugleich eine Zielorientierung ohne Gängelung. Die folgenden Leitfragen<br />

sollen bei der Umsetzung dieses Konzepts helfen.


Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />

Leitfragen zur Offenheit und Zielorientierung 1<br />

1. Inhaltliche Öffnung<br />

• Sind die von Ihnen ausgewählten Aufgaben problem- und beziehungshaltig?<br />

Welche Mathematik steckt in ihnen? Welche Anwendungsbereiche helfen diese<br />

Aufgabe erschließen?<br />

• Welche für Ihre SchülerInnen möglichen Entdeckungen von Mathematik erlauben<br />

die Aufgaben? Wie werden Ihre SchülerInnen ihre Entdeckungen vermutlich<br />

präsentieren?<br />

• Welchen Beitrag zur Vertiefung bzw. Erweiterung des geometrischen, arithmetischen<br />

bzw. sachrechnerischen Verständnisses leisten Ihre Aufgaben?<br />

• An welche Vorkenntnisse knüpfen Ihre Aufgaben an? Wie reaktivieren Sie diese<br />

Vorkenntnisse?<br />

• Sind Ihre Aufgaben geeignet, bisher erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten zu<br />

strukturieren und mit anderen Wissens- und Fertigkeitselementen zu verzahnen?<br />

• Für welche Themen/Inhalte des weiterführenden Mathematikunterrichts sind<br />

die anhand Ihrer Aufgaben erworbenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten<br />

notwendige Voraussetzung?<br />

• Welche Aufgabenvariationen sind geeignet, die von den Kindern anhand Ihrer<br />

Aufgaben gewonnenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten zu stabilisieren<br />

und zu vertiefen?<br />

• Wie prüfen Sie, ob die mit der Behandlung der Aufgabe verbundenen Ziele erreicht<br />

wurden? Wie prüfen Sie insbesondere das Verständnis, nicht nur die<br />

Fertigkeit?<br />

• Wie sieht eine Fortsetzung Ihrer Aufgaben mit dem Ziel einer Erweiterung der<br />

bisher gewonnenen Erkenntnisse aus?<br />

2. Methodische Öffnung<br />

• Welche herausfordernde Aufgabe mit welchem konkreten inhaltlichen Kontext<br />

halten Sie für geeignet als Einstieg in den von Ihnen gewählten Themenbereich?<br />

• Welche individuell unterschiedlichen Herangehensweisen an die Aufgabe erwarten<br />

Sie von den Schülern? Welche Vorgehensweisen der Kinder sind fortsetzbar,<br />

welche führen in eine Sackgasse? Welche Alternativen können Sie<br />

aufzeigen?<br />

• Erlauben Ihre Aufgaben eine innere Differenzierung in dem Sinne, dass die<br />

gleichen Aufgaben von verschiedenen Schülern auf unterschiedlichem Niveau<br />

bearbeitet werden können?<br />

• Welche Fragen bzw. Anregungen sind geeignet, ein vertieftes Nachdenken der<br />

Kinder und ein Konzentrieren auf den mathematischen Kern der Aufgaben<br />

herauszufordern?<br />

• Welche Inhalte sollten Ihrer Ansicht nach Gegenstand der Rechen- bzw. Strategiekonferenz<br />

sein?<br />

• Welche Aspekte wollen Sie in der Zusammenfassung der wesentlichen Unterrichtsergebnisse<br />

besonders betonen?<br />

1 Aus: Schipper 2001<br />

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Wilhelm Schipper<br />

3. Interaktiv-kommunikative Öffnung<br />

• Sind Ihre Aufgaben in besonderer Weise geeignet, Interaktion und Kommunikation<br />

zwischen den Schülern zu fordern und zu fördern?<br />

• Welche Sozialformen sind für eine Bearbeitung der Aufgaben geeignet? Favorisieren<br />

Sie eine Form oder streben Sie bewusst Vielfalt der Sozialformen an?<br />

• Welche Schwierigkeiten bei der Interaktion und Kommunikation der Schüler<br />

untereinander erwarten Sie?<br />

• In welcher Form sollen die Ergebnisse der Strategiekonferenz zusammengefasst<br />

werden? Planen sie selbst eine zusammenfassende Darstellung? Sollen<br />

die Schüler ihre Ergebnisse dokumentieren? In welcher Form?<br />

Literatur<br />

Bauersfeld, H./O´Brien, T.: Mathe mit geschlossenen Augen. Mülheim: Verlag an der<br />

Ruhr 2002<br />

Capenter, T. P./Moser, J. M./Romberg, T. A. (Eds): Addition and Subtraction: A Cognitive<br />

Perspective. Hillsdale: Erlbaum 1982<br />

DIMDI – Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (Hrsg.):<br />

ICD-10, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter<br />

Gesundheitsprobleme. Bd. 1, Stand August 1994. Bern: Huber 1994<br />

Gray, E.M.: An Analysis of Diverging Approaches to Simple Arithmetic. In: Educational<br />

Studies in Mathematics. (22) 1991, p. 551–574<br />

Grissemann, H./Weber, A.: Spezielle Rechenstörungen. Bern: Huber 1982<br />

Kaufmann, S.: Früherkennung von Rechenstörungen in der Eingangsklasse der Grundschule<br />

und darauf abgestimmte remediale Maßnahmen. Pädagogische Hochschule<br />

Ludwigsburg: Dissertation 2002<br />

Lorenz, J.-H./Radatz, H.: Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht. Hannover:<br />

Schroedel 1993<br />

Mann, Ch./Oberländer, H. & C. Scheid: LRS, Legasthenie – Prävention und Therapie.<br />

Weinheim und Basel: Beltz 2001<br />

Nissen, G.: Medizinische Aspekte der Lernbehinderung. In: Handbuch der Sonderpädagogik,<br />

Bd. 4. Berlin: Marhold 1977, S. 615–663<br />

Radatz, H./Schipper, W./Dröge, R. & A. Ebeling: Handbuch für den Mathematikunterricht<br />

– 1. Schuljahr. Hannover: Schroedel 1996<br />

Radatz, H./Schipper, W./Dröge, R. & A. Ebeling: Handbuch für den Mathematikunterricht<br />

– 2. Schuljahr. Hannover: Schroedel 1998<br />

Radatz, H./Schipper, W./Dröge, R. & A. Ebeling: Handbuch für den Mathematikunterricht<br />

– 3. Schuljahr. Hannover: Schroedel 1999<br />

Rottmann, T./Schipper, W.: Das Hunderter-Feld – Hilfe oder Hindernis beim Rechnen im<br />

Zahlenraum bis 100? In: Journal für Mathematik-Didaktik, 23, Heft 1/2002, S. 51–<br />

74<br />

Schipper, W.: Offenheit und Zielorientierung. In: Grundschule 33, Heft 3/2001, S. 10–15<br />

Schipper, W.: Das Dyskalkulie-Syndrom. In: Die Grundschulzeitschrift, Heft 158/2002a,<br />

S. 48–51<br />

Schipper, W.: Thesen und Empfehlungen zum schulischen und außerschulischen Umgang<br />

mit Rechenstörungen. In: Journal für Mathematik-Didaktik, 23, Heft 3/4 (2002b),<br />

S. 243–261<br />

Schlee, J.: Legasthenieforschung am Ende? München: Urban & Schwarzenberg 1976<br />

Schütte, S.: Mathematiklernen in Sinnzusammenhängen. Stuttgart: Klett 1994<br />

Van Luit, J.E.H./Van de Rijt, B.A.M./Hasemann, K.: OTZ – Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung.<br />

Göttingen: Hogrefe 2001


Uta Görlich<br />

Kim – zwischen den Welten.<br />

Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />

auf dem Hintergrund sprachlich und kulturell bedingter<br />

Eingliederungsprobleme<br />

Familiärer Hintergrund<br />

Kim ist vier Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und dem einjährigen Bruder aus<br />

einem anderen Kontinent nach Deutschland migrierten. Der Vater hat in <strong>Bielefeld</strong><br />

ein Studium an der Universität abgeschlossen. Die Eltern gehören einer höheren<br />

Bildungsschicht an. Sie leben nach den Traditionen ihrer Landesreligion, sind dabei<br />

undogmatisch und weltoffen. Für die Kinder gibt es – außer einer leicht einzuhaltenden<br />

Essensregelung – keine religiös bedingten Einschränkungen bei<br />

schulischen oder im Kindergarten stattfindenden Aktivitäten. Die Eltern bemühen<br />

sich, sich in die schulischen Gepflogenheiten einzuordnen. Sie sind besorgt um<br />

Kims Sicherheit, Entwicklung und Fähigkeiten.<br />

In vielen und ausführlichen Gesprächen mit den Eltern bemühe ich mich, ihnen<br />

die fremde mitteleuropäische Lebensweise und Kindererziehung verständlich zu<br />

machen, auf deren Hintergrund Kim in der Schule angesprochen und gefördert<br />

wird. Gleichzeitig helfen mir die offenen Gespräche, den kulturellen Hintergrund<br />

und den Blick der Eltern auf ihre Kinder kennenzulernen. So kann ich Kim umfassender<br />

sehen, lerne ihre Stärken und Schwächen, in denen sie sich teilweise auffallend<br />

von den anderen Kindern unterscheidet, schätzen und einschätzen, um<br />

ihr entsprechend zu helfen, wo es nötig ist.<br />

Als Kim im Vorschulalter zu uns kommt, wohnt die Familie in Schulnähe. Die<br />

Mutter bringt sie täglich morgens und holt sie nach der Schule wieder ab. Den<br />

damals zweijährigen Bruder bringt sie stets mit. Sie liebt es, sich mit mir zu unterhalten<br />

und leitet ihre Gesprächsabsicht mit der höflichen Floskel: „Hallo, wie<br />

geht es?“ ein, um nach meiner Gegenfrage einen kleinen persönlichen Gedankenaustausch<br />

zu beginnen.<br />

Vor Kims Einschulung besuche ich sie in der kleinen Zweizimmerwohnung, in der<br />

zur damaligen Zeit die vierköpfige Familie und zwei männliche Verwandte wohnen.<br />

Die beiden Kinder schlafen bei den Eltern, haben keinen Ort zum Spielen –<br />

ich sehe kein Spielzeug. Kim verhält sich unter den Augen ihrer Eltern schüchtern.<br />

Mir, als ihrer künftigen Lehrerin, bringt sie sofort großes Vertrauen entgegen.<br />

Sie hat mir ein Geschenk vorbereitet: Ein Bild, auf das sie buntes Papier<br />

geklebt hat. Sie schenkt es mir stumm, verlegen, schnell, so als will sie mir sagen:<br />

Ich habe etwas für Dich gemacht, an Dich gedacht. Vielleicht gefällt es Dir,<br />

vielleicht auch nicht. Ich kann es selbst nicht einschätzen.<br />

Das Bild wirkt schnell hingemalt. Irgendwie ausgeschnittene Papierschnipsel sind<br />

irgendwo flüchtig aufgeklebt. Als ich sie bitte, mir noch ein Bild zu malen, finden<br />

sich im Haushalt so schnell weder Papier noch Buntstifte.<br />

49


50<br />

Uta Görlich<br />

Während ich in erster Linie mit dem Vater spreche, sitzt Kim teilweise neben mir<br />

oder auf meinem Schoß. Bei dem Gespräch geht es in erster Linie um die Beantwortung<br />

der Fragen des besorgten Vaters zur Art und Weise, wie Kim an der Laborschule<br />

lernen wird. Er weiß nichts über das Lernkonzept unserer Schule, europäischer<br />

Schule überhaupt. Der Grund, warum Kim bei uns angemeldet wurde,<br />

ist die Information, dass sich hier Migrantenkinder gut integrieren, weil sie sich<br />

nicht diskriminiert fühlen müssen. Es wird ein außergewöhnlich langer und anstrengender<br />

Hausbesuch, der mir das Gefühl vermittelt, zwar das Wohlwollen<br />

und Vertrauen der Familie gewonnen zu haben, dass meine bemühten und ausführlichen<br />

Beschreibungen von Unterricht und Erziehung vom Vater aber nicht<br />

nachvollzogen werden können. Ich bin wohl an kulturelle Grenzen gestoßen, die<br />

ich künftig mit bedenken muss, wenn ich Kims schulische Entwicklung aufmerksam<br />

fördernd begleiten werde.<br />

Sprachlicher Hintergrund<br />

Kims Vater spricht recht gut deutsch. Er hat in Deutschland sein Studium beendet<br />

und arbeitet in einem akademischen Beruf. Inwieweit er ein pädagogisch geführtes<br />

Gespräch inhaltlich nachvollziehen kann, weiß ich nicht. Darum wiederhole<br />

ich mich in der Regel, bis ich eine Reaktion bekomme, von der ich dann nicht<br />

sicher bin, ob sie nur höflich ist oder auf Verständnis basiert.<br />

Die Mutter macht damals einen Sprachkurs, was ihr mit inzwischen drei Kindern<br />

und der alleinigen Verantwortung für den Haushalt nicht mehr möglich ist. Von<br />

Hause aus ist sie es nicht gewöhnt alleine zu wirtschaften. In ihrer Heimat lebte<br />

sie in einer großen arbeitsteiligen Familiengemeinschaft. In ihrem jetzigen Leben<br />

fühlt sie sich allein und sehr gefordert. Sie möchte zurück zur Familie, findet sich<br />

aber damit ab, jetzt hier zu leben.<br />

Die Familie spricht untereinander in ihrer offiziellen Landessprache. Zwischendurch<br />

unterhalten die Eltern sich in ihrer eigentlichen regionalen, d. h. kulturellen<br />

Sprache. Beide Sprachen kann die damals fünfjährige Kim selbst nur unvollständig<br />

sprechen und verstehen. Kim hat deutsch im Kindergarten gelernt und<br />

spricht es nur außerhalb der Familie. Entsprechend versteht sie bei meinem<br />

Hausbesuch weniger als wenig, obwohl der Vater sie ständig ermuntert, mit mir<br />

zu sprechen, weil sie es ja können müsste.<br />

Bildungsanspruch und Erziehungsbegriff<br />

Der Vater stellt sich vor, dass Kim Abitur machen soll. Er ist sich damals aber<br />

nicht sicher, ob Kim intelligent genug ist. Er schildert sie als zu Hause nicht gehorsam,<br />

renitent – besonders dem drei Jahre jüngeren Bruder gegenüber und<br />

zweifelt an Kims Auffassungsmöglichkeiten. Als ich ihn darauf aufmerksam mache,<br />

dass Kim diese Zweifel spüre, er sie damit verunsichere und dadurch das,<br />

was er befürchtet, geradezu verstärkt, macht ihn dies nachdenklich. Ein Kind,<br />

das keine Sprache wirklich versteht und spricht, darf durchaus Probleme mit dem<br />

Auffassen haben.<br />

Mein damaliger und später, als wir uns besser kennen, vom Vater bestätigter<br />

Eindruck ist, dass die Familie sich bisher wenig Gedanken gemacht hat über die<br />

Aufgabe von Eltern bei der Erziehung von Kindern: dass Kinder ernst genommen,<br />

auch vom Vater in die Arme genommen und aktiv für die sie umgebende Welt<br />

vorbereitet werden müssen. Ich beobachte, dass der Vater Kim keine ihrer gestellten<br />

Fragen ernsthaft beantwortet. Er schiebt sie mit einer lustigen und


Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />

gleichzeitig abweisenden Antwort ab. Kim muss das Gefühl haben, unwichtig zu<br />

sein und nicht ernst genommen zu werden.<br />

Ich habe das in einem unserer – in immer größer werdender Vertrautheit stattfindenden<br />

– Gespräche zweieinhalb Jahre später mit den Eltern angesprochen<br />

und – wie vermutet – diese Haltung des Vaters auf dem kulturellen Hintergrund<br />

basierend verstehen können: Kinder in Kims Herkunftsland spielen gemeinsam<br />

draußen. Sie werden von älteren Kindern ihrer Umgebung und in der öffentlichen<br />

Schule erzogen. Sie lernen voneinander im Dabeisein und Miteinander alles sozial<br />

Erforderliche. ‚Höhere Bildung‘ vermittelt eine strenge, sehr geregelte Schule.<br />

Heute – das zweite Kind wird bald bei uns eingeschult – ist den Eltern ihr hier zu<br />

Lande notwendiger Beitrag zur Entwicklung ihrer Kinder bewusst. Er wird von<br />

ihnen als gesellschaftlich künstlich konstruiert empfunden, den sie aber aus Liebe<br />

und Fürsorge für die Kinder selbstverständlich erbringen wollen. Ausführlich habe<br />

ich über unsere, an der ‚Mittelschicht‘ orientierten kulturellen Gepflogenheiten,<br />

wie das Feiern von Kindergeburtstagen, das abendliche Vorlesen, Erzählen, Fragen<br />

ernst zu nehmen und zu beantworten gesprochen. Wir überlegen gemeinsam,<br />

für die Familie realisierbare, familiäre Freizeitmöglichkeiten, Gesellschaftsspiele<br />

und Ähnliches, in denen Kinder Anregungen finden und ihre Erfahrungs-<br />

und Erlebniswelt erweitern können.<br />

Kims Vorschuljahr – Erste Orientierung und sprachliche<br />

Verständnislosigkeit<br />

Soziale Kontakte und soziales Verhalten<br />

Mit großen offenen Augen, stets freundlich, höflich und bemüht, klammert sich<br />

Kim an mich, die große Vertraute, um den morgendlichen Schulalltag, in dem sie<br />

einfach alles überwältigt, zu überstehen. Sie versteht einzelne Worte, einem<br />

Kontext kann sie nicht folgen. Selbst nach einigen Wochen durchschaut sie Zeitabläufe<br />

und Strukturzusammenhänge noch nicht. Sie macht das nach, was andere<br />

tun. Sie ist so unsicher, dass sie nur zu ihrem zwei Jahre älteren Patenkind<br />

(siehe Glossar) Kontakt aufnimmt. Sie versucht mitzuhalten, in dem sie nachmacht<br />

ohne zu reflektieren, ob sie das überhaupt möchte. Der einzige Grund für<br />

dieses ‚Warum-mache-ich-das‘ ist, dabei zu sein.<br />

Spielen und Lernen, Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />

Kim ist hilflos, zaghaft, unsicher – und entsprechend gelingt ihr wenig: nicht das<br />

Kneten, das Malen, das Rollenspielen. Sie sieht sich sehr wohl im Vergleich mit<br />

den anderen selbstbewussten und gesprächigen Kindern. In unseren Erzählversammlungen<br />

kann sie nicht zuhören, auch nicht beim Vorlesen, denn sie hat es<br />

einerseits nicht gelernt, andererseits versteht sie nichts. Sie spielt oder lenkt<br />

Kinder ab. Sie weiß nicht, um was es geht und bemüht sich auch nicht, einen<br />

Zusammenhang für sich zu finden.<br />

Um sie mit uns vertraut zu machen und um ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen,<br />

lasse ich sie viel spielen, zuschauen, mit anderen Kindern Bücher ansehen. Wir<br />

gucken uns gemeinsam Bilder an und benennen die deutschen Wörter. Wenn ich<br />

sie nach der muttersprachlichen Übersetzung für das Wort frage, sagt sie verlegen:<br />

„Weiß ich nicht!“<br />

51


52<br />

Uta Görlich<br />

Kim schreibt ihren Namen. Aber sie kann keinen Buchstaben benennen, zeigt nur<br />

Interesse am L, denn so fängt Vaters Vorname an. Sie kann die Zahlwortreihe bis<br />

sieben aufsagen, die Zuordnung zu Gegenständen, also das Abzählen gelingt ihr<br />

nicht. Sie zählt, in dem sie auf eine Sache zeigt, gleich zwei – manchmal drei –<br />

Zahlen weiter und nennt somit beim 4. Gegenstand angelangt schon die Zahl 7.<br />

Die Finger kann sie zum Zählen gar nicht benutzen. Sie machen einfach nicht<br />

mit. Kim verdreht sie untereinander. Selbst wenn ich ihr eine Zahldarstellung mit<br />

den Fingern vormache, kann sie dies nicht bei sich nachvollziehen. Feinmotorisch<br />

ganz ungelenkig, malt sie mit Wachsstiften oder Wasserfarben großflächig zwar<br />

thematisch reduzierte, aber durch eine starke Farbgebung sehr eindrucksvolle<br />

Bilder. Endlich wird sie dafür von den anderen Kindern gelobt. Der Umgang mit<br />

der Schere ist ihr fremd. Später erfahre ich, dass die Mutter ihr die ersehnte<br />

Schere nie überlassen hat, weil sie fürchtet, dass die jüngeren Geschwister sich<br />

verletzen, wenn sie Kim ungestüm beim Ausschneiden bedrängen.<br />

Im Turnunterricht dagegen ist sie selbstbewusst, mutig und gelenkig.<br />

Ich habe mir in manchen Situationen, in denen mich Kims Aufgeben aus Unsicherheit,<br />

ihr Fehlen jeglicher Strategien beim Lösen von mir einsichtig erscheinenden<br />

Aufgaben unterschiedlicher Art schier verzweifeln ließen, überlegt, ob ich<br />

mit Kim einen Intelligenztest machen soll. Ich habe dies aber stets verworfen,<br />

weil die Tests zum einen alle sprachlich orientiert sind und ich als Ursache für<br />

Kims ängstliches und wie zurückgeblieben anmutendes Verhalten den Kulturschock<br />

verantwortlich mache in Verbindung mit der völligen Unkenntnis der Eltern<br />

in Erziehungs- und Schulangelegenheiten einerseits und deren hohem Bildungsanspruch<br />

an das Kind andererseits.


Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />

Kims erstes Schuljahr – Sprach- und Verständnisprobleme<br />

Im Sommer 2001 zieht die Familie in eine große Wohnung. Ein drittes Kind ist<br />

geboren worden. Kim hat nun ein eigenes Zimmer und einen langen Weg mit<br />

dem Schulbus zu fahren. Sie bekommt ein Hochbett und einen eigenen Schreibtisch.<br />

Als ich sie im Januar 2003 besuche, sind alle Spielsachen ‚aufgeräumt‘ im<br />

Schrank, im Keller. Nur ein PC steht auf dem Schreibtisch, dessen Benutzung sie<br />

geschickt ‚handled‘. Nichts wirklich Persönliches finde ich. Kein Bild an der Wand.<br />

Das Bett ist ohne Bettzeug. Sie schläft doch lieber mit Mutter und den Brüdern<br />

im Elternschlafzimmer.<br />

Soziale Kontakte, soziales Verhalten<br />

Mit zwei Mädchen aus der Gruppe spielt sie im Laufe des ersten Schuljahres häufig,<br />

hat einen Platz in der Nachmittagsbetreuung der Schule bekommen und nabelt<br />

sich ein bisschen von mir ab. Sie meldet sich nun in unserer Versammlung,<br />

um etwas von sich zu erzählen. Ihr Selbstbewusstsein wächst langsam. Sie übernimmt<br />

freiwillig und gerne Gruppenaufgaben wie Fische füttern, Spülen und<br />

Milch holen, Stifte anspitzen und bemüht sich mir zu zeigen, wie ordentlich sie<br />

das alles kann. Inzwischen hat sie die Tagesstruktur und unsere Rituale so internalisiert,<br />

dass sie mich erinnert, sie einfordert und andere Kinder darauf aufmerksam<br />

macht. Sie fängt an sich zu kümmern.<br />

Aber immer noch kennt Kim nur ihre Familien- und Schulbezüge. Die Welt darüber<br />

hinaus ist ihr nahezu unbekannt.<br />

Kim bringt zum Frühstück oft einheimische Köstlichkeiten mit, die die Mutter gebacken<br />

hat. Sie verschenkt sie so freigebig, dass ich aufpassen muss, damit ihr<br />

selbst noch etwas bleibt oder dass sie ‚tauscht‘. Kim verschenkt, was andere haben<br />

möchten, und wirkt dabei völlig selbstlos. Es macht ihr nichts aus, etwas zu<br />

besitzen oder nicht. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie schenkt, um Freunde<br />

zu bekommen. Es macht ihr Freude, anderen eine Freude zu bereiten.<br />

Schulisches Lernen<br />

Kim möchte wohl ein eifriges Schulkind sein, aber sie weiß noch nicht, wo sie<br />

ansetzen kann. Noch immer hat sie große Sprach- und Verständnisprobleme. Oft<br />

bringt sie mir ein Buch mit von zu Hause, das die Mutter ihr im Kaufhaus kaufen<br />

musste, ein Heft, von dem Kim annimmt, dass sie damit in der Schule gut lernen<br />

kann. Schnell merkt sie, dass die Arbeitsweise, die in dem Heft von ihr verlangt<br />

wird, sie überfordert. Das Heft, mit dem sie große Hoffnungen verband und in<br />

dem sie schon angefangen hat ‚zu arbeiten‘, bleibt also zunächst unvollkommen.<br />

„Es wartet auf dich“, tröste ich sie, selbst hilflos. Ebenso überfordern sie bis Mitte<br />

des ersten Schuljahres alle altersgemäßen Schulbücher und Arbeitshefte, da sie<br />

noch auf ständige Einzelhilfe angewiesen ist.<br />

Buchstaben kann sie sich kaum merken. Sie schweift schnell mit dem Blick in der<br />

Gegend herum, wenn sie merkt, „diese Arbeit schaffe ich wieder nicht“. Kim versteht<br />

keine Aufgabenstellungen. Höflich bestätigt sie mir zwar, dass sie zugehört<br />

und ‚verstanden’ hat. In dem Moment, wo ich mich anderen Kindern zuwende,<br />

stoppt Kim alle Aktivitäten und wartet, bis ich wieder Zeit habe, um mir zu sagen:<br />

„Ich weiß nicht, was ich machen soll“. Kim holt sich Anerkennung durch Kuscheln,<br />

Schmusen, an der Hand gehen, durch aufgeregtes und freudiges Erzählen.<br />

Noch immer kann sie sich nur außerordentlich reduziert ausdrücken, so dass<br />

wir oft nur ahnen können, was sie uns mitteilen möchte.<br />

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54<br />

Uta Görlich<br />

Ich gebe ihr Arbeitsmaterialien für solche Vorschulkinder, die bereits Lesen und<br />

Rechnen erlernen können, mit einfacher Struktur und geringem Anspruch. Sie<br />

traut sich nichts zu, geht unreflektiert vor, ohne Strukturen oder Analogien zu<br />

erkennen oder zu suchen. Ihre Arbeitshaltung ist: Entweder es geht oder es geht<br />

nicht. Ich brauche keinen Sinn zu suchen. Aber alle sehen, dass ich etwas mache.<br />

Sie nimmt freiwillig Hausarbeiten mit und erlebt, dass die Eltern die Aufgabenformate<br />

nicht verstehen. Die Mutter versucht, sie für Kim zu lösen. Als Kim berichtet,<br />

dass ich es bemerkt habe (und leider hat die Mutter auch nicht verstanden,<br />

worum es geht), sprechen die Eltern eine Nachbarin an, die ebenfalls ein<br />

Kind an unserer Schule im zweiten Schuljahr hat, und bitten sie, Kim bei den<br />

Hausarbeiten zu helfen. Das Ergebnis ist, dass das andere Mädchen in Kims Heft<br />

die Aufgaben löst und Kim überhaupt nicht weiß, was da gearbeitet wurde. Wie<br />

groß ist die Hilflosigkeit und der Wunsch Kims und der Eltern mit den anderen<br />

Kindern gleich zu ziehen!<br />

In meinen Gesprächen mit dem Vater versuche ich, Kims schulische Probleme zu<br />

schildern und die Ursachen dafür in den so verschiedenen Welten zu erklären, in<br />

denen sie lebt. Ich bitte ihn eindringlich, Kims Fragen ernst zu nehmen, sie zu<br />

beantworten und endlich damit anzufangen, ihr über ihre Herkunft, ihre Familie<br />

im Heimatland, ihre religiöse Tradition und die heimatliche Kultur, ihr entsprechenden<br />

Märchen, Mythen oder Kindergeschichten zu erzählen, ihr ihre Wurzeln<br />

zu zeigen, auf die sie stolz sein kann, und ihr damit eine Identität zu ermöglichen,<br />

die sie selbstsicher macht. Ich erzähle, wie andere Eltern in unserem Kulturkreis<br />

mit einem ähnlichen Bildungsanspruch wie dem seinen ihren Kindern<br />

helfen, ihre Umwelt zu verstehen, wie sie auf deren Wissensdurst eingehen und<br />

ihnen ständig Gelegenheiten geben, ihren Erfahrungshorizont zu erweitern. Und<br />

ich bitte ihn, Geduld mit Kim zu haben und das schulische Lernen vorerst noch<br />

uns in der Schule zu überlassen.<br />

Einzelförderung in Mathematik<br />

In dieser Zeit – es ist Dezember – hat Kim das Glück, im Rahmen unseres Projektes<br />

„‚Ich erklär‘ dir, wie ich rechne‘ – Prävention von Rechenstörungen“ einmal<br />

wöchentlich eine Einzelförderung zu bekommen. Sie wird von <strong>Christine</strong> Huth,<br />

einer Studentin für das Lehramt in der Primarstufe an der Universität <strong>Bielefeld</strong><br />

mit dem Schwerpunktfach Mathematik, die gleichzeitig Mitarbeiterin in unserem<br />

Projekt ist, übernommen. Um jeglichem Makel einer Extraförderung in der Kindergruppe<br />

vorzubeugen, führe ich <strong>Christine</strong> als ‚Rechenfee‘ und die Arbeit mit ihr<br />

als ein Privileg ein. Alle Kinder bringen ihr große Achtung entgegen und bitten<br />

sie, mit ihnen doch auch einmal zu rechnen. Mit Kim betreut <strong>Christine</strong> noch Lisa,<br />

die im zweiten Schuljahr ist. Während <strong>Christine</strong> mit Lisa arbeitet, gibt sie Kim<br />

eine Aufgabe, die sie alleine lösen soll. Da Kim sich anfangs nur knapp 15 Minuten<br />

lang hintereinander konzentrieren kann, darf sie auch Pausen (Malen, Lesen)<br />

machen, bis sie wieder Kraft zum Aufmerksamsein gesammelt hat.<br />

Ergebnisse der Ersterhebung im Oktober<br />

Kim ist damals 6 Jahre und 9 Monate und erreicht im OTZ (siehe Glossar) in der<br />

Skala der Zahlbegriffsentwicklung das Niveau C. 23 der 40 Aufgaben erkennt und<br />

löst sie richtig. Da, wo der Test mathematische Sprachkompetenzen erfordert,<br />

versteht sie die Aufgabenstellung nicht. Begriffe wie Ordnen, Vorgänger und


Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />

Nachfolger kennt sie nicht. Sie verbalisiert eine Antwort falsch, obwohl sie bei<br />

ihrer zeichnerischen Bearbeitung die Aufgabe richtig löst. Ihr Zahlbegriff ist entwickelt,<br />

auch wenn sie mit den Zahlen noch nicht sicher umgehen kann, z.B. bei<br />

der Addition. Sie sagt oft: „Kenne ich nicht, weiß ich nicht!“<br />

Auch bei der anschließenden Förderung durch <strong>Christine</strong> zeigt sich das geringe<br />

Sprachverständnis als Hauptschwierigkeit, verbale Aufgabenstellungen überhaupt<br />

zu verstehen. Dazu kommt eine völlige Unkenntnis über die Möglichkeiten der<br />

praktischen Anwendung von Zahlen im Alltagsleben.<br />

Sie kann nur wenige Aufgaben des kleinen 1 + 1 auswendig lösen. Sie addiert,<br />

indem sie zählt. Mehr noch, zu Anfang der Förderung benutzt sie sogar noch die<br />

Strategie des ‚Alles Zählens’. Sie zählt den 1. Summanden und den 2. Summanden<br />

aus und beginnt dann von vorne, die gesamte Summe zählend zu erfassen.<br />

Sie zählt immer nur an einer Hand und kann die zweite Hand nicht mit in den<br />

Rechenvorgang einbeziehen, weil sie diese zum Antippen der Finger benötigt.<br />

Das ist ungewöhnlich für ihr Alter und ist zu diesem Zeitpunkt sicher ein Hauptsymptom<br />

für ihre Rechenschwäche überhaupt. Sie hat keine Vorstellung von den<br />

Rechenoperationen. Verdoppelungsaufgaben im Zahlenraum bis 20 hat sie ohne<br />

Verständnis auswendig gelernt. Sie kann sie somit auch nicht auf das Halbieren<br />

übertragen.<br />

Kim hat zudem feinmotorische Schwierigkeiten. Sie hält keine Linienführung<br />

beim Schreiben der Ziffern ein. Bei der Präsentation der Zahl mit den Fingern,<br />

d.h. einzelne Zahlen mit den Fingern darzustellen, spielen ihre Finger nicht mit,<br />

wenn sie sie aus- und einklappen will. Damit fehlt ihr auf dieser Stufe des Rechnens<br />

ein wichtiges Hilfsmittel zum Addieren und Subtrahieren. Selbst das Nachmachen<br />

einer Darstellung fällt ihr schwer. Das Antippen der Finger beim Zählen<br />

ist noch unersetzlich für sie, motorisch aber enorm schwierig zu bewältigen. Das<br />

Abzählen von Plättchen fällt ihr dagegen leicht.<br />

Sie kann sich nicht lange konzentrieren. Nach zehn bis fünfzehn Minuten wird sie<br />

unaufmerksam, schaut hierhin und dorthin. Wenn wir ihre ‚Müdigkeitserscheinungen‘<br />

durch eine motivierende Aufgabe überspielen, kann sie sich wieder konzentrieren,<br />

bis sie energisch sagt, sie könne nun nicht mehr.<br />

Ziele und Inhalte der Förderung ab Dezember<br />

Auf der Grundlage der Ergebnisse des OTZ und der oben beschriebenen Schwierigkeiten<br />

erarbeiten wir einen flexiblen Förderplan für Kim. Vorrangige Ziele sind<br />

die Entwicklung eines Grundverständnisses für Addition und Subtraktion sowie<br />

die Ablösung vom zählenden Rechnen. Als Voraussetzung dafür werden zunächst<br />

die Additionsaufgaben des kleinen 1 + 1 und die Zahlzerlegungen bis 10 geübt<br />

sowie weiterführende Strategien erarbeitet, wie Verdoppelung und Analogiebildung.<br />

Als geeignetes Hilfsmittel wird der Rechenrahmen eingeführt (vgl. Beitrag<br />

von Schipper in diesem Heft, S. 25ff.). Kim soll durch Erzählen von Rechengeschichten<br />

und Handlungen am Material ein Operationsverständnis entwickeln, das<br />

bedeutet, dass Kim selbst Geschichten und Handlungen zu gegebenen symbolischen<br />

Aufgaben erfinden und spielen soll. Umgekehrt soll sie die ihr erzählten<br />

Rechengeschichten als symbolische Aufgaben notieren lernen.<br />

Kim übt die Präsentation der Zahl mit Hilfe der Finger. Analog dazu wird anfangs<br />

noch die darzustellende Zahl vom Erwachsenen auf dem Rechenrahmen eingestellt.<br />

Sie wird damit auch mit der quasi-simultanen Zahlauffassung an diesem<br />

Hilfsmittel vertraut gemacht.<br />

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56<br />

Uta Görlich<br />

Die Zahlerzerlegungen werden ihr anhand der vor ihr liegenden Finger dargestellt:<br />

zunächst mit dem Stift, später ohne Stift (vgl. Beitrag von Schipper in diesem<br />

Heft, S. 37).<br />

Immer wieder übt <strong>Christine</strong> am Rechenrahmen das Darstellen der Zahl mit einem<br />

‚Fingerstreich‘, thematisiert die Fünferstruktur als Hilfe, fragt das Rückwärtszählen,<br />

die Vorgänger und Nachfolger von Zahlen ab und achtet auf Zahlendreher.<br />

Erste Additionen werden für Kim enaktiv (handelnd) erfahrbar und mit Hilfe von<br />

Plättchen, Fingern und Würfeln aufgezeigt.<br />

Kleine Rechengeschichten, die <strong>Christine</strong> erzählt, werden durch Plättchen visualisiert,<br />

damit Kim die Aufgabenstellung versteht und generalisiert. Sie verwendet<br />

meist ähnliche Fragestellungen, damit Kim die Formulierung vertraut wird.<br />

Zwischenergebnis Ende März<br />

Bekannte oder visualisierte Aufgabenformate kann Kim nun lösen. Das sprachliche<br />

Verständnis ist immer noch Kims Hauptproblem, zumal die mathematischen<br />

Begriffe und Fragestellungen nicht zu ihrer Alltagssprache gehören (Rückwärtszählen,<br />

Vorgänger ...).<br />

Kim kann in Zehnerschritten bis 100 zählen. Von der 20 an zählt sie rückwärts,<br />

versteht aber die Aufforderung: „Zähle von 20 rückwärts!“ nicht. Erst als ihr der<br />

Anfang vorgezählt wird, weiß sie, was von ihr erwartet wird. In der Präsentation<br />

der Zahl mit den Fingern ist sie geschickter geworden. Bei der quasi-simultanen<br />

Zahlauffassung am Rechenrahmen bis 20 ist sie recht sicher. Zahlzerlegungen<br />

müssen mit ihr immer noch erst durchgesprochen werden, bevor sie wieder weiß,<br />

worum es geht. Danach kann sie die Zahlzerlegungen recht schnell ergänzen.<br />

Vorgänger und Nachfolger im Zahlenraum kann sie bis 50 nennen, scheint aber<br />

noch keine Größenvorstellung von dem ihr bekannten Zahlenraum zu haben. Sie<br />

verwendet noch immer keine Analogien und Strategien in den Aufgabenformaten<br />

und benutzt weiter das aufwändige zählende Rechnen. Den Rechenrahmen beginnt<br />

sie endlich als Hilfsmittel zu akzeptieren und nimmt ihn teilweise selbstständig<br />

als Lösungshilfe und alternatives Arbeitsmittel zu ihren Fingern und versteht<br />

den Rechenvorgang vorerst nur am Arbeitsmittel. Sie kann ihn auf eine andere<br />

Ebene nicht übertragen. Auch mit der Unterscheidung der beiden Rechenzeichen<br />

hat sie Schwierigkeiten. Aber bisher haben wir vorwiegend die Addition<br />

geübt.<br />

Von Anfang an ist ihre Raumvorstellung bemerkenswert gut. Würfelbauten kann<br />

sie geschickt nachstellen. Jedoch ist sie noch etwas unsicher in der Rechts-Links-<br />

Unterscheidung, was künftig in die Förderung integriert wird.<br />

Insgesamt hat Kim sich im bis dahin geförderten Zeitraum verbessert, wenn<br />

auch sehr langsam.<br />

Auf dem Weg der Ablösung vom zählenden Rechnen arbeiten wir weiter an den<br />

Zahlzerlegungen, der quasi-simultanen Zahlauffassung, dem Auswendigkönnen<br />

des kleinen 1 + 1 und an der Rechts-Links-Unterscheidung. Um ihr Operationsverständnis<br />

weiter zu entwickeln, verknüpfen wir Handlungen am Rechenrahmen<br />

mit Rechengeschichten. Gegen Ende des Schuljahres testen wir an, wie weit sie<br />

den Zahlenraum bis Hundert kennt.


Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />

Ergebnisse einer Überprüfung im Juni<br />

Kims Fortschritte sind wiederum in kleinen Schritten zu messen, da ihre Unsicherheit<br />

aufgrund der Sprachprobleme sie immer noch zu sehr hemmt, selbstständig<br />

und flexibel zu denken, locker zu handeln.<br />

Im Juni wird Kim im IDM (siehe Glossar) auf ihre bisherigen Rechenkenntnisse<br />

überprüft. Die Ergebnisse ergänzen unsere Beobachtungen:<br />

Bei den Zerlegungen der Zahlen bis 10 benutzt sie immer noch ihre Finger als<br />

Hilfsmittel, in dem sie sie einknickt. Sie braucht Visualisierungen bei allen Aufgabenstellungen.<br />

Zur Überprüfung einer gefundenen Lösung wendet sie immer<br />

noch die Strategie des ‚Alles-Zählens‘ an. Bei der Zahldarstellung zählt sie zur<br />

Sicherheit immer noch jede einzelne Perle ab, obwohl sie bereits Einsichten in die<br />

Struktur des Rechenrahmens hat.<br />

Das kleine 1 + 1 bis zehn kann sie gut, über zehn macht sie Fehler. Sie erkennt<br />

zwar Analogien, überträgt diese Strategie aber nicht auf andere Zusammenhänge.<br />

Mit Minusaufgaben hat sie Probleme und findet keine Möglichkeit, sie zu lösen.<br />

Sie kann nun von 30 an rückwärts zählen.<br />

Der intermodale Transfer, d. h. eine beschriebene Begebenheit auf die Symbolebene<br />

zu übertragen, fällt ihr schwer. In der räumlichen Orientierung ist die<br />

Rechts-Links-Unterscheidung nun relativ gesichert. Ihre Stärke ist weiterhin das<br />

Nachbauen von Würfelbauwerken.<br />

Obwohl sie während der Überprüfung immer wieder: „Kann ich nicht.“ – „Weiß<br />

ich nicht.“ – „Ich kann nicht mehr.“ – „Will ich aber nicht.“ sagt, hält Kim die<br />

ganzen sechzig Minuten durch.<br />

Lernsituation am Ende des ersten Schuljahres<br />

Als wir im Juli ihre Orientierung im Hunderterraum nachfragen, kann sie bis 107<br />

zählen, lässt jedoch alle ‚doppelziffrigen‘ Zahlen aus (11, 22, 33 ...). Im Zahlendiktat<br />

ist sie noch nicht sicher. Ebenso fällt ihr die Zahlauffassung am Hunderter-<br />

Rechenrahmen schwer. Bei der Nennung von Vorgängern und Nachfolgern im<br />

Zahlenraum bis 100 macht sie einige Fehler. Innerhalb einer halben Stunde legt<br />

sie die Hundertertafel mit Zahlenplättchen aus, in dem sie sich hilft: Zuerst ordnet<br />

sie die obere und die untere Reihe, danach die linke und die rechte Seite, um<br />

sich daran zu orientieren, als sie die übrigen Ziffern auslegt. Zwischendurch<br />

möchte sie gerne aufgeben, aber <strong>Christine</strong> ermuntert sie weiter zu machen.<br />

Kims Beurteilung (Auszug) am Ende des 1. Schuljahres sollte vor allem ihr<br />

Selbstbewusstsein ansprechen, in dem die Bereiche herausgestellt werden, in<br />

denen Kim Fortschritte und Stärken gezeigt hat.<br />

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Liebe Kim,<br />

Uta Görlich<br />

nun bist du schon zwei Jahre in unserer Gruppe und ein großes Mädchen geworden.<br />

Du bist ein liebes, sanftes und zurückhaltendes, fröhliches, freundliches<br />

und höfliches Mädchen ... Gerne hilfst du anderen Kindern und teilst mit<br />

ihnen dein Frühstück. Für den Obstteller hast du immer etwas mitgebracht.<br />

Du bist zielstrebig, wenn du etwas möchtest, zuverlässig, wenn du an etwas<br />

denken sollst. Und du kannst jetzt gut auf deine Sachen aufpassen.<br />

In der Morgenversammlung meldest du dich, um uns zu erzählen, was du erlebt<br />

hast oder was deine Familie machen wird. Mir erzählst du auch gerne von<br />

dir.<br />

... Du willst alles gut und richtig machen. Oft bist du vorsichtig und ängstlich,<br />

damit du nichts falsch machst. Du brauchst aber keine Angst zu haben. In die<br />

Schule kommt man um zu lernen, nicht weil man schon alles können muss.<br />

Es ist schwer für alle Menschen in einer Sprache Schularbeiten zu machen,<br />

die sie zu Hause nicht sprechen. Ich bewundere deine Geduld, denn es ist oft<br />

schwer für dich, die Aufgaben zu verstehen, und ich versuche die Worte zu<br />

finden, die du gut verstehen kannst. Die deutsche Sprache verstehst du inzwischen<br />

schon viel besser. ... Du hast gelernt zu fragen, wenn du etwas<br />

nicht verstanden hast. Das musst du auch weiter so machen. Für alles, was<br />

du nicht gleich verstehst, gibt es andere deutsche Worte, die du besser<br />

verstehen kannst. Und es ist meine Aufgabe, diese Worte zu finden!<br />

Deine Schularbeiten machst du gerne. Du wirst immer selbstständiger. Du arbeitest<br />

nach dem Wochenplan, den ich dir gebe.<br />

Lesen und Schreiben lernst du gleichzeitig. In Arbeitsheften hast du gelernt<br />

Wörter auf – und abzubauen. Das hast Du sehr gut gemacht. ... Ich staune<br />

oft, wie gut du schon in der Fibel kleine Sätze liest und verstehst. Der Anfang<br />

ist jetzt gemacht und im nächsten Schuljahr wird dir alles leichter werden.<br />

In Mathematik kam einmal in der Woche <strong>Christine</strong> zu dir. Bei ihr hast du viel<br />

gelernt. An den Tagen, an denen sie nicht da ist, arbeitest du gut, wenn du<br />

verstanden hast, wie die Aufgabe geht. Du kannst mit Hilfe des Rechenrahmens<br />

im Zahlenraum bis 20 Plusaufgaben rechnen, kannst die Zahlen bis 20<br />

mit Plättchen zerlegen und die Rechenaufgabe dazu aufschreiben. Plusaufgaben<br />

bis 20 kannst du auch gut im Kopf ausrechnen, wenn du Dir Zeit lässt.<br />

Du kannst von 30 an auch rückwärts zählen. Am Rechenrahmen und an den<br />

Fingern kannst du die Zahlzerlegungen zeigen ... Am Computer hast du Rechenaufgaben<br />

bis 20 gelöst. Du zählst bis 107. Würfelhäuser baust du sehr<br />

gut nach der Vorlage auf.<br />

Wenn wir über Sachthemen sprechen, hörst du inzwischen gut zu. Du bringst<br />

auch von zu Hause ein Buch mit, das du von der Nachbarin bekommen hast<br />

und das zu unserem Thema passt.<br />

... Oft hast du mir eine Blume gepflückt. Nach der Schule bist du zu mir gekommen,<br />

um mir „tschüss“ zu sagen. ...<br />

Ich freue mich, dass wir noch ein Jahr zusammen sein werden und wünsche<br />

Dir schöne Ferien. Ich umarme Dich,<br />

Deine Uta


Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />

Kims Entwicklung im ersten Halbjahr ihres 2. Schuljahres<br />

Soziale Entwicklung<br />

In den Sommerferien macht Kim einen deutlichen Entwicklungsschub. Sie ist gewachsen<br />

und tritt sicherer auf. Ihr sprachlicher Ausdruck ist klarer und differenzierter<br />

geworden. Sie hat mehr allgemeine Kenntnisse und ich habe den Eindruck,<br />

meine Gespräche mit dem Vater fangen an, Früchte zu tragen. Sie beginnt,<br />

ihre sozialen Kontakte selbst zu regeln, verabredet sich für die Schulpause,<br />

schlägt Spiele vor und wird von anderen Kindern eingeladen. Als sie merkt,<br />

dass Benjamin, unser körperlich und sozial Kleinster unter den neuen Vorschulkindern,<br />

von seinen Paten Max und Leon nicht betreut wird, übernimmt sie diese<br />

Patenschaft selbstständig, indem sie einfach handelt. Sie meldet sich häufig in<br />

der Morgenversammlung, weil sie etwas erzählen möchte. Sie spricht leise in<br />

kurzen, abgehackten Sätzen ohne den Artikel vor die Substantive zu setzen, aber<br />

wir verstehen, was sie meint.<br />

Nach den Herbstferien fällt mir auf, dass sie wieder häufig die Pausen alleine<br />

verbringt. Sie wird wohl nicht so angenommen von den Kindern, mit denen sie<br />

spielen möchte, und hat sich zurückgezogen. Sie kommt oft und beschwert sich,<br />

dass irgendwer sie ‚geärgert‘ hat. Ich helfe ihr wieder beim ‚Organisieren‘ der<br />

Pause, versuche zwischen ihr und einem ebenfalls zurückhaltenden Mädchen zu<br />

vermitteln. Wenn ich sie ‚verkuppelt‘ habe, sind beide zufrieden. Von sich aus<br />

verabreden sie sich nicht. Die fast achtjährige Kim spielt mehr mit den beiden<br />

Vorschuljungen, zwei unkomplizierten netten Fünf- und Sechsjährigen.<br />

BesucherInnen und PraktikantInnen ‚angelt‘ sie sich nach wie vor, um sich an sie<br />

zu schmiegen, sie zu binden und als HelferIn bei den Schularbeiten zu gewinnen.<br />

Da sie anmutig, sanft und gleichzeitig hartnäckig ist, hat sie immer Erfolg.<br />

Zu ihrem 8. Geburtstag im Januar, dem Zeitpunkt an dem dieser Bericht in die<br />

Endfassung gebracht wird, lädt sie 9 Kinder aus der Gruppe ein. Es ist der erste<br />

Geburtstag, den sie feiern will, und sie hat sich bei den Eltern durchgesetzt. Mit<br />

den Eltern spreche ich darüber, wie Geburtstage ablaufen. Die großen eingeladenen<br />

Mädchen der Gruppe werden den Nachmittag mit organisieren. Ich schreibe<br />

Kim den Einladungstext vor. Sie malt auf jede Karte ein Bild und die Mutter<br />

schreibt den Text jeweils ab. Alle Kinder kommen und Kim ist zufrieden. Inwieweit<br />

diese Einladung Kims Stellung in der Gruppe positiv beeinflusst, wird sich<br />

herausstellen.<br />

Lernverhalten und schulische Leistungen<br />

Ihre Arbeitshaltung wird selbstständiger. Nun wartet sie nicht mehr, bis ich ihr<br />

eine Aufgabe zuweise, sondern holt sich Arbeitsmaterial und Hilfsmittel und bemüht<br />

sich, alleine mit den Schularbeiten anzufangen. Im Lesen hat sie Fortschritte<br />

gemacht. Sie liest inzwischen kleine Texte, die sie inhaltlich versteht, wenn sie<br />

ihrem Wortschatz entsprechen. Es wird leichter für mich, sprachlich geeignete<br />

Texte für sie zu finden. Teilweise schreibe ich ihr kleine Geschichten, von denen<br />

ich weiß, dass sie sie verstehen kann. Im Schreiben beginnt sie, die Schreibschrift<br />

zu lernen. Da ihre Feinmotorik immer noch nicht altersgemäß entwickelt<br />

ist, übt sie täglich Schreibschwünge in der Schule und zu Hause, die ich ihr groß-<br />

und kleinspurig in einem Übungsheft für Schreibanfänger vorschreibe. Sie erkennt<br />

schon die Schwünge, die einen bestimmten Schreibschriftbuchstaben vorbereiten.<br />

In Mathematik stößt Kim nach den Sommerferien zunächst wieder an<br />

59


60<br />

Uta Görlich<br />

enge Grenzen, sobald es um das Verständnis eines Aufgabenformats geht. Beim<br />

Kopfrechnen im kleinen 1 + 1 unterlaufen ihr anfangs immer wieder Fehler, die<br />

sich verlieren, wenn ich sie immer wieder die selben Aufgaben rechnen lasse.<br />

Ähnlich ist es beim Zerlegen im Zahlenraum bis 10. Ich habe den Eindruck, dass<br />

Kim Zahlen nur aus dem unmittelbaren Mathematikunterricht kennt und sie nicht<br />

mit ihrem Alltag in Verbindung bringen kann. Auf diesem Niveau beginnt im neuen<br />

Schuljahr die Einzelförderung in Mathematik, die wieder von <strong>Christine</strong> Huth<br />

durchgeführt wird und deren sichtbare Ergebnisse auf den nächsten Seiten ausführlich<br />

beschrieben werden.<br />

Kim malt inzwischen nicht mehr so großflächig und etwas gründlicher. Mit der<br />

Schere sauber auszuschneiden, fällt ihr immer noch schwer. Deutlich ist ihre<br />

Entwicklung beim Töpfern: Hat sie noch im 1. Schuljahr unklare Teile von unbestimmter<br />

Bedeutung zusammengeklebt, die sie auch selbst nicht beschreiben<br />

mag, sind ihre Formen und Gefäße jetzt deutlich erkennbar, sorgfältig gearbeitet<br />

und bereits kunsthandwerklich schön. Auch am Schulwebrahmen arbeitet sie inzwischen<br />

geschickt und sorgfältig.<br />

Im Mathematikunterricht war bereits aufgefallen, dass Kim ein gutes räumliches<br />

Vorstellungsvermögen besitzt: Als die Kinder die Aufgabe bekommen, in einer<br />

Dreiergruppe mit Hilfe unterschiedlicher Pappschachteln eine Figur ähnlich denen<br />

aus dem Buch von Leo Lionni: Pezzetino (Verlag Middelhauve, o. J.) zu bauen,<br />

tut Kim sich mit den Vorschuljungen zusammen. Sie einigen sich auf ‚Den, der<br />

auf die Berge klettert’ und den Berg. Schnell sammeln die Drei die geeigneten<br />

Schachteln und während die Jungen eher beiläufig mithelfen, baut Kim innerhalb<br />

von 10 Minuten geschickt die Figur mit vier Beinen, Körper, Hals, Kopf und klebt<br />

noch Augen und Mund darauf. Die Figur steht im Gleichgewicht, nur für den Hals<br />

gebe ich ihr statt der Milchtüte, auf der die runde Bonbonschachtel nicht kleben<br />

will, eine geeignetere Schachtel. Der Berg ist ebenfalls in Null-Komma-Nichts fertig.<br />

Ich bin froh, eine neue Stärke von Kim entdeckt zu haben, auf der sie aufbauen<br />

kann.


Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />

Mathematische Einzelförderung im ersten Halbjahr des<br />

2. Schuljahres<br />

<strong>Christine</strong> erweitert die bisherigen Förderinhalte und führt Kim in das PC-<br />

Programm ‚Schnelles-Sehen‘ (Dieses Computerprogramm von SoWoSoft wird im<br />

Beitrag von Schipper in diesem Heft unter Aufgabenformat 2.2 näher beschrieben)<br />

ein. Darin trainiert sie die quasi-simultane Zahlauffassung, zunächst bis<br />

Zwanzig und später bis Hundert. Der Rechenrahmen bleibt weiter Kims wichtigstes<br />

Hilfsmittel. <strong>Christine</strong> übt mit ihr den Zehnerübergang, erweitert den Zahlenraum<br />

bis 50 und 100 und übt mit ihr Strategien, wie die Analogiebildung.<br />

Kim kennt inzwischen alle Ortungsbegriffe. Ihr sprachliches Wissen hat sich deutlich<br />

verbessert, was das Arbeiten mit ihr insgesamt einfacher macht.<br />

Die Zahlen im Hunderterraum kann sie nach kurzer Überlegung richtig benennen.<br />

Ihr unterlaufen beim Aussprechen aber manchmal noch Zahlendreher. Das Stellenwertsystem<br />

hat sie noch nicht verstanden.<br />

Bei den Rechengeschichten zeigt sie bereits Operationsverständnis, in dem sie<br />

die Handlung mit Hilfe von Material darstellt. Die symbolische Aufgabe dazu findet<br />

sie jedoch nur mit Hilfe.<br />

Zwischenergebnis im Januar<br />

Endlich hat Kim deutliche Fortschritte gemacht. Bei den Zahlzerlegungen der 10<br />

benutzt sie nicht mehr sichtbar die Finger als Lösungshilfe. <strong>Christine</strong> vermutet<br />

aber, dass – sobald ihre Hände verdeckt sind – sie ihre Finger noch im Kopf abzählt.<br />

Wir hoffen, dass sie die Zahlzerlegung bald auf Rechenoperationen anwenden<br />

kann. Beim „Schnellen-Sehen“ hat sie sich verbessert. Sie erfasst die Zahlen<br />

bis 50 quasi-simultan. Einen Durchbruch gibt es auch beim kleinen 1 + 1. Außerdem<br />

löst sie Aufgaben vom Typ ZE + E zunehmend mit Hilfe von Analogieaufgaben,<br />

wenn wir sie darauf hinweisen. Oft braucht sie nur ein Beispiel, um die<br />

nächsten Aufgaben selbstständig zu lösen. Zunehmend machen ihr die Rechengeschichten<br />

Spaß. Sie erfindet selbst gerne Additions- und mitunter auch Subtraktionsaufgaben.<br />

Die symbolische Schreibweise muss aber weiterhin eingeübt<br />

werden. Sie malt gerne Bilder zu Rechenaufgaben. Die Aufgabenstellung von einer<br />

bildlichen Darstellung abzulesen, ist ihr noch nicht einsichtig.<br />

Im Zahlenraum bis Hundert kann sie sich besser orientieren, was daran zu erkennen<br />

ist, dass sie die Hundertertafel immer flinker legen kann und dabei Strategien<br />

benutzt, um die richtigen Reihen untereinander zu legen. Als ich sie auffordere,<br />

die Zahlen doch mal der Folge nach zu legen, kann sie dies auch. Noch<br />

immer unterlaufen ihr beim Aussprechen Zahlendreher und sie lässt, beim zögerlichen<br />

Rückwärtszählen von 100, die doppelziffrigen Zahlen aus. Sie findet aber<br />

auf der Hundertertafel die richtigen Orte der herausgenommenen Zahlen.<br />

Die Erfolge im Bereich Mathematik machen Kim selbstbewusster. Sie gehen deutlich<br />

einher mit ihren Fortschritten im sprachlichen Verständnis und finden nun auf<br />

der gesamten schulischen Ebene statt.<br />

Weitere Ziele bis Ende des 2. Schuljahres<br />

Kims Leistungen in Mathematik entsprechen noch nicht voll den Anforderungen<br />

zu Beginn des 2. Schuljahres, denn bisher hat sie nur Additionsaufgaben gelöst.<br />

Nun soll sie ihre Strategien und Erkenntnisse über Zusammenhänge von der Addition<br />

auf die Subtraktion übertragen. Bis zum vorgesehenen Ablauf des Förderzeitraumes<br />

müssen weiterhin alle bisher geübten Aufgabenformate auf ihre<br />

61


62<br />

Uta Görlich<br />

selbstständige Anwendung hin trainiert und der Zahlenraum bis 100 gefestigt<br />

werden.<br />

Es ist unrealistisch zu hoffen, dass sie im Sommer bis zu den Aufgaben ZE+/-ZE<br />

kommt. Zuversichtlich bin ich beim Auswendiglernen des kleinen Einmaleins, da<br />

hier die Eltern wirklich mithelfen können beim Abfragen.<br />

Ob Kim noch im laufenden Schuljahr Zeit hierfür hat, wird sich zeigen. Oft ist<br />

erstaunlich, in wie großen Schüben ein Kind lernen kann, wenn einmal der ‚Groschen<br />

gefallen‘ ist – und dafür gibt es bei Kim vorsichtige Anzeichen.<br />

Gespräche mit dem Vater über Kim zum Jahreswechsel 2002/2003<br />

Bei unserem Gespräch Mitte Januar 2003 nimmt auch <strong>Christine</strong> Huth, die ‚Rechenfee‘,<br />

teil. Kim ist zu Hause ruhiger und freundlicher den Geschwistern gegenüber<br />

geworden. Die Eltern berichten von einer Kim, die wir so noch nicht<br />

kennen gelernt haben: Sie hat dem kleinen Bruder das Alphabet beigebracht:<br />

A..B..C – nicht Be, Ce. Durch sie kann er bereits Zahlen bis in den Tausenderbereich<br />

lesen: 2003, 784 etc. Wir haben Kim anderntags in der Schule ähnliche<br />

Zahlen erfolgreich lesen lassen und sie ihr diktiert. Es scheint, dass sie zu Hause<br />

ihrer Position bewusst ist, in der Schule für sich aber noch keine klare Stellung<br />

gefunden hat.<br />

Auch zu Hause verschenkt und teilt Kim selbstlos und selbstverständlich, wie uns<br />

das in der Schule bereits aufgefallen ist. Hier bestätigen uns die Eltern, dass das<br />

wirklich ihre Art und nicht mit einer Absicht verbunden ist.<br />

Kim sammelt, wie der Vater es ausdrückt alle ‚Schnipsel‘, die sie schneidet, ihre<br />

gemalten Bilder, die sie anschließend zerknüllt, aber aufhebt. Ich erinnere mich<br />

an meinen ersten Besuch, an das Geschenk, an die Geste, mit der sie mir es gab.<br />

Kim glaubt, ihre Produkte seien nicht der Beachtung Wert und dennoch haben sie<br />

eine solche Bedeutung für sie, dass sie sie aufhebt. Wir müssen in der Schule<br />

Kims eigene Wertschätzung mehr fördern, ihr ihre Stärken bewusster machen!<br />

Der Vater hat inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit und für die anderen<br />

Familienmitglieder das Bleiberecht in Deutschland beantragt. Im nächsten Schuljahr<br />

wird auch Kims Bruder als Vorschulkind zu uns kommen. Eine gute schulische<br />

Ausbildung der Kinder ist den Eltern vorrangig. Für beide gibt es keine geschlechtlichen<br />

Unterschiede in der Kindererziehung. Ich spreche jetzt schon an,<br />

dass ich darüber nachdenke, ob Kim noch ein Jahr länger im Haus 1 bleiben soll,<br />

um ihr Zeit zu geben, noch selbst- und sprachsicherer zu werden und ihre Lernleistungen<br />

mehr zu festigen. Die Eltern zeigen mittlerweile Verständnis, obwohl<br />

sie nach wie vor wünschen, dass Kim doch noch solche Fortschritte macht, um<br />

mit den ‚Zweiern‘ gemeinsam ins dritte Schuljahr zu wechseln. Dies würde bedeuten<br />

eine neue Gruppe, eine neue Lehrerin, ein neues Haus ...<br />

Sie haben Verständnis vor allem auf dem Hintergrund, dass Kim mit drei völlig<br />

verschiedenen Sprachen aufwächst, von denen sie Deutsch mittlerweile am Besten<br />

versteht und spricht. In der Familie werden alle drei Sprachen durcheinander<br />

gesprochen. Immerhin haben die Eltern sich vorgenommen, sich in ihrer regionalen<br />

Sprache nur noch zu unterhalten, wenn die Kinder nicht dabei sind.


Ausblick<br />

Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />

Damit möchte ich diesen Bericht über Kim schließen, der mit den Schwierigkeiten<br />

ihrer kulturellen und vor allem sprachlichen Eingliederung begann und damit zumindest<br />

vorläufig endet.<br />

Ich erlebe, dass Kim gerade in letzter Zeit im sprachlichen Bereich eine große<br />

Entwicklung macht. Ihre sich verbessernden Möglichkeiten sich auszudrücken<br />

und damit ihre Umgebung ‚in einen Begriff zu bekommen‘ wirkt sich auf den gesamten<br />

sozialen und schulischen Bereich aus und nicht zuletzt auf ein besseres<br />

Verständnis für die Welt der Zahlen und die Mathematik in der Welt. Die Beschreibung<br />

einer gezielten Förderung auf dem Hintergrund der Kenntnis des<br />

‚ganzen‘ Kindes, sollte den engen Zusammenhang zwischen Sprachverständnis<br />

gleich Weltverständnis und einem Ver-Sagen in der Mathematik deutlich machen.<br />

Wie denn auch ein Nicht-Begreifen-Können mit fehlender Begrifflichkeit sowohl<br />

im sprachlichen als auch (mathematisch-) operativen Sinne verbunden ist.<br />

Eine kleine, aber wichtige Geschichte am Ende eines neuen<br />

Anfangs<br />

Kim wird vor kurzem vom Vater in die Schule gebracht. Stolz zeigt sie mir eine<br />

neue Federmappe, prall gefüllt mit den üblichen Utensilien. Daneben liegt ihre<br />

‚alte‘ Federmappe, die noch fast wie neu aussieht. Als ich frage, warum eine<br />

neue Federmappe gekauft werden musste, erklärt mir der Vater, Kim sei nach<br />

Hause gekommen und hätte gesagt, sie brauche eine neue Federmappe. Sie hätten<br />

diese besorgt. Als ich auf die gut erhaltene alte Federmappe verweise, stellt<br />

sich heraus, dass die Stifte klein gespitzt waren und der meiste Inhalt fehlte. Auf<br />

meine Frage, warum sie nicht mit neuen Stiften, Radiergummi etc. aufgefüllt<br />

wurde, ist er sehr überrascht über diese nicht überlegte Möglichkeit. Beim nächsten<br />

Mal ...<br />

Immerhin kann Kim mittlerweile gut für sich alleine sorgen und der Vater bestätigt<br />

mir, dass sie manches besser zu regeln wüsste als die übrige Familie.<br />

63


64<br />

Uta Görlich


Paula G. Althoff<br />

Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-<br />

Unterscheidung<br />

„... lechts und rinks<br />

kann man nicht velwechsern.<br />

Werch ein Illtum.“<br />

(Ernst Jandl)<br />

Lisa ist ein freundliches, aufgeschlossenes Mädchen. Sie lernt für ihr Leben gern<br />

und kommt jeden Morgen gut gelaunt und ausgeschlafen in die Schule. Seit fast<br />

vier Jahren besucht sie die Laborschule und ist inzwischen im Jahrgang 3.<br />

Einschulung<br />

Als Lisa im Sommer 1999 als fünfjähriges Vorschulkind in die Eingangsstufe der<br />

Laborschule eingeschult wird, ist sie ein sehr kleines, schüchternes und ängstliches<br />

Kind. Sie fürchtet sich vor allem, was neu ist, reagiert häufig mit Bauchschmerzen<br />

und bricht schnell in Tränen aus. Sie braucht sehr viel Zuwendung<br />

und Ermutigung, die sie auch bekommt. Glücklicherweise kann ich als Betreuungslehrerin<br />

ihr Vertrauen schnell gewinnen, so dass sie trotz ihrer Ängstlichkeit<br />

sehr gerne in die Schule kommt. Im Umgang mit den anderen Kindern ist sie<br />

stets freundlich. Sie ist sehr nachgiebig und gerät deshalb nie in Konflikte mit<br />

ihren MitschülerInnen. Besonders gern spielt und lernt sie gemeinsam mit Judith,<br />

die ihr in vielen Bereichen sehr ähnlich ist.<br />

Soziale Hintergründe<br />

Lisa wächst in einer Familie auf, die ihr offensichtlich freundlich zugewandt ist, in<br />

der jedoch auch Grenzen gesetzt werden. Sie hat einen älteren Bruder, der inzwischen<br />

zur Realschule geht. Aus Elterngesprächen erfahre ich, dass die Grundschulzeit<br />

für ihn auf Grund großer Probleme im Fach Mathematik sehr belastet<br />

war. Es gab sogar die Überlegung, ihn die Schule wechseln zu lassen. Die kleine<br />

Schwester von Lisa besucht eine Kindertagesstätte. Sie ist ein freundliches Kind,<br />

wirkt jedoch, ähnlich wie ihre beiden Geschwister, etwas schüchtern.<br />

Vorschuljahr – 1. Jahr der Eingangsstufe<br />

In der Schule ist Lisa von Anfang an äußerst fleißig und kann sich gut über einen<br />

längeren Zeitraum auf eine Sache konzentrieren. Sie kann gut zuhören und hält<br />

unsere vielen Absprachen, die den Schulalltag regeln, immer zuverlässig ein.<br />

Erste Lernerfolge stellen sich bald ein. Sie lernt Zahlen und Buchstaben kennen<br />

und das Lernen macht ihr sichtlich Freude. Am Ende des Vorschuljahres beginnt<br />

sie erste lautgetreue Wörter zu lesen und zu schreiben. Mit Hilfe des Rechenrahmens<br />

führt sie kleine Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 10<br />

aus.<br />

65


66<br />

Paula G. Althoff<br />

Zu diesem Zeitpunkt hat sie ihre Bauchschmerzen fast ganz aufgegeben und<br />

Tränen gibt es nur noch, wenn sie sich richtig wehgetan hat. Von den anderen<br />

Kindern lässt sie sich nicht mehr so viel gefallen.<br />

1. Schuljahr – 2. Jahr der Eingangsstufe<br />

Zu Beginn des neuen Schuljahres wird ihr ein neues Vorschulkind als Patenkind<br />

anvertraut. Sie erfüllt ihre Patenrolle für dieses Kind sehr zuverlässig und einfühlsam.<br />

Das Lesen lernt sie im Laufe dieses Schuljahres so weit, dass sie schließlich kleine<br />

Texte langsam lesen und ihren Inhalt wiedergeben kann. Am Schreiben hat<br />

sie großen Spaß. Sie arbeitet ihren Schreiblehrgang in Druckschrift zügig durch,<br />

hat jedoch immer wieder Probleme mit dem folgerichtigen Schreiben der Druckbuchstaben.<br />

So braucht sie anschließend zusätzliches Übungsmaterial zum Festigen<br />

der folgerichtigen Schreibweise. Dank ihres großen Lerneifers kann sie am<br />

Ende des 1. Schuljahres mit dem Erlernen der Vereinfachten Ausgangsschrift beginnen.<br />

Beim freien Schreiben schreibt sie jedoch immer in großen Druckbuchstaben.<br />

Lautgetreue Wörter schreibt sie oft richtig, alle anderen Wörter weisen<br />

orthographische Fehler auf. Buchstaben ohne Symmetrieachse notiert sie häufig<br />

spiegelverkehrt. Das „S“ in ihrem Namen beispielsweise schreibt sie fast immer<br />

wie ein Fragezeichen ohne Punkt.<br />

Beim Umgang mit Zahlen ist auffällig, dass sie die meisten Ziffern nicht folgerichtig<br />

schreiben kann. Ähnlich wie die Buchstaben werden zudem auch die Ziffern<br />

immer wieder verdreht. Trotz geduldiger Zuwendung während des Unterrichts<br />

halten sich die ‚Dreher‘, wie sie in der folgenden Abbildung – einer Kopie aus ihrem<br />

Mathematikbuch – zu sehen sind, sehr hartnäckig: Ziffern werden spiegelverkehrt<br />

geschrieben, Rechenoperationen vertauscht.<br />

Zusätzliche Probleme entstehen, als der Zahlenraum bis 20 in Angriff genommen<br />

wird. Manchmal vertauscht sie die Position der Ziffern im Stellenwertsystem.<br />

Darüber hinaus verwechselt sie die Rechenzeichen. Durch intensives Üben – Lisas<br />

Lerneifer ist ungebrochen – kann sie sich den Zahlenraum bis 20 allmählich<br />

einigermaßen sicher erschließen. Als Anschauungshilfe benutzt sie den Rechenrahmen,<br />

mit dem ihr Additions- und Subtraktionsaufgaben zunehmend sicherer<br />

gelingen.<br />

Zunächst benutzt sie die Strategie des Alles-Zählens. Es ist nicht leicht, sie davon<br />

abzubringen. Gründlich und zuverlässig, wie sie ist, scheint sie von der Richtigkeit<br />

ihrer Ergebnisse nur überzeugt zu sein, wenn sie alles nachgezählt hat.<br />

Intensives Üben unter meiner Anleitung bringt sie schließlich doch dazu, Zahlen


Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />

‚mit einem Streich‘ (d. h. ohne die Perlen einzeln abzuzählen) einzustellen, und<br />

den Zehnerübergang schrittweise (s. unten) zu bewältigen. Die Aufgabe 8 + 7<br />

löst sie schließlich so:<br />

• Zunächst wird die 8 mit einem Streich eingestellt.<br />

• Anschließend werden 2 Perlen ebenfalls mit einem Streich mit kleinem Abstand<br />

zu den 8 Perlen hinzu geschoben.<br />

• Die noch fehlenden 5 Perlen zählt sie ab, da sie bei der Zahlzerlegung noch<br />

unsicher ist.<br />

• Das Ergebnis kann sie einfach ablesen.<br />

• Beim Notieren schreibt sie die 5 spiegelverkehrt.<br />

Beim Kopfrechnen fällt auf, dass sie sehr langsam ist. Offensichtlich ist der Rechenrahmen<br />

für sie noch unentbehrlich. Fehlt er ihr, so rechnet sie möglichst unauffällig<br />

mit den Fingern. Erst ganz am Ende des ersten Schuljahres ist sie in der<br />

Lage, leichte Additionsaufgaben, etwa Verdopplungsaufgaben oder das Addieren<br />

der ‚1‘, sicher ohne Finger oder Rechenrahmen zu bewältigen.<br />

Zu diesem Zeitpunkt bin ich mir längst darüber im Klaren, dass Lisa in Mathematik<br />

mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Deshalb schlage ich sie als<br />

Förderkind für unser Forschungsprojekt „Ich erklär‘ dir, wie ich rechne – Prävention<br />

von Rechenstörungen“ vor.<br />

2. Schuljahr – 3. Jahr der Eingangsstufe<br />

Die positive Entwicklung zu mehr Selbstbewusstsein setzt sich bei Lisa weiter<br />

fort. Sie weiß um ihre Schwächen, lässt sich davon jedoch nicht entmutigen. Sie<br />

kommt nach wie vor sehr gern in die Schule und nutzt unsere Arbeitszeit zum<br />

intensiven Lernen. Das sind die günstigsten Voraussetzungen für möglichst effektives<br />

Lernen.<br />

Im Lesen wird sie deutlich sicherer. Texte, die vom Inhalt her ihrem Alter entsprechen,<br />

liest sie fast fließend und sinnentnehmend.<br />

Die verbundene Schrift gelingt ihr immer besser. Es<br />

entwickelt sich ein klares Schriftbild. Beim freien<br />

Schreiben werden einzelne Wörter, die nicht lautgetreu<br />

sind, schon richtig geschrieben, lautgetreue Wör-<br />

Z E<br />

ter fast immer. Sie verdreht jedoch immer noch einzelne<br />

Buchstaben.<br />

Im mathematischen Bereich versucht sie, sich den<br />

Zahlenraum bis 100 zu erschließen. Ihre ausgeprägte<br />

Rechts-Links-Schwäche steht ihr dabei offensichtlich<br />

sehr im Weg. Immer wieder verdreht sie Ziffern und<br />

vertauscht ihre Position im Stellenwertsystem. Ein<br />

Auszug aus ihrem Arbeitsmaterial zeigt deutlich, welche<br />

Schwierigkeiten sie noch hat, den Zehner als<br />

neue Einheit, nämlich als Zusammenfassung von<br />

zehn Einern, aufzufassen.<br />

Die Unsicherheiten bei Zahlen jenseits der 50 sind oft<br />

noch größer als bei kleineren Zahlen. Besonders verwirrend<br />

scheint für sie der Unterschied zwischen<br />

Sprechweise und Schreibweise der zweistelligen Zah-<br />

Z<br />

Z<br />

E<br />

E<br />

Z<br />

E<br />

Z E<br />

67


68<br />

Paula G. Althoff<br />

len zu sein. In der Regel notiert sie daher den Einer vor dem Zehner. Das Lesen<br />

und Schreiben zweistelliger Zahlen und besonders das Rechnen mit zweistelligen<br />

Zahlen fällt Lisa äußerst schwer. Findet sie die richtige Richtung, so kann sie<br />

nach einiger Zeit zweistellige mit einstelligen Zahlen verknüpfen (Addition und<br />

Subtraktion). Die Verknüpfung reiner Zehnerzahlen mit gemischten Zehner-<br />

Einer-Zahlen (z. B.: 50 + 34) bereitet ihr große Schwierigkeiten. Für diese Operationen<br />

benötigt sie den Rechenrahmen. Die Verknüpfung zweier Zehner-Einer-<br />

Zahlen mit Zehnerübergang (z. B.: 36 + 29) gelingt ihr zunächst gar nicht, da<br />

der Rechenrahmen bei diesen Aufgaben keine gute Hilfe ist. Mit derartigen Aufgaben<br />

kann ich sie erst geraume Zeit später konfrontieren, als sie leichtere Operationen<br />

im Zahlenraum bis 100 ohne Rechenrahmen lösen kann. Im Zahlenraum<br />

bis 20 zeigt sie erfreuliche Fortschritte. Das Zerlegen der Zahlen gelingt ihr immer<br />

besser, erfordert jedoch immer noch viel Übung. Aufgaben aus dem kleinen<br />

1 + 1 werden zunehmend aus dem Gedächtnis abrufbar. Auch hier ist noch einiges<br />

an Übung notwendig.<br />

Für unser Forschungsteam beschreibe ich Lisas Probleme kurz vor der Ersterhebung<br />

in folgenden Sätzen:<br />

„Zusammenfassend möchte ich zu Lisa bemerken, dass sie grundsätzlich langsam<br />

lernt, was sie teilweise durch ihren großen Fleiß kompensieren kann. Ihre<br />

ausgeprägte Rechts-Links-Schwäche macht sich sowohl in der Mathematik als<br />

auch beim Schreiben bemerkbar. Beim Lesen ist die Richtung eindeutig vorgegeben,<br />

so dass sie hier keine besonderen Schwierigkeiten hat. Es wird höchstens<br />

mal das ‚b‘ mit dem ‚d‘ verwechselt.“<br />

Zur Ersterhebung<br />

Bevor Lisa überprüft werden kann, muss ich das Einverständnis der Eltern einholen.<br />

Das ist keine leichte Aufgabe. Ich berichte zunächst von unserem Forschungsvorhaben.<br />

Die Mutter bekommt ‚große Bauchschmerzen‘, als ich Lisa für<br />

unser Forschungsprojekt vorschlage. Trotz vorhergehender intensiver Gespräche<br />

zum Lern- und Leistungsstand ihrer Tochter ist sie sehr erschrocken, dass Lisa<br />

solche Probleme haben soll. Sie hat offensichtlich alle Bemerkungen, die auf<br />

Schwächen deuteten, ausgeblendet. Meine Bemerkungen zu Lisas positiver Persönlichkeitsentwicklung,<br />

die auch den Eltern nicht verborgen blieb, sind offensichtlich<br />

viel deutlicher wahrgenommen worden. Auch der Vater wirkt anfangs<br />

sehr betroffen. Im Vergleich zum älteren Bruder hat er Lisa als mathematisch<br />

begabt eingestuft. Er lässt sich jedoch leichter von der Notwendigkeit einer zusätzlichen<br />

Förderung überzeugen und signalisiert mir gegenüber auch weiterhin<br />

großes Vertrauen.<br />

Lisa freut sich über die Aufmerksamkeit, die ihr geschenkt wird. Am 5.11.2001<br />

wird sie im IDM (siehe unter Beratungsstelle im Glossar) der Universität <strong>Bielefeld</strong><br />

überprüft. Sie ist vorher ein bisschen aufgeregt, hat jedoch überhaupt keine<br />

Bauchschmerzen und bewältigt den Test, in dem sie sich über einen längeren<br />

Zeitraum konzentrieren muss, sehr gut.<br />

Ich bin die ganze Zeit dabei und habe den Eindruck, dass sie in der Lage ist,<br />

wirklich alles zu zeigen, was sie zu diesem Zeitpunkt kann.


Befunde der Ersterhebung<br />

Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />

Die Ersterhebung bestätigt die von mir im Unterricht gemachten Beobachtungen.<br />

Lisa zeigt Probleme beim Rückwärtszählen im Zahlenraum bis 100. Bereits im<br />

Zahlenraum bis 20 werden Probleme sichtbar. Im Protokoll ist zu lesen:<br />

„Addition im Zahlenraum bis 20<br />

Die Verdoppelungsaufgaben im Zahlenraum bis 20 beherrscht Lisa<br />

auswendig.<br />

Zur Lösung der meisten Aufgaben im Zahlenraum bis 20 verwendet<br />

Lisa die Strategie des Alles-Zählens (vgl. Beitrag von Schipper in diesem<br />

Heft, S. 32ff.). Hierbei nutzt sie ihre Hände als Hilfsmittel. Die<br />

Strategie des Weiterzählens scheint von ihr noch nicht verstanden<br />

worden zu sein. Dennoch gelingt es ihr bereits manchmal, Ansätze<br />

von operativen Strategien zu nutzen, z. B. bei Aufgaben, in denen eine<br />

9 vorkommt, nutzt sie die Nachbaraufgabe mit 10.<br />

Subtraktion im Zahlenraum bis 20<br />

Bei den Subtraktionsaufgaben zählt Lisa ebenfalls. Entsprechend ihren<br />

Schwierigkeiten beim Rückwärtszählen scheinen ihr diese Aufgaben<br />

besonders schwer zu fallen. Vor allem aber auch, weil sie auf die<br />

Strategie des Alles-Zählens zurückgreift.<br />

Die Aufgabe 6 – 3 kann Lisa sofort lösen. Dazu erklärt sie, dass sie<br />

das weiß, weil 3 + 3 = 6 sind, d. h. sie greift auf das Verdoppeln<br />

bzw. Halbieren zurück (operative Strategien).“<br />

Die quasi-simultane Zahlauffassung am Hunderterrechenrahmen bereitet ihr<br />

Schwierigkeiten, obwohl dies vorher schon häufig im Unterricht geübt worden ist.<br />

Auffällige Probleme zeigen sich bei der Links-Rechts-Unterscheidung. Auch hierzu<br />

hat es bereits zahlreiche Übungen im Unterricht gegeben.<br />

Bei der Addition und Subtraktion im Hunderterraum bestätigen sich meine Beobachtungen<br />

aus dem Unterricht.<br />

„Addition im Hunderterraum<br />

Aufgaben der Art ZE + E und ZE + ZE kann Lisa mit dem Hunderter-<br />

Rechenrahmen lösen. Aber sie hat beim Aufschreiben der Aufgaben<br />

große Probleme. Bei dem Versuch, die Zahl 31 von rechts nach links<br />

zu notieren, kommt es zu einem Zahlendreher. Daraufhin aufgefordert,<br />

die Zahl 31 in einer Stellenwerttafel zu notieren, notiert Lisa die<br />

Ziffer 1 in der Zehnerspalte und die Ziffer 3 in der Einerspalte. Dabei<br />

ist zusätzlich auffällig, dass sie die Ziffer 3 spiegelverkehrt notiert ...“<br />

Die Diagnose zeigt auch, dass ihre Merkfähigkeit nicht besonders ausgeprägt ist.<br />

Zusammenfassend wird im Protokoll festgehalten:<br />

„Lisa ist noch unsicher bei der Links-Rechts-Unterscheidung an sich<br />

selber und am Gegenüber. Dies könnte ihre Probleme bei der Notation<br />

von Zahlen, aber auch ihre Unsicherheit im Bereich der Stellenwerte<br />

verstärken oder mit verursacht haben.<br />

Sie scheint größtenteils auf zählende Strategien zurückzugreifen.<br />

Wichtig wäre, mit ihr zunächst die Strategie des Weiterzählens zu er-<br />

69


70<br />

Paula G. Althoff<br />

arbeiten. Letztendlich geht es aber darum, die schon vorhandenen<br />

Ansätze zu operativen Strategien aufzugreifen und auszuweiten.<br />

Der Bereich der Subtraktion bereitet ihr besondere Schwierigkeiten<br />

und sollte im Rahmen einer Förderung besonders gestärkt werden.<br />

Auch ist unklar, ob Lisa ein gesichertes Verständnis für die Addition<br />

und Subtraktion entwickelt hat. Dies sollte mit ihr sowohl auf der enaktiven<br />

als auch auf der ikonischen Ebene erarbeitet werden.<br />

Mit Lisa sollten sinnvolle Kopfrechenstrategien erarbeitet werden. Die<br />

Strategie, die sie zur Zeit am Rechenrahmen nutzt, lässt sich nicht<br />

auf das Kopfrechnen übertragen.“<br />

Die Förderung<br />

Auf Grund der Ergebnisse der Ersterhebung ist sehr deutlich geworden, dass Lisa<br />

tatsächlich der besonderen Förderung im mathematischen Bereich bedarf. Nach<br />

Absprache in unserem Forschungsteam soll sie Einzelförderung erhalten.<br />

Auch für meinen Unterricht bedeutet dies, weiterhin mein besonderes Augenmerk<br />

auf Lisa richten zu müssen.<br />

Einzelförderung<br />

Die Einzelförderung übernimmt Bianca Beyer, ein Mitglied aus unserem Forschungsteam.<br />

Bianca kommt einmal wöchentlich für 60 Minuten. Diese Zeit steht<br />

für Lisa und ein zweites Kind aus ihrer Gruppe, welches ebenfalls erhebliche<br />

Probleme hat, zur Verfügung. Zeitweise können beide Kinder gleichzeitig gefördert<br />

werden, dadurch verlängert sich die Förderzeit über die üblichen 30 Minuten<br />

hinaus.<br />

Am 10.12.2001 findet die erste Förderstunde statt. Insgesamt können 20 Termine<br />

wahrgenommen werden. Die letzte Förderung ist am 2.7.2002.<br />

Basierend auf den Ergebnissen der Ersterhebung, der Diskussion im Forschungsteam<br />

sowie Biancas und meiner Beobachtungen, haben wir einen Förderplan für<br />

Lisa erstellt. Es ergeben sich zunächst folgende Förderschwerpunkte:<br />

• Rückwärtszählen im Hunderterraum<br />

• Links-Rechts-Unterscheidung<br />

• Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 20<br />

• Veranschaulichung des Stellenwertsystems<br />

• Arbeiten mit der Hundertertafel<br />

• Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 100<br />

• Multiplikation und Division<br />

Lisa genießt die Einzelförderung. Sie ist hoch motiviert und arbeitet sehr konzentriert.<br />

Auch Bianca, mit der ich mich nach jeder Förderung austausche, bereitet<br />

die Arbeit mit Lisa viel Freude. Sie hat die Förderstunden protokolliert. Nachfolgend<br />

zwei Beispiele:<br />

„Legen von Zahlenplättchen auf eine leere Hunderter–Tafel<br />

Lisa ordnet Plättchen mit Zahlen auf einer leeren Hunderter–Tafel ein.<br />

Dabei macht sie immer wieder folgende drei Zahlendreher:<br />

1. Sie nimmt das Plättchen z. B. mit der 69, sagt dazu 96 und legt es auf<br />

den Platz der 69.


Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />

2. Sie nimmt das Plättchen z. B. mit der 67, sagt dazu 76 und legt es auf<br />

den Platz der 76.<br />

3. Sie nimmt das Plättchen z. B. mit der 49, sagt dazu 49 und legt es auf<br />

den Platz der 94.<br />

Nach eigener Angabe sucht Lisa erst nach dem Zehner und dann nach dem<br />

Einer auf der Hunderter-Tafel.“<br />

„Arbeitsblätter mit Ausschnitten aus der Hunderter-Tafel<br />

Ich habe Lisa vier Förderstunden hintereinander Arbeitsblätter mit Ausschnitten<br />

aus der Hunderter-Tafel ausfüllen lassen. Dafür habe ich ihr jeweils<br />

eine Zahl in ein Kästchen des Ausschnitts geschrieben, von der sie<br />

ausgehen musste.<br />

Beim ersten Arbeitsblatt schreibt Lisa mehrfach den Vorgänger einer Zahl<br />

rechts neben die Zahl oder den Nachfolger links davon auf. Sie macht einen<br />

Zahlendreher, indem sie als den Nachfolger der 22 eine 32 notiert.<br />

Bei der Bearbeitung des zweiten Arbeitsblattes<br />

lasse ich Lisa die Zahlen<br />

benennen, die sie aufschreibt. Dabei<br />

passieren ihr häufig Zahlendreher. Den<br />

Nachfolger der 87 schreibt sie links daneben.<br />

Bei einem Ausschnitt, bei dem<br />

am Ende der mittleren Reihe die 65<br />

vorgegeben ist, notiert Lisa unter die 64<br />

eine 54 und unter die 62 eine 52. Dafür<br />

schreibt sie über die 61 eine 71.“<br />

Konsequenzen für meinen Unterricht<br />

Bereits lange, bevor die Einzelförderung bei Lisa einsetzte, habe ich meinen Unterricht<br />

im Bereich Mathematik kritisch hinterfragt. Angeregt und sensibilisiert<br />

wurde ich durch unseren Forschungsauftrag – erste Treffen mit unserem Forschungsteam<br />

hatten bereits im Herbst 2000 stattgefunden. In vielen Punkten<br />

hielt mein Unterricht den Kriterien unseres Teams stand. Durch mehr Hintergrundwissen<br />

über die Entstehung von Rechenstörungen und deren Symptome<br />

kommt es allmählich zu einer teilweise neuen Gewichtung der Unterrichtsschwerpunkte.<br />

Lisa ist nicht das einzige Kind in meiner Gruppe mit besonderem Förderbedarf.<br />

Wie schon oben beschrieben, gibt es noch ein weiteres Kind im Jahrgang<br />

2, welches im Rahmen unseres Forschungsprojektes Einzelförderung erhält. Ein<br />

drittes Kind im Jahrgang 2 hat ebenfalls mit größten Schwierigkeiten zu kämpfen.<br />

Leider ist es uns nicht gelungen, die Eltern für unser Projekt zu gewinnen.<br />

So ist dieses Kind allein auf meine Förderung während des Unterrichts angewiesen,<br />

da wir keine Einzelförderung anbieten können. Zwei weitere Kinder aus dem<br />

Jahrgang 1 zeigen Schwächen, die bei Nichtbeachtung zu Rechenstörungen führen<br />

können. Darüber hinaus gibt es noch bei zwei Vorschulkindern erhebliche<br />

Probleme.<br />

Zwei Kinder aus dem Jahrgang 1 und ein Vorschulkind zeigen herausragende Leistungen,<br />

teilweise nicht nur im mathematischen Bereich.<br />

Grundsätzlich erfordert das Arbeiten in altersgemischten Gruppen eine starke<br />

Differenzierung. Die auch für Laborschulverhältnisse außergewöhnliche Anhäufung<br />

in meiner Gruppe von Lernschwächen einerseits und besonderen Bega-<br />

71


72<br />

Paula G. Althoff<br />

bungen andererseits macht die Differenzierung um so dringender. Einige wichtige<br />

Merkmale meines Unterrichts möchte ich hier kurz anführen:<br />

• Es findet eine ausgeprägte Binnendifferenzierung statt (bei behutsamer Ermittlung<br />

der jeweiligen Lernausgangslage).<br />

• Unter- oder Überforderung werden weitgehend vermieden, um die Lernfreude<br />

zu erhalten oder zu wecken.<br />

• Unterrichtsmaterialien und der<br />

Zeitpunkt der Ausgabe sind auf<br />

das einzelne Kind abgestimmt.<br />

• Materialien, die Selbstkontrolle<br />

ermöglichen, erziehen zu selbständigem<br />

Arbeiten.<br />

• Während sich die Betreuungslehrerin<br />

einzelnen Kindern oder<br />

einer Kleingruppe zuwendet<br />

(Diagnose, Förderung, Vermittlung<br />

neuer Lerninhalte, Übung<br />

...), helfen sich die übrigen<br />

Kinder gegenseitig (kein Helfer-Prinzip<br />

sondern bereitwilliges<br />

Helfen, weil einsehbar und<br />

anerkannt).<br />

• Arbeitsmittel (z. B. der Rechenrahmen)<br />

stehen den Kindern<br />

immer frei zur Verfügung,<br />

sie dürfen sie so lange benutzen,<br />

wie sie sie brauchen.<br />

• Übungsmaterialien und Lernspiele<br />

sind gleichwertige Unterrichtsmaterialien,<br />

d. h. sie können<br />

ggf. Einheiten im Rechenbuch<br />

ersetzen.<br />

• Größtmögliche Individualisierung<br />

schließt meine Arbeit mit<br />

Kleingruppen nicht aus, sondern bewusst ein.<br />

• Leistungsstarke Kinder bekommen Zusatzmaterial, das sie herausfordert (z.<br />

B.: Knobelaufgaben, Tangram, Zauberdreieck (siehe Glossar), besondere<br />

Sachaufgaben und Spiele wie Backgammon, Rummikub o. Ä.)<br />

• Kinder, die ihre Lernzeit nicht sinnvoll organisieren können, bekommen ihr<br />

Pensum in Form von Tages- oder Wochenplänen vorgeschrieben.<br />

• Alle Kinder werden zur Reflexion angeregt:<br />

Hast du dich richtig angestrengt?<br />

Warst du konzentriert bei der Sache?<br />

Hast du diese Aufgaben verstanden?<br />

Machen dir diese Aufgaben Spaß?<br />

Wie hast du gerechnet?<br />

Wen hast du gefragt?<br />

• Diese Fragen muss ich mir regelmäßig stellen:<br />

Welche Materialien muss ich für welches Kind bereithalten?<br />

Wo liegen die Stärken und Schwächen der einzelnen Kinder?


Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />

Wie lassen sie sich in Kleingruppen zusammenfassen?<br />

Wer kann die lernschwachen Kinder zusätzlich fördern (Praktikanten, Nachmittagskräfte,<br />

Eltern) und was soll wie geübt werden?<br />

Welches Kind kann was erklären?<br />

Kann jedes Kind das, was es können kann?<br />

• Die Sichtweise der Kinder in Bezug auf Leistung wird eher in die Richtung gelenkt:<br />

„Heute schaffe ich das, was ich gestern noch nicht (so gut) geschafft habe.“<br />

Die Kinder können (und tun dies auch) ihre eigene Leistungsfähigkeit (auch im<br />

Vergleich mit anderen) oft besonders gut einschätzen, ohne darunter zu leiden<br />

und ohne damit zu prahlen.<br />

Die Förderschwerpunkte aus Lisas Förderplan finden nicht nur für Lisa Berücksichtigung.<br />

Sie fließen in meine Arbeit mit der ganzen Gruppe und mit Kleingruppen<br />

ein.<br />

Übungen zum Vorwärts- und Rückwärtszählen lassen sich gut mit der ganzen<br />

Gruppe durchführen. Auch das schrittweise Zählen (z. B.: 2, 4 ,6 ...) klappt gut<br />

mit der ganzen Gruppe. Zeitweise haben wir täglich eine kurze Übungsphase zu<br />

diesem Thema.<br />

Auch die Links-Rechts-Unterscheidung kann spielerisch mit der ganzen Gruppe<br />

am besten im Kreis geübt werden.<br />

„Tippe mit deinem rechten Zeigefinger deinem linken Nachbarn auf das<br />

rechte Knie.“<br />

„Fasse deinem rechten Nachbarn mit der rechten Hand ans linke Ohr.“<br />

Mit diesen Übungen haben wir oft viel Spaß und viele Kinder gewinnen schnell an<br />

Sicherheit bei der Links-Rechts-Unterscheidung. Als positiver Nebeneffekt scheinen<br />

diese Übungen die Konzentrationsfähigkeit der Kinder zu erhöhen, wenn sie<br />

z. B. kurz vor der Arbeitszeit eingesetzt werden.<br />

Viel Zeit verwenden wir für das Kopfrechnen. Hier bietet sich das Arbeiten mit<br />

der ganzen Gruppe eher selten an. Immer wieder machen wir in unterschiedlich<br />

zusammengesetzten Kleingruppen Übungen zur Zahlzerlegung. Die Zerlegung<br />

der 10 als Grundlage für den schrittweisen Zehnerübergang ist mir dabei besonders<br />

wichtig.<br />

Da den meisten Kindern das Addieren leichter fällt als das Subtrahieren, üben wir<br />

schwerpunktmäßig die Subtraktion. Vor allem die Subtraktion im Zahlenraum bis<br />

20 muss mit vielen Kindern über einen langen Zeitraum geübt werden.<br />

Als geeignete Differenzierungsmaßnahme hat sich der Einsatz des Computers<br />

herausgestellt. Mit dem Programm „Fehleranalysen, Version 6“ der Firma SoWo-<br />

Soft (D. + J. Wohlrab, 1989) mache ich sehr gute Erfahrungen (vgl. dazu auch<br />

den Beitrag von Schipper in diesem Heft, S. 38). Es ermöglicht eine sehr exakte<br />

Differenzierung, zugeschnitten auf die Stärken und Schwächen der einzelnen<br />

Kinder. Nach Beenden einer ‚Sitzung‘ bietet das Programm ein Protokoll mit Fehleranalyse<br />

an. Durch den Vergleich mehrerer gespeicherter Protokolle lassen sich<br />

Lernfortschritte schnell und unkompliziert ablesen. Obwohl das Programm auf<br />

optische Effekte und Geräusche gänzlich verzichtet, hat es von Anfang an große<br />

Attraktivität für die Kinder meiner Gruppe.<br />

73


74<br />

Paula G. Althoff<br />

Gemeinsam mit meiner Kollegin aus der Nachbargruppe habe ich einen ‚Mathe-<br />

Treff‘ installiert. Phasenweise werden die Kinder eines Jahrgangs aus beiden<br />

Gruppen einmal wöchentlich zusammengefasst, um Unterrichtsinhalte (z. B. Multiplikation<br />

und Division) einzuführen oder zu vertiefen. Dies erscheint uns sinnvoll,<br />

da wir so manchmal wertvolle Zeit einsparen, die dann wieder für mehr Differenzierung<br />

zur Verfügung steht. Zudem können wir uns so bei Problemen besser<br />

über die Kinder austauschen.<br />

Auswirkungen der Förderung<br />

Es ist interessant zu beobachten, welche Fortschritte Lisa in meinem Unterricht<br />

macht. Knapp zwei Monate nach der Erstüberprüfung wird ihr zunehmendes<br />

Selbstvertrauen auch im Bereich Mathematik deutlich sichtbar. Die Förderung<br />

und die zusätzliche Aufmerksamkeit, die sie erfährt, tun ihr sichtlich gut. Sie ist<br />

sehr motiviert und fleißig, und sie zeigt deutliche Fortschritte.<br />

Bei der Unterscheidung von rechts und links beobachte ich Ende Dezember 2001<br />

noch Unsicherheiten. Insgesamt ist Lisa jedoch viel sicherer geworden. Um herauszufinden,<br />

ob sie wirklich Rechtshänderin ist, werfe ich ihr unvermittelt ein<br />

Wollknäuel zu. Sie fängt es mit beiden Händen auf. Ich zeige ihr, dass man so<br />

ein kleines Knäuel auch mit einer Hand fangen kann. Als ich das Knäuel noch<br />

einmal werfe, reagiert sie spontan und versucht es mit der rechten Hand zu fangen.<br />

Der Versuch geht knapp daneben. Ich bitte sie es noch einmal mit der anderen<br />

Hand zu probieren. Dieser Versuch misslingt eindeutig.<br />

Die Häufigkeit, mit der sie Ziffern verdreht und/oder ihre Position im Stellenwertsystem<br />

vertauscht, hat deutlich abgenommen. Wirklich sicher ist sie jedoch noch<br />

nicht.<br />

Additionsaufgaben im Zahlenraum bis 20 kann sie inzwischen ohne Rechenrahmen<br />

recht sicher lösen. Viele Aufgaben kennt sie jetzt auswendig.<br />

Bei der Subtraktion ist sie unsicherer als bei der Addition. In unseren ‚Mathe-<br />

Treffs‘ hatte ich, wie oben beschrieben, einen Schwerpunkt auf die Subtraktion<br />

gelegt, nicht nur für Lisa.<br />

Zwischendurch hat Lisa auch schlechte Tage, an denen nichts so richtig gelingen<br />

will. Wir stoßen beide an unsere Grenzen. Sie spürt, dass sie vor einer Hürde<br />

steht, die ihr unüberwindlich erscheint. Mir fehlen die Worte und neue Ideen für<br />

weitere Veranschaulichungen und Erklärungen. Zweimal ist Lisa in solchen Situationen<br />

in Tränen ausgebrochen. Ich habe sie dann jedes Mal in den Arm genommen<br />

und getröstet, dass sie das schon noch verstehen werde. Die Mathe-Sachen<br />

haben wir vom Tisch verbannt und Lisa hat sich anschließend Dingen zugewandt,<br />

die sie besonders gern macht, wie lesen, malen oder Geschichten schreiben.<br />

Am 16.1.2002 mache ich folgende Beobachtungen und dokumentiere sie in meinem<br />

Forschungstagebuch:<br />

Lisa brütet über der folgenden Aufgabe: __ + 4 = 58<br />

Ich fordere sie auf, laut zu denken. Leider tut sie dies nicht.<br />

Ihr 1. Lösungsversuch: 80 (Strategie richtig, jedoch von 85 ausgegangen<br />

und dann um 1 verzählt)<br />

Ich fordere sie auf, es noch einmal zu probieren.<br />

Ihr 2. Lösungsversuch: eine andere Zahl aus der 80er-Reihe, jedoch nicht<br />

die 81 (Diese Lösung kann ich nicht nachvollziehen.)<br />

Jetzt nehmen wir den Rechenrahmen zu Hilfe.<br />

„Welche Zahl willst du einstellen?“


Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />

„58“<br />

Sie stellt die 85 ein.<br />

„Zähl noch einmal laut, welche Zahl das ist.“<br />

„85“<br />

„Jetzt stell bitte die 58 ein.“<br />

Sie stellt die 55 ein.<br />

„Zähl noch einmal laut, welche Zahl das ist.“<br />

„55“<br />

„Was musst du tun?“<br />

„Noch 3 dazu“ Sie tut es.<br />

„Jetzt zeig mir die 4 Perlen, die vorher dazu gekommen sind. Welche Zahl<br />

muss an den Anfang der Aufgabe?“<br />

„54“ Sie trägt 54 ein, verdreht jedoch die 5.<br />

Auf meinen Hinweis korrigiert sie dies.<br />

Die folgenden 16 Aufgaben ähnlichen Typs soll sie allein mit Hilfe des Rechenrahmens<br />

lösen. Sie soll sich die Zahlen laut vorsprechen.<br />

Sie rechnet zügig und kommt insgesamt zu 14 richtigen Ergebnissen. Sie<br />

notiert sie richtig, ohne Fehler im Stellenwertsystem. Zwei Ziffern schreibt<br />

sie spiegelverkehrt. Sie freut sich sehr über dieses gute Ergebnis und ich<br />

tue es auch.<br />

Im Mai 2002 tauschen Bianca und ich uns noch einmal sehr ausführlich über Lisa<br />

aus. Wir stimmen darin überein, dass sie insgesamt große Fortschritte gemacht<br />

hat und halten dies in einem Protokoll fest, welches ich hier nur auszugsweise<br />

wiedergebe:<br />

Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 20:<br />

„[...] Inzwischen ist sie hier recht sicher. Den Rechenrahmen gebraucht sie<br />

nicht. Sie scheint die meisten der Aufgaben, die sie nicht auswendig weiß,<br />

schrittweise zu rechnen. Additionsaufgaben löst sie schneller und sicherer<br />

als Subtraktionsaufgaben.<br />

Analogieaufgaben (z. B. 7 – 5, 17 – 5) kann Lisa erkennen und nutzen [...].<br />

Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 100:<br />

Grundsätzlich ist sie sicherer, wenn sie die Aufgaben schriftlich vor sich hat<br />

[...].<br />

ZE + E: Ohne Zehnerüberschreitung kann sie Aufgaben dieses Typs auch als<br />

Ergänzungsaufgaben meistens richtig lösen. Muss der Zehner überschritten<br />

werden, steigt die Anzahl der Fehler [...].<br />

ZE ± Z: Auch bei diesen Aufgaben ist sie inzwischen sehr sicher [...].<br />

ZE ± ZE: Aufgaben ohne Zehnerüberschreitung kann sie auch ohne Anschauungshilfen<br />

oft richtig lösen, braucht dafür jedoch noch viel Zeit. Ist die<br />

Lösung eine Zehnerzahl, kommt sie oft zu falschen Ergebnissen. Muss der<br />

Zehner überschritten werden, ist sie noch sehr unsicher [...].<br />

Multiplikation und Division:<br />

Das Prinzip des 1 x 1 hat sie verstanden. Sie kann gestellte Multiplikationsaufgaben<br />

mit Hilfe des ‚Malwinkels‘ am Hunderterfeld darstellen, sowie dargestellte<br />

Aufgaben ablesen. Sie kann mit 0 und 1 multiplizieren und kennt<br />

die Aufgaben aus dem Einmaleins mit 2, 5 und 10 auswendig. Die entsprechenden<br />

Divisionsaufgaben kann sie ebenfalls sicher lösen [...].<br />

75


76<br />

Paula G. Althoff<br />

Besonderheiten:<br />

Lisa ist hoch motiviert und sehr fleißig. So konnte sie insgesamt sehr erfreuliche<br />

Fortschritte machen. Alles, was sie intensiv geübt hat, bewältigt<br />

sie sicher. Schwierigkeiten hat sie, wenn sie Gelerntes in neuen Zusammenhängen<br />

anwenden soll. Beispiel: Sie sollte Datumsangaben umwandeln.<br />

„1.Mai 2000“ sollte sie in „1.5.2000“ umwandeln. Für nur fünf Aufgaben<br />

dieses Typs benötigte sie trotz intensiver Hilfe und Erklärungen 60 Minuten.<br />

Auch in Zukunft sind diese Schwierigkeiten bei ihr zu erwarten [...].<br />

Künftige Förderschwerpunkte:<br />

[...] Ein Schwerpunkt sollte in der Erarbeitung sinnvoller Kopfrechenstrategien<br />

liegen.<br />

Folgende Aufgabentypen sollten besonders geübt werden:<br />

ZE + E mit Zehnerübergang<br />

Z + ZE insbesondere Subtraktion und Ergänzungsaufgaben<br />

ZE + ZE<br />

Erarbeitung der noch fehlenden Einmaleinsreihen [...].“<br />

Zweite Überprüfung<br />

Am 13.6.2002 wird Lisa zum zweiten Mal im IDM überprüft. Begleitet wird sie<br />

diesmal von Bianca. Auch in der Testsituation kann Lisa die von uns beobachteten<br />

Fortschritte bestätigen. Das Vorwärts- und Rückwärtszählen im Zahlenraum<br />

bis 100 bereitet Lisa keine Probleme. Im Zahlenraum bis 1000 fällt ihr das Vorwärtszählen<br />

schwer. Auf der Hundertertafel findet sie sich problemlos zurecht.<br />

Lisa schreibt alle ein- und zweistelligen Zahlen richtig und von links nach rechts<br />

auf. Vor dem Aufschreiben der zweistelligen Zahlen überlegt sie immer erst, in<br />

welcher Reihenfolge sie die Zahlen schreiben muss. Das Notieren von dreistelligen<br />

Zahlen fällt ihr schwer:<br />

Sie kann links und rechts bei sich und am Gegenüber unterscheiden, scheint dabei<br />

jedoch noch etwas unsicher zu sein.<br />

Die Zerlegungen der 10 und der 20 sind für Lisa auch ohne die visuelle Unterstützung<br />

von Händen leicht durchzuführen.<br />

Sie kann zweistellige Zahlen problemlos bis zur 100 ergänzen und alle Zahlen im<br />

Zahlenraum bis 50 verdoppeln.<br />

Aufgaben vom Typ ZE + ZE mit Zehnerübergang kann sie schrittweise im Kopf<br />

berechnen, benötigt jedoch noch viel Zeit.<br />

Die geübten Einmaleinsreihen kennt sie sicher, Aufgaben aus den übrigen Reihen<br />

kann sie sich über Nachbaraufgaben erschließen. Die Division wurde mit Lisa im<br />

Unterricht nur kurz thematisiert. Hier muss noch weiter geübt werden.<br />

Am Ende des Protokolls ist zu lesen:<br />

„Insgesamt: Ein sehr erfreuliches Ergebnis. Lisa ist nahezu unauffällig [...]. Es<br />

besteht kein aktueller Förderbedarf mehr. Lisa sollte aber weiter beobachtet<br />

werden.“


Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />

Bericht zum Lernvorgang Sommer 2002<br />

Der Bericht am Ende des zweiten Schuljahres führt Lisa und ihren Eltern ihre positive<br />

Entwicklung noch einmal deutlich vor Augen:<br />

„Liebe Lisa,<br />

erinnerst du dich noch an deinen Schulstart vor drei Jahren? Damals warst du<br />

noch ganz klein und ängstlich, hattest oft Bauchweh und musstest öfter mal weinen.<br />

Unglaublich, wie du dich entwickelt hast! Das Bauchweh ist schon lange<br />

weg, weinen musst du nur noch, wenn du dir richtig wehgetan hast und insgesamt<br />

bist du viel mutiger und selbstbewusster geworden [...].<br />

Besonders betonen möchte ich noch deine sportlichen Leistungen. Du bewegst<br />

dich geschickt und kannst unglaublich schnell rennen. Das hat sogar unsere<br />

schnellen Jungen beeindruckt [...].<br />

Unsere Arbeitszeit hast du immer bereitwillig und sehr ausdauernd zum Lernen<br />

genutzt. Du hast viel geschafft und bist in allen Lernbereichen gut voran gekommen<br />

[...].<br />

Beim Rechnen hast du mit viel Ausdauer und Fleiß einen riesigen Sprung geschafft.<br />

Zahlendreher und spiegelverkehrte Ziffern waren lange Zeit ein großes Problem<br />

für dich. Du hast es nahezu abgeschafft. Ich muss schon lange suchen, um solche<br />

Fehler noch bei dir zu entdecken. Plus- und Minusaufgaben im Zahlenraum<br />

bis 20 kannst du auch ohne Rechenrahmen sicher lösen. Viele Aufgaben kennst<br />

du auswendig. Den Zehnerübergang bewältigst du durch schrittweises Rechnen.<br />

Prima, das geht inzwischen ja auch schneller als das Zählen.<br />

Auch im Hunderterraum bewegst du dich mit zunehmender Sicherheit. Bei Plusaufgaben<br />

bist du etwas schneller und sicherer als bei Minusaufgaben. Es ist noch<br />

gar nicht lange her, da waren Aufgaben wie „68 + 27 = __“ ein scheinbar unlösbares<br />

Problem für dich. Inzwischen kannst du solche Aufgaben auch ohne schriftliche<br />

Zwischenschritte mit zunehmender Schnelligkeit lösen. Dafür hast du ein<br />

dickes Lob verdient.<br />

Das Prinzip des Einmaleins hast du verstanden. Einige Einmaleinsreihen kennst<br />

du auswendig und kannst auch die entsprechenden Divisionsaufgaben sicher lösen.<br />

Mit ein bisschen Übung wirst du bald auch die übrigen Reihen sicher beherrschen.<br />

Dafür wirst du im kommenden Schuljahr noch genügend Zeit haben.<br />

Deine erworbenen Rechenfertigkeiten kannst du in kleinen Sachaufgaben anwenden.<br />

Das Tollste ist, dass du jetzt gerne rechnest. Du weißt ja, Mädchen müssen Mathe<br />

mögen, dann klappt es noch einmal so gut.<br />

Liebe Lisa, es war eine wunderschöne Zeit mit dir. Unsere gemeinsamen Anstrengungen<br />

haben sich wirklich gelohnt [...].“<br />

Lisas Entwicklung im Haus 2<br />

Im Sommer 2002 endet Lisas Zeit in der Eingangsstufe. Sie wird gemeinsam mit<br />

einigen Kindern ihrer Gruppe aus Haus 1 in einer altersgemischten Gruppe im<br />

Haus 2 aufgenommen. Ihre neue Gruppe umfasst die Jahrgänge 3,4 und 5 (siehe<br />

Glossar: Altersmischung). Durch Gespräche mit ihrer Betreuungslehrerin, ihrer<br />

Mathematiklehrerin und mit ihr selbst werde ich über ihre weitere Entwicklung<br />

auf dem Laufenden gehalten.<br />

Lisa ist freundlich und aufgeschlossen, jedoch immer noch etwas still. Sie erin-<br />

77


78<br />

Paula G. Althoff<br />

nert sich gern an ihre Zeit im Haus 1 zurück und geht jetzt bereitwillig in ihre<br />

neue Gruppe. Seit den Weihnachtsferien haben ihre neuen Lehrerinnen den Eindruck,<br />

dass sie dort inzwischen „richtig angekommen“ ist.<br />

Das Rechnen macht ihr viel Spaß, sie schätzt sich jedoch selbst als sehr langsam<br />

ein, sobald es um neue Lerninhalte geht. Dieser Eindruck wird von den Lehrerinnen<br />

so bestätigt. Sie hat das Gefühl, dass sie vieles ganz gut kann und dass einige<br />

Kinder in ihrer Lerngruppe weitaus größere Probleme mit dem Rechnen haben.<br />

Manchmal stört es sie, dass besonders einige Jungen nicht konzentriert bei<br />

der Sache sind und versuchen, den Unterricht zu stören. Inzwischen hat sie den<br />

Mut, diesen Jungen die Meinung zu sagen.<br />

Ihre Lehrerinnen schätzen Lisas Motivation und ihren Fleiß, mit dem sie ihr oft<br />

verzögertes Verständnis neuer Lerninhalte meistens ausgleichen kann. Sie vermuten,<br />

dass Lisa ohne die intensive Differenzierung und Förderung in der Eingangsstufe<br />

heute die größten Schwierigkeiten hätte und zu den ‚Sorgenkindern‘<br />

gezählt werden müsste.<br />

Ich freue mich sehr für Lisa, dass sie nicht zu den lernschwachen Kindern ihrer<br />

Gruppe gehört und hoffe, dass sie ihre positive Einstellung zur Mathematik und<br />

zum Lernen allgemein auch weiterhin bewahren kann.


Mircea Radu<br />

Einleitung 1<br />

Rechen- und Rechtschreibschwäche als<br />

personengebundene Anfälligkeit –<br />

Leichtfertige Diagnosen und ihre Folgen<br />

L. Wie viel ist zwanzig plus dreißig?<br />

C. (Schreibt „20 + 30“, überlegt kurz und<br />

fügt „= 50“ hinzu)<br />

L. Dreißig plus fünfzehn?<br />

C. (Schreibt „30 + 15“, überlegt kurz und<br />

fügt hinzu „= 45“)<br />

L. Siebzehn plus fünfzig?<br />

C. (Schreibt „17 + 50“, überlegt kurz und<br />

fügt „= 67“ hinzu)<br />

L. Wie hast du das herausgefunden?<br />

C. Im Kopf!<br />

L. Ich verstehe, aber wie?<br />

C. Gerechnet!!<br />

L. Und wie hast du gerechnet?<br />

C. (Ungeduldig) 17 + 50 eben.<br />

L. Ich würde gerne genauer verstehen, wie<br />

du auf 67 gekommen bist. Warum gerade<br />

67 und nicht, sagen wir, 73 oder 51?<br />

C. (Beginnt leise und undeutlich etwas vor<br />

sich hin zu murmeln; es hört sich an wie 7<br />

+ 5 = 12, 26; es werden auch andere Zahlen<br />

gesagt; das alles erfordert etwa eine<br />

halbe Minute.)<br />

L. Ich verstehe es immer noch nicht. Sag<br />

das bitte deutlicher, so dass ich das aufschreiben<br />

kann.<br />

C. 10 + 5 = 15 und 5 + 7 = 12 (Pause) 27.<br />

L. Vorhin hast du 67 hingeschrieben.<br />

C. 27.<br />

1 Auszug aus dem Protokoll der Erstüberprüfung im<br />

Schuljahr 2002/2003.<br />

„Schuhu: Guten Tag, mein Herr.<br />

Schuhologe: Guyau-uo.<br />

Schuhu: Ich bin der Schuhu, des Schneiders Sohn.<br />

Ich möchte zum Großherzog.<br />

Schuhologe: Hu, hu, ouaf auff!<br />

Schuhu: Ich kann bei Nacht sehen, alle Rätsel auflösen<br />

und gute Ratschläge erteilen; dabei esse ich<br />

nicht unmäßig und verlange keinen hohen Lohn.<br />

Schuhologe: Gusch.<br />

Schuhu: Wird man mich vorlassen?<br />

Schuhologe: Gusch. (Zu dem Wachposten): Das ist,<br />

sofern es überhaupt ein Schuhu ist, ein besonders<br />

dummer Schuhu. Kein Wort von seinem Gestammel<br />

ist mir verständlich.“<br />

Peter Hack, Der Schuhu und die fliegende Prinzessin<br />

L. 67 war aber richtig.<br />

C. (lustlos) ...<br />

L. (notiert in seinen Unterlagen ein Fragezeichen<br />

neben der Aufgabe 17 + 50). C.<br />

Warum schreibst du das?<br />

L. Ich möchte wissen, welche Aufgaben du<br />

lösen kannst und welche dir noch Schwierigkeiten<br />

bereiten.<br />

C. (Sichtlich unzufrieden mit diesem Vermerk<br />

erklärt sie sofort:) 10 + 50 ist 60 und<br />

60 + 7 = 67.<br />

L. Hast du vorhin so gerechnet?<br />

C. Ja!<br />

L. Warum hast du das nicht von Anfang an<br />

so erklärt?<br />

C. Ich dachte, es würde auch anders gehen.<br />

L. Gut. Rechnen wir weiter. Zehn plus<br />

neunzig?<br />

C. (sofort) 100.<br />

L. Fünfundzwanzig plus fünfundsiebzig?<br />

C. (sofort) 90.<br />

L. Sicher? Wie hast du gerechnet?<br />

C. 20 + 70 = 80 und ...<br />

L. (unterbricht) Wie viel ist zwei plus sieben?<br />

C. (sofort) 8.<br />

L. Sicher?<br />

C. (zählt leise) 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 (benutzt<br />

dabei die Finger); Neun! Ich weiß, ich<br />

weiß, 90.<br />

L. 90?<br />

C. Ja, 25 + 75 = 100.<br />

L. Wie viel ist 50 – 30?<br />

C. Minusaufgaben finde ich doof.<br />

79


80<br />

Mircea Radu<br />

Claudia besucht den dritten Jahrgang der Laborschule. Am Anfang des Schuljahres<br />

2002/2003 wechselte sie von der ‚Beige‘-Gruppe (Eingangsstufe im Haus 1)<br />

zur ‚Pink‘-Gruppe (altersgemischte Gruppe Stufe II). Sie hat nun eine neue Lehrerin<br />

und neue Klassenkameraden. Der Wechsel war für sie offenbar anstrengend.<br />

Die Lehrerin berichtet, dass Claudia während der ersten zwei Wochen oft<br />

weinte. „Sie wirkte verunsichert und lustlos.“ Danach hat sie sich gefangen und<br />

an die neuen Bedingungen gewöhnt. Das Weinen hörte auf und sie konnte rasch<br />

Freunde finden. Die Lehrerin betont, dass Claudia nun gut integriert sei und bereitwillig<br />

arbeite. In Mathematik aber würden sich einige Probleme zeigen: Claudia<br />

mache oft Fehler. Ihr würden viele elementare Erkenntnisse fehlen. Dennoch<br />

sei sie kein besonders gravierender Fall. In ihrer Gruppe befänden sich sogar<br />

zwei andere Kinder, die viel größere Schwierigkeiten als Claudia hätten. 1<br />

Wenn man den vorangehenden Dialog betrachtet, könnte man leicht zu dem<br />

Schluss gelangen, dass die Lehrerin Claudias Schwierigkeiten unterschätzt. Man<br />

muss aber dabei bedenken, dass die Laborschule oft mit viel ‚härteren‘ Fällen<br />

konfrontiert ist. Aus der Perspektive der Laborschule mögen also Claudias<br />

Schwierigkeiten nicht als besonders schwerwiegend erscheinen. Dennoch bleibt<br />

es befremdlich, dass ein neunjähriges Mädchen im dritten Schuljahr erhebliche<br />

Schwierigkeiten mit der Addition zweistelliger Zahlen hat und Subtraktionsaufgaben<br />

scheut.<br />

Die weitere Überprüfung zeigte, dass Claudia die Zahlzerlegungen der Zahlen im<br />

Bereich bis 10 nicht auswendig kennt. Sie benutzt zwar einfache Analogie-<br />

Strategien; zum Beispiel berechnet sie 20 + 30, indem sie zunächst 2 + 3 rechnet.<br />

Sie scheitert aber an der Tatsache, dass sie die einfachen Einspluseins-<br />

Aufgaben immer wieder falsch löst. Hinzu kommt, dass Claudia sogar für die Lösung<br />

solcher Einspluseins-Aufgaben keine besseren Wege kennt als das ‚Weiterzählen‘.<br />

Dieses ist aber ineffizient und führt zu häufigen ±1 - Fehlern.<br />

Im Falle der Subtraktion sind ihre Schwierigkeiten noch größer. Zunächst möchte<br />

sie die Minusaufgaben gar nicht rechnen. Alleine kann sie solche Aufgaben – wie<br />

z. B. 26 – 11 – nur am Rechenrahmen lösen. Dabei nutzt sie wieder zählende<br />

Strategien, die anfällig für Fehler sind. Es fällt auf, dass sie während der Arbeit<br />

zappelig ist und hastig arbeitet. Sie ist bemüht, die Aufgaben so schnell wie möglich<br />

zu lösen, das alles ‚hinter sich zu bringen‘. Sie mag es auch nicht, ihre Rechenwege<br />

zu beschreiben. Wenn sie manchmal einen Rechenweg angibt, dann<br />

geschieht dies hastig und ungenau. Wenn sie mit für sie schwierigen Aufgaben<br />

konfrontiert ist, wie im Falle der Minusaufgaben, gibt sie schnell auf „Ich kann‘s<br />

nicht! Sag du mir, wie ich‘s machen soll!“. Sie ist aber auch nicht bereit, meine<br />

Hilfestellungen hierzu genau zu verfolgen, wirkt etwas abweisend und manchmal<br />

unbeteiligt.<br />

Wenn man bedenkt, dass Claudia mich seit einem halben Jahr kennt, während<br />

dessen sie von mir zweimal wöchentlich für eine halbe Stunde Einzelförderung in<br />

Mathematik erhielt, kann man vermuten, dass bei ihr gravierende Rechenprobleme<br />

vorhanden sind. Vielleicht Dyskalkulie? Vielleicht zusätzlich Legasthenie?<br />

Vielleicht auch ADS? Auf alle Fälle Rechenschwäche, Konzentrationsprobleme,<br />

mangelnde Motivation. Ein durchaus gängiger Weg in solchen Situationen ist der<br />

Besuch bei PsychologInnen, um ihre Intelligenz und ihre Wahrnehmungsfähigkeit<br />

zu testen.<br />

1 Eine Überprüfung bestätigte diese Aussage.


Rechen- und Rechtschreibschwäche als personengebundene Anfälligkeit<br />

Als Claudia im Februar 2001 zur Laborschule wechselte, hatte sie gerade einen<br />

solchen Irrweg hinter sich. Der Verdacht liegt nahe, dass dieser Weg sie erst dahin<br />

gebracht hat, wo sie heute steht. Ihr Selbstvertrauen ist weitgehend zerschlagen<br />

und ihre Angst vor der Schule, vor neuen Umgebungen, aber insbesondere<br />

vor der Mathematik ist groß.<br />

Dieser Beitrag soll zum einen Claudias Odyssee erzählen, die sich über die verschiedenen<br />

Beurteilungen, Beratungen, Diagnosen und medikamentösen Behandlungen<br />

bis hin zur Empfehlung für die Sonderschule erstreckte, bis ihr<br />

schließlich durch die verzweifelte Mutter ein vorläufiges Ende gesetzt wurde: der<br />

Wechsel an die Laborschule.<br />

Zum anderen sollen die Grundzüge der von Februar 2002 bis zum Ende des zweiten<br />

Schuljahres durchgeführten Förderung erläutert und anhand einiger Beispiele<br />

exemplarisch illustriert werden. Darüber hinaus sollen die Erfolge, aber auch einige<br />

Misserfolge der bisher durchgeführten Förderung kurz umrissen werden.<br />

Die Vorgeschichte<br />

Der Zeitpunkt, an dem Claudias Probleme begannen oder zumindest deutlich<br />

wurden, lässt sich nicht genau bestimmen. Während des Kindergartens haben die<br />

ErzieherInnen nach Aussagen der Mutter keine besonderen Auffälligkeiten festgestellt.<br />

Claudia wirkte zu diesem Zeitpunkt wie jedes andere Kind ihres Alters<br />

fröhlich und verspielt. Ihre Mutter berichtet, dass der Schulbeginn ebenfalls ohne<br />

sichtbare Probleme verlaufen sei. Claudia schien damals gerne zur Schule zu gehen.<br />

Auch die ersten Schulmonate vermittelten Claudias Mutter den Eindruck,<br />

dass alles problemlos laufen würde. Genauere Angaben konnte sie nicht machen.<br />

Das am 4.7.01 – am Ende des ersten Schuljahres –, erstellte Zeugnis zeigt folgendes<br />

Bild: Unter dem Stichwort „Hinweise zum Arbeits- und Sozialverhalten“<br />

wird von „anfänglichen Schwierigkeiten“ gesprochen, welche aber allmählich überwunden<br />

worden seien. Der Zeugnisbericht benennt diese Schwierigkeiten<br />

nicht. Auf der positiven Seite wird festgehalten, dass Claudia freundlich gewesen<br />

und mit ihren Klassenkameraden gut ausgekommen sei. Ferner soll sie in allen<br />

Unterrichtsfächern bemüht gewesen sein mitzumachen. Ihre Hausaufgaben seien<br />

stets vollständig gewesen. Gleichzeitig wird kritisch festgehalten, dass Claudia<br />

etwas zurückhaltend gewesen sei und dass sie künftig mutiger sein könnte.<br />

Die Aussagen zu Claudias „Lernentwicklung und Leistungsstand“ halten Folgendes<br />

fest: Claudia würde „die meisten Buchstaben“ kennen. Sie könne auch „geübte<br />

Texte“ lesen und in Druckschrift verfasste Wörter und Sätze „fast fehlerfrei<br />

abschreiben“. Das Aufschreiben von Wörtern aus dem Gedächtnis bereite ihr einige<br />

Schwierigkeiten, da sie manchmal die Buchstaben „verwechsele“.<br />

Zur Mathematik findet man folgende Einschätzung: „Im Rechnen bist du sicherer<br />

geworden. So kannst du jetzt viele Plus- und Minusaufgaben im Zahlenraum bis<br />

20 richtig ausrechnen. Sowohl im mündlichen als auch im schriftlichen Bereich<br />

arbeitest du gewissenhaft mit. Insgesamt brauchst du beim Rechnen aber etwas<br />

mehr Zeit“.<br />

Hinter den wohlwollenden Formulierungen des Berichtes lassen sich aber doch<br />

einige Schwierigkeiten vermuten. Diese werden aber leider nirgendwo genau<br />

festgehalten und keine Aussage benennt gravierende Probleme. Claudias Eltern<br />

hatten zu diesem Zeitpunkt also keine Anhaltspunkte für die Vermutung, dass<br />

ihre Tochter mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert wäre.<br />

81


82<br />

Mircea Radu<br />

Die Situation änderte sich erst während der zweiten Klasse. Mitte Oktober 2001<br />

wird den Eltern ein etwas umfangreicherer Bericht zugeschickt. Darin findet man<br />

zum ersten Mal etwas deutlichere Worte, welche einige erhebliche Probleme benennen.<br />

Die größten Probleme werden im Bereich Rechtschreiben und Rechnen<br />

gesehen.<br />

So heißt es zur Rechtschreibung: „Es treten Buchstabenverwechslungen, Auslassungen,<br />

unvollständige Wortfragmente sowie falsche Laut-Buchstabenzuordungen<br />

auf. Dabei hat sie Mühe, Regeln anzuwenden. Kurze, altersgemäße Druckschrifttexte<br />

in Schreibschrift zu übertragen, gelingt ihr teilweise. Beim Aufschreiben<br />

von bekannten, geübten Texten nach Diktat unterlaufen ihr noch viele Fehler.“<br />

Zur Mathematik wird Folgendes festgehalten: „Beim Zerlegen der Zahlen in Zehner<br />

und Einer so wie beim Lesen der Zahlen ist sie noch nicht sicher. Beim Subtrahieren<br />

von Zehner- und Einerzahlen hat sie ohne Anschauungshilfen noch<br />

Schwierigkeiten. Zweistellige Zahlen addiert sie noch fehlerhaft. Insgesamt<br />

braucht sie zum Rechnen einer Aufgabe viel Zeit, Anschauungsmaterial bzw. Hilfe.“<br />

Obwohl Claudias Mutter bemüht ist, ihrer Tochter zu helfen, werden kaum nennenswerte<br />

Fortschritte sichtbar. Die Lehrerin sieht eine große Diskrepanz zwischen<br />

Claudias Leistungen und dem ihrer Meinung nach für Kinder ihres Alters<br />

normalen Leistungsniveau. Sie empfiehlt deshalb eine Versetzung der Schülerin<br />

auf eine Sonderschule.<br />

Anfang Dezember 2001 findet eine Überprüfung von Claudia durch einen Kinderarzt<br />

statt. Der von dem Arzt angefertigte Bericht enthält eine in zehn Zeilen verfasste<br />

Diagnose. Es wird von „deutlichen Hinweisen auf Schwächen in der Raumlage,<br />

Wahrnehmung und der Formkonstanzbeachtung“ und von weiteren „sensomotorischen<br />

Problemen“ gesprochen. Genauere Angaben hierzu sucht man in<br />

diesem Bericht vergebens.<br />

Darüber hinaus werden Claudias schwache Leistungen im Bereich Lesen und<br />

Rechtschreiben durch verschiedene Tests bestätigt (z. B. durch den „Züricher<br />

Lesetest“). Diese werden aber auf ihre „Wahrnehmungsfehler“ zurückgeführt.<br />

Abschließend wird festgehalten, dass es sich in Claudias Fall „wahrscheinlich um<br />

eine Lese-Rechtschreib-Störung“, um eine „Aufmerksamkeits-Defizit-Störung“<br />

und um „sensomotorisch-perzeptive“ Probleme handele. Es wird ein Anspruch auf<br />

Maßnahmen nach §35a SGB VIII (siehe Glossar KJGH) festgestellt. Empfohlen<br />

werden Ergotherapie, eine „lerntherapeutische Behandlung“ und schließlich eine<br />

Behandlung mit den umstrittenen Stimulanzien Ritalin und Medikinet. 2 Zur Mathematik<br />

gibt es keine Angaben.<br />

Mitte Januar 2002 wird von der Schule ein Antrag auf Feststellung des sonderpädagogischen<br />

Förderbedarfs gestellt. Claudias Mutter ist von diesem Beschluss<br />

2 Zu verschiedenen Standpunkten hierzu vgl. z. B. http://www.ads-infopool.de/ads.htm und http://<br />

www.forum-bioethik.de/Ritalin.html. Es ist interessant hervorzuheben, dass Claudia bereits während der<br />

ärztlichen Untersuchung, also bevor ein endgültiger Befund feststand, solche Mittel verabreicht wurden. In<br />

der fachärztlichen Stellungnahme liest man Folgendes: „Hinzu kommt eine Aufmerksamkeit-Defizit-Störung;<br />

so zeigte ein Versuch mit Stimulanzien positive Wirkung“. Zu der Art und Weise wie dieses „Defizit“ festgestellt<br />

wurde, gibt es keine Angaben. Es ist durchaus möglich, diesen Satz auch dahingehend zu interpretieren,<br />

dass die angeblich positive Wirkung der „Stimulanzien“ als Begründung für das Vorhandensein der ADS<br />

verwendet wird. Die Ungenauigkeit dieser fachärztlichen Stellungnahme ist kaum zu überbieten.


Rechen- und Rechtschreibschwäche als personengebundene Anfälligkeit<br />

beunruhigt. Obwohl sie sich um fünf Kinder kümmern muss – Claudia hat noch<br />

jüngere Geschwister –, versucht sie, ihrer Tochter beim Lernen zu helfen und<br />

sucht gleichzeitig nach einer Alternative zur Sonderschule. Zufällig erfährt sie<br />

von der Existenz der Laborschule und beschließt sofort, Claudia noch während<br />

des zweiten Schuljahres umzumelden. Dies gelingt und Claudia wird im Februar<br />

2002 an der Laborschule aufgenommen.<br />

Ihre neue Lehrerin kann zwar die schwachen Leistungen im Bereich Lesen,<br />

Rechtschreiben und Mathematik bestätigen, doch sieht sie keine Anzeichen von<br />

schwerwiegenden Problemen, welche eine Versetzung auf eine Sonderschule erforderlich<br />

machen würden. Sie stellt allerdings fest, dass Claudia mittlerweile ein<br />

unsicheres, verängstigtes Kind ist, welches eine besondere Aufmerksamkeit<br />

braucht. Die Behandlung mit Stimulanzien wird abgebrochen. 3 Die unmittelbar<br />

nach der ärztlichen Beratung begonnene Ergotherapie wird jedoch fortgeführt.<br />

Kurz danach wurde Claudia in unser Förderprogramm aufgenommen.<br />

Die Förderung<br />

Eine erste mathematikdidaktische Überprüfung verdeutlicht, dass Claudia den<br />

Zahlenraum bis Hundert gut kennt. Sie kann vor- und rückwärts zählen, sie kann<br />

auch den Vorgänger und Nachfolger einer Zahl korrekt benennen. Sie ist ebenfalls<br />

fähig, zweistellige Zahlen richtig und von links nach rechts zu schreiben.<br />

Zahlendreher treten nur vereinzelt auf. Ihr gelingt es auch, die additiven Zahlzerlegungen<br />

der Zahl 10 mit und ohne Anschauungsmaterial zu benennen. Allerdings<br />

kennt sie diese nicht auswendig und ermittelt sie in der Regel zählend. Unter<br />

diesen Umständen überrascht es nicht, dass Claudia die Zahlzerlegungen fast<br />

nie als Hilfsmittel für die Lösung von gegebenen Rechenaufgaben verwendet. Die<br />

Rechengeschichte: „Du hast 3 Murmeln. Wie viele Murmeln muss ich dir schenken,<br />

damit du 10 Murmeln hast?“ kann auf die Zahlzerlegung 10 = 7 + 3, welche<br />

Claudia vertraut ist, zurückgeführt werden. Claudia jedoch löst diese Aufgabe<br />

indem sie laut „4, 5, 6, 7, 8, 9, 10“ zählt und dabei für jede Zahl einen Finger<br />

nach oben fährt. Anschließend schaut sie sich die Finger an und erkennt auf einen<br />

Blick die dargestellte Zahl. In diesem Fall handelte es sich um die Zahl 7.<br />

Auch die additiven Zahlzerlegungen der Zahl 20 meistert sie fast fehlerfrei, allerdings<br />

benutzt sie hier ebenfalls zählende Strategien und benötigt mehr Zeit. Analogien<br />

erkennt und verwendet sie nur teilweise (z. B. 3 + 7 = 10, also ist 30 + 70<br />

= 100). Das geschieht nur sporadisch und nur in bestimmten Fällen. 4<br />

Claudia kann gut mit dem Rechenrahmen umgehen. Vor allem kann sie die<br />

Struktur des Materials benutzen, um eine am Rechenrahmen dargestellte Zahl<br />

leicht zu erkennen (quasi-simultane Zahlauffassung). Ihr Operationsverständnis<br />

demonstriert sie durch Bilder – zur Aufgabe 3 × 2 malt sie 2 Geschenke, 2 Bonbons<br />

und 2 Äpfel – und durch Rechengeschichten – zur Aufgabe 3 + 2 erklärt sie:<br />

„Ich nehme 3 Äpfel und meine Freundin schenkt mir noch 2, dann habe ich 5 Äpfel“.<br />

3 Die Entscheidung dazu wurde von Claudias Familie getroffen nach einer Absprache mit Claudias neuen Lehrerin.<br />

4 Die erste Überprüfung zeigte, dass Claudia keine Schwierigkeiten hat, sich eine vierstellige ‚Telefonnummer‘<br />

zu merken und über längere Zeit im Gedächtnis zu behalten. Das zeigt, dass Claudias Schwierigkeiten sich<br />

die Zahlzerlegungen zu merken, nicht ohne weiteres auf ein schwaches Gedächtnis zurückführbar sind.<br />

83


84<br />

Mircea Radu<br />

Es werden vor allem zwei Problemfelder deutlich. Erstens verwendet Claudia fast<br />

ausschließlich zählende Strategien, sowohl bei der Addition als auch bei der Subtraktion<br />

(Weiterzählen oder Zurückzählen). Sogar die Zahlzerlegungen der Zahlen<br />

10 und 20 findet sie auf diesem Weg. Ihre Fähigkeit, solche Zerlegungen zählend<br />

zu finden, ist nicht ‚anschlussfähig‘, sie kann ihr bei der Lösung anderer<br />

Aufgaben in der Regel nicht behilflich sein. Um 18 + 7 mit Hilfe der Zahlzerlegungen<br />

herauszufinden, muss man simultan mit mehreren Zahlzerlegungen operieren.<br />

Beispielsweise kann man die Zerlegungen 18 + 2 = 20 und 2 + 5 = 7 heranziehen.<br />

Diese Zerlegungen sind nicht unabhängig, sondern die erste bedingt die<br />

zweite. Das wird in der folgenden Schreibweise deutlicher: 18 + 7 = 18 + (2 + 5)<br />

= (18 + 2) + 5 = 20 + 5. Wenn man aber wie Claudia von der Strategie des ‚Weiterzählens‘<br />

beherrscht wird und die verschiedenen Zahlzerlegungen im Zahlenraum<br />

bis 10 nicht auswendig kennt, ist es schwierig zu erkennen, dass hier genau<br />

die Zerlegung 7 = 2 + 5 angebracht ist. 5 Claudia löst diese Aufgabe zählend<br />

(„19, 20, 21, 22, 23, 24, 25“) und begleitet dies durch Fingerbewegungen.<br />

Obwohl also Claudia die Zahlzerlegungen auf Nachfrage generieren kann und<br />

obwohl sie Analogien ab und zu nutzt, kann man in ihrem Fall wohl von einem<br />

verfestigten zählenden Rechnen sprechen. Sie braucht deshalb oft längere Zeit,<br />

um das Ergebnis einer Rechenaufgabe herauszufinden. Es führt auch zu häufigen<br />

±1- und ±10-Fehlern, vor allem dann, wenn sie ohne Material rechnet.<br />

Darüber hinaus hat sie Probleme mit der Links-Rechts-Unterscheidung am Gegenüber,<br />

was zu den typischen Symptomen von rechenschwachen Schülern gehört.<br />

Allerdings führt dies in ihrem Fall nicht zu Zahlendrehern oder zu Schwierigkeiten<br />

in der Berücksichtung der Reihenfolge der Zeichen (Zahlzeichen und<br />

5 Vgl. auch Moog/Schulz 1999, S. 7


Rechen- und Rechtschreibschwäche als personengebundene Anfälligkeit<br />

Operationszeichen) in gegebenen Aufgaben. Es wurde hierzu keine besondere<br />

Förderung durchgeführt.<br />

Wichtiger aber als diese inhaltlichen Schwierigkeiten ist Claudias generelle Verunsicherung.<br />

Die erste Förderstunde begann mit Tränen. Claudia hatte sich bereit<br />

erklärt, an einer Förderung teilzunehmen. Als ich jedoch auftauchte und ihr als<br />

künftiger Förderlehrer vorgestellt wurde, fing sie an zu weinen. Es gelang ihrer<br />

Lehrerin schließlich, sie zu besänftigen, und wir vereinbarten, dass die Förderung<br />

sofort abgebrochen werden würde, sobald sie dieses wünschen würde. Das<br />

schien sie einigermaßen zu beruhigen und die Arbeit konnte aufgenommen werden.<br />

Sie erhielt durchschnittlich zwei Mal wöchentlich je eine halbe Stunde Einzelförderung.<br />

Die Förderung fand in unmittelbarer Nähe ihrer Gruppe statt, jedoch etwas<br />

abgesondert, so dass wir uns ungehindert unterhalten konnten, ohne dadurch<br />

die anderen MitschülerInnen zu stören und ohne von ihnen gestört zu werden.<br />

Die Arbeit verlief jedoch mühsam. Der Hauptgrund lag darin, dass trotz<br />

wiederholter Erklärungen und trotz meiner behutsamen Umgangsweise Claudia<br />

wiederholt eine Verhinderungsstrategie anwendete. So versuchte sie oft, die Arbeit<br />

zu verzögern, indem sie verschiedene für die Förderarbeit belanglose Geschichten<br />

erzählte. Einige Male erklärte sie, sie würde sich am liebsten mit anderen<br />

Sachen weiter beschäftigen (in der Regel malen, lesen oder schreiben).<br />

Eine andere Verhinderungsstrategie bestand darin, immer wieder die von mir<br />

geplanten Übungen abzulehnen. Manchmal sagte sie, dass sie eigentlich in ihrem<br />

Rechenbuch weiter rechnen wolle. Zuweilen willigte ich ein, es stellte sich jedoch<br />

oft heraus, dass sie in ihrem Rechenbuch selektiv arbeitete und ihr schwierig erscheinende<br />

Aufgaben – vor allem solche, die zahlenstrahlartige Darstellungen<br />

enthielten – ablehnte.<br />

Nachdem wir etwas länger zusammen gearbeitet hatten und sie mittlerweile bestimmte<br />

Aufgabenformate kannte, kam es auch vor, dass sie nur diese ihr nun<br />

bekannten Aufgabentypen lösen wollte. Manchmal aber lehnte sie es sogar ab,<br />

die ihr vertrauten Zahlzerlegungsübungen zu bearbeiten, so dass in dieser Situation<br />

eine Weiterarbeit zwecks Verinnerlichung an diesen Aufgaben unmöglich<br />

wurde. Viel Zeit ging mit Verhandlungen verloren und es war unter diesen Umständen<br />

kaum möglich, systematisch zu arbeiten.<br />

Claudia wirkte auf mich sehr verunsichert, bemüht, ihr Gesicht zu wahren, bemüht,<br />

weitere unangenehme Erfahrungen zu vermeiden, tapfer sich wehrend gegen<br />

eine ihr fremd erscheinende Schulwelt, deren Sinn sie nicht erfassen konnte<br />

und von welcher sie als unfähig abgestempelt wurde. Das zeigte sich z. B. an<br />

ihrer Reaktion auf die Frage „Wie hast du gerechnet?“. Sie sperrte sich jedesmal<br />

gegen diese Frage. Egal ob die Aufgabe einfach oder schwer war, egal ob sie sie<br />

richtig oder falsch gelöst hatte, wehrte sie sich lange Zeit dagegen ihre, Rechenwege<br />

zu beschreiben.<br />

Angesichts dieser ‚Blockade‘-Haltung wurde Claudia wiederholt gefragt, ob sie<br />

bereit wäre, weiter zu machen und ob ihr die Arbeit vielleicht doch etwas Spaß<br />

machen würde. Sie erklärte jedesmal, dass sie unbedingt weiter arbeiten wolle.<br />

Sie behauptete auch, die Arbeit meistens interessant zu finden. Wenn ab und zu<br />

wegen Überschneidungen von Terminen eine Förderstunde ausgesetzt werden<br />

musste, beschwerte sie sich. Nach den ersten drei Förderstunden verwandelte sie<br />

ihre ursprüngliche ‚Blockade‘-Haltung in ein Verhandlungsspiel: Zu Beginn jeder<br />

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86<br />

Mircea Radu<br />

Stunde versuchte sie, die Inhalte und Aufgabenformate der Förderstunde zu bestimmen<br />

oder zumindest zu beeinflussen.<br />

Nach zwei Monaten, als wir uns doch etwas aneinander gewöhnt hatten, gab es<br />

auch Situationen, in denen sie einwilligte, ihr schwierig erscheinende Aufgaben<br />

zu lösen. Jedoch versuchte sie, diese Aufgaben nicht immer rational zu bewältigen,<br />

sondern oft durch ein willkürliches Ratespiel.<br />

Die meisten dieser genannten Problemfelder tauchten bereits während der ersten<br />

Förderstunden auf. Angesichts dessen versuchte ich, folgende Strategie anzuwenden.<br />

Zum einem sollte die von unserem Projekt vertretene Förderkonzeption<br />

so weit wie möglich eingesetzt werden. In Ihrem Fall bestand das vor allem in<br />

Folgendem: Übungen für eine Verinnerlichung der Zahlzerlegungen im Zahlbereich<br />

Null-Zwanzig; Übungen zur systematischen Anwendung dieser Zerlegungen<br />

bei der Lösung von anderen Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum<br />

bis Hundert. Hierbei ging es auch um die Entwicklung von effektiven Rechenstrategien,<br />

die die dezimale Struktur des Zahlenraums vorteilhaft nutzen. Als Grundlage<br />

dafür sollten vor allem der Rechenrahmen, das Hunderterfeld und die Hundertertafel<br />

dienen. 6 Ein weiterer Aspekt der Förderung bestand darin, während<br />

der letzten Förderstunden im zweiten Schuljahr eine systematische Einführung in<br />

die Multiplikation zu geben.<br />

Zum anderen aber sollte dieses behutsam angegangen werden, denn angesichts<br />

von Claudias Verunsicherung war es ein zentrales Ziel der Förderung, ihr Selbstbewusstsein<br />

zu stärken. Um das zu gewährleisten, sollten überwiegend Aufgaben<br />

und Aufgabenformate verwendet werden, die ihr vertraut waren und mit denen<br />

sie gut umgehen konnte. Es sollten nur dann ungewohnte Aufgaben gelöst werden,<br />

wenn sie diese interessant finden würde.<br />

Im Ergebnis konnten die inhaltlichen Ziele nur teilweise und mit vielen Unterbrechungen<br />

verfolgt werden. Das führte unter anderem dazu, dass es Claudia nicht<br />

gelang, die Zahlzerlegungen hinreichend und ohne Zuhilfenahme des Weiterzählens<br />

zu verinnerlichen. Sie lernte zwar die Funktion dieser Zerlegungen sowie alle<br />

additiven Zahlzerlegungen einer Zahl im Zahlbereich bis 20 systematisch zu erzeugen.<br />

Sie schaffte es jedoch nicht, diese auswendig zu lernen. Auch verwendete<br />

sie weiterhin zählende Strategien, um die Zerlegungen zu generieren. Ein<br />

Grund für die Beharrlichkeit dieser Rechenstrategien war vielleicht auch die Tatsache,<br />

die sich erst später heraus stellte, dass sie immer wieder mit ihrer Mutter<br />

zusammen übte, die zählendes Rechnen als unproblematisch ansah. 7<br />

6 Vgl. dazu auch Schipper 2002 und Lorenz/Radatz 1993<br />

7 Hier tritt ein nicht unübliches Problem der Förderarbeit in Erscheinung: Der Konflikt zwischen gegensätzlichen<br />

Rechenstrategien. Claudias Mutter betrachtet ‚Weiterzählen‘ und ‚Zurückzählen‘ als unproblematisch,<br />

solange diese Strategien zum erwünschten Ergebnis führen. Ihre Haltung dazu wurde nicht von Anfang an<br />

deutlich. Es kam fast zufällig heraus, als sie in einem Gespräch spontan Claudias Rechenweg zu der Aufgabe<br />

28 + 14 schilderte. Aus Sicht der Förderung sollen gerade solche Rechenstrategien überwunden werden und<br />

durch allgemeinere ersetzt werden. Es ist aber nicht immer leicht, den Eltern zu verdeutlichen, warum bestimmte<br />

Rechenstrategien, welche sowohl ihre Kinder als auch sie selbst leicht anwenden können, ungünstig<br />

sind. Vor allem dann, wenn ein Kind sogar für die Zahlzerlegungen der Zahlen im Bereich bis Zehn Material<br />

braucht, scheinen ‚Weiterzählen‘ und ‚Zurückzählen‘ einfache und natürliche Wege mit den Rechenaufgaben<br />

fertig zu werden. Es ist deshalb nicht immer einfach, die Eltern davon zu überzeugen, diese Rechenstrategien<br />

nicht weiter zu unterstützen. Die alternativen Rechentechniken, welche zu einer Ablösung vom verfestigten<br />

zählenden Rechnen führen können, sind aufwändiger und erfordern eine didaktische Kompetenz, welche<br />

die Eltern in der Regel nicht haben. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie sich diese<br />

leicht aneignen könnten. In Claudias Fall vereinbarten wir, dass die Rechenarbeit vollständig der Förderung<br />

überlassen werden soll.


