Biermann, Christine - Universität Bielefeld
Biermann, Christine - Universität Bielefeld
Biermann, Christine - Universität Bielefeld
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Werkstattheft Nr. 29<br />
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong>/<br />
Wilhelm Schipper (Hrsg.):<br />
„Ich erklär‘ dir, wie ich rechne“ –<br />
Prävention von Rechenstörungen<br />
Ein Kooperationsprojekt der Versuchsschule und<br />
Wissenschaftlichen Einrichtung Laborschule mit dem<br />
Institut für Didaktik der Mathematik (IDM)<br />
<strong>Bielefeld</strong> 2003
„Kannst du addieren?“, fragte die<br />
Königin. „Wie viel ist eins und<br />
eins und eins und eins und eins<br />
und eins und eins und eins und<br />
eins und eins?“ „Keine Ahnung“,<br />
sagte Alice. „Ich hab‘ den Faden<br />
verloren.“<br />
Lewis Carroll: Hinter den Spiegeln<br />
3
Fotonachweis:<br />
Paula G. Althoff: Seite 151 und 152<br />
Uta Görlich: Seite 52<br />
Theresa Nolte: Seite 42<br />
Axel Schulz: Seite 99 und 111<br />
Von Ernst Herb sind alle weiteren Fotos.<br />
Bei sämtlichen auf den Fotos abgebildeten Schülerinnen und Schülern handelt es sich<br />
nicht um die beschriebenen Förderkinder.<br />
Alle Kindernamen sind anonymisiert.
Inhaltsverzeichnis<br />
Seite<br />
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong>:<br />
Was soll das Werkstattheft zeigen? 7<br />
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong>:<br />
Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht.<br />
Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt zur Prävention von<br />
Rechenstörungen 9<br />
Wilhelm Schipper:<br />
Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische<br />
Herausforderung 25<br />
Uta Görlich:<br />
Kim – zwischen den Welten. Beispiel einer Prävention von<br />
Rechenstörungen auf dem Hintergrund sprachlich und kulturell<br />
bedingter Eingliederungsprobleme 49<br />
Paula G. Althoff:<br />
Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung 65<br />
Mircea Radu:<br />
Rechen- und Rechtsschreibschwäche als personengebundene<br />
Anfälligkeit – Leichtfertige Diagnosen und ihre Folgen 79<br />
<strong>Christine</strong> Huth:<br />
„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“ 93<br />
Bianca Beyer:<br />
Eine sperrige Förderung – Katrin und ich 107<br />
Brunhild Zimmer:<br />
„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“ 117<br />
Dagmar Heinrich:<br />
Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel? 135<br />
Anhang:<br />
Glossar 149<br />
Kernziele 155<br />
5
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />
Was soll das Werkstattheft zeigen?<br />
Bei diesem Werkstattheft handelt sich um die Dokumentation der anderthalbjährigen<br />
Arbeit in einem Forschungs- und Entwicklungsprojekt (FEP, siehe Glossar)<br />
der Wissenschaftlichen Einrichtung Laborschule. Es ist das in der Primarstufe angesiedelte<br />
Projekt „‚Ich erklär‘ dir, wie ich rechne‘ – Prävention von Rechenstörungen“.<br />
Im Sommer 2001 gestartet, wird es im Sommer 2003 abgeschlossen<br />
werden. Alle Mitglieder der Projektgruppe – vier Lehrerinnen der Stufe I (0. bis<br />
2. Jahrgang) und Stufe II (3. und 4. Jahrgang), zwei Wissenschaftler des Instituts<br />
für Didaktik der Mathematik (IDM/siehe Glossar), zwei Studentinnen des<br />
Lehramtes Primarstufe und eine Mitarbeiterin der Wissenschaftlichen Einrichtung<br />
Laborschule – haben im Projekt regelmäßig kooperiert und tragen somit auch<br />
ihren Teil zu diesem Heft bei.<br />
Dieser Artikel führt die LeserInnen zunächst zum Start der Projektplanung Ende<br />
2000 zurück, zeigt erste Überlegungen zum Stand des Mathematikunterrichts in<br />
der (Primastufe der) Laborschule auf und führt in die Schwerpunkte der geplanten<br />
Arbeit ein. In einem zweiten Teil werden dann im Sinne des TZI-Ansatzes 1<br />
die beteiligten Personen(-gruppen), die Bedeutung des Individuums und die Inhalte<br />
und Methoden eines ‚guten‘ Mathematikunterrichts näher betrachtet.<br />
Als kooperierender Hochschullehrer des IDM gibt Wilhelm Schipper in seinem<br />
Theorieteil Auskunft über ‚Angebliche Ursachen und tatsächliche Risikofaktoren‘<br />
von Rechenstörungen und versucht eine begriffliche Klärung im ‚Dyskalkulie-<br />
Dschungel‘. Er breitet ‚kleine und große‘ Diagnoseverfahren aus – auch für die<br />
Hand der einzelnen LehrerInnen. Außerdem beschreibt er anschaulich die drei<br />
großen Förderschwerpunkte ‚Verinnerlichung der Zahlzerlegung‘, ‚Schnelles Sehen‘<br />
und ‚Entwicklung von Rechenstrategien‘. Auch die Auswahl geeigneter Arbeitsmittel<br />
macht er zum Thema. In seinem letzten Abschnitt stellt er im Rahmen<br />
des Kapitels ‚Schulische Prävention‘ einige ‚Leitfragen zur Offenheit und Zielorientierung‘<br />
für einen guten Mathematikunterricht vor.<br />
Im Mittelpunkt dieses Werkstattheftes stehen die Fallstudien von insgesamt<br />
sechs Kindern: Ihr schulischer Werdegang, in vier Fällen der missglückte Start in<br />
einer Regelschule, die Einbindung in ihre Familien, erste mathematische Auffälligkeiten,<br />
die genaue Diagnose ihrer Probleme und die sich daraus ergebende<br />
Förderung. Wir stellen das einzelne Kind in den Vordergrund und machen an ihm<br />
exemplarisch einerseits unsere Sicht auf die vielfältigen Faktoren von Rechenstörungen<br />
deutlich, zeigen aber auch deren mehr oder weniger ‚erfolgreiche Bearbeitung‘<br />
auf. Mit der Auswahl der vorgestellten Kinder wollen wir die große Bandbreite<br />
möglicher Probleme, ihrer Erkennung und den Versuch ihrer Bewältigung<br />
deutlich machen.<br />
1 TZI = Themenzentrierte Interaktion: Die gleichwertige Behandlung des ICH, des WIR und des ES, die (dynamische)<br />
Balance, die in Gruppenprozessen zwischen den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Möglichkeiten des<br />
Einzelnen, der Interaktion der Gruppe und deren inhaltlichen Aufgaben entstehen sollte, wird in der TZI in<br />
den Vordergrund gerückt. Näheres dazu ist z. B. in WILL-International 1998 nachzulesen.<br />
7
8<br />
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />
Uta Görlich, seit 28 Jahren in der Eingangsstufe der Laborschule tätig, blättert in<br />
ihrer Beschreibung von Kim das weite Feld von Kulturen, von Migration und<br />
Sprachproblemen auf und den damit verbundenen Vorstellungen, Ansprüchen<br />
und Annäherungen.<br />
Paula G. Althoff, ebenfalls langjährige Lehrerin in der Eingangsstufe, beschreibt<br />
mit Lisa ein Kind, das langsam aber stetig – nach Erkennen seiner Schwierigkeiten<br />
und einer entsprechenden Förderung – sein Selbstvertrauen auch in die Bewältigung<br />
mathematischer Aufgaben steigern konnte, dessen Langsamkeit aber<br />
ein stetiger Problemfaktor bleiben wird.<br />
Mircea Radu, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fakultät für Mathematik und<br />
Kooperationspartner im Projekt, beschreibt seinen mühsamen, aber recht erfolgreichen<br />
Weg, Claudias ‚Erschütterungen‘ die ihr durch eine anderthalbjährige<br />
Grundschulzeit widerfahren sind, durch regelmäßige Förderung und Einzelzuwendung<br />
aufzufangen.<br />
Die beiden am Projekt beteiligten Studentinnen schildern ihre ‚spezielle‘, weil<br />
ausschnitthafte Herangehensweise an die Einzelförderung zweier SchülerInnen.<br />
<strong>Christine</strong> Huth arbeitet regelmäßig mit John, einem verschlossenen Viertklässler,<br />
der ebenfalls in einem uns sehr ‚fremden‘ Kulturkreis aufwächst. Auch ihn hat es<br />
erst nach über einem Jahr Grundschulzeit an die Laborschule geführt. In allen<br />
Lernbereichen zeigt er große Schwierigkeiten – besonders aber in der Mathematik.<br />
Bianca Beyer begleitet die jetzt 11-jährige Anna, auch eine Schulwechslerin nach<br />
einem Jahr Regelschule, seit fast zwei Jahren. Geduldig hält die studentische<br />
Förderin zunächst die ‚Launen‘ ihrer Förderschülerin aus. Aber auch hier zeigen<br />
sich nach Monaten der Beharrlichkeit, Zuwendung und gezielten Förderung erste<br />
Erfolge bei einem Mädchen, das zwischen Selbstüberschätzung, Unsicherheit und<br />
Vertuschung von Schwierigkeiten schwankt und bei dem vor allen Dingen große<br />
Konzentrationsprobleme vorliegen.<br />
Im letzten Fallbeispiel zeigt Brunhild Zimmer, über zwanzig Jahre Primar- und<br />
Sekundarstufenlehrerin an der Laborschule, ihre Förderarbeit mit Mike auf. Nach<br />
einem erfolglosen Jahr in einer Grundschule, einem Jahr Eingangsstufe der Laborschule<br />
ist er jetzt, als immerhin schon 12-Jähriger, in einer Gruppe gut aufgehoben,<br />
in der die Altersmischung von Jahrgang 3/4/5 erprobt wird (siehe Glossar).<br />
Mike ist ein besonders ‚schwieriger Fall‘, aber andererseits auch ein ermutigendes<br />
Beispiel für die Begleitung und Förderung sehr schwacher Schüler, die nie<br />
den ‚Stoff‘ ihrer entsprechenden Altersgruppe bewältigen werden.<br />
Dagmar Heinrich, Sonderpädagogin, schließt das Werkstattheft mit einem Beitrag<br />
über ihre ‚Mathe-Gruppe‘ im Jahrgang 4 und 5 ab. Sie macht in ihrem Text deutlich,<br />
wie sich die Sicht auf die einzelnen Kinder zu einem Gesamtbild zusammenfügt,<br />
ja fügen muss, da es eine Gruppe von 21 SchülerInnen zu unterrichten gilt.<br />
Dieses Spannungsfeld zwischen Einzelperson, Gruppe und Thema wird an ihrer<br />
Beschreibung zweier sehr unterschiedlicher Unterrichtsthemen veranschaulicht.
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />
Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />
Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt zur Prävention<br />
von Rechenstörungen<br />
Ausgangslage: Mathematikunterricht an der Laborschule<br />
„Mathe: Mangelhaft! Setzen!“<br />
Das Lehren und Lernen von Mathematik ist allerorten ein viel diskutiertes Thema.<br />
In der SchülerInnenschaft teilt sich deutlich das Lager nach MathematikliebhaberInnen<br />
und MathematikhasserInnen. In keinem anderen Fach fallen schon in jungen<br />
Jahren viele Sätze wie „Dieses Fach werde ich nie begreifen!“, „Ich bin eben<br />
nicht für die Mathematik begabt!“, „Wozu braucht man das nur alles später?“.<br />
Aber alle SchülerInnen müssen sich zwangsläufig viele Jahre mit diesem Fach<br />
auseinandersetzen. Nach dem ‚TIMSS-Schock‘ ist sogar, zumindestens in Nordrhein-Westfalen<br />
die Möglichkeit, Mathematik in der gymnasialen Oberstufe abzuwählen,<br />
wieder abgeschafft worden. Ob dies allerdings der richtige Weg ist – einfach<br />
nur mehr Mathematikunterricht zu erteilen – sei dahingestellt. Andere Ansätze<br />
wie z. B. in den neuen Mathematikrichtlinien für die Gesamtschulen in<br />
Nordrhein-Westfalen, die verstärkt auf das Lernen in Sinnzusammenhängen und<br />
das problemorientierte Lernen setzen, scheinen da schon sinnvoller zu sein.<br />
Dies ist auch ein Weg, den die Laborschule seit vielen Jahren beschreitet. Mathematik<br />
sollte in den allerersten Planungen der Aufbaukommission gar nicht als<br />
eigenständiges Fach eingerichtet, sondern in den anderen Erfahrungsbereichen,<br />
insbesondere Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften, integriert unterrichtet<br />
werden. Aber schon im Band „Die <strong>Bielefeld</strong>er Laborschule – Allgemeiner<br />
Funktionsplan und Rahmen-Flächenprogramm“ (Hentig 1971) erscheint Mathematik<br />
als ausgewiesenes Fach, wenngleich mit einer geringeren Stundenanzahl<br />
als in der Regelschule, aber verknüpft mit dem Anspruch der Integration in die o.<br />
g. Erfahrungsbereiche. In den achtziger Jahren entstanden viele solcher integrierter<br />
Unterrichtseinheiten, vor allem für die Stufe III, einige wenige für die Stufen<br />
II und IV. Zumeist blieben diese Aufzeichnungen ‚graue‘, d. h. unveröffentlichte<br />
Papiere, einige wenige wurden veröffentlicht (<strong>Biermann</strong> 1986/ Schluckebier<br />
1988). Es war nicht so, dass die Lehrenden nicht immer wieder über ihren eigenen<br />
Unterricht nachdachten. So teilten z. B. Uli Bosse, Uta Görlich u. a. 1987 unter<br />
dem Titel „‚Nicht immer nur Papier‘ – Für einen konkreten, lebensnahen und<br />
Spaß machenden Mathematikunterricht“ dem Kollegium ihre Beobachtungen aus<br />
dem Mathematikunterricht in der Eingangsstufe mit, formulierten ihre Kritik – vor<br />
allen Dingen an ihrem eigenen Unterricht – und stellten am Ende Fragen zur Weiterarbeit<br />
an ihre Kolleginnen und Kollegen. So beschreiben sie den eigenen Mathematikunterricht<br />
und die daraus resultierende Haltung der Kinder folgendermaßen:<br />
„In ihren drei Eingangsstufenjahren haben unsere Kinder somit mehrere 100 Seiten<br />
mathematisch zu wälzen.“ [...] „Die Lust der Kinder an Mathe sinkt tendenziell im<br />
Laufe der 3 Eingangsstufenjahre mit der Menge der verarbeiteten Papiere. Durch<br />
klassische Mechanismen wie ‚Seitenabarbeiten‘ oder ‚Ins nächste Heft kommen‘,<br />
aber auch ‚Ich bin 5 Seiten weiter als Marlene‘ wird eine Grundmotivation aufrecht-<br />
9
10<br />
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />
erhalten, die – neben den Anforderungen der Lehrerin – den Ablauf der täglichen<br />
Papierverarbeitung gewährleistet.“ [...] „Wir Lehrenden der 2. Fläche sind mit unserem<br />
Mathematikunterricht sehr unzufrieden. Wir glauben zwar, daß die meisten<br />
Kinder im Sinne der Übergangsqualifikationen den erforderlichen Stoff lernen. Wir<br />
fördern auch schwache Kinder nach besten Kräften. Allerdings fürchten wir, daß die<br />
Kinder nicht so recht wissen, was sie da tun – und wofür sie es tun“ (Bosse u. a.<br />
1987, S. 4ff.).<br />
Soweit eine sehr selbstkritische Schrift aus der Eingangsstufe. Diese Diskussion<br />
wurde im Hause leider nicht kontinuierlich weitergeführt.<br />
Mit der Umstrukturierung der wissenschaftlichen Arbeit 1989 stand die Forschungs-<br />
und Entwicklungsarbeit des Faches Mathematik von Anfang an mit im<br />
Vordergrund, nicht zuletzt weil alle Absolventenstudien seit 1980 (Schultz/von<br />
der Groeben 1985) belegen, dass viele LaborschülerInnen in den weiterführenden<br />
Schulen Schwierigkeiten mit diesem Fach haben. Und das ist bis zum heutigen<br />
Tage so geblieben: Die meisten Noten sinken ab, viele Inhalte fehlen, etliche<br />
SchülerInnen fühlen sich nicht genügend von der Laborschule ausgebildet (Meyer<br />
1999). Bestätigung in diese Richtung liefern auch die PISA-Daten der Laborschule<br />
aus dem Jahr 2002. Erreichten insbesondere unsere Schülerinnen gute Werte<br />
im Lesen und in der naturwissenschaftlichen Kompetenz, lagen die Ergebnisse<br />
sowohl für die Schülerinnen als auch Schüler für die Fähigkeiten in Mathematik<br />
eher niedrig.<br />
Anfang der 1990er-Jahre wurde für einige Jahre eine WissenschaftlerInnen-Stelle<br />
in der Wissenschaftlichen Einrichtung für das Fach Mathematik besetzt. „Kern der<br />
Arbeit war das Entwickeln neuer erfahrungs- und anwendungsorientierter Unterrichtseinheiten.<br />
Andererseits das Erstellen eines Minimalcurriculums, durch das<br />
die Verschränkung zwischen der Systematik des Mathematiklernens und den<br />
Formen seiner Vermittlung gewährleistet sein soll“ (Tillmann/Thurn 1995, S. 30).<br />
In dieser Zeit entstanden u. a. das „Kerncurriculum Mathematik für die Jahrgänge<br />
5–10“ (Heinrich 1993), einige Aufsätze zu Integrationsprojekten, wie z. B.<br />
„Mathematik und Müll“ (<strong>Biermann</strong> 1994) und ein Impulsband zum Thema „Lineare<br />
Funktionen“ (Wildt 1996).<br />
Ein Grundsatzproblem blieb aber nach all den Jahren intensiver Arbeit weiterhin<br />
bestehen: die Einbeziehung von Lehrenden anderer Erfahrungsbereiche und damit<br />
die Verankerung der Projekte im Laborschulalltag. Diese Frage wurde u. a.<br />
im FEP 1999/2001 von der Projektgruppe ‚Evaluation der Differenz zwischen institutionellem<br />
und realisiertem Curriculum in den Fächern Wahrnehmen und Gestalten<br />
und Mathematik‘ 1 bearbeitet.<br />
An offiziellen Veröffentlichungen aus der Primarstufe aber gibt es nur wenig: Eine<br />
kurze Erwähnung der Mathematik unter Kulturtechniken im „Schulalltag in der<br />
Eingangsstufe der Laborschule“ (Lenzen 1982). In diesem Band werden auch die<br />
oben angesprochenen Übergangsqualifikationen kurz benannt, die eher eine Auflistung<br />
von abstrakten Lernzielen darstellen (ebd., S. 125). Die Darstellung eines<br />
Konzeptes für den Mathematikunterricht der Stufe II, insbesondere die Verbindung<br />
integrierter Einheiten und ausgewiesener Kurse, findet sich schon ausführlicher<br />
im Band „Schulalltag in der Laborschule Stufe II“ (Lenzen u. a. 1986). Man<br />
kann als Resümee dieses kurzen historischen Exkurses zusammenfassen: Über<br />
Mathematik in der Primarstufe wurde weitgehend geschwiegen. Es bleiben Unsicherheiten<br />
bei den meisten Lehrenden: „Wir haben alle unsere Mathematikprob-<br />
1 Der Abschlussbericht dieses Projektes liegt bisher nur als Graues Material vor.
Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />
lemschülerInnen und wissen oft nicht weiter“ und „Wir haben schon lange keine<br />
Fortbildungen mehr gemacht“. Es war also an der Zeit, ein Mathematik-<br />
Primarstufenprojekt einzurichten.<br />
Soweit unsere Ausgangsüberlegungen zum Zeitpunkt unserer Projektplanung<br />
Ende 2000.<br />
Planung des Projektes<br />
Manchmal kommt eins zum anderen – und passt!<br />
Wilhelm Schipper, Hochschullehrer mit Erfahrungen als Lehrer, langjähriger Leiter<br />
der Beratungsstelle für Kinder mit Rechenstörungen am Institut für Didaktik<br />
der Mathematik, hatte nach vielen Jahren Praxis mit der Diagnose und Einzelförderung<br />
von SchülerInnen in eben dieser Beratungseinrichtung die Idee und das<br />
Interesse, diese Erkenntnisse im schulischen Feld auszuprobieren und zu evaluieren.<br />
Die der Universität angeschlossene Laborschule schien ihm dafür der richtige<br />
Ort zu sein. Auch Mircea Radu, ein Mitarbeiter aus seinem Arbeitszusammenhang,<br />
sah in der Theorie-Praxisverbindung eines solchen Forschungsprojektes ein<br />
interessantes Forschungs- und Einsatzfeld.<br />
Ich selbst, langjährige Mathematiklehrerin in der Primar- und Sekundarstufe der<br />
Laborschule, hatte schon bei meiner Bewerbung 1999 auf eine Stelle als Mitarbeiterin<br />
in der Wissenschaftlichen Einrichtung der Laborschule mein Interesse an<br />
einem Mathematikprojekt – vornehmlich in der Primarstufe – betont. Ich hatte<br />
zunächst in der Eingangsstufe, später in der Stufe II (3. und 4. Schuljahr) von<br />
1979 bis 1990 gearbeitet und in dieser Zeit einige Konzeptionsüberlegungen –<br />
vor allen Dingen für die Stufe II – formuliert (Lenzen u. a. 1986). Mein Anliegen<br />
war es schon während meiner Arbeit im Primarbereich, die Einbeziehung von<br />
mathematischen Inhalten in Projekten voranzutreiben, auszugestalten und zu<br />
dokumentieren (<strong>Biermann</strong> 1986 und 1995). Später, als Sekundarstufenlehrerin,<br />
habe ich insbesondere an dieser ‚Integration‘ weiter gearbeitet. Ich sah in ihr<br />
Chancen, den SchülerInnen auf der einen Seite den Sinn des Stoffes und die Anwendbarkeit<br />
deutlich zu machen und auf der anderen Seite in der Projektarbeit<br />
der Heterogenität der SchülerInnen durch sinnvolle, auf sie zugeschnittene Aufgaben<br />
besser gerecht zu werden. Der großen Heterogenität durch hoch individualisierte<br />
Arbeitsblattarbeit der SchülerInnen zu begegnen oder auch durch die<br />
Einteilung der Gesamtgruppe in feste Kleingruppen eine ‚innere Homogenisierung‘<br />
vorzunehmen, fand und finde ich bis heute keine Lösung. Dennoch blieben<br />
damals und sind auch heute noch für mich viele Fragen bezüglich eines guten<br />
Mathematikunterrichts offen. Diese wollte ich – zunächst in einem Primarstufenprojekt<br />
– angehen.<br />
Die wichtigsten Personen eines Forschungs- und Entwicklungsprojektes an der<br />
Laborschule sind die LehrerInnen2 . Nach ihrem Interesse an einem Mathematikprojekt,<br />
das in beiden Stufen der Primarstufe angesiedelt sein sollte, befragt,<br />
fanden sich sofort eine Reihe von InteressentInnen. Es schien uns Sinn zu machen,<br />
dass jeweils zwei Lehrerinnen aus der Eingangsstufe und der Stufe II in<br />
der FEP-Gruppe arbeiten sollten. Davon ‚outete‘ sich Paula Althoff als ausgesprochene<br />
Expertin, die schon seit einigen Jahren mit verschiedenen Methoden und<br />
Organisationsformen (z. B. dem ‚Mathetreff‘ auf ihrer Fläche) experimentiert hatte.<br />
Zwei andere Lehrerinnen – Uta Görlich, Betreuungslehrerin in der Eingangs-<br />
2 Näheres über das LehrerInnen-ForscherInnen-Konzeptes an der Laborschule ist bei Tillmann 1997 zu finden.<br />
11
12<br />
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />
stufe, und Brunhild Zimmer, die während des Projektes im Rahmen der Doppelbetreuung<br />
in der Altersmischung 3/4/5 tätig ist und somit auch für die Förderung<br />
einzelner Kinder zuständig ist – unterrichten seit vielen Jahren Mathematik. Sie<br />
waren aber oft recht unzufrieden mit ihrer eigenen Arbeit und erhofften sich neue<br />
Impulse und mehr Effektivität durch neue Erkenntnisse und Diskussionen im Projekt.<br />
Dagmar Heinrich schließlich, die vierte im Bunde, ausgebildete Sonderpädagogin,<br />
sonst häufig im Rahmen des Integrationsschulversuches in der Doppelbetreuung<br />
eingesetzt 3 , unterrichtete seit einem knappen Jahr einen 3. Jahrgang<br />
in Mathematik. Sie hatte großes Interesse an Hinweisen für einen ‚guten‘ Mathematikunterricht<br />
und an Diskussionen von Unterrichtsprinzipien.<br />
Außerdem sollten zwei Studentinnen feste Mitarbeiterinnen in unserem Projekt<br />
werden. Neben ihren üblichen Hilfskraftaufgaben (Kopieren, Protokolle schreiben,<br />
Bibliographien erstellen) förderten sie jeweils drei Kinder regelmäßig ein- bis<br />
zweimal pro Woche. So diente das Projekt gleichzeitig im Rahmen der Primarstufenlehrendenausbildung<br />
als Theorie-Praxis-Feld. Waren sie in der Universität im<br />
Rahmen eines Seminars von Wilhelm Schipper zu ‚Förderinnen‘ ausgebildet worden,<br />
hatten sie im Projekt die Gelegenheit, das Gelernte anzuwenden, in ständigem<br />
Kontakt und Austausch mit den LehrerInnen ihre Einzelförderung mit dem<br />
Gesamtunterricht abzustimmen, ihre Arbeit zu diskutieren und zu dokumentieren.<br />
Ziele des Projektes<br />
Nach erster Problemsichtung und an den Interessen der Projektgruppe ausgerichtet<br />
legten wir folgende Ziele und Schwerpunkte für die Arbeit der kommenden<br />
zwei Projektjahre fest4 :<br />
Ziel des Projektes ist es einerseits, durch Einzeldiagnosen, daraus entwickelte<br />
Förderpläne und gezielte Fördermaßnahmen der Verfestigung von Rechenstörungen<br />
bei ‚gefährdeten‘ Kindern vorzubeugen. Diese Einzelförderung soll in der<br />
Schule und möglichst innerhalb der Lerngruppen stattfinden. Gleichzeitig sollen<br />
im Projekt Konzepte für einen Mathematikunterricht in der Primarstufe entwickelt<br />
und erprobt werden, die im Sinne einer allgemeinen Prävention nicht nur den von<br />
Rechenstörung bedrohten Kindern zugute kommen, sondern insgesamt zu einer<br />
Verbesserung des Mathematikunterrichts beitragen.<br />
Prävention<br />
Die beste präventive Maßnahme ist ein guter Mathematikunterricht. Wesentliche<br />
Eckpfeiler des geplanten Mathematikunterrichts können mit den Begriffen ‚Offenheit<br />
und Zielorientierung‘ gekennzeichnet werden. Beide Begriffe beziehen sich<br />
auf die inhaltliche, die methodische und die kommunikativ-interaktive Ebene5 des<br />
Unterrichts (vgl. Wielpütz 1994 und 1998 sowie Selter/Spiegel 1997 und Schipper<br />
2001). Eine solche nicht bloß organisatorische Öffnung von Mathematikunterricht<br />
ist mit einer klaren Zielperspektive zu verbinden. Sensibilität für kindliche<br />
mathematische Lernprozesse, die Offenlegung der Rechenwege durch die Lehrenden<br />
wie Lernenden und fachdidaktische Kompetenz, um die individuellen Vorgehensweisen<br />
der Kinder auf ihre Fortsetzbarkeit hin beurteilen zu können, sind<br />
3 Näheres über den integrativen Ansatz der Laborschule, den Schulversuch in der Primar- und Sekundarstufe<br />
und das Konzept der Doppelbesetzung und Beratung ist bei Demmer-Dieckmann/Struck 2001 nachzulesen.<br />