Rechen- und Rechtschreibschwäche als personengebundene Anfälligkeit<br />

Claudia lernte allmählich, Analogieaufgaben zu verwenden, was sie mit zunehmendem<br />

Erfolg tat. Obwohl die von ihr ausgesuchten Analogieaufgaben korrekt<br />

waren, blieb das Problem jedoch, dass sie die einfachen Einspluseins-Aufgaben<br />

nicht genügend verinnerlicht hatte bzw. immer wieder zählend rechnen musste.<br />

So scheiterte sie noch am Anfang der dritten Klasse an Aufgaben wie 25 + 75 =<br />

?, weil sie 20 + 70 auf 2 + 7 zurückführte, dann aber das Ergebnis der letzten<br />

Aufgabe durch Raten als 8 angab (siehe oben). Spontan versuchte sie weiterhin,<br />

diesen Fehler durch zählendes Rechnen zu beheben.<br />

Allerdings zeigte die Überprüfung im Herbst 2002, dass sie auch andere Rechenstrategien<br />

benutzen konnte, jedoch nur unter Verwendung von Material. Bei der<br />

Überprüfung am Anfang der dritten Klasse rechnete sie z. B. 37 + 9 wohl mental<br />

wie folgt: (37 + 3) + 6. Diese Rechenstrategie wendete sie aber erst nach meinem<br />

ausdrücklichen Hinweis an, um das Zählen zu vermeiden. Das wiederum<br />

funktionierte nur, solange der Rechenrahmen für sie in Sichtweite war. (Sie<br />

brauchte ihn nicht zu berühren, es reichte, wenn sie sich den Rahmen anschaute,<br />

um daran die Zerlegungen mit den Augen festzuhalten).<br />

Obgleich sie im rechnerischen Bereich nur langsam Fortschritte machte, gab es<br />

andere durchaus wichtige Erfolge. Zum einem gewann sie etwas Mut. Nach den<br />

ersten zwei Monaten der Förderung überraschte sie ihre Lehrerin, indem sie öfter<br />

von sich aus fragte, ob sie nicht rechnen könne, was am Anfang nicht der Fall<br />

gewesen war. Manchmal überraschte sie auch mich, indem sie ab und zu kreative<br />

Strategien vorschlug (siehe unten) oder indem sie, gegen Ende des zweiten<br />

Schuljahres, aufhörte, ständig zu fragen, ob die halbe Stunde nicht bereits vorbei<br />

sei. Sie hatte es ganz im Gegenteil mit der Zeit geschafft, Ausdauer zu entwickeln.<br />

Es kam auch vor, dass sie mich über eine Stunde festhielt und immer<br />

mehr Übungen forderte. Meines Erachtens ist dies auch ein wichtiger Hinweis<br />

darauf, dass Claudia nach und nach ein Gefühl der Beherrschung von bestimmten<br />

mathematischen Aufgaben entwickelte, welches sie dann für sich selbst bestätigt<br />

wissen wollte. Als wir während der letzten Förderstunden eines Computer-<br />

Lernprogramms einige Aufgaben zur Multiplikation lösen wollten, arbeitete sie<br />

mit Begeisterung, eifrig und sehr konzentriert. Die meisten Aufgaben konnte sie<br />

korrekt lösen. Als ich ihr ab und zu einiges zur Bedienung des Computerprogramms<br />

erklären wollte, schubste sie mich zur Seite und sagte mit Nachdruck:<br />

„Ich mach das schon selbst!“<br />

Ein Beispiel: Die Hälfte von 76.<br />

Eine Klasse von Aufgaben, die Kindern mit Rechnschwäche dabei helfen können,<br />

den Zahlenraum operativ zu strukturieren, sind das Verdoppeln und das Halbieren<br />

einer Zahl. 8 Um Claudias Verständnis des Halbierens zu fördern, habe ich ihr<br />

während einer Förderstunde folgende Aufgabe vorgeschlagen. Sie erhielt eine<br />

große Menge kleiner Holzwürfel (es waren 76). Ich forderte sie auf, die Hälfte<br />

dieser Menge herauszufinden. Erst zählte sie die Würfel, dieses jedoch half ihr<br />

nicht weiter, da sie keinen Weg sah, die Hälfte rechnerisch zu bestimmen. Sie<br />

schlug vor, dieses durch Schätzen zu tun. Ich lobte ihre Idee, beharrte aber darauf,<br />

dass sie einen Weg suchen sollte, die Aufgabe genau zu lösen.<br />

8 Es muss hervorgehoben werden, dass es mir dabei nicht um ein bloß mechanisches ‚deklaratives‘ Wissen von<br />

arithmetischen Fakten geht. Vielmehr geht es hier um die Entwicklung von Verdopplungs- und Halbierungsschemata,<br />

welche die Handlungsebene mit der bildhaften Darstellungsebene und der symbolischen rechnerischen<br />

Ebene verbindet.<br />

87


88<br />

Mircea Radu<br />

Ihr erster Vorschlag hierzu überraschte mich. Sie nahm je zwei Würfel und bildete<br />

Paare, die sie über den Tisch verteilte. Ich fragte sie, wo die Hälfte zu sehen<br />

sei und ob sie die passende Zahl nennen könne. Als sie mir ihre Lösung nicht genauer<br />

erläutern konnte, schlug ich ihr vor, eine andere Lösung zu suchen. Nach<br />

einer Weile fand sie den folgenden Weg. Sie bildete lauter Viererketten, welche<br />

sie nebeneinander stellte. Mit der Viererkette als Maßeinheit bildete sie zwei identische<br />

4 x 9-Rechtecke. Dann verteilte sie die übrig gebliebenen Würfel und<br />

konnte durch schrittweises Zählen (4, 8, 12 usw.), die passende Zahl dazu nennen.<br />

Auf meine Anregung eine weitere Lösung zu finden, antwortete sie, sie könne<br />

eine Pyramide bauen. Sie legte dann das folgende Muster: 9<br />

Sie konnte die Symmetrie des Musters benutzen, um die Aufgabe zu lösen. Diese<br />

schöne geometrische Lösung überraschte mich. Da es die erste während der Förderung<br />

gestellte Aufgabe dieser Art war, gehe ich davon aus, dass Claudia ihre<br />

Lösungsansätze spontan entwickelt hat. Was bei der letzten Lösung vor allem<br />

verblüfft, ist ihre Aussage: „Ich könnte eine Pyramide bauen.“ Diese ist ein deutlicher<br />

Hinweis dafür, dass diese letzte Lösung von einer gezielten, mental erzeugten<br />

Strategie ausging. 10 Für ein „legasthenisches, rechenschwaches, von<br />

ADS geplagtes Kind, welches auch noch mit erheblichen Wahrnehmungsproblemen<br />

zu kämpfen hat,“ ist das keine so schlechte Lösung. Rückblickend lässt sich<br />

sogar ihre erste Lösung, die darin bestand, die Menge der Würfel in Paare zu teilen,<br />

vielleicht doch als sinnvoll betrachten. Diese Zerlegung realisiert eine Strukturierung<br />

der Menge, die eine Halbierung beinhaltet: Die Anzahl der gebildeten<br />

Paare ist dann die Hälfte. Der einzige Nachteil dieser Lösung besteht darin, dass<br />

durch die willkürliche Verteilung dieser Paare auf dem Tisch deren Anzahl nur<br />

zählend ermittelt werden kann.<br />

Weitere Herausforderungen<br />

Die am Ende des zweiten Schuljahres von der Laborschule erstellte Beurteilung<br />

betont Claudias große Fortschritte bezüglich ihres Selbstbewusstseins, ihrer Fähigkeit<br />

selbstständig zu arbeiten und ihrer Bereitschaft, neue Aufgaben in Angriff<br />

zu nehmen. Hinsichtlich der Mathematik wird unter anderem hervorgehoben:<br />

9 Was mir vorschwebte, war die banale Lösung, die Würfel nach der Regel „Einer dir, einer mir“ zu verteilen.<br />

10 Claudia baute ihre Pyramide nach und nach von links nach rechts. Zuerst legte sie den Würfel am linken<br />

Unterrand. Dann legte sie die folgenden zwei und erzeugte so die erste ‚Stufe‘ ihrer Konstruktion usw. Sie<br />

baute so schrittweise immer höhere Stufen, bis sie einschätzte, ungefähr die Hälfte der Würfel benutzt zu<br />

haben. Danach begann sie die Stufen Schritt für Schritt zu verkleinern. Am Ende blieben ihr 4 Würfeln übrig,<br />

welche sie an die Spitze der Konstruktion stellte.


Rechen- und Rechtschreibschwäche als personengebundene Anfälligkeit<br />

„Ergänzungsaufgaben und Analogiebildungen verstehst Du, wenn wir sie dir erklären.<br />

Du vergisst sie, wenn Du sie am nächsten Tag wieder anwenden sollst.“<br />

Obwohl Claudia bis zum Jahresende viel gerechnet hatte, konnte zu diesem Zeitpunkt<br />

noch nicht von einem Durchbruch bezüglich der Beseitigung des zählenden<br />

Rechnens und der systematischen Entwicklung von zuverlässigen mentalen Rechenstrategien<br />

für den Umgang mit den Rechenaufgaben im Zahlenraum bis 100<br />

gesprochen werden. Was allerdings erreicht werden konnte, ist eine bedeutende<br />

Milderung ihrer Angst vor der Mathematik. Sie war nun zunehmend bereit, sich<br />

auf unbekannte oder ihr zunächst schwierig erscheinende Aufgaben einzulassen,<br />

sich mit diesen dann konzentriert und mit Ausdauer zu beschäftigen. Schließlich<br />

schaffte sie es, ihre ‚Phobie‘ gegenüber der Frage „Wie hast du gerechnet?“ zu<br />

überwinden. Sie lernte diese als eine normale Aufgabe in ihre Arbeit zu integrieren<br />

und oft – wenn auch nicht immer – klar zu beantworten.<br />

Am Ende des zweiten Schuljahres wurde sie in die nächste Stufe versetzt. Die zu<br />

Anfang des dritten Schuljahres durchgeführte Überprüfung, von der ein Teil zu<br />

Beginn dieses Aufsatzes wiedergegeben wurde, suggerierte in einigen Punkten –<br />

wie z. B. in der Behandlung der „Wie hast du gerechnet“ – Frage – einen Rückfall<br />

in die vor der Förderung üblichen Arbeitsmuster. Die unmittelbar darauf folgenden<br />

Förderstunden verdeutlichten jedoch, dass diese Befürchtung unbegründet<br />

war. Claudia zeigte jedesmal große Bereitschaft mitzuarbeiten, sie versuchte kein<br />

einziges Mal, Verhinderungsstrategien anzuwenden und konnte konzentriert<br />

sechzig Minuten lang arbeiten. Obwohl zählende Strategien für sie immer noch<br />

am sichersten erschienen, gelang es ihr aber zunehmend, wenn sie darauf hingewiesen<br />

wurde, auch andere Rechenstrategien anzuwenden (z. B. durch Zuhilfenahme<br />

von Verdopplung – so würde 5 + 9 als 5 + 5 + 4 gelöst – oder durch<br />

Zählen in Schritten). Claudia entwickelte zudem ein gutes Verständnis der Multiplikation.<br />

Man könnte sogar sagen, dass es ihr leichter fiel, Multiplikationsaufgaben<br />

zu lösen als Additions- und Subtraktionsaufgaben. Bei der Multiplikation fiel<br />

vor allem positiv auf, dass sie keine Schwierigkeiten hatte, einen Übergang zwischen<br />

einer Rechenaufgabe, einer entsprechenden Rechengeschichte und einer<br />

ikonischen Darstellung durch passende schachbrettartige Muster zu vollziehen.<br />

Claudia gelang es auch regelmäßig, ihr unbekannte Multiplikationsaufgaben auf<br />

bekannte Aufgaben zurückzuführen (z. B. 3 x 12 auf 3 x 10 + 6).<br />

Fazit<br />

Claudias Fall steht in exemplarischer Weise für eine Reihe von Kindern, welche<br />

Schwierigkeiten in ihrer schulischen Entwicklung aufweisen. Ein solches Kind<br />

zeigt sich vor allem in Deutsch und Mathematik als leistungsschwächer als andere:<br />

es lernt langsamer und es macht wesentlich mehr Fehler als seine Klassenkameraden.<br />

Die Lehrerin versucht über einen längeren Zeitraum, dem Kind zu<br />

helfen, doch kann sie keinen nennenswerten Fortschritt erkennen. Der Abstand<br />

zu den anderen Schülern nimmt zu und die alten Fehler erweisen sich als äußerst<br />

beständig. Offenbar gibt es irgendwo ein Problem, aber wo? Wo liegen die Ursachen<br />

solcher Schwierigkeiten?<br />

Im Umgang mit dieser Frage spielen die Zuschreibungsstrategien eine wesentliche<br />

Rolle. Da in einem solchen Fall offenbar die große Mehrheit der Klassenkameraden<br />

keine vergleichbaren Schwierigkeiten hat, erscheint es naheliegend, die<br />

Schwierigkeiten auf Ursachen zurückzuführen, welche nicht unmittelbar mit der<br />

Schule in Zusammenhang stehen. Es erscheint dann denkbar, dass die Ursachen<br />

89


90<br />

Mircea Radu<br />

entweder beim Kind selbst liegen (Gesundheitsprobleme, unterdurchschnittliche<br />

Intelligenz, Wahrnehmungsstörungen, ADS usw.) oder aber in seinem sozialen<br />

Umfeld (vor allem Familie oder weitere soziale Umgebung). 11 Aus der Sicht der<br />

Lehrerin gibt es unter solchen Umständen kaum Gründe zu der Annahme, dass<br />

die festgestellten Schwierigkeiten doch auf die methodisch-didaktische Herangehensweise<br />

zurückgeführt werden könnten. Die Schwierigkeiten können genauso<br />

gut bedeuten, dass z. B. die verwendete Methode für dieses eine Kind ungünstig<br />

war und dass man deshalb alternative Wege suchen sollte. Sie können sogar ein<br />

Hinweis dafür sein, dass die verwendete Methode allgemeine Probleme in sich<br />

trägt, welche zunächst bei den anderen Schülern (noch) nicht sichtbar geworden<br />

sind. Wenn aber von vornherein die Schwierigkeiten nicht auf dieser Ebene gesucht<br />

werden, liegt es auf der Hand anzunehmen, dass auch die erforderliche<br />

Förderarbeit aus dem regulären Unterricht und sogar aus der Schule auszugliedern<br />

ist: was notwendig ist, wird dann z. B. der Entscheidung von KinderärztInnen<br />

oder KinderpsychologInnen überlassen. Wenn die Schwierigkeiten erheblich<br />

sind, dann wird das Kind auf eine Sonderschule geschickt, wo es eine sonderpädagogische<br />

Förderung erhalten kann. Die Ausgliederung der Förderarbeit ausschließlich<br />

in den psychologisch-medizinischen Bereich kann zu einer einseitigen<br />

Förderung führen, welche die mathematikdidaktische Komponente nicht genügend<br />

berücksichtigt. Sicherlich können in bestimmten Fällen solche Maßnahmen<br />

notwendig sein. Sind sie aber auch hinreichend, um die Schulleistungen der Kinder<br />

zu verbessern?<br />

In Claudias Fall haben diese Maßnahmen keineswegs einen solchen Erfolg gebracht.<br />

Die einzigen sichtbaren unmittelbaren Folgen der unternommenen Schritte<br />

waren eine induzierte Schulangst, eine induziertes mangelndes Selbstvertrauen<br />

im Umgang mit den Fächern Deutsch und Mathematik und die bereits geschilderte<br />

Abwehrhaltung, welche einen Fortschritt erheblich erschwert.<br />

Die nach Claudias Übergang zur Laborschule geleistete mathematikdidaktische<br />

Förderarbeit war in zweierlei Hinsicht besonders erfolgreich. Erstens gelang es,<br />

ihre Haltung gegenüber sich selbst in der Auseinandersetzung mit der Mathematik<br />

radikal zu ändern. Wo früher Unsicherheit, Unlust, schwache Konzentrationsfähigkeit<br />

auftraten, findet man heute Neugier, Ausdauer und sogar kreatives<br />

Verhalten. Zweitens war es am Anfang fast unmöglich, eine Diskussion über verschiedene<br />

Lösungswege derselben Aufgabe zu führen. Dieses produktiv zu tun,<br />

wurde jedoch nach einem halben Jahr Förderung möglich. Claudia zeigt zur Zeit<br />

sogar eine gewisse Leichtigkeit darin, verschiedene Lösungswege für eine Reihe<br />

von Aufgaben zu finden. Das einzige besondere, noch bestehende Problem ist der<br />

Rückgriff auf zählende Strategien bei (oft auch einfachen) Additions- und Subtraktionsaufgaben.<br />

Das ist verbunden mit einer Angst vor großen Zahlen. Angesichts<br />

der bereits erwähnten Fortschritte sollte es möglich sein, während dieses<br />

Jahres auch dieses besondere Problem durch systematisches Fördern zu beseitigen.<br />

11 Dass dieser letzte Schluss nicht zwingend ist, haben verschiedene Forschungen längst belegt. Vgl. Brousseau,<br />

Guy, 1997, Theory of Didactical Situations in Mathematics 1970 – 1990, herausgegeben von Nicolas<br />

Balacheff, Dordrecht [u. a.]: Kluwer Academic Publ.


Literatur<br />

Rechen- und Rechtschreibschwäche als personengebundene Anfälligkeit<br />

Lorenz, J. H./Radatz, H.: Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht. Hannover:<br />

Schroedel 1993<br />

Moog, W./Schulz, A.: Zahlen begreifen – Diagnose und Förderung bei Kindern mit Rechenschwäche,<br />

Teil 1. Neuwied: Luchterhand 1999<br />

Schipper, W.: Thesen und Empfehlungen zum schulischen und außerschulischen Umgang<br />

mit Rechenstörungen. In: JDM 23, Heft 3/4 (2002), S. 243–261<br />

91


92<br />

Mircea Radu


<strong>Christine</strong> Huth<br />

„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />

Wenn ich zu John in die Gruppe seines 4. Jahrgangs komme, ruft dies meist einer<br />

der Klassenkameraden. John ist mal mehr, mal weniger erfreut, mich zu sehen.<br />

Mir macht es Spaß, mit ihm zu arbeiten, da er gut mitarbeitet und in der Regel<br />

mir gegenüber offen ist. Sicher, ich brauche auch immer wieder viel Geduld,<br />

denn er macht nur langsam Fortschritte. Ich bemühe mich sehr darum, dass wir<br />

beide nicht den Mut verlieren.<br />

Wenn ich da bin, legt John seinen Stift beiseite und wir setzen uns an einen separaten<br />

Tisch auf der Unterrichtsfläche zwischen die anderen SchülerInnen.<br />

Selbst wenn ich ihn bei einer interessanten Arbeit unterbreche, weiß er, dass er<br />

später daran weiterarbeiten kann. Wir arbeiten mittlerweile ein Jahr zusammen,<br />

jeweils zweimal in der Woche für 30 Minuten.<br />

Zu meiner Person<br />

Ich bin Studentin der Universität <strong>Bielefeld</strong> im Studienbereich Primarstufe mit<br />

Schwerpunkt im Fach Mathematik. Als studentische Hilfskraft arbeite ich bei dem<br />

Forschungs- und Entwicklungsprojekt „‚Ich erklär’ dir, wie ich rechne‘ – Prävention<br />

von Rechenstörungen“ mit und fördere John seit November 2001. Durch die<br />

Veranstaltung „Prävention und Förderung“ von Herrn Prof. Dr. Schipper wurde<br />

mein Interesse an dem Thema ‚Rechenstörungen‘ geweckt.<br />

Da ich John nur während der Förderung erlebe, erkundige ich mich über seinen<br />

familiären Hintergrund, seine sozialen Kontakte und seine schulischen Leistungen<br />

bei den ihn betreuenden Lehrerinnen. Somit ist dieser Teil meines Beitrags, in<br />

dem ich darüber berichte, aus ‚zweiter Hand‘. Zumal es nicht leicht ist, mit John<br />

und seiner Familie in wirklichen Kontakt zu treten. Selbst seine Betreuungslehrerin<br />

sagt dazu: „John ist eines der wenigen Kinder im Laufe meiner Zeit als Lehrerin,<br />

das für mich schwer einzuschätzen und mir fremd geblieben ist.“<br />

Über meine Förderarbeit berichte ich so, wie ich sie erlebt habe.<br />

John – Zwei Sprachen und ein besorgter Vater<br />

Auf meine Frage, wer in seiner Gruppe ein nicht so guter Rechner ist, antwortet<br />

John: „Peter, aber der ist noch tausendmal besser als ich.“<br />

Johns familiärer Hintergrund<br />

John ist in <strong>Bielefeld</strong> geboren und zweisprachig aufgewachsen. Sein Vater lebt seit<br />

40 Jahren in Deutschland. Beide Eltern kommen aus zwei Nachbarländern im<br />

ostasiatischen Raum. Sie sind noch sehr mit der Kultur ihrer Heimat verbunden.<br />

Die Mutter spricht nur mäßig Deutsch. Im Laufe der Schulzeit hat John gelernt,<br />

fließend Deutsch zu sprechen, nur die Aussprache der Zahlen bereitet ihm<br />

manchmal noch Probleme. Häufig unterlaufen ihm Zahlendreher. So löst John die<br />

Aufgabe 30 + 5 richtig, aber nennt als Lösung ‚dreiundfünfzig‘. Nach meinen Informationen<br />

werden in seiner Heimatsprache die Zahlen wie im Englischen aus-<br />

93


94<br />

<strong>Christine</strong> Huth<br />

gesprochen, womit diese Verwirrung erklärt werden könnte.<br />

Johns Schwester besucht den Jahrgang 10 an der Laborschule, sein älterer Bruder<br />

geht auf eine Sonderschule.<br />

Johns Vater ist sehr unglücklich über die mangelnden schulischen Leistungen von<br />

John und ist in Sorge, dass auch sein zweiter Sohn auf eine Sonderschule wechseln<br />

muss. Nach Angaben der Lehrerin übt Johns Vater daher zu Hause viel mit<br />

ihm, jedoch mit Methoden, die eher schaden, als nützen und mit Inhalten, die<br />

John teilweise überfordern. Zum Beispiel lernt John in der Schule die Buchstaben<br />

lautgetreu und ihn verwirren die Buchstabenbezeichnungen des Vaters ,<br />

, usw. Die Betreuungslehrerin beklagt, dass sich die Eltern uneinsichtig<br />

gegenüber ihren Ratschlägen zeigen und ihr kein Vertrauen entgegen bringen.<br />

Seit John auf der Laborschule ist, hat der Vater Bedenken, dass sein Sohn von<br />

den LehrerInnen nicht genug bzw. nicht richtig lernt.<br />

Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern nutzt John nicht die freiwillige Teilnahme<br />

an der Nachmittagsbetreuung der Schule, die an zwei Wochentagen angeboten<br />

wird, sondern wird von seinem Vater abgeholt. Viele Situationen, wie beispielsweise<br />

das häufige Abholen zeigen, wie besorgt die Eltern um John sind. Sie<br />

sind sehr darauf bedacht, dass ihr Sohn nicht Diskriminierungen auf Grund seiner<br />

Hautfarbe ausgesetzt wird.<br />

John trifft sich nachmittags nur selten mit Freunden aus der Gruppe. Er scheint<br />

auch zuhause nur wenige Freunde zu haben, denn nach eigenen Angaben schaut<br />

er in seiner Freizeit viel fern oder spielt am Computer.<br />

Leider versäumt John viele Unterrichtsstunden, weil er häufig krankheitsbedingt<br />

nicht zur Schule kommt. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb er im gesamten<br />

Lernprozess nur langsam Fortschritte macht. Vor einem Jahr kam John häufiger<br />

nicht zur Schule, wenn er verschlafen hatte, da ihm dies sehr unangenehm war.<br />

Dieses Problem konnte die Betreuungslehrerin jedoch mit den Eltern thematisieren<br />

und beheben.<br />

Johns schulischer Werdegang – Schulwechsel und wenig Freunde<br />

Die 1. Klasse besucht er in einer Regelschule, die er aber auf Wunsch der Eltern<br />

hin verlässt. Seine Eltern begründen diesen Schulwechsel damit, dass John unter<br />

den Hänseleien und Diskriminierungen über seine Hautfarbe leidet. Im Gespräch<br />

mit der ehemaligen Klassenlehrerin beschreibt diese John als verschüchtertes<br />

Kind, was teilweise emotionslos reagiert und wenig zum Unterrichtsgespräch beigetragen<br />

hätte. Auch John habe häufig seine MitschülerInnen geärgert und gehänselt.<br />

Nach Angaben dieser Lehrerin hätte er bereits im 1. Schuljahr einige<br />

schulische Probleme gezeigt, hauptsächlich im Lesen und Schreiben.<br />

Seine Kontakte<br />

Ich spreche sowohl mit Johns Lehrerin in Stufe I, als auch mit seiner jetzigen<br />

Betreuungslehrerin über Johns schulischen Leistungen und sozialen Kontakte.<br />

Eigentlich sollte John noch ein weiteres Jahr in der Eingangsstufe bleiben, aber<br />

als er und sein damals bester Freund Kevin hören, dass sie sich trennen sollen,<br />

sind sie sehr unglücklich. Kevin hilft ihm in dieser Zeit, wo er kann. Die Lehrerin<br />

des 2. Jahrgangs entscheidet, John doch in den nächsten Jahrgang weiterzugeben<br />

und spricht die Problematik mit der zukünftigen Lehrerin ab. Zunächst<br />

scheint John durch diese Entscheidung sehr motiviert. Nach dem Wechsel in den<br />

Jahrgang 3 kann John jedoch nicht mit den Leistungen seiner MitschülerInnen


„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />

mithalten und außerdem geht die intensive Freundschaft zu Kevin auseinander.<br />

Nach Angaben der Betreuungslehrerin bemüht sich Kevin noch darum, dass John<br />

Anschluss an die Gruppe findet.<br />

In der nunmehr altershomogenen Gruppe in Haus 2 (ab Jahrgang 3) sind konkrete<br />

soziale Kontakte zu einzelnen Kindern von Johns Seite aus kaum erkennbar. In<br />

der Schule spricht er wenig und wirkt zunächst zurückhaltend. Er ist dennoch<br />

kein Außenseiter, sondern wird integriert. Die vielen Fehlzeiten verhindern allerdings<br />

einen engen und kontinuierlichen Kontakt zu anderen. Seine MitschülerInnen<br />

haben viel Geduld mit ihm und beziehen ihn immer wieder mit ein. Während<br />

der Pause ist John mit den Jungen draußen und sie spielen Fußball, Diabolo oder<br />

Tischtennis. In den Gesprächen mit seinen MitschülerInnen kann er temperamentvoll<br />

sein, besonders wenn es um Inhalte geht, zu denen er aufgrund seines<br />

vermutlich sehr hohen Fernsehkonsums etwas beitragen kann. Im Unterrichtsgespräch<br />

dagegen zeigt er kaum Eigeninitiative. Am Gesprächskreis beteiligt er sich<br />

ebenfalls nur, wenn es um Themen rund um das Fernsehen geht.<br />

Am folgenden Beispiel wird deutlich, dass John MitschülerInnen gegenüber auch<br />

durchaus aggressiv sein kann. In seinem Berichtszeugnis des Jahrgangs 3 wird<br />

erwähnt, dass John manchmal andere Kinder mit Schimpfwörtern ärgert, die auf<br />

ihr Aussehen bezogen sind: „Manchmal gibt es – bei den Jungen und bei den<br />

Mädchen – heftige Beschwerden darüber, dass du dich sehr ungut verhalten<br />

hast. Wir können nicht verstehen, warum du Kinder wegen ihres besonderen<br />

Aussehens mit Schimpfwörtern belegst (‚Fettsack‘, ‚Liliputanerin‘ und so weiter)<br />

[...]“ (aus dem Bericht der Betreuungslehrerin).<br />

In den Gesprächen mit den Lehrerinnen wird deutlich, dass sie sich einig sind,<br />

dass John im Nachhinein ein Jahr länger in Haus 1 (Jahrgang 0-2) hätte bleiben<br />

sollen. Die derzeitige Betreuungslehrerin wird John als Kind mit sonderpädagogischen<br />

Förderbedarf porträtieren (vgl. Glossar) und ihn den Jahrgang 4 wiederholen<br />

lassen.<br />

Sein Arbeitsverhalten<br />

Nach Angaben der Betreuungslehrerin leistet John mehr, wenn er alleine arbeitet,<br />

als wenn ein Mitschüler oder ein Erwachsener neben ihm sitzt. Seine deutliche<br />

Stärke liegt im künstlerischen Bereich, besonders im Aquarellmalen, und im<br />

fehlerlosen Abschreiben von Texten. Im Lesen macht er im letzten Schuljahr erstaunliche<br />

Fortschritte (Zitat der Betreuungslehrerin: „Da ist endlich der Knoten<br />

geplatzt.“). Im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden fällt es ihm schwer, eigene<br />

Geschichten zu formulieren und aufzuschreiben oder in anderer Form frei zu<br />

schreiben. Damit sind seine Leistungen im Lesen und Schreiben nicht der Jahrgangsstufe<br />

entsprechend.<br />

In Johns Gruppe wird Mathematik in den gesamten Unterricht, eine allgemeine<br />

Arbeitszeit, eingebunden. Die Kinder arbeiten individuell und selbstständig an für<br />

sie ausgewählten Arbeitsblättern und Aufgaben. Neue Themen werden in leistungshomogenen<br />

Kleingruppen eingeführt. Durch den individualisierten Unterricht<br />

hat John die Möglichkeit, in einem nicht seinem Alter entsprechenden Übungsheft<br />

zu arbeiten. Teilweise nimmt er die Übungsblätter und Hefte mit nach<br />

Hause, vergisst sie allerdings oft wieder mitzubringen. John ist sich seiner<br />

Schwächen, besonders im Rechnen wohl bewusst und versucht, dies zu kaschieren,<br />

indem er sich am Unterricht wenig beteiligt.<br />

Es gibt Zeiträume, in denen John motiviert ist und aufmerksam zuhört, wenn ich<br />

etwas mit ihm bespreche, aber manchmal hat er keine Lust und lässt sich leicht<br />

95


96<br />

<strong>Christine</strong> Huth<br />

durch andere Reize ablenken. Dies steht im Zusammenhang mit seinem eingeschränkten<br />

Konzentrationsvermögen. Ich beschränke meinen Förderzeitraum auf<br />

30 Minuten, wobei ihm gegen Ende Flüchtigkeitsfehler unterlaufen. Auch im morgendlichen<br />

Gesprächskreis schaltet er häufig nach einiger Zeit ab und folgt nicht<br />

mehr den Beiträgen. Auffällig ist, dass John schon morgens müde zur Schule<br />

kommt und häufig gähnt, was die Betreuungslehrerin auf das häufige und lange<br />

Fernsehen zurückführt.<br />

John kommt nur langsam vorwärts. Seine Lehrerin betont, dass es Momente<br />

gibt, in denen sie denkt, dass John den Unterrichtsinhalt bzw. den Sachverhalt<br />

verstanden und verinnerlicht hat. Er kann sie aber im nächsten Moment auch<br />

schon wieder vergessen haben. „Meist macht er einen Schritt nach vorn, dann<br />

aber auch wieder einen halben bis einen ganzen Schritt zurück“ (Zitat der Betreuungslehrerin).<br />

Nur mit viel Geduld erreicht er Erfolge. Bei häufigem Üben und<br />

Wiederholen zeigt er sich zeitweise gelangweilt, weil seine Motivation abbaut.<br />

Manchmal ist er verunsichert bzw. schaltet ab, sobald ein neuer Inhalt an ihn<br />

herangeführt wird. Wenn John ein Fehler unterläuft, ist er sehr verunsichert, resigniert<br />

und beginnt zu raten, anstatt erneut zu überlegen.<br />

Die Förderung – langsame Lernfortschritte<br />

Erhebung der Lernausgangslage<br />

John wird von seiner Lehrerin für unser Projekt „‚Ich erklär’ dir, wie ich rechne‘ –<br />

Prävention von Rechenstörungen“ angemeldet. In der Erstüberprüfung der Beratungsstelle<br />

für Kinder mit Rechenstörungen des IDM (siehe Glossar) wird geprüft,<br />

ob bei ihm mögliche Symptome für eine Rechenstörung erkennbar sind.<br />

Die Erhebung im Oktober 2001, die per Video aufgezeichnet wird, ergibt folgendes:<br />

Auffällig sind Johns Orientierungsprobleme, die in mehreren Bereichen zum Ausdruck<br />

kommen. Ihm fehlt der Überblick im Zahlenraum, z. B. kann er nicht sicher<br />

rückwärts zählen und nicht Vorgänger und Nachfolger bestimmen. Bis zu diesem<br />

Zeitpunkt rechnet er nur im Zahlenraum bis 100, wobei besonders die Zahlendreher<br />

bei der Nennung der Zahlen auffallen und ihm Probleme bereiten. Die<br />

Zahlen und das Stellenwertsystem über 100 hinaus sind ihm nicht vertraut. Er<br />

notiert die Zahl ‚Hundertfünfundzwanzig‘ als 10025 und die ‚Hunderteins‘ als<br />

1001.<br />

Seine Zahldarstellungen am Rechenrahmen, die Zahlzerlegungen der 10 und die<br />

häufigen +/–1-Fehler, deuten auf zählende Rechenstrategien hin. Während der<br />

Überprüfung nutzt er, sowohl bei der Addition als auch bei der Subtraktion, keine<br />

operativen bzw. heuristischen Strategien (vgl. Beitrag von Schipper in diesem<br />

Heft, S. 25). Zum Beispiel löst John die Aufgabe 6 + 6 durch weiterzählen und<br />

nennt 12 + 7 = 18, obwohl er zuvor die Analogieaufgabe 2 + 7 = 9 richtig gelöst<br />

hat. Besonders zu erwähnen ist, dass John häufig die Aufgabenstellung vergisst.<br />

Der Rechenrahmen ist ihm als Arbeitsmittel aus der Schule bekannt. Er kann diesen<br />

während der Überprüfung jedoch nicht als Hilfe zur Lösung der Additionsaufgaben<br />

nutzen. Bei der quasi-simultanen Zahlauffassung am Rechenrahmen unterlaufen<br />

ihm einige Fehler, woran zu erkennen ist, dass er die Struktur dieses<br />

Materials noch nicht verinnerlicht hat. Er zählt anscheinend die Zehnerreihen und<br />

die Einerperlen aus, da ihm viele +/– 1-Fehler unterlaufen.


„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />

Er hat außerdem Orientierungsprobleme im räumlichen Bereich, z.B. bei der Seitenzuordnung<br />

und beim Nachbauen von Würfelbauwerken. Bei der Rechts-Links-<br />

Unterscheidung hat John deutliche Probleme bei sich und besonders an der gegenüberstehenden<br />

Gliederpuppe.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass er von den bekannten Symptomen, die<br />

auf Rechenschwäche hinweisen können, folgende zeigt: Verfestigtes zählendes<br />

Rechnen, Rechts-Links-Schwäche und fehlende Operationsvorstellungen.<br />

Zusätzlich ist zu erwähnen, dass John eines der wenigen Kinder ist, das zu Beginn<br />

der Überprüfung in Tränen ausbricht. Wir haben den Eindruck, dass er durch<br />

die externe Testsituation verängstigt ist, obwohl er gut vorbereitet worden ist<br />

und auch von seiner Lehrerin in die Beratungsstelle begleitet wird. Während der<br />

70minütigen Videoaufzeichnung ist er unsicher und zurückhaltend. Ein Gespräch<br />

mit der Lehrerin bestätigt, dass sein Weinen anscheinend ein Schutzmechanismus<br />

ist und er auch in der Einzelarbeit mit der Lehrerin manchmal weint.<br />

Die Einzelförderung<br />

Im November 2001 beginne ich mit John eine Einzelförderung in der Nähe seines<br />

Klassenverbandes. Sie findet zweimal wöchentlich, nach Absprache mit der Lehrerin,<br />

während der Arbeitszeit an einem separaten Tisch auf der Unterrichtsfläche<br />

statt.<br />

Die Beobachtungen, die während der Ersterhebung gemacht wurden, kann ich<br />

nach den ersten Stunden, die ich mit John gearbeitet habe, deutlich bestätigen.<br />

Besonders auffällig ist das häufige Zählen und die Zahlendreher.<br />

Ich versuche mich zunächst auf wenige Förderschwerpunkte zu beschränken.<br />

Besonders wichtig ist mir, John die Freude an der Mathematik und die Motivation<br />

durch Erfolge und abwechslungsreiche Übungen zu vermitteln. Ich möchte sein<br />

Selbstvertrauen aufbauen und ihm die Zuversicht geben, dass er Leistungsfortschritte<br />

erzielen kann.<br />

In regelmäßigen Abständen versuche ich, den Leistungsstand von John zu erfassen<br />

und mit Blick auf die Ziele einen aktuellen Förderplan zu entwerfen. In Form<br />

einer Tabelle plane ich jede einzelne Förderstunde und halte diese anschließend<br />

anhand eines Gedächtnisprotokolls fest. Jede Förderstunde beinhaltet meist zwei,<br />

höchstens drei Förderschwerpunkte und die entsprechenden Übungen. Bei meiner<br />

Planung fixiere ich mich bewusst auf Fragestellungen, Erwartungen und Ziele,<br />

auf die ich in meinem Protokoll Bezug nehmen kann. Das nimmt zwar viel<br />

Vor- und Nachbereitungszeit in Anspruch, aber auf diese Weise kann ich Johns<br />

Fortschritte dokumentieren und es hilft mir, mich mit seinen Problemen auseinander<br />

zu setzen.<br />

Beispiel eines Protokolls einer Förderstunde:<br />

Vorbereitung der Förderstunde am 27. 2. 2002<br />

1. Inhaltlicher Schwerpunkt: Übung an den Händen<br />

Ziel und Begründung: Zahlzerlegung<br />

Dauer (ca.): 10 min.<br />

Inhalt/Aufgabenstellung Material Beobachtungsschwerpunkt<br />

Zahlzerlegung der 10, der 8 und<br />

der 20 (möglichst mit verdeckten<br />

Händen)<br />

Tuch Verbesserung der Zahlzerlegung?<br />

Wo sind noch Schwierigkeiten bzw.<br />

Lücken?<br />

97


98<br />

<strong>Christine</strong> Huth<br />

2. Inhaltlicher Schwerpunkt: Addition (ZE + E mit ZÜ) am Rechenrahmen<br />

Ziel und Begründung: Zehnerübergang mit der Strategie des schrittw.<br />

Rechnens<br />

Dauer (ca.): 20 min.<br />

Inhalt/Aufgabenstellung Material Beobachtungsschwerpunkt<br />

Addition am Rechenrahmen (RR)<br />

ZE + E mit Zehnerüberschreitung<br />

(ZÜ):<br />

Strategie und Sprechweise erklären,<br />

Additionsaufgaben am RR lösen,<br />

John diktiert die Handlungen, die<br />

ich dann ausführe,<br />

abschließend soll er nur den RR<br />

anschauen und ohne zu handeln<br />

die Aufgaben lösen.<br />

Rechen-<br />

rahmen<br />

Protokoll der Förderstunde am 27.2.2002<br />

1. Inhaltlicher Schwerpunkt: Zahlzerlegung an den Händen<br />

Inhalt Beobachtung<br />

ZZ der<br />

10, 8 und<br />

20<br />

John hat sich in der Zahlzerlegung<br />

verbessert. Er kennt<br />

jedoch noch nicht alle auswendig.<br />

Bei der 20 nutzt er<br />

jetzt die Analo-<br />

gien.<br />

Ich muss deutlich darauf achten,<br />

dass John nicht die Perlen abzählt,<br />

sondern sie mit einem Fingerstreich<br />

schiebt.<br />

Wie sicher ist er bei den Zerlegungen?<br />

Kann er die Strategie automatisieren?<br />

Auf die Versprachlichung achten!<br />

Hypothesen und<br />

Folgerungen<br />

Manche Zahlzerlegungen<br />

muss John sich noch herleiten,<br />

aber im Allgemeinen<br />

braucht er nur weiterhin viel<br />

Übung.<br />

2. Inhaltlicher Schwerpunkt: Addition mit Zehnerübergang<br />

Inhalt Beobachtung<br />

Addition<br />

am RR<br />

ZE + E mit<br />

ZÜ<br />

John hat die Strategie und<br />

das Vorgehen anscheinend<br />

verstanden und kann es auch<br />

anwenden. In der Zahlzerlegung<br />

ist er sich noch unsicher,<br />

dann zählt er die Perlen<br />

mit den Augen ab. Das Diktieren<br />

der Handlung gelingt<br />

ihm gut. Die weitere Ablösung<br />

von der Handlung fällt<br />

ihm schwer.<br />

Die Schwerpunkte der Förderung<br />

Hypothesen und<br />

Folgerungen<br />

Diese Strategie muss mit<br />

John noch weiter geübt und<br />

vertieft werden. John hat dies<br />

noch nicht verinnerlicht. Er<br />

braucht noch die Handlungen<br />

am Material, um die Aufgaben<br />

zu lösen.<br />

Sonstiges<br />

Am Anfang<br />

wirkt er sehr<br />

unkonzentriert<br />

bzw.<br />

unmotiviert.<br />

Sonstiges<br />

John ist<br />

deutlich sicherer<br />

im<br />

Umgang mit<br />

dem RR geworden.<br />

Mein Schwerpunkt liegt darin, John vom zählenden Rechnen wegzuführen und<br />

mit ihm die Strategie des schrittweisen Rechnens zu erarbeiten. Auch der Zehnerübergang,<br />

eine große und wichtige Hürde im Lernprozess, kann durch die


„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />

Anwendung dieser Strategie bewältigt werden. Um diese Strategie zu verinnerlichen,<br />

sind u. a. zwei Bedingungen zu erfüllen: Zum einen müssen die Zahlzerlegungen<br />

der Zahlen bis 10 beherrscht werden, zum anderen muss die entsprechende<br />

Handlung an einem Arbeitsmittel, vorzugsweise am Rechenrahmen, erarbeitet<br />

werden (vgl. Beitrag von Schipper in diesem Heft, S. 41).<br />

Ich möchte nun einige Übungen vorstellen, die genau dieses bezwecken und mit<br />

denen ich Johns Förderung gestaltet habe. Zur Auflockerung und zur Abwechslung<br />

habe ich auch andere Themen in meine Förderung mit aufgenommen, z. B.<br />

das kleine 1 x 1.<br />

Zahlzerlegung:<br />

Um die Zahlzerlegungen der Zahlen bis 10 zu verinnerlichen, ist es sinnvoll,<br />

mentale Vorstellungen zu entwickeln, die es erlauben, sich von konkreten Hilfsmitteln<br />

zu lösen. Ich habe sehr viel mit der Übung gearbeitet, dass John seine<br />

beiden Händen auf den Tisch legt und die Zahlzerlegungen mit Hilfe eines Stiftes<br />

veranschaulicht werden (vgl. Beitrag von Schipper in diesem Heft, S. 37).<br />

Schrittweise habe ich versucht, John durch diese Übung von der visuellen Hilfe<br />

durch die Finger zu lösen. Abschließend soll John die Zahlzerlegungen mit verdeckten<br />

Fingern nennen können. Auf diese Weise kann auch die Zahlzerlegungen<br />

der 20 (vier Hände) und der anderen Zahlen bis 20 erarbeitet werden. Der Übergang<br />

zu der Ergänzung zum vollen Zehner kann dann schnell erschlossen werden.<br />

Weitere Übungen, um die Zahlzerlegungen zu festigen sind: Das Ausfüllen von<br />

Zahlenhäusern, die Arbeit mit der Schüttelbox (siehe Foto) und das ‚Klappenspiel‘<br />

(vgl. Beitrag von Beyer in diesem Heft, S. 110f.).<br />

Die ‚Schüttelbox‘ enthält 10 bzw. 20 Perlen, die durch schütteln auf die beiden Kammern verteilt werden.<br />

Auf diese Weise können die Zahlzerlegungen dargestellt und abgefragt werden.<br />

Schrittweises Rechnen am Rechenrahmen:<br />

Um Kopfrechenstrategien, vorzugsweise die Strategie des schrittweisen Rechnens,<br />

durch Handlungen am Material zu entwickeln, muss ein Arbeitsmittel eingeführt<br />

und erarbeitet werden. Ich entscheide mich für das Arbeitsmaterial Rechenrahmen<br />

(vgl. Beitrag von Schipper in diesem Heft, S. 40f.), den John schon<br />

aus dem Unterricht kennt. Besonders wichtig ist es den richtigen Umgang mit<br />

99


100<br />

<strong>Christine</strong> Huth<br />

dem Material zu üben, z. B. die Zahlen mit einem ‚Fingerstreich‘ einzustellen, die<br />

Festlegung der Leserichtung, die Zahldarstellung und die Zahlauffassung. Da mir<br />

kein Computer zur Verfügung steht, übe ich die quasi-simultane Zahlauffassung<br />

mit dem Spiel ‚Schnelles Sehen‘ am Rechenrahmen. Ich stelle Zahlen am Rechenrahmen,<br />

für ihn nicht sichtbar, ein und zeige ihm dann das Material kurz.<br />

Nach dieser Voraussetzung kann ich beginnen, mit John verschiedene Rechenstrategien<br />

zu erarbeiten. Zunächst stelle ich die Strategie der Analogieaufgaben<br />

vor und übe die Verdopplungsaufgaben mit John. Die meiste Zeit verwende ich<br />

darauf, mit ihm die Strategie des schrittweisen Rechnens zu erarbeiten. Der erste<br />

Schritt ist, dass er die einzelnen Rechenschritte am Rechenrahmen darstellt<br />

und sie entsprechend versprachlicht (z. B.: die Aufgabe 16 + 8 als „16 – (vier<br />

Perlen dazu, dann habe ich) 20 – (dann noch vier Perlen dazu schieben, dann<br />

habe ich) 24“). Nachdem er Aufgaben der Form ZE + E mit Zehnerübergang<br />

problemlos am Rechenrahmen lösen kann, beginne ich, die entsprechenden Übungen<br />

zum Ablösen vom Material einzuführen. Anfänglich diktiert er mir die<br />

Handlungen am Rechenrahmen und ich führe sie aus, später wird er sich die<br />

Handlungen am Material vorstellen, während er den Rechenrahmen als visuelle<br />

Hilfe vor sich stehen hat. Abschließend soll er die Handlungen so gut verinnerlicht<br />

haben, dass er mit verbundenen Augen die Handlungen am Rechenrahmen<br />

diktieren kann und die richtige Lösung nennt. Wenn dies erfolgreich erarbeitet<br />

ist, ist der Weg zu allen weiteren Aufgaben, auch ZE + ZE mit Zehnerübergang<br />

nicht mehr weit.<br />

Johns Reaktionen und Fortschritte<br />

Zahlzerlegung:<br />

Da John am Anfang der Förderung nur wenige der Zahlzerlegungen auswendig<br />

kann, habe ich die oben genannten Aufgabenformate zur Zahlzerlegungen in den<br />

ersten zwei Monaten bei jeder Förderung wiederholt. Solange die Finger sichtbar<br />

vor John liegen, ist die Zerlegung der 10 kein Problem und ihm unterlaufen nur<br />

selten Fehler. Sobald die Finger verdeckt sind, benötigt er mehr Zeit und er wird<br />

deutlich unsicherer. Zu Anfang ist deutlich zu sehen, dass die Finger sich unter<br />

dem Tuch bewegen und John anscheinend die Zahlzerlegungen durch Zählen<br />

herleitet. Wenn ich das merke, dann gehe ich eine Stufe zurück bzw. wähle ein<br />

anderes Übungsformat. Besonders viel Spaß hat John an dem ‚Klappenspiel‘ (vgl.<br />

Beitrag Beyer in diesem Heft, S. 110f.).<br />

Die Übertragung der Zahlzerlegungen der 10 auf die Zahlzerlegungen der 20 fällt<br />

ihm schwer. Am Anfang konzentriert John sich meist nur auf eine Hand bzw. auf<br />

ein Händepaar, wodurch ihm der Gesamtüberblick fehlt. Bei der Darstellung des<br />

Zerlegungspaares 14 und 6 nennt er beispielsweise nur „4 und 6“. Im Verlauf der<br />

Förderung lernt er die Analogien zu nutzen, aber ihm unterlaufen noch Fehler,<br />

wenn die von mir genannte Zahl kleiner als 10 ist (z. B. die Ergänzung zu 7).<br />

Nach Wiederholung in fast jeder Förderstunde lernt er die Zerlegungen der 10<br />

und der 20 langsam auswendig. In regelmäßigen Abständen (ca. 1–2mal im Monat)<br />

frage ich die Zahlzerlegungen ab, während die Hände verdeckt auf dem<br />

Tisch liegen. Leider beherrscht er diese noch nicht auswendig, sondern vergisst<br />

anscheinend manche Ergänzungen. Erst wenn er einmal die Zahlzerlegungspaare<br />

mit der visuellen Hilfe der Finger genannt hat, kann er die Zahlzerlegungen wieder<br />

ohne zu zählen nennen. Im April, September und Dezember 2002 übe ich<br />

jeweils drei bis vier Förderstunden hintereinander die Zahlzerlegungen mit John,<br />

bis er sie wieder präsent hat. Die Übertragung auf die Ergänzung zum vollen


„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />

Zehner im Zahlenraum bis 100 gelingt ihm während der ganzen Zeit erstaunlich<br />

gut.<br />

Schrittweises Rechnen am Rechenrahmen<br />

Nach einer Einführung in die Handhabung kann John das Material nutzen und die<br />

Operationen handelnd erfahren. Er nutzt den Rechenrahmen teilweise auch freiwillig<br />

in anderen Zusammenhängen zur Lösung einer Aufgabe. Erst später kommt<br />

der Zeitpunkt, an dem er für einige Zeit ‚müde‘ von diesem Arbeitsmittel wird<br />

und die Motivation nachlässt. Ich habe das Gefühl, dass er teilweise den Umgang<br />

am Material als Rückschritt und nicht seinem Alter entsprechend empfindet. Nach<br />

einer Pause von über einem Monat kann ich ihn wieder für den Rechenrahmen<br />

begeistern.<br />

Durch die Übung ‚Schnelles Sehen‘ lernt John die dargestellten Zahlen quasisimultan<br />

zu erfassen und die 5er und 10er Struktur des Materials zu nutzen. Bei<br />

der Zahldarstellung schiebt er am Anfang der Förderung die Perlen in Zweierbzw.<br />

in Dreiergruppen, nach einigen Hinweisen kann er die Zahlen mit einem<br />

Fingerstreich einstellen. Dabei unterlaufen ihm immer wieder Zahlendreher in der<br />

Aussprache der Zahlen. Durch längere Pausen zwischen den Förderstunden,<br />

durch Ferien oder Krankheit, hat John manchmal den richtigen Umgang mit dem<br />

Rechenrahmen vergessen. Er braucht häufige Wiederholungen und eine ‚Aufwärmphase‘,<br />

da er zu Beginn der Übungen immer die gleichen Fehler macht.<br />

Innerhalb eines Jahres hat John durch den häufigen Umgang mit dem Arbeitsmittel<br />

die Strukturen verinnerlicht und er kann vor den Sommerferien 2002 dargestellte<br />

Zahlen am Rechenrahmen nach kurzer Präsentationszeit sicher nennen.<br />

Die Zahlendreher sind seltener geworden und wenn dieser Fehler auftritt, erkennt<br />

und verbessert er ihn selbstständig. Dies ist ein lange erarbeiteter und daher<br />

umso erfreulicher Fortschritt.<br />

Die Strategie des schrittweisen Rechnens wendet er meist nur an, wenn man ihn<br />

dazu auffordert. Mit Hilfsfragen von mir kann er die Ergänzung bis zum nächsten<br />

Zehner und den weiteren Schritt zum Ergebnis nennen, woran zu erkennen ist,<br />

dass er die Strategie des schrittweisen Rechnens verstanden hat, aber noch nicht<br />

selbstständig anwendet. Nach einer kurzen Wiederholung der Strategie kann er<br />

das Vorgehen auch versprachlichen, somit den Zwischenschritt für die Ergebnisfindung<br />

nutzen, und die Aufgaben richtig lösen.<br />

Der Übergang zur Materialunabhängigkeit gelingt ihm noch nicht. Er kann die<br />

Handlungen diktieren und auch ohne die Perlen zu schieben, die richtige Lösung<br />

nennen (vgl. Beitrag Schipper in diesem Heft, S. 41f.). Jedoch hat er dies noch<br />

nicht so gut verinnerlicht, dass er sich von der visuellen Hilfe des Rechenrahmens<br />

lösen kann. Das Diktieren der Aufgabe mit verbundenen Augen gelingt ihm<br />

noch nicht. Bei dieser mentalen Vorstellung fällt er teilweise in das zählende<br />

Rechnen zurück, das er zu verstecken versucht, indem er die Hände unter den<br />

Tisch hält oder mit den Füßen klopft.<br />

Um seine Konzentrationsfähigkeit zu schulen, diktiere ich ihm Handlungen zu<br />

Aufgaben und fordere ihn auf zu sagen, welche Zahl als Ergebnis ablesbar wäre<br />

und welche Aufgabe ich gerechnet habe. Zum Beispiel sage ich: „Stell Dir vor ich<br />

habe die 15 am Rechenrahmen eingestellt, ich schiebe dann erst 5 Perlen dazu.<br />

Dann schiebe ich noch 4 Perlen. Welche Zahl ist dann eingestellt?“ Mit etwas Übung<br />

kann John dieses Aufgabenformat ohne Schwierigkeiten bewältigen.<br />

Trotz der thematisierten Vorteile des schrittweisen Rechnens hat John anscheinend<br />

die Effektivität der vorgestellten Strategie noch nicht akzeptiert. Ein Grund<br />

101


102<br />

<strong>Christine</strong> Huth<br />

für seine Schwierigkeit der Ablösung vom zählenden Rechnen ist sicher seine Unsicherheit<br />

in den Zahlzerlegungen. Ein weiterer Grund ist, dass er durch seine<br />

Konzentrationsschwierigkeiten die genannte Aufgabe und die Zwischenschritte im<br />

Laufe der Überlegungen vergisst. Es ist eine Erleichterung für ihn, wenn er sich<br />

die Aufgabenstellung notieren darf.<br />

Ich versuche weiter mit ihm die Handlungen am Rechenrahmen auf die ikonische<br />

Ebene zu übertragen (z. B. durch Kringel), um die Vorstellung von der Handlungen<br />

auf die wesentlichen Aspekte zu reduzieren. Aber John hat Probleme dies<br />

nachzuvollziehen. Dieser mögliche Zwischenschritt zu der symbolischen Ebene ist<br />

ihm anscheinend auch aus anderen Unterrichtszusammenhängen nicht bekannt.<br />

Auch die Versprachlichung seines Vorgehens bereitet ihm Mühe, damit macht er<br />

es mir wiederum schwer, seinen Rechenweg nachzuvollziehen.<br />

Weitere Inhalte der Förderung<br />

In allen Bereichen wird mir deutlich, dass John äußerst langsam lernt und Gelerntes<br />

nicht immer verinnerlicht und es deshalb wieder ‚vergisst‘. Zum Beispiel<br />

kann er Analogien nutzen, wenn ich ihn darauf aufmerksam mache, indem ich<br />

zuerst die Grundaufgabe nenne. Selbstständig kann er diese Strategie nur nach<br />

einer kurzen Wiederholung anwenden bzw. nutzen.<br />

Besonders oft frage ich das kleine 1 + 1 ab, weil es als Basiswissen zur Verfügung<br />

stehen muss. John kann das<br />

kleine 1 + 1 zwar immer<br />

noch nicht vollständig auswendig,<br />

aber Aufgaben des<br />

Formats Z + Z und Z + E gelingen<br />

ihm ohne zu zählen.<br />

Auch die Subtraktion thematisiere<br />

ich, jedoch soll er<br />

erst sicherer in der Addition<br />

werden, bevor er die Strategien<br />

auf die Subtraktion übertragen<br />

kann. Teilweise<br />

beherrscht er das kleine 1 –<br />

1 im Zahlenraum bis 20.<br />

Sicher ist er bei den Aufgaben<br />

der Form Z – Z und auch<br />

Z – E.<br />

Ein weiter Inhalt der Förderung<br />

ist die Wiederholung<br />

der Rechts-Links-Unterscheidung,<br />

welche in kurzen<br />

Pausen auf unterschiedliche<br />

Weise abgefragt wird (z. B.<br />

am eigenen Körper, an Puppen,<br />

anhand von Arbeitsblättern).<br />

Außerdem lockere<br />

ich die Förderstunden auf,<br />

indem ich operative Übungsformate<br />

integriere, wie z. B.<br />

Zauberdreieck und Zahlen-


„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />

brücke (siehe Glossar). Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ihn dies teilweise<br />

überfordert und ihm die Sicherheit im flexiblen Umgang mit Zahlen und Rechenoperationen<br />

fehlt. Jeder Fehler entmutigt ihn. Hierbei wird deutlich, dass er Probleme<br />

im Umgang mit Fehlern hat und ihm die Nutzbarkeit dieser nicht vertraut<br />

ist. Außerdem wird bei der Bearbeitung der operativen Übungsformate deutlich,<br />

dass es ihm schwer fällt, Zusammenhänge und seine Gedanken zu verbalisieren<br />

und darüber zu sprechen.<br />

Während des ganzen Förderzeitraums übe ich mit ihm die räumliche Orientierung<br />

anhand von Würfelbauwerken. Er kann geschickt mit den Würfeln umgehen,<br />

vermutlich weil er nach eigenen Angaben früher viel mit LEGO u. Ä. gespielt hat.<br />

Er hat dennoch Schwierigkeiten, die zweidimensionale Darstellung nachzubauen,<br />

besonders die Einbeziehung der nicht sichtbaren Würfel bereitet ihm Probleme.<br />

Im Sommer 2002 hat er im aktuellen Unterricht das kleine 1 x 1 erarbeitet und<br />

ich habe dies auch in die Förderung mit aufgenommen. Er ist sehr motiviert, bei<br />

diesem neuen Inhalt am Ball zu bleiben und die Aufgaben auswendig zu lernen.<br />

Zu Anfang wird deutlich, dass John auch beim 1 x 1 keine Vorstellung von der<br />

Operation hat und auch den Zusammenhang zu der Addition nicht kennt. Anhand<br />

von Handlungen mit Bausteinen und der entsprechenden ikonischen Darstellungen<br />

habe ich versucht, ihm die Zusammenhänge zu vermitteln. Mit Hilfe von<br />

Darstellungen von Situationen und Gegenständen im Klassenraum hat John die<br />

Multiplikation im Alltag entdeckt. Manche 1 x 1-Aufgaben kennt John schon auswendig,<br />

aber meist zählt er das Ergebnis anhand der Multiplikationsreihen ab,<br />

wobei er nur lückenhaft die Reihen beherrscht. Die Tauschaufgaben zur Vereinfachung<br />

nutzt er nur selten.<br />

Zwischenergebnisse der Förderung<br />

Kurz vor den Sommerferien im Juni 2002 wird erneut die Überprüfung im IDM<br />

mit John durchgeführt. Diese dient der Beobachtung und Dokumentation der<br />

Fortschritte, die John innerhalb des Förderzeitraums erreicht hat.<br />

Das Besondere an dieser Erhebung ist, dass John mit einem gänzlich anderen<br />

Selbstbewusstsein auftritt als im Oktober und sich durch die Fragen der Gutachterin<br />

nicht verunsichern lässt. Im Folgenden werden nur die Auffälligkeiten und<br />

Besonderheiten während dieser Überprüfung genannt:<br />

Im Gegensatz zu der Erstüberprüfung lässt er dieses Mal im Zählprozess einige<br />

der doppelziffrigen Zahlen aus. Anders als im Oktober 2001 kann er jetzt die<br />

Zahlen über 100 richtig notieren und flüssig rückwärts und in Schritten zählen.<br />

Auch bei der Rechts-Links-Unterscheidung hat John Fortschritte gemacht. Wenn<br />

er sich konzentriert, kann er die Seitenbezeichnungen auch an der gegenüberstehenden<br />

Gliederpuppe richtig benennen.<br />

Im Zahlenraum bis 20 kennt John im Juni 2002 mehr Aufgaben auswendig und<br />

erkennt Analogien. Den Zehnerübergang stellt er am Rechenrahmen richtig mit<br />

der Strategie des Zerlegens bzw. schrittweisen Rechnens dar. Er braucht den<br />

Rechenrahmen weiterhin als visuelle Hilfe.<br />

Während der Überprüfung nennt er die Zahlzerlegungen richtig, sobald ihm jedoch<br />

die visuelle Hilfe seiner Finger fehlt, zögert er und gibt zu, dass er unter<br />

dem Tuch gezählt hat. Anscheinend hat er sie memorisiert, aber noch nicht automatisiert.<br />

Wie schon bei der ersten Überprüfung vergisst John teilweise die Aufgabenstellung<br />

und hat Schwierigkeiten, seine Rechenstrategie zu erklären und darzustellen.<br />

103


104<br />

<strong>Christine</strong> Huth<br />

Insgesamt können besonders bei der Orientierung im Zahlenraum deutliche Fortschritte<br />

verzeichnet werden. Die Strategie des schrittweisen Rechnens hat John<br />

verstanden, aber noch nicht automatisiert. Ich bin positiv überrascht, von der<br />

Sicherheit und dem Selbstbewusstsein, welche John während des Förderzeitraums<br />

aufgebaut hat.<br />

Perspektiven und Ausblick<br />

John ist im mathematischen Bereich noch weit hinter dem Wissenstand seiner<br />

MitschülerInnen und wird weiterhin Förderung benötigen, jedoch hat er für seine<br />

Fähigkeiten und Möglichkeiten Fortschritte gemacht. Die Erstüberprüfung hat gezeigt,<br />

dass John zu Beginn der Förderung deutliche Schwierigkeiten im mathematischen<br />

Bereich hat und drei der vier auf Rechenstörung hinweisenden Symptome<br />

diagnostiziert werden können (verfestigtes zählendes Rechnen, Raumwahrnehmungsprobleme<br />

und ein mangelndes Operationsverständnis). Mittlerweile hat er<br />

sich im Rechnen deutlich verbessert und kann die Strategie des schrittweisen<br />

Rechnens am Material anwenden, anstatt zu zählen. Noch immer fehlt ihm die<br />

Sicherheit und die Automatisierung der alternativen Strategien.<br />

Die genannten Übungen und der Einsatz des Rechenrahmens als Veranschaulichungsmittel<br />

haben sich als sinnvoll erwiesen, um die Strategien zu erarbeiten.<br />

Mittlerweile hat er gelernt, dass Fehler nichts Schlimmes oder Ungewöhnliches<br />

sind. Er versucht trotzdem Fehler zu vermeiden und kein Risiko einzugehen, was<br />

seiner Meinung nach in Verbindung mit der Anwendung neuer Strategien steht.<br />

Somit empfindet er das zählende Rechnen immer noch als ein sicheres Rechenverfahren,<br />

auf das er bei ‚schwierigen‘ Aufgaben zurückgreift.<br />

Meine Förderarbeit wurde aber durch die außerschulischen Bedingungen erschwert,<br />

auf die ich keinen Einfluss nehmen konnte, wie z. B. das häufige Fehlen,<br />

die vergessenen Arbeitshefte und die wenigen Einblicke.<br />

John hat u. a. dank der Förderung einen motivierteren und selbstbewussteren<br />

Zugang zu der Mathematik gefunden, aber sein Lernweg geht insgesamt nur sehr<br />

langsam voran. Deshalb brauchen die Personen, die mit ihm arbeiten, viel Geduld<br />

und Motivation. Er muss immer wieder ermutigt werden, um mehr Vertrauen<br />

in seine eigenen Fähigkeiten aufzubauen. Zum Beispiel ist positiv hervorzuheben,<br />

dass er die für ihn teilweise neuen Übungsformate gut umsetzen und lösen<br />

kann. Manchmal ist John einfach etwas träge, müde und still, wodurch man wenig<br />

über ihn erfährt und ihn und seine Leistungen nur schwer einschätzen kann.<br />

Erst durch die genaue Diagnose und die Beobachtungen während der Förderstunden<br />

konnte ich die Inhalte so individuell auswählen, dass sie ihn ansprechen<br />

und motivieren.<br />

In der weiteren Förderung müssen die erarbeiteten Inhalte automatisiert werden<br />

und der Prozess zur Entwicklung von mentalen Vorstellungsbildern muss weiter<br />

fortgesetzt werden. Wichtig ist, dass er die Operationen und Handlungen am Material<br />

so gut verinnerlicht, dass er sich davon lösen kann. Außerdem sollte John<br />

die Strategien, die er bisher im Zahlenraum bis 100 bei der Addition anwendet,<br />

auf die Subtraktion übertragen und auch in größeren Zahlenräumen umsetzen.<br />

Seine sozialen Kontakte haben sich in dem Zeitraum meiner Förderung nicht verändert.<br />

Ebenso ist die Sorge des Vaters geblieben, was daran zu erkennen ist,<br />

dass er seinen Sohn weiterhin häufig abholt, um ihn vor vermeintlichen Diskriminierungen<br />

zu schützen.<br />

Ich muss gestehen, dass ich manchmal kaum Fortschritte bei der Einzelförderung


„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />

gesehen habe und mich das langsame Vorankommen, u. a. durch die ausgefallenen<br />

Förderstunden, deprimiert hat, aber durch den Austausch mit den LehrerInnen<br />

und KollegInnen besonders innerhalb unseres Projektes und die gute Mitarbeit<br />

von John bin ich immer wieder motiviert worden.<br />

Mir ist deutlich geworden, wie langsam Lernfortschritte sein können und wie<br />

mühselig ein Kind lernen kann. Ich habe gelernt, dass die Förderarbeit einfühlsam,<br />

voller Geduld und kontinuierlich sein muss, damit sie zu nachhaltigen Erfolgen<br />

führt.<br />

105


106<br />

<strong>Christine</strong> Huth


Bianca Beyer<br />

Eine sperrige Förderung – Katrin und ich<br />

„Wenn mir das Thema keinen Spaß macht, dann habe ich auch keine Lust mitzuarbeiten.“<br />

(Katrin)<br />

Ich studiere im Studiengang Lehramt für Primarstufe an der Universität <strong>Bielefeld</strong>.<br />

Mein Schwerpunktfach ist Mathematik. Im Rahmen meines Studiums nahm ich<br />

an dem Seminar „Förderung und Prävention im Mathematikunterricht der Primarstufe“<br />

von Prof. Schipper teil. Dort lernte ich, wie Kinder mit besonderen Schwierigkeiten<br />

beim Rechnen gefördert werden sollen. In diesem Theorie – Praxis –<br />

Seminar habe ich gemeinsam mit einer anderen Studentin einmal in der Woche<br />

eine halbe Stunde lang ein Kind gefördert.<br />

Da man im Laufe dieses Studiengangs nur selten die Gelegenheit bekommt mit<br />

Kindern zu arbeiten, nahm ich gern eine Stelle als studentische Hilfskraft in dem<br />

Projekt „Ich erklär‘ dir, wie ich rechne – Prävention von Rechenstörungen“ an. Im<br />

Laufe dieses Forschungs- und Entwicklungsprojektes an der Laborschule, das im<br />

August 2001 begann, sollten Kinder, die Schwierigkeiten beim Rechnen haben,<br />

gefördert werden. So bekam ich die Gelegenheit, das Wissen, das ich mir in dem<br />

Seminar von Prof. Schipper angeeignet hatte, in der Praxis anzuwenden.<br />

Nach der Diagnose ihrer spezifischen Rechenstörungen, der Aufstellung eines<br />

entsprechenden Förderplans und Diskussionen in der Projektgruppe begann ich<br />

im November 2001 damit, drei Kinder zu fördern. Zwei Kinder waren im zweiten<br />

Schuljahr. Mit ihnen arbeitete ich entweder jeweils eine halbe Stunde pro Woche<br />

oder mit beiden zusammen eine Stunde, da sie in der gleichen Gruppe waren.<br />

Wir drei wurden schnell miteinander vertraut, so dass wir gut arbeiten und auch<br />

mal zusammen lachen konnten.<br />

Katrin war das dritte Kind, dass ich fördern sollte. Sie war schon im vierten<br />

Schuljahr. Bis zu den Sommerferien 2002 arbeitete ich zweimal in der Woche<br />

eine halbe Stunde mit ihr; seit September 2002 fördere ich sie nur noch einmal<br />

wöchentlich eine halbe Stunde.<br />

Erstüberprüfung<br />

Katrins Erstüberprüfung findet im Oktober 2001 statt. Diese Erstüberprüfung<br />

zeigt, dass Katrin sich bei allen Rechenaufgaben leicht verunsichern lässt.<br />

Schwierigkeiten hat sie besonders bei den grundlegenden Fertigkeiten ‚Rückwärtszählen‘,<br />

‚richtige Zahlenschreibweise‘ und ‚Zahlzerlegungen‘. Fingerbewegungen<br />

und ±1-Fehler lassen vermuten, dass sie eine ‚zählende Rechnerin‘ ist.<br />

Die folgenden Auszüge aus dem Protokoll der Erstüberprüfung dokumentieren<br />

einige von Katrins Problemen:<br />

Zahlauffassung und Zahldarstellung<br />

Der 20er und 100er Rechenrahmen ist Katrin aus der Schule bekannt.Bei einer<br />

kurzen Präsentationszeit von eingestellten Zahlen (Quasi-Simultane Zahlauffassung)<br />

unterlaufen ihr teilweise ±1-Fehler bzw. ±10-Fehler.<br />

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108<br />

Bianca Beyer<br />

Zahlzerlegung<br />

Während Katrin ihre Finger noch sehen kann, nennt sie schnell die Zahlzerlegungen<br />

im Zahlenraum bis 10, wobei sie etwas mehr Zeit benötigt, wenn die<br />

vorgegebene Zahl kleiner als 4 ist. Sobald ihre Hände verdeckt sind, unterlaufen<br />

ihr häufiger Fehler. Auch im Zahlenraum bis 20 ist sie sehr unsicher in der<br />

Zahlzerlegung, und ihr unterlaufen viele Fehler, wenn kleine Zahlen vorgegeben<br />

sind.<br />

Kopfrechnen<br />

Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 20 kann Katrin nicht<br />

sicher auswendig, und ihr unterlaufen häufig +/–1-Fehler. Manchmal verwechselt<br />

sie auch die Operationen.<br />

Additions- und Subtraktionsaufgaben mit Zehnerübergang bereiten ihr Schwierigkeiten.<br />

Aufgaben mit gemischten Zehnern (ZE + ZE (siehe Glossar) mit Zehnerübergang)<br />

rechnet sie mit der Strategie ‚Stellenwerte extra‘, ist jedoch von dem<br />

Zehnerübergang irritiert („Das kann keinen Zehner ergeben. Das muss irgendetwas<br />

mit 100 sein. Das geht nicht.“).<br />

Erste Förderschwerpunkte<br />

Aus der Erstüberprüfung ergeben sich u. a. die folgenden Förderschwerpunkte:<br />

Die Quasi-Simultane-Zahlauffassung muss mit Katrin geübt werden, damit sie<br />

bei der Arbeit mit dem 100er Rechenrahmen problemlos Zahlen einstellen und<br />

ablesen kann. Zum Auswendiglernen der Zahlzerlegungen sollen diese an den<br />

(zugedeckten) Händen wiederholt werden. Für die Ablösung vom zählenden<br />

Rechnen müssen insbesondere Aufgaben mit Zehnerübergang (E + E; ZE – E; ZE<br />

+ E) geübt werden. Dadurch soll das schrittweise Rechnen entwickelt und die Ablösung<br />

von ‚Stellenwerte extra‘ vollzogen werden.<br />

Meine erste Begegnung mit Katrin<br />

Da ich bei der Erstüberprüfung nicht anwesend war, ist mein erster Fördertermin<br />

mit Katrin gleichzeitig meine erste Begegnung mit ihr. Vorher ist sie schon von<br />

ihrer Lehrerin auf mich vorbereitet worden.<br />

Als ich mich zu Katrin an den Tisch setze, mich ihr vorstelle und den Grund meines<br />

Besuchs erkläre, sieht sie nicht einmal zu mir auf, sondern arbeitet einfach<br />

weiter. Sie sagt nur, dass sie keine Hilfe benötigen würde. Ich bleibe bei ihr sitzen<br />

und sehe ihr erst mal bei ihrer Arbeit zu. Zwischendurch versuche ich mich<br />

immer wieder ein bisschen mit ihr zu unterhalten. Manchmal antwortet sie mir<br />

sogar. Am Ende der Schulstunde sage ich Katrin noch einmal, dass ich bald wiederkomme,<br />

um mit ihr ein bisschen Mathe zu lernen. Sie sagt nur: „O.k.“<br />

Ich gehe mit dem unschönen Gefühl, dass Katrin über meine Besuche nicht erfreut<br />

sein wird.<br />

Katrins Schulgeschichte<br />

Um Katrin besser kennen zu lernen, unterhalte ich mich mit ihrer alten Betreuungslehrerin<br />

aus der Eingangsstufe der Laborschule:


Eine sperrige Förderung – Katrin und ich<br />

„Katrin verbrachte ihr zweites Schuljahr in meiner Gruppe. Als sie bei mir ankam,<br />

war sie sehr eingeschüchtert. Mir gegenüber war Katrin besonders zurückhaltend,<br />

da sie in ihrem ersten Schuljahr an einer Grundschule mit ihrer<br />

Lehrerin anscheinend schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Daher ließ ich sie<br />

sich zunächst eingewöhnen. Ich arbeite mit Wochenplänen, so dass die Kinder<br />

sich einerseits kontinuierlich mit Mathe und Deutsch befassen müssen, sich andererseits<br />

ihre Arbeit selbst einteilen können.<br />

Katrin hatte hin und wieder ‚Null-Bock-Tage‘, an denen ich sie höchstens dazu<br />

animieren konnte zu lesen. Insgesamt war sie in Deutsch besser als in Mathematik,<br />

weshalb Deutsch ihr auch mehr Spaß machte. Trotzdem arbeitete auch<br />

Katrin kontinuierlich in ihren Arbeitsmaterialien für Mathematik für das 2. Schuljahr.<br />

Wenn ich jetzt im nachhinein darüber nachdenke, würde ich sagen, dass<br />

diese Arbeitshefte vielleicht zu anspruchsvoll für Katrin waren, doch für ihr<br />

schlechtes Selbstkonzept war es gut, als ‚Zweier‘ mit Materialien für das 2.<br />

Schuljahr zu arbeiten.<br />

Zu den anderen Kindern hatte Katrin einen guten Kontakt. Sie pflegte aber keine<br />

feste Freundschaft. Manchmal legte sie den Kindern gegenüber ein zickiges<br />

Verhalten an den Tag. Mir gegenüber ist das nicht vorgekommen.<br />

Am Ende des 2. Schuljahres freute sich Katrin darauf, im folgenden Schuljahr<br />

ins Haus 2 zu kommen. Der Übergang war für sie auch eine Ermutigung. Wenn<br />

ich sie im Haus 1 gelassen hätte, wäre ihr negatives Selbstkonzept gestärkt<br />

worden. Ich denke, an dieser Schule kann man ein Kind mit solchen Defiziten<br />

versetzen, wegen der guten Betreuung und des intensiven Eingehens auf jedes<br />

einzelne Kind.“<br />

Über Katrins 3. Schuljahr kann mir ihre jetzige Mathematiklehrerin etwas berichten:<br />

„Anfang des 3. Schuljahres war das ganze Schulleben überschattet von dem<br />

Schüler Kevin, ein sehr verhaltensauffälliger Junge, der zu Aggressionen neigte.<br />

Dadurch war Katrin mit ihrem ‚bockig sein‘ oder ‚nicht arbeiten wollen‘ gar nicht<br />

so sehr ins Auge gefallen. Sie verhielt sich meistens angepasst. Die Probleme in<br />

Mathematik waren allerdings schon deutlich.“<br />

Ermutigend und sehr vorsichtig schreibt diese Lehrerin in ihrer Beurteilung am<br />

Ende des 3. Schuljahres an Katrin:<br />

„Zu Beginn des neuen Schuljahres hast du mir in Mathematik zu verstehen gegeben,<br />

dass du ja eigentlich so gut wie gar nichts weißt und kannst! Wie du<br />

gemerkt hast, ist das nicht der Fall. Mit Anschauungsmaterial, ein paar zusätzlichen<br />

Erklärungen oder auch Hilfen deiner MitschülerInnen hast du in allen unterschiedlichen<br />

inhaltlichen Bereichen in diesem Jahr gut mitgearbeitet! Eine<br />

Zeit lang hast du mit einer Kleingruppe bei Petra gearbeitet, dort ging es noch<br />

einmal um ganz grundlegende Dinge. Mit Hilfe der Einer-, Zehner- und Hunderterklötze<br />

(siehe Glossar: Mehrsystemblöcke) hast du selbstständig und richtig<br />

Aufgaben im Tausenderraum gelöst und mit gelegentlicher Hilfe deiner Nachbarin<br />

alle Seiten dazu in deinem blauen Buch erledigt, prima. Beim schriftlichen<br />

Addieren und Subtrahieren hast du sehr motiviert mitgearbeitet und ganz toll<br />

aufgepasst. Mit wenigen einfachen Rechenschritten kann man hier mit ganz<br />

großen Zahlen rechnen und das gelingt dir meist auch richtig.“<br />

109


Szenen aus der Förderung<br />

110<br />

Bianca Beyer<br />

Wenn ich auf die Fläche komme, wird Katrin von einer ihrer Freundinnen auf<br />

mich aufmerksam gemacht, indem sie ihr zuruft, dass ich da bin. Doch Katrin<br />

blickt nicht auf. Sie arbeitet einfach weiter und beachtet mich nicht. Wenn ich sie<br />

anspreche, sagt sie, dass sie jetzt keine Zeit hat, weil sie ihre Arbeit erst noch<br />

beenden muss. Erst nachdem ich ihr einige Male versichert habe, dass sie später<br />

daran weiterarbeiten kann, ist sie bereit, mit mir die Förderstunde zu beginnen.<br />

Nachdem ich Katrin dazu überreden konnte, mit mir zu arbeiten, nimmt sie ca.<br />

20 Minuten lang mehr oder weniger konzentriert an der Förderstunde teil. Bei der<br />

Arbeit mit dem 100er-Rechenrahmen (vgl. Beitrag von Schipper in diesem Heft,<br />

Aufgabenformat 3.1–3.3) murrt sie oft, was für Aufgaben ich ihr immer stelle.<br />

Nach 20 Minuten wird sie meist unkonzentriert und auch müde. Sie sackt in sich<br />

zusammen, legt ihre Arme auf den Tisch und ihren Kopf darauf und jammert,<br />

dass sie nicht mehr kann. Meistens breche ich die Förderstunde dann ab. Doch<br />

manchmal habe ich das Gefühl, dass sie einfach keine Lust mehr hat, z. B. wenn<br />

sie ihren Zettel bemalt. Dann versuche ich ihr zu erklären, wie wichtig diese Förderung<br />

für sie ist. Da sie fast ein Teenager ist, kleide ich die Aufgaben in Themen<br />

ein, die sie ansprechen, z. B. wie man beim Einkaufsbummel mit seinem Geld<br />

rechnet.<br />

Förder-Beispiele<br />

Um Katrins Desinteresse zu Beginn jeder Förderstunde entgegenzuwirken, versuche<br />

ich die Inhalte so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten.<br />

Quasi-Simultane-Zahlauffassung<br />

Die Quasi-Simultane-Zahlauffassung habe ich mit Katrin auf die Art geübt, wie<br />

sie von W. Schipper in diesem Heft (vgl. dazu S.37ff.) dargestellt wird.<br />

Zunächst soll Katrin reine Zehnerzahlen auffassen. Dabei macht sie häufig ±10-<br />

Fehler. Diese unterliefen ihr auch beim Auffassen von Zahlen mit der 5 als Einer.<br />

In der darauffolgenden Förderstunde kann Katrin alle Zehnerzahlen und fast alle<br />

Zahlen mit der 5 als Einer sofort richtig erkennen. Beim Auffassen von gemischten<br />

Zehnerzahlen hat Katrin zunächst große Schwierigkeiten. Ihr unterlaufen ±1-<br />

Fehler, ±10-Fehler oder beide gleichzeitig und wenn sie unsicher ist, dann rät sie<br />

einfach. Nach einigen weiteren Förderstunden gelingt es Katrin fast alle Zahlen<br />

quasi – simultan aufzufassen.<br />

Zahlzerlegung<br />

Um die Anwendung der Zahlzerlegung zu üben, lasse ich Katrin die Anzahlen der<br />

Augen zweier Würfel addieren. Da ihr diese Aufgaben keine Schwierigkeiten bereiten,<br />

machen sie Katrin sichtlich Spaß.<br />

Um ein bisschen Abwechslung in die Förderungen zu bringen, gebe ich Katrin das<br />

Klappenspiel. Auch dieses Spiel bereitet ihr Freude. Die Zahlzerlegung kann sie<br />

dabei problemlos anwenden.


Eine sperrige Förderung – Katrin und ich<br />

Mit dem Klappenspiel können viele Zahlzerlegungen der Zahlen bis 10 spielend geübt werden.<br />

Kopfrechnen im Zahlenraum bis 20<br />

Zum Üben des Kopfrechnens im Zahlenraum bis 20 gebe ich Katrin zunächst das<br />

Zauberdreieck (siehe Glossar). Als Katrin die Aufgabenstellung sicher verstanden<br />

hat, hört sie auf zu zählen und benutzt nach eigener Angabe die Zahlzerlegung.<br />

Ihre Ergebnisse kommen deutlich schneller. Bei der Benutzung des Zauberdreiecks<br />

ein paar Wochen später wendet Katrin die Zahlzerlegung allerdings kaum<br />

an. Sie umgeht Subtraktionsaufgaben, indem sie vom Subtrahenden bis zum Minuenden<br />

vorwärts zählt z. B. 20 – 16; 17, 18, 19, 20. An der Anzahl ihrer Finger<br />

sieht sie dann das Ergebnis.<br />

Nach eigener Angabe weiß Katrin viele Aufgaben auswendig. Wenn sie eine Aufgabe<br />

nicht auswendig weiß, wendet sie die Zahlzerlegung eher nicht an, sondern<br />

sucht nach anderen Strategien wie z. B. dem Verdoppeln: 6 + ? = 13, 6 + 6 = 12,<br />

12 + 1 = 13 ? = 7<br />

Wegen Katrins besonderer Probleme bei der Subtraktion lasse ich sie eine Pyramide<br />

(siehe Glossar) mit Subtraktionsaufgaben im 20er Raum legen. Besonders<br />

bei Aufgaben ohne Zehnerübergang zählt Katrin. Nach mehreren Aufforderungen<br />

wendet sie bei Aufgaben mit Zehnerübergang die Zahlzerlegung an.<br />

Auch in den beiden darauffolgenden Förderstunden löst Katrin die meisten Subtraktionsaufgaben<br />

zählend. Analogieaufgaben erkennt und nutzt sie nur, wenn<br />

die Aufgaben direkt nacheinander gestellt werden, z. B. 9 – 4, 19 – 4.<br />

Nach Aufforderungen rechnet sie einige der Aufgaben mit Zehnerübergang<br />

schrittweise, was ihr jedoch sichtlich schwer fällt.<br />

In der nächsten Förderstunde lasse ich Katrin wieder mit dem Zauberdreieck arbeiten.<br />

Diesmal weiß sie ungewöhnlich viele Aufgaben auswendig. Wenn sie unsicher<br />

ist, zählt sie das Ergebnis, das ihr eingefallen ist, nach. Nur selten nutzt sie<br />

das schrittweise Rechnen, um sich Sicherheit zu verschaffen.<br />

In der nachfolgenden Förderung weiß Katrin alle Additionsaufgaben und einige<br />

Subtraktionsaufgaben auswendig.<br />

In der Förderstunde danach lasse ich sie die Pyramide – 20er Raum – Minus legen.<br />

Die ersten drei Aufgaben fallen Katrin schwer. Danach weiß sie fast alle<br />

Aufgaben auswendig. Sie findet auch die passenden Aufgaben zu gegebenen Ergebnissen.<br />

Die Zahlzerlegung wendet Katrin nur zweimal an und davon nur einmal erfolgreich.<br />

Nach einigen weiteren Förderstunden weiß Katrin viele Additions- und Subtraktionsaufgaben<br />

im Zahlenraum bis 20 auswendig, und die Aufgaben, die sie nicht<br />

111


112<br />

Bianca Beyer<br />

auswendig weiß, kann sie problemlos ausrechnen. Wenn sie unsicher ist, zählt<br />

sie jedoch das Ergebnis nach wie vor an ihren Fingern nach.<br />

Kopfrechnen im Zahlenraum bis 100<br />

In der Förderung stelle ich fest, dass Katrin Analogieaufgaben erkennt und anwenden<br />

kann, wenn sie direkt nacheinander gestellt werden, z. B. 6 + 5, 36 + 5.<br />

Zum Lösen von Aufgaben der Art ZE + E mit Zehnerübergang wendet sie problemlos<br />

die Zahlzerlegung an.<br />

Aufgaben der Art ZE – E mit Zehnerübergang löst Katrin ebenfalls mit Hilfe der<br />

Zahlzerlegung, was ihr allerdings deutlich schwerer fällt als bei der Addition. Die<br />

Subtraktionsaufgaben ohne Zehnerübergang löst Katrin durch zählendes Rechnen.<br />

Einige kann sie über Analogieaufgaben ausrechnen.<br />

Zur Ablösung vom zählenden Rechnen gehe ich nach den Aufgabenformaten vor,<br />

wie sie von W. Schipper erklärt werden. (Aufgabenformat 3.1 – 3.3)<br />

Am Rechenrahmen kann Katrin die Aufgaben (ZE±E mit Zehnerübergang) problemlos<br />

handelnd ausrechnen.<br />

Als sie den Rechenrahmen nur ansehen darf, kann sie zunächst keine Aufgabe<br />

mental daran lösen.<br />

Mit geschlossenen Augen kann sich Katrin – nach eigener Angabe – vorstellen,<br />

eine Aufgabe am Rechenrahmen zu lösen.<br />

Das probiere ich mit ihr aus, indem ich mir von Katrin die einzelnen Schritte diktieren<br />

lasse und sie am Rechenrahmen ausführe. Das funktioniert ganz gut, wobei<br />

Katrin oft bei der Zahlzerlegung durcheinander kommt, weil ihr einige Zahlenpärchen<br />

immer noch nicht einfallen.<br />

Am Ende des 4. Schuljahres gebe ich Katrin ein Arbeitsblatt mit Aufgaben der Art<br />

Z±Z, Z±E, ZE±E ohne Zehnerübergang und ZE±E mit Zehnerübergang.<br />

Dabei bereiten ihr die Ergänzungsaufgaben und die Aufgaben mit Zehnerübergang,<br />

die wir lange geübt haben, besonders große Probleme. Nach eigener Angabe<br />

rechnet Katrin einige Aufgaben zählend, weil sie die Anwendung der Zahlzerlegung<br />

nicht auf diese Aufgaben übertragen kann, die ihrer Meinung nach<br />

nichts mit dem zu tun haben, was wir in den Förderungen geübt haben.<br />

Als Katrin einmal unter den Tisch kroch ...<br />

Die Förderungen finden zunächst an einem Tisch nahe der Treppe etwas abseits<br />

der Fläche von Katrins Gruppe statt, bis Katrin im Mai 2002 plötzlich beginnt,<br />

sich unter einen Tisch zu verkriechen, wenn ich auf der Fläche erscheine. Diese<br />

Situation ist mir ziemlich peinlich. Da ich mir nicht anders zu helfen weiß, bitte<br />

ich Katrin einfach unter dem Tisch hervorzukommen und mit mir die Förderung<br />

zu beginnen. Und während ich mich an den Tisch setzte, kommt sie, wenn auch<br />

murrend und meckernd, tatsächlich zu mir.<br />

Dieses Verhalten von Katrin bringe ich in einer Projektsitzung zur Sprache. Ich<br />

erkläre, dass Katrin die Förderung peinlich zu sein scheint, da sie sich unter einem<br />

Tisch verkriecht, wenn ich auf die Fläche komme. Die Projektgruppe berät<br />

über dieses Problem und schlägt vor, dass die Betreuungslehrerin, die Mathematiklehrerin<br />

und ich mit Katrin ein Gespräch führen sollen. Dabei soll es um den<br />

Fortgang der Förderung gehen. Da die Förderstunden ziemlich anstrengend für<br />

mich sind, möchte ich dieses Problem mit Katrin thematisieren. Sie soll entscheiden,<br />

ob sie so kooperativ sein möchte bzw. kann, dass wir die Förderung entspannter<br />

weiterführen können.


Eine sperrige Förderung – Katrin und ich<br />

Wir setzen uns daraufhin mit Katrin zusammen. Katrin reagiert kaum auf unsere<br />

Vorschläge, sondern sitzt nur da und starrt auf den Tisch. Wir erfahren nur von<br />

ihr, dass sie die Förderung nicht abbrechen möchte, wie wir es ihr zur Wahl gestellt<br />

haben. Da ich schon länger vermutete, dass es ihr peinlich sein könnte vor<br />

den anderen Kindern noch mit dem 100er-Rechenrahmen arbeiten zu müssen,<br />

schlage ich Katrin vor, die Förderung an einem anderen Ort stattfinden zu lassen.<br />

Diese Idee nimmt Katrin mit einem Kopfnicken an.<br />

Später unterhalte ich mich noch einmal mit Katrin über diesen Vorfall. Dabei erzählte<br />

sie mir folgendes:<br />

„Tobi, ein Junge aus meiner Klasse hänselt immer jeden und mich hat er immer<br />

mit meinem Matheproblem gehänselt. Daher hatte ich dann keine Lust mehr,<br />

vor allen anderen Kindern auf der Fläche Mathe zu machen, und bei der Treppe<br />

wollte ich auch kein Mathe machen, weil da immer alle lang gehen konnten und<br />

ich mich dann ein bisschen geschämt habe. Deshalb bin ich unter den Tisch gekrochen.<br />

Außerdem fand ich den Rechenrahmen voll bescheuert und finde ihn<br />

auch jetzt noch bescheuert. Ich kann mit so einem Ding gar nicht rechnen, und<br />

außerdem rechnet da auch sonst keiner mehr mit.“<br />

Meiner Meinung nach nennt Katrin diese Gründe auch, um sich nicht mit der Förderung<br />

bzw. dem Fach Mathematik auseinander setzen zu müssen. Mir ist nicht<br />

klar, ob sie diese Gründe vorschiebt, weil sie bezüglich Mathematik so sehr misserfolgsorientiert<br />

ist oder ob sie nur keine Lust hat sich mit der Mathematik zu<br />

befassen.<br />

Die Förderung nach dem ‚Ortswechsel‘<br />

Seit diesem Gespräch arbeite ich mit Katrin in einem kleinen Raum. Wenn ich<br />

jetzt auf die Fläche komme, murrt Katrin zwar manchmal immer noch, dass sie<br />

keine Zeit hat, kriecht aber nicht mehr unter einen Tisch. Meistens nimmt sie<br />

gleich ihre Federmappe und kommt mit. Bei der Förderung in diesem separaten<br />

Raum, wo uns keiner sehen kann, ist Katrin viel motivierter und ehrgeiziger, die<br />

Aufgaben auch wirklich richtig zu lösen. Sie bemerkt sogar ihre eigenen Fehler<br />

und versucht sie zu berichtigen. Hin und wieder kommt es immer noch vor, dass<br />

Katrin zwischendurch unkonzentriert wird. Doch sie meckert dann nicht mehr an<br />

den Aufgaben herum, sondern sie wechselt einfach das Thema und versucht,<br />

mich in ein Gespräch zu verwickeln.<br />

Auch bei diesen Förderungen wird Katrin nach ca. 20 Minuten müde. Doch diesmal<br />

liegt es daran, dass sie konzentriert gearbeitet hat und daher lasse ich sie<br />

dann auch gerne eher gehen.<br />

Katrin im 4. Schuljahr<br />

Katrins Mathematiklehrerin erzählt mir einiges über Katrins viertes Schuljahr:<br />

„Dass Katrin Matheprobleme hat, wusste ich schon als sie kam. Sehr viel wurde<br />

durch ihre Freundin Rosi abgefangen. Rosi ist eine sehr leistungsstarke Schülerin<br />

in Mathematik und hat Katrin gerne bei den Aufgaben geholfen und ihr vieles<br />

erklärt. Natürlich kann man nicht sehen, ob bzw. inwieweit das Katrin wirklich<br />

hilft, weil man nicht weiß, wie viel sie einfach nur abschreibt und wie viel Lernzuwachs<br />

dadurch wirklich entsteht. Ich habe schon früh überlegt, wie man Kat-<br />

113


114<br />

Bianca Beyer<br />

rin besser fördern kann und sie dann ja auch im Projekt als ein Kind vorgestellt,<br />

dem eine Förderung in Mathe helfen könnte. Am Anfang hat sie schon diese üblichen<br />

Sachen mitgemacht, z. B. die Wiederholung des kleinen 1 x 1 wiederholen,<br />

aber ganz schnell zeigte sich, dass das höchstens durch Auswendiglernen<br />

geht, also ein Verständnis für die Mal-Reihen war gar nicht vorhanden. Und<br />

manchmal brach allein schon beim Addieren von 3 + 4 eine Welt für sie zusammen.<br />

Diese starke Misserfolgsorientierung ist typisch für Katrin. Immer wieder kam<br />

bei ihr vor: „Ich kann das sowieso nicht.“ Außerdem war sie sehr schnell beleidigt.<br />

Wenn sie dachte, ein Kind würde ein bisschen bevorzugt – in welcher Weise<br />

auch immer –, war das für sie gleich ein Anlass sich zu verweigern.<br />

Mit ihren zwei Freundinnen ging Katrin ebenfalls sehr launenhaft um. Mal durfte<br />

die eine neben ihr sitzen, mal verabredete sie sich mit der anderen, worunter<br />

die beiden Mädchen sehr gelitten haben.“<br />

Ergebnisse der zweiten Überprüfung<br />

Im Juli 2002 wird Katrin noch einmal im IDM überprüft. Im Folgenden ein paar<br />

Auszüge aus dem Protokoll dieser Überprüfung:<br />

Quasi-Simultane-Zahlauffassung<br />

Katrin kann fast alle Zahlen quasi-simultan auffassen.<br />

Zahlzerlegung<br />

Die Zahlzerlegung der 10 an den Händen bereitet Katrin keine Probleme. Bei<br />

der Zahlzerlegung der 10 mit verdeckten Händen nennt Katrin als Ergänzung<br />

zur 2 erst die 7 und zur 3 nennt sie zuerst die 8. Die weiteren Ergänzungen<br />

nennt Katrin schnell und richtig.


Eine sperrige Förderung – Katrin und ich<br />

Bei der Zahlzerlegung der 20 hat Katrin keine Schwierigkeiten.<br />

Die Lösung der einzelnen Aufgaben sagt sie so schnell, dass die Vermutung nahe<br />

liegt, dass sie die Zahlzerlegung bis 10 memoriert hat und nun auf die Zahlzerlegung<br />

bis 20 überträgt.<br />

Die Zahlzerlegung bis 100 beherrscht Katrin noch nicht vollständig. Besondere<br />

Schwierigkeiten hat sie, wenn mit gemischten Zehnerzahlen, die kleiner als 50<br />

sind gerechnet wird. Die Ergänzung bis 100 bei vollen Zehnerzahlen und Zahlen,<br />

die größer als 50 sind, löst sie richtig.<br />

Kopfrechnen<br />

Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 20<br />

Die Grundaufgaben des kleinen 1 + 1 hat Katrin noch nicht komplett automatisiert,<br />

d. h., dass sie manche Aufgaben noch zählend löst.<br />

Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 1000<br />

Aufgaben der Art (H)ZE + E mit Zehnerübergang im Zahlenraum bis 1000 rechnet<br />

Katrin alle mit Anwendung der Zahlzerlegung des zweiten Summanden richtig<br />

aus.<br />

Beispielaufgabe: 186 + 6 186 + 4 = 190 190 + 2 = 192<br />

Aufgaben der Art (H)ZE ± ZE mit (Hunderter- und) Zehnerübergang im Zahlenraum<br />

bis 1000 rechnet sie schrittweise und mit Anwendung der Zahlzerlegung<br />

richtig, aber nur sehr langsam aus.<br />

Wo stehen wir – Katrin und ich – jetzt?<br />

Katrin:<br />

„Ich habe mich immer darüber gefreut, wenn Bianca gekommen ist, um mit mir<br />

zu arbeiten, aber über das Fach Mathe habe ich mich nicht gefreut. Es hätte mir<br />

besser gefallen, wenn sie Deutsch oder Sport mit mir gemacht hätte, weil das<br />

meine Lieblingsfächer sind. Wie sehr ich mitmache, kommt immer darauf an, ob<br />

mir das Thema auch Spaß macht. Wenn mir das Thema keinen Spaß macht,<br />

dann habe ich auch keine Lust mitzuarbeiten.“<br />

Katrins Mathematiklehrerin:<br />

„Katrin hat sich insgesamt gut entwickelt. Sie ist in der Gruppe recht gut integriert,<br />

hat aber keine beste Freundin. Sie hat jetzt einfach Ruhe zum Lernen und<br />

kann sich vom Kopf her besser auf die Inhalte einlassen. Sie hat im Allgemeinen<br />

große Fortschritte gemacht. Das betrifft auch – allerdings in geringerem Maße –<br />

die Mathematik. Sie hat jetzt erste Erfolge und nimmt wahr, dass sie etwas leisten<br />

kann und dass das sogar Spaß macht. Daher ist ihr Selbstwertgefühl bezüglich<br />

des Lernens gewachsen.“<br />

Mein Resümee:<br />

Die anderen Kinder, mit denen ich gearbeitet hatte, waren immer motiviert und<br />

ehrgeizig in den Förderstunden und freuten sich über jedes Lob von mir. Bei Katrin<br />

traf nichts davon zu. Daher nahm ich Katrins Verhalten mir gegenüber zunächst<br />

persönlich, weshalb die Förderungen ziemlich anstrengend für mich waren.<br />

Dabei hängt Katrins Mitarbeit vom Thema ab, und sie hatte in den Förderstunden<br />

bei mir meistens keine Lust, weil sie das Fach Mathematik nicht gut findet<br />

und meine Inhalte ihr nicht gefielen.<br />

Daraus habe ich vor allem eines gelernt: Ich muss versuchen das Verhalten der<br />

115


116<br />

Bianca Beyer<br />

Kinder nicht mehr auf mich zu beziehen. Dadurch werde ich eine objektivere Perspektive<br />

einnehmen können, so dass ich die wirklichen Beweggründe der Kinder<br />

für ihr Verhalten herausfinden und ihnen entgegenkommen kann.