4 Im Folgenden Auszüge aus dem gemeinsamen Projektantrag (Althoff u. a. 2001)<br />
5 Diese drei Ebenen werden im Beitrag von Schipper in diesem Heft näher ausgeführt (siehe S. 25ff.).
Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />
daher zentrale Komponenten des Unterrichts. Das Wissen um typische Symptome<br />
für Rechenstörungen und die Fähigkeit, solche Symptome bei und mit den<br />
Kindern, z. B. durch Versprachlichung, identifizieren zu können, soll die Aufmerksamkeit<br />
der LehrerInnen von Anfang an auf in diesem Sinne gefährdete Kinder<br />
fokussieren.<br />
Diagnosen<br />
• An der Beratungsstelle des IDM ist ein System von Aufgaben entwickelt worden,<br />
mit dessen Hilfe eine Rechenstörung symptomatisch diagnostiziert werden<br />
kann. Auffällige Kinder sollen von MitarbeiterInnen des IDM, nebst den<br />
Studentinnen, unter Beteiligung der Lehrkräfte der Laborschule in der Eingangsstufe<br />
(hier in zwei Gruppen) und jeweils in einem 3. und 4. Schuljahr einer<br />
Diagnose unterzogen werden.<br />
• Außerdem sollen in zwei Gruppen der Eingangsstufe die Vorschulkinder mit<br />
einbezogen werden. Wir wollen ihre ersten mathematischen Schritte begleiten,<br />
dokumentieren, genauere Diagnosen durchführen und prüfen, ob sich evtl.<br />
schon früh Rechenstörungen zeigen.<br />
Förderung<br />
Auf der Grundlage der Diagnose wird von allen Beteiligten ein Förderplan für die<br />
betreffenden Kinder entwickelt. Wie muss der Unterricht und wie muss das Material<br />
angelegt sein, um diesen Kindern über ihre Schwierigkeiten hinweg zu helfen?<br />
Besondere Berücksichtigung muss dabei die offene, individuelle, selbstständige<br />
Arbeitsweise besonders in den altersgemischten Gruppen des Hauses I finden.<br />
Die Ergebnisse der Förderung werden laufend kontrolliert und wirken sich<br />
auf eine Rekonstruierung der Förderpläne aus.<br />
Aus der gezielten Förderung dieser Kinder mit Rechenstörungen wollen wir dann<br />
in einem weiteren Schritt allgemeine Prinzipien und Konzepte für einen präventiven<br />
Mathematikanfangsunterricht ableiten. Die oben beschriebenen Bedingungen<br />
in einem offenen, individualisiertem Unterricht sind dabei besonders im Fokus.<br />
Schulinterne Fortbildung<br />
Diese Schritte, die wir natürlich zunächst innerhalb der Projektgruppe beraten,<br />
planen und anschließend in den vier beteiligten Gruppen (jeweils zwei in der StufeI<br />
und der Stufe II) durchführen und dokumentieren wollen, sollen auch in mindestens<br />
zwei schulinternen Fortbildungen mit den KollegInnen der Stufen I und II<br />
diskutiert werden. Die betreffenden KollegInnen beider Stufen haben ihre Einbeziehung<br />
ausdrücklich gewünscht. Damit wollen wir eine langfristige Implementation<br />
in den Mathematikunterricht erreichen.<br />
Durchführung des Projektes<br />
Soweit die Planungen im Vorfeld des Projektes. Zu allen vier Schwerpunkten hat<br />
die Projektgruppe in der bisher anderthalbjährigen Arbeitsphase gearbeitet:<br />
Prävention<br />
Unter diesen Schwerpunkt fallen die Diskussionen des FEPs zum Für und Wider<br />
bestimmter Prinzipien einer ‚spezifischen‘ Laborschuldidaktik und -methodik des<br />
Mathematikunterrichts, wie z. B. individuelles Lernen und gemeinsames Lernen,<br />
Offenheit und Zielorientierung, Selbstständigkeit, Materialanleitung etc. Außer-<br />
13
14<br />
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />
dem haben sich die Projektmitglieder mit einem ‚Kerncurriculum Mathematik für<br />
die Primarstufe‘ beschäftigt. Die Kernzieldiskussion soll mit einer ‚Wiederbelebung‘<br />
der Diskussion der Übergangsqualifikationen von der Eingangsstufe in den<br />
3. Jahrgang verknüpft werden.<br />
Diagnosen und Förderung<br />
Nach Lehrerinnennennung wurden aus den vier beteiligten Gruppen der Stufen 1<br />
und 2 insgesamt zehn Kinder in der Beratungsstelle der Universität überprüft.<br />
Neun davon kamen in die Einzelförderung, die von den beiden beteiligten Studentinnen,<br />
<strong>Christine</strong> Huth und Bianca Beyer, von Brunhild Zimmer und Mircea<br />
Radu vom IDM seit Herbst 2001 durchgeführt wird. Im Herbst 2002 wurde bei<br />
allen neun Kindern ein zweites Mal eine Diagnose durchgeführt. Eine Förderung<br />
(dieses Mädchen ist inzwischen von Stufe I in Stufe II übergegangen) kann<br />
(weitgehend) als abgeschlossen gelten. Bei allen acht anderen Kindern läuft die<br />
Förderung noch. Vier weitere Kinder sind Ende 2002 getestet und in die Förderung<br />
aufgenommen worden. Jede Einzelförderung wird mit Förderplänen begleitet,<br />
mit Protokollen dokumentiert und immer wieder von der gesamten FEP-<br />
Gruppe diskutiert. Für die ‚typischen Fälle‘, die in diesem Heft dargestellt sind,<br />
hat es eine umfassende Datenerhebung und -sammlung durch alle beteiligten<br />
Personen gegeben:<br />
Datensamlung durch die Lehrerin:<br />
Arbeitsprodukte des Kindes – Einzelblätter, Arbeitshefte, Gruppenprodukte<br />
etc.<br />
Fotos<br />
Beurteilungskopien<br />
Notizen von Gesprächen mit den Eltern, anderen LehrerInnen, ÄrztInnen,<br />
PsycholgInnen u. a.<br />
Forschungstagebuch, in das u. a. Auffälligkeiten und Anekdoten eingetragen<br />
werden<br />
Datensammlung durch die ‚FörderIn‘ (kann Lehrerin, Studentin, wiss. Mitarbeiter<br />
sein):<br />
Evtl. weitere Gesprächsprotokolle mit anderen LehrerInnen, Eltern etc.<br />
Arbeitsprodukte des Kindes aus den Förderstunden<br />
Förderpläne<br />
Protokolle der Förderstunden<br />
Datenerhebung durch die Universität (‚Große‘ Überprüfung):<br />
Schriftliche Testunterlagen<br />
Protokoll und Empfehlungen zur weiteren Förderung<br />
Videoaufzeichnung<br />
Datenerhebung durch die Studentinnen (OTZ = Osnabrücker Test zur Zahlentwicklung):<br />
Schriftliche Unterlagen<br />
Protokoll, Auswertung und Empfehlung zur Förderung<br />
Datensammlung in den Projektsitzungen:<br />
Protokolle über Diskussionen und Empfehlungen zu den einzelnen Kindern
Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />
Im ersten Projektjahr sind alle acht neuen Vorschulkinder aus den beiden beteiligten<br />
Gruppen in der Eingangsstufe mit dem Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung,<br />
kurz OTZ (Van Luit u. a. 2001, siehe Glossar) genannt, im Herbst<br />
2001 überprüft worden. Drei der acht Kinder mussten von ihren Testergebnissen<br />
her als ‚Risikokinder‘ angesehen werden. Sie wurden während ihres Vorschuljahres<br />
besonders aufmerksam begleitet. Nach einer zweiten Diagnose im Herbst<br />
2002 wurde entschieden, dass eines dieser Kinder in die gezielte, zusätzliche<br />
Einzelförderung übernommen werden soll. Im Herbst 2002 wurden wiederum alle<br />
neuen Vorschulkinder, diesmal waren es zehn Kinder, getestet. Keines dieser<br />
Kinder zeigte zu diesem Zeitpunkt auffällige Anfangsprobleme im mathematischen<br />
Verständnis.<br />
Schulinterne Fortbildungen<br />
Bisher fanden drei LehrerInnenfortbildungen für die KollegInnen der Stufen 1<br />
und 2 statt:<br />
• Im Frühjahr 2001 – vor dem eigentlichen Projektstart – breitete Wilhelm<br />
Schipper auf einer gemeinsamen Ganztagsfortbildung die Diskussion um die<br />
Thematik ‚Rechenstörung‘, z. B. die Dyskalkuliediskussion, aus und stellte die<br />
Diagnose- und Fördermaßnahmen der Beratungsstelle des IDM vor.<br />
• Im Laufe des Jahres 2002 führten nun die beiden ‚Stufenpaare‘ in einer Pädagogischen<br />
Konferenz im Haus 1 und in einer Stufe-2-Sitzung in die Handhabung<br />
geeigneter Rechenmaterialien ein.<br />
• Wiederum in einer gemeinsamen Sitzung beider Stufen wurden am 14.1.2003<br />
anhand zweier Fallbeispiele die Grundsätze der Diagnose und Förderung einzelner<br />
auffälliger Kinder im Projekt deutlich gemacht.<br />
• Für den Juli 2003 ist eine abschließende gemeinsame Konferenz beider Stufen<br />
zu Unterrichtsprinzipien, Kernzielen und Übergangsqualifikationen geplant.<br />
Im nächsten Kapitel nun soll insbesondere der Schwerpunkt ‚Prävention‘ beleuchtet<br />
werden. Es soll andiskutiert werden, welche Aspekte zu einem guten und damit<br />
präventiven Mathematikunterricht beitragen können.<br />
Einige Gedanken zu einem guten Mathematikunterricht<br />
Ich bin wichtig und wir sind wichtig<br />
Und die Sache, um die‘s geht, ist wichtig<br />
Und das Umfeld, das Universum sind wichtig.<br />
Und diese Punkte als gleichgewichtig zu behandeln,<br />
in jeder Gruppe und in einem selber,<br />
das ist die Aufgabe.<br />
(Ruth Cohn)<br />
Das deutsche Bildungssystem kann im Vergleich z. B. zu den ‚PISA-<br />
GewinnerInnen‘ als rückständig bezeichnet werden: Es setzt weiterhin auf das<br />
Sortieren und Selektieren von SchülerInnen – deren Aufteilung auf verschiedene<br />
Schulformen ab dem 4. Schuljahr. Noch immer glauben viele PolitikerInnen, Eltern,<br />
Lehrenden, mit der Homogenisierung von Leistungsgruppen das Optimale –<br />
an Stofffülle? an Bildung? – zu erreichen. Sie sortieren in verschiedene Schulen,<br />
in den Schulen wiederum in Grund- und Ergänzungskurse, in Leistungskurse, in<br />
15
16<br />
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />
Förder- und Forderkurse, in Profilklassen und wie die verschiedenen äußeren Differenzierungsgruppen<br />
alle heißen mögen. Wo das alles nicht hilft, selektieren sie<br />
vom Gymnasium in die Real- oder Gesamtschule, von dort in die Hauptschule<br />
und auch von diesem Punkt geht es noch weiter nach unten in die Sonderschule.<br />
Selten übrigens in diesem System wird nach oben ‚geschoben‘ (Bellenberg/<br />
Klemm 2000). Und was bringt den Beteiligten diese angebliche Homogenisierung<br />
der Unterrichtsgruppen? Jedenfalls keine guten PISA-Ergebnisse. Viele Länder<br />
mit einer Einheitsschule während der Pflichtschulzeit für alle SchülerInnen stehen<br />
auf den ersten Rängen, während Deutschland in allen Bereichen (Lesekompetenz,<br />
mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen) unter dem<br />
OECD-Durchschnitt liegt (Deutsches PISA-Konsortium 2001). Die Grundschulen –<br />
bei uns noch die einzigen Schulen für (fast) alle Kinder – bleiben nicht unberührt<br />
von der Sortierung. Schon früh rufen die Eltern nach Noten und Tests, finden alle<br />
Beteiligten, bis auf die integrativ geführten Schulen, das Selektieren in die Sonderschule<br />
vernünftig und diskutieren viel zu früh die Sortierung in die weiterführenden<br />
Schulen. Dennoch beweisen sie z. B. in der Vergleichsuntersuchung IGLU<br />
(Bos u. a. 2003), dass die gemeinsame Unterrichtung aller Kinder, ohne äußere<br />
Leistungsdifferenzierung, möglich ist und sogar recht vorzeigbare Ergebnisse<br />
erbringen kann. Soweit eine kurze, nicht gerade ermutigende Analyse des deutschen<br />
Schulsystems.<br />
Was wäre ein erfolgversprechenderes Modell?<br />
• Eines, das nicht an homogene Gruppen ‚glaubt‘, sondern die Heterogenität, die<br />
in allen Gruppen entsteht, zunächst akzeptiert, ja als Bereicherung nutzt.<br />
• Eines, das die individuellen Wege jedes einzelnen Kindes und Jugendllichen<br />
verfolgt und unterstützt.<br />
• Und eines, das Schule durch die Auswahl ‚sinnstiftender Inhalte‘ (Jahnke-Klein<br />
2001), durch vielfältige Methoden und eine unterstützende Lernkultur zu mehr<br />
als einem Aufbewahrungs- und ‚Stundenabsitzer‘-Ort macht.<br />
Wie setzt die Laborschule diese Ansprüche für ihren Mathematikunterricht in der<br />
Primarstufe um? Wo gibt es noch Verbesserungsmöglichkeiten? Am Beispiel<br />
wichtiger Prinzipien der Eingangsstufendidaktik soll dies verdeutlicht werden. (Einen<br />
Eindruck vom Mathematikunterricht in der Stufe II gibt der Beitrag von<br />
Dagmar Heinrich in diesem Heft).<br />
In der Laborschule lernen die Vorschulkinder, sie werden auch liebevoll als ‚Nuller‘<br />
bezeichnet, die ‚Einer‘ und die ‚Zweier‘, die Kinder, die sich im zweiten oder<br />
dritten (manchmal auch vierten) Jahr in der Eingangsstufe befinden, zusammen<br />
in einer altersgemischten Gruppe (siehe Gloassar ‚Altersmischung‘). Mathematisches<br />
Lernen findet in diesen Gruppen an vielen Stellen statt:<br />
• Z. B. bei einigen Kindern schon ganz früh am Morgen – zwischen 8 und 8.30<br />
Uhr – in der Zeit des gleitenden Schulanfangs. Hier holen sich Kinder allein<br />
oder mit PartnerInnen ein Mathematikspiel vom ‚Mathewagen‘ (siehe Glossar),<br />
arbeiten schon in ihren Arbeitsheften oder setzen sich vor den Computer und<br />
üben mit dem ‚Matheland‘, einer CD-Rom (Cornelsen).<br />
• In der sich anschließenden kleinen Versammlung wird zunächst das Datum<br />
genannt und aufgeschrieben, in einigen Gruppen wird auch das Wetter mit<br />
Temperatur- und Windmessungen verfolgt. Meist gibt es in dieser Zusammenkunft<br />
schon die ersten Aufgaben aus der Alltagsmathematik zu lösen. Einige<br />
Kinder – nicht unbedingt nur die Vorschulkinder – schauen mit großen Augen
Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />
auf diese Aufgaben, andere – nicht nur die Zweier – steigern ihr Ego, weil sie<br />
alles ganz schnell durchblicken. Niemand stöhnt über die zu schwere oder zu<br />
leichte Aufgabe. Die einen sehen, dass andere es gelernt haben, sie zu lösen<br />
und diese wiederum erinnern sich an die Zeiten, in denen sie die Rechenwege<br />
und Lösungen auch noch nicht kannten – und bleiben geduldig. In der Versammlung<br />
wird noch schnell der Tagesablauf geklärt – Uhrzeiten spielen eine<br />
Rolle. Es wird das Frühstück geplant – das benötigte Geld für die Milch wird<br />
gezählt.<br />
• Jetzt beginnt die Arbeitszeit.<br />
Zunächst holt sich jedes Kind<br />
sein Mathematikarbeitsbuch<br />
aus dem eigenen Fach. Es<br />
bearbeitet die nächsten Seiten,<br />
holt sich Hilfe von anderen<br />
Kindern oder seiner Lehrerin.<br />
Meist hat es zu den Übungen<br />
eine Einführung im ‚Mathetreff‘<br />
(siehe Glossar), der in bestimmten<br />
Wochen zwei-, dreimal<br />
in der Woche stattfindet,<br />
oder in einer Teilgruppe von<br />
der eigenen Lehrerin erhalten.<br />
Hier hat es gelernt, wie man<br />
mit dem Rechenrahmen richtig<br />
arbeitet (vgl. Beitrag von<br />
Schipper in diesem Heft, S.<br />
41), kennt jetzt die Methode<br />
des ‚Schnellen Sehens‘ (vgl.<br />
ebd., S. 38) und wendet sie in<br />
der PartnerInnenarbeit mit anderen<br />
an, hat gute Strategien<br />
bei Additions- und Subtraktionsaufgaben<br />
gelernt und übt<br />
sie zunächst einmal allein<br />
u.v.m.<br />
Die gemeinsame Arbeitszeit ist geprägt durch eine rege, ruhige Atmosphäre,<br />
in der möglichst alle Kinder mit einer von ihnen mehr oder weniger frei gewählten<br />
Aufgabe selbstständig arbeiten. Oft bieten diese Materialien die Möglichkeit<br />
der Selbstkontrolle, so dass die Lehrerin weitgehend ‚überflüssig‘ wird<br />
– vor allen Dingen für die Kinder, die keine Probleme mit dem Lernen haben.<br />
Es herrscht ein selbstverständliches HelferInnensystem – die Kleinen lernen<br />
von den Großen. Manchmal ziehen allerdings die Jüngeren mit ihren Kenntnissen<br />
und Fortschritten an den Älteren vorbei. Oft, aber nicht immer, wird das<br />
mit Bewunderung und nicht mit Neid oder Mutlosigkeit bedacht.<br />
• In der Gruppenzeit nach dem Frühstück gibt es neben sportlichen Aktivitäten<br />
Projekt- bzw. Sachunterrichtsphasen. Hier werden, allerdings noch viel zu selten,<br />
mathematische Inhalte in Projekte eingebunden. Besonders mit dieser<br />
Methode, die Aspekte wie Sinnhaftigkeit, Demokratie, Teamwork, Produktorientierung<br />
u. v. m. beinhaltet, kann in extrem heterogenen Gruppen, wie die<br />
17
18<br />
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />
der Eingangsstufe, die individuelle ‚Passung‘ für jedes einzelne Kind erreicht<br />
werden6 .<br />
Die Gruppen der Eingangsstufe – genauer die Lehrerinnen – arbeiten insgesamt<br />
sehr unterschiedlich. Sie unterscheiden sich in der mehr oder weniger systematischen<br />
Anleitung von Kleingruppen, z. B. bei der Einführung von Inhalten, Methoden<br />
und Arbeitsmitteln innerhalb eines gruppenübergreifenden Mathetreffs, arbeiten<br />
mit und ohne Wochenplan, verwenden unterschiedliche Mathematikbücher<br />
und -arbeitshefte, binden bewusst mathematische Inhalte in kleine Projekte ein<br />
oder haben dies bisher noch nicht ausprobiert.<br />
Individualisieren – der Blick auf das einzelne Kind<br />
Doch in einer Sache sind sich alle Eingangsstufenlehrerinnen einig: Das einzelne<br />
Kind steht vom Tag seiner Einschulung an im Fokus der Entscheidungen der LehrerInnen<br />
über Inhalte, Methoden, Arbeitsmitteleinsatz, spezifische Förderung,<br />
Leistungsmessung und -rückmeldung u. v. m. Das einzelne Kind wird ernst genommen,<br />
dort abgeholt, wo es steht und dort hingeführt, wo es optimal seine<br />
Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz entwickeln kann. Die Wellenbewegungen<br />
seines Lernwillens und -vermögens, seine Anstrengungsbereitschaft, Konzentration<br />
und damit seine Erfolge wie Misserfolge werden beobachtet und zunächst<br />
akzeptiert. Manchmal gilt es allerdings nicht nur Angebote zu machen und abzuwarten,<br />
bis die Kinder diese Lernangebote annehmen. Einige SchülerInnen entwickeln<br />
Blockaden, die sie unfähig machen, auch nur die einfachsten Dinge<br />
selbstständig anzufassen. Ein Mehr an mathematischer Diagnosefähigkeit – natürlich<br />
verbunden mit Kenntnissen über die wichtigsten Inhalte, entsprechende<br />
Methodik und Didaktik (vgl. S. 15ff.) – führt zu mehr Sicherheit der Lehrenden<br />
bei der individuellen Förderung. Häufen sich ‚Problemkinder‘ in einer Gruppe,<br />
werden auch schon mal Grenzen der integrativen Förderung erreicht. Einzelne,<br />
besonders schwache Kinder benötigen manchmal über einen gewissen Zeitraum<br />
Einzelförderung, wie die Fallbeispiele in diesem Heft zeigen. Wie unsere Beispiele<br />
auch zeigen, reagieren diese Kinder positiv auf die Einzelförderung, weil sie sehr<br />
rasch deutliche Fortschritte in ihrem Kenntniserwerb sehen und damit an Selbstvertrauen<br />
gewinnen. Unsere ‚Ängste‘, dass sie sich schämen würden, weil sie<br />
über begrenzte Zeiträume eine erwachsene ‚HelferIn‘ an die Seite bekommen,<br />
waren und sind in den meisten Fällen unbegründet. Alle Kinder einer Gruppe<br />
kennen die Leistungsfähigkeit aller Kinder sehr genau. Somit geht es tagtäglich<br />
um die Frage, wie wer was lernt.<br />
Die schwierigere Frage ist die nach der Machbarkeit von Einzelförderung. Wie<br />
dies letztlich sowohl für die Laborschule als auch für Regelschulen zu organisieren<br />
ist, bedarf mehrerer Antworten. Andere Länder, z. B. die Niederlande, machen<br />
gute Erfahrungen mit einer gezielten, auf Diagnose beruhenden, zeitlich<br />
begrenzten Einzelförderung (Kats 2001). Anstatt ein Kind in die Sonderschule<br />
auszusortieren – immerhin vier unserer sechs beschriebenen Fälle stand dies in<br />
der Regelschule bevor – könnten verschieden abgestufte Modelle einer integrativen<br />
Förderung probiert werden. Es muss nicht in allen Gruppen sofort die Doppelsetzung<br />
von Lehrkräften sein, wie sie Integrationsschulen bzw. -gruppen berechtigterweise<br />
erhalten.<br />
6 Mehr über das Konzept des Projektunterrichts in der Eingangsstufe – allerdings ohne Beispiele für die Einbindung<br />
von Mathematik – ist bei Deterding u. a. 1997 nachzulesen.
Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />
‚Sozialisieren‘ – die Arbeit mit der ganzen Gruppe<br />
„Sozialkompetenz als Ziel schulischer Bemühungen bedeutet kompetentes, (mit-)<br />
verantwortliches Handeln eines Einzelnen in einer Gemeinschaft, wobei sich eine<br />
entsprechende Mitmenschlichkeit und Verantwortlichkeit gegenüber dem gesamten<br />
Umfeld am ehesten entwickelt, wenn man sich und andere als eigenständige, sich<br />
möglichst selbst regulierende Individuen akzeptiert und durch demokratische Formen<br />
ein verantwortungsbewusstes und fürsorgliches Miteinander praktiziert“ (Peschel<br />
2002, S. 159).<br />
Die wichtigsten Aspekte einer umfassenden Sozialerziehung sind hiermit benannt.<br />
Die Schule stellt einen sozialen Raum für alle dar. Genauso wie die Kinder<br />
den Sinn ihres Lernens erfassen, Wissenserwerb für eine spannende, sich lohnende,<br />
nie endende Sache betrachten (sollen), so müssen sie auch die Notwendigkeit<br />
eines sozialen Miteinanders begreifen. Die Vorschulkinder der Laborschule<br />
kommen in ein System, in dem es zwar schon ‚Regeln‘ gibt, wo aber immer wieder<br />
das Miteinander aller – der Kinder wie Erwachsenen – neu ausgehandelt werden<br />
muss. Gerade sind – zwei Tage nach den Sommerferien – die ‚Zweier‘ ins<br />
‚große Haus‘ übergegangen und die ‚Einer‘ zu Großen und damit Paten für die<br />
ganz Kleinen geworden. Viel lernen die ‚Nuller‘ anfangs durch Abschauen und<br />
Hineinwachsen, aber auch durch Auseinandersetzung mit den Regeln. Warum<br />
müssen die Materialien immer wieder an denselben Ort gestellt werden? Wieso<br />
darf man in der Arbeitszeit nicht über die Fläche toben? Wieso soll man zunächst<br />
seinen Tischpartner fragen und nicht sofort zur Lehrerin eilen?<br />
Das Anfangszitat sagt etwas sehr Wichtiges darüber, wie Individuum und Gruppe<br />
miteinander verbunden sind. Wer sich selbst wichtig nimmt und schätzt, dem<br />
gelingt das Akzeptieren der anderen am besten. Unglückliche Kinder ohne<br />
Selbstbewusstsein können nur wenig zum Gruppengefüge beitragen. Fürsorglich<br />
kann nur der sein, der Fürsorge erfährt. Eine Lehrerin, die schon vor der Einschulung<br />
Hausbesuche macht, weiß mit welchem ‚Päckchen‘ manche Vorschulkinder<br />
in die Schule kommen. Sie weiß, dass es manchmal lange dauern wird – oder<br />
auch nicht gelingt –, bis ein Kind ‚gruppenfähig‘ geworden ist und dass es diese<br />
Kompetenz auch wieder ‚verlieren‘ kann. Wichtige Faktoren, die zum sozialen<br />
Lernen beitragen, sind die regelmäßige, gleichberechtigte Kommunikation der<br />
Kinder untereinander, die Mitbestimmung von Lerninhalten und gemeinsamen<br />
Vorhaben, die Transparenz der Bewertungen, Rituale, die Fürsorge und Anerkennung<br />
deutlich machen, wie z. B. Geburtstagsfeste, Einschulungs- und Ausschulungsfeiern,<br />
Patenschaften etc. Gemeinsames Problemlösen zum Beispiel im Mathematikunterricht<br />
führt zu der Erkenntnis, dass Teamarbeit sinnvoll ist. Gemeinsame<br />
Produkterstellung im Projekt und anschließende Präsentation vor den Eltern<br />
macht die Einzelleistung als Teil einer Gruppenarbeit wichtig. Das Helfen<br />
untereinander in heterogenen Gruppierungen fördert alle Beteiligten – die HelferInnen,<br />
die durch die Didaktisierung die Sache noch einmal besser verstehen lernen,<br />
und die anderen, die Hilfe annehmen können und denen Fragen durch kompetentere<br />
MitschülerInnen erläutert werden.<br />
Für den Mathematikunterricht stellen sich in diesem Zusammenhang folgende<br />
Fragen: Wieviel Individualisierung ist wichtig? Wo ist das Lernen mit und in der<br />
Gruppe sinnvoller? Welche Voraussetzungen in einer Gruppe ermöglichen erst<br />
guten Mathematikunterricht? Wo liegen die besonderen Probleme in der Gruppenfindung?<br />
Dagmar Heinrich beantwortet diese Fragen zum Teil mit der Darstellung zweier<br />
sehr unterschiedlicher Unterrichtsthemen in einem 4. und 5. Schuljahr. Es blei-<br />
19
20<br />
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />
ben Fragen offen nach nur schwer integrierbaren SchülerInnen, die ganze Gruppen<br />
durcheinander bringen können. Immer wieder gibt es SchülerInnen, die verstummen,<br />
weil sie (vermeintlich) nicht gemocht werden oder solche, die sich nur<br />
schwer in die Kommunikation begeben können, weil sie die gemeinsame Sprache<br />
nicht gut genug beherrschen. Und auch schon in der Primarstufe gibt es Mädchen<br />
und Jungen, die glauben, Mathematik wäre ein Berg, den sowieso nur die ganz<br />
Schlauen bezwingen können. Manche Mädchen, schon im Grundschulalter,<br />
schreiben das Rechnen als männliche Domäne ab und damit weg von sich. Sie<br />
haben vielleicht von ihren Müttern, Großmüttern, Tanten gehört, dass auch für<br />
sie die Mathematik ein ‚Buch mit sieben Siegeln‘ gewesen ist. Und in Mathematik<br />
zu versagen, ist gesellschaftlich immer noch akzeptierter als nicht schreiben und<br />
lesen zu können – und wird damit weniger genau beachtet.<br />
Didaktisieren – die Bedeutung von Inhalt, Methode und<br />
Unterrichtskultur<br />
Wilhelm Schipper schreibt in diesem Heft (und das nicht zum ersten Mal): „Die<br />
beste Prävention von Rechenstörungen besteht – so banal das klingt in einem<br />
guten Mathematikunterricht“. An dieser Stelle soll der letzte Punkt des TZI-<br />
Dreiecks – die ‚Sache‘ – ergänzt werden Hierzu werden die Aspekte ‚Inhalte, Methoden<br />
und Unterrichtskultur‘ kurz angerissen. Sie stellen ebenso Eckpfeiler eines<br />
guten, präventiven Mathematikunterrichts dar wie die schon ausgeführten Punkte<br />
‚Individuum‘ und ‚Gruppe‘.<br />
Jahnke-Klein fasst die Ergebnisse ihrer Befragung von Schülerinnen und Schülern<br />
über den erlebten Mathematikunterricht in der Sekundarstufe I folgendermaßen<br />
zusammen:<br />
• „Sowohl die befragten Schülerinnen als auch die befragten Schüler waren angetan;<br />
• von Mathematikunterricht, der die Vielfalt der Dimensionen von Mathematik lebendig<br />
werden ließ;<br />
• von Mathematikunterricht, in dem die empirische Basis der Mathematik einbezogen<br />
und dementsprechend mit ‚Kopf, Herz und Hand‘ gelernt wurde;<br />
• von kooperativen Arbeitsweisen, wie z. B. Gruppenunterricht;<br />
• von Phasen der Ruhe und Konzentration;<br />
• von einer angenehmen Unterrichtsatmosphäre, verursacht durch ‚lockere‘ und nette<br />
LehrerInnen sowie kooperative und hilfsbereite MitschülerInnen“ (Jahnke-Klein 2001,<br />
S. 220).<br />
Diese Vorschläge der Schülerinnen und Schüler greift sie in ihrem Konzept eines<br />
‚Sinnstiftenden Mathematikunterrichts‘ auf:<br />
• „‚Sinnstiftender Mathematikunterricht‘;<br />
• versucht ein ganzheitliches Bild von der Mathematik zu zeichnen; [...]<br />
• ersetzt die bisherige methodische Monokultur des Unterrichts durch methodische Vielfalt;<br />
[...]<br />
• verlangt eine sinnstiftende Unterrichtskultur“ (ebd., S. 250).<br />
Mathematik ist nicht nur Rechnen. „Die Vielfalt der Dimensionen von Mathematik<br />
sollte im Unterricht sichtbar werden“ (ebd., S. 225f.). Für den Grundschulunterricht<br />
zeichnen sich für mich folgende Felder ab:<br />
1. Die formale, ‚reine‘ Mathematik, die Fertigkeiten und Fähigkeiten in Arithmetik,<br />
Geometrie und Größen vermittelt: Hier sollte allerdings weniger mehr sein,<br />
d. h. die Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschulen sollten auf einen
Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />
‚Kern‘ reduziert werden (in Nordrhein-Westfalen ist dies in Arbeit). Wir haben<br />
in unserem Projekt ebenfalls damit begonnen 7 .<br />
2. Eine Alltagsmathematik, die so oft wie möglich versucht, Erscheinungen, Erlebnisse,<br />
Vorhaben, Handlungen zu mathematisieren: Dies wurde schon bei<br />
der Beschreibung des Unterrichts in der Eingangsstufe (vgl. S. 16ff.) näher<br />
ausgeführt. Einerseits lernen die Kinder Rechenverfahren aus der Alltagsmathematik<br />
und sie wenden diese Fertigkeiten in ‚Alltagssituationen‘ wieder an.<br />
Nicht gemeint sind im übrigen sogenannten Textaufgaben, deren Sinnzusammenhänge<br />
den Kindern oft nicht klar sind und ihnen den Zugang zum eigentlichen<br />
Anwenden ihrer Fertigkeiten eher versperren als dass sie eine Sache<br />
deutlicher machen.<br />
3. Fächerübergreifende Projekte, die Probleme aufwerfen, die einer mathematischen<br />
Herangehensweise bedürfen 8 : Gute Beispiele gibt es im Themenbereich<br />
der Größen. Beim Bauen eines Käfigs müssen Bretter gekauft, also vorher<br />
vermessen werden. Wie macht man das? Hier könnte die historische Dimension<br />
mit einfließen. So könnte man zunächst ohne Maßband arbeiten. Es könnten<br />
verschiedene Verfahren, z. B. das Messen mit den Füßen, Armen, Händen<br />
probiert und für genau und genauer erklärt werden. Handlungs- und Produktorientierung<br />
sind weitere wichtige Aspekte der Projektarbeit.<br />
7 Unsere Kernzielformulierungen für die Bereiche Arithmetik, Geometrie und Größen/Sachrechnen (Jg. 0 bis 4)<br />
sind im Anhang zu finden.<br />
8 PISA hat dies als Modellieren bezeichnet (Deutsches PISA-Konsortium 2001).<br />
21
22<br />
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />
Damit wären wir mitten in der Methodendiskussion. Jahnke-Klein fasst zusammen:<br />
„Wünschenswert ist ein Gleichgewicht von individualisierendem, moderiertem<br />
und lehrgangsförmigen Unterricht“ (Jahnke-Klein a.a.O., S. 299).<br />
Die Bedeutung, die dem Individuum zukommt, ist bereits an anderer Stelle ausgeführt<br />
worden. SchülerInnen lernen unterschiedlich. Also brauchen sie auch<br />
zeitweise Phasen, in denen sie allein lernen: In Ruhe, mit sich selbst erklärenden<br />
Aufgaben, möglichst mit Selbstkontrolle. Das gelingt z. B. mit guten Arbeitsheften,<br />
mit Freiarbeitsmaterialien, mit kleinen interaktiven Computerprogrammen.<br />
Einzelarbeit ist auch deshalb wichtig, weil ‚Abhängigkeiten‘ von HelferInnen damit<br />
gelöst und eigenständiges Arbeiten noch einmal verstärkt wird.<br />
Daneben sollten eher durch die Lehrperson angeleitete Phasen stehen. Das kann<br />
bei der Einführung in ein neues Themen ein guter Vortrag der LehrerIn sein.<br />
Auch das ‚Geschichtenerzählen‘ stellt eine für die SchülerInnen oft sehr nachhaltige<br />
Vortragsform dar (Meyer 1989, S. 302ff.).<br />
Und als drittes seien die verschiedensten Formen von Zusammenarbeit der SchülerInnen<br />
noch einmal zusammengefasst: die Tischgruppenarbeit, bei der mehrere<br />
SchülerInnen an einer Sache arbeiten, verschiedene Formen aktivierenden Unterrichts,<br />
z. B. Stationenlernen, gemeinsame Langzeitaufgaben (Meisner 1999),<br />
Mathematikspiele, Vorbereitung von Paaren oder kleinen Gruppen auf ein mathematisches<br />
Referat u. v. m.<br />
Alle Methoden sollten eine hohe Versprachlichung einschließen: Die einzelnen<br />
SchülerInnen erläutern ihre Arbeit und machen dadurch z. B. auf ‚Fehlerwege‘<br />
aufmerksam. Die Lehrperson hält nicht nur einen Vortrag, sondern leitet ihn in<br />
ein Gespräch über. Die Arbeitspaare und -gruppen halten kleine Referate, erläutern<br />
Plakate, zeigen kleine mathematische Experimente.<br />
Gerade die zuletzt genannten SchülerInnenaktivitäten gelingen nur in einer Atmosphäre<br />
des Vertrauens. Vertrauen darin, dass Fehler dazu da sind, es das<br />
nächste Mal besser zu machen, dass alle die Unterstützung erfahren, die sie<br />
brauchen, dass niemand mit seinen Schwächen vorgeführt wird und dass Arbeit<br />
und Einsatz gewürdigt werden. Zu einer guten Unterrichtskultur gehört außerdem<br />
eine Zeitökologie, die vor allen Dingen die einzelnen SchülerInnen in den<br />
Mittelpunkt stellt. „Es kommt in Zukunft immer mehr darauf an, eine Didaktik<br />
der Ruhe, der Konzentration und der Intensität zu entwickeln“ (Jank/Meyer<br />
1994, S. 345). Diese kann nur entstehen, wenn wiederum das exemplarische<br />
Lernen im alten Sinne Wagenscheins erfolgt. „Der ‚Mut zur Gründlichkeit‘ (Wagenschein<br />
1977, S. 10) verlangt den ‚Mut zur Lücke‘ (a.a.O.)“ (Jahnke-Klein<br />
2001, S. 238). Und damit wären wir wieder bei den Inhalten angelangt.<br />
Es ist deutlich geworden, dass es immer wieder um das Herstellen einer Balance<br />
aller angesprochenen Aspekte geht – die einzelnen SchülerInnen, die Gruppe als<br />
soziales Netz, das Zusammenspiel sinnvoller Inhalte, Methoden und einer guten<br />
Unterrichtskultur. Das im Zitat von Ruth Cohn zu Anfang angesprochene ‚Umfeld‘<br />
ist hier nicht weiter ausgeführt worden. Es bezieht sich auf das Gesamtsystem.<br />
Das sind z. B. die Vereinbarungen und die Zusammenarbeit in einem LehrerInnenteam,<br />
das Miteinander vieler Gruppen in einer Schule, verlässliche Rahmenbedingungen,<br />
geeignete Räumlichkeiten, in denen sich alle wohl fühlen, genügend<br />
gute Arbeitsmaterialien, eine Schulleitung, die stützt und Innovationen anregt<br />
u. v. m. – alles wichtige Teilaspekte, die aber oft vernachlässigt werden<br />
bzw. nicht in den Blick genommen werden, wenn es um die Verbesserung von<br />
Mathematikunterricht geht.