Brunhild Zimmer<br />

„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />

Mit diesen Worten springt Mike auf, sein Stuhl fällt um, er hüpft durch den Raum,<br />

seine Arme wedeln in der Luft. „Du kannst alle Aufgaben mit mir rechnen, nur<br />

keine Minusaufgaben“, hatte er mir noch vor einem halben Jahr kategorisch erklärt,<br />

als ich mit der Matheförderung mit ihm anfing. „Minusaufgaben kann ich<br />

nicht, überhaupt nicht, die verwirren mich! Da weiß ich gar nicht, was ich rechnen<br />

soll.“<br />

Mike ist 11 Jahre alt, Schüler des 4. Schuljahres in einer altersgemischten Gruppe<br />

3/4/5 (siehe Glossar) der Laborschule <strong>Bielefeld</strong> und hat mit mir seine ersten<br />

Minusaufgaben im Zahlenraum bis 20 erfolgreich bewältigt. Seit einigen Monaten<br />

fördere ich ihn im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprojekts „‚Ich erklär‘<br />

dir, wie ich rechne‘ – Prävention von Rechenstörungen“. Ich selbst bin nicht<br />

seine Mathematiklehrerin, unterrichte aber seine altersgemischte Gruppe mit vier<br />

Stunden im Gesamtunterricht Sprache/Projekt. Lehrerin an der Laborschule bin<br />

ich seit 1976.<br />

Mikes mathematische Entwicklung nimmt im Laufe der Schuljahre einen anderen<br />

und schwierigeren Verlauf als seine allgemeine schulische Entwicklung. Deshalb<br />

untergliedere ich meinen Bericht über Mike in drei Teile: Zunächst skizziere ich<br />

seine allgemeine schulische Entwicklung, ehe ich mich im zweiten Kapitel ausführlich<br />

seinen mathematischen Kenntnissen und meinen Fördermaßnahmen<br />

widme. Im dritten Kapitel ziehe ich ein vorläufiges Resümee.<br />

Mikes Schul- und Lerngeschichte<br />

Erstes und zweites Schuljahr (Stufe I)<br />

Mike besucht in seinem ersten Schuljahr eine Grundschule in <strong>Bielefeld</strong>. Aufgrund<br />

seiner schwachen Leistungen, vor allem in Mathematik, muss er das Schuljahr<br />

wiederholen. Bevor für ihn ein Verfahren zum sonderpädagogischen Förderbedarf<br />

eingeleitet werden kann, wird er an der Laborschule angemeldet und bekommt<br />

im April 1999 als Einer in einer altersgemischten Gruppe der Eingangsstufe einen<br />

Platz.<br />

Nach Aussagen seiner damaligen Laborschullehrerin kommt er als sehr verängstigtes<br />

und verschüchtertes Kind in die Laborschule. Er spricht kaum und hat wenig<br />

Selbstbewusstsein, er wirkt sehr kindlich und naiv. Er hat große Schwierigkeiten,<br />

Kontakt zu anderen Kindern der Gruppe aufzunehmen, und orientiert sich<br />

vor allem an den Kleineren und sucht die freundschaftliche Beziehung zu einem<br />

Vorschuljungen. Am liebsten spielt Mike Brettspiele oder baut mit Klötzen auf<br />

dem Teppich. Vor dem Toben und dem Fußballspielen anderer Kinder hat er großen<br />

Respekt, er beobachtet lieber aus sicherer Entfernung das Geschehen. Als er<br />

nach vielen Ermutigungen seiner Lehrerin zum ersten Mal seine Angst überwinden<br />

kann und beim Fußballspiel mitmacht, ist er stolz und überglücklich.<br />

Am liebsten ist Mike aber der Kontakt zu den Erwachsenen. Er redet gerne und<br />

viel und erzählt von allem, was ihn beschäftigt.<br />

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118<br />

Brunhild Zimmer<br />

Beim Arbeiten mit seinen Materialien hat er große Angst, Fehler zu machen bzw.<br />

zu versagen. Gerade in der Anfangszeit wählt er aus seinem Wochenplan vor allem<br />

Schreibübungen aus, da er sich hierbei am sichersten fühlt. Bei Rechen- und<br />

Leseübungen fragt er stets die Lehrerin um Rat. Tipps und Hilfen anderer Kinder<br />

reichen nie aus, um ihm seine Unsicherheit zu nehmen. Er sucht ständig die Bestätigung<br />

durch den Erwachsenen.<br />

Der Lernbericht seiner Betreuungslehrerin am Ende des zweiten Schuljahres dokumentiert<br />

seine Probleme:<br />

„Beim Arbeiten in den verschiedenen Übungsmaterialien bist du ein gutes<br />

Stück vorangekommen. Du hast im letzten Schuljahr schon viel mehr<br />

Selbstvertrauen bekommen. Trotzdem hast du oft alleine gearbeitet. Ich<br />

habe den Eindruck, dass du beim Arbeiten noch immer befürchtest, nicht so<br />

schnell oder weit zu sein wie andere Kinder. Auch wenn das manchmal so<br />

ist, so kannst du stolz darauf sein, wie gut du dir deine Arbeiten einteilen<br />

kannst und genau einschätzen kannst, wann du regelmäßig üben musst. ...<br />

Manche Rechenaufgaben machen dir leider immer wieder Schwierigkeiten.<br />

Viele Aufgaben bis 20 kannst du lösen, und auch bei den Zahlen im Hunderterraum<br />

kennst du dich nun schon besser aus. Es ist gut, dass du dir verschiedene<br />

Rechenhilfen holst: ob die Hundertertafel, den Zählrahmen oder<br />

die Zählbretter. Sie geben dir mehr Sicherheit und das ist gut so.“<br />

Dieser Lernbericht ist – wie in der Laborschule üblich – sehr bestärkend verfasst.<br />

Lernberichte zeigen die individuellen Fortschritte der Schüler und Schülerinnen<br />

auf und sollen Kindern Mut und Zuversicht in ihren eigenen Entwicklungsweg geben.<br />

In diesem Sinne ist auch der Lernbericht, der an Mike selbst adressiert ist,<br />

zu verstehen; für uns Pädagogen sind seine Lernschwächen jedoch deutlich herauszulesen.<br />

Da Eltern nicht unbedingt ‚zwischen den Zeilen‘ lesen können und<br />

müssen, werden Mikes Eltern in einem Gespräch mit der Betreuungslehrerin die<br />

Lernschwächen ihres Sohnes noch einmal verdeutlicht. In diesem Zusammenhang<br />

schlägt Mikes Lehrerin den Eltern vor, sich an die Beratungsstelle des ‚Instituts<br />

für Didaktik der Mathematik‘ (IDM) an der Universität <strong>Bielefeld</strong> (siehe Glossar)<br />

zu wenden, um eine genauere Diagnose seiner Rechenschwierigkeiten zu<br />

erhalten. Danach sollen geeignete schulische und private Fördermaßnahmen eingeleitet<br />

werden.<br />

Die Eltern zeigen sich hier wie auch während aller weiteren Schuljahre kooperativ.<br />

Sie sind freundlich, offen und froh, dass Mike an der Laborschule einen für<br />

ihn passenden Platz gefunden hat. Der Schule gegenüber tritt meistens die Mutter<br />

in Erscheinung. Sie ist an Elternabenden präsent, zu Eltern-Kinder-<br />

Nachmittagen erscheinen auch Mikes Vater und seine ältere Schwester, die die<br />

Schule schon abgeschlossen hat und in einem Supermarkt als Verkäuferin arbeitet.<br />

Die Eltern geben sich große Mühe bei der Erziehung und Bildung von Mike<br />

und scheuen auch keine Kosten, um zusätzliche Hilfen und therapeutische Maßnahmen<br />

einzuleiten. Mike nimmt für einige Zeit an einer motorischen Förderung<br />

teil. Hier geht es vor allem darum, seine Angst vor dem Wasser zu verlieren. In<br />

einer weiteren therapeutischen Maßnahme geht es um Verhaltensprobleme, insbesondere<br />

um das unangemessen dominante und fordernde Verhalten, das Mike<br />

(vor allem weiblichen) Erwachsenen gegenüber zeigt. Später setzt dann die außerschulische<br />

Mathematikförderung im IDM ein.


„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />

Drittes und viertes Schuljahr (Stufe II)<br />

Mike verbringt ein Jahr und zwei Monate in der Eingangsstufe der Laborschule,<br />

die normalerweise das Vorschuljahr, das erste und zweite Schuljahr umfasst.<br />

Aus Altersgründen (er ist fast 10 Jahre alt) wechselt Mike nach seinem zweiten<br />

Schuljahr im Sommer 2000 in den Jahrgang drei, obwohl er die Lernziele und die<br />

Übergangsqualifikationen für den Übergang in die Stufe II nicht erreicht hat. Gut<br />

wäre sicherlich für ihn gewesen, er hätte noch ein weiteres Jahr in der Eingangsstufe<br />

verbringen können, um seine ersten Schritte in die (schulische) Selbständigkeit<br />

zu wagen und seine Ichstärke zu festigen; doch er ist körperlich zu weit<br />

entwickelt, um mit seinen zehn Jahren noch mit den Fünf- bis Achtjährigen unterrichtet<br />

zu werden.<br />

Ich kenne Mike seit dem Stufenwechsel (mit dem Übergang vom 2. zum 3.<br />

Schuljahr) und verfolge nun seit zweieinhalb Jahren seine Lerngeschichte als<br />

Fachlehrerin.<br />

Der Wechsel in die Stufe II 1 mit seinen vielen Neuerungen – ein neues Gebäude,<br />

eine neue Lerngruppe, neue Lehrer und Lehrerinnen, dem Fachunterricht in Englisch,<br />

Werken und Sport, um nur die wichtigsten Veränderungen zu nennen – ist<br />

eine große Herausforderung für Mike. Mike kommt in die altersgemischte Gruppe<br />

3/4, die sich gerade im Aufbau befindet und in diesem Schuljahr nur 2 Jahrgänge<br />

und 15 Kinder umfasst. Erst im nächsten, seinem vierten Schuljahr, soll sie ihre<br />

volle Größe von 21 Kindern und drei Schuljahren 3/4/5 haben.<br />

Fast das gesamte dritte Schuljahr läuft Mike den Erwachsenen hinterher wie ein<br />

‚junger Hund’. Er tut das beständig, den ganzen Tag lang. Er ist dabei nicht unterwürfig<br />

und ‚klebt’ nicht, weil er etwa die körperliche Nähe sucht. Nein, er verbindet<br />

diese Nähe mit einer fordernden Haltung, die heißt „Du musst mir jetzt<br />

sofort helfen, etwas erklären, einen Bleistift organisieren“, „Du bist für mich da,<br />

für mich allein, für die anderen Kinder jedenfalls nicht.“ Dieses Verhalten von<br />

Mike ist für alle seine LehrerInnen anfänglich sehr stressig. Es bedarf einiger ‚Befreiungsschläge‘,<br />

um das zu ändern, und auch einer ganzen Reihe von Selbständigkeitsübungen<br />

(wie „Du kannst erst wieder zu mir kommen, wenn du diese<br />

Aufgabe erledigt hast“). Wir können uns unter den Bedingungen der kleinen<br />

Gruppe sehr intensiv um ihn kümmern. Für jede Art von Förderung bleibt es eine<br />

Gradwanderung: Mike muss lernen selbständig zu arbeiten und braucht gleichzeitig<br />

viel Hilfe. Hilfe annehmen und nutzen – und sich nicht von ihr abhängig machen;<br />

Förderung annehmen und nutzen – und nicht die Förderer alleine arbeiten<br />

lassen. Beides muss er üben.<br />

Soziale Kontakte zu anderen Kindern sind kaum sichtbar. Mike wird geduldet,<br />

irgendwie mitgenommen; er ist kein Außenseiter, wird nicht von der Gruppe abgelehnt<br />

– zum Glück ist es eine Gruppe mit sehr freundlichen Kindern, die ihn ab<br />

und zu auch einladen „doch endlich mal mitzumachen“. Erst später im vierten<br />

und fünften Schuljahr wird Mike zu anderen Kindern Kontakt aufnehmen, zu den<br />

jüngeren Kindern vor allem und auch zu den weniger Lernstarken.<br />

Der Ausschnitt aus dem Bericht seines Betreuungslehrers am Ende des dritten<br />

Schuljahres dokumentiert noch einmal die Anstrengung, die dieser Übergang für<br />

Mike bedeutet.<br />

„Die Gruppe orange war für dich also ziemlich neu. ... Wie das so deine Art<br />

ist, orientierst du dich immer sehr deutlich an den Erwachsenen, das heißt<br />

1 Näheres dazu siehe unter Lenzen (1986)<br />

119


120<br />

Brunhild Zimmer<br />

an mir oder einem anderen Lehrer. ... Informationen holst du dir immer „direkt<br />

von der Quelle“, das heißt von mir. Das war für mich manchmal sehr<br />

anstrengend, weil du mich unablässig irgend etwas gefragt hast. Nun bin ich<br />

aber nicht Lehrer nur für dich, sondern auch für andere Kinder. Du solltest<br />

mit den anderen Kindern viel häufiger zusammen spielen und auch regelmäßiger<br />

zusammen arbeiten.“<br />

Im vierten Schuljahr kann Mike diesen Rat beherzigen. Dabei ist die altersgemischte<br />

Gruppe für ihn von großem Vorteil sowohl im sozialen Bereich als auch in<br />

den Lernbereichen. Er orientiert sich in diesem Schuljahr vor allem an den Dreier-Mädchen<br />

und kann bei ihnen für einige Zeit die Rolle des „Großen“ einnehmen.<br />

Das tut ihm sehr gut.<br />

Im Schreiben und Lesen macht er große Fortschritte. Er kann selbständig Texte<br />

erlesen und liest Geschichten auch in der Gruppenversammlung und in der großen<br />

Versammlung aller drei altersgemischten Gruppen vor. Seine Aufgaben im<br />

Rechtschreibkurs kann er schon viel selbständiger bearbeiten, er muss nicht<br />

dauernd mehr nachfragen. Das freie Schreiben von Texten fällt ihm jedoch sehr<br />

schwer, und hier braucht er die Hilfe eines Erwachsenen.<br />

Kleine Erfolge zeigen sich auch im Mathematikbereich, hier vor allem beim Erlernen<br />

des kleinen 1 x 1 (s. u.).<br />

Auszug aus dem Lernbericht des Betreuungslehrers am Ende des 4. Schuljahres:<br />

„Lieber Mike,<br />

Du hast ein erfolgreiches Schuljahr hinter Dir. Es ist Dir gelungen, in der<br />

Gruppe häufiger auch auf andere Kinder zuzugehen, sowohl beim Spielen<br />

als auch beim Arbeiten. Überhaupt bist Du, so haben wir den Eindruck, etwas<br />

mutiger und selbstbewusster geworden. Das zeigt sich auch in fast allen<br />

Unterrichtsbereichen.<br />

Du hast auch in diesem Schuljahr ehrgeizig und meist konzentriert gearbeitet.<br />

Auf jeden Fortschritt warst Du mächtig stolz, gleich ob es nun um Fortschritte<br />

beim Schwimmen oder im Mathematikunterricht ging. Es ist sehr<br />

wichtig, dass Du solche Fortschritte spürst, auch wenn sie – wie im Bereich<br />

Mathematik – manchmal nur langsam zu erreichen waren. Wir finden es<br />

sehr gut, dass Du Dich auch bei Schwierigkeiten nicht entmutigen lässt,<br />

sondern immer am Ball bleibst.<br />

Den Gesprächen in der Gruppe bist Du auch in diesem Halbjahr meist aufmerksam<br />

gefolgt, leider hast Du Dich selbst aber nur selten zu Wort gemeldet.<br />

Du solltest versuchen, das im nächsten Schuljahr zu ändern.“<br />

Trotz aller Fortschritte, die Mike in diesem Schuljahr macht, ist der Förderbedarf<br />

im Bereich Sprache und ganz besonders im Fach Mathematik deutlich und sein<br />

Betreuungslehrer dokumentiert das auch offiziell, indem er ein Porträt (siehe<br />

Glossar) für Mike schreibt.<br />

Die Mathematikförderung<br />

Organisation der Förderung<br />

Der Mathematikunterricht ist nach wie vor die größte Herausforderung für Mike.<br />

In der Mitte des 3. Schuljahres führt die Beratungsstelle des IDM eine Leistungsanalyse<br />

zu Mikes Rechenfähigkeiten durch (‚Erstüberprüfung‘ – s. u.). Anschließend<br />

wird in Abstimmung mit den Eltern eine erste Fördermaßnahme außerhalb


„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />

der Schule mit einer Lehramtsstudentin eingeleitet.<br />

Nachdem gut ein halbes Jahr später das Forschungsvorhaben „Ich erklär’ dir, wie<br />

ich rechne, Prävention von Rechenstörungen“ zwischen der Laborschule und dem<br />

IDM anläuft, kann Mikes Förderung seit Oktober 2001 in dieses Projekt integriert<br />

werden. So erhält er neben dem regulären Mathematikunterricht eine wöchentliche<br />

Förderstunde von mir. Dies geschieht innerhalb einer doppelbetreuten Unterrichtszeit<br />

mit seinem Mathematiklehrer, der zugleich sein Betreuungslehrer ist.<br />

Mehr Kapazität steht uns leider während der Schulstunden nicht zur Verfügung.<br />

Deshalb gebe ich Mike zusätzlich seit einem halben Jahr einmal pro Woche in der<br />

Mittagspause eine halbstündige Einzelförderung. Ich löse damit die Lehramtsstudentin<br />

ab, die diese Arbeit aus studienbedingten Gründen abgeben muss. Diese<br />

weitere Förderzeit ist absolut notwendig, um den Zeitraum zwischen den einzelnen<br />

Mathematikstunden nicht zu groß werden zu lassen und um das Gelernte<br />

häufiger wiederholen zu können. Gerade für Mike, dem eine enge soziale Bindung<br />

beim Lernen hilft, ist auch die kontinuierliche Förderung bei einer Person<br />

von Vorteil.<br />

Der Beginn einer Förderstunde:<br />

Mike liebt diese halbe Stunde mit mir alleine sehr und freut sich auf diese Zeit.<br />

„Machen wir Donnerstag wieder Mathe?“, fragt er mich zwischendurch immer<br />

wieder. Ist der Donnerstag da, erinnern wir uns gegenseitig morgens an unsere<br />

gemeinsame Arbeitszeit in der Mittagspause. Dann geht Mike zum Schwimmen,<br />

anschließend zum Mittagessen. Mindestens jedes zweite Mal erscheint er nicht<br />

zum Unterricht. Ich und seine Freunde und Freundinnen sind schon darauf eingestellt,<br />

ihn suchen zu müssen, in der Mensa, auf dem Bauspielplatz, beim Tennisspielen.<br />

Aufgeregt und erhitzt vom schnellen Laufen kommt er mit den suchenden<br />

Kindern zurück. „Tut mir wirklich leid, ich hab es völlig vergessen, aber<br />

nächstes Mal denke ich bestimmt daran!“ Zu Anfang des 4. Schuljahres ist er<br />

zweimal hintereinander nicht zum Unterricht erschienen und alles Suchen war<br />

vergeblich. Der Grund: Der neue Jahrespraktikant der Gruppe bietet in der großen<br />

Pause an, Gitarre spielen zu lernen. Mike ist begeistert und verbringt von<br />

nun an seine Pausenzeiten im Musikraum, was ich nicht wusste. Musik ist seine<br />

große Leidenschaft. Er singt in zwei Chören mit, in einem Jugend- und in einem<br />

Shantychor. Mike selbst ist erschüttert über seine Vergesslichkeit und auch darüber,<br />

das er die Chance vertut, im Rechnen weitere Fortschritte zu machen. Und<br />

natürlich bin ich ärgerlich. Die Idee, ihm ein Schild um den Hals zu hängen mit<br />

der Erinnerung, lehnen wir beide als zu peinlich für ihn ab. Am nächsten Tag präsentiert<br />

er mir die Lösung seiner Mutter und ist superstolz. „Ich nehme jetzt<br />

donnerstags immer mein Handy mit. Meine Mutter ruft mich dann an, wenn es<br />

Zeit ist, dann kann ich es nicht verpasse, und ihr braucht mich nicht zu suchen.<br />

Der nächste Donnerstag ist da. Aha, Mike hat an sein Handy gedacht, alles ist in<br />

Ordnung, die Mathe-Förderstunde gesichert. Zehn Minuten bevor der Unterricht<br />

beginnt sitze ich mit meinen Kolleginnen in einer Konferenz auf der Unterrichtsfläche<br />

als ein Handy anfängt zu läuten. Wir brechen in Gelächter aus. Natürlich<br />

ist es Mike Handy. Es liegt in seinem Schulfach, und er befindet sich im Musikraum.<br />

Karina läuft los, um Mike zu holen, zum Glück wissen wir ja jetzt, wo er<br />

ist!<br />

121


Analyse der Rechenfähigkeiten<br />

122<br />

Brunhild Zimmer<br />

Es gibt eine Erst- und Zweitüberprüfung zu Mikes Rechenfähigkeiten, deren Befunde<br />

im Folgenden tabellarisch gegenübergestellt werden. Dazwischen liegt der<br />

Förderzeitraum von mehr als einem Schuljahr, der unten im Abschnitt „Arbeitsschwerpunkte<br />

und Erkenntnisse“ ausführlicher betrachtet wird.<br />

Befunde der Ersterhebung<br />

(27.02.01, Mitte 3. Schuljahr)<br />

Das Vorwärtszählen bis 20 bereitet<br />

Mike keine Probleme, rückwärts zählt<br />

er zögernd, aber korrekt.<br />

Im Zahlenraum bis 100 bewegt er sich<br />

nur bis 33 sicher. Große Schwierigkeiten<br />

bereiten ihm danach die Zehnerübergänge.<br />

So springt er beispielsweise<br />

ganze Zehnerschritte zurück und<br />

beginnt dann vorwärts zu zählen, vertauscht<br />

also die Zählrichtung. Ab 65<br />

zählt er folgendermaßen: 65, 69, 50,<br />

40, 41 ... 49, 80.<br />

Vorgänger und Nachfolger kann Mike<br />

im Zahlenraum bis 100 nennen. Als<br />

Nachfolger der 100 nennt er die Zahl<br />

„Einhundert“.<br />

Auf die Frage nach der größten Zahl,<br />

die er kenne, antwortet er mit 1000.<br />

Eine größere kann er nicht nennen.<br />

Die Nummer 7820 kann Mike nach 5<br />

Minuten nicht wiedergeben, er weiß<br />

jedoch, dass eine 2 und eine 0 vorkommen.<br />

Die Ziffern werden für ihn<br />

im Laufe der Überprüfung mehrere<br />

Male genannt. Nach 30 Minuten kann<br />

Mike nur die letzten 3 Ziffern nennen.<br />

Seine Telefonnummer kennt er.<br />

1. Zählen<br />

2. Orientierung im Zahlenraum<br />

3. Gedächtnis<br />

Befunde der Zweiterhebung<br />

(15.07.02, Ende 4. Schuljahr)<br />

Das Vorwärts- und Rückwärtszählen<br />

im Zahlenraum bis 106 fällt Mike<br />

leicht. Nach eigener Angabe kann er<br />

bis 1000 zählen. Das Vorwärtszählen<br />

ab 538 gelingt ihm jedoch nicht.<br />

Mike kann die Begriffe Vorgänger und<br />

Nachfolger nicht richtig zuordnen. Als<br />

Mike sagen soll, welche Zahl z. B. vor<br />

7 kommt, nennt er den Nachfolger.<br />

Bei der Frage, welche Zahl nach 7<br />

kommt, nennt er den Vorgänger.<br />

Mike weiß nicht, dass es unendlich<br />

viele Zahlen gibt.<br />

Mike gibt an, seine Telefonnummer zu<br />

kennen. Auf die Frage, ob er sich Zahlen<br />

gut merken kann, antwortet er mit<br />

ja. Während der folgenden Aufgabe<br />

(4807) wiederholt er flüsternd die<br />

vierstellige Ziffernfolge, allerdings mit<br />

einem Fehler: 4827. Im Verlauf der<br />

Übung sagt Mike mehrmals, dass er<br />

die Zahl vergessen hat, ohne danach<br />

gefragt worden zu sein.<br />

4. Zahldarstellung und Zahlauffassung<br />

Mike erkennt die dargestellte 7 am<br />

20er- Rechenrahmen und gibt die Begründung<br />

„Da sind 2 dazugekommen“.<br />

Ebenso bei der 16: „... und eine Rote“.<br />

Er scheint die Fünferstruktur des<br />

Rahmens zu nutzen und ist nicht auf<br />

Mike kann am 20er-Rechenrahmen<br />

problemlos Zahlen ablesen und einstellen.


das Abzählen angewiesen.<br />

Am 100er-Rechenrahmen kann Mike<br />

dargestellte Zahlen sicher erkennen.<br />

Auch das Einstellen genannter Zahlen<br />

am Rechenrahmen gelingt ihm, wobei<br />

er bei der 8 fünf mit einem Fingerstreich<br />

schiebt und die restlichen 3<br />

einzeln abzählt. Bei der 65 schiebt er<br />

6 Reihen und die restlichen 5 einzeln<br />

ab.<br />

Mike scheint schon teilweise in der<br />

Lage zu sein, die Struktur des Rechenrahmens<br />

zu nutzen.<br />

Die Quasi-Simultane Zahlauffassung<br />

gelingt Mike am 20er-Rechenrahmen<br />

Die Quasi-Simultane Zahlauffassung<br />

am 100er-Rechenrahmen wurde nicht<br />

differenzierter erhoben.<br />

Mike notiert die genannten Zahlen wie<br />

sie gesprochen werden, also bei Zahlen<br />

über 12 zuerst den Einer.<br />

Die Zahl 125 schreibt er korrekt, bei<br />

der Tausend macht er eine Null zuviel<br />

und notiert 10000.<br />

Die kardinale Invarianz wurde nicht<br />

erhoben.<br />

„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />

5. Quasi-Simultane Zahlauffassung<br />

6. Zahlendiktat<br />

7. Kardinale Invarianz (Piaget)<br />

Mike weiß, dass der 100er-<br />

Rechenrahmen 100 Perlen besitzt.<br />

Beim Einstellen der 65 macht er einen<br />

±10 Fehler. Er stellt 75 ein. Durch die<br />

Nachfrage, wie viele Zehner eingestellt<br />

sind, bemerkt er seinen Fehler und<br />

korrigiert ihn. Alle anderen genannten<br />

Zahlen liest er richtig ab bzw. stellt sie<br />

richtig ein.<br />

Bei der Quasi-Simultanen Zahlauffassung<br />

am 20er Rechenrahmen fasst<br />

Mike alle Zahlen sofort richtig auf.<br />

Die Quasi-Simultane Zahlauffassung<br />

am 100er-Rechenrahmen fällt Mike<br />

schwer. Die Zahl 77 erkennt er nicht<br />

sofort. Als die 77 gezeigt wird, macht<br />

er einen Zahlendreher. Er sagt zuerst<br />

37, dann 73. Nachdem die 77 zum<br />

zweiten Mal gezeigt wurde, sagt er<br />

wieder 73. Daraufhin soll er die Zahl<br />

vom 100er-Rechenrahmen ablesen. Er<br />

macht dabei einen ±1-Fehler, in dem<br />

er 76 statt 77 abliest.<br />

Beim Zahlendiktat notiert Mike statt<br />

der genannten 34 die 43 und danach<br />

statt der 43 die 34, ohne seinen Fehler<br />

zu bemerken. Beim Lesen der Zahlen<br />

macht er keine Zahlendreher, und am<br />

Ende des Zahlendiktats notiert er die<br />

noch einmal diktierte 43 richtig. Alle<br />

anderen genannten Zahlen im Zahlenraum<br />

bis 1000 schreibt Mike richtig<br />

auf.<br />

Zwei Reihen mit Plättchen liegen vor<br />

Mike. Nachdem eine der Reihen weiter<br />

auseinander geschoben und er gefragt<br />

wurde, wo mehr sind, zeigt Mike auf<br />

die ausgebreitete Plättchenreihe. Er<br />

sagt, dass das mehr sind, weil die weiter<br />

auseinander sind. Auf die Frage, ob<br />

es auch mehr Plättchen sind, antwortet<br />

er mit nein.<br />

Nachdem eine Reihe zusammengeschoben<br />

wurde, antwortet er genauso<br />

123


Die Zuordnung der Begriffe rechts und<br />

links gelingt Mike am eigenen Körper.<br />

Am Gegenüber kann er die Begriffe<br />

nicht immer richtig zuordnen.<br />

Die Aufgabe 6 + 6 zählt Mike an den<br />

Fingern ab. Dabei zählt er korrekt bis<br />

zum Finger der zweiten Hand, nennt<br />

aber als Ergebnis die 11. Auch andere<br />

Aufgaben im Zahlenraum bis 20 versucht<br />

er, mit Hilfe der Finger zu lösen.<br />

Bei der Aufgabe 2 + 7 = zählt er richtig<br />

(9 Finger), liest aber falsch 14, d. h.<br />

eine Hand mehr ab.<br />

Subtraktionsaufgaben bis 20 löst Mike<br />

ebenfalls zählend.<br />

Das Kopfrechnen im Zahlenraum bis<br />

100 bereitet Mike Schwierigkeiten und<br />

auch mit einem Hilfsmittel (der Hundertertafel)<br />

kann Mike nicht immer<br />

richtige Lösungen liefern. Er löst auch<br />

124<br />

Brunhild Zimmer<br />

8. Links-Rechts-Unterscheidung<br />

9. Kopfrechnen<br />

wie bei der ersten Aufgabe auf die<br />

Frage, wo mehr sind. Die Frage, ob<br />

die Anzahl noch dieselbe ist, beantwortet<br />

Mike mit ja.<br />

Er hat somit die Invarianz der Anzahl<br />

verinnerlicht.<br />

Mike kann links und rechts sicher am<br />

eigenen Körper, am Gegenüber und an<br />

der Gliederpuppe unterscheiden.<br />

Die Verdoppelungsaufgaben löst Mike,<br />

indem er die 1 x 1-Reihe mit 2 nutzt.<br />

Bei ZE + E ohne Zehnerübergang nutzt<br />

er nach eigener Angabe die Analogieaufgaben.<br />

Einige Aufgaben der Art E + E mit<br />

Zehnerübergang löst Mike zählend.<br />

Nach eigener Angabe weiß Mike, dass<br />

er den ersten Summanden bis zur 10<br />

auffüllen und den Rest des zweiten<br />

dann dazuaddieren muss. Er weiß jedoch<br />

nicht mehr, warum man so rechnet.<br />

Nachdem er einige Aufgaben der Art Z<br />

+ E problemlos gerechnet hat, fällt es<br />

ihm leichter E + E mit Zehnerübergang<br />

unter Anwendung der Zahlzerlegung<br />

zu rechnen.<br />

Nachdem die erste Aufgabe (8 – 4)<br />

genannt wurde, sagt Mike sofort, dass<br />

er Minus nicht rechnen kann. Dann<br />

begründet er die Aufgabe 8 – 4 = 4<br />

zweimal mit 8 – 8 = 4.<br />

Die Aufgaben 10 – 3, 10 – 5 und 17 –<br />

10 kann er problemlos ausrechnen.<br />

Bei der Addition im Zahlenraum bis<br />

100 sind Aufgaben der Art Z + E und Z<br />

+ Z sind für Mike kein Problem. ZE + E<br />

ohne Zehnerübergang löst er zählend,<br />

wahrscheinlich ebenso die Aufgabe 29<br />

+ 5, bei der er einen ±1 Fehler macht<br />

und 35 erhält.<br />

Bei der Aufgabe 80 – 30 = 50 hat Mike<br />

nach eigener Angabe gezählt. 47 – 5<br />

kann er nicht lösen.


hier die Aufgabe zählend. Einige Aufgaben<br />

wie 19 + 6 = 25 rechnet er korrekt.<br />

Die Begriffe „das Doppelte“ und „die<br />

Hälfte“ kann Mike nicht immer richtig<br />

anwenden.<br />

„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />

10. Halbschriftliches und schriftliches Rechnen<br />

Die Aufgabe 43 + 26 = 76 löst Mike<br />

wie folgt: 4 + 2 = 6 (die Zehnerstellen),<br />

er notiert diese jedoch an der<br />

Einerstelle im Ergebnis. Dann notiert<br />

er eine 7 an der Zehnerstelle, da „sieben<br />

einer mehr als sechs“ ist (er wählt<br />

dabei die Einerstelle eines beliebigen<br />

Summanden; später bei der Subtraktionsaufgabe<br />

zieht er dann eins ab).<br />

Diese Methode behält er auch bei weiteren<br />

Aufgaben bei:<br />

• 27 + 35 = 85 (2 + 3 = 5 notiert an<br />

der Einerstelle; und „acht ist einer<br />

mehr als sieben“);<br />

• 82 – 36 = 55 (8 – 3 = 5 notiert an der<br />

Einerstelle; und „fünf ist einer weniger<br />

als sechs“).<br />

Eine andere „Strategie“ des halbschriftlichen<br />

Rechnens scheint ihm<br />

nicht zur Verfügung zu stehen.<br />

Schriftliche Rechenverfahren kennt<br />

Mike nicht.<br />

Bei der Zahlzerlegung der 10 an den<br />

Händen gelingt es Mike nicht immer,<br />

die richtige Reihenfolge (von links<br />

nach rechts) einzuhalten. Er kommt<br />

immer zu einem richtigen Ergebnis.<br />

Mit abgedeckten Fingern kommt er<br />

manchmal auf die Gesamtsumme 11,<br />

z. B. 3, 8.<br />

Die Zerlegung bis zur 20 gelingt Mike<br />

größtenteils korrekt.<br />

Mike findet sich ohne Probleme auf der<br />

Hundertertafel zurecht, sodass er auch<br />

abgedeckte Zahlen richtig benennen<br />

kann. Es scheint allerdings so, als<br />

11. Zahlzerlegung<br />

12. Hundertertafel<br />

Das halbschriftliche und schriftliche<br />

Rechnen wurde nicht erhoben.<br />

Die Zahlzerlegung der 10 ist für Mike<br />

kein Problem.<br />

Mike kann die genannten Zahlen (4,<br />

12, 19, 0, 9) richtig bis zur 20 ergänzen.<br />

Er macht nur einen Fehler, in<br />

dem er als Ergänzung zur 17 die 13<br />

nennt. Er bemerkt und verbessert seinen<br />

Fehler sofort.<br />

Die Zahlzerlegung der 50 kann Mike<br />

nicht (41 : 11; 48 : 12; 49 : 11; 20 :<br />

18).<br />

Mike findet sofort alle genannten Zahlen<br />

auf der Hundertertafel. Auch die<br />

Zahl vor der 90 und die verdeckte 57<br />

zeigt er richtig. Als die Felder mit 55,<br />

125


könne er ihre Struktur zum Rechnen<br />

nicht nutzen.<br />

Während der Arbeitsphase mit der<br />

Hundertertafel unterläuft ihm allerdings<br />

ein Zahlendreher, er deutet auf<br />

das Feld, das der 45 entspricht und<br />

nennt die Zahl 54. Hieraus lässt sich<br />

schließen, dass Mike noch auf das<br />

Schriftbild einer Zahl angewiesen ist,<br />

um diese sicher zu benennen.<br />

Auch auf der leeren Hundertertafel<br />

findet sich Mike gut zurecht.<br />

Auf die Bitte, ein Bild zur Zahl drei zu<br />

malen, notiert Mike die Aufgabe 3 + 4<br />

= 7, auf die Frage, ob das auch anders<br />

gehe, notiert er die Tauschaufgabe 4 +<br />

3.<br />

Eine Subtraktionsaufgabe beschreibt<br />

Mike mit: „Da muss man was abziehen“.<br />

Auf die Bitte, eine Multiplikationsaufgabe<br />

darzustellen, sagt er die Reihe<br />

auf.<br />

Ein Zahl- und Operationsverständnis<br />

scheint bei Mike nicht vorhanden zu<br />

sein.<br />

Stell dir vor Peter hat 7 Kuscheltiere<br />

und du hast 5. Wieviel Kuscheltiere<br />

hat Peter mehr als du?<br />

Wieviel Kuscheltiere musst du noch<br />

bekommen, damit du genau so viele<br />

hast wie Peter?<br />

Bei der Frage nach mehr, nennt Mike<br />

die Anzahl der meisten Kuscheltiere,<br />

also 7. Auf die zweite Frage mit der<br />

Handlungsanweisung kann er keine<br />

Lösung finden.<br />

Mike schätzt seine eigene Größe auf<br />

1,60 m, die Höhe der Tür auf 38,1 cm.<br />

Auf die Bitte, einen 1 cm langen Strich<br />

zu malen, zeichnet er einen Strich mit<br />

ca. 11 cm Länge, ein 3 cm langer<br />

126<br />

Brunhild Zimmer<br />

13. Zahl- und Operationsverständnis<br />

14. Rechengeschichten<br />

15. Größenvorstellung<br />

56, 57, 46 und 66 mit Plättchen verdeckt<br />

sind, erkennt er die 56, in dem<br />

er sich – nach eigener Angabe – an der<br />

54 orientiert.<br />

Die Zielfelder der Wege auf der Hundertertafel<br />

kann Mike problemlos finden.<br />

Auch auf der leeren Hundertertafel<br />

findet Mike alle genannten Zahlen sofort.<br />

Nur bei der 65 macht er einen<br />

±10 Fehler, in dem er auf die 55 tippt.<br />

Die 3 stellt Mike dar, in dem er 3 Kreise,<br />

3 Vierecke und 3 Dreiecke nebeneinander<br />

aufzeichnet. Um die Aufgabe<br />

3 + 4 darzustellen, malt er 3 Kreise<br />

und 4 Dreiecke mit einem Pluszeichen<br />

dazwischen. Dahinter zeichnet er ein<br />

Gleichheitszeichen und 7 Vierecke. D.<br />

h. er hat zwei verschiedene Zeichen<br />

zu einem dritten Zeichen zusammengefasst.<br />

Bei der Multiplikationsaufgabe<br />

2·3 geht er genauso vor. Als Ergebnis<br />

der Multiplikation von 2 Dreiecken und<br />

3 Kreisen erhält er 5 Vierecke. Außerdem<br />

addiert er, anstatt zu multiplizieren.<br />

Tom hat 7 Äpfel und Nina hat 4.<br />

Auf die Frage, wie viele Äpfel hat Tom<br />

mehr, antwortet Mike 7.<br />

Die Frage, wie viele Äpfel muss Nina<br />

noch bekommen, damit sie genauso<br />

viele hat, wie Tom, beantwortet er<br />

richtig mit 3.<br />

Auf die Kapitänsaufgabe (siehe letzte<br />

Anekdote) fällt Mike herein. Auch auf<br />

die Nachfrage, ob der Kapitän wirklich<br />

so alt ist wie die Anzahl seiner Tiere,<br />

antwortet er mit ja. Er ist auch überzeugt<br />

davon, dass der Kapitän 2 Jahre<br />

jünger wird, wenn 2 Schafe über Bord<br />

gehen.<br />

Mike kann seine Größe nicht angeben.<br />

Die Höhe der Tür schätzt er auf 2 m.<br />

Um zu zeigen, wie groß 1 m ist, zeigt<br />

Mike auf ein Blatt Papier in Hochformat.<br />

Sein 1 cm und sein 10 cm langer


Strich fällt bei ihm im Vergleich dazu<br />

nur etwas kürzer aus: ungefähr 10<br />

cm.<br />

Eine Kugel Eis kostet seiner Meinung<br />

nach 1 DM. Den Wert des Fahrrads<br />

schätzt er auf 100 DM.<br />

„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />

Strich sind fast gleich lang.<br />

Als Preis für eine Kugel Eis nennt Mike<br />

1 Euro. Den Preis für ein Brötchen<br />

schätzt er auf 45 Cent.<br />

16. Würfelbauwerke (Raumvorstellung)<br />

Die 2-dimensionale Abbildung eines<br />

Würfels bezeichnet Mike zunächst als<br />

Viereck. Die Anzahl der Würfel einer<br />

2-dimensionalen Anordnung kann Mike<br />

korrekt bestimmen. Eine 3-dimensionale<br />

Anordnung mit verdeckten Würfeln<br />

kann er auch richtig deuten und<br />

gibt als Erklärung ab, dass der obere<br />

Würfel nicht schweben könne. Die Anzahl<br />

bestimmt er korrekt durch Abzählen.<br />

Bei einer komplexeren Anordnung<br />

kann er die Würfelanzahl jedoch<br />

nicht korrekt bestimmen. Die Gebäude<br />

werden von Mike richtig nachgebaut.<br />

Wenn Mike beim Zählen der Würfel<br />

von den 2-dimensionalen Darstellungen<br />

der 3-dimensionalen Würfelbauwerke<br />

mit dem Finger auf die Zeichnungen<br />

tippt, nennt er die richtigen<br />

Anzahlen der benötigten Würfel. Wenn<br />

er nur mit den Augen zählt, verzählt<br />

er sich.<br />

Das Nachbauen der Würfelbauwerke<br />

ist für Mike kein Problem. Er kann<br />

auch Würfel, die ihm auf der Darstellung<br />

gezeigt werden, an seinem Bauwerk<br />

wiederfinden und umgekehrt.<br />

Folgende zwei Hauptstörungen werden beim Befund der Ersterhebung bei Mike<br />

festgestellt und entsprechende Fördermaßnahmen vorgeschlagen.<br />

Der erste Befund zeigt, dass Mikes grundsätzlichen Probleme beim Rechnen im<br />

Zahlenraum bis 20 liegen. Er ist bei der Lösung von Additions- und Subtraktionsaufgaben<br />

auf ein zählendes Rechnen an seinen Fingern angewiesen und hat die<br />

Zahlzerlegung bis 10 noch nicht automatisiert. Besondere Schwierigkeiten hat<br />

Mike mit der Subtraktion.<br />

Vorgesehene Fördermaßnahmen:<br />

In einer Förderung soll ein Schwerpunkt auf der Ablösung von diesem Verfahren<br />

und der Erarbeitung sinnvoller Rechenstrategien liegen. Die Aufgaben des kleinen<br />

1 + 1 sollen von Mike automatisiert werden.<br />

Im Zahlenraum über 20 häufen sich die Probleme von Mike. Er verfügt über keine<br />

gesicherten Vorstellungen über den dezimalen Aufbau der Zahlen im Zahlenraum<br />

bis 100; der Zahlenraum über 100 ist ihm praktisch unbekannt.<br />

Vorgesehene Fördermaßnahmen:<br />

Der Zahlenraum bis 100 muss weiter gefestigt werden, damit Mike sich sicher in<br />

diesem orientieren kann. Hierbei soll auch besonders das Rückwärtszählen geübt<br />

werden, da er bei den Subtraktionsaufgaben noch große Schwierigkeiten hat.<br />

Aufgaben im Zahlenraum bis 100 müssen mit Mike mit Hilfe von Material (100er-<br />

Rechenrahmen) erarbeitet werden, um ihm sinnvolle Strategien näherzubringen,<br />

aber auch um ihn weiterhin zu ermutigen, Strukturen zu nutzen.<br />

Hierbei können mit ihm auch die halbschriftlichen Rechenverfahren thematisiert<br />

werden, da ihm z. Zt. kein sinnvolles zur Verfügung steht.<br />

Außerdem muss während einer Förderung darauf geachtet werden, dass Mike<br />

keine Zahlendreher produziert und wenn doch, dass diese mit ihm besprochen<br />

werden. Mikes noch unsichere Rechts-Links-Orientierung kann im Zusammenhang<br />

mit anderen geometrischen Fragestellungen gefördert werden, da er mit<br />

127


128<br />

Brunhild Zimmer<br />

diesen gut zurecht kommt und nach Aussage seiner Mutter auch Spaß daran hat.<br />

Mit Text- und Sachaufgaben scheint Mike Probleme zu haben, daher scheint es<br />

sinnvoll, mit ihm ‚bedeutungsvolle‘ Aufgaben zu bearbeiten, also Themen anzusprechen,<br />

die für ihn wichtig sind.<br />

Weiterhin sollen mit ihm Längen und Geldwerte besprochen werden, um eine<br />

Größenvorstellung zu fördern.<br />

Da Mike ein wissbegieriges Kind zu sein scheint, ist eine Förderung sinnvoll und<br />

in Anbetracht der vorliegenden Defizite auch nötig.<br />

Arbeitsschwerpunkte und Erkenntnisse<br />

Als ich mit Mike im Oktober 2001 (Anfang seines 4. Schuljahres) während des<br />

regulären Mathematikunterrichts die Rechenförderung beginne, ist die Zahlzerlegung<br />

bis 10 und bis 20 noch nicht automatisiert, sie ist noch fehleranfällig, z. T.<br />

erfolgt sie durch zählendes Rechnen im Kopf.<br />

Mit seinem Mathematiklehrer treffe ich anknüpfend an die Befunde der Erstüberprüfung<br />

die Absprache, dass ich mit Mike vor allem den Zehnerübergang übe<br />

(Zahlenraum bis 20) und darüber hinaus die Orientierung im Hunderter- und<br />

Tausenderraum vornehme und in diesen Bereichen einfache Additions- und Subtraktionsaufgaben<br />

mit ihm rechne. Dies sind die Arbeitsschwerpunkte für meine<br />

Förderzeit mit Mike.<br />

Im regulären Matheunterricht wiederholt Mike – wie alle anderen Kinder – Aufgaben<br />

des kleinen 1 x 1 und Aufgaben, die sich aus meinem Förderunterricht ergeben.<br />

Zu diesem Zeitpunkt hat er noch seine wöchentliche Förderstunde bei der Lehramtsstudentin,<br />

die ihn vor allem bei den 1 x 1 Aufgaben unterstützt und auch<br />

den Zehnerübergang mit ihm übt.<br />

An zwei Beispielen möchte ich meinen Förderunterricht mit Mike genauer darstellen:<br />

• Kopfrechnen und Zahlzerlegung<br />

• Hundertertafel und Tausenderraum.<br />

Sowohl der Tausenderraum als auch das kleine 1 x 1 spielen in der Erstüberprüfung<br />

keine Rolle, da diese Inhalte Mike noch nicht zur Verfügung stehen. Sie sind<br />

aber im dritten und vierten Schuljahr zentrale Themen des Mathematikunterrichts,<br />

die in der altersgemischten Gruppe von den meisten Kindern bearbeitet<br />

werden und deshalb auch für Mike von Wichtigkeit sind.<br />

Kopfrechnen und Zahlzerlegung<br />

Die Zahlzerlegung bis 10 und anschließend bis 20 erarbeite ich mit Mike an den<br />

Händen mit der „10-Finger-auf-den-Tisch-Übung“ (vgl. dazu Aufgabenformat 1.1<br />

im Beitrag von Schipper in diesem Heft, S. 37) und festige sie am 20er-<br />

Rechenrahmen. Mike kann schnell die Ergänzungspaare zum Zehner und auch<br />

zum Zwanziger benennen, das hat er lange mit der Lehramtsstudentin geübt.<br />

Werden seine Hände – als Abstraktionsschritt – von einem Tuch bedeckt und ich<br />

nenne ihm nur noch eins der Zahlenpaare, gelingt ihm die Zerlegung bis 10.<br />

Die Zahlzerlegungspaare bis 20 zu benennen, fällt ihm deutlich schwerer, und es<br />

unterlaufen ihm häufiger +1 Fehler, da ich seine Zählstrategien (manchmal<br />

durch Bewegung der Finger, manchmal durch nickendes Weiterzählen mit dem<br />

Kopf) untersage.<br />

Aufgaben mit Zehnerüberschreitung sind zum Zeitpunkt meiner ersten Förder-


„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />

stunden ohne zählendes Rechnen für Mike nicht lösbar. Er weiß aber bereits,<br />

dass er sich von dieser Zählstrategie verabschieden muss und akzeptiert mein<br />

„Stopp“, wenn er es doch mal wieder probiert. Für die Zehnerüberschreitung<br />

nimmt Mike den 20er-Rechenrahmen zu Hilfe. Er kennt die Fünferstruktur des<br />

Rechenrahmens und schiebt die Zahl 7 mit 5 und 2. Am Rechenrahmen übe ich<br />

mit ihm die Strategie des schrittweisen Rechnens. Auch diese Strategie ist ihm<br />

zu diesem Zeitpunkt bekannt, er kann sie jedoch nicht alleine am Rechenrahmen<br />

ausführen. Bei der Aufgabe 7 + 4 = schiebt er zunächst die 7 und weiß dann nicht<br />

weiter. Erst die Frage „Welche Zahl stellst du als zweite ein?“ hilft ihm dazu, zunächst<br />

die 3 und dann die 1 am Rechenrahmen zu schieben und das Ergebnis 11<br />

abzulesen. Die Aufgabe 8 + 6<br />

löst er 8 + 2 + 2 + 2.<br />

Mike ist in diesen ersten Förderstunden<br />

höchst motiviert<br />

und begibt sich mit guter<br />

Laune an die Aufgaben.<br />

Schwierig wird für ihn der<br />

Moment, wenn er sich vom<br />

Material lösen und die Additionsaufgaben<br />

nur noch gedanklich<br />

in Schritten vollziehen<br />

soll (vgl. Aufgabenformat<br />

1.2 im Beitrag von Schipper<br />

in diesem Heft, S. 37). Hierbei<br />

kann er mir zunächst die<br />

Zahlergänzungen zum Zehner<br />

und darüber hinaus nennen,<br />

und ich schiebe sichtbar für<br />

ihn die Perlen auf dem Rechenrahmen.<br />

Als nächsten<br />

Abstraktionsschritt verbinde<br />

ich ihm die Augen, und er<br />

muss mir die Aufgabe schrittweise<br />

diktieren. Dann gilt es,<br />

die Aufgabe nur noch im Kopf<br />

zu lösen. Oft beginnt spätestens<br />

hier seine Konzentration<br />

nachzulassen, der Rechenweg<br />

wird mühsamer und er versucht<br />

den nächsten Aufgaben durch vielerlei Ablenkungsstrategien zu entweichen.<br />

Er hat Durst und muss sich Wasser holen, es ist zu warm im Raum und das<br />

Fenster muss geöffnet werden, das Bein schläft ein, der Stift muss angespitzt<br />

werden, der Ablenkungen gibt es ganz viele! Aber immer wieder freut sich Mike<br />

auch, wenn er dann doch die nächste Aufgabe geschafft und das Ergebnis beim<br />

ersten oder zweiten Anlauf richtig ist. Manchmal will ich ihm eine Minusaufgabe<br />

stellen, aber dann springt er empört auf und ruft „Bitte nicht, dass ist viel zu<br />

schwierig für mich!“ Ich denke dasselbe und begnüge mich zunächst mit den Additionsaufgaben.<br />

In vielen vielen Stunden übe ich nun immer zu Beginn die Zahlzerlegung bis 10<br />

und 20 und das schrittweise Rechnen am Material. Das Klappenspiel (vgl. Beitrag<br />

129


130<br />

Brunhild Zimmer<br />

von Beyer in diesem Heft, S. 111) lockert die immer wiederkehrende Übungsform<br />

auf. Wenn ich am Ende einer Stunde manchmal die Hoffnung hege und<br />

denke „Es ist geschafft, Mike braucht das Material nicht mehr“, werde ich zu Beginn<br />

der nächsten Förderstunde in seine Rechenrealität zurückgeholt. In jeder<br />

Mathematikstunde wird Mikes Geduld neu herausgefordert, immer wieder muss<br />

er sich mit dem schrittweisen Rechnen jede Plus- und Minusaufgabe erarbeiten.<br />

Dass er sich diesen Anforderungen in allen Förderstunden mit neuem Mut und<br />

guter Laune stellt, ruft meine Bewunderung hervor und macht das Arbeiten mit<br />

ihm leicht. Meine Geduld wird, so scheint mir, manchmal mehr ‚strapaziert‘ als<br />

seine, denn auch nach häufigen Üben kann Mike nur wenige Zahlensätze des<br />

kleinen 1 + 1 im Zahlenraum bis 20 auswendig, auch nicht, nachdem er sie aufgeschrieben<br />

und auswendig zu lernen versucht hat. Aber er bekommt allmählich<br />

eine größere Sicherheit und Schnelligkeit und kann schließlich jeden Zehnerübergang<br />

bis 20 mit Hilfe des schrittweisen Rechnens bewältigen.<br />

Rechnen im Hunderter- und Tausenderraum<br />

Die Hundertertafel und den 100er Rechenrahmen kennt Mike, und er freut sich<br />

jedesmal aufs Neue, wenn wir den Zahlenraum bis 20 verlassen. In den ersten<br />

Förderstunden ‚quäle‘ ich ihn nämlich nicht mit dem Zehnerübergang von Additionsaufgaben<br />

wie ZE + E, denn Analogien zu erkennen fällt Mike grundsätzlich<br />

schwer. Hat er die Aufgabe 7 + 4 gelöst und das Ergebnis benannt, wendet er bei<br />

der Aufgabe 7 + 5 wieder das schrittweise Rechnen an. Der ihm nahegebrachte<br />

Vorschlag, dann doch einfach nur noch eine Perle mehr auf dem Rechenrahmen<br />

zu schieben, löst zwar anerkennende Begeisterungsrufe ob dieser einfachen Strategie<br />

aus, ist aber erst nach vielen Übungen für ihn alleine nachvollziehbar. So<br />

kann er auch nach der gelösten Aufgabe 7 + 4 nicht die Analogie zu 47 + 4 erkennen.<br />

Also sind unsere ersten Übungen, die Hundertertafel zu erforschen: Vorgänger<br />

und Nachfolger zu bestimmen, vorwärts und rückwärts mit und ohne Tafel<br />

zu zählen und die Ziffern verdeckter Felder zu benennen. Dann gehen wir<br />

langsam zu schwereren Aufgaben über. Rechenwege wie „Du stehst auf der 45,<br />

du gehst zwei Kästchen nach unten und drei nach rechts, bei welcher Zahl<br />

kommst du an?“ werden zunächst mit Spielsteinen gesetzt, dann nur noch mit<br />

den Augen verfolgt und später soll Mike sich solche Rechenwege nur noch mental<br />

vorstellen.<br />

Mike liebt es, Zahlendiktate (siehe Glossar) zu schreiben. Nachdem er mit Hilfe<br />

von Taschenrechnerdiktaten gelernt hat, erst den Zehner und dann den Einer zu<br />

schreiben, gelingt ihm die richtige Ziffernschreibweise auch im Tausenderraum.<br />

Ebenso gerne legt er mit den Mehrsystem-Blöcken (siehe Glossar) ‚große‘ Zahlen<br />

wie 385 oder 704. Erst legt er sie auf dem Tisch, dann auf eine laminierte Stellenwerttafel<br />

und überträgt schließlich diese Tafel in sein Heft. Mit den Mehrsystem-Blöcken<br />

lege ich auch Analogieaufgaben wie 9 + 4, 39 + 4, 340 + 90 und wir<br />

rechnen sie gemeinsam. Ähnliche Aufgaben schreibe ich in sein Heft. Die erste<br />

Aufgabe rechnet Mike im Kopf, die zweite mit der Rechenmaschine, die dritte mit<br />

den Blöcken. In den nächsten Wochen arbeiten wir viel mit der Hundertertafel,<br />

dem Hunderter-Punktefeld, den Mehrsystem-Blöcken und auch mit dem Zahlenstrahl.<br />

Und immer wieder übe ich den Zehnerübergang bei einfachen Additionsaufgaben.<br />

Halbschriftliche Rechenverfahren übe ich mit Mike nicht, da sie mir zu fehleranfällig<br />

scheinen. Hier ein Beispiel wie er versucht, die Aufgabe 58 + 37 zu lösen:


„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />

Mike addiert die 5 und die 3 und<br />

schreibt die 8 an die Einerstelle.<br />

Dann addiert er die 7 und die 8<br />

und mit dem Ergebnis der 15<br />

rahmt er die 8 ein. Die 1 ist ihm<br />

wahrscheinlich als Übertrag aus<br />

der schriftlichen Addition in Erinnerung<br />

geblieben. Beim zweiten<br />

Versuch (durchgestrichene Zahlen)<br />

Hier versucht er, bis zum nächsten<br />

Zehner zu rechnen, und bricht<br />

dann die Rechenaufgabe ab. Der<br />

nächste Versuch zeigt dann seine<br />

totale Verwirrung. Eine Rechenstrategie<br />

ist nicht mehr auszumachen.<br />

Mein Tipp geht an ihn, es mit der<br />

schriftlichen Addition zu probieren,<br />

die er eigentlich kennt. Festgelegt<br />

durch sein erstes Ergebnis notiert<br />

er die 1 des Zehnerübertrags an<br />

die Hunderterstelle. Meine aufgezeichnete<br />

Stellenwerttafel gibt ihm<br />

die nötige Struktur, die Aufgabe<br />

richtig lösen zu können.<br />

Die Verfahren der schriftlichen Addition mit Zehnerüberschreitung und der<br />

schriftlichen Division ohne Zehnerüberschreitung hat Mike schnell gelernt und ist<br />

darüber sehr glücklich. Für ihn ist es das geeignete mathematische Rechenverfahren<br />

für Aufgaben ZE + ZE und HZE + HZE. Die obige Aufgabe zeigt, dass die<br />

Schreibweise der zu addierenden Zahlen nebeneinander und nicht untereinander<br />

die Verwirrung bei ihm ausgelöst hat.<br />

Mike hat eine Tausendertafel. Diese hat er selbst mit einigen Kindern aus der<br />

Gruppe gebastelt. Wenn er Minusaufgaben im Zahlenraum bis Hundert oder Tausend<br />

rechnen will, benutzt er sie. Seine Freude darüber, dass er Minusaufgaben<br />

rechnen kann, beziehen sich auf den Zahlenraum bis Hundert ohne Zehnerüberschreitung,<br />

aber das ist ja ein Anfang!<br />

Fazit und künftige Förderschwerpunkte<br />

Trotz der großen Schwierigkeiten, den Zehnerübergang zu automatisieren, hat<br />

Mike viel dazugelernt und einige Fortschritte gemacht. Er ist selbstsicherer und<br />

schneller geworden in der Anwendung bestimmter Rechenstrategien und Lösungshilfen,<br />

und er überblickt einen für ihn sehr großen Zahlenraum bis 1000 mit<br />

Hilfe der Tausendertafel.<br />

Große Probleme hat Mike – und wird sie wahrscheinlich immer haben – mit der<br />

Merkfähigkeit für Zahlen. Gelernte und immer wieder geübte Rechenwege kann<br />

er memorisieren, er kann jedoch nicht alle Grundaufgaben des kleinen 1 + 1 behalten<br />

und automatisieren. Er kennt jedoch alle Verdoppelungsaufgaben bis 20<br />

auswendig und löst sie über die Malaufgabe. Er kann sich beispielsweise auch<br />

131


132<br />

Brunhild Zimmer<br />

nicht eine genannte und immer wiederholte Ziffernfolge über eine Stunde hinweg<br />

merken, seine eigene Telefonnummer kennt er jedoch auswendig. Erstaunlich ist,<br />

dass er die Einmaleinsreihen und -aufgaben über einen langen Zeitraum erinnern<br />

kann und diese auch, nachdem die Reihen nur noch lückenhaft in seinem Gedächtnis<br />

vorhanden sind, relativ schnell wieder lernen kann. Das kleine 1 x 1 ist<br />

wohl übersichtlicher in seiner Struktur und in sich abgeschlossener als die Aufgaben<br />

des kleinen 1 + 1 und deshalb für Mike leichter lernbar.<br />

Wir Erwachsenen müssen außerdem darauf achten, dass der Aufgabentyp in einer<br />

Stunde für Mike nicht so häufig wechselt, denn Aufgabenwechsel verwirren<br />

ihn. Für ihn ist es gut, nur ganz wenige Rechenverfahren zu kennen und diese<br />

dann auch beherrschen zu lernen, wie das obige Beispiel der schriftlichen Addition<br />

zeigt.<br />

Nach wie vor bleiben die bisherigen Arbeitsschwerpunkte bestehen. Wichtig finde<br />

ich, dass Mike sich im Zahlenraum bis 100 und auch bis 1000 bewegen kann,<br />

auch wenn ihm das meistens nur mit den entsprechenden Hilfsmitteln gelingt. So<br />

kann er zumindest teilweise dem allgemeinen Mathematikunterricht folgen und<br />

erfährt nicht das Gefühl der Stagnation.<br />

Anzustreben ist die Materialunabhängigkeit und Versuche werde ich immer wieder<br />

machen, aber die Erfahrung bis jetzt hat gezeigt, dass Mike immer wieder<br />

konkretes Material benötigt, um bestimmte Rechenoperationen verstehen und<br />

durchführen zu können.<br />

Insgesamt hat Mike eine sehr positive Entwicklung in seiner Laborschulzeit gemacht.<br />

Er ist inzwischen ein sehr fröhliches, wissbegieriges und lerneifriges Kind,<br />

das auch zu einigen seiner Mitschüler und Mitschülerinnen gute Kontakte hat und<br />

gemeinsam mit ihnen lernen kann. Wir und auch Mike werden uns damit abfinden<br />

müssen, dass seine Rechenfähigkeiten auch in Zukunft nicht altersangemessen<br />

fortschreiten und Erfolge nur kleinschrittig zu erringen sind. Aber damit<br />

scheint Mike ganz gut leben zu können, denn immer noch kommt er gerne zum<br />

Förderunterricht und gibt sich viel Mühe. Die emotionale und kontinuierliche Bindung<br />

zu mir als fördernder Lehrerin unterstützt ihn dabei.<br />

Mike wird – weil es seinem Alter entspricht – im nächsten Schuljahr in den Jahrgang<br />

6 wechseln. Er wird dann die altersgemischte Gruppe verlassen und bis<br />

zum 10. Schuljahr einer (annähernd) altersgleichen Gruppe angehören, in der er<br />

seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert werden soll. Dass er eine besondere<br />

Unterstützung weiterhin braucht, vor allem im Fach Mathematik, steht zweifelsohne<br />

fest. Es wird die Aufgabe seiner jetzigen und zukünftigen LehrerInnen<br />

sein – in Absprache mit den Eltern – ein schulisches und vielleicht auch außerschulisches<br />

Förderkonzept festzulegen, das ihm hilft, seinem Entwicklungsstand<br />

gemäß Lernfortschritte zu machen und einen Schulabschluss der 10. Klasse der<br />

Sonderschule für Lernbehinderte zu bekommen.<br />

Eine kleine Matheanekdote von Mike zum Ende dieses Berichts<br />

In seiner zweiten Überprüfung beim IDM am Ende des 4. Schuljahres wurde Mike<br />

die Kapitänsaufgabe gestellt.<br />

„Stell dir vor, ein Kapitän hat auf seinem Schiff sechs Schafe, vier Kühe und<br />

drei Schweine. Wie alt ist der Kapitän?“ Mike verlangt mehrmals die Wiederholung<br />

der Aufgabe, damit er alle Tiere zusammenzählen kann. Der Überprüfer gibt<br />

durch Betonung der Stimme kleine Hinweise beim Wiederholen der Anzahl der<br />

Tiere und der Altersfrage. Mike findet schwierig, sich so viele Zahlen merken zu<br />

müssen, nimmt ein Blatt Papier und notiert die Zahlen. Seine Antwort: „Der Ka-


„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />

pitän ist dreizehn Jahre alt“. „Und wie alt ist er, als zwei Schafe bei einem Sturm<br />

über Bord fallen?“ Die Antwort für Mike ist klar: „elf Jahre!“ Ein junger Kapitän!<br />

Das findet Mike nicht besonders merkwürdig. Er erzählt von einem Onkel, der<br />

auch Kapitän ist. „Hat der auch Tiere?“ „Nee!“ „Ist der denn elf Jahre alt?“ „Wieso?“<br />

Ich war bei dieser Überprüfung anwesend und Mike bekommt mein Schmunzeln<br />

bei seiner Antwort mit. Auf dem Rückweg zur Schule verlangt er Aufklärung über<br />

mein Amüsement. Ich stelle ihm die Aufgabe noch einmal vor und gebe ihm Hinweise<br />

zur Lösung. Mike guckt mich mit großen Augen an, scheint auch zunächst<br />

dem Gedankengang folgen zu können, dass das Alter des Kapitäns nichts mit den<br />

über Bord geworfenen Tieren zu tun habe, aber dann kommt sein Einwand. „Aber<br />

ich muss doch das Alter des Kapitäns ausrechnen, und das kann man doch gar<br />

nicht anders machen“. Jedenfalls hat ihn diese Aufgabe so beschäftigt, dass seine<br />

Mutter mich am Nachmittag anruft, um zu hören, was es mit dieser Rechengeschichte<br />

auf sich habe. Mike selbst spricht mich in den nächsten Tagen immer<br />

wieder auf diese Kapitänsaufgabe an, und mir wird deutlich, dass letzte Zweifel<br />

ob der für ihn ungewöhnlichen Antwort noch nicht ausgeräumt sind. Zwei Wochen<br />

später während einer Förderstunde – wir beschäftigen uns gerade mit den<br />

Gesetzmäßigkeiten von Zahlenfolgen – geht ein Lachen über sein Gesicht. „Ich<br />

habe das jetzt mit dem Kapitän verstanden! Man muss in der Aufgabe gar nichts<br />

ausrechnen. Die wollten mich nur reinlegen!“<br />

Genau Mike, das lassen wir uns doch nicht gefallen, dafür rechnen wir ja schließlich<br />

zusammen! Wir schütteln uns die Hand und widmen uns der nächsten Aufgabe.<br />

Literatur<br />

Lenzen, K.-D. (Red.): Schulalltag in der Laborschule Stufe II (3. und 4. Schuljahr), Band<br />

I. IMPULS-Band 12. <strong>Bielefeld</strong> 1986<br />

133


134<br />

Brunhild Zimmer


Dagmar Heinrich<br />

Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />

Während sich Katrin mit dem Zehnerübergang plagt und immer wieder an den<br />

Fingern abzählt, produzieren Machmed und Maik in Windeseile ihre nächste Zahlenmauer,<br />

deren Spitze ganz sicher eine fünfstellige Zahl ergeben wird ...<br />

Auf dem Stundenplan des dritten Schuljahres der Gruppe Zitronengelb steht Mathematik.<br />

Anders als in der Grundschule sind die 21 Kinder erst seit Schuljahresbeginn eine<br />

feste Lerngruppe; vorher haben sie fast alle für drei Jahre die Eingangsstufe der<br />

Laborschule besucht. Sie kommen aus insgesamt sechs verschiedenen altersgemischten<br />

Gruppen der Fünf- bis Siebenjährigen und sind vor allen Dingen individuelles<br />

Arbeiten – oft nach Wochenplan – gewohnt.<br />

Meine Aufgabe als Fachlehrerin besteht gerade zu Beginn dieses Schuljahres<br />

nicht nur in der möglichst optimalen fachlichen Förderung der einzelnen Kinder<br />

im Bereich der Mathematik; ebenso wichtig ist es, den Prozess der Gruppenbildung<br />

zu unterstützen, um eine für alle angenehme, dem Lernen zuträgliche Atmosphäre<br />

zu schaffen – eine wesentliche Voraussetzung für gelingende Lernprozesse<br />

(vgl. dazu den Beitrag von <strong>Biermann</strong> in diesem Heft, S. 15ff.).<br />

Dabei gilt es, sowohl das einzelne Kind als auch die ganze Gruppe im Auge zu<br />

behalten, um sinnvoll Hilfen und Anregungen geben zu können.<br />

Anders als in der Stufe I, in der in den altersgemischten Gruppen große Heterogenität<br />

schon aufgrund der Altersspanne vorliegt, handelt es sich bei der Gruppe<br />

3 Zitronengelb um ein ,ganz normales’ drittes Schuljahr – und demnach um eine<br />

homogene Lerngruppe?<br />

Wie jeder Unterrichtende bestätigen wird, ist das Lern- und Arbeitsverhalten und<br />

das Leistungsvermögen einzelner Kinder einer Schulklasse nie homogen; auch<br />

wenn Lehrpläne dies oft so voraussetzen.<br />

Im Folgenden möchte ich einige Schülerinnen und Schüler dieser Gruppe 3 Zitronengelb<br />

näher beschreiben, dann auf die Gruppe als ganzes eingehen und die<br />

sich für meinen Unterricht ergebenden Konsequenzen anhand zweier Beispiele<br />

näher beschreiben. Dies geschieht als Rückblick, denn die Schülerinnen und<br />

Schüler sind zur Zeit bereits im fünften Jahrgang.<br />

Einzelne Schülerinnen und Schüler<br />

Die zwölf Schülerinnen und neun Schüler sind zu Schuljahresbeginn zwischen 8;5<br />

Jahre und 11;2 Jahre alt.<br />

Rilana hat erhebliche Probleme im Bereich der Lese-Rechtschreibkompetenz; für<br />

Kevin existiert ein erhöhter Erziehungshilfebedarf. Für diese beiden Kinder gibt<br />

es Porträts, die Lehrerinnen und Lehrer der Laborschule für Kinder mit sonderpädagogischem<br />

Förderbedarf (siehe Glossar) schreiben.<br />

Nicht ganz so offensichtlich ist vieles andere: da ist zum Beispiel Katrin, die nach<br />

einem erfolglosen ersten Grundschuljahr auf die Laborschule wechselte und den<br />

Spaß an der Schule schon fast verloren hat. In Mathematik hat sie auch noch im<br />

135


136<br />

Dagmar Heinrich<br />

dritten Schuljahr große Probleme mit den einfachsten Aufgaben. Katrin wird im<br />

Rahmen unseres Forschungs- und Entwicklungsprojektes individuell ein- bis<br />

zweimal eine halbe Stunde pro Woche während des Mathematikunterrichtes<br />

durch die Studentin Bianca Beyer gefördert (vgl. dazu den Beitrag von Beyer in<br />

diesem Heft).<br />

Im Unterricht versuche ich Katrin so sinnvoll wie möglich zu integrieren. Sie<br />

nimmt immer am Versammlungskreis teil und arbeitet oft mit Hilfe ihrer Freundinnen<br />

an den gleichen Aufgaben. Sind die Inhalte für Katrin zu komplex, arbeitet<br />

sie an Aufgaben ihres Leistungsniveaus, die ich ihr zusammenstelle.<br />

Machmed und Dunya haben beide als Kinder türkisch bzw. kurdisch sprechender<br />

Eltern noch einige Unsicherheiten im Sprechen, Lesen und Schreiben der deutschen<br />

Sprache, was sich natürlich auch auf das Lösen von Mathematikaufgaben<br />

auswirkt. Dunya ist zudem oft teilnahmslos und apathisch. Unbeweglich und still<br />

sitzt das hübsche zierliche Mädchen im Versammlungskreis; mit ihren Gedanken<br />

scheint sie meilenweit entfernt zu sein. Manchmal erzählt sie kleine Begebenheiten<br />

aus ihrem Alltag, dabei wagt sie kaum die Stimme oder ihren Blick zu erheben.<br />

Oft fehlt sie wegen Krankheit.<br />

Dorothee und Tamaris sind vor Lerneifer und Fleiß kaum noch zu bremsen. Beim<br />

gemeinsamen Erarbeiten neuer Inhalte zeigen ihre guten Beiträge, dass sie<br />

schlussfolgernd denken und logische Schlüsse ziehen können und über grundlegende<br />

mathematische Kenntnisse sicher verfügen. Ihre Arbeiten am Tisch erledigen<br />

die beiden Mädchen konzentriert, ausdauernd und eifrig.<br />

Mario benötigt allein für das Zusammensuchen seiner Unterlagen eine Viertelstunde.<br />

Lustlos schleppt er sich zu seinem Stuhl und beugt sich über seine Aufgaben,<br />

die er umständlich und nur ganz langsam löst, so schafft er deutlich weniger<br />

als seine Mitschülerinnen und Mitschüler.<br />

Simon, ein pfiffiger, sprachgewandter Junge, zeigt deutliche Auffälligkeiten im<br />

Bereich der Konzentration und Feinmotorik. Sein Blick wandert rastlos durch den<br />

Raum, seine Hände sind ständig in Bewegung und es kostet ihn einige Anstrengung,<br />

sich auch nur für ein paar Minuten kontinuierlich seiner Arbeit am Tisch<br />

zuzuwenden. Dies zeigen dann auch seine schriftlichen Aufgaben, manches ist<br />

nicht zu Ende gebracht oder sogar doppelt gerechnet, denn der ,rote Faden‘ reißt<br />

immer wieder.<br />

Kerstin verziert mit vielen Farben den Rand ihres sehr ordentlich geführten Heftes.<br />

Zeichnen ist ihre große Liebe. Sie ist sehr still und hält sich gerne im Hintergrund,<br />

eher selten beteiligt sie sich am Unterrichtsgespräch. Oft fehlt dieses zarte<br />

Mädchen wegen Krankheit, manchmal kommt sie trotz Kopf- oder Bauchschmerzen<br />

in die Schule. Und immer steigt sie ohne Probleme in das Unterrichtsgeschehen<br />

ein und bringt in allen Bereichen außergewöhnlich gute schriftliche<br />

Leistungen; mit Leichtigkeit löst sie auch in Mathematik die jeweiligen Aufgaben.<br />

Tobi unterhält gerne die Mitschülerinnen und Mitschüler an seinem Tisch, dabei<br />

vergewissert er sich immer wieder der Anerkennung der anderen Kinder. Aber<br />

auch den Lehrerinnen möchte er gefallen, und so reicht manchmal nur ein Blick<br />

oder eine kurze Ermahnung, und er kann seine Rolle als ,Entertainer‘ zumindest<br />

für eine kurze Zeit fallen lassen, um an seinen Matheaufgaben zu arbeiten. Im<br />

Versammlungskreis gelingt es ihm zu Beginn des dritten Schuljahres kaum, still<br />

zu sitzen, zuzuhören oder sich an die Gesprächsregeln zu halten. Leider fragt er


Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />

auch nicht nach, wenn ihm etwas nicht ganz klar ist, sondern geht die Dinge<br />

dann eben auf seine Art und Weise und damit nicht immer ganz richtig an.<br />

Lara meldet sich schon wieder und möchte am liebsten nach jeder einzelnen Aufgabe<br />

hören, ob das Ergebnis denn so richtig sei; ähnlich ist es bei Ronja und Marike.<br />

Alle drei sind leistungsstarke Schülerinnen, die aber erst im Laufe der Zeit<br />

zunehmend an Sicherheit gewinnen und ihren guten und sicheren Umgang mit<br />

der Mathematik zeigen können.<br />

Das Verhalten dieser Schülerinnen ist in gewisser Weise ,geschlechtstypisch’ und<br />

deckt sich mit verschiedenen Untersuchungsergebnissen, die zeigen, dass Mädchen<br />

länger überlegen und das Bedürfnis nach Genauigkeit und Gründlichkeit im<br />

Verstehen mathematischer Zusammenhänge zeigen, Jungen dagegen die Aufgaben<br />

sofort angehen und ihre eigene Kompetenz und Leistungsfähigkeit höher, ja<br />

manchmal zu hoch, einschätzen (vgl. Jahnke-Klein 2001).<br />

Sascha ist ein oft unglücklich und abwesend wirkender Schüler, Freunde in der<br />

Gruppe hat und sucht er sich nicht. Seine Lernprobleme sind für ihn eher nebensächlich.<br />

Oft sitzt er mit abwesendem Blick im Versammlungskreis oder am<br />

Tisch, bemüht sich aber sehr, die Fassade eines eifrigen Schülers aufrechtzuerhalten,<br />

indem er, wenn eine Lehrerin vorbeikommt, schnell mit interessiertem<br />

Gesicht eine fachliche Frage stellt. Über seine Probleme spricht er nicht; er will<br />

die Fassade wahren. Seine schriftlichen Leistungen in Mathematik liegen oft unter<br />

seinem Vermögen, manchmal wird erst durch das Arbeiten am Tisch ersichtlich,<br />

dass er sich schon bei dem Unterrichtsgespräch im Versammlungskreis gedanklich<br />

ausgeklinkt hat. Inzwischen arbeitet der Schulpsychologe einmal in der<br />

Woche mit Sascha und wir erhoffen uns hiervon für ihn Hilfe und Entlastung.<br />

Rilana ist – wie schon erwähnt – ein Mädchen mit besonderem Förderbedarf. Ihre<br />

ausgeprägte Lese-Rechtschreib-Schwäche führt zu Problemen bei der schulischen<br />

Arbeit, die ihr sehr schwach ausgeprägtes Selbstvertrauen schnell ins Wanken<br />

bringen. Sie ist körperlich weiter entwickelt als die anderen Mädchen, fühlt sich<br />

oft in ihrer Haut nicht wohl und sitzt verkrampft auf ihrem Platz. Nur selten<br />

nimmt sie am Unterrichtsgespräch teil; dabei spricht sie sehr leise und manchmal<br />

zusammenhanglos, häufig sucht sie nach den passenden Worten. In ihrer<br />

Selbstwahrnehmung erlebt sie sich deutlich ,anders als die anderen‘ – dazu mag<br />

ihre bisherige Teilnahme an einigen Therapien beitragen oder auch die Tatsache,<br />

dass ihr einziger Bruder schwer behindert ist. Besonders Rilana müssen ihre Lernerfolge<br />

im Bereich der Mathematik deutlich zurückgespiegelt werden, damit sie<br />

sich über ihr Leistungsvermögen bewusst wird. Diese Erfolge können helfen, ihr<br />

Selbstbild als ,Lernversagerin‘ aufzubrechen und ihr Selbstvertrauen zu stärken.<br />

All dies sind Einzelfälle, doch sicherlich in ähnlicher Art und Weise in jeder Lerngruppe<br />

zu finden. Für mich als Lehrerin ist die erste Zeit in der neuen Gruppe<br />

spannend und interessant; ich lerne die Kinder immer besser kennen und nehme<br />

mir Zeit, mich mit ihrem Arbeitsverhalten und ihrem Lern- und Leistungsvermögen<br />

vertraut zu machen. In Mathematik lasse ich mir von einzelnen Schülerinnen<br />

und Schülern Aufgaben vorrechnen und gewinne so ein Bild über die Lösungsstrategien<br />

der Kinder.<br />

Es zeigt sich auch hier: homogene Lerngruppen gibt es nicht. 21 Persönlichkeiten<br />

mit ganz unterschiedlichen Lebens- und Lernerfahrungen gilt es optimal zu fördern<br />

und zu fordern.<br />

137


Die Gruppe<br />

138<br />

Dagmar Heinrich<br />

Gleichzeitig ist die Gruppe als Ganzes zu betrachten. Wenn die Kinder gerne zur<br />

Schule kommen und sich wohl und sicher fühlen können, ist eine wesentliche<br />

Voraussetzung für ein gutes Lern- und Arbeitsklima erfüllt.<br />

Hierzu bedarf es einiger Gespräche mit einzelnen Kindern, manchmal auch mit<br />

der ganzen Gruppe oder in Form von Mädchen- und Jungenkonferenzen. 1<br />

Wie ist Tobi zu helfen, seine Rolle als Klassenclown wieder abzulegen bzw. gar<br />

nicht erst weiter hineinzuwachsen? Hier ist erst mal ein Gespräch unter vier Augen<br />

angebracht. Dorothee und Tamaris, zwei beste Freundinnen, grenzen sich<br />

ganz aus und zeigen kein Interesse an Kontakten zu den anderen Kindern – dies<br />

wird von ihren Mitschülerinnen bei einer Mädchenkonferenz thematisiert. Kevin<br />

fordert mit seinem provokanten, aggressiven Auftreten die meiste Energie – für<br />

die neu zusammengesetzte Gruppe und für alle Lehrerinnen eine große Herausforderung.<br />

Gemeinsam mit allen Kindern überlegen wir – mit und ohne Kevin –<br />

wie wir mit bestimmten Situationen umgehen können, wie Kinder sich wehren<br />

können oder wo es wichtig ist, Erwachsene in Konfliktfälle einzubeziehen und Hilfe<br />

zu holen.<br />

Stark ausgeprägt ist zu Beginn des Schuljahres die Trennung zwischen Mädchen<br />

und Jungen. Viele Mädchen zeigen ein herablassendes Verhalten, wenn sich die<br />

Jungen nähern. Die wiederum reagieren mit Desinteresse – richtig glücklich mit<br />

dieser Situation ist aber eigentlich niemand. Wir thematisieren dieses Problem<br />

und nach einigem ,Frust‘, der abgelassen wird, kommen erste Vorschläge zur<br />

Änderung. Schließlich einigen sich die Schülerinnen und Schülern auf das wöchentliche<br />

Ziehen von Platzkarten, die angeben, neben wem man im Versammlungskreis<br />

sitzt. Dies soll kommentarlos geschehen – und es gelingt!<br />

Erste Verliebtheiten und tieferes Interesse aneinander treten erst jetzt, im fünften<br />

Schuljahr, auf.<br />

Ziel aller Gespräche ist es, die Schülerinnen und Schüler immer mehr zu befähigen,<br />

Verantwortung für ihr Verhalten zu erkennen und zunehmend eigenständig<br />

Konflikte zu lösen. Und da das Leben und Lernen in einer Gruppe ein dynamischer<br />

Prozess ist, ist auch nie ein ,Status quo’ erreicht; immer wieder neu verändert<br />

sich das Gefüge. Gleichzeitig lernen die Kinder immer mehr, sich für ihre<br />

Gruppe verantwortlich zu fühlen und bringen jetzt, zweieinhalb Jahre später, bei<br />

Problemen gute Lösungsvorschläge mit ein.<br />

Doch nicht nur eine gute Gesprächskultur, sondern auch gemeinsame Erlebnisse<br />

sind für die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen und den Zusammenhalt<br />

und die Kooperationsbereitschaft einer Gruppe enorm wichtig.<br />

Neben den jährlich stattfindenden Klassenfahrten soll an dieser Stelle die Arbeit<br />

in fächerübergreifenden Projekten hervorgehoben werden. Gemeinsam mit einer<br />

Parallelklasse ist im dritten Schuljahr ein Zirkusprojekt durchgeführt worden. Als<br />

ganz besonders ,Highlight‘ für die Gruppe Zitronengelb hat sich das Proben und<br />

Aufführen eines Musicals im vierten Schuljahr erwiesen, das nicht nur bei den<br />

Zuschauern ein großer Erfolg war, sondern auch den Zusammenhalt der Gruppe<br />

spürbar förderte und das Selbstvertrauen der einzelnen Schülerinnen und Schüler<br />

sehr stärkte. 2<br />

1 Mädchen- und Jungenkonferenzen sind geschlechtshomogene Gesprächskreise, die regelmäßig eingesetzt<br />

werden können. Näheres dazu in: <strong>Biermann</strong> 1997<br />

2 Zum integrativen Potential des Projektunterrichts vgl. Emer/Lenzen 2002


Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />

Mathematikunterricht in Beispielen<br />

Viertes Schuljahr: Erweiterung des Zahlenraums<br />

Einen wichtigen Bereich der Arithmetik im vierten Schuljahr nimmt die Erweiterung<br />

des Zahlenraums bis zu einer Million und darüber hinaus ein. Damit sich die<br />

Schülerinnen und Schüler auf unterschiedlichem Niveau mit den großen Zahlen<br />

auseinandersetzen können, biete ich ein möglichst breites Spektrum von Aufgaben<br />

an. Im Folgenden möchte ich die verschiedenen Arten der Aufgaben vorstellen,<br />

die den Kindern in der Art eines ,Verlaufsplans‘ vorliegen.<br />

Für alle Schülerinnen und Schüler gibt es verbindliche Basisinhalte, dazu gehören<br />

ausgewählte Aufgaben, die als Pflichtaufgaben von allen schriftlich zu lösen sind.<br />

Mario als besonders langsamer Rechner hat ein etwas reduziertes Pensum an<br />

Aufgaben zu erledigen; Katrin hat einige dieser Aufgaben mit Hilfe ihrer Freundin<br />

bearbeitet.<br />

Dabei stehen grundlegende Operationen im Mittelpunkt:<br />

– Vorgänger und Nachfolger großer Zahlen benennen<br />

– Zahlen in eine Stellenwerttafel eintragen<br />

– Zahlen auf einem Zahlenstrahl richtig einsetzen<br />

– Zahlen runden<br />

– Zahlen verdoppeln, halbieren, verzehnfachen<br />

– Zahlen zu einer Million ergänzen<br />

– Zahlen der Größe nach sortieren<br />

– Zahlendiktat<br />

Parallel dazu gibt es handlungsorientierte Angebote, um sich den großen Zahlen<br />

aktiv und begreifend zu nähern und um die grundlegenden Inhalte des dritten<br />

Schuljahres, Zahlenraumerweiterung bis 1000, auf die aufgebaut wird, zu wiederholen<br />

und zu vertiefen. Hierzu zählen Aufgaben wie das Zählen aller Stufen in<br />

unserer Schule, das Zählen der Schritte um die ganze Schule herum oder das<br />

Schätzen und dann in Zehner- und Hunderterreihen bündelnde Zählen der Urucum-Samen,<br />

die wir bei einem Unterrichtsbesuch 3 geschenkt bekommen haben.<br />

Mit diesen Aufgaben möchte ich besonders Schülerinnen und Schüler wie Katrin,<br />

Mario und Dunya ansprechen, die immer wieder Unterstützung, konkrete Anschauung<br />

und Wiederholung bereits bekannter Inhalte benötigen. Aber auch für<br />

Kinder wie Simon und Tobi bieten diese Aufgaben eine gute Möglichkeit, ihre überschüssige<br />

motorische Energie sinnvoll einzusetzen.<br />

Weiterhin gibt es verschiedene Angebotsaufgaben, die je nach Schwierigkeitsgrad<br />

mit ein, zwei oder drei Sternchen markiert sind. Diese Aufgaben sollen<br />

durch ihre interessante Aufgabenstellung Schülerinnen und Schüler wie Maik,<br />

Kerstin, Dorothee und Tamaris herausfordern oder auch für Simon so spannend<br />

sein, dass er sich gerne und ausdauernd damit beschäftigt. Viele dieser Sachaufgaben<br />

sind aus dem sehr ansprechend gestalteten Heft: „Lernspaß mit Paul<br />

Maar,: Sachrechnen, 4. Klasse“ und können von den Kindern einzeln aus einem<br />

3 Urucum ist heute weltweit ein begehrter Rohstoff in der industriellen Farbherstellung und Kosmetikindustrie,<br />

wurde aber schon von den indianischen Völkern in unterschiedlichster Weise genutzt. Deren Lebensweise<br />

und Lebensraum stand im Mittelpunkt unseres Projekttages im Naturkundemuseum zum Thema Papierverbrauch<br />

und Umweltschutz.<br />

139


140<br />

Dagmar Heinrich<br />

Ordner geholt werden (Schuldt/Quak 2000). Einzelne Kinder berate ich bei ihrer<br />

Auswahl, da sich auch hier zeigt, dass manche leistungsstarke Mädchen lieber<br />

,auf Nummer Sicher‘ gehen und sich die einfachen Aufgaben aussuchen, während<br />

fast alle Jungen sofort mit den schwierigen Aufgaben beginnen möchten.<br />

Verschiedene Themen werden angesprochen, zum Beispiel:<br />

Wie kannst du die Anzahl der Haare aller Kinder unserer Gruppe berechnen?<br />

Haarfarbe Anzahl der Haare<br />

Blond ca. 150 000<br />

Braun ca. 110 000<br />

Schwarz ca. 100 000<br />

Rot ca. 90 000<br />

(Schipper/Dröge/Ebeling 2000)<br />

Auf dieser Seite folgen weitere informative Aufgaben zum Thema Wasser, es<br />

geht um die trinkwasserarmen Gebiete dieser Erde, um Erosion und weggeschwemmten<br />

Boden. Das nächste Beispiel ist aus dem Themenkomplex<br />

,Menschen und Länder‘; Einwohnerzahlen und der Anteil der Kinder und Jugendlichen<br />

in den einzelnen Kontinenten werden verglichen.


Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />

Quelle: Schuldt/Quak 2000<br />

Stundenbeispiele<br />

Bewährt hat sich auch in Mathematik die Versammlung im Sitzkreis zu Beginn<br />

jeder Stunde (die Unterrichtsstunden in der Laborschule betragen jeweils 60 Minuten).<br />

Hier besprechen wir den Ablauf der Stunde, klären fachliche Fragen, erarbeiten<br />

neue Inhalte – oder ich gehe auch einmal nach einem tränenreichen Konflikt in<br />

der Pause zunächst auf das Klärungsbedürfnis der Kinder ein. Manchmal wiederhole<br />

ich für bestimmte Schülerinnen und Schüler Unterrichtsinhalte, während die<br />

anderen schon an ihren Tischen arbeiten. Und hier ist auch das Plenum für die<br />

Präsentationen der Kinder; kurze Vorträge können – bei Bedarf mit Hilfe der<br />

Wandtafel – gehalten werden.<br />

In der Gesamtgruppe thematisiere ich den Rechenstrich und den Zahlenstrahl;<br />

auch die Stellentafel haben wir erneut zur Wiederholung in den Blick genommen.<br />

Zur Veranschaulichung dienen uns außerdem die Zehner-Systemblöcke (siehe<br />

Glossar: Mehrsystemblöcke), die sich gut eignen, um große Zahlen darzustellen<br />

und die fortwährende Zehnerbündelung sichtbar werden zu lassen.<br />

Verschiedene Beispiele, die das Verständnis für große Zahlen Schritt für Schritt<br />

festigen sollen, habe ich eingebracht: 25 000 Haferkörner wiegen ungefähr 1 kg,<br />

ein Mensch hat ca. 420 Wimpern, wie viele Wimpern haben alle 21 Kinder unserer<br />

Gruppe zusammen und ähnliches (vgl. Schipper/Dröge/Ebeling 2000).<br />

Besondere Begeisterung löst das ,Guiness-Buch‘ 4 der Rekorde aus, das ich zum<br />

Staunen ausgelegt habe. Auch in den Pausen suchen manche Kinder eifrig nach<br />

noch größeren Zahlen.<br />

Im Versammlungskreis bestimmt jedes Kind zu Beginn der Stunde den Inhalt,<br />

den es in dieser Stunde allein oder mit einer Partnerin oder einem Partner bearbeiten<br />

will; besonders die anspruchsvollen Sachaufgaben werden meist zu zweit<br />

gelöst. Sowohl Dunya und Machmed mit anderem sprachlichen Hintergrund als<br />

4 Ein jährlich aktualisierter Band: Guinness World Records 2003 (Guinness Verlag GmbH Hamburg).<br />

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142<br />

Dagmar Heinrich<br />

auch Rilana mit ihrer Leseschwäche profitieren besonders bei Aufgaben mit Text<br />

von einer Zusammenarbeit.<br />

Nach einiger Zeit werden die ersten Aufgaben von den jeweiligen Schülerinnen<br />

und Schülern im Versammlungskreis vorgestellt – für viele eine besondere Motivation.<br />

Diese Kinder sind dann auch ,ExpertInnen‘ für diese bestimmte Aufgabe<br />

und können von allen anderen hierzu um Hilfe gefragt werden. Das Präsentieren<br />

von Aufgaben und ihren Lösungswegen ist mir besonders für Schülerinnen wie<br />

Kerstin, Dunya oder auch Rilana wichtig, die durch das Vortragen ihrer Arbeit<br />

(zusammen mit ihrer jeweiligen Partnerin) mehr Selbstvertrauen gewinnen können<br />

und sich im freien Sprechen üben.<br />

Rückblick<br />

In einem kurzen Feedback nach Beendigung dieses Unterrichtsthemas in dieser<br />

Form wird von den Schülerinnen und Schülern vor allem als positiv herausgestellt,<br />

,etwas selber zu machen‘. Dies bezieht sich vor allem auf die eigene Planung<br />

und Auswahl der Aufgaben als auch auf das Präsentieren einer Aufgabe vor<br />

der ganzen Gruppe. Die konkreten Zählvorgänge und das Zahlensuchen im<br />

,Guinness-Buch‘ finden ebenfalls viel Zustimmung.<br />

Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich zunehmend für ihre Lernzeiten verantwortlich<br />

und müssen von mir nicht zum Arbeiten angehalten werden. Zwei Partner-<br />

Konstellationen trenne ich, da sich der intensive Austausch mehr auf Fußballergebnisse<br />

oder das letzte Britney Spears-Konzert zu beziehen droht. Andere<br />

Kinder arbeiten lieber alleine, so zum Beispiel Dorothee, die irgendwann ihren<br />

neuen Atlas mitbringt und sich auf meine Anregung hin mit den Einwohnerzahlen<br />

verschiedener Länder beschäftigt.


Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />

Tobis‘ großem Bewegungsdrang kommen Aufgaben wie die ,Schritte um die<br />

Schule herum zählen’ sehr entgegen; das stille Arbeiten am Tisch fällt ihm danach<br />

viel leichter.<br />

Einige nicht so leistungsstarke Schülerinnen und Schüler haben die als anspruchsvoll<br />

markierten Sachaufgaben mit überraschend guten Lösungsansätzen<br />

oder Ergebnissen bearbeitet. Ganz im Gegensatz zu der von mir im Studium der<br />

Sonderpädagogik erlernten Herangehensweise, dem Prinzip der kleinen Schritte<br />

und des langsamen und ,vorgekauten‘ Weges, macht mir das viel Mut, den Kindern<br />

mehr zuzutrauen, ihnen genügend Möglichkeiten zum Ausprobieren zu<br />

schaffen und manche didaktisch künstlich gesetzten Grenzen zu überschreiten.<br />

Fehler gehören dazu und werden zum Teil im Versammlungskreis thematisiert.<br />

Unterschiedliche Denkansätze und verschiedene Lösungswege werden verglichen,<br />

gemeinsam wird nach der optimalen Lösungsstrategie gesucht.<br />

Vor allem Katrin profitiert von dem Zählen der Urucum-Samenkörner und bündelt<br />

und sortiert in Zehnerhäufchen, Hunderterreihen und schließlich Tausenderfelder<br />

bis weit in die Pause hinein. In Zusammenarbeit mit ihrer Freundin Rosa<br />

löst sie auf ihren eigenen Wunsch auch einige der Pflichtaufgaben im Arbeitsheft,<br />

wobei dies teilweise ohne ein echtes Verständnis für die Rechenoperationen geschieht<br />

und damit nicht unbedingt einen Lernzuwachs bedeutet. Hier fehlt mit oft<br />

die Zeit, mich zu ihr zu setzen und gemeinsam mit ihr zu überlegen. Sehr dankbar<br />

bin ich deshalb für die halbstündige wöchentliche Förderzeit, in der sich die<br />

Studentin Bianca Beyer zu Katrin setzt und gezielt mit ihr arbeitet. Katrin selbst<br />

zeigt oft keine große Begeisterung über Biancas Besuche und ist auf einmal<br />

schrecklich müde oder muss gerade unbedingt auf Toilette gehen. Ob dieses<br />

Ausweichen ein Ausdruck ihrer sehr gering ausgeprägten Anstrengungsbereitschaft<br />

ist oder ob es Katrin vor den anderen Kindern unangenehm ist, wenn sich<br />

eine Erwachsene ausschließlich mit ihr beschäftigt, äußert sie nicht eindeutig<br />

(vgl. dazu Beitrag von Beyer in diesem Heft).<br />

Mario hat mein Angebot, die Menge an Pflichtaufgaben zu reduzieren, nicht angenommen.<br />

Hier hätte ich mich durchsetzen müssen, da er zwar misslaunig sein<br />

Pensum erledigt, dann aber keine Zeit mehr für anderes bleibt.<br />

Simon, der mit seinen besten Freunden viel reden, aber nicht arbeiten kann, habe<br />

ich zur Bearbeitung einer komplexen Sachaufgabe als Partner Sascha vorgeschlagen.<br />

Beide sind mit dieser Kombination einverstanden und haben – vor allem<br />

mit Ausblick auf die Präsentation im Versammlungskreis – produktiv an ihrer<br />

gewählten Aufgabe arbeiten können; am Ende geben sie uns einen guten Überblick<br />

über die riesigen Flugstrecken mancher Zugvögel.<br />

Andere kurze Berichte wie zum Beispiel der von Kerstin und Dunya sind für die<br />

Gesamtgruppe eher langweilig: mit viel zu leiser Stimme und ohne großes Tafelbild<br />

sind die vorgetragenen Inhalte nur schwer nachzuvollziehen.<br />

Idealerweise hätte ich als Lehrerin bei der Vorbereitung helfen sollen, doch bin<br />

ich an zeitliche Grenzen gestoßen. 21 Kinder arbeiten gleichzeitig an verschiedenen<br />

Aufgaben mit verschiedenen Inhalten und stellen dazu ganz verschiedene<br />

Fragen – dies erfordert eine hohe Flexibilität und mehr Zeit als zur Verfügung<br />

steht.<br />

Schon im Versammlungskreis muss ich manchmal aus zeitlichen Gründen ein oft<br />

interessantes Unterrichtsgespräch stoppen; so ist es zum Beispiel bei der Aufgabe<br />

mit der Anzahl der Haare für alle wahnsinnig interessant, wie man auf die<br />

143


144<br />

Dagmar Heinrich<br />

oben dargestellten Ausgangszahlen der verschiedenen Haarfarben gekommen ist.<br />

Lara und Tamaris haben den Wasserverbrauch in den Industrieländern im Vergleich<br />

mit den Entwicklungsländern vorgestellt und spannender als die hohen<br />

Zahlen und die dazugehörigen Rechenoperationen ist es verständlicherweise zu<br />

überlegen, wie und wo wir Wasser sparen können [...]<br />

Die Pflichtaufgaben zur Zahlenraumerweiterung und die Sachaufgaben sind auf<br />

dem Papier nachprüfbar; vieles andere wird ,nebenbei’ gelernt: Fähigkeiten und<br />

Fertigkeiten im Bereich des sozialen und überfachlichen Lernens sind gefördert<br />

und gefordert worden wie zum Beispiel das eigenverantwortliche Gestalten von<br />

Lernzeiten, das Vorbereiten und Präsentieren eigener Lösungswege, die Kooperation<br />

mit einer Partnerin oder einem Partner, Textverständnis, grundlegende<br />

Kenntnisse in ganz unterschiedlichen Alltagsbereichen oder logisches Denken.<br />

Fünftes Schuljahr: Maßstab und Umwandlung von Längen<br />

Direkt nach den Sommerferien zu Beginn des fünften Schuljahres sind geografische<br />

Grundkenntnisse als ein fächerübergreifendes Projekt unser Thema. 5 In<br />

möglichst vielen Unterrichtsstunden wird auf unterschiedliche Art und Weise an<br />

diesem Thema gearbeitet, um ein sinnvolles, in Zusammenhänge gestelltes Lernen<br />

zu ermöglichen. Nach einer Einführung und eher kleinschrittigen Aufgaben<br />

stehen am Ende auch in Mathematik komplexere Aufgaben, die von Kleingruppen<br />

über einen längeren Zeitraum selbständig erarbeitet werden.<br />

Auf einem sich anschließenden Eltern-Kind-Nachmittag sollen dann die Schülerinnen<br />

und Schüler ihre Produkte und ihr Wissen präsentieren.<br />

Aufgabenbeispiele<br />

In Rücksprache mit der Betreuungslehrerin wird es in den Mathematikstunden<br />

überwiegend um die Längenmaße, den Maßstab und damit verbunden dem Lesen<br />

unterschiedlicher Karten gehen. Meter und Zentimeter sind bekannt. Um noch<br />

einmal den Umgang mit dem Maßband zu trainieren, haben wir nachgeprüft, ob<br />

denn tatsächlich die Körpergröße der einzelnen Kinder mit der Spanne ihrer Arme<br />

annähernd übereinstimmt. Mit Hilfe der Größentabelle wandeln die Schülerinnen<br />

und Schüler anschließend unterschiedliche Längenmaße um, dabei wird auch die<br />

Kommaschreibweise angewandt.<br />

Radiergummi, Bleistift und ähnliches haben die Kinder maßstabsgetreu ins Heft<br />

gezeichnet und dann im Maßstab 1 : 2 bzw. 2 : 1 verkleinert oder vergrößert.<br />

Die Aufgabe der Woche, „Ich – im Maßstab 1 : 10“ ist auf recht unterschiedliche<br />

Art und Weise gelöst worden:<br />

5 Näheres dazu in: Struck 2001


Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />

Mehrere Stunden werden für Übungs- und Wiederholungsaufgaben zu den unterschiedlichen<br />

Längenmaßen und zum Thema ,Maßstab‘ genutzt, wobei wir im Ver-<br />

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146<br />

Dagmar Heinrich<br />

sammlungskreis zu Beginn jeder Stunde aktuelle Fragen klären oder Inhalte wiederholen<br />

und vertiefen.<br />

Als eine Art ‚Erfolgskontrolle‘ habe ich schließlich die Differenzierungsmöglichkeiten<br />

dieses Themas genutzt; die Schüler sollen nun ihr Wissen anwenden. Zu<br />

zweit oder dritt sind Karten verschiedenen Maßstabs zu bearbeiten, dabei habe<br />

ich die Aufgaben hierzu unterschiedlich anspruchsvoll gestaltet, hier zwei Aufgabenbeispiele:<br />

Mont Blanc – Wanderkarte Maßstab 1 : 50.000<br />

1. Wo liegt das dargestellte Gebiet, welche drei Länder treffen hier zusammen?<br />

2. Wandelt den Maßstab in Meter um – jetzt könnt ihr besser rechnen.<br />

3. Wie lang ist der See „Lac des Toules“ an seiner längsten Stelle?<br />

4. Wie lang ist die Seilbahn von La Palud bis nach Aig. du Midi?<br />

5. Es gibt eine kurvige Straße durch das Gebirge von La Palud nach La Thuile.<br />

Rechnet aus, wie lang diese Strecke ist!<br />

Lara, Rilana und Ronja berechnen nicht nur den Durchmesser, sondern auch<br />

gleich den Umfang des Sees. Nach einigem Rätseln und Ausprobieren fragen sie<br />

mich nach einem Wollfaden, den sie einmal um den See herumlegen und dann<br />

zum Ausmessen an die Maßstabsleiste der Wanderkarte legen. Auf gleiche Art<br />

und Weise berechnen sie die Länge der kurvigen Gebirgsstraße.<br />

<strong>Bielefeld</strong> – Stadtplan Maßstab 1 : 20.000<br />

1. Erzählt kurz etwas zu unserer Stadt (Einwohnerzahl, Stadtteile, bekannte<br />

Gebäude, ...)<br />

2. Zeigt uns auf der Karte, wo ihr wohnt!<br />

3. Wandelt den Maßstab in Meter um – jetzt könnt ihr besser rechnen.<br />

4. Wie lang ist die Strecke von unserer Schule bis zum Sennefriedhof/<br />

von der Uni bis zur Alm (Luftlinie)?<br />

5. Wie lang ist die Strecke der Straßenbahn Linie 3 (Babenhausen/Stieghorst)?<br />

Sascha und Tobi haben sich mit dem Stadtplan ihrer Heimatstadt <strong>Bielefeld</strong> auseinanderzusetzen<br />

und lassen sich von den Mädchen anstecken: sie wollen nun<br />

auch auf den Meter genau die Länge der Straßenbahnlinie berechnen und legen<br />

die Strecke ebenfalls mit einem Faden ab.<br />

Kerstin und Dorothee beschäftigen sich mit dem Grundriss einer Wohnung, finden<br />

nach einigem Ausprobieren den Maßstab (1:60) heraus und beginnen dann<br />

damit, ihr Traumzimmer im Maßstab 1:30 mit viel Liebe zum Detail ins Heft zu<br />

zeichnen.<br />

Simon und Maik, beide absolute Italien-Fans, haben mit Hilfe der Toscana-Karte<br />

(Maßstab 1: 200.000) die Entfernungen zwischen bekannten Orten und die Länge<br />

der Fährstrecke von der Küste zu ihrer Lieblingsinsel Elba ausgerechnet.<br />

Die Karte der Naherholungsgebiete und der jeweiligen Attraktionen im Teutoburger<br />

Wald, die Karte zu Nordrhein-Westfalen, zu den Niederlanden, zu Europa und


Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />

schließlich auch die Weltkarte im Atlas werden auf ähnliche Art und Weise unter<br />

verschiedenen von mir formulierten Fragestellungen von den Schülerinnen und<br />

Schülern bearbeitet und dann im Versammlungskreis der ganzen Gruppe vorgestellt;<br />

so dass jedes Kind einen Überblick über die unterschiedlichen Karten und<br />

deren Maßstäbe gewinnen kann.<br />

Rückblick<br />

Nach der kurzen Präsentation kommt es zu Rückmeldungen der Mitschülerinnen<br />

und Mitschüler, wobei es viel Lob gibt, manchmal aber auch Kritik wie: „Ihr habt<br />

zu leise geredet“ – „Rilana hat viel weniger gesagt als Lara“, „Das war viel zu<br />

kurz, ihr habt nicht erklärt, wie ihr auf die Zahlen gekommen seid!“<br />

Besonders viel Spaß macht es den vortragenden Schülerinnen und Schülern dabei,<br />

der Gruppe eine Rätselfrage zu stellen, die nur bei gutem Zuhören zu lösen<br />

ist.<br />

Im Vergleich zum Vorjahr zeigen sich deutliche Unterschiede: die Kinder sind es<br />

inzwischen viel mehr gewohnt, vor der Gruppe laut und deutlich zu sprechen und<br />

ihre Lösungswege nachvollziehbar darzustellen. Gleichzeitig sind sie fähig, aktiv<br />

zuzuhören und sachliche Rückfragen zu stellen. Die Aufgabenstellungen geben<br />

eine gute Gliederung für die Präsentation vor; auf den einzelnen Karten lassen<br />

sich die Ergebnisse für alle interessant darstellen.<br />

Gesamtresümee<br />

Die 21 Kinder der Gruppe ,5 Zitronengelb‘ sind in den letzten zweieinhalb Jahren<br />

zu einer guten Lerngruppe zusammengewachsen; besonders im Verhaltensbereich<br />

haben sich die großen Unterschiede eher verringert: nur noch selten übergeht<br />

Tobi sämtliche Gesprächsregeln, immer öfter melden sich Rilana, Lara oder<br />

Kerstin zu Wort, auch Dunya gelingt es inzwischen, eine eigene Meinung zu entwickeln<br />

und zu äußern. Die Kinder kennen sich besser untereinander und akzeptieren<br />

sich mit ihren Besonderheiten. Mario braucht eben einfach etwas länger,<br />

Simon knetet an seinen Fingern, Rilana liest höchst ungern vor, Kerstin macht<br />

nie Fehler ...<br />

Wenn es um das Lösen schematischer Aufgabenstellungen und die Durchführung<br />

bestimmter vorgeschriebener Rechenschritte geht, mag sogar der vermeintliche<br />

Eindruck einer homogenen Gruppe entstehen. Auch Katrin zeigt in diesem Bereich<br />

dank der kontinuierlichen (Einzel-) Förderung erste Erfolge. Offene Aufgaben<br />

mit alternativen Lösungswegen zeigen wiederum das große Spektrum des<br />

Lern- und Leistungsverhalten dieser Gruppe, was den Unterricht lebendig und<br />

interessant macht. Auch weiterhin werden gemeinsame Wiederholungs- und Übungszeiten<br />

mit offeneren Lernsituationen abwechseln, um den Spaß an der Mathematik<br />

zu erhalten und den einzelnen Kindern in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht<br />

zu werden.<br />

Literatur<br />

<strong>Biermann</strong>. Chr. (Hrsg.): Kritische Koedukation: Mädchen und Jungen in der Laborschule.<br />

Werkstattheft Nr. 10. <strong>Bielefeld</strong> 1997<br />

Demmer-Dieckmann, I./Struck, B. (Hrsg.): Gemeinsamkeit und Vielfalt – Pädagogik und<br />

Didaktik einer Schule ohne Aussonderung. Weinheim und München: Juventa 2001<br />

147


148<br />

Dagmar Heinrich<br />

Emer, W./Lenzen, K.-D.: Projektunterricht gestalten – Schule verändern. Hohengehren:<br />

Schneider Verlag 2002<br />

Jahnke-Klein, S.: Sinnstiftender Mathematikunterricht für Mädchen und Jungen. Hohengehren:<br />

Schneider Verlag 2001<br />

Struck, B.: „Ruck-Zuck durch Germany“ – Die Geografie Deutschlands als Brettspiel. In:<br />

Demmer-Dieckmann/Struck (2001)<br />

Schuldt, W./Quak, U.: Lernspaß mit Paul Maar: Sachrechnen, 4. Klasse. Berlin: Cornelsen<br />

2000<br />

Schipper, W./Dröge, R./Ebeling, A.: Handbuch für den Mathematikunterricht, 4. Schuljahr.<br />

Braunschweig: Schroedel 2000


Altersmischung<br />

Anhang: Glossar<br />

Alle Kinder der Eingangsstufe der Laborschule (Vorschuljahr, 1. und 2. Schuljahr)<br />

lernen jahrgangsgemischt, während die SchülerInnen ab dem 3. Schuljahr in<br />

jahrgangshomogenen Gruppen unterrichtet werden. Seit dem Schuljahr<br />

2000/2001 wurde das jahrgangsübergreifende Konzept versuchsweise auch auf<br />

drei von neun Gruppen der Jahrgänge 3, 4 und 5 ausgeweitet. Der Schulversuch<br />

ist auf 6 Jahre angelegt und ist in ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt eingebettet.<br />

Literatur: Ulrich Bosse u. a.: Gemischt oder Gleich? Wie Schulen die Arbeit in<br />

jahrgangsgemischten Gruppen gestalten. Werkstattheft 18. <strong>Bielefeld</strong><br />

1999<br />

<strong>Christine</strong> Haschke u. a.: Lernen in jahrgangsgemischten Gruppen (Jg.<br />

3, 4, 5): Ein Schulversuch an der Laborschule. Konzeptentwicklung<br />

und erste Erfahrungen. Werkstattheft 23. <strong>Bielefeld</strong> 2001<br />

Beratungsstelle<br />

Die <strong>Bielefeld</strong>er Beratungsstelle für Kinder mit Rechenstörungen ist eine Einrichtung<br />

des IDM (Institut für Didaktik der Mathematik) an der Universität <strong>Bielefeld</strong>.<br />

Sie verbindet Forschungsaufgaben (Ursachen und Erscheinungsformen von Rechenstörungen)<br />

mit Aufgaben in der Lehrerausbildung (Lehramt Primarstufe) und<br />

Serviceaufgaben (telefonische Beratung [0521-1062502; immer Mittwoch 16-18<br />

Uhr] für Eltern und Lehrkräfte; Förderung von Kindern).<br />

BetreungslehrerIn<br />

Die Laborschule nimmt das Prinzip der kontinuierlichen Betreuung der Gruppen<br />

wichtig. In der Stufe I werden die Kinder in altersgemischten Gruppen über drei<br />

Jahre von einer BetreuungslehrerIn, im Ausnahmefall von zwei LehrerInnen begleitet.<br />

Am Nachmittag setzen sich die Gruppen neu zusammen; hier erfolgt die<br />

Betreuung durch ein Team von zwei ErzieherInnen/SozialpädagogInnen. In der<br />

Stufe II nimmt die Anzahl der LehrerInnen zwar zu – Englisch, Werkunterricht,<br />

Arbeitsgemeinschaften werden meist von anderen Personen unterrichtet –, aber<br />

die Wichtigkeit der Betreuungsperson/manchmal auch zwei LehrerInnen bleibt<br />

zwei bzw. drei Jahre bestehen. Durch die Stufen 3 und 4 (Jg. 5 bis 10) werden<br />

die SchülerInnen meist von einer BetreuungslehrerIn, seltener von einem Team<br />

geführt, die bzw. das möglichst eine hohe Anzahl an Fachstunden in der Gruppe<br />

unterrichtet.<br />

Erstüberprüfung<br />

Bei begründetem Verdacht auf Rechenstörungen besteht die Möglichkeit einer<br />

Erstüberprüfung in der Beratungsstelle. Mit der Methode des lauten Denkens<br />

werden die kindlichen Prozesse der Lösung von Aufgaben untersucht. Verwendet<br />

werden Aufgabenstellungen, die geeignet sind, auf die typischen Symptome für<br />

Rechenstörungen aufmerksam zu machen. Die einzelnen inhaltlichen Aufgabenschwerpunkte<br />

einer Erstüberprüfung sind im Beitrag von Zimmer in diesem Heft<br />

auf S. 122ff. nachzulesen.<br />

149


150<br />

Anhang: Glossar<br />

FEP – Forschungs- und Entwicklungsplan<br />

Alle zwei Jahre stellen die Versuchsschule und Wissenschaftliche Einrichtung Laborschule<br />

einen neuen Plan ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeit auf. Aus<br />

der Praxis heraus werden Fragestellungen formuliert, finden sich Forschungsgruppen<br />

von LehrerInnen (und WissenschaftlerInnen) zusammen und werden<br />

Projektanträge geschrieben. Im Gesamtumfang von fünf LehrerInnenstellen (entspricht<br />

90 Stunden) können Projektstunden, die zu einer „Entlastung“ des Lehrdeputats<br />

(normales nordrhein-westfälisches Gesamtschuldeputat) führen, verteilt<br />

werden. In unserem Mathematikprojekt arbeiteten die beteiligten LehrerInnen<br />

mit einem jeweiligen Forschungsdeputat von 3 Stunden.<br />

Literatur: Klaus-Jürgen Tillmann: „Autonomie“ – eine Schule regelt ihre Angelegenheiten<br />

selbst. In: Susanne Thurn/Klaus-Jürgen Tillmann: Das Beispiel<br />

Laborschule <strong>Bielefeld</strong>. Unsere Schule ist ein Haus des Lernens.<br />

Reinbek bei Hamburg 1997, S. 98ff.<br />

KJHG<br />

Das KJHG, das Kinder- und Jugendhilfegesetz, ist das SGB VIII, das Sozialgesetzbuch<br />

VIII.<br />

Im § 35a wird die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche<br />

geregelt. Über diesen Paragraphen können Kinder mit Rechenstörungen<br />

(„Dyskalkulie“) öffentlich finanzierte Förderung unter der Voraussetzung erhalten,<br />

dass sie seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht<br />

sind. Das Vorliegen einer Rechenstörung allein reicht also für die Gewährung öffentlicher<br />

Mittel für die Förderung nicht aus.<br />

Mathe-Treff<br />

Der Mathe-Treff stellt eine besondere Organisationsform des ansonsten ganzheitlichen<br />

Unterrichts in der Eingangsstufe der Laborschule dar. Bereits seit 12 Jahren<br />

haben die Lehrerinnen der Gruppen rosa und oliv Erfahrungen damit gesammelt.<br />

Der ‚große‘ Mathe-Treff bietet Gelegenheit gruppenübergreifend Mathematik<br />

zu betreiben. Die Kinder werden unterschiedlich gruppiert (jahrgangsweise,<br />

leistungsbezogen, erhöhter Förderbedarf ...) um mit einer der beiden Lehrerinnen<br />

neue Unterrichtsinhalte zu entdecken und zu erarbeiten, bereits Gelerntes zu<br />

üben, unterschiedliche Strategien zu entwickeln und zu diskutieren etc. Ein Teil<br />

der Kinder, die gerade nicht am Mathe-Treff teilnehmen, arbeiten parallel bei der<br />

anderen Lehrerin in einem Sprache-Treff, der ähnliche Ziele bezogen auf den Bereich<br />

Sprache verfolgt, die übrigen arbeiten selbständig. Der gruppenübergreifende<br />

Mathe-Treff findet phasenweise ein- bis zweimal wöchentlich statt. ‚Kleine‘<br />

Mathe-Treffs innerhalb der Gruppe finden fast täglich statt.


Mathewagen<br />

Anhang: Glossar<br />

Der ‚Mathewagen‘ war ursprünglich ein mobiles Regal in einem Kosmetikfachgeschäft<br />

und hat jetzt seinen festen Standort zwischen zwei Gruppen. Gut sichtbar<br />

und geordnet bietet er den Kindern viele Materialien zum selbstständigen Mathematiklernen<br />

und -üben in ansprechender Form an. Sie finden dort Rechenrahmen,<br />

Lineale, Maßbänder, Würfel, Rechenplättchen, Spielgeld, Rechenpyramiden,<br />

Hundertertafeln, das Zauberdreieck mit den zugehörigen Karten, Schüttelkästen<br />

zur Zahlzerlegung, Rechenpuzzles, Tangram, Schach u. v. m.<br />

151


Mehrsystemblöcke<br />

152<br />

Anhang: Glossar<br />

Dieses Übungsmaterial aus Holz oder Plastik ist auch unter den Namen Dienes-<br />

Blöcke oder Einer-, Zehner- und Hunderterklötze bekannt. Es dient der ‚fassbaren‘<br />

Darstellung von Zahlen im Zahlenraum bis 1000<br />

Literatur: H. Radatz/W. Schipper: Handbuch für den Mathematikunterricht an<br />

Grundschulen. Hannover 1983<br />

OTZ – Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung<br />

Dieser aufgaben- und produktorientierte Test zum Stand der Zahlbegriffsentwicklung<br />

für Kinder im Alter von 5 bis 7 ½ Jahren ist in den Niederlanden entwickelt<br />

und in Deutschland an die Verhältnisse angepasst und erprobt worden. Der Test<br />

besteht aus zwei Parallelversionen mit jeweils 40 Aufgaben und wird in Einzelüberprüfungen<br />

durchgeführt. Er dauert ca. eine halbe Stunde. Die Diagnose und<br />

Einordnung in einer der fünf Niveaugruppen der Entwicklung (A-E) ergibt sich aus<br />

dem Vergleich der Leistung des Kindes mit einer Normgruppe von Kindern gleichen<br />

Alters. In unserem Projekt haben wir mit Vorschulkindern diesen Test<br />

durchgeführt, um mögliche ‚Risikokinder‘ frühzeitig zu erkennen.<br />

Literatur: J.E.H Van Luit./B.A.M. Van de Rijt/K. Hasemann: OTZ – Osnabrücker<br />

Test zur Zahlbegriffsentwicklung. Göttingen 2001<br />

Patenkind<br />

Zu Beginn jedes neuen Schuljahres übernehmen ältere Kinder – meist ‚Zweier‘,<br />

die bereits im 3. Jahr die Eingangsstufe der Laborschule besuchen – Patenschaften<br />

für die neu aufgenommenen Vorschulkinder, damit diese sich in ihrer neuen<br />

Gruppe schneller aufgenommen fühlen.


Porträts<br />

Anhang: Glossar<br />

An der Laborschule schreiben die BetreuungslehrerInnen zusammen mit den<br />

SonderpädagogInnen anonymisierte Kinderporträts über die Kinder mit sonderpädagogischem<br />

Förderbedarf. Diese Berichte versuchen, ein möglichst vollständiges<br />

Bild des Kindes aufzuzeichnen und geben Informationen über die bisherige<br />

Entwicklung und die zukünftigen Förderschwerpunkte. Ähnlich den pädagogischen<br />

Gutachten, die im Rahmen der Verordnung über die Feststellung des sonderpädagogischen<br />

Förderbedarfs erstellt werden, werden auch die Porträts der<br />

Schulaufsichtsbehörde zugängig gemacht und dienen als Berechnungsgrundlage<br />

für die Zuweisung von Sonderpädagogik-Stunden.<br />

Literatur: Irene Demmer-Dieckmann: Porträts an der Laborschule. Die Beschreibung<br />

des individuellen Entwicklungs- und Lernstandes. In: Irene<br />

Demmer-Dieckmann/Bruno Struck (Hrsg.): Gemeinsamkeit und Vielfalt.<br />

Pädagogik und Didaktik einer Schule ohne Aussonderung. Weinheim<br />

und München 2001<br />

SGB VIII<br />

Sozialgesetzbuch VIII; vgl. auch KJHG<br />

Pyramide<br />

Sonderpädagogischer Förderbedarf<br />

Ein Lernspiel mit Selbstkontrolle für 1–4 Spielerinnen.<br />

Es gibt sie mit 25, 36 und 49 Elementen,<br />

je nach Schwierigkeitsgrad der zu<br />

lösenden Additions-Subtraktions, Multiplikations-<br />

und Divisionsaufgaben. Wenn richtig gerechnet<br />

und angelegt wird, entsteht ein großes<br />

Dreieck: die ‚Pyramide‘. Sie ist beim<br />

Spectra-Verlag erhältlich.<br />

Ein sonderpädagogischer Förderbedarf ist bei Kindern und Jugendlichen zu vermuten,<br />

deren Entwicklungs-, Lern- und Bildungsmöglichkeiten derart beeinträchtigt<br />

sind, dass sie über einen längeren Zeitraum spezifische, kontinuierliche und<br />

umfassende Hilfen benötigen.<br />

Der sonderpädagogische Förderbedarf entsteht nicht einseitig aus einer persönlichen<br />

Beeinträchtigung, sondern immer aus der Wechselwirkung mit der besonderen<br />

Lebens- und Schulsituation des einzelnen Kindes.<br />

Literatur: Gerd Ulrich Heuer: Beurteilen/Beraten/Fördern. Dortmund 2001<br />

153


Taschenrechnerdiktat<br />

154<br />

Anhang: Glossar<br />

Mit dem Taschenrechnerdiktat kann die Zahlenschreibweise von links nach rechts<br />

geübt werden, da ein Zahlendreher entsteht, wenn das Kind den Einer vor dem<br />

Zehner eintippt.<br />

Zahlenbrücke<br />

Siehe Zauberdreieck<br />

Zahlendiktat<br />

Zahlendreher, das inverse Aufschreiben von zweistelligen Zahlen und spiegelverkehrt<br />

notierten Ziffern, beim Zahlendiktat können auf eine Links-Rechts-<br />

Schwäche und/oder eine Stellenwertunsicherheit hinweisen. Zunächst können<br />

Zahlendiktate zur Diagnose herangezogen werden, später auch zur Übung dienen.<br />

Zauberdreieck<br />

Zauberdreieck und Zahlenbrücke sind zwei operative Übungsformate, bei denen<br />

die Zahlenfelder in Form eines Dreiecks bzw. einer Brücke angeordnet sind. Die<br />

Aufgabe besteht darin, die Felder so mit den Zahlen zu füllen, dass alle Seitensummen<br />

gleich sind. Die Schüler üben durch Ausprobieren und geschicktes Operieren<br />

mit den Zahlen verschiedene Probleme zu lösen. Diese Übungsformate<br />

können ab der 1. Klasse eingesetzt und durch Veränderungen der Aufgabenstellungen<br />

in ihrem Schwierigkeitsgrad verändert werden.<br />

Literatur: Jürgen Floer: Kombino I. Spectra 2000<br />

Jürgen Floer: Rechnen, Üben und Entdecken – Beispiel, Erfahrungen,<br />

Anmerkungen. In: Sache-Wort-Zahl, Juni 2001, S. 8–12<br />

Petra Scherer: Produktives Lernen für Kinder mit Lernschwächen: Fördern<br />

durch Fordern. Leipzig/Stuttgart/Düsseldorf 2000, S. 222ff.


155<br />

Anhang: Kernziele<br />

Ziele des Arithmetikunterrichts im Jahrgang 0 (Vorschuljahr)<br />

Kernziele Teilgruppen und Feinziele Klippen im Lernprozess<br />

Zählen,<br />

Zahlen darstellen und<br />

Zahlen auffassen im<br />

Zahlenraum (ZR) bis<br />

10<br />

Kleine Rechengeschichten<br />

bearbeiten<br />

Zahlzerlegungen im<br />

Zahlenraum bis 10<br />

Addition/Subtraktion<br />

im ZR bis 10<br />

• Zahlwortreihe aufsagen<br />

– „Zähle so weit du kannst.“ (vorwärts)<br />

– Welche Zahl kommt nach der 3,...?<br />

- Zähle rückwärts von 10 bis 0<br />

– Welche Zahl kommt vor der 9,...?<br />

– Welche Zahl liegt zwischen 3 und 5?<br />

• Kleine Mengen (Kinder, Knöpfe, Plättchen...) durch<br />

Abzählen bestimmen<br />

• Lege 5 Plättchen, male 3 Blumen ...<br />

• strukturiert dargestellte Mengen zunehmend quasi-<br />

simultan erfassen (Die Kraft der 5)<br />

• Kleine Zahlen z.B. am Rechenrahmen (RR) einstellen<br />

• Rechengeschichten im Zahlenraum bis 10 mit Hilfe von<br />

Handlungen an Materialien bearbeiten und dabei Einsicht in<br />

die symbolische Schreibweise gewinnen<br />

• Zerlegungen im ZR bis 10 mit Hilfe von Material erarbeiten<br />

und in geeigneten Formen (z. B. „Haus der 10“) notieren<br />

• Kleine Additionen und Subtraktionen im ZR bis 10 mit Hilfe<br />

von Handlungen an Materialien (Rechenrahmen)<br />

lösen (3 + 4 = __)<br />

• Erste Verdopplungsaufgaben auswendig wissen<br />

• Die sog. Zählprinzipien nach Gelman/<br />

Gallistel (1978) beachten, insbesondere<br />

– das Eindeutigkeitsprinzip (Zuordnung<br />

Zahlwort zu Gegenstand und nicht etwa<br />

Silbe zu Gegenstand)<br />

– das Kardinalzahlprinzip (Versteht das<br />

Kind, dass das letzte Zahlwort eine Eigenschaft<br />

der gesamten Menge ist?)<br />

• Quasi-Simultane Zahlauffassung<br />

• Auswahl eines geeigneten Arbeitsmittels<br />

• Rückwärts zählen<br />

• Verständnis der symbolischen Schreibweise<br />

(+ , - , =)<br />

• Verständnis der Darstellungsformen<br />

• Verständnis der symbolischen Schreibweise<br />

(+ , - , =)<br />

Anhang: Kernziele


156<br />

Ziele des Arithmetikunterrichts im 1. Schuljahr<br />

Kernziele Teilgruppen und Feinziele Klippen im Lernprozess<br />

Zählen,<br />

Zahlen darstellen und<br />

Zahlen auffassen<br />

Zahlzerlegungen im<br />

Zahlenraum bis 10<br />

automatisieren<br />

Zahlen verdoppeln und<br />

halbieren sowie das<br />

Wissen um das Doppelte<br />

und die Hälfte<br />

beim Rechnen nutzen<br />

• Zahlwortreihe aufsagen<br />

– “Zähle so weit du kannst.” (vorwärts)<br />

– Zählen ab ... (vorwärts)<br />

– Zählen von ... bis ...(vorwärts)<br />

– Zählen in Schritte<br />

– Zählen rückwärts ab ...<br />

– Zählen rückwärts von ... bis ...<br />

• Mengen abzählen<br />

• Abgedecktes Zählen<br />

• Alle Zerlegungen aller Zahlen bis 10 mit Hilfe von Material erarbeiten<br />

und in geeigneten Formen (z. B. “Haus der 10”) notieren<br />

• Alle Zerlegungen aller Zahlen bis 10 auswendig wissen<br />

• Verdoppelungs- und Halbierungsaufgaben im Zahlenraum bis 10<br />

auswendig wissen<br />

• Verdoppelungs- und Halbierungsaufgaben im Zahlenraum bis 20<br />

automatisiert lösen<br />

• Rechenaufgaben mit Hilfe des Verdoppelns bzw. Halbierens sowie<br />

des Fast-Verdoppelns und Fast-Halbierens lösen<br />

• Rückwärtszählen<br />

• Quasi-Simultane Zahlauffassung<br />

und -darstellung<br />

• Auswahl eines geeigneten Arbeitsmittels<br />

• Ablösung vom Material mit Hilfe<br />

von Übungen zur Entwicklung<br />

mentaler Vorstellungen (verdeckte<br />

Hände)<br />

• 14-6 über “Hälfte von 14 plus 1”<br />

(häufig: Rechenrichtungsfehler)<br />

Anhang: Kernziele


157<br />

Kernziele Teilgruppen und Feinziele Klippen im Lernprozess<br />

Das kleines Einspluseins<br />

bis 10 und<br />

seine Umkehrung<br />

auswendig wissen<br />

Beim Addieren und<br />

Subtrahieren im zweiten<br />

Zehner (10 bis 20)<br />

die Analogien nutzen<br />

Den Zehnerübergang<br />

mit guten Strategien<br />

bewältigen<br />

• Aufgaben vom Typ a±b=x (mit a, b gegeben; x gesucht) im Zahlenraum<br />

bis 10 auswendig wissen<br />

• Aufgaben mit Variation des Platzhalters erschließen können<br />

• Beispiel: 13+4=17, weil 3+4=7<br />

• Operative Strategien nutzen:<br />

– das Verdoppeln / Halbieren<br />

– gegen- bzw. gleichsinniges Verändern<br />

– schrittweises Rechnen<br />

• Mindestanforderung: schrittweises Rechnen bis 10, dann weiter<br />

• Variationen des Platzhalters nicht<br />

nur formal einführen sondern<br />

handelnd grundlegend<br />

• Ablösung vom zählenden Rechnen<br />

mit Hilfe von Übungen zur Verinnerlichung<br />

der Handlungen


158<br />

Ziele des Arithmetikunterrichts im 2. Schuljahr<br />

Kernziele Teilgruppen und Feinziele Klippen im Lernprozess<br />

Zählen,<br />

Zahlen darstellen und<br />

Zahlen auffassen im<br />

ZR bis 100<br />

• Zahlwortreihe bis 100 aufsagen<br />

– Zählen ab ... (vorwärts)<br />

– Zählen von ... bis ...(vorwärts)<br />

– Zählen in Schritten<br />

– Zählen rückwärts ab ...<br />

– Zählen rückwärts von ... bis ...<br />

• Benachbarte Zehnerzahlen finden<br />

• Strukturiert dargestellte Mengen (z.B. am Rechenrahmen)<br />

quasi-simultan erfassen<br />

• Orientierung an der Hundertertafel<br />

- Welche Zahl steht vor/ hinter 63, ...?<br />

- Welche Zahl steht über/ unter 54, ...?<br />

- Wo findest du die Zehnerzahlen?<br />

- Wo findest du die Zahlen, die als Einer eine 5,<br />

.... haben?<br />

- Verdeckte Zahlen benennen<br />

- Wege auf der Hundertertafel „im Kopf“<br />

• Die Zahlen bis 100 strukturiert darstellen (z.B.<br />

zeichnen mit Zehnerstreifen, einstellen am Hunderter-RR,<br />

.......)<br />

• Rückwärtszählen über den Zehner<br />

• Quasi-Simultane Zahlauffassung und -darstellung<br />

• Alle Zwanzigerzahlen befinden sich in der dritten<br />

Reihe der Hundertertafel etc.<br />

Anhang: Kernziele


159<br />

Kernziele Teilgruppen und Feinziele Klippen im Lernprozess<br />

Beim Addieren und<br />

Subtrahieren im Zahlenraum<br />

bis 100<br />

die Analogien nutzen<br />

• Von der Addition reiner Zehnerzahlen über das<br />

Addieren von einstelligen Zahlen und reinen Zehnerzahlen<br />

zu gemischten Zehner-Einer-Zahlen bis<br />

zur Addition zweier gemischter Zehner-Einer-<br />

Zahlen mit Zehnerübergang, Subtraktion entsprechend<br />

• Operative Strategien nutzen<br />

• Zunehmend ohne schriftliche Zwischenschritte „im<br />

Kopf“ rechnen<br />

• Schrittweises Rechnen<br />

(46 + 28 = 46 + 20 + 8)<br />

Das kleine Einmaleins • Grundvorstellungen der Multiplikation entwickeln<br />

• Multiplizieren mit 1, 2 ,5 und 10 als „Stützaufgaben“<br />

• Ausnutzen von Beziehungen/Rechenvorteilen<br />

• Möglichst viele Aufgaben des kleinen 1x1 auswendig<br />

wissen<br />

Division analog zum<br />

kleinen Einmaleins<br />

• Grundvorstellungen der Division aus der Multiplikation<br />

entwickeln<br />

• Ablösung vom Material<br />

• Subtraktion schwieriger als Addition<br />

• Schwierigkeiten bei den Zehnerübergängen<br />

• „Stellenwerte extra“ (46+28=40+20+6+8=<br />

40+20+14) häufige Fehlerquelle<br />

• Unverständnis der symbolischen Schreibweise<br />

• Grundverständnis der Multiplikation als wiederholte<br />

Addition<br />

• Multiplikation mit 0 und 1<br />

• Dividieren durch 1<br />

• Verständnis der symbolischen Schreibweise<br />

• Division als Umkehrung der Multiplikation verstehen<br />

Anhang: Kernziele


160<br />

Anhang: Kernziele<br />

Ziele des Arithmetikunterrichtes im 3. Schuljahr<br />

Kernziele Teilgruppen und Feinziele<br />

Den Zahlenraum bis<br />

1000 erweitern<br />

Mündlich und halbschriftlich<br />

addieren<br />

und subtrahieren<br />

Mündlich und halbschriftlichmultiplizieren<br />

Schriftlich addieren<br />

und subtrahieren<br />

Anzahlen schätzen<br />

Zahlen strukturiert darstellen, vergleichen<br />

und ordnen<br />

Das Verständnis für Bündelung und Stellenwert<br />

vertiefen<br />

Analogien nutzen<br />

Schrittweises Rechnen als Mindeststrategie<br />

erarbeiten<br />

Vorteilhafte Strategien entwickeln und<br />

nutzen<br />

Analogien verstehen und nutzen<br />

Überschlagsrechnungen durchführen<br />

Das kleine Einmaleins festigen und erweitern<br />

auf Aufgaben vom Typ E·EZ<br />

Beim halbschritlichen Multiplizieren neben<br />

der Normalform auch die Notation in<br />

Form des Malkreuzes verwenden<br />

Analogien verstehen und nutzen:<br />

8·2=16, 80·200 = 16000<br />

Überschlagsrechnungen durchführen<br />

Stellenwerte verstehen<br />

Bündelung und Entbündelung beherrschen<br />

Die Subtraktion in Form des Abziehens<br />

mit Entbündeln behandeln<br />

Addieren mehrerer Subtrahenden<br />

Überschlagsrechnungen durchführen<br />

Klippen im<br />

Lernprozess<br />

Verständnis Stellenwert<br />

Auf die Schreibweise<br />

der Zahlen achten<br />

Schrittweises Rechnen<br />

statt Stellenwerte<br />

extra thematisieren<br />

und favorisieren<br />

Die Entbündelungsmethode<br />

ist dann<br />

kompliziert, wenn der<br />

Minuend viele Nullen<br />

aufweist. Häufig können<br />

solche Aufgaben<br />

jedoch im Kopf (durch<br />

Ergänzen) gelöst werden.


Anhang: Kernziele<br />

Ziele des Arithmetikunterrichts im 4. Schuljahr<br />

Kernziele Teilgruppen und Feinziele<br />

Den Zahlenraum bis<br />

eine Million und darüber<br />

hinaus erweitern<br />

In allen vier Grundrechenarten<br />

im Kopf<br />

und halbschriftlich<br />

rechnen können<br />

Schriftlich multiplizieren<br />

und dividieren<br />

Stützpunktvorstellungen von großen<br />

Zahlen entwickeln (Vergleiche bzw.<br />

schrittweises Vorgehen)<br />

Zahlen strukturiert darstellen, vergleichen<br />

und ordnen<br />

Das Verständnis für Bündelung und<br />

Stellenwert vertiefen<br />

Analogien nutzen<br />

Diagramme als Veranschaulichungshilfe<br />

lesen und entwerfen können, ebenso<br />

auf dem Zahlenstrahl zurechtfinden<br />

Große Zahlen runden<br />

Schätzen und überschlägig rechnen<br />

Verständnis für die jeweiligen Rechenschritte<br />

und die Vorgehensweisen entwickeln<br />

Divisionsaufgaben mit Rest rechnen<br />

können (Restschreibweise)<br />

Kleines Einmaleins (und Einsdurcheins)<br />

auswendig können<br />

Analogien nutzen<br />

Großes Einmaleins halbschriftlich (z.B.<br />

mit Hilfe des Malkreuzes) rechnen<br />

können<br />

Schätzen und überschlägig rechnen<br />

Überschlags- und Kontrollrechnungen<br />

ausführen<br />

Subtraktion als Voraussetzung für Division<br />

beherrschen<br />

Division mit der Enthaltensein-<br />

Vorstellung erarbeiten<br />

Mindestanforderung: Division durch<br />

einstellige Divisoren<br />

Schätzen und überschlägig rechnen<br />

Klippen im<br />

Lernprozess<br />

Verständnis Stellenwert<br />

Auf die Schreibweise der<br />

Zahlen achten<br />

Nachbarn von Stufenzahlen<br />

(179 999 999,<br />

180 000 000,<br />

180 000 001)<br />

Das Verfahren der<br />

schriftlichen Division ist<br />

nicht direkt einleuchtend;<br />

beim Herunterschreiben<br />

der nächsten<br />

Ziffer kann Verwirrung<br />

entstehen;<br />

ebenso bei einer Null im<br />

Ergebnis<br />

161


162<br />

Anhang: Kernziele<br />

Geometrie: Unterrichtsziele für die Eingangsstufe<br />

Vorrangiges Ziel des Geometrieunterrichts in der Primarstufe ist die Förderung<br />

der räumlichen Vorstellung. Wichtig dafür sind folgende Aktivitäten:<br />

Erkunden der Umwelt, Begehen, Orientieren, Modellieren, Versprachlichen, Falten,<br />

Kleben, Schneiden, Legen, Bauen, Sehen, Vorstellen, Messen, Schätzen,<br />

Vergleichen, Färben und Zeichnen<br />

Inhalte und Kernziele handlungsorientierte Feinziele<br />

thematisch unabhängig von der Reihenfolge<br />

Raumerfahrungen<br />

- Raumerfahrungen durch Operationen<br />

im Raum gewinnen und vertiefen<br />

- geometrische Begriffe und Beziehungen<br />

in der Umwelt erkennen und untersuchen<br />

- die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit<br />

und das räumliche Vorstellungsvermögen<br />

schulen<br />

Körperformen<br />

- erste Erfahrungen über ihre Eigenschaften<br />

- Körperformen vergleichen, herstellen<br />

und untersuchen<br />

Ebene Figuren<br />

- ebene Figuren vergleichen, herstellen<br />

und untersuchen<br />

- erste Erfahrungen zur Symmetrie<br />

sammeln<br />

Messen und Zeichnen<br />

Erkennen, Benennen, Beschreiben, Untersuchen<br />

und Vertiefen von<br />

geometrischen Lagebeziehungen:<br />

über-unter, vor-hinter, links von-rechts von,<br />

neben, zwischen...<br />

Formqualitäten:<br />

dick-dünn, rund-eckig...<br />

geometrische Eigenschaften und Merkmalsbegriffe:<br />

eckig, rund, lang, kurz, dick, dünn, breit,<br />

schmal, viereckig, dreieckig, quadratisch ...<br />

geometrische Körper in der Umwelt erkennen,<br />

beschreiben, nachbauen und auf ihre<br />

Eigenschaften hin untersuchen.<br />

ebene Figuren, Formen in der Umwelt finden,<br />

benennen und beschreiben, zeichnen<br />

und auf ihre Eigenschaften hin untersuchen,<br />

geometrische Muster und Parkettierungen<br />

legen, nachlegen, auslegen, herstellen ,<br />

zeichnen, bzgl. der Größe vergleichen<br />

(Rechteck, Quadrat, Kreis, Dreieck), mit<br />

ihnen experimentieren<br />

achsensymmetrische Figuren erkennen, herstellen,<br />

legen, falten, klecksen, schneiden<br />

Grundvorstellungen geometrischen Messens<br />

entwickeln<br />

Schätzen, Strecken messen, Zeichnen mit<br />

Umweltmaterial, mit Schablonen, dem Lineal<br />

und aus der feien Hand


Anhang: Kernziele<br />

Geometrie: Unterrichtsziele für den Jahrgang 3 und 4<br />

Inhalte und Kernziele handlungsorientierte Feinziele<br />

Raumerfahrung<br />

visuelle Wahrnehmungsfähigkeiten<br />

und räumliches Vorstellungsvermögen<br />

erweitern<br />

Körperformen<br />

vergleichen, herstellen und untersuchen<br />

Ebene Figuren<br />

vergleichen, herstellen und untersuchen<br />

Erfahrungen zur Symmetrie<br />

vertiefen<br />

Messen und Zeichnen<br />

geometrische Beziehungen und Eigenschaften in der<br />

Umwelt erkennen, untersuchen und nutzen<br />

(fächerübergreifende Möglichkeiten nutzen, z.B. Bau<br />

eines Vogelhauses, Geometrie in der Kunst)<br />

Massiv- und Kantenmodelle geometrischer Körper<br />

(Würfel, Quader, Kugel, Pyramide, Zylinder, Prisma,<br />

Kegel) herstellen und auf ihre Eigenschaften untersuchen<br />

mit Würfeln nach Vorlage bauen und passende Baupläne<br />

erstellen<br />

Flächenmodelle von Würfeln und Quadern herstellen<br />

und deren Netze untersuchen<br />

ebene Figuren legen, auslegen, umformen und<br />

zeichnen<br />

Flächen nach verschiedenen Eigenschaften sortieren<br />

und die entsprechenden Fachbegriffe zuordnen<br />

Symmetrien (Achsen-, Dreh- und Schubsymmetrie)<br />

in der Umwelt erkennen; die Erfahrungen in weiteren<br />

Übungen vertiefen<br />

symmetrische Muster erkennen, fortsetzen und<br />

selbst entwickeln<br />

Parkettierungen, Bandornamente entwickeln<br />

Fertigkeiten mit Zeichengeräten (Schablonen,<br />

Lineal, Geodreieck, Zirkel) ausbauen<br />

Parallele und senkrechte Geraden erkennen, untersuchen<br />

und zeichnen<br />

gebräuchliche Winkeltypen kennen und sachangemessen<br />

anwenden<br />

ebene Figuren vergrößern und verkleinern<br />

Umfang und Flächeninhalt untersuchen<br />

maßstabsgetreues Zeichnen<br />

163


164<br />

Anhang: Kernziele<br />

Sachrechnen und Größen: Unterrichtsziele für die Eingangsstufe<br />

Inhalte und Kernziele handlungsorientierte Feinziele<br />

Sachverhalte quantitativ beschreiben<br />

Grundvorstellungen zu Geldwerten,<br />

Zeitspannen und Längen entwickeln<br />

und vertiefen<br />

Sachsituationen untersuchen<br />

Sachaufgaben bearbeiten<br />

Dinge aus der Lebenswirklichkeit beschreibend<br />

vergleichen, ordnen und sortieren;<br />

Verteilungen auszählen, Ergebnisse in einfachen<br />

Vorformen wie Tabellen und Diagrammen<br />

darstellen, erstellen und lesen;<br />

Geldbeträge mit Münzen und Banknoten<br />

darstellen, wechseln und nach Wert ordnen,<br />

wichtige Preise und Gebühren des täglichen<br />

Lebens kennen, damit umgehen und die<br />

Kenntnisse von Gebühren und Preisen nutzen,<br />

Längen schätzen und messen, realistische<br />

Vorstellungen zu den Einheiten cm und m<br />

gewinnen,<br />

Erfahrungen mit der Zeit, dem Kalender<br />

und der Uhr sammeln,<br />

Vertrautsein mit den alltäglichen Zeitmaßen<br />

(Monat, Woche, Tag, Stunde, Minute); mit<br />

Uhr und Kalender umgehen; Verständnis<br />

für Zeitpunkt und Zeitdauer gewinnen<br />

sachstrukturelle Beobachtungen; Erkundungen<br />

und Untersuchungen durchführen;<br />

fachübergreifend z.B. zum Schulleben,<br />

Sachunterricht, Verkehrserziehung in Form<br />

von Projekten oder Vorhaben bearbeiten<br />

als Rechengeschichten oder Bildaufgabe,<br />

mit Bezügen zu den Größen und zur Geometrie<br />

bearbeiten, in verschiedenen Darstellungen<br />

lösen, dabei Bearbeitungshilfen<br />

kennenlernen


Anhang: Kernziele<br />

Sachrechnen und Größen: Unterrichtsziele für den Jahrgang 3 und 4<br />

Die Schüler und Schülerinnen sollen befähigt werden, ihr Größenverständnis weiter<br />

zu entwickeln und kompetent mit Sach- und Informationstexten umzugehen.<br />

Dabei ist es wichtig, dass die Sachaufgaben an die Erfahrungen der Kinder anknüpfen,<br />

bedeutsam und sinnvoll sind und für sie einen Informations- bzw. Unterhaltungswert<br />

besitzen.* Übungsformen zum informativen Lesen sind dafür<br />

notwendig. Für das Sachrechnen eignen sich besonders fächerübergreifende Vorhaben<br />

und Projekte.<br />

Inhalte und Kernziele handlungsorientierte Feinziele<br />

Sachverhalte quantitativ beschreiben<br />

und den Umgang mit Daten und<br />

Stichproben erlernen<br />

Grundvorstellungen zu weiteren<br />

Größen entwickeln und vertiefen<br />

Geldwerte<br />

Längen<br />

Zeitspannen<br />

Gewichte<br />

Rauminhalte<br />

Sachsituationen untersuchen<br />

Sachaufgaben bearbeiten<br />

Daten aus der Lebenswirklichkeit sammeln, in<br />

Tabellen und Diagrammen darstellen und auswerten,<br />

umgekehrt solche Tabellen lesen und<br />

interpretieren, von einer Darstellung in die andere<br />

übersetzen<br />

eigene Stichproben erheben und die Daten auswerten<br />

schätzen und messen mit passenden Messgeräten<br />

einfache Umwandlungen durchführen<br />

- €, ct<br />

- mm, cm, dm, m, km,<br />

- s, min, h (Std.), Tag, Woche, Monat, Jahr<br />

- g, kg, t<br />

- ml, l<br />

die Kommaschreibweise für Geldbeträge, Längen<br />

und Rauminhalte verwenden<br />

mit einfachen Brüchen bei Größen umgehen<br />

zu jedem Größenbereich Repräsentanten aus der<br />

Erfahrungswelt kennen<br />

Beziehungen zwischen benachbarten Einheiten<br />

kennen, Umwandlungen und Rechnungen in den<br />

Größenbereichen vollziehen<br />

sachstrukturelle Beobachtungen, Erkundungen<br />

und Untersuchungen durchführen und in fächerübergreifenden<br />

Projekten und Vorhaben erarbeiten<br />

in verschiedenen Darstellungsweisen<br />

analysieren, bearbeiten, systematisch verändern<br />

und erfinden<br />

* Kassenzettel, Fahrpläne, Zeitungsannoncen, Rezepte, Speisekarten, Fernsehprogramme,<br />

Kalenderblätter, Eintrittskarten, Bundesjugendspielkarten, Witze, Cartoons, Ausschnitte<br />

aus Lexika, Medallienspiegel, Sporttabellen<br />

165

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