Literatur<br />
Auf dem Weg zu einem guten Mathematikunterricht<br />
Althoff, G. P. u. a.: „Ich erklär‘ dir, wie ich rechne“ – Prävention von Rechenstörungen.<br />
In: Tillmann, K.-J./Weingart, G. (Hrsg.): Laborschulforschung 2001–2003: Projekte<br />
im Forschungs- und Entwicklungsplan. Werkstattheft Nr. 21. <strong>Bielefeld</strong> 2001, S.<br />
115–121<br />
Bellenberg, G./Klemm, K.: Scheitern im System, Scheitern des Systems? Ein etwas anderer<br />
Blick auf Schulqualität. In: Rolff, H.-G. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung.<br />
Daten, Beispiele und Perspektiven. Band 11. Weinheim und München: Juventa<br />
2000, S. 51–75<br />
<strong>Biermann</strong>, C.: Der „lange Dünne“ und die „kleine Dicke“ – Messen und Wiegen. In:<br />
Grundschullehrer, 1986, Heft 5, S. 4/5<br />
<strong>Biermann</strong>, C.: Mädchen, Mathe und Müll. In: Praxis Schule 5–10. 5. Jahrgang, 1994, Heft<br />
4, S. 36–41<br />
<strong>Biermann</strong>, C. u. a.: Laborschule (Stufe II): Das Projekt „Körper, Ernährung; Gesundheit.<br />
In: Hänsel, D.(Hrsg.): Das Projektbuch Grundschule. Weinheim Basel: Beltz 1995,<br />
S. 140–160<br />
Bos, W./Lankes, E.M./Prenzel, M./Schippert, K./Walter, G./Valtin, R. (Hrsg.): Erste Ergebnisse<br />
aus IGLU. Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen<br />
Vergleich. Münster: Waxmann 2003<br />
Bosse, U./Görlich, U./Körber, G./Niemöller, R.: „Nicht immer nur Papier“ – Für einen<br />
konkreten, lebensnahen und Spaß machenden Mathematik-Unterricht in der Eingangsstufe.<br />
Graues Papier. <strong>Bielefeld</strong> 1987<br />
Cornelsen: Matheland (Für Klasse 1 und 2). CD-Rom/ISBN 3-464-90902-6<br />
Demmer-Dieckmann, I.: Das Konzept der Integrativen Pädagogik an der Laborschule. In:<br />
Demmer-Dieckmann, I./Struck, B. (Hrsg.): Gemeinsamkeit und Vielfalt. Pädagogik<br />
und Didaktik einer Schule ohne Aussonderung. Weinheim und München: Juventa<br />
2001, S. 24–46<br />
Deterding, R. u. a.: Die Fächergrenzen überwinden – Projektunterricht im Schulalltag. In:<br />
Thurn, S./Tillmann, K.-J. 1997, S. 203–223<br />
Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von SchülerInnen<br />
und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich 2001<br />
Heinrich, R. u. a.: Kerncurriculum Mathematik für die Jahrgänge 5–10. Universität <strong>Bielefeld</strong>.<br />
Wissenschaftliche Einrichtung. Schulinternes Papier 1993<br />
Hentig, H. von et al.: Die <strong>Bielefeld</strong>er Laborschule. Sonderpublikation der Schriftenreihe<br />
der Schulprojekte Laborschule/Oberstufen-Kolleg, Heft 2. Stuttgart: Klett 1971<br />
Jahnke-Klein, S.: Sinnstiftender Mathematikunterricht für Mädchen und Jungen. Baltmannsweiler:<br />
Schneider Verl. Hohengehren 2001<br />
Jank, W./Meyer, H.: Didaktische Modelle. Frankfurt a. M.: Cornelsen 1994<br />
Kats, W.: Acht Jahre Basisschule von vier bis zwölf in den Niederlanden. In: Schmitt, R.<br />
(Hrsg.): Grundlegende Bildung in und für Europa. Beiträge zur Reform der Grundschule<br />
– Band 112. Frankfurt am Main 2001, S. 68–72<br />
Lenzen, K.-D. (Hrsg.): Schulalltag in der Eingangsstufe der Laborschule. IMPULS-Band 3.<br />
<strong>Bielefeld</strong> 1982<br />
Lenzen, K.-D. u. a. (Hrsg.): Schulalltag in der Laborschule – Stufe II (3. und 4. Schuljahr).<br />
IMPULS-Band 12. <strong>Bielefeld</strong> 1986<br />
Meyer, H.: Unterrichtsmethoden. II: Praxisband. Frankfurt a. M.: Cornelsen. 1989<br />
Meyer, K.: „Ich würde mich nicht noch einmal für die Laborschule entscheiden“ – Mögliche<br />
Motive für dieses Gesamtresümee. In: Jachmann, M./Weingart, G. (Hrsg.): Die<br />
Laborschule im Urteil ihrer Absolventen. Konzepte, Ergebnisse und Perspektiven der<br />
Absolventenstudie. IMPULS-Band 33. <strong>Bielefeld</strong> 1999, S. 109–126<br />
Peschel, F.: Offener Unterricht. Idee- Realität – Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept<br />
zur Diskussion. Teil I: Allgemeindidaktische Überlegungen. Baltmannsweiler:<br />
Schneider Verl. Hohengehren 2002<br />
Schipper, W.: Offenheit und Zielorientierung. In: Grundschule 33/2001, Heft 3, S. 10–15<br />
Schluckebier, D. u. a.: Bau eines Labyrinths auf dem Schulgelände. In: Hänsel, D./ Müller,<br />
H.: Das Projektbuch Sek. I. Weinheim und Basel: Beltz 1988<br />
23
24<br />
<strong>Christine</strong> <strong>Biermann</strong><br />
Schultz, H./von der Groeben, A.: Laborschulabsolventen ´80. Zwei Interpretationen.<br />
IMPULS-Band 8. <strong>Bielefeld</strong> 1985<br />
Selter, Ch./Spiegel, H.: Offenheit gegenüber dem Denken der Kinder. In: Die Grundschule,<br />
1997, Heft 3, S. 12–14<br />
Thurn, S./Tillmann, K.-J. (Hrsg.): Unsere Schule ist ein Haus des Lernens – Das Beispiel<br />
Laborschule <strong>Bielefeld</strong>. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1997<br />
Tillmann, K.-J./Thurn, S. (Hrsg.): Laborschule <strong>Bielefeld</strong> 1990–1994. Ein Arbeitsbericht.<br />
Werkstattheft Nr. 1. <strong>Bielefeld</strong> 1995<br />
Tillmann, K.-J.: „Autonomie“ – eine Schule regelt ihre Angelegenheiten selbst. In: Thurn,<br />
S./Tillmann, K.-J. 1997, S. 98–119<br />
Van Luit, J.E.H./Van de Rijt, B.A.M./Hasemann, K.: OTZ – Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung.<br />
Göttingen: Hogrefe 2001<br />
Wagenschein, M.: Verstehen lernen. Weinheim und Basel: Beltz 1977<br />
Wielpütz, H.: Zur Unterrichtskultur für einen differenzierten Umgang mit Mathematik. In:<br />
Christiani, R. (Hrsg.): Auch die leistungsstarken Kinder fördern. Frankfurt am Main:<br />
Cornelsen Scriptor 1994, S. 83–88<br />
Wielpütz, H.: Erst verstehen, dann verstanden werden. In: Die Grundschule, 1998, Heft<br />
3, S. 9–11<br />
Wildt, M.: Fahrpläne machen. Ein anwendungsbezogenes Unterrichtskonzept zum Thema<br />
„Lineare Funktionen“. IMPULS-Band 29. <strong>Bielefeld</strong> 1996<br />
WILL-International: Studienbuch für die Aus- und Fortbildung in Themenzentrierter Interaktion<br />
für die deutschsprachigen Länder. Darmstadt 1998
Wilhelm Schipper<br />
Prävention vom Rechenstörungen –<br />
eine schulische Herausforderung<br />
Schule hat u. a. die Aufgabe, Kindern beim Lernen von Mathematik zu helfen –<br />
auch (und wohl gerade dann in besonderer Weise), wenn den Kindern das Mathematiklernen<br />
schwer fällt. Dennoch werden in Deutschland immer mehr Kinder<br />
– in zunehmendem Maße auch Jugendliche – wegen ‚Dyskalkulie‘ in außerschulischen<br />
‚Dyskalkulie-Instituten‘ ‚therapiert‘. Auf diese Weise wird eine zentrale<br />
Aufgabe von Schule zunehmend außerschulischen Einrichtungen und ihren ‚Therapeuten‘<br />
überlassen. Für diesen Berufsstand gibt es keine staatlich kontrollierten<br />
Ausbildungsstandards, so dass sich jeder – unabhängig von seiner Qualifikation<br />
– selbst dazu ernennen kann. Das, was ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern<br />
nicht gelungen ist, nämlich Kindern erfolgreich beim Mathematiklernen zu<br />
helfen, wird außerschulischen ‚Experten‘ überlassen, deren Qualifikation unbekannt<br />
ist. Diese Entwicklung ist für das Ansehen von Schule schädlich, für manche<br />
Kinder eher kontraproduktiv und in gesamtgesellschaftlicher Sicht ein großes<br />
Problemfeld (vgl. Schipper 2002b).<br />
Die Alternative besteht darin, die – mangels Ausbildung bisher nur selten vorhandene<br />
– schulische Kompetenz im Umgang mit Rechenstörungen zu stärken.<br />
Das an der Laborschule in <strong>Bielefeld</strong> durchgeführt FEP (Forschungs- und Entwicklungsprojekt,<br />
siehe Glossar) mit dem Titel „‚Ich erklär‘ dir, wie ich rechne‘ – Prävention<br />
von Rechenstörungen“ ist der Versuch, auf lokaler Ebene die Kompetenzen<br />
einer Schule im Umgang mit solchen Kindern zu stärken, denen das Mathematiklernen<br />
besonders schwer fällt (vgl. dazu den Beitrag von <strong>Biermann</strong> in diesem<br />
Heft).<br />
Die Rahmenbedingungen für dieses Projekt waren gut. Einerseits hat die Laborschule<br />
ausgesprochen große Kompetenzen im Umgang mit Heterogenität und<br />
versteht es, jeden Einzelnen in seiner individuellen Entwicklung zu fördern. Andererseits<br />
gibt es seit vielen Jahren am IDM (Institut für Didaktik der Mathematik)<br />
der Universität <strong>Bielefeld</strong> eine Beratungsstelle für Kinder mit Rechenstörungen<br />
(siehe Glossar). Dort sind Diagnose- und Förderkonzepte entwickelt worden, die<br />
teilweise in diesem Bericht vorgestellt werden. Diese Konzepte wurden bisher nur<br />
in der Einzelarbeit mit Kindern umgesetzt, nicht im schulischen Feld. Eines der<br />
Ergebnisse der erfolgreichen Umsetzung dieser Konzepte in der Laborschule ist<br />
es, nun Hinweise geben zu können für schulische Prävention von Rechenstörungen.<br />
Dies ist Gegenstand dieses Beitrags.<br />
Eine frühzeitige Diagnose und Prävention von besonderen Problemen ist gerade<br />
beim Mathematiklernen so wichtig, weil die Unterrichtsinhalte aufeinander aufbauen.<br />
Fehlen grundlegende Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, dann wird<br />
die Schere zwischen den Kompetenzen des einzelnen Kindes und denen seiner<br />
Mitschülerinnen und -schüler immer größer. Nicht selten ist dies der Beginn eines<br />
Teufelskreises, der mit schlechten Leistungen in Mathematik und Angst vor diesem<br />
Unterrichtsfach beginnt und in eine generelle Schulphobie mündet – mit allen<br />
damit verbundenen Beeinträchtigungen des Selbstkonzepts.<br />
Im ersten Abschnitt wird der Versuch einer begrifflichen Klärung unternommen,<br />
danach im zweiten Abschnitt auf angebliche Ursachen und tatsächliche Risikofak-<br />
25
26<br />
Wilhelm Schipper<br />
toren eingegangen. Das wesentliche Ergebnis ist, dass die Gründe für die besonderen<br />
Schwierigkeiten einiger Kinder beim Mathematiklernen nicht nur beim Kind<br />
gesucht werden dürfen. Das familiäre und das schulische Umfeld stellen ebenfalls<br />
Risikofaktoren dar, die dann zu Ursachen für Rechenstörungen werden können,<br />
wenn die schulische Kompensation durch einen auf die individuellen Stärken und<br />
Schwächen eines Kindes abgestimmten Mathematikunterricht nicht gelingt. Der<br />
dritte Abschnitt beschreibt Symptome für Rechenstörungen, gibt Hinweise auf<br />
Möglichkeiten einer frühzeitigen Diagnostik und stellt einige der an der Beratungsstelle<br />
entwickelten Förderkonzepte vor. Die beste Prävention von Rechenstörungen<br />
ist selbstverständlich ein guter Mathematikunterricht. Deshalb werden<br />
im vierten Abschnitt zwei einander ergänzende Komponenten eines guten Mathematikunterrichts<br />
vorgestellt, nämlich Offenheit und Zielorientierung. Leitfragen<br />
für Unterrichtsvorbereitung, -durchführung und -nachbereitung konkretisieren<br />
dieses Konzept.<br />
Versuch einer begrifflichen Klärung<br />
Worüber reden wir eigentlich, wenn wir Begriffe verwenden wie Rechenstörung,<br />
Rechenschwäche, Dyskalkulie, Arithmasthenie? Gibt es tatsächlich eine ‚hereditäre<br />
Dsykalkulie‘, also eine erbliche Dyskalkulie, wie sie Nissen (1977) annimmt?<br />
Und wie unterscheiden sich Zahlendyslexie und Zahlendyssymbolismus?<br />
Etwa 40 Begriffe dieser Art listen Lorenz und Radatz (1993, S. 17) auf und betonen<br />
zugleich, dass ihre Sammlung bei weitem nicht abgeschlossen sei. Sie entstammen<br />
verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit den Erscheinungsformen,<br />
dem Variantenreichtum und den Ursachen der besonderen Schwierigkeiten<br />
einiger Kinder beim Erlernen des Rechnens befassen – von der Medizin, der<br />
Psychodiagnostik und Neuropsychologie über die kognitive Psychologie und Pädagogische<br />
Psychologie sowie die Sonderpädagogik bis hin zur Mathematikdidaktik.<br />
Die Vielfalt der Begriffe zeigt nicht nur, dass sich zahlreiche unterschiedliche<br />
Disziplinen mit ihrem je fachspezifischem Vokabular mit dieser Problematik auseinander<br />
setzen, sie belegt vielmehr auch, dass es bisher nicht gelungen ist, einen<br />
gemeinsamen interdisziplinären Forschungsansatz zu diesem Problemfeld zu<br />
entwickeln.<br />
Daraus resultiert u. a. das Problem, dass es bisher keine einheitliche, über die<br />
Grenzen der einzelnen Disziplinen hinaus anerkannte Definition solcher Begriffe<br />
wir Rechenschwäche, Rechenstörung, Dyskalkulie gibt. Vielfach werden diese<br />
Begriffe synonym verwendet. Jedoch sind durchaus Tendenzen erkennbar, dass<br />
verschiedene Disziplinen unterschiedliche Begriffe bevorzugen. ‚Dyskalkulie‘ und<br />
(seltener) ‚Arithmasthenie‘ werden vor allem im Kontext kommerzieller ‚Therapieangebote‘,<br />
sonderpädagogisch und psychologisch orientierter Ausführungen<br />
sowie in den Medien benutzt, ‚Rechenschwäche‘ und ‚Rechenstörung‘ sind eher<br />
im Kontext Schule und Mathematikdidaktik gebräuchlich. In dieser unterschiedlichen<br />
Verwendung wird zugleich ausgedrückt, worauf es den einzelnen Gruppen<br />
besonders ankommt: Mit den Begriffen Rechenschwäche und Rechenstörung soll<br />
ausgedrückt werden, dass es hier um besondere Schwierigkeiten im schulischen<br />
Inhaltsbereich Rechnen geht, die ‚Zuständigkeit’ für dieses Problemfeld damit bei<br />
der Schule, bei der Lehrerausbildung und bei der Mathematikdidaktik liegt. Die<br />
Begriffe Dyskalkulie und Arithmasthenie suggerieren dagegen das Vorhandensein<br />
einer Krankheit und dokumentieren zugleich, dass die ‚Zuständigkeit‘ bei Medizinern,<br />
Psychologen und außerschulischen Lerntherapeuten angesiedelt sein soll.<br />
Aus der Sicht von Schule und Mathematikdidaktik sind die vorliegenden Versu-
Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />
che, Begriffe wie Dyskalkulie oder Rechenstörung zu definieren, pädagogisch bedenklich.<br />
Sie lassen sich im wesentlichen zwei Typen zuordnen (vgl. Kaufmann<br />
2002, S. 11ff.):<br />
(1) Diskrepanzdefinitionen<br />
Lange Zeit wurde ‚Legasthenie‘ als ‚erwartungswidrig‘ schlechte Leistung beim<br />
Erlernen des Lesens und Rechtschreibens ‚definiert‘, bis Schlee (1976) eindrucksvoll<br />
gezeigt hat, dass allein aus statistischen Gründen die sogenannten<br />
‚erwartunsgwidrig‘ schlechten Leistungen beim Lesen und Rechtschreiben durchaus<br />
erwartungskonform sind (vgl. auch Mann/Oberländer/Scheid 2001). Das hat<br />
nicht verhindert, dass auch im Bereich der besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen<br />
des Rechnens versucht wurde, ‚Dyskalkulie‘ als ‚erwartungsgwidrig‘<br />
schlechte Leistung beim Rechnen, also in Diskrepanz zu Leistungen beim Lesen<br />
und Rechtschreiben, bei allgemeinen schulischen Leistungen oder in Diskrepanz<br />
zu ‚normalen‘ Intelligenzleistungen zu definieren. Grissemann und Weber (1982,<br />
S. 14) schlagen für solche Diskrepanzdefinitionen verschiedenen Möglichkeiten<br />
(z. B.: „Teilleistungsschwäche bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz“) vor.<br />
Die wohl bekannteste Diskrepanzdefinition der ‚dyscalculia‘ bzw. (in der deutschen<br />
Übersetzung) „Rechenstörung“ ist von der Weltgesundheitsorganisation<br />
vorgenommen worden:<br />
„Rechenstörung<br />
Diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten,<br />
die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene<br />
Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung<br />
grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division,<br />
weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie,<br />
Geometrie oder Differential- und Integralrechnungen benötigt werden“<br />
(DIMDI 1994, S. 387).<br />
Dieser Definitionsversuch ist sowohl für wissenschaftliche Zwecke (z. B. im Sinne<br />
eindeutiger, Grenzen ziehender Diagnostik), als auch für die praktische Arbeit<br />
mit betroffenen Kindern (Diagnose, Förderung) unbrauchbar. Die tatsächlichen<br />
Probleme werden nicht beschrieben, nur Problembereiche benannt. Die Beschränkung<br />
auf Rechenfertigkeiten ist aus mathematikdidaktischer Perspektive<br />
falsch, denn die Schwierigkeiten liegen auch im Bereich der Rechenfähigkeiten<br />
und beim Verständnis. Beide genannten Ausschlusskriterien (Intelligenzminderung,<br />
unangemessene Beschulung) sind höchst problematisch, denn sie führen<br />
dazu, dass Kindern öffentlich finanzierte Förderung verweigert wird, wenn ihre<br />
rechnerischen Probleme Folge einer ‚Intelligenzminderung‘ oder einer ‚unangemessenen<br />
Beschulung‘ sind.<br />
(2) Phänomenologische Definitionen<br />
Bei solchen Definitionen werden Art, Häufigkeit und Dauerhaftigkeit von Fehlleistungen<br />
bei der Bewältigung von mathematischen Aufgabenstellungen als Kriterien<br />
für die Definition herangezogen. Versuche, Rechenstörungen auf diese Weise<br />
zu definieren, sind für die schulische Arbeit sicher brauchbarer, weil sie sich auf<br />
den Inhaltsbereich beziehen, in dem das Kind auffällig wird, dort also auch beobachtbar<br />
sind. Sie sind jedoch auch nicht unproblematisch, denn sie setzen voraus,<br />
dass es möglich sei, zwischen ‚normalen‘, zu jedem Lernprozess dazu gehörenden<br />
Fehlern und besonders auffälligen, ‚pathologischen‘ Fehlern eine Grenze<br />
zu ziehen. Eine solche exakte Grenzziehung ist nicht möglich. Die Fehler der in<br />
27
28<br />
Wilhelm Schipper<br />
Mathematik besonders leistungsschwachen Kinder unterscheiden sich in ihrer Art<br />
nicht von denjenigen, die auch mathematisch leistungsstärkere Kinder machen,<br />
wenn sie sich einen neuen Inhaltsbereich aneignen. Der Unterschied besteht jedoch<br />
darin, dass die leistungsstärkeren Kinder weniger Fehler machen und von<br />
ihnen lernen, sie schließlich überwinden können, während diejenigen Kinder, die<br />
in Mathematik besonders auffällig sind, besonders häufig Fehler machen, über<br />
ein ‚großes Repertoire‘ unterschiedlicher Fehlerstrategien verfügen und ihre Fehlerstrategien<br />
über Jahre verfestigen.<br />
Ein eigener Versuch der begrifflichen Klärung<br />
An dieser Stelle setzt auch der eigene – sicher auch nicht unproblematische –<br />
Versuch der begrifflichen Klärung an. Auf der Grundlage langjähriger Beobachtungen<br />
und zahlreicher Diagnosen von Kindern, deren Leistungen im Mathematikunterricht<br />
von ihren Lehrerinnen und Lehrern als besonders schlecht bezeichnet<br />
wurden, haben wir versucht, typische Muster in der Art der Interaktion dieser<br />
Kinder mit mathematischen Aufgabenstellungen und auffällige Kombinationen<br />
von fehlerhaften Vorgehensweisen zu identifizieren. Die beobachteten Auffälligkeiten<br />
nennen wir ‚Symptome für Rechenstörungen‘, wobei wir erst dann eine<br />
Rechenstörung annehmen, wenn eine Kombination von mindestens zwei der vier<br />
Symptome vorliegt.<br />
Folgende Symptome haben wir bei der Mehrzahl der als mathematisch besonders<br />
leistungsschwach eingestuften Kinder beobachten können:<br />
1. Verfestigtes zählendes Rechnen<br />
2. Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />
3. Einseitige Zahl- und Operationsvorstellungen<br />
4. Intermodalitätsprobleme<br />
Genauere Ausführungen zu den beiden erstgenannten Symptomen erfolgen im<br />
Kapitel ‚Symptome, Diagnostik und Förderkonzepte‘ (S. 31ff.). Über Intermodalitätsprobleme<br />
und einseitige Zahl- und Operationsvorstellungen geben Radatz u.<br />
a. (1999, S. 42ff.) und Lorenz/Radatz (1993, S. 50ff.) nähere Auskunft.<br />
Auch mit diesem phänomenologisch ausgerichteten Klärungsversuch sind die o.<br />
g. Abgrenzungsprobleme nicht gelöst. Eine trennscharfe Grenzziehung zwischen<br />
‚Rechenstörung‘ und ‚keine Rechenstörung‘ ist auch in unserem Ansatz nicht<br />
möglich. Wir halten eine solche Grenzziehung für schulische Zwecke aber auch<br />
nicht für notwendig, denn Aufgabe von Schule sollte es nicht sein, Kinder zu etikettieren,<br />
um sie anschließend unterschiedlichen Sonderbehandlungen zuzuführen.<br />
Aufgabe von Schule ist vielmehr die Förderung und (Heraus-) Forderung aller<br />
Kinder. In diesem Sinne ist unser Versuch der begrifflichen Klärung sicher ungeeignet,<br />
Kinder für ‚Sonderbehandlungen‘ zu selektieren. Er erscheint uns aber<br />
geeignet, einerseits auf solche Kinder aufmerksam zu machen, die einer besonderen<br />
Förderung bedürfen, andererseits solche Problemfelder im Mathematikunterricht<br />
aufzuzeigen, die bei nicht hinreichender Beachtung bei einigen Kindern<br />
schwerwiegende Beeinträchtigungen ihrer mathematischen Kompetenzen nach<br />
sich ziehen können. Mit unserem Versuch einer begrifflichen Klärung wollen wir<br />
Lehrerinnen und Lehrer auf zentrale Klippen im mathematischen Lernprozess<br />
aufmerksam machen sowie ihre Diagnose- und Förderkompetenzen stärken und<br />
erweitern. Wir wollen kein Werkzeug für die Selektion und Segregation von Kindern<br />
liefern.
Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />
Angebliche Ursachen und tatsächliche Risikofaktoren<br />
Sucht man im Internet auf einschlägigen Seiten nach Ursachen für Rechenstörungen<br />
oder gar für ‚Dyskalkulie‘, dann drängt sich ein Vergleich mit einem orientalischen<br />
Basar auf: Das Angebot an vermeintlichen Ursachen ist nahezu unüberschaubar;<br />
der eine Anbieter versucht den anderen zu übertrumpfen in der<br />
Anzahl der ‚Ursachen‘ und der scheinbaren wissenschaftlichen Seriosität; je unverständlicher<br />
der Begriff, desto wissenschaftlicher soll der Sachverhalt (und sein<br />
Beschreiber) erscheinen. Neben visuellen Teilleistungsstörungen und Störungen<br />
der akustischen oder der taktilen Wahrnehmung werden cerebrale Funktionsstörungen,<br />
einseitige Hirnhemisphärendominanz, linkshirniges Denken, kortikale<br />
Assoziationsdefizite u. v. a. m. angeboten.<br />
Bei seriöser Betrachtungsweise muss jedoch festgestellt werden, dass die Ursachen<br />
für Rechenstörungen unbekannt sind, wenn man den Begriff ‚Ursache‘ im<br />
Sinne von Kausalität verwendet. Denn wenn z. B. ‚visuelle Teilleistungsstörungen‘<br />
im kausalen Sinne Ursachen für Rechenstörungen wären, dann dürfte es<br />
kein beim Rechnen unauffälliges Kind geben, das eine Störung im visuellen Bereich<br />
hat.<br />
Damit ist nicht behauptet, dass Beeinträchtigungen in z. B. der visuellen Wahrnehmung<br />
sich nicht negativ auf das Mathematiklernen auswirken können. Tatsächlich<br />
stellt eine solche Beeinträchtigung einen großen Risikofaktor dar, weil<br />
Mathematiklernen über weite Strecken gerade über den visuellen Lernkanal<br />
stattfindet. So haben etwa Kinder, deren Figur-Grund-Unterscheidung beeinträchtigt<br />
ist, erhebliche Probleme, aus den manchmal graphisch überfrachteten<br />
Schulbuchseiten die relevanten Informationen herauszufiltern. Aus dem Risikofaktor<br />
‚visuelle Teilleistungsstörung‘ wird für das individuelle Kind aber erst dann<br />
eine Ursache für Rechenstörungen, wenn die schulische Kompensation dieser Beeinträchtigung<br />
(z. B. durch Lernen auch über andere Kanäle) nicht gelingt.<br />
Risikofaktoren in diesem Sinne dürfen nicht nur beim Kind gesucht werden. Systematische<br />
Erziehung zur Unselbstständigkeit durch überbehütende Eltern oder<br />
soziale Vernachlässigung der Kinder können dazu führen, dass Kinder erhebliche<br />
Schwierigkeiten beim Mathematiklernen bekommen. So ist es für das Mathematiklernen<br />
z. B. von großer Bedeutung, dass die Kinder in der vorschulischen Zeit<br />
ausreichend Gelegenheit hatten, sich auf spielerische Weise Raumerfahrungen<br />
anzueignen. Vermutlich müssten sehr viel weniger Kindern ergotherapeutische<br />
Maßnahmen verordnet werden, wenn sie in ihrer vorschulischen Zeit mehr Gelegenheit<br />
gehabt bzw. genutzt hätten, mit anderen Kindern herumzutollen, auf<br />
Bäume zu klettern, Sandburgen zu bauen u. v. a. m.<br />
Kinder nichtdeutscher Muttersprache sind grundsätzlich nicht gefährdeter als solche<br />
mit deutscher Muttersprache. Zu beachten ist dabei jedoch, dass die Fähigkeit,<br />
an einem in deutscher Sprache durchgeführten Mathematikunterricht teilzunehmen,<br />
ein Mindestmaß an Beherrschung dieser Sprache voraussetzt. Wenn<br />
dieses gegeben ist, dann können auch Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache<br />
grundsätzlich in gleicher Weise vom Mathematikunterricht profitieren. Zu Interferenzen<br />
kann es allerdings kommen, wenn die Kinder Rechenaufgaben in die eigene<br />
Muttersprache übersetzen, dort lösen und das Ergebnis wieder in die deutsche<br />
Sprache übersetzen, weil in vielen nichtdeutschen Sprachen die zwei- und<br />
mehrstelligen Zahlwörter (wie im Englischen) beginnend mit dem größten Stellenwert<br />
gesprochen werden. Dadurch kann es zu gehäuften Zahlendrehern<br />
kommen. In einem guten Unterricht können diese Fehler aber schnell behoben<br />
werden.<br />
29
30<br />
Wilhelm Schipper<br />
Ursachen im Sinne von Risikofaktoren können auch im Curriculum liegen, im<br />
Lehrbuch und nicht zuletzt auch im schlechten Mathematikunterricht, der möglicherweise<br />
Folge schlechter Lehrerausbildung ist. Wenn wir ‚Ursachen‘ in diesem<br />
Sinne als Risikofaktoren verstehen, die das Aufkommen von besonderen Schwierigkeiten<br />
beim Erlernen des Rechnens begünstigen können, sie aber nicht<br />
zwangsläufig ausbilden, dann müssen immer drei Ursachenfelder berücksichtigt<br />
werden, nämlich das Individuum, das schulische Umfeld sowie das familiäre und<br />
soziale Umfeld. Dabei sollten wir davon ausgehen, dass bei der Ausbildung einer<br />
Rechenstörung in nahezu jedem einzelnen Fall alle drei Ursachenfelder mitwirken<br />
(vgl. Abb. 1).<br />
Abb. 1: Ursachenfelder für Rechenstörungen<br />
Das Individuum<br />
• Fähigkeiten, Begabung<br />
• (Vor-)Wissen<br />
• Anstrengungsbereitschaft<br />
• Sensorische Beeinträchtigungen<br />
(visuell, auditiv,<br />
...)<br />
• Aufmerksamkeit, Konzentration,<br />
Gedächtnis<br />
• Angst...<br />
Schulisches Umfeld<br />
• Die Lehrkraft<br />
• Unterrichtsmethode<br />
• Umgang mit Material<br />
• Lehrbuch<br />
• Mitschüler<br />
• Sprache und Gespräche<br />
auf der Meta-Ebene<br />
• Förderunterricht<br />
• Lehrerausbildung ...<br />
Familiäres und soziales Umfeld<br />
• familiäre Situation (Überbehütung; Vernachlässigung; Scheidung;<br />
Konkurrenz zwischen Geschwistern; Beherrschung der deutschen<br />
Sprache; Freizeitangebote; ...)<br />
• Art der Hausaufgabenbetreuung; Möglichkeiten der Nachhilfe (z. B.<br />
auch die finanzielle Situation der Familie); der psychologischen Beratung;<br />
der Fähigkeit der Eltern, die Probleme wahrzunehmen ...<br />
Unsere Aufmerksamkeit muss sich sehr viel mehr als bisher auf die Ursachenfelder<br />
schulisches und familiäres Umfeld konzentrieren. So zeichnen sich z. B. Kinder,<br />
die erhebliche Probleme beim Rechnen haben, dadurch aus, dass sie nicht in<br />
angemessener Weise mit den Materialien umgehen können, die ihnen beim<br />
Rechnenlernen helfen sollen, während die mathematisch leistungsstarken Kinder<br />
diese Materialien nicht (mehr) benötigen (Rottmann/Schipper 2002). Dass die<br />
leistungsschwachen Kinder solche Probleme bei ihren Materialhandlungen haben,<br />
liegt auch daran, dass zu wenige Lehrerinnen und Lehrer ihre Aufmerksamkeit<br />
auf die Materialhandlungen der Kinder konzentrieren. Mit einem Satz wie „Wer<br />
die Aufgaben noch nicht so lösen kann, darf das Material benutzen.“ ist es eben<br />
nicht getan, im Gegenteil: Auf diese Weise werden Handlungen an Materialien als<br />
Tätigkeiten leistungsschwacher Kinder diskriminiert.<br />
Für Lehrerinnen und Lehrer sollten die im schulischen Umfeld liegenden Risikofaktoren<br />
eine herausragende, nämlich eine vorrangig zu berücksichtigende Rolle<br />
spielen, denn in diesem Bereich können sie am ehesten Veränderungen vornehmen.<br />
Zu empfehlen ist daher, die Ursachen für die besonderen Schwierigkeiten<br />
eines Kindes beim Mathematiklernen zunächst im eignen Unterricht zu vermuten<br />
und Handlungskonsequenzen zunächst ebenfalls hier, im eigenen Unterricht, zu<br />
realisieren. Dabei dürfen die anderen Ursachenfelder selbstverständlich nicht aus<br />
dem Blick verloren gehen.
Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />
Symptome, Diagnostik und Förderkonzepte<br />
Es gibt gegenwärtig kein allgemein anerkanntes Verfahren zur Diagnose von Rechenstörungen,<br />
erst recht keines für deren Früherkennung. Jedoch hat sich im<br />
Rahmen unseres FEP der OTZ – Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung<br />
(Van Luit/Van de Rijt/Hasemann 2001, siehe Glossar) als geeignet erwiesen, die<br />
„Risikokinder“ unter den Vorschulkindern frühzeitig zu identifizieren. Der Nachteil<br />
dieses Tests ist – neben der Durchführung als Einzeltest und dem Zeitaufwand<br />
von fast 30 Minuten je Kind – vor allem der, dass sich aus den Testergebnissen<br />
nicht direkt ein Förderplan ableiten lässt.<br />
In der Beratungsstelle für Kinder mit Rechenstörungen am IDM (siehe Glossar)<br />
arbeiten wir mit einem informellen Test, der sich vorrangig, aber nicht ausschließlich<br />
auf die arithmetischen Inhalte der Grundschulmathematik konzentriert.<br />
Wichtiger als die richtige Lösung der Aufgaben sind uns die Prozesse der<br />
Lösung, also die Verfahren, mit denen die Kinder die Aufgaben lösen. Denn aus<br />
der Art der Lösung von mathematischen Aufgaben lassen sich tatsächlich die<br />
notwendigen Fördermaßnahmen für die jeweiligen Kinder ableiten. Jede Überprüfung<br />
wegen Verdachts auf Rechenstörungen wird daher per Video aufgezeichnet.<br />
Auf der Grundlage dieses Dokumentes und der Beobachtung während der Überprüfung<br />
wird ein Protokoll angefertigt, in dem die Art und Weise der kindlichen<br />
Interaktion mit mathematischen Aufgabenstellungen beschrieben wird, die zentralen<br />
Auffälligkeitsbereiche dargestellt werden und ein Förderplan für das Kind<br />
aufgestellt wird.<br />
Bei aller Individualität der Erscheinungsformen von Rechenstörungen konnten wir<br />
im Laufe der Jahre bestimmte Problembereiche identifizieren, die bei der überwiegenden<br />
Mehrheit der uns vorgestellten Kinder mit besonders großen Problemen<br />
beim Rechnen beobachtet werden konnten. Diese immer wieder zu beobachtenden<br />
typischen Problemfelder, die jeweils eine Vielzahl an einzelnen Fehlern<br />
der Kinder erklären konnten, haben wir Symptome für Rechenstörungen genannt.<br />
Vier besonders häufige und sich besonders nachteilig auf das Rechnen<br />
auswirkende Symptome haben wir identifizieren können (vgl. S. 28), darunter<br />
besonders häufig das verfestigte zählende Rechnen und Probleme bei der Links-<br />
/Rechts-Unterscheidung. Auf diese beiden Symptome wird im Folgenden ausführlicher<br />
eingegangen. Dabei nimmt die Problematik des verfestigten zählenden<br />
Rechnens den größten Raum ein, weil dieses Symptom einerseits bei nahezu jedem<br />
Kind festgestellt wurde, das schließlich in die Förderung in der Beratungsstelle<br />
aufgenommen wurde, andererseits gerade bei diesem Symptom schulische<br />
Präventions- und Interventionsmaßnahmen besonders naheliegend sind.<br />
Das häufigste Symptom für Rechenstörungen: Verfestigtes<br />
zählendes Rechnen<br />
Erstes Rechnen ist immer ein zählendes Rechnen, unabhängig von Kulturen und<br />
meistens vor einer institutionellen Beschulung (vgl. z. B. Carpenter/Moser/Romberg<br />
1982). So lösen nicht wenige Kinder schon vor der Einschulung solche Rechengeschichten<br />
wie „Stelle dir vor, du hast 3 Bonbons und bekommst von mir<br />
noch 4 dazu. Wie viele Bonbons hast du dann?“ dadurch, dass sie zunächst 3<br />
Plättchen abzählend legen, dann 4 Plättchen und schließlich den Wert der Summe<br />
durch Abzählen von vorn bestimmen. Zählendes Rechnen zu Schulbeginn ist<br />
also ganz „normal“.<br />
31
32<br />
Wilhelm Schipper<br />
Wenn dagegen ein Kind im dritten Schuljahr zur Lösung der Aufgabe 368 + 473<br />
beginnen würde, zunächst 368 Plättchen einzeln abzählend zu legen, um auch<br />
diese Aufgabe mit dem Verfahren des Alles-Zählens am Material zu lösen, würde<br />
wohl keine Grundschullehrerin, kein Grundschullehrer dieses Vorgehen als ‚normal’<br />
ansehen. Tatsächlich ist verfestigtes zählendes Rechnen das zentrale Merkmal<br />
für Leistungsschwäche in Mathematik (vgl. z. B. Gray 1991). Wo aber liegt<br />
die Grenze? Wann kann zählendes Rechnen noch als ‚normal’ angesehen werden,<br />
wann sollten unterrichtliche Bemühungen zur Ablösung vom zählenden Rechnen<br />
einsetzen, wann ist zählendes Rechnen auffällig bis ‚dramatisch‘?<br />
Zeitpunkt der Auffälligkeit<br />
In der Regel werden zählende Rechner erst in der ersten Hälfte des zweiten<br />
Schuljahres beim Addieren und Subtrahieren im erweiterten Zahlenraum bis 100<br />
auffällig. Denn nun sind die gleichen Kinder, die beim Rechnen im ersten Schuljahr<br />
als ‚etwas langsam‘ galten, plötzlich dramatisch langsam. Beim Rechnen im<br />
Zahlenraum bis 20 ist es häufig ein diagnostisches Problem zu erkennen, ob ein<br />
Kind eine Aufgabe wie 7 + 5 noch etwas langsam, aber mit einem guten Verfahren<br />
(z. B. 7 + 3 + 2 oder 5 + 5 + 2) oder mit Hilfe eines schnellen weitererzählenden<br />
Rechnens ([7] 8, 9, 10, 11, 12) gelöst hat. Nicht selten sind zählende Rechner<br />
bei solchen Aufgaben schneller als solche Kinder, die den Zehnerübergang z.<br />
B. mit Hilfe des schrittweisen Rechnens („bis 10 und dann weiter“) noch etwas<br />
mühsam bewältigen, weil sie z. B. die Zerlegungen der Zahlen bis 10 noch nicht<br />
alle auswendig wissen. Im größeren Zahlenraum bis 100 sind die zählenden<br />
Rechner aber deutlich langsamer und werden nun auffällig.<br />
Beobachtungsmöglichkeiten<br />
Den meisten zählenden Rechnern ist bewusst, dass ihr zählendes Rechnen Ausdruck<br />
einer Leistungsschwäche in Mathematik ist. Sie versuchen daher, offensichtliches<br />
zählendes Rechnen zu vermeiden. Insbesondere wollen sie häufig<br />
auch nicht das ihnen angebotene Material benutzen. Statt dessen versuchen sie,<br />
ihr zählendes Rechnen zu verbergen. Folgende Verhaltensweisen von Kindern<br />
können als Indikatoren für zählendes Rechnen interpretiert werden:<br />
• Die Kinder verstecken ihre Hände unter den Oberschenkeln, hinter dem Rücken,<br />
unter dem Tisch, ...<br />
• Alle möglichen Materialien – die Fenster im Klassenraum, die Blumentöpfe auf<br />
den Fensterbänken, die Stifte in der Federtasche ... – werden als Zählmaterialien<br />
benutzt. Häufig wird das zählende Rechnen an solchen Gegenständen mit<br />
rhythmischen Kopfbewegungen begleitet.<br />
• Zählendes Rechnen an den Fingern gelingt manchen Kindern mit nur minimalen<br />
Fingerbewegungen. Man sollte daher Kindern sehr genau ‚auf die Finger<br />
schauen‘, auch wenn die Hände scheinbar unbeweglich auf dem Tisch liegen<br />
oder den Kopf stützen.<br />
• Aufgaben mit Zehnerüberschreitung (z. B. 8 + 7; 12 – 5; 46 + 8; 63 – 7) sind<br />
besonders aufschlussreich in dem Sinne, dass sie gerade für zählende Rechner<br />
kritische Prüfaufgaben sind. Wer solche Aufgaben schnell und sicher mit einer<br />
guten Strategie (z. B. bis zum vollen Zehner, dann weiter) rechnet, ist vermutlich<br />
kein zählender Rechner.<br />
• Bei schriftlich vorliegenden Aufgabenlösungen deuten gehäufte ±-1-Fehler<br />
beim Rechnen im Zahlenraum bis 20 und ±10-Fehler beim Rechnen bis 100<br />
auf zählendes Rechnen hin.
Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />
Bei diesen und allen weiteren Beobachtungen muss beachtet werden, dass nicht<br />
jeder Schnupfen ein Anzeichen für eine lebensbedrohende Grippe ist. Erst dann,<br />
wenn die Symptome über einen längeren Zeitraum und bei verschiedenen Aufgabentypen<br />
beobachtet werden, dann kann zunehmend sicherer angenommen<br />
werden, dass tatsächlich ein verfestigtes zählendes Rechnen bzw. eines der anderen<br />
Symptome vorliegt.<br />
Begleiterscheinungen<br />
Kennzeichnend für verfestigte zählende Rechner sind Auffälligkeiten in vier Bereichen,<br />
die eng mit dem zählenden Rechnen zusammenhängen.<br />
• Die Zerlegungen der Zahlen bis 10 sind nicht memorisiert.<br />
Am Ende des ersten Schuljahres sollten möglichst alle Kinder alle Zerlegungen<br />
aller Zahlen bis einschließlich 10 auswendig wissen, weil dieses eine wichtige<br />
Voraussetzung für die Entwicklung der operativen Strategie des schrittweisen<br />
Rechnens („bis 10, dann weiter“) ist. Die meisten zählenden Rechner kennen<br />
nur ganz wenige Zahlzerlegungen auswendig; sie erschließen sich diese meistens<br />
durch Zählen.<br />
Ein Tipp zur Prüfung, wie Kinder Aufgaben zur Zahlzerlegung lösen:<br />
Erarbeiten Sie mit dem Kind das Aufgabenformat, dass Sie die erste Zahl nennen,<br />
das Kind die Ergänzung bis 10, also etwa „Sechs“ – „Vier“ usw. Wenn das<br />
Kind mit dem Aufgabenformat vertraut ist, fordern Sie es auf, die Ergänzung<br />
zur Zahl 8 zu sagen, kurz darauf die Ergänzung zur Zahl 2 und vergleichen Sie<br />
die Zeit, die das Kind für die Bearbeitung dieser beiden Aufgaben benötigt. Eine<br />
deutlich längere Bearbeitungszeit bei der zweiten Aufgabe kann als Indiz<br />
für zählendes Vorgehen angesehen werden.<br />
Ein ergänzender Hinweis:<br />
Bei einigen Kindern haben wir festgestellt, dass sie falsche Zahlzerlegungen<br />
auswendig gelernt haben, also z. B. zur Zahl 6 immer 3 als Ergänzung nennen.<br />
Auch dieses sollten Sie überprüfen. Das ist natürlich nur dann möglich, wenn<br />
Sie die Überprüfung mehrfach durchführen und Ihre Beobachtungen protokollieren.<br />
• Verfestigte zählende Rechner zeigen ein insgesamt nur geringes aktives Repertoire<br />
an auswendig gewussten Aufgaben.<br />
Am Ende des ersten Schuljahres sollten möglichst alle Kinder alle Additions-<br />
und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 10 und möglichst alle Verdoppelungs-<br />
und Halbierungsaufgaben im Zahlenraum bis 20 auswendig wissen.<br />
Dieses Wissen ist eine hervorragende Basis für die Entwicklung operativer<br />
Strategien des Rechnens. Kinder, die das zählende Rechnen verfestigt haben,<br />
verfügen in der Regel nur über ganz wenige auswendig gewusste Aufgaben.<br />
Dies ist ein Teufelskreis. Weil die Kinder so wenige Aufgaben auswendig wissen,<br />
müssen sie immer wieder auf zählendes Rechnen zurückgreifen. Und weil<br />
diese Kinder immer wieder zählend rechnen, lernen sie nur so wenige Aufgaben<br />
auswendig. Denn zählendes Rechnen stellt einerseits eine so hohe mentale<br />
Belastung dar, dass die Kinder nach der Ermittlung der Lösung häufig die<br />
Aufgabe selbst vergessen haben, so dass es nicht zu einem Einprägen der<br />
Verbindung von Aufgabe und Lösung kommen kann. Andererseits ist zählendes<br />
Rechnen besonders fehleranfällig, so dass die Kinder zur gleichen Aufgabe<br />
unterschiedliche Lösungen erhalten, was wiederum das Einprägen einer stabilen<br />
Aufgabe-Lösung-Verbindung verhindert.<br />
33
34<br />
Wilhelm Schipper<br />
Ein Tipp:<br />
Manche Kinder verfügen über ein größeres Repertoire an auswendig gewussten<br />
Aufgaben, als sie im Unterrichtsalltag zeigen, weil sie lieber auf das ihnen<br />
subjektiv sicher erscheinende Zählen zurückgreifen, statt sich auf ihr Gedächtnis<br />
zu verlassen. In Form von Tempo-Übungen (alle 2 Sekunden eine Aufgabe)<br />
zum kleinen 1 + 1 und 1 – 1 kann man herausfinden, ob Kinder nicht tatsächlich<br />
mehr auswendig wissen, als sie normalerweise zeigen.<br />
• Operative bzw. heuristische Strategien des Rechnens sind auch bei zählenden<br />
Rechner manchmal (latent) vorhanden, werden aber nur selten genutzt.<br />
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über Strategien ersten und weiterführenden<br />
Rechnens.<br />
Tab. 1: Strategien ersten und weiterführenden Rechnens<br />
1. Schuljahr 2. Schuljahr<br />
1. Das Verdoppeln bzw. Halbieren nutzen<br />
6 + 8 = 14<br />
aus<br />
„doppel-sechs plus<br />
zwei“<br />
14 – 6 = 8<br />
aus<br />
14 – 7 = 7<br />
7 + 1 = 8<br />
2. Gegen- bzw. gleichsinniges Verändern<br />
6 + 8 = 14<br />
aus<br />
(6 + 1) + (8 – 1)<br />
= „doppel-sieben“<br />
3. Analogien nutzen<br />
13 + 4 = 17<br />
weil<br />
3 + 4 = 7<br />
4. Hilfsaufgaben nutzen<br />
6 + 8 = 14<br />
aus<br />
6 + 10 – 2<br />
12 – 7 = 5<br />
aus<br />
(12 – 2) – (7 – 2)<br />
= 10 – 5<br />
19 – 6 = 13<br />
weil<br />
9 – 6 = 3<br />
16 – 9 = 7<br />
aus<br />
16 – 10 + 1<br />
25 + 28 = 53<br />
aus<br />
„doppelfünfundzwanzig<br />
plus drei“<br />
34 + 58 = 92<br />
aus<br />
(34 – 2) + (58 + 2)<br />
= 32 + 60<br />
30 + 40 = 70<br />
weil<br />
3 + 4 = 7<br />
34 + 58 = 92<br />
aus<br />
34 + 60 – 2<br />
50 – 26 = 24<br />
aus<br />
50 – 25 – 1<br />
76 – 28 = 48<br />
aus<br />
(76 + 2) – (28 + 2)<br />
= 78 – 30<br />
76 – 5 = 71<br />
weil<br />
6 – 5 = 1<br />
76 – 28 = 48<br />
aus<br />
76 – 30 + 2<br />
5. Schrittweises Rechnen (Zerlegen des zweiten Summanden bzw. des Minuenden)<br />
6 + 8 = 14<br />
aus<br />
6 + 4 + 4<br />
6. Stellenwerte extra<br />
14 – 6 = 8<br />
aus<br />
14 – 4 – 2<br />
34 + 58 = 92<br />
aus<br />
34 + 50 + 8<br />
34 + 58 = 92<br />
aus<br />
30 + 50 = 80<br />
4 + 8 = 12<br />
80 + 12 = 92<br />
76 – 28 = 48<br />
aus<br />
76 – 20 – 8<br />
76 – 28 = 48<br />
aus<br />
70 – 20 = 50<br />
6 – 8 = – 2<br />
50 + ( – 2) = 48
Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />
Ziel des Mathematikunterrichts in der Grundschule ist es, die Kinder zu befähigen,<br />
aus diesem Repertoire an Verfahren flexibel das jeweils optimale – abhängig<br />
von den zu verrechnenden Zahlen – auszuwählen. Zählende Rechner<br />
sind von diesem Ziel weit entfernt. Dennoch verfügen auch sie nicht selten über<br />
einige dieser Strategien (meistens: das Verdoppeln bzw. Halbieren nutzen<br />
und schrittweises Rechnen, leider auch Stellenwerte extra, obgleich dieses<br />
Verfahren bei der Subtraktion mit Zehnerüberschreitung höchst fehleranfällig<br />
ist), nutzen sie jedoch nur selten, weil sie ihrer zählenden Vorgehensweise<br />
mehr vertrauen.<br />
• Bei zählenden Rechnern ist die Einsicht in Strukturen bzw. die Fähigkeit, diese<br />
zu nutzen, häufig nur gering ausgeprägt.<br />
Strukturierte Arbeitsmittel (z. B. die Hunderter-Tafel) sollen Kindern helfen,<br />
ein Verständnis für den Zahlenraum und für Operationen in ihm zu entwickeln.<br />
Dazu ist es notwendig, dass die Kinder die Struktur des Arbeitsmittels verstanden<br />
haben. Bei nicht wenigen zählenden Rechnern ist dieses Verständnis<br />
jedoch nicht zu beobachten. Sie nutzen das Material nahezu ausschließlich als<br />
Zählhilfe, d. h. sie nutzen es, um in Einzelschritten daran abzuzählen (vgl.<br />
Rottmann/Schipper 2002).<br />
Ein Tipp:<br />
Lassen Sie sich von dem Kind z. B. die Zahl 37 auf dem Hunderter-Feld zeigen.<br />
Kinder, die dieses Arbeitsmittel verstanden haben, zeigen ohne zu zögern<br />
sofort das entsprechende Feld. Kinder ohne Strukturverständnis dieses Materials<br />
suchen längere Zeit, bis sie mehr oder weniger zufällig das Feld 37 entdecken.<br />
Förderkonzepte<br />
Zwei Grundsätze bestimmen die Förderarbeit in der <strong>Bielefeld</strong>er Beratungsstelle<br />
für Kinder mit Rechenstörungen.<br />
1. Grundsatz: An die Vorkenntnisse anknüpfen<br />
Dies ist ein allgemeiner pädagogisch-didaktischer Grundsatz („Die Kinder dort<br />
abholen, wo sie stehen.“), der selbstverständlich für alle Kinder gilt, aber in ganz<br />
besonderer Weise bei solchen Kindern zu beachten ist, denen das (Mathematik-)<br />
Lernen schwer fällt. Für die zählenden Rechner bedeutet dieser Grundsatz u. a.,<br />
dass ihnen ihre zählende Vorgehensweise nicht schlicht verboten, sondern bewusst<br />
an ihr zählendes Rechnen angeknüpft wird. Jedoch müssen den Kindern<br />
geeignete Angebote (s. u.) gemacht werden, die es ihnen ermöglichen, sich vom<br />
zählenden Rechnen zu lösen.<br />
2. Grundsatz: Den Aufbau mentaler Vorstellungen unterstützen<br />
Es ist immer wieder überraschend, mit welchem geringen didaktischen Aufwand<br />
bei einigen Kindern erfolgreich Lernprozesse in Gang gesetzt werden können.<br />
Manchmal reicht schon die einmalige Demonstration eines Rechenverfahrens am<br />
Material, verbunden mit einer kurzen sprachlichen Erläuterung durch die Lehrerin,<br />
um einen Teil der Kinder zu befähigen, Aufgaben des gerade besprochenen<br />
Typs im Kopf und ohne weitere Hilfsmittel fehlerfrei zu lösen. Kinder mit Rechenstörungen<br />
gehören nicht zu dieser Art schnell lernender Schüler. Im Gegenteil:<br />
Bei ihnen drängt sich häufig der Verdacht auf, dass alle Erklärungen, aller Materialeinsatz<br />
und alle weiteren Hilfen ergebnislos bleiben. Sobald die Kinder allein<br />
auf sich gestellt sind, verfallen sie in ihre alten fehlerhaften und zählenden Routinen.<br />
35
36<br />
Wilhelm Schipper<br />
Kinder mit Rechenstörungen profitieren offensichtlich nicht in gleicher Weise von<br />
Handlungen an Materialien, wie die leichter lernenden Kinder. Das liegt einerseits<br />
an den Materialhandlungen selbst, die häufig unstrukturiert, manchmal abenteuerlich<br />
erscheinende Eigenproduktionen sind, sehr regelhaft, aber falsch, so dass<br />
die Materialhandlung nicht einmal zur richtigen Lösung der Aufgabe führt, geschweige<br />
denn dem Kind helfen kann, aus den Handlungen eine Kopfrechenstrategie<br />
zu entwickeln. Das liegt andererseits aber auch daran, dass diesen Kindern<br />
der Prozess der Verinnerlichung von Handlungen zu (mentalen) Vorstellungen<br />
ohne zusätzliche Hilfe nicht gelingt. Für manche von ihnen hat die Welt der materialgebundenen<br />
Lösung von Aufgaben nichts zu tun mit der Welt der materialunabhängig<br />
zu lösenden Rechenaufgaben (Intermodalitätsproblem). Die Übersetzung<br />
von Handlungen in Bilder bzw. in Sprache und Symbole (z. B. Gleichung)<br />
gelingt ihnen nicht.<br />
An dieser Stelle setzt unser zweiter Fördergrundsatz an. Der Prozess der Entwicklung<br />
mentaler Vorstellungsbilder aus Handlungen am Material soll unterstützt<br />
werden. Durch geeignete Maßnahmen soll erreicht werden, dass die Kinder<br />
auch bei der materialunabhängigen Lösung von Rechenaufgaben noch die Vorstellung<br />
des Materials haben, das ihnen bei der materialgebundenen Lösung solcher<br />
Aufgaben geholfen hat, mit einer guten Strategie zu einer richtigen Lösung<br />
zu kommen. Das bedeutet zweierlei. Erstens müssen die Materialhandlungen<br />
strukturell mit den angestrebten Kopfrechenstrategien übereinstimmen. Es muss<br />
also ein Material ausgewählt werden, das solche Handlungen nahe legt, die zu<br />
dem Kopfrechenverfahren passen. Zweitens muss die Loslösung vom Material auf<br />
eine solche Weise geschehen, dass die Vorstellung der Materialhandlungen bestehen<br />
bleibt. Das uns dafür geeignet erscheinende Verfahren besteht darin, dass<br />
wir den Kindern nach und nach die Sicht auf das Material und die Möglichkeit der<br />
konkreten Handlungen nehmen (z. B. durch das Verbinden der Augen oder dadurch,<br />
dass das Material hinter einem Sichtschirm verborgen wird), wir zugleich<br />
aber die Kinder auffordern zu sagen, mit welchen Materialhandlungen diese Aufgabe<br />
gelöst werden könnte (vgl. Abb. 2 auf S. 42). Unsere Erfahrungen zeigen,<br />
dass beim späteren materialunabhängigen Rechnen häufig der Hinweis „Denke<br />
an das Material!“ ausreicht, um Kinder wieder zu einem guten Rechenverfahren<br />
zu führen, wenn sie in der Gefahr sind, wieder auf ihr zählendes Rechnen zurückzufallen.<br />
Förderschwerpunkte<br />
Zentrales Ziel der Förderarbeit ist es, die Kinder zu guten und erfolgreichen Strategien<br />
des Kopfrechnens zunächst bei Additions- und Subtraktionsaufgaben zu<br />
führen. Zu diesem Zweck konzentriert sich die Förderung auf drei Schwerpunkte,<br />
von denen die beiden ersten als flankierende, aber unverzichtbare Maßnahmen<br />
für den dritten Förderschwerpunkt zu verstehen sind.<br />
1. Verinnerlichung der Zahlzerlegungen<br />
Mit diesem Förderschwerpunkt soll erreicht werden, dass die Kinder alle Zerlegungen<br />
aller Zahlen bis 10 auswendig können. Die Übung knüpft im Sinne des<br />
ersten Fördergrundsatzes an die bei den Kindern hervorragend entwickelte Fähigkeit<br />
im Umgang mit ihren Fingern an. Im Sinne des zweiten Fördergrundsatzes<br />
wird versucht, die Ablösung von dieser Hilfe durch die Ausbildung mentaler<br />
Vorstellungsbilder zu erreichen.
Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />
Aufgabenformat 1.1: Zerlegung der Zahl 10 an den Händen mit Hilfe eines Stiftes<br />
Das Kind legt beide Hände mit ausgestreckten Fingern,<br />
Daumen an Daumen, auf den Tisch. Als Leserichtung<br />
wird die übliche von links nach rechts verabredet, d. h.<br />
der kleine Finger der linken Hand ist der erste Finger,<br />
der Daumen der rechten Hand der sechste Finger usw.<br />
Mit einem Stift werden nun alle möglichen Zerlegungen<br />
der Zahl 10 dargestellt. Das Kind antwortet möglichst<br />
schnell (um Zählen zu reduzieren) nur mit der Nennung<br />
der beiden Summanden in Leserichtung von links nach<br />
rechts. Im dargestellten Beispiel wird von dem Kind also<br />
nur „drei, sieben“ erwartet. Die Lösung „sieben, drei“<br />
wird zu diesem Zeitpunkt nicht akzeptiert, weil sie gegen<br />
die Leserichtung verstößt.<br />
Aufgabenformat 1.2: Zerlegung der Zahl 10 an den Händen ohne Hilfe eines Stiftes<br />
Wenn die Kinder mit dieser Art der Aufgabenstellung (z. B. auch mit Hilfe von<br />
Partnerübungen) vertraut sind, kann mit der allmählichen Ablösung von konkreten<br />
Handlungen an den Händen begonnen werden: Im Aufgabenformat 1.2 lässt<br />
das Kind beide Hände auf dem Tisch liegen. Die Zahlzerlegung wird aber nicht<br />
mehr mit einem Stift angezeigt, sondern die Förderin sagt die erste Zahl, das<br />
Kind die Ergänzung bis 10. Auch solche Übungen bieten sich für Partnerübungen<br />
an.<br />
Aufgabenformat 1.3: Zerlegung der Zahl 10 mit Hilfe verdeckter Hände<br />
Eine erhebliche Erschwerung ist es, wenn die Hände mit einem Tuch abgedeckt<br />
werden. Denn nun haben die Kinder nicht mehr die Möglichkeit, durch visuell gestütztes<br />
Abzählen an den Fingern diese Aufgaben zu lösen. Eine typische Reaktion<br />
einiger Kinder ist, dass sie die fehlende visuelle Möglichkeit durch eine taktile<br />
ersetzen: Die Finger ‚tanzen‘ unter dem Tuch. Das zeigt, dass diese Kinder noch<br />
auf die Stütze der Finger angewiesen sind. Für die Förderung bedeutet dies, dass<br />
nun immer zwischen Aufgabenformat 1.2 und 1.3 gewechselt wird, bis die Kinder<br />
zunehmend mehr, letztlich alle Zerlegungen der Zahl 10 auswendig wissen.<br />
Aufgabenformat 1.4: Zerlegungen weiterer Zahlen<br />
Beherrschen die Kinder erst einmal alle Zerlegungen der Zahl 10, dann ist die<br />
Erarbeitung der weiteren Zahlzerlegungen meistens nicht mehr so mühsam. Einige<br />
Beispiele:<br />
• Comic-Figuren haben nur 4 Finger an jeder Hand, insgesamt also 8 Finger.<br />
„Machen wir’s wie die Comic-Figuren: 3,5 – 4,4 – 1,7 – ...“<br />
• 2 Kinder legen ihre 4 Hände nebeneinander, 20 Finger: 13,7 – 10,10 – 4,16 –<br />
...<br />
• „Stell dir vor, 10 Kinder sitzen nebeneinander, 100 Finger liegen auf dem<br />
Tisch: 30,70 – 10,90 – 99,1... 75,25 – 51,49 – ...“<br />
Eine Randbemerkung: Die Aufforderung „Stell dir vor“ gehört zu den wichtigsten<br />
Anforderungen in einem handlungsorientierten Mathematikunterricht, denn das<br />
Ziel jeder Handlung ist der Aufbau von Vorstellungen.<br />
37
38<br />
Wilhelm Schipper<br />
2. Schnelles Sehen<br />
Wesentliche Intention dieser Übung ist es, die Kinder schon bei der Zahlauffassung<br />
(und nicht erst beim Rechnen) von zählenden Verfahren wegzuführen. Deshalb<br />
werden den Kindern Zahldarstellungen für nur so kurze Zeit präsentiert,<br />
dass ein Abzählen der einzelnen Elemente nicht möglich ist.<br />
Bei unstrukturiert dargebotenen Mengen ist eine solche simultane Zahlauffassung<br />
nur bis zu etwa fünf Elementen möglich. Größere Anzahlen können quasisimultan<br />
aufgefasst werden, wenn die Zahldarstellung in strukturierter Form<br />
(‚Kraft der 5, Kraft der 10‘) erfolgt.<br />
Aufgabenformat 2.1: Schnelles Sehen am Rechenrahmen<br />
Am strukturierten (20er- oder 100er-)Rechenrahmen<br />
werden – nach Klärung der Konvention, dass alle Kugeln<br />
nach rechts verschoben Null bedeutet – Zahlen hinter<br />
einem Sichtschirm für das Kind verdeckt eingestellt.<br />
Diese Zahldarstellung wird dem Kind für nur sehr kurze<br />
Zeit (etwa eine Sekunde) präsentiert. Die Aufgabe des<br />
Kindes besteht darin, aus dem wahrgenommenen Bild<br />
die Anzahl mental zu rekonstruieren: 3 volle Stangen,<br />
also 30; auf der nächsten Stange noch eine Fünfergruppe<br />
und 2 einzelne, also 7; macht zusammen 37. Eine Festigung<br />
des Stellenwertverständnisses ist bei dieser Übungsform<br />
ein erwünschtes Nebenergebnis.<br />
Aufgabenformat 2.2: Schnelles Sehen am Computer<br />
Die gleiche Übungsform ist auch als Computer-Programm unter dem Namen<br />
‚Schnelles Sehen‘ erhältlich (D.&J. Wohlrab – SoWoSoft – Große Oker 24, 38707<br />
Altenau). Gegenüber dem Aufgabenformat 2.1 bietet dieses Programm einige<br />
Vorteile. So kann das Kind diese Übungen durchführen, ohne dass ein menschlicher<br />
Aufgabensteller notwendig ist. Durch Voreinstellungen im Programm können<br />
die Übungen den aktuellen Kompetenzen der Kinder angepasst werden (Beschränkung<br />
auf den Zahlenraum bis 10, 20, 30, ... 100; Verhinderung von Darstellungen<br />
‚schwerer‘ Einer wie z. B. 7 oder 8 u. Ä.). Die Zeiten für die Zahldarstellung<br />
werden vom Computer exakt kontrolliert und – der entscheidende Vorteil<br />
– die gesamte Übung wird protokolliert, so dass die Lehrerin bzw. der Lehrer zu<br />
einem späteren Zeitpunkt kontrollieren kann, wie viele Übungen das Kind durchgeführt<br />
hat, wie viele Aufgaben falsch bzw. richtig gelöst wurden und – vor allem<br />
– welche Art von Fehlern das Kind gemacht hat. Das sei an einem Ausschnitt eines<br />
Protokolls erläutert.<br />
FRANZISK 20.11.2002 Arbeitszeit: 11 min 29 sec bearbeitete Aufgaben: 22<br />
Zahl 0,2 Sek<br />
ˇ Zahl/Zeit<br />
0,5 Sek<br />
Zahl/Zeit<br />
1 Sek<br />
Zahl/Zeit<br />
2,5 Sek<br />
Zahl/Zeit<br />
5 Sek<br />
Zahl/Zeit<br />
ˇ88 89 34,8 88 11,8 46,6<br />
ˇ33 33 10,0 10,0<br />
ˇ36 53 11,0 63 8,6 36 9,7 29,3<br />
ˇ55 52 5,9 55 7,5 13,4<br />
ˇ24 42 6,8 24 18,7 25,5<br />
ˇ77 86 10,3 87 19,3 77 9,4 39,0<br />
ˇ 7 6 6,5 7 6,4 12,9<br />
ˇ87 93 9,0 87 9,4 18,4<br />
ˇ69 54 37,4 57 35,3 68 15,3 67 15,9 69 84,0 187,9<br />
ok?<br />
Zeit
Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />
ˇ41 43 9,1 41 13,3 22,4<br />
ˇ 9 10 5,0 7 34,0 9 6,2 45,2<br />
ˇ99 90 25,5 99 8,4 33,9<br />
ˇ10 10 4,6 4,6<br />
ˇ90 90 6,4 6,4<br />
ˇ71 61 7,2 71 7,4 14,6<br />
ˇ28 62 8,7 26 9,6 27 9,4 28 11,9 39,6<br />
Am 20.11.2002 hat Franziska 11 Minuten und 29 Sekunden am Programm<br />
‚Schnelles Sehen‘ gearbeitet und in dieser Zeit insgesamt 22 Aufgaben bearbeitet.<br />
Als erste Aufgabe wurde ihr die Darstellung der Zahl 88 für zunächst 0,2 Sekunden<br />
präsentiert. Nach 34,8 Sekunden gibt sie „89“ als Lösung ein, macht also<br />
einen +1-Fehler. Ihr zweiter Lösungsversuch ist richtig. Für die Bearbeitung der<br />
ersten Aufgabe hat sie insgesamt 46,6 Sekunden gebraucht. Als dritte Aufgabe<br />
wird ihr die Darstellung der Zahl 36 gezeigt. Sie gibt zunächst „53“ als Lösung<br />
an. Nach der zweiten, nunmehr 0,5 Sekunden währenden Präsentation der gleichen<br />
Zahl gibt sie „63“ als Lösung an; erst im dritten Versuch (1 Sekunde Präsentationszeit)<br />
gelingt ihr die richtige Lösung. Vermutlich hat sie die dargestellte<br />
Zahl 36 im ersten Versuch als 35 gelesen, jedoch den Zahlendreher 53 eingetippt;<br />
dafür spricht, dass sie im zweiten Versuch 63 als Zahlendreher von 36 eingibt.<br />
Der weitere Protokollausschnitt zeigt, dass Franziska noch weitere solche<br />
Zahlendreher schreibt.<br />
3. Entwicklung von Rechenstrategien<br />
Die o. a. Übungen zur Verinnerlichung der Zahlzerlegungen und zum schnellen<br />
Sehen sind flankierende Maßnahmen für die im Folgenden dargestellte zentrale<br />
Übungsform, deren Intention es ist, die Kinder vom zählenden Rechnen wegzuführen<br />
hin zur Nutzung leistungsfähiger Strategien des Kopfrechnens. Diese beiden<br />
Übungsformen sind insofern flankierend, als für das Nutzen der operativer<br />
Strategie des schrittweisen Rechnens das Auswendigwissen der Zahlzerlegungen<br />
äußerst hilfreich ist und die quasi-simultane Zahlauffassung und Zahldarstellung<br />
das Zählen im Zusammenhang mit Materialhandlungen verhindert.<br />
Das Problem der Auswahl von Rechenstrategien<br />
Die Tabelle 1 (S. 34) gibt einen Überblick über die möglichen Strategien des ersten<br />
und des weiterführenden Rechnens. Schön wäre es, wenn alle Kinder alle<br />
Strategien jeweils optimal angepasst an die vorgegebene Zahlenkonstellation<br />
nutzen könnten. Für verfestigte zählende Rechner ist das eine völlig unrealistische<br />
Vorstellung. Für diese Kinder ist vielmehr ein Verfahren auszuwählen, das<br />
einerseits universell ist, andererseits fortsetzbar. Mit dem Attribut ‚universell‘<br />
werden solche Verfahren gekennzeichnet, deren Anwendung nicht von spezifischen<br />
Zahlenkonstellationen abhängig ist. Das Nutzen des Verdoppels etwa ist in<br />
diesem Sinne nicht universell. Dieses Verfahren liegt nur dann nahe, wenn die<br />
beiden Summanden nahe beieinander liegen; die Aufgabe 25 + 28 kann z. B. von<br />
Zweit- und Drittklässlern (hoffentlich) über ‚das Doppelte von 25, plus 3‘ gerechnet<br />
werden. Bei einer Aufgabe wie 24 + 68 wird aber kaum jemand auf die Idee<br />
kommen, diese über ‚das Doppelte von 24 plus Differenz aus 68 und 24‘ zu lösen.<br />
Unter den in Tabelle 1 aufgelisteten Verfahren sind nur das schrittweise<br />
Rechnen (schon ab Klasse 1) und das Verfahren ‚Stellenwerte extra‘ (ab Klasse<br />
2) universell. Da das schrittweise Rechnen (anders als ‚Stellenwerte extra‘) auch<br />
gut fortsetzbar ist, also auch noch für das Kopfrechnen mit dreistelligen Zahlen<br />
39
40<br />
Wilhelm Schipper<br />
gut genutzt werden kann, ist für uns diese Art des (additiven) Rechnens das<br />
Mindestverfahren, das auch die verfestigten zählenden Rechner mindestens lernen<br />
sollen. Vorteilhaft ist dieses Verfahren auch deshalb, weil es – anders als<br />
‚Stellenwerte extra‘ – bei Subtraktionen mit Zehnerüberschreitung keine besonderen<br />
Probleme erzeugt. Im Mittelpunkt der Förderung steht daher die Entwicklung<br />
des schrittweisen Rechnens als Kopfrechenverfahren bei Addition und Subtraktion,<br />
vom Rechnen im Zahlenraum bis 20 bis hin zum (gestützten) Kopfrechnen<br />
im Zahlenraum bis 1000.<br />
Das Problem der Auswahl eines geeigneten Arbeitsmittels<br />
Kopfrechenstrategien sollen als mentale Verinnerlichung aus Handlungen an Materialien<br />
entstehen. Daher müssen die Handlungen strukturell mit der angestrebten<br />
Form des Kopfrechnens übereinstimmen. Prüft man auf diesem Hintergrund,<br />
welche Handlungen notwendig sind, um etwa mit Steckwürfeln eine Aufgabe wie<br />
6 + 8 zu lösen, dann wird deutlich, dass dieses Material nicht für die Entwicklung<br />
des schrittweisen Rechnens geeignet ist. Denn mit Steckwürfeln müssen die Kinder<br />
zunächst den ersten Summanden 8 durch Abzählen darstellen, dann wiederum<br />
durch Abzählen in Einerschritten den zweiten Summanden 6. Da der so geschaffene<br />
Repräsentant des Ergebnisses (in der Regel, d. h., wenn die Kinder<br />
nicht bestimmte Konventionen eingehalten haben) nicht quasi-simultan erfassbar<br />
ist, müssen sie erneut zählen, um den Wert der Summe zu ermitteln. Eine solche<br />
Vorgehensweise stabilisiert das Verfahren des Alles-Zählens, dessen Ablösung<br />
das erklärte Ziel der Arbeit mit Material ist.<br />
Benötigt wird daher ein Material, das es erstens gestattet, die Zahl 6 simultan<br />
(‚mit einem Fingerstreich‘) darzustellen, das zweitens das Auffüllen bis 10 vom<br />
Material her fordert (und nicht als mühsam zu erarbeitende Konvention, an die<br />
Kinder sich strikt halten müssen) und das es drittens erlaubt, nach der Darstellung<br />
der restlichen 4 den so insgesamt dargestellten Wert der Summe quasisimultan<br />
(‚mit einem Blick‘) aufzufassen. Der strukturierte (20er- bzw. 100er-)<br />
Rechenrahmen bietet genau diese Möglichkeiten. Er fordert Handlungen geradezu<br />
heraus, die strukturell mit dem angestrebten schrittweisen Rechnen „im Kopf“<br />
übereinstimmen. Dies sei am Beispiel der Aufgabe 6 + 8 verdeutlicht.<br />
Die Kinder stellen zunächst den ersten Summanden<br />
dar, füllen danach die erste Stange vollständig bis 10<br />
auf und stellen dann den Rest auf der nächsten Stange<br />
dar.<br />
Voraussetzung für die Anwendung dieser Strategie ist,<br />
dass die Kinder die Zerlegungen des zweiten Summanden<br />
möglichst auswendig wissen. Deshalb müssen die<br />
Zerlegungen der Zahlen bis einschließlich 10 intensiv<br />
geübt werden (vgl. die Übungsformen 1.1 bis 1.4).<br />
Wichtig ist, dass die Kinder ihre Handlungen sprachlich<br />
begleiten: „Sechs – zehn – vierzehn“. Weniger wichtig<br />
ist die Form der schriftlichen Notation dieser Rechnung.<br />
Solche schriftlichen Notationen sollten höchstens die<br />
Funktion eines Protokolls der Handlung haben, aber<br />
nicht zu einem Selbstzweck werden, indem in immer<br />
wiederkehrenden Übungen die Kinder gezwungen werden,<br />
die ‚schriftliche Normalform‘ zu verwenden, obgleich<br />
sie die Rechnung längst im Kopf beherrschen.<br />
Zunächst die 6 oben ...<br />
... dann die restlichen 4<br />
auf der oberen Stange<br />
...<br />
... und noch die fehlenden<br />
4 auf der unteren<br />
Stange.<br />
6 + 8 =<br />
„Sechs – zehn – vierzehn“
Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />
Aufgabenformat 3.1: Handlungen am Rechenrahmen<br />
Zunächst müssen die Kinder lernen, die zum schrittweisen Rechnen passenden<br />
Handlungen am Rechenrahmen durchzuführen und sie in der o. g. prägnanten<br />
Form sprachlich zu beschreiben. Ein häufiges Problem dabei ist, dass die Kinder,<br />
die sich ja zumeist schon in Klasse 3 oder 4 befinden, nicht mehr unbefangen mit<br />
diesem Arbeitsmittel umgehen können, einem Arbeitsmittel, von dem sie wissen,<br />
dass es im ersten Schuljahr benutzt wird. Hier ist es oft hilfreich, diese Kinder in<br />
die Situation eines ‚großen Bruders‘ bzw. einer ‚großen Schwester‘ zu versetzen,<br />
die der/dem ‚Kleinen‘ erklärt, wie solche Aufgaben mit Hilfe dieses Materials gelöst<br />
werden können.<br />
Auf einige Punkte muss besonders geachtet werden. Die Zahldarstellungen erfolgen<br />
mit einem ‚Fingerstreich‘ bzw. mit so wenigen wie möglich. Jede Handlung<br />
ist sprachlich zu begleiten. Optimal ist die sehr kurze, prägnante sprachliche Begleitung<br />
mit der Angabe der jeweils vorgenommenen Zahldarstellung: „sechs –<br />
zehn – vierzehn“. Vor allem die Nennung des Zwischenstandes „zehn“ ist zu fordern,<br />
weil sonst die Gefahr besteht, dass die Kinder nach Durchführung der<br />
Handlungen doch wieder anfangen zu zählen. Die gleiche Gefahr besteht, wenn<br />
die Kinder statt der Zwischenstände die Operationen („vier dazu, dann noch einmal<br />
vier dazu“) benennen.<br />
Auch schon in dieser ersten Übungsphase sollten Aufgaben mit Übergängen über<br />
die weiteren Zehner (bis 90) gestellt werden, also Aufgaben vom Typ ZE + E, wie<br />
z. B. 37 + 5, 78 + 7 etc. Ob zugleich Subtraktionsaufgaben mit Zehnerübergang<br />
behandelt werden sollen, muss im Einzelfall entschieden werden. Tendenziell ist<br />
es besser, sich zunächst auf Additionen zu konzentrieren, Subtraktionen erst<br />
dann zu behandeln, wenn mindestens das Aufgabenformat 3.2 gesichert ist.<br />
Aufgabenformat 3.2: Erste Ablösung von den Handlungen<br />
Wenn das Aufgabenformat 3.1 von dem Kind beherrscht wird, beginnt die behutsame<br />
Ablösung vom Material. Sie geschieht jedoch auf eine Weise, dass die Vorstellung<br />
der Materialhandlung erhalten bleibt.<br />
Der Rechenrahmen wird für das Kind sichtbar so weit entfernt aufgestellt, dass<br />
Handlungen am Material für das Kind nicht mehr möglich sind, der Rechenrahmen<br />
nur noch angeschaut werden kann. Zur Lösung einer Aufgabe (z. B. 37 + 6)<br />
soll das Kind beschreiben, wie die zugehörigen Handlungen am Material aussehen:<br />
„Erst die 37 einstellen, dann 3 dazu sind 40; noch einmal 3 sind 43“ oder<br />
kürzer: „37 – 40 – 43“.<br />
Aufgabenformat 3.3: Rechnen mit verbundenen Augen<br />
Im nächsten Schritt wird vom Kind erwartet, die Lösung von Aufgaben mit Zehnerübergang<br />
nur noch mit vorgestellten Handlungen am Rechenrahmen zu lösen.<br />
Das Material selbst ist für das Kind weder greifbar noch sichtbar.<br />
41
42<br />
Wilhelm Schipper<br />
Abb. 2: Das Kind löst Aufgaben zur Zehnerüberschreitung mit Hilfe der Vorstellung<br />
des Rechenrahmens, indem es der Förderin die Handlungen zur Lösung<br />
der Aufgabe diktiert.<br />
Dazu werden dem Kind die Augen verbunden (vgl. Abbildung 2) bzw. der Rechenrahmen<br />
wird hinter einem Sichtschirm verborgen so aufgestellt, dass die<br />
Förderin darauf zugreifen kann. Die Förderin diktiert dem Kind eine Aufgabe vom<br />
Typ ZE±E mit Zehnerüberschreitung, das Kind diktiert die Handlungen, die die<br />
Förderin zur Lösung der Aufgabe am Material vollziehen soll.<br />
Perspektiven für die weitere Förderung<br />
Das eben beschriebene Aufgabenformat 3.3 ist die entscheidende Hürde bei der<br />
Ablösung vom zählenden Rechnen. Gelingt den Kinder die Versprachlichung und<br />
damit die Vorstellung der notwendigen Handlungen, dann gelingt es nicht wenigen<br />
von ihnen, in den nächsten zwei bis drei Förderstunden Aufgaben vom Typ<br />
HZE±HZE mit Zehner- und Hunderterüberschreitung erfolgreich zu lösen – im<br />
Kopf bzw. halbschriftlich und in angemessener Zeit. Voraussetzung dafür ist jedoch,<br />
dass das Rechnen mit vollen Zehner (ZE±Z) gelingt. Falls bei diesem Aufgabentyp<br />
Probleme bestehen, dann sollte nicht mit dem Rechenrahmen, sondern<br />
mit der Hunderter-Tafel gearbeitet werden, weil sich an diesem Material die Addition<br />
und Subtraktion voller Zehner gut als Wege nach unten bzw. oben darstellen<br />
und vorstellen läßt. Der komplexeste Aufgabentyp beim Rechnen im Zahlenraum<br />
bis 100, nämlich ZE±ZE mit Zehnerüberschreitung, sollte ganz ohne konkrete<br />
Materialhandlungen gelöst werden, weil die Addition voller Zehner nicht gut am<br />
Rechenrahmen, die Addition von Einern über den Zehner nicht gut an der Hunderter-Tafel<br />
darstellbar ist. Statt dessen sollten die Kinder den ersten Teilschritt<br />
(ZE±Z) mit der Vorstellung der Hunderter-Tafel vollziehen, den zweiten Teilschritt<br />
(ZE±E) mit der Vorstellung des Rechenrahmens.<br />
Verfestigte zählende Rechner lösen häufig auch die Aufgaben des kleinen Einmalseins<br />
auf zählende Weise. Daher besteht bei den meisten Kinder auch noch in<br />
diesem Bereich Förderbedarf. Die Kinder sollten lernen, sich die Einmaleinsauf-
Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />
gaben mit Hilfe der auswendig gewussten ‚Königsaufgaben‘ zu erschließen (vgl.<br />
Radatz u. a. 1998, S. 81ff.). Letztlich ist es aber auch hier wichtig, dass die Kinder<br />
das kleine 1 x 1 auswendig wissen.<br />
Das zweithäufigste Symptom für Rechenstörungen: Links-/Rechts-<br />
Problematik<br />
Ein auffällig hoher Prozentsatz von Kindern mit Verdacht auf Rechenstörungen ist<br />
nicht sicher bei der Unterscheidung von links und rechts, weder an sich selbst<br />
noch am Gegenüber. Diese Kompetenz kann leicht mit Aufgaben der folgenden<br />
Art überprüft werden: „Zeige mir deinen rechten Arm, dein linkes Ohr, stelle dich<br />
auf dein linkes Bein. Zeige mir meine rechte Hand, meinen linken Fuß und (damit<br />
nicht alles so fürchterlich ernst zugeht) meine linke Nase.“ Aufgaben dieser Art<br />
sind zugleich auch Fördermöglichkeiten, um eine noch fehlende Links-/Rechts-<br />
Unterscheidung zu sichern.<br />
Die Fähigkeit zur Links-/Rechts-Unterscheidung wird im Mathematikunterricht vor<br />
allem beim Arbeiten mit Material benötigt, denn alle Arbeitsmittel und alle Veranschaulichungen<br />
im Mathematikunterricht der Grundschule operieren mit Richtung,<br />
nicht nur der Zahlenstrahl. So korrespondiert das Addieren eindeutig mit<br />
einer Bewegung nach rechts und ggf. nach unten auf der Hunderter-Tafel, aber<br />
mit einem Schieben von Perlen von rechts nach links am Rechenrahmen usw.<br />
Kinder, die nicht sicher links und rechts unterscheiden, sollten, so<br />
wie im 1. Schuljahr, wieder ein farbiges Band oder, weniger auffällig<br />
im 3. Schuljahr, eine Armbanduhr tragen. Auf diese Weise haben sie<br />
eine ständige Orientierungshilfe bei sich.<br />
Nicht selten ist die Unsicherheit bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />
mit falscher Ziffernschreibweise (spiegelverkehrte Ziffern) und<br />
mit Zahlendrehern (32 statt 23; vgl. auch das Protokoll von Franziskas<br />
Arbeit am Programm „Schnelles Sehen“) beim Schreiben von<br />
zweistelligen Zahlen verbunden. Manche der betroffenen Kinder<br />
schreiben die Zahlen von rechts nach links. Die scheinbare Hilfe, die<br />
Zahlen so schreiben zu lassen, „wie man sie spricht“, das Schreiben<br />
der Zahl 23 also von rechts nach links beginnend mit der Ziffer 3 zu<br />
erlauben, erweist sich spätestens im 3. Schuljahr als Sackgasse.<br />
Zahlendiktate am Taschenrechner sind in diesen Fällen hilfreiche<br />
Übungen.<br />
Die nebenstehende Abbildung zeigt ein Zahlendiktat eines Kindes<br />
mit einer auffälligen Links-/Rechts-Problematik. Die beiden letzten<br />
Zahlen stehen für 23 und 35.<br />
Beobachtungsschwerpunkte<br />
Im Sinne einer frühzeitigen Diagnose von sich entwickelnden Problemen im Mathematikunterricht<br />
sollten vor allem die folgenden Aspekte beobachtet werden.<br />
• Zählkompetenz<br />
Das Aufsagen der Zahlwortreihe einerseits (verbales Zählen) und die Fähigkeit,<br />
Mengen richtig abzählen zu können andererseits (Abzählen), sind wichtige<br />
Voraussetzungen für eine erfolgreiche Teilnahme am arithmetischen Anfangsunterricht,<br />
die sich in der Regel bereits in der vorschulischen Zeit entwickeln.<br />
Diese Kompetenzen können bei Vorschulkindern ausgebaut, müssen bei<br />
Schulanfängern gefestigt werden. Das ist sowohl mit eher ganzheitlich ange-<br />
43
44<br />
Wilhelm Schipper<br />
legten, projektorientierten, herausfordernden Aufgaben möglich (Radatz u. a.<br />
1996, S. 51ff.) als auch mit isolierten Übungen (ebd., S. 57ff.). Besondere Beachtung<br />
verdient das Rückwärtszählen, weil diese Fähigkeit durch Anregungen<br />
zu Hause selten gefördert wird, sie aber eine wichtige Voraussetzung für die<br />
Zwischenphase des rückwärtszählenden Lösens von Subtraktionsaufgaben ist.<br />
Fehlt diese Fähigkeit, dann besteht die Gefahr, dass im Extremfall das Kind<br />
kein Grundverständnis für die Subtraktion entwickelt.<br />
• Zahlauffassung, Zahldarstellung und Zahlzerlegung<br />
Erste Zahlauffassungen („Wie viele Plättchen sind das?“) erfolgen abzählend.<br />
Schon Drei- bis Vierjährige sind ganz stolz, wenn sie mit „Eins, zwei, drei, viele“<br />
abzählen können, wie viele Bonbons sie haben. Solche (und bessere) Formen<br />
der Zahlauffassungen sind elementare Grundvoraussetzungen für die<br />
quantitative Bewältigung auch von Alltagsanforderungen. Im Laufe des ersten<br />
Schuljahres sollen die Kinder auch nicht-zählende, quasi-simultane Zahlauffassungen<br />
und Zahldarstellungen an strukturierten Materialien (z. B. am Rechenrahmen)<br />
lernen (vgl. ‚Schnelles Sehen‘). Darüber hinaus ist es wichtig, den<br />
Kindern ein Angebot zu machen für Zahlauffassungen mit vielen Sinnen (‚Zahlen<br />
hören, fühlen, tasten’; vgl. Bauersfeld/O´Brien 2002), denn solche Übungen<br />
können dazu beitragen, die quantitativen Zahlvorstellungen der Kinder zu<br />
sichern, und vielleicht bewirken, dass Kinder bei Zahlen statt nur an Zahlzeichen<br />
(Ziffern) zu denken, sich wirklich Anzahlen vorstellen. Zusammen mit gesicherten<br />
Kenntnissen der Zerlegungen der Zahlen bis 10 fördern solche Übungen<br />
die Fähigkeit, flexibel mit Zahlen umzugehen, eine Fähigkeit, in der<br />
sich die leistungsstarken Kinder deutlich von den leistungsschwachen unterscheiden.<br />
• Handelnde Lösung von Rechengeschichten<br />
Auf den ersten Blick scheinen Materialien vor allem Lösungshilfen zu sein. Immer<br />
dann, wenn eine gegebene Rechenaufgabe von dem Kind noch nicht ohne<br />
Hilfsmittel bewältigt werden kann, greift es auf sein Arbeitsmittel zurück. Aus<br />
Sicht des Kindes ist diese Funktion als Lösungshilfe sehr wichtig, weil es das<br />
Kind in die Lage versetzt, vorgegebene rechnerische Anforderungen zu bewältigen.<br />
Aus didaktischer Sicht kann der Einsatz von Material nicht auf diese<br />
Funktion reduziert bleiben, denn dann unterschieden sich solche Materialien<br />
nicht vom Taschenrechner, der auch nur die Lösung liefert.<br />
Tatsächlich finden in solchen Handlungen zur Lösung von Aufgaben auch schon<br />
sehr viel mehr Lernprozesse statt. Die Übersetzung einer Rechengeschichte<br />
(„Vier Kinder spielen im Sandkasten, fünf Kinder kommen dazu.“) oder einer<br />
kontextfreien Aufgabe (4 + 5) in eine Handlung (Erst 4, dann 5 Plättchen legen,<br />
danach abzählen, wie viele es insgesamt sind.) fordert und fördert das<br />
Grundverständnis für Zahlen und Rechenoperationen. Die Fähigkeiten, Additionsaufgaben<br />
in Handlungen des Dazulegens, Subtraktionen in Handlungen des<br />
Wegnehmens übersetzen zu können, sind grundlegende Voraussetzungen für<br />
die erfolgreiche Teilnahme am arithmetischen Anfangsunterricht.<br />
Im ersten Halbjahr des ersten Schuljahres sollte daher ein unterrichtlicher<br />
Schwerpunkt bei der Übersetzung von Rechengeschichten in Handlungen an<br />
Material liegen. Ziel solcher Übungen zur Übersetzung von Rechengeschichten<br />
(und später auch von kontextfreien Rechenaufgaben wie 6 + 3 = bzw. 7 – 5<br />
= ) in Handlungen ist der Aufbau von mentalen Vorstellungen des Zusammenlegens<br />
als Grundvorstellung für die Addition bzw. des Wegnehmens oder<br />
Abtrennens als Grundvorstellung für die Subtraktion, so dass die Kinder letzt-
Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />
lich nur noch mit den Vorstellungen operieren, auf den konkreten Handlungsvollzug<br />
verzichten können. Vor allem eine Maßnahme ist geeignet, diesen Prozess<br />
des Aufbaus von Grundvorstellungen zu unterstützen, nämlich die<br />
Versprachlichung der Handlungen. Dadurch werden die Handlungen am Material<br />
den Kindern bewusster. Wichtig ist dabei, dass nicht nur die eigentliche<br />
Lösungshandlung beschrieben wird, sondern jeweils die Beziehungen zwischen<br />
Teilen der Rechengeschichte und den zugehörigen Handlungen herausgearbeitet<br />
werden, z. B.: „Ich lege zuerst 4 Plättchen für die 4 Puppen von Friederike,<br />
dann ...“<br />
• Links-/Rechts-Unterscheidung<br />
Die Fähigkeit, links und rechts unterscheiden zu können, ist für ein erfolgreiches<br />
Mathematiklernen unabdingbar, weil alle Arbeitsmittel und Veranschaulichungen<br />
mit Richtung operieren. Im Anfangsunterricht sollte daher einerseits<br />
überprüft werden, welche Kinder schon sicher sind in der Richtungsunterscheidung,<br />
welche nicht, andererseits sollte mit gezielten, auch spielerischen Maßnahmen<br />
(z. B. einschlägige Memory-Spiele) die Fähigkeit zur Links-/Rechts-<br />
Unterscheidung gefördert werden. Hierbei können auch die Eltern eingebunden<br />
werden.<br />
• Zehnerübergang<br />
Der Zehnerübergang ist die entscheidende Hürde im Mathematikunterricht des<br />
ersten Schuljahres. Seine Behandlung bietet erstmals die Chance, Kindern bei<br />
der Entwicklung operativer Strategien des Rechnens zu helfen, eine Chance,<br />
die wahrzunehmen dringend empfohlen wird, weil die Kinder so die Gelegenheit<br />
haben, an dieser Stelle Rechenstrategien zu lernen, mit denen sie dann<br />
auch in den Folgeschuljahren Rechenaufgaben in größeren Zahlenräumen lösen<br />
können. Wie Kindern beim Prozess der Verinnerlichung von Handlungen<br />
am Material geholfen werden kann, ist auf den Seiten 40ff. beschrieben worden.<br />
Guter Mathematikunterricht als bestes Mittel schulischer<br />
Prävention<br />
Das Feld der besonderen Schwierigkeiten einiger Kinder beim Erlernen des Rechnens<br />
wird in zunehmendem Maße – auch mit Unterstützung der Medien – von<br />
außerschulischen ‚Dyskalkulie-Instituten‘ besetzt. Die Zuschreibung von ‚Symptomen<br />
von Krankheitswert‘ (eine in zahlreichen Diagnosen kommerzieller Einrichtungen<br />
zu findende Formulierung) setzt einen Teufelskreis in Gang, der aus Kindern,<br />
die zunächst ‚bloß‘ im Mathematikunterricht auffallen, psychisch kranke<br />
Kinder macht (vgl. Schipper 2002a), die einer außerschulischen ‚Therapie‘ bedürfen.<br />
Diese ist – der attestierten ‚seelischen Behinderung‘ entsprechend – häufig<br />
nicht auf die Förderung der mathematischen Kompetenzen der Kinder ausgerichtet,<br />
sondern zielt ausschließlich auf die Stärkung des Selbstbewusstseins der<br />
Kinder oder auf deren Förderung basaler Fähigkeiten (z. B. Figur-Grund-<br />
Unterscheidung).<br />
Eine solche Verlagerung von schulischer Förderung hin zur außerschulischen<br />
‚Therapie‘ ist nur dann möglich, wenn auch Schule der Ansicht ist, bei Rechenstörungen<br />
handele es sich um eine Krankheit. Selbstverständlich besteht die Gefahr,<br />
dass Kinder, die dauerhaft schulische Misserfolge erleiden, Angst vor Schule und<br />
Zweifel an der eigenen Persönlichkeit entwickeln, letztlich „seelisch behindert<br />
oder von einer solchen Behinderung bedroht“ (KJHG § 35a; siehe Glossar) sind.<br />
Eine Rechenstörung ist aber zunächst einmal keine Krankheit, sondern der miss-<br />
45
46<br />
Wilhelm Schipper<br />
lungene Versuch, das Rechnen zu lernen. Und für dieses Rechnenlernen ist ohne<br />
jeden Zweifel die Schule zuständig und besser gerüstet als wohl jedes kommerzielle<br />
‚Dyskalkulie-Institut‘. Deshalb ist die Prävention von Rechenstörungen eine<br />
ureigene Aufgabe von Schule.<br />
Die beste Prävention besteht – so banal das klingt – in einem guten Mathematikunterricht.<br />
Zwei wesentliche, einander ergänzende Merkmale eines solchen guten<br />
Mathematikunterrichts sind Offenheit und Zielorientierung (vgl. Schipper 2001).<br />
Beide Begriffe beziehen sich auf die inhaltliche, die methodische und die kommunikativ-interaktive<br />
Ebene des Unterrichts. Ein inhaltlich offener Mathematikunterricht<br />
gibt Gelegenheit für ein „Mathematiklernen in Sinnzusammenhängen“<br />
(Schütte 1994) und stellt beziehungshaltige und fortsetzbare Probleme in den<br />
Mittelpunkt des Unterrichts. In einem methodisch offenen Unterricht gibt es keine<br />
Vorschriften über einheitliche Rechenverfahren für alle Kinder. Vielmehr werden<br />
Aufgaben bewusst so ausgewählt, dass sie unterschiedliche Zugänge und<br />
Lösungswege erlauben, so weit den Kindern dies möglich ist. Ein kommunikativinteraktiv<br />
offener Unterricht gibt den Kindern die Chance, eigene Ideen zu entwickeln<br />
und zu äußern, und betont insgesamt die Notwendigkeit sozialen Lernens<br />
sowie der Kommunikation und Interaktion der Kinder untereinander und mit ihrer<br />
Lehrerin. Diese Form der Offenheit im Mathematikunterricht muss einhergehen<br />
mit einer klaren Zielorientierung. Das bedeutet auch, dass der Offenheit durch<br />
die Zielorientierung Grenzen gesetzt werden müssen. So kann und muss z. B.<br />
der grundsätzlich begrüßenswerten Individualität der Lösungswege Grenzen gesetzt<br />
werden, wenn ein Kind in der Gefahr steht, für sich ein einziges Verfahren<br />
des Rechnens zu stabilisieren, das auf Dauer in eine Sackgasse führt, nämlich<br />
das Verfahren des zählenden Rechnens. Wir brauchen eine Offenheit ohne Beliebigkeit<br />
und zugleich eine Zielorientierung ohne Gängelung. Die folgenden Leitfragen<br />
sollen bei der Umsetzung dieses Konzepts helfen.
Prävention vom Rechenstörungen – eine schulische Herausforderung<br />
Leitfragen zur Offenheit und Zielorientierung 1<br />
1. Inhaltliche Öffnung<br />
• Sind die von Ihnen ausgewählten Aufgaben problem- und beziehungshaltig?<br />
Welche Mathematik steckt in ihnen? Welche Anwendungsbereiche helfen diese<br />
Aufgabe erschließen?<br />
• Welche für Ihre SchülerInnen möglichen Entdeckungen von Mathematik erlauben<br />
die Aufgaben? Wie werden Ihre SchülerInnen ihre Entdeckungen vermutlich<br />
präsentieren?<br />
• Welchen Beitrag zur Vertiefung bzw. Erweiterung des geometrischen, arithmetischen<br />
bzw. sachrechnerischen Verständnisses leisten Ihre Aufgaben?<br />
• An welche Vorkenntnisse knüpfen Ihre Aufgaben an? Wie reaktivieren Sie diese<br />
Vorkenntnisse?<br />
• Sind Ihre Aufgaben geeignet, bisher erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten zu<br />
strukturieren und mit anderen Wissens- und Fertigkeitselementen zu verzahnen?<br />
• Für welche Themen/Inhalte des weiterführenden Mathematikunterrichts sind<br />
die anhand Ihrer Aufgaben erworbenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten<br />
notwendige Voraussetzung?<br />
• Welche Aufgabenvariationen sind geeignet, die von den Kindern anhand Ihrer<br />
Aufgaben gewonnenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten zu stabilisieren<br />
und zu vertiefen?<br />
• Wie prüfen Sie, ob die mit der Behandlung der Aufgabe verbundenen Ziele erreicht<br />
wurden? Wie prüfen Sie insbesondere das Verständnis, nicht nur die<br />
Fertigkeit?<br />
• Wie sieht eine Fortsetzung Ihrer Aufgaben mit dem Ziel einer Erweiterung der<br />
bisher gewonnenen Erkenntnisse aus?<br />
2. Methodische Öffnung<br />
• Welche herausfordernde Aufgabe mit welchem konkreten inhaltlichen Kontext<br />
halten Sie für geeignet als Einstieg in den von Ihnen gewählten Themenbereich?<br />
• Welche individuell unterschiedlichen Herangehensweisen an die Aufgabe erwarten<br />
Sie von den Schülern? Welche Vorgehensweisen der Kinder sind fortsetzbar,<br />
welche führen in eine Sackgasse? Welche Alternativen können Sie<br />
aufzeigen?<br />
• Erlauben Ihre Aufgaben eine innere Differenzierung in dem Sinne, dass die<br />
gleichen Aufgaben von verschiedenen Schülern auf unterschiedlichem Niveau<br />
bearbeitet werden können?<br />
• Welche Fragen bzw. Anregungen sind geeignet, ein vertieftes Nachdenken der<br />
Kinder und ein Konzentrieren auf den mathematischen Kern der Aufgaben<br />
herauszufordern?<br />
• Welche Inhalte sollten Ihrer Ansicht nach Gegenstand der Rechen- bzw. Strategiekonferenz<br />
sein?<br />
• Welche Aspekte wollen Sie in der Zusammenfassung der wesentlichen Unterrichtsergebnisse<br />
besonders betonen?<br />
1 Aus: Schipper 2001<br />
47
48<br />
Wilhelm Schipper<br />
3. Interaktiv-kommunikative Öffnung<br />
• Sind Ihre Aufgaben in besonderer Weise geeignet, Interaktion und Kommunikation<br />
zwischen den Schülern zu fordern und zu fördern?<br />
• Welche Sozialformen sind für eine Bearbeitung der Aufgaben geeignet? Favorisieren<br />
Sie eine Form oder streben Sie bewusst Vielfalt der Sozialformen an?<br />
• Welche Schwierigkeiten bei der Interaktion und Kommunikation der Schüler<br />
untereinander erwarten Sie?<br />
• In welcher Form sollen die Ergebnisse der Strategiekonferenz zusammengefasst<br />
werden? Planen sie selbst eine zusammenfassende Darstellung? Sollen<br />
die Schüler ihre Ergebnisse dokumentieren? In welcher Form?<br />
Literatur<br />
Bauersfeld, H./O´Brien, T.: Mathe mit geschlossenen Augen. Mülheim: Verlag an der<br />
Ruhr 2002<br />
Capenter, T. P./Moser, J. M./Romberg, T. A. (Eds): Addition and Subtraction: A Cognitive<br />
Perspective. Hillsdale: Erlbaum 1982<br />
DIMDI – Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (Hrsg.):<br />
ICD-10, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter<br />
Gesundheitsprobleme. Bd. 1, Stand August 1994. Bern: Huber 1994<br />
Gray, E.M.: An Analysis of Diverging Approaches to Simple Arithmetic. In: Educational<br />
Studies in Mathematics. (22) 1991, p. 551–574<br />
Grissemann, H./Weber, A.: Spezielle Rechenstörungen. Bern: Huber 1982<br />
Kaufmann, S.: Früherkennung von Rechenstörungen in der Eingangsklasse der Grundschule<br />
und darauf abgestimmte remediale Maßnahmen. Pädagogische Hochschule<br />
Ludwigsburg: Dissertation 2002<br />
Lorenz, J.-H./Radatz, H.: Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht. Hannover:<br />
Schroedel 1993<br />
Mann, Ch./Oberländer, H. & C. Scheid: LRS, Legasthenie – Prävention und Therapie.<br />
Weinheim und Basel: Beltz 2001<br />
Nissen, G.: Medizinische Aspekte der Lernbehinderung. In: Handbuch der Sonderpädagogik,<br />
Bd. 4. Berlin: Marhold 1977, S. 615–663<br />
Radatz, H./Schipper, W./Dröge, R. & A. Ebeling: Handbuch für den Mathematikunterricht<br />
– 1. Schuljahr. Hannover: Schroedel 1996<br />
Radatz, H./Schipper, W./Dröge, R. & A. Ebeling: Handbuch für den Mathematikunterricht<br />
– 2. Schuljahr. Hannover: Schroedel 1998<br />
Radatz, H./Schipper, W./Dröge, R. & A. Ebeling: Handbuch für den Mathematikunterricht<br />
– 3. Schuljahr. Hannover: Schroedel 1999<br />
Rottmann, T./Schipper, W.: Das Hunderter-Feld – Hilfe oder Hindernis beim Rechnen im<br />
Zahlenraum bis 100? In: Journal für Mathematik-Didaktik, 23, Heft 1/2002, S. 51–<br />
74<br />
Schipper, W.: Offenheit und Zielorientierung. In: Grundschule 33, Heft 3/2001, S. 10–15<br />
Schipper, W.: Das Dyskalkulie-Syndrom. In: Die Grundschulzeitschrift, Heft 158/2002a,<br />
S. 48–51<br />
Schipper, W.: Thesen und Empfehlungen zum schulischen und außerschulischen Umgang<br />
mit Rechenstörungen. In: Journal für Mathematik-Didaktik, 23, Heft 3/4 (2002b),<br />
S. 243–261<br />
Schlee, J.: Legasthenieforschung am Ende? München: Urban & Schwarzenberg 1976<br />
Schütte, S.: Mathematiklernen in Sinnzusammenhängen. Stuttgart: Klett 1994<br />
Van Luit, J.E.H./Van de Rijt, B.A.M./Hasemann, K.: OTZ – Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung.<br />
Göttingen: Hogrefe 2001
Uta Görlich<br />
Kim – zwischen den Welten.<br />
Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />
auf dem Hintergrund sprachlich und kulturell bedingter<br />
Eingliederungsprobleme<br />
Familiärer Hintergrund<br />
Kim ist vier Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und dem einjährigen Bruder aus<br />
einem anderen Kontinent nach Deutschland migrierten. Der Vater hat in <strong>Bielefeld</strong><br />
ein Studium an der Universität abgeschlossen. Die Eltern gehören einer höheren<br />
Bildungsschicht an. Sie leben nach den Traditionen ihrer Landesreligion, sind dabei<br />
undogmatisch und weltoffen. Für die Kinder gibt es – außer einer leicht einzuhaltenden<br />
Essensregelung – keine religiös bedingten Einschränkungen bei<br />
schulischen oder im Kindergarten stattfindenden Aktivitäten. Die Eltern bemühen<br />
sich, sich in die schulischen Gepflogenheiten einzuordnen. Sie sind besorgt um<br />
Kims Sicherheit, Entwicklung und Fähigkeiten.<br />
In vielen und ausführlichen Gesprächen mit den Eltern bemühe ich mich, ihnen<br />
die fremde mitteleuropäische Lebensweise und Kindererziehung verständlich zu<br />
machen, auf deren Hintergrund Kim in der Schule angesprochen und gefördert<br />
wird. Gleichzeitig helfen mir die offenen Gespräche, den kulturellen Hintergrund<br />
und den Blick der Eltern auf ihre Kinder kennenzulernen. So kann ich Kim umfassender<br />
sehen, lerne ihre Stärken und Schwächen, in denen sie sich teilweise auffallend<br />
von den anderen Kindern unterscheidet, schätzen und einschätzen, um<br />
ihr entsprechend zu helfen, wo es nötig ist.<br />
Als Kim im Vorschulalter zu uns kommt, wohnt die Familie in Schulnähe. Die<br />
Mutter bringt sie täglich morgens und holt sie nach der Schule wieder ab. Den<br />
damals zweijährigen Bruder bringt sie stets mit. Sie liebt es, sich mit mir zu unterhalten<br />
und leitet ihre Gesprächsabsicht mit der höflichen Floskel: „Hallo, wie<br />
geht es?“ ein, um nach meiner Gegenfrage einen kleinen persönlichen Gedankenaustausch<br />
zu beginnen.<br />
Vor Kims Einschulung besuche ich sie in der kleinen Zweizimmerwohnung, in der<br />
zur damaligen Zeit die vierköpfige Familie und zwei männliche Verwandte wohnen.<br />
Die beiden Kinder schlafen bei den Eltern, haben keinen Ort zum Spielen –<br />
ich sehe kein Spielzeug. Kim verhält sich unter den Augen ihrer Eltern schüchtern.<br />
Mir, als ihrer künftigen Lehrerin, bringt sie sofort großes Vertrauen entgegen.<br />
Sie hat mir ein Geschenk vorbereitet: Ein Bild, auf das sie buntes Papier<br />
geklebt hat. Sie schenkt es mir stumm, verlegen, schnell, so als will sie mir sagen:<br />
Ich habe etwas für Dich gemacht, an Dich gedacht. Vielleicht gefällt es Dir,<br />
vielleicht auch nicht. Ich kann es selbst nicht einschätzen.<br />
Das Bild wirkt schnell hingemalt. Irgendwie ausgeschnittene Papierschnipsel sind<br />
irgendwo flüchtig aufgeklebt. Als ich sie bitte, mir noch ein Bild zu malen, finden<br />
sich im Haushalt so schnell weder Papier noch Buntstifte.<br />
49
50<br />
Uta Görlich<br />
Während ich in erster Linie mit dem Vater spreche, sitzt Kim teilweise neben mir<br />
oder auf meinem Schoß. Bei dem Gespräch geht es in erster Linie um die Beantwortung<br />
der Fragen des besorgten Vaters zur Art und Weise, wie Kim an der Laborschule<br />
lernen wird. Er weiß nichts über das Lernkonzept unserer Schule, europäischer<br />
Schule überhaupt. Der Grund, warum Kim bei uns angemeldet wurde,<br />
ist die Information, dass sich hier Migrantenkinder gut integrieren, weil sie sich<br />
nicht diskriminiert fühlen müssen. Es wird ein außergewöhnlich langer und anstrengender<br />
Hausbesuch, der mir das Gefühl vermittelt, zwar das Wohlwollen<br />
und Vertrauen der Familie gewonnen zu haben, dass meine bemühten und ausführlichen<br />
Beschreibungen von Unterricht und Erziehung vom Vater aber nicht<br />
nachvollzogen werden können. Ich bin wohl an kulturelle Grenzen gestoßen, die<br />
ich künftig mit bedenken muss, wenn ich Kims schulische Entwicklung aufmerksam<br />
fördernd begleiten werde.<br />
Sprachlicher Hintergrund<br />
Kims Vater spricht recht gut deutsch. Er hat in Deutschland sein Studium beendet<br />
und arbeitet in einem akademischen Beruf. Inwieweit er ein pädagogisch geführtes<br />
Gespräch inhaltlich nachvollziehen kann, weiß ich nicht. Darum wiederhole<br />
ich mich in der Regel, bis ich eine Reaktion bekomme, von der ich dann nicht<br />
sicher bin, ob sie nur höflich ist oder auf Verständnis basiert.<br />
Die Mutter macht damals einen Sprachkurs, was ihr mit inzwischen drei Kindern<br />
und der alleinigen Verantwortung für den Haushalt nicht mehr möglich ist. Von<br />
Hause aus ist sie es nicht gewöhnt alleine zu wirtschaften. In ihrer Heimat lebte<br />
sie in einer großen arbeitsteiligen Familiengemeinschaft. In ihrem jetzigen Leben<br />
fühlt sie sich allein und sehr gefordert. Sie möchte zurück zur Familie, findet sich<br />
aber damit ab, jetzt hier zu leben.<br />
Die Familie spricht untereinander in ihrer offiziellen Landessprache. Zwischendurch<br />
unterhalten die Eltern sich in ihrer eigentlichen regionalen, d. h. kulturellen<br />
Sprache. Beide Sprachen kann die damals fünfjährige Kim selbst nur unvollständig<br />
sprechen und verstehen. Kim hat deutsch im Kindergarten gelernt und<br />
spricht es nur außerhalb der Familie. Entsprechend versteht sie bei meinem<br />
Hausbesuch weniger als wenig, obwohl der Vater sie ständig ermuntert, mit mir<br />
zu sprechen, weil sie es ja können müsste.<br />
Bildungsanspruch und Erziehungsbegriff<br />
Der Vater stellt sich vor, dass Kim Abitur machen soll. Er ist sich damals aber<br />
nicht sicher, ob Kim intelligent genug ist. Er schildert sie als zu Hause nicht gehorsam,<br />
renitent – besonders dem drei Jahre jüngeren Bruder gegenüber und<br />
zweifelt an Kims Auffassungsmöglichkeiten. Als ich ihn darauf aufmerksam mache,<br />
dass Kim diese Zweifel spüre, er sie damit verunsichere und dadurch das,<br />
was er befürchtet, geradezu verstärkt, macht ihn dies nachdenklich. Ein Kind,<br />
das keine Sprache wirklich versteht und spricht, darf durchaus Probleme mit dem<br />
Auffassen haben.<br />
Mein damaliger und später, als wir uns besser kennen, vom Vater bestätigter<br />
Eindruck ist, dass die Familie sich bisher wenig Gedanken gemacht hat über die<br />
Aufgabe von Eltern bei der Erziehung von Kindern: dass Kinder ernst genommen,<br />
auch vom Vater in die Arme genommen und aktiv für die sie umgebende Welt<br />
vorbereitet werden müssen. Ich beobachte, dass der Vater Kim keine ihrer gestellten<br />
Fragen ernsthaft beantwortet. Er schiebt sie mit einer lustigen und
Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />
gleichzeitig abweisenden Antwort ab. Kim muss das Gefühl haben, unwichtig zu<br />
sein und nicht ernst genommen zu werden.<br />
Ich habe das in einem unserer – in immer größer werdender Vertrautheit stattfindenden<br />
– Gespräche zweieinhalb Jahre später mit den Eltern angesprochen<br />
und – wie vermutet – diese Haltung des Vaters auf dem kulturellen Hintergrund<br />
basierend verstehen können: Kinder in Kims Herkunftsland spielen gemeinsam<br />
draußen. Sie werden von älteren Kindern ihrer Umgebung und in der öffentlichen<br />
Schule erzogen. Sie lernen voneinander im Dabeisein und Miteinander alles sozial<br />
Erforderliche. ‚Höhere Bildung‘ vermittelt eine strenge, sehr geregelte Schule.<br />
Heute – das zweite Kind wird bald bei uns eingeschult – ist den Eltern ihr hier zu<br />
Lande notwendiger Beitrag zur Entwicklung ihrer Kinder bewusst. Er wird von<br />
ihnen als gesellschaftlich künstlich konstruiert empfunden, den sie aber aus Liebe<br />
und Fürsorge für die Kinder selbstverständlich erbringen wollen. Ausführlich habe<br />
ich über unsere, an der ‚Mittelschicht‘ orientierten kulturellen Gepflogenheiten,<br />
wie das Feiern von Kindergeburtstagen, das abendliche Vorlesen, Erzählen, Fragen<br />
ernst zu nehmen und zu beantworten gesprochen. Wir überlegen gemeinsam,<br />
für die Familie realisierbare, familiäre Freizeitmöglichkeiten, Gesellschaftsspiele<br />
und Ähnliches, in denen Kinder Anregungen finden und ihre Erfahrungs-<br />
und Erlebniswelt erweitern können.<br />
Kims Vorschuljahr – Erste Orientierung und sprachliche<br />
Verständnislosigkeit<br />
Soziale Kontakte und soziales Verhalten<br />
Mit großen offenen Augen, stets freundlich, höflich und bemüht, klammert sich<br />
Kim an mich, die große Vertraute, um den morgendlichen Schulalltag, in dem sie<br />
einfach alles überwältigt, zu überstehen. Sie versteht einzelne Worte, einem<br />
Kontext kann sie nicht folgen. Selbst nach einigen Wochen durchschaut sie Zeitabläufe<br />
und Strukturzusammenhänge noch nicht. Sie macht das nach, was andere<br />
tun. Sie ist so unsicher, dass sie nur zu ihrem zwei Jahre älteren Patenkind<br />
(siehe Glossar) Kontakt aufnimmt. Sie versucht mitzuhalten, in dem sie nachmacht<br />
ohne zu reflektieren, ob sie das überhaupt möchte. Der einzige Grund für<br />
dieses ‚Warum-mache-ich-das‘ ist, dabei zu sein.<br />
Spielen und Lernen, Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />
Kim ist hilflos, zaghaft, unsicher – und entsprechend gelingt ihr wenig: nicht das<br />
Kneten, das Malen, das Rollenspielen. Sie sieht sich sehr wohl im Vergleich mit<br />
den anderen selbstbewussten und gesprächigen Kindern. In unseren Erzählversammlungen<br />
kann sie nicht zuhören, auch nicht beim Vorlesen, denn sie hat es<br />
einerseits nicht gelernt, andererseits versteht sie nichts. Sie spielt oder lenkt<br />
Kinder ab. Sie weiß nicht, um was es geht und bemüht sich auch nicht, einen<br />
Zusammenhang für sich zu finden.<br />
Um sie mit uns vertraut zu machen und um ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen,<br />
lasse ich sie viel spielen, zuschauen, mit anderen Kindern Bücher ansehen. Wir<br />
gucken uns gemeinsam Bilder an und benennen die deutschen Wörter. Wenn ich<br />
sie nach der muttersprachlichen Übersetzung für das Wort frage, sagt sie verlegen:<br />
„Weiß ich nicht!“<br />
51
52<br />
Uta Görlich<br />
Kim schreibt ihren Namen. Aber sie kann keinen Buchstaben benennen, zeigt nur<br />
Interesse am L, denn so fängt Vaters Vorname an. Sie kann die Zahlwortreihe bis<br />
sieben aufsagen, die Zuordnung zu Gegenständen, also das Abzählen gelingt ihr<br />
nicht. Sie zählt, in dem sie auf eine Sache zeigt, gleich zwei – manchmal drei –<br />
Zahlen weiter und nennt somit beim 4. Gegenstand angelangt schon die Zahl 7.<br />
Die Finger kann sie zum Zählen gar nicht benutzen. Sie machen einfach nicht<br />
mit. Kim verdreht sie untereinander. Selbst wenn ich ihr eine Zahldarstellung mit<br />
den Fingern vormache, kann sie dies nicht bei sich nachvollziehen. Feinmotorisch<br />
ganz ungelenkig, malt sie mit Wachsstiften oder Wasserfarben großflächig zwar<br />
thematisch reduzierte, aber durch eine starke Farbgebung sehr eindrucksvolle<br />
Bilder. Endlich wird sie dafür von den anderen Kindern gelobt. Der Umgang mit<br />
der Schere ist ihr fremd. Später erfahre ich, dass die Mutter ihr die ersehnte<br />
Schere nie überlassen hat, weil sie fürchtet, dass die jüngeren Geschwister sich<br />
verletzen, wenn sie Kim ungestüm beim Ausschneiden bedrängen.<br />
Im Turnunterricht dagegen ist sie selbstbewusst, mutig und gelenkig.<br />
Ich habe mir in manchen Situationen, in denen mich Kims Aufgeben aus Unsicherheit,<br />
ihr Fehlen jeglicher Strategien beim Lösen von mir einsichtig erscheinenden<br />
Aufgaben unterschiedlicher Art schier verzweifeln ließen, überlegt, ob ich<br />
mit Kim einen Intelligenztest machen soll. Ich habe dies aber stets verworfen,<br />
weil die Tests zum einen alle sprachlich orientiert sind und ich als Ursache für<br />
Kims ängstliches und wie zurückgeblieben anmutendes Verhalten den Kulturschock<br />
verantwortlich mache in Verbindung mit der völligen Unkenntnis der Eltern<br />
in Erziehungs- und Schulangelegenheiten einerseits und deren hohem Bildungsanspruch<br />
an das Kind andererseits.
Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />
Kims erstes Schuljahr – Sprach- und Verständnisprobleme<br />
Im Sommer 2001 zieht die Familie in eine große Wohnung. Ein drittes Kind ist<br />
geboren worden. Kim hat nun ein eigenes Zimmer und einen langen Weg mit<br />
dem Schulbus zu fahren. Sie bekommt ein Hochbett und einen eigenen Schreibtisch.<br />
Als ich sie im Januar 2003 besuche, sind alle Spielsachen ‚aufgeräumt‘ im<br />
Schrank, im Keller. Nur ein PC steht auf dem Schreibtisch, dessen Benutzung sie<br />
geschickt ‚handled‘. Nichts wirklich Persönliches finde ich. Kein Bild an der Wand.<br />
Das Bett ist ohne Bettzeug. Sie schläft doch lieber mit Mutter und den Brüdern<br />
im Elternschlafzimmer.<br />
Soziale Kontakte, soziales Verhalten<br />
Mit zwei Mädchen aus der Gruppe spielt sie im Laufe des ersten Schuljahres häufig,<br />
hat einen Platz in der Nachmittagsbetreuung der Schule bekommen und nabelt<br />
sich ein bisschen von mir ab. Sie meldet sich nun in unserer Versammlung,<br />
um etwas von sich zu erzählen. Ihr Selbstbewusstsein wächst langsam. Sie übernimmt<br />
freiwillig und gerne Gruppenaufgaben wie Fische füttern, Spülen und<br />
Milch holen, Stifte anspitzen und bemüht sich mir zu zeigen, wie ordentlich sie<br />
das alles kann. Inzwischen hat sie die Tagesstruktur und unsere Rituale so internalisiert,<br />
dass sie mich erinnert, sie einfordert und andere Kinder darauf aufmerksam<br />
macht. Sie fängt an sich zu kümmern.<br />
Aber immer noch kennt Kim nur ihre Familien- und Schulbezüge. Die Welt darüber<br />
hinaus ist ihr nahezu unbekannt.<br />
Kim bringt zum Frühstück oft einheimische Köstlichkeiten mit, die die Mutter gebacken<br />
hat. Sie verschenkt sie so freigebig, dass ich aufpassen muss, damit ihr<br />
selbst noch etwas bleibt oder dass sie ‚tauscht‘. Kim verschenkt, was andere haben<br />
möchten, und wirkt dabei völlig selbstlos. Es macht ihr nichts aus, etwas zu<br />
besitzen oder nicht. Ich habe nicht den Eindruck, dass sie schenkt, um Freunde<br />
zu bekommen. Es macht ihr Freude, anderen eine Freude zu bereiten.<br />
Schulisches Lernen<br />
Kim möchte wohl ein eifriges Schulkind sein, aber sie weiß noch nicht, wo sie<br />
ansetzen kann. Noch immer hat sie große Sprach- und Verständnisprobleme. Oft<br />
bringt sie mir ein Buch mit von zu Hause, das die Mutter ihr im Kaufhaus kaufen<br />
musste, ein Heft, von dem Kim annimmt, dass sie damit in der Schule gut lernen<br />
kann. Schnell merkt sie, dass die Arbeitsweise, die in dem Heft von ihr verlangt<br />
wird, sie überfordert. Das Heft, mit dem sie große Hoffnungen verband und in<br />
dem sie schon angefangen hat ‚zu arbeiten‘, bleibt also zunächst unvollkommen.<br />
„Es wartet auf dich“, tröste ich sie, selbst hilflos. Ebenso überfordern sie bis Mitte<br />
des ersten Schuljahres alle altersgemäßen Schulbücher und Arbeitshefte, da sie<br />
noch auf ständige Einzelhilfe angewiesen ist.<br />
Buchstaben kann sie sich kaum merken. Sie schweift schnell mit dem Blick in der<br />
Gegend herum, wenn sie merkt, „diese Arbeit schaffe ich wieder nicht“. Kim versteht<br />
keine Aufgabenstellungen. Höflich bestätigt sie mir zwar, dass sie zugehört<br />
und ‚verstanden’ hat. In dem Moment, wo ich mich anderen Kindern zuwende,<br />
stoppt Kim alle Aktivitäten und wartet, bis ich wieder Zeit habe, um mir zu sagen:<br />
„Ich weiß nicht, was ich machen soll“. Kim holt sich Anerkennung durch Kuscheln,<br />
Schmusen, an der Hand gehen, durch aufgeregtes und freudiges Erzählen.<br />
Noch immer kann sie sich nur außerordentlich reduziert ausdrücken, so dass<br />
wir oft nur ahnen können, was sie uns mitteilen möchte.<br />
53
54<br />
Uta Görlich<br />
Ich gebe ihr Arbeitsmaterialien für solche Vorschulkinder, die bereits Lesen und<br />
Rechnen erlernen können, mit einfacher Struktur und geringem Anspruch. Sie<br />
traut sich nichts zu, geht unreflektiert vor, ohne Strukturen oder Analogien zu<br />
erkennen oder zu suchen. Ihre Arbeitshaltung ist: Entweder es geht oder es geht<br />
nicht. Ich brauche keinen Sinn zu suchen. Aber alle sehen, dass ich etwas mache.<br />
Sie nimmt freiwillig Hausarbeiten mit und erlebt, dass die Eltern die Aufgabenformate<br />
nicht verstehen. Die Mutter versucht, sie für Kim zu lösen. Als Kim berichtet,<br />
dass ich es bemerkt habe (und leider hat die Mutter auch nicht verstanden,<br />
worum es geht), sprechen die Eltern eine Nachbarin an, die ebenfalls ein<br />
Kind an unserer Schule im zweiten Schuljahr hat, und bitten sie, Kim bei den<br />
Hausarbeiten zu helfen. Das Ergebnis ist, dass das andere Mädchen in Kims Heft<br />
die Aufgaben löst und Kim überhaupt nicht weiß, was da gearbeitet wurde. Wie<br />
groß ist die Hilflosigkeit und der Wunsch Kims und der Eltern mit den anderen<br />
Kindern gleich zu ziehen!<br />
In meinen Gesprächen mit dem Vater versuche ich, Kims schulische Probleme zu<br />
schildern und die Ursachen dafür in den so verschiedenen Welten zu erklären, in<br />
denen sie lebt. Ich bitte ihn eindringlich, Kims Fragen ernst zu nehmen, sie zu<br />
beantworten und endlich damit anzufangen, ihr über ihre Herkunft, ihre Familie<br />
im Heimatland, ihre religiöse Tradition und die heimatliche Kultur, ihr entsprechenden<br />
Märchen, Mythen oder Kindergeschichten zu erzählen, ihr ihre Wurzeln<br />
zu zeigen, auf die sie stolz sein kann, und ihr damit eine Identität zu ermöglichen,<br />
die sie selbstsicher macht. Ich erzähle, wie andere Eltern in unserem Kulturkreis<br />
mit einem ähnlichen Bildungsanspruch wie dem seinen ihren Kindern<br />
helfen, ihre Umwelt zu verstehen, wie sie auf deren Wissensdurst eingehen und<br />
ihnen ständig Gelegenheiten geben, ihren Erfahrungshorizont zu erweitern. Und<br />
ich bitte ihn, Geduld mit Kim zu haben und das schulische Lernen vorerst noch<br />
uns in der Schule zu überlassen.<br />
Einzelförderung in Mathematik<br />
In dieser Zeit – es ist Dezember – hat Kim das Glück, im Rahmen unseres Projektes<br />
„‚Ich erklär‘ dir, wie ich rechne‘ – Prävention von Rechenstörungen“ einmal<br />
wöchentlich eine Einzelförderung zu bekommen. Sie wird von <strong>Christine</strong> Huth,<br />
einer Studentin für das Lehramt in der Primarstufe an der Universität <strong>Bielefeld</strong><br />
mit dem Schwerpunktfach Mathematik, die gleichzeitig Mitarbeiterin in unserem<br />
Projekt ist, übernommen. Um jeglichem Makel einer Extraförderung in der Kindergruppe<br />
vorzubeugen, führe ich <strong>Christine</strong> als ‚Rechenfee‘ und die Arbeit mit ihr<br />
als ein Privileg ein. Alle Kinder bringen ihr große Achtung entgegen und bitten<br />
sie, mit ihnen doch auch einmal zu rechnen. Mit Kim betreut <strong>Christine</strong> noch Lisa,<br />
die im zweiten Schuljahr ist. Während <strong>Christine</strong> mit Lisa arbeitet, gibt sie Kim<br />
eine Aufgabe, die sie alleine lösen soll. Da Kim sich anfangs nur knapp 15 Minuten<br />
lang hintereinander konzentrieren kann, darf sie auch Pausen (Malen, Lesen)<br />
machen, bis sie wieder Kraft zum Aufmerksamsein gesammelt hat.<br />
Ergebnisse der Ersterhebung im Oktober<br />
Kim ist damals 6 Jahre und 9 Monate und erreicht im OTZ (siehe Glossar) in der<br />
Skala der Zahlbegriffsentwicklung das Niveau C. 23 der 40 Aufgaben erkennt und<br />
löst sie richtig. Da, wo der Test mathematische Sprachkompetenzen erfordert,<br />
versteht sie die Aufgabenstellung nicht. Begriffe wie Ordnen, Vorgänger und
Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />
Nachfolger kennt sie nicht. Sie verbalisiert eine Antwort falsch, obwohl sie bei<br />
ihrer zeichnerischen Bearbeitung die Aufgabe richtig löst. Ihr Zahlbegriff ist entwickelt,<br />
auch wenn sie mit den Zahlen noch nicht sicher umgehen kann, z.B. bei<br />
der Addition. Sie sagt oft: „Kenne ich nicht, weiß ich nicht!“<br />
Auch bei der anschließenden Förderung durch <strong>Christine</strong> zeigt sich das geringe<br />
Sprachverständnis als Hauptschwierigkeit, verbale Aufgabenstellungen überhaupt<br />
zu verstehen. Dazu kommt eine völlige Unkenntnis über die Möglichkeiten der<br />
praktischen Anwendung von Zahlen im Alltagsleben.<br />
Sie kann nur wenige Aufgaben des kleinen 1 + 1 auswendig lösen. Sie addiert,<br />
indem sie zählt. Mehr noch, zu Anfang der Förderung benutzt sie sogar noch die<br />
Strategie des ‚Alles Zählens’. Sie zählt den 1. Summanden und den 2. Summanden<br />
aus und beginnt dann von vorne, die gesamte Summe zählend zu erfassen.<br />
Sie zählt immer nur an einer Hand und kann die zweite Hand nicht mit in den<br />
Rechenvorgang einbeziehen, weil sie diese zum Antippen der Finger benötigt.<br />
Das ist ungewöhnlich für ihr Alter und ist zu diesem Zeitpunkt sicher ein Hauptsymptom<br />
für ihre Rechenschwäche überhaupt. Sie hat keine Vorstellung von den<br />
Rechenoperationen. Verdoppelungsaufgaben im Zahlenraum bis 20 hat sie ohne<br />
Verständnis auswendig gelernt. Sie kann sie somit auch nicht auf das Halbieren<br />
übertragen.<br />
Kim hat zudem feinmotorische Schwierigkeiten. Sie hält keine Linienführung<br />
beim Schreiben der Ziffern ein. Bei der Präsentation der Zahl mit den Fingern,<br />
d.h. einzelne Zahlen mit den Fingern darzustellen, spielen ihre Finger nicht mit,<br />
wenn sie sie aus- und einklappen will. Damit fehlt ihr auf dieser Stufe des Rechnens<br />
ein wichtiges Hilfsmittel zum Addieren und Subtrahieren. Selbst das Nachmachen<br />
einer Darstellung fällt ihr schwer. Das Antippen der Finger beim Zählen<br />
ist noch unersetzlich für sie, motorisch aber enorm schwierig zu bewältigen. Das<br />
Abzählen von Plättchen fällt ihr dagegen leicht.<br />
Sie kann sich nicht lange konzentrieren. Nach zehn bis fünfzehn Minuten wird sie<br />
unaufmerksam, schaut hierhin und dorthin. Wenn wir ihre ‚Müdigkeitserscheinungen‘<br />
durch eine motivierende Aufgabe überspielen, kann sie sich wieder konzentrieren,<br />
bis sie energisch sagt, sie könne nun nicht mehr.<br />
Ziele und Inhalte der Förderung ab Dezember<br />
Auf der Grundlage der Ergebnisse des OTZ und der oben beschriebenen Schwierigkeiten<br />
erarbeiten wir einen flexiblen Förderplan für Kim. Vorrangige Ziele sind<br />
die Entwicklung eines Grundverständnisses für Addition und Subtraktion sowie<br />
die Ablösung vom zählenden Rechnen. Als Voraussetzung dafür werden zunächst<br />
die Additionsaufgaben des kleinen 1 + 1 und die Zahlzerlegungen bis 10 geübt<br />
sowie weiterführende Strategien erarbeitet, wie Verdoppelung und Analogiebildung.<br />
Als geeignetes Hilfsmittel wird der Rechenrahmen eingeführt (vgl. Beitrag<br />
von Schipper in diesem Heft, S. 25ff.). Kim soll durch Erzählen von Rechengeschichten<br />
und Handlungen am Material ein Operationsverständnis entwickeln, das<br />
bedeutet, dass Kim selbst Geschichten und Handlungen zu gegebenen symbolischen<br />
Aufgaben erfinden und spielen soll. Umgekehrt soll sie die ihr erzählten<br />
Rechengeschichten als symbolische Aufgaben notieren lernen.<br />
Kim übt die Präsentation der Zahl mit Hilfe der Finger. Analog dazu wird anfangs<br />
noch die darzustellende Zahl vom Erwachsenen auf dem Rechenrahmen eingestellt.<br />
Sie wird damit auch mit der quasi-simultanen Zahlauffassung an diesem<br />
Hilfsmittel vertraut gemacht.<br />
55
56<br />
Uta Görlich<br />
Die Zahlerzerlegungen werden ihr anhand der vor ihr liegenden Finger dargestellt:<br />
zunächst mit dem Stift, später ohne Stift (vgl. Beitrag von Schipper in diesem<br />
Heft, S. 37).<br />
Immer wieder übt <strong>Christine</strong> am Rechenrahmen das Darstellen der Zahl mit einem<br />
‚Fingerstreich‘, thematisiert die Fünferstruktur als Hilfe, fragt das Rückwärtszählen,<br />
die Vorgänger und Nachfolger von Zahlen ab und achtet auf Zahlendreher.<br />
Erste Additionen werden für Kim enaktiv (handelnd) erfahrbar und mit Hilfe von<br />
Plättchen, Fingern und Würfeln aufgezeigt.<br />
Kleine Rechengeschichten, die <strong>Christine</strong> erzählt, werden durch Plättchen visualisiert,<br />
damit Kim die Aufgabenstellung versteht und generalisiert. Sie verwendet<br />
meist ähnliche Fragestellungen, damit Kim die Formulierung vertraut wird.<br />
Zwischenergebnis Ende März<br />
Bekannte oder visualisierte Aufgabenformate kann Kim nun lösen. Das sprachliche<br />
Verständnis ist immer noch Kims Hauptproblem, zumal die mathematischen<br />
Begriffe und Fragestellungen nicht zu ihrer Alltagssprache gehören (Rückwärtszählen,<br />
Vorgänger ...).<br />
Kim kann in Zehnerschritten bis 100 zählen. Von der 20 an zählt sie rückwärts,<br />
versteht aber die Aufforderung: „Zähle von 20 rückwärts!“ nicht. Erst als ihr der<br />
Anfang vorgezählt wird, weiß sie, was von ihr erwartet wird. In der Präsentation<br />
der Zahl mit den Fingern ist sie geschickter geworden. Bei der quasi-simultanen<br />
Zahlauffassung am Rechenrahmen bis 20 ist sie recht sicher. Zahlzerlegungen<br />
müssen mit ihr immer noch erst durchgesprochen werden, bevor sie wieder weiß,<br />
worum es geht. Danach kann sie die Zahlzerlegungen recht schnell ergänzen.<br />
Vorgänger und Nachfolger im Zahlenraum kann sie bis 50 nennen, scheint aber<br />
noch keine Größenvorstellung von dem ihr bekannten Zahlenraum zu haben. Sie<br />
verwendet noch immer keine Analogien und Strategien in den Aufgabenformaten<br />
und benutzt weiter das aufwändige zählende Rechnen. Den Rechenrahmen beginnt<br />
sie endlich als Hilfsmittel zu akzeptieren und nimmt ihn teilweise selbstständig<br />
als Lösungshilfe und alternatives Arbeitsmittel zu ihren Fingern und versteht<br />
den Rechenvorgang vorerst nur am Arbeitsmittel. Sie kann ihn auf eine andere<br />
Ebene nicht übertragen. Auch mit der Unterscheidung der beiden Rechenzeichen<br />
hat sie Schwierigkeiten. Aber bisher haben wir vorwiegend die Addition<br />
geübt.<br />
Von Anfang an ist ihre Raumvorstellung bemerkenswert gut. Würfelbauten kann<br />
sie geschickt nachstellen. Jedoch ist sie noch etwas unsicher in der Rechts-Links-<br />
Unterscheidung, was künftig in die Förderung integriert wird.<br />
Insgesamt hat Kim sich im bis dahin geförderten Zeitraum verbessert, wenn<br />
auch sehr langsam.<br />
Auf dem Weg der Ablösung vom zählenden Rechnen arbeiten wir weiter an den<br />
Zahlzerlegungen, der quasi-simultanen Zahlauffassung, dem Auswendigkönnen<br />
des kleinen 1 + 1 und an der Rechts-Links-Unterscheidung. Um ihr Operationsverständnis<br />
weiter zu entwickeln, verknüpfen wir Handlungen am Rechenrahmen<br />
mit Rechengeschichten. Gegen Ende des Schuljahres testen wir an, wie weit sie<br />
den Zahlenraum bis Hundert kennt.
Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />
Ergebnisse einer Überprüfung im Juni<br />
Kims Fortschritte sind wiederum in kleinen Schritten zu messen, da ihre Unsicherheit<br />
aufgrund der Sprachprobleme sie immer noch zu sehr hemmt, selbstständig<br />
und flexibel zu denken, locker zu handeln.<br />
Im Juni wird Kim im IDM (siehe Glossar) auf ihre bisherigen Rechenkenntnisse<br />
überprüft. Die Ergebnisse ergänzen unsere Beobachtungen:<br />
Bei den Zerlegungen der Zahlen bis 10 benutzt sie immer noch ihre Finger als<br />
Hilfsmittel, in dem sie sie einknickt. Sie braucht Visualisierungen bei allen Aufgabenstellungen.<br />
Zur Überprüfung einer gefundenen Lösung wendet sie immer<br />
noch die Strategie des ‚Alles-Zählens‘ an. Bei der Zahldarstellung zählt sie zur<br />
Sicherheit immer noch jede einzelne Perle ab, obwohl sie bereits Einsichten in die<br />
Struktur des Rechenrahmens hat.<br />
Das kleine 1 + 1 bis zehn kann sie gut, über zehn macht sie Fehler. Sie erkennt<br />
zwar Analogien, überträgt diese Strategie aber nicht auf andere Zusammenhänge.<br />
Mit Minusaufgaben hat sie Probleme und findet keine Möglichkeit, sie zu lösen.<br />
Sie kann nun von 30 an rückwärts zählen.<br />
Der intermodale Transfer, d. h. eine beschriebene Begebenheit auf die Symbolebene<br />
zu übertragen, fällt ihr schwer. In der räumlichen Orientierung ist die<br />
Rechts-Links-Unterscheidung nun relativ gesichert. Ihre Stärke ist weiterhin das<br />
Nachbauen von Würfelbauwerken.<br />
Obwohl sie während der Überprüfung immer wieder: „Kann ich nicht.“ – „Weiß<br />
ich nicht.“ – „Ich kann nicht mehr.“ – „Will ich aber nicht.“ sagt, hält Kim die<br />
ganzen sechzig Minuten durch.<br />
Lernsituation am Ende des ersten Schuljahres<br />
Als wir im Juli ihre Orientierung im Hunderterraum nachfragen, kann sie bis 107<br />
zählen, lässt jedoch alle ‚doppelziffrigen‘ Zahlen aus (11, 22, 33 ...). Im Zahlendiktat<br />
ist sie noch nicht sicher. Ebenso fällt ihr die Zahlauffassung am Hunderter-<br />
Rechenrahmen schwer. Bei der Nennung von Vorgängern und Nachfolgern im<br />
Zahlenraum bis 100 macht sie einige Fehler. Innerhalb einer halben Stunde legt<br />
sie die Hundertertafel mit Zahlenplättchen aus, in dem sie sich hilft: Zuerst ordnet<br />
sie die obere und die untere Reihe, danach die linke und die rechte Seite, um<br />
sich daran zu orientieren, als sie die übrigen Ziffern auslegt. Zwischendurch<br />
möchte sie gerne aufgeben, aber <strong>Christine</strong> ermuntert sie weiter zu machen.<br />
Kims Beurteilung (Auszug) am Ende des 1. Schuljahres sollte vor allem ihr<br />
Selbstbewusstsein ansprechen, in dem die Bereiche herausgestellt werden, in<br />
denen Kim Fortschritte und Stärken gezeigt hat.<br />
57
58<br />
Liebe Kim,<br />
Uta Görlich<br />
nun bist du schon zwei Jahre in unserer Gruppe und ein großes Mädchen geworden.<br />
Du bist ein liebes, sanftes und zurückhaltendes, fröhliches, freundliches<br />
und höfliches Mädchen ... Gerne hilfst du anderen Kindern und teilst mit<br />
ihnen dein Frühstück. Für den Obstteller hast du immer etwas mitgebracht.<br />
Du bist zielstrebig, wenn du etwas möchtest, zuverlässig, wenn du an etwas<br />
denken sollst. Und du kannst jetzt gut auf deine Sachen aufpassen.<br />
In der Morgenversammlung meldest du dich, um uns zu erzählen, was du erlebt<br />
hast oder was deine Familie machen wird. Mir erzählst du auch gerne von<br />
dir.<br />
... Du willst alles gut und richtig machen. Oft bist du vorsichtig und ängstlich,<br />
damit du nichts falsch machst. Du brauchst aber keine Angst zu haben. In die<br />
Schule kommt man um zu lernen, nicht weil man schon alles können muss.<br />
Es ist schwer für alle Menschen in einer Sprache Schularbeiten zu machen,<br />
die sie zu Hause nicht sprechen. Ich bewundere deine Geduld, denn es ist oft<br />
schwer für dich, die Aufgaben zu verstehen, und ich versuche die Worte zu<br />
finden, die du gut verstehen kannst. Die deutsche Sprache verstehst du inzwischen<br />
schon viel besser. ... Du hast gelernt zu fragen, wenn du etwas<br />
nicht verstanden hast. Das musst du auch weiter so machen. Für alles, was<br />
du nicht gleich verstehst, gibt es andere deutsche Worte, die du besser<br />
verstehen kannst. Und es ist meine Aufgabe, diese Worte zu finden!<br />
Deine Schularbeiten machst du gerne. Du wirst immer selbstständiger. Du arbeitest<br />
nach dem Wochenplan, den ich dir gebe.<br />
Lesen und Schreiben lernst du gleichzeitig. In Arbeitsheften hast du gelernt<br />
Wörter auf – und abzubauen. Das hast Du sehr gut gemacht. ... Ich staune<br />
oft, wie gut du schon in der Fibel kleine Sätze liest und verstehst. Der Anfang<br />
ist jetzt gemacht und im nächsten Schuljahr wird dir alles leichter werden.<br />
In Mathematik kam einmal in der Woche <strong>Christine</strong> zu dir. Bei ihr hast du viel<br />
gelernt. An den Tagen, an denen sie nicht da ist, arbeitest du gut, wenn du<br />
verstanden hast, wie die Aufgabe geht. Du kannst mit Hilfe des Rechenrahmens<br />
im Zahlenraum bis 20 Plusaufgaben rechnen, kannst die Zahlen bis 20<br />
mit Plättchen zerlegen und die Rechenaufgabe dazu aufschreiben. Plusaufgaben<br />
bis 20 kannst du auch gut im Kopf ausrechnen, wenn du Dir Zeit lässt.<br />
Du kannst von 30 an auch rückwärts zählen. Am Rechenrahmen und an den<br />
Fingern kannst du die Zahlzerlegungen zeigen ... Am Computer hast du Rechenaufgaben<br />
bis 20 gelöst. Du zählst bis 107. Würfelhäuser baust du sehr<br />
gut nach der Vorlage auf.<br />
Wenn wir über Sachthemen sprechen, hörst du inzwischen gut zu. Du bringst<br />
auch von zu Hause ein Buch mit, das du von der Nachbarin bekommen hast<br />
und das zu unserem Thema passt.<br />
... Oft hast du mir eine Blume gepflückt. Nach der Schule bist du zu mir gekommen,<br />
um mir „tschüss“ zu sagen. ...<br />
Ich freue mich, dass wir noch ein Jahr zusammen sein werden und wünsche<br />
Dir schöne Ferien. Ich umarme Dich,<br />
Deine Uta
Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />
Kims Entwicklung im ersten Halbjahr ihres 2. Schuljahres<br />
Soziale Entwicklung<br />
In den Sommerferien macht Kim einen deutlichen Entwicklungsschub. Sie ist gewachsen<br />
und tritt sicherer auf. Ihr sprachlicher Ausdruck ist klarer und differenzierter<br />
geworden. Sie hat mehr allgemeine Kenntnisse und ich habe den Eindruck,<br />
meine Gespräche mit dem Vater fangen an, Früchte zu tragen. Sie beginnt,<br />
ihre sozialen Kontakte selbst zu regeln, verabredet sich für die Schulpause,<br />
schlägt Spiele vor und wird von anderen Kindern eingeladen. Als sie merkt,<br />
dass Benjamin, unser körperlich und sozial Kleinster unter den neuen Vorschulkindern,<br />
von seinen Paten Max und Leon nicht betreut wird, übernimmt sie diese<br />
Patenschaft selbstständig, indem sie einfach handelt. Sie meldet sich häufig in<br />
der Morgenversammlung, weil sie etwas erzählen möchte. Sie spricht leise in<br />
kurzen, abgehackten Sätzen ohne den Artikel vor die Substantive zu setzen, aber<br />
wir verstehen, was sie meint.<br />
Nach den Herbstferien fällt mir auf, dass sie wieder häufig die Pausen alleine<br />
verbringt. Sie wird wohl nicht so angenommen von den Kindern, mit denen sie<br />
spielen möchte, und hat sich zurückgezogen. Sie kommt oft und beschwert sich,<br />
dass irgendwer sie ‚geärgert‘ hat. Ich helfe ihr wieder beim ‚Organisieren‘ der<br />
Pause, versuche zwischen ihr und einem ebenfalls zurückhaltenden Mädchen zu<br />
vermitteln. Wenn ich sie ‚verkuppelt‘ habe, sind beide zufrieden. Von sich aus<br />
verabreden sie sich nicht. Die fast achtjährige Kim spielt mehr mit den beiden<br />
Vorschuljungen, zwei unkomplizierten netten Fünf- und Sechsjährigen.<br />
BesucherInnen und PraktikantInnen ‚angelt‘ sie sich nach wie vor, um sich an sie<br />
zu schmiegen, sie zu binden und als HelferIn bei den Schularbeiten zu gewinnen.<br />
Da sie anmutig, sanft und gleichzeitig hartnäckig ist, hat sie immer Erfolg.<br />
Zu ihrem 8. Geburtstag im Januar, dem Zeitpunkt an dem dieser Bericht in die<br />
Endfassung gebracht wird, lädt sie 9 Kinder aus der Gruppe ein. Es ist der erste<br />
Geburtstag, den sie feiern will, und sie hat sich bei den Eltern durchgesetzt. Mit<br />
den Eltern spreche ich darüber, wie Geburtstage ablaufen. Die großen eingeladenen<br />
Mädchen der Gruppe werden den Nachmittag mit organisieren. Ich schreibe<br />
Kim den Einladungstext vor. Sie malt auf jede Karte ein Bild und die Mutter<br />
schreibt den Text jeweils ab. Alle Kinder kommen und Kim ist zufrieden. Inwieweit<br />
diese Einladung Kims Stellung in der Gruppe positiv beeinflusst, wird sich<br />
herausstellen.<br />
Lernverhalten und schulische Leistungen<br />
Ihre Arbeitshaltung wird selbstständiger. Nun wartet sie nicht mehr, bis ich ihr<br />
eine Aufgabe zuweise, sondern holt sich Arbeitsmaterial und Hilfsmittel und bemüht<br />
sich, alleine mit den Schularbeiten anzufangen. Im Lesen hat sie Fortschritte<br />
gemacht. Sie liest inzwischen kleine Texte, die sie inhaltlich versteht, wenn sie<br />
ihrem Wortschatz entsprechen. Es wird leichter für mich, sprachlich geeignete<br />
Texte für sie zu finden. Teilweise schreibe ich ihr kleine Geschichten, von denen<br />
ich weiß, dass sie sie verstehen kann. Im Schreiben beginnt sie, die Schreibschrift<br />
zu lernen. Da ihre Feinmotorik immer noch nicht altersgemäß entwickelt<br />
ist, übt sie täglich Schreibschwünge in der Schule und zu Hause, die ich ihr groß-<br />
und kleinspurig in einem Übungsheft für Schreibanfänger vorschreibe. Sie erkennt<br />
schon die Schwünge, die einen bestimmten Schreibschriftbuchstaben vorbereiten.<br />
In Mathematik stößt Kim nach den Sommerferien zunächst wieder an<br />
59
60<br />
Uta Görlich<br />
enge Grenzen, sobald es um das Verständnis eines Aufgabenformats geht. Beim<br />
Kopfrechnen im kleinen 1 + 1 unterlaufen ihr anfangs immer wieder Fehler, die<br />
sich verlieren, wenn ich sie immer wieder die selben Aufgaben rechnen lasse.<br />
Ähnlich ist es beim Zerlegen im Zahlenraum bis 10. Ich habe den Eindruck, dass<br />
Kim Zahlen nur aus dem unmittelbaren Mathematikunterricht kennt und sie nicht<br />
mit ihrem Alltag in Verbindung bringen kann. Auf diesem Niveau beginnt im neuen<br />
Schuljahr die Einzelförderung in Mathematik, die wieder von <strong>Christine</strong> Huth<br />
durchgeführt wird und deren sichtbare Ergebnisse auf den nächsten Seiten ausführlich<br />
beschrieben werden.<br />
Kim malt inzwischen nicht mehr so großflächig und etwas gründlicher. Mit der<br />
Schere sauber auszuschneiden, fällt ihr immer noch schwer. Deutlich ist ihre<br />
Entwicklung beim Töpfern: Hat sie noch im 1. Schuljahr unklare Teile von unbestimmter<br />
Bedeutung zusammengeklebt, die sie auch selbst nicht beschreiben<br />
mag, sind ihre Formen und Gefäße jetzt deutlich erkennbar, sorgfältig gearbeitet<br />
und bereits kunsthandwerklich schön. Auch am Schulwebrahmen arbeitet sie inzwischen<br />
geschickt und sorgfältig.<br />
Im Mathematikunterricht war bereits aufgefallen, dass Kim ein gutes räumliches<br />
Vorstellungsvermögen besitzt: Als die Kinder die Aufgabe bekommen, in einer<br />
Dreiergruppe mit Hilfe unterschiedlicher Pappschachteln eine Figur ähnlich denen<br />
aus dem Buch von Leo Lionni: Pezzetino (Verlag Middelhauve, o. J.) zu bauen,<br />
tut Kim sich mit den Vorschuljungen zusammen. Sie einigen sich auf ‚Den, der<br />
auf die Berge klettert’ und den Berg. Schnell sammeln die Drei die geeigneten<br />
Schachteln und während die Jungen eher beiläufig mithelfen, baut Kim innerhalb<br />
von 10 Minuten geschickt die Figur mit vier Beinen, Körper, Hals, Kopf und klebt<br />
noch Augen und Mund darauf. Die Figur steht im Gleichgewicht, nur für den Hals<br />
gebe ich ihr statt der Milchtüte, auf der die runde Bonbonschachtel nicht kleben<br />
will, eine geeignetere Schachtel. Der Berg ist ebenfalls in Null-Komma-Nichts fertig.<br />
Ich bin froh, eine neue Stärke von Kim entdeckt zu haben, auf der sie aufbauen<br />
kann.
Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />
Mathematische Einzelförderung im ersten Halbjahr des<br />
2. Schuljahres<br />
<strong>Christine</strong> erweitert die bisherigen Förderinhalte und führt Kim in das PC-<br />
Programm ‚Schnelles-Sehen‘ (Dieses Computerprogramm von SoWoSoft wird im<br />
Beitrag von Schipper in diesem Heft unter Aufgabenformat 2.2 näher beschrieben)<br />
ein. Darin trainiert sie die quasi-simultane Zahlauffassung, zunächst bis<br />
Zwanzig und später bis Hundert. Der Rechenrahmen bleibt weiter Kims wichtigstes<br />
Hilfsmittel. <strong>Christine</strong> übt mit ihr den Zehnerübergang, erweitert den Zahlenraum<br />
bis 50 und 100 und übt mit ihr Strategien, wie die Analogiebildung.<br />
Kim kennt inzwischen alle Ortungsbegriffe. Ihr sprachliches Wissen hat sich deutlich<br />
verbessert, was das Arbeiten mit ihr insgesamt einfacher macht.<br />
Die Zahlen im Hunderterraum kann sie nach kurzer Überlegung richtig benennen.<br />
Ihr unterlaufen beim Aussprechen aber manchmal noch Zahlendreher. Das Stellenwertsystem<br />
hat sie noch nicht verstanden.<br />
Bei den Rechengeschichten zeigt sie bereits Operationsverständnis, in dem sie<br />
die Handlung mit Hilfe von Material darstellt. Die symbolische Aufgabe dazu findet<br />
sie jedoch nur mit Hilfe.<br />
Zwischenergebnis im Januar<br />
Endlich hat Kim deutliche Fortschritte gemacht. Bei den Zahlzerlegungen der 10<br />
benutzt sie nicht mehr sichtbar die Finger als Lösungshilfe. <strong>Christine</strong> vermutet<br />
aber, dass – sobald ihre Hände verdeckt sind – sie ihre Finger noch im Kopf abzählt.<br />
Wir hoffen, dass sie die Zahlzerlegung bald auf Rechenoperationen anwenden<br />
kann. Beim „Schnellen-Sehen“ hat sie sich verbessert. Sie erfasst die Zahlen<br />
bis 50 quasi-simultan. Einen Durchbruch gibt es auch beim kleinen 1 + 1. Außerdem<br />
löst sie Aufgaben vom Typ ZE + E zunehmend mit Hilfe von Analogieaufgaben,<br />
wenn wir sie darauf hinweisen. Oft braucht sie nur ein Beispiel, um die<br />
nächsten Aufgaben selbstständig zu lösen. Zunehmend machen ihr die Rechengeschichten<br />
Spaß. Sie erfindet selbst gerne Additions- und mitunter auch Subtraktionsaufgaben.<br />
Die symbolische Schreibweise muss aber weiterhin eingeübt<br />
werden. Sie malt gerne Bilder zu Rechenaufgaben. Die Aufgabenstellung von einer<br />
bildlichen Darstellung abzulesen, ist ihr noch nicht einsichtig.<br />
Im Zahlenraum bis Hundert kann sie sich besser orientieren, was daran zu erkennen<br />
ist, dass sie die Hundertertafel immer flinker legen kann und dabei Strategien<br />
benutzt, um die richtigen Reihen untereinander zu legen. Als ich sie auffordere,<br />
die Zahlen doch mal der Folge nach zu legen, kann sie dies auch. Noch<br />
immer unterlaufen ihr beim Aussprechen Zahlendreher und sie lässt, beim zögerlichen<br />
Rückwärtszählen von 100, die doppelziffrigen Zahlen aus. Sie findet aber<br />
auf der Hundertertafel die richtigen Orte der herausgenommenen Zahlen.<br />
Die Erfolge im Bereich Mathematik machen Kim selbstbewusster. Sie gehen deutlich<br />
einher mit ihren Fortschritten im sprachlichen Verständnis und finden nun auf<br />
der gesamten schulischen Ebene statt.<br />
Weitere Ziele bis Ende des 2. Schuljahres<br />
Kims Leistungen in Mathematik entsprechen noch nicht voll den Anforderungen<br />
zu Beginn des 2. Schuljahres, denn bisher hat sie nur Additionsaufgaben gelöst.<br />
Nun soll sie ihre Strategien und Erkenntnisse über Zusammenhänge von der Addition<br />
auf die Subtraktion übertragen. Bis zum vorgesehenen Ablauf des Förderzeitraumes<br />
müssen weiterhin alle bisher geübten Aufgabenformate auf ihre<br />
61
62<br />
Uta Görlich<br />
selbstständige Anwendung hin trainiert und der Zahlenraum bis 100 gefestigt<br />
werden.<br />
Es ist unrealistisch zu hoffen, dass sie im Sommer bis zu den Aufgaben ZE+/-ZE<br />
kommt. Zuversichtlich bin ich beim Auswendiglernen des kleinen Einmaleins, da<br />
hier die Eltern wirklich mithelfen können beim Abfragen.<br />
Ob Kim noch im laufenden Schuljahr Zeit hierfür hat, wird sich zeigen. Oft ist<br />
erstaunlich, in wie großen Schüben ein Kind lernen kann, wenn einmal der ‚Groschen<br />
gefallen‘ ist – und dafür gibt es bei Kim vorsichtige Anzeichen.<br />
Gespräche mit dem Vater über Kim zum Jahreswechsel 2002/2003<br />
Bei unserem Gespräch Mitte Januar 2003 nimmt auch <strong>Christine</strong> Huth, die ‚Rechenfee‘,<br />
teil. Kim ist zu Hause ruhiger und freundlicher den Geschwistern gegenüber<br />
geworden. Die Eltern berichten von einer Kim, die wir so noch nicht<br />
kennen gelernt haben: Sie hat dem kleinen Bruder das Alphabet beigebracht:<br />
A..B..C – nicht Be, Ce. Durch sie kann er bereits Zahlen bis in den Tausenderbereich<br />
lesen: 2003, 784 etc. Wir haben Kim anderntags in der Schule ähnliche<br />
Zahlen erfolgreich lesen lassen und sie ihr diktiert. Es scheint, dass sie zu Hause<br />
ihrer Position bewusst ist, in der Schule für sich aber noch keine klare Stellung<br />
gefunden hat.<br />
Auch zu Hause verschenkt und teilt Kim selbstlos und selbstverständlich, wie uns<br />
das in der Schule bereits aufgefallen ist. Hier bestätigen uns die Eltern, dass das<br />
wirklich ihre Art und nicht mit einer Absicht verbunden ist.<br />
Kim sammelt, wie der Vater es ausdrückt alle ‚Schnipsel‘, die sie schneidet, ihre<br />
gemalten Bilder, die sie anschließend zerknüllt, aber aufhebt. Ich erinnere mich<br />
an meinen ersten Besuch, an das Geschenk, an die Geste, mit der sie mir es gab.<br />
Kim glaubt, ihre Produkte seien nicht der Beachtung Wert und dennoch haben sie<br />
eine solche Bedeutung für sie, dass sie sie aufhebt. Wir müssen in der Schule<br />
Kims eigene Wertschätzung mehr fördern, ihr ihre Stärken bewusster machen!<br />
Der Vater hat inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit und für die anderen<br />
Familienmitglieder das Bleiberecht in Deutschland beantragt. Im nächsten Schuljahr<br />
wird auch Kims Bruder als Vorschulkind zu uns kommen. Eine gute schulische<br />
Ausbildung der Kinder ist den Eltern vorrangig. Für beide gibt es keine geschlechtlichen<br />
Unterschiede in der Kindererziehung. Ich spreche jetzt schon an,<br />
dass ich darüber nachdenke, ob Kim noch ein Jahr länger im Haus 1 bleiben soll,<br />
um ihr Zeit zu geben, noch selbst- und sprachsicherer zu werden und ihre Lernleistungen<br />
mehr zu festigen. Die Eltern zeigen mittlerweile Verständnis, obwohl<br />
sie nach wie vor wünschen, dass Kim doch noch solche Fortschritte macht, um<br />
mit den ‚Zweiern‘ gemeinsam ins dritte Schuljahr zu wechseln. Dies würde bedeuten<br />
eine neue Gruppe, eine neue Lehrerin, ein neues Haus ...<br />
Sie haben Verständnis vor allem auf dem Hintergrund, dass Kim mit drei völlig<br />
verschiedenen Sprachen aufwächst, von denen sie Deutsch mittlerweile am Besten<br />
versteht und spricht. In der Familie werden alle drei Sprachen durcheinander<br />
gesprochen. Immerhin haben die Eltern sich vorgenommen, sich in ihrer regionalen<br />
Sprache nur noch zu unterhalten, wenn die Kinder nicht dabei sind.
Ausblick<br />
Kim – Beispiel einer Prävention von Rechenstörungen<br />
Damit möchte ich diesen Bericht über Kim schließen, der mit den Schwierigkeiten<br />
ihrer kulturellen und vor allem sprachlichen Eingliederung begann und damit zumindest<br />
vorläufig endet.<br />
Ich erlebe, dass Kim gerade in letzter Zeit im sprachlichen Bereich eine große<br />
Entwicklung macht. Ihre sich verbessernden Möglichkeiten sich auszudrücken<br />
und damit ihre Umgebung ‚in einen Begriff zu bekommen‘ wirkt sich auf den gesamten<br />
sozialen und schulischen Bereich aus und nicht zuletzt auf ein besseres<br />
Verständnis für die Welt der Zahlen und die Mathematik in der Welt. Die Beschreibung<br />
einer gezielten Förderung auf dem Hintergrund der Kenntnis des<br />
‚ganzen‘ Kindes, sollte den engen Zusammenhang zwischen Sprachverständnis<br />
gleich Weltverständnis und einem Ver-Sagen in der Mathematik deutlich machen.<br />
Wie denn auch ein Nicht-Begreifen-Können mit fehlender Begrifflichkeit sowohl<br />
im sprachlichen als auch (mathematisch-) operativen Sinne verbunden ist.<br />
Eine kleine, aber wichtige Geschichte am Ende eines neuen<br />
Anfangs<br />
Kim wird vor kurzem vom Vater in die Schule gebracht. Stolz zeigt sie mir eine<br />
neue Federmappe, prall gefüllt mit den üblichen Utensilien. Daneben liegt ihre<br />
‚alte‘ Federmappe, die noch fast wie neu aussieht. Als ich frage, warum eine<br />
neue Federmappe gekauft werden musste, erklärt mir der Vater, Kim sei nach<br />
Hause gekommen und hätte gesagt, sie brauche eine neue Federmappe. Sie hätten<br />
diese besorgt. Als ich auf die gut erhaltene alte Federmappe verweise, stellt<br />
sich heraus, dass die Stifte klein gespitzt waren und der meiste Inhalt fehlte. Auf<br />
meine Frage, warum sie nicht mit neuen Stiften, Radiergummi etc. aufgefüllt<br />
wurde, ist er sehr überrascht über diese nicht überlegte Möglichkeit. Beim nächsten<br />
Mal ...<br />
Immerhin kann Kim mittlerweile gut für sich alleine sorgen und der Vater bestätigt<br />
mir, dass sie manches besser zu regeln wüsste als die übrige Familie.<br />
63
64<br />
Uta Görlich
Paula G. Althoff<br />
Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-<br />
Unterscheidung<br />
„... lechts und rinks<br />
kann man nicht velwechsern.<br />
Werch ein Illtum.“<br />
(Ernst Jandl)<br />
Lisa ist ein freundliches, aufgeschlossenes Mädchen. Sie lernt für ihr Leben gern<br />
und kommt jeden Morgen gut gelaunt und ausgeschlafen in die Schule. Seit fast<br />
vier Jahren besucht sie die Laborschule und ist inzwischen im Jahrgang 3.<br />
Einschulung<br />
Als Lisa im Sommer 1999 als fünfjähriges Vorschulkind in die Eingangsstufe der<br />
Laborschule eingeschult wird, ist sie ein sehr kleines, schüchternes und ängstliches<br />
Kind. Sie fürchtet sich vor allem, was neu ist, reagiert häufig mit Bauchschmerzen<br />
und bricht schnell in Tränen aus. Sie braucht sehr viel Zuwendung<br />
und Ermutigung, die sie auch bekommt. Glücklicherweise kann ich als Betreuungslehrerin<br />
ihr Vertrauen schnell gewinnen, so dass sie trotz ihrer Ängstlichkeit<br />
sehr gerne in die Schule kommt. Im Umgang mit den anderen Kindern ist sie<br />
stets freundlich. Sie ist sehr nachgiebig und gerät deshalb nie in Konflikte mit<br />
ihren MitschülerInnen. Besonders gern spielt und lernt sie gemeinsam mit Judith,<br />
die ihr in vielen Bereichen sehr ähnlich ist.<br />
Soziale Hintergründe<br />
Lisa wächst in einer Familie auf, die ihr offensichtlich freundlich zugewandt ist, in<br />
der jedoch auch Grenzen gesetzt werden. Sie hat einen älteren Bruder, der inzwischen<br />
zur Realschule geht. Aus Elterngesprächen erfahre ich, dass die Grundschulzeit<br />
für ihn auf Grund großer Probleme im Fach Mathematik sehr belastet<br />
war. Es gab sogar die Überlegung, ihn die Schule wechseln zu lassen. Die kleine<br />
Schwester von Lisa besucht eine Kindertagesstätte. Sie ist ein freundliches Kind,<br />
wirkt jedoch, ähnlich wie ihre beiden Geschwister, etwas schüchtern.<br />
Vorschuljahr – 1. Jahr der Eingangsstufe<br />
In der Schule ist Lisa von Anfang an äußerst fleißig und kann sich gut über einen<br />
längeren Zeitraum auf eine Sache konzentrieren. Sie kann gut zuhören und hält<br />
unsere vielen Absprachen, die den Schulalltag regeln, immer zuverlässig ein.<br />
Erste Lernerfolge stellen sich bald ein. Sie lernt Zahlen und Buchstaben kennen<br />
und das Lernen macht ihr sichtlich Freude. Am Ende des Vorschuljahres beginnt<br />
sie erste lautgetreue Wörter zu lesen und zu schreiben. Mit Hilfe des Rechenrahmens<br />
führt sie kleine Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 10<br />
aus.<br />
65
66<br />
Paula G. Althoff<br />
Zu diesem Zeitpunkt hat sie ihre Bauchschmerzen fast ganz aufgegeben und<br />
Tränen gibt es nur noch, wenn sie sich richtig wehgetan hat. Von den anderen<br />
Kindern lässt sie sich nicht mehr so viel gefallen.<br />
1. Schuljahr – 2. Jahr der Eingangsstufe<br />
Zu Beginn des neuen Schuljahres wird ihr ein neues Vorschulkind als Patenkind<br />
anvertraut. Sie erfüllt ihre Patenrolle für dieses Kind sehr zuverlässig und einfühlsam.<br />
Das Lesen lernt sie im Laufe dieses Schuljahres so weit, dass sie schließlich kleine<br />
Texte langsam lesen und ihren Inhalt wiedergeben kann. Am Schreiben hat<br />
sie großen Spaß. Sie arbeitet ihren Schreiblehrgang in Druckschrift zügig durch,<br />
hat jedoch immer wieder Probleme mit dem folgerichtigen Schreiben der Druckbuchstaben.<br />
So braucht sie anschließend zusätzliches Übungsmaterial zum Festigen<br />
der folgerichtigen Schreibweise. Dank ihres großen Lerneifers kann sie am<br />
Ende des 1. Schuljahres mit dem Erlernen der Vereinfachten Ausgangsschrift beginnen.<br />
Beim freien Schreiben schreibt sie jedoch immer in großen Druckbuchstaben.<br />
Lautgetreue Wörter schreibt sie oft richtig, alle anderen Wörter weisen<br />
orthographische Fehler auf. Buchstaben ohne Symmetrieachse notiert sie häufig<br />
spiegelverkehrt. Das „S“ in ihrem Namen beispielsweise schreibt sie fast immer<br />
wie ein Fragezeichen ohne Punkt.<br />
Beim Umgang mit Zahlen ist auffällig, dass sie die meisten Ziffern nicht folgerichtig<br />
schreiben kann. Ähnlich wie die Buchstaben werden zudem auch die Ziffern<br />
immer wieder verdreht. Trotz geduldiger Zuwendung während des Unterrichts<br />
halten sich die ‚Dreher‘, wie sie in der folgenden Abbildung – einer Kopie aus ihrem<br />
Mathematikbuch – zu sehen sind, sehr hartnäckig: Ziffern werden spiegelverkehrt<br />
geschrieben, Rechenoperationen vertauscht.<br />
Zusätzliche Probleme entstehen, als der Zahlenraum bis 20 in Angriff genommen<br />
wird. Manchmal vertauscht sie die Position der Ziffern im Stellenwertsystem.<br />
Darüber hinaus verwechselt sie die Rechenzeichen. Durch intensives Üben – Lisas<br />
Lerneifer ist ungebrochen – kann sie sich den Zahlenraum bis 20 allmählich<br />
einigermaßen sicher erschließen. Als Anschauungshilfe benutzt sie den Rechenrahmen,<br />
mit dem ihr Additions- und Subtraktionsaufgaben zunehmend sicherer<br />
gelingen.<br />
Zunächst benutzt sie die Strategie des Alles-Zählens. Es ist nicht leicht, sie davon<br />
abzubringen. Gründlich und zuverlässig, wie sie ist, scheint sie von der Richtigkeit<br />
ihrer Ergebnisse nur überzeugt zu sein, wenn sie alles nachgezählt hat.<br />
Intensives Üben unter meiner Anleitung bringt sie schließlich doch dazu, Zahlen
Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />
‚mit einem Streich‘ (d. h. ohne die Perlen einzeln abzuzählen) einzustellen, und<br />
den Zehnerübergang schrittweise (s. unten) zu bewältigen. Die Aufgabe 8 + 7<br />
löst sie schließlich so:<br />
• Zunächst wird die 8 mit einem Streich eingestellt.<br />
• Anschließend werden 2 Perlen ebenfalls mit einem Streich mit kleinem Abstand<br />
zu den 8 Perlen hinzu geschoben.<br />
• Die noch fehlenden 5 Perlen zählt sie ab, da sie bei der Zahlzerlegung noch<br />
unsicher ist.<br />
• Das Ergebnis kann sie einfach ablesen.<br />
• Beim Notieren schreibt sie die 5 spiegelverkehrt.<br />
Beim Kopfrechnen fällt auf, dass sie sehr langsam ist. Offensichtlich ist der Rechenrahmen<br />
für sie noch unentbehrlich. Fehlt er ihr, so rechnet sie möglichst unauffällig<br />
mit den Fingern. Erst ganz am Ende des ersten Schuljahres ist sie in der<br />
Lage, leichte Additionsaufgaben, etwa Verdopplungsaufgaben oder das Addieren<br />
der ‚1‘, sicher ohne Finger oder Rechenrahmen zu bewältigen.<br />
Zu diesem Zeitpunkt bin ich mir längst darüber im Klaren, dass Lisa in Mathematik<br />
mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Deshalb schlage ich sie als<br />
Förderkind für unser Forschungsprojekt „Ich erklär‘ dir, wie ich rechne – Prävention<br />
von Rechenstörungen“ vor.<br />
2. Schuljahr – 3. Jahr der Eingangsstufe<br />
Die positive Entwicklung zu mehr Selbstbewusstsein setzt sich bei Lisa weiter<br />
fort. Sie weiß um ihre Schwächen, lässt sich davon jedoch nicht entmutigen. Sie<br />
kommt nach wie vor sehr gern in die Schule und nutzt unsere Arbeitszeit zum<br />
intensiven Lernen. Das sind die günstigsten Voraussetzungen für möglichst effektives<br />
Lernen.<br />
Im Lesen wird sie deutlich sicherer. Texte, die vom Inhalt her ihrem Alter entsprechen,<br />
liest sie fast fließend und sinnentnehmend.<br />
Die verbundene Schrift gelingt ihr immer besser. Es<br />
entwickelt sich ein klares Schriftbild. Beim freien<br />
Schreiben werden einzelne Wörter, die nicht lautgetreu<br />
sind, schon richtig geschrieben, lautgetreue Wör-<br />
Z E<br />
ter fast immer. Sie verdreht jedoch immer noch einzelne<br />
Buchstaben.<br />
Im mathematischen Bereich versucht sie, sich den<br />
Zahlenraum bis 100 zu erschließen. Ihre ausgeprägte<br />
Rechts-Links-Schwäche steht ihr dabei offensichtlich<br />
sehr im Weg. Immer wieder verdreht sie Ziffern und<br />
vertauscht ihre Position im Stellenwertsystem. Ein<br />
Auszug aus ihrem Arbeitsmaterial zeigt deutlich, welche<br />
Schwierigkeiten sie noch hat, den Zehner als<br />
neue Einheit, nämlich als Zusammenfassung von<br />
zehn Einern, aufzufassen.<br />
Die Unsicherheiten bei Zahlen jenseits der 50 sind oft<br />
noch größer als bei kleineren Zahlen. Besonders verwirrend<br />
scheint für sie der Unterschied zwischen<br />
Sprechweise und Schreibweise der zweistelligen Zah-<br />
Z<br />
Z<br />
E<br />
E<br />
Z<br />
E<br />
Z E<br />
67
68<br />
Paula G. Althoff<br />
len zu sein. In der Regel notiert sie daher den Einer vor dem Zehner. Das Lesen<br />
und Schreiben zweistelliger Zahlen und besonders das Rechnen mit zweistelligen<br />
Zahlen fällt Lisa äußerst schwer. Findet sie die richtige Richtung, so kann sie<br />
nach einiger Zeit zweistellige mit einstelligen Zahlen verknüpfen (Addition und<br />
Subtraktion). Die Verknüpfung reiner Zehnerzahlen mit gemischten Zehner-<br />
Einer-Zahlen (z. B.: 50 + 34) bereitet ihr große Schwierigkeiten. Für diese Operationen<br />
benötigt sie den Rechenrahmen. Die Verknüpfung zweier Zehner-Einer-<br />
Zahlen mit Zehnerübergang (z. B.: 36 + 29) gelingt ihr zunächst gar nicht, da<br />
der Rechenrahmen bei diesen Aufgaben keine gute Hilfe ist. Mit derartigen Aufgaben<br />
kann ich sie erst geraume Zeit später konfrontieren, als sie leichtere Operationen<br />
im Zahlenraum bis 100 ohne Rechenrahmen lösen kann. Im Zahlenraum<br />
bis 20 zeigt sie erfreuliche Fortschritte. Das Zerlegen der Zahlen gelingt ihr immer<br />
besser, erfordert jedoch immer noch viel Übung. Aufgaben aus dem kleinen<br />
1 + 1 werden zunehmend aus dem Gedächtnis abrufbar. Auch hier ist noch einiges<br />
an Übung notwendig.<br />
Für unser Forschungsteam beschreibe ich Lisas Probleme kurz vor der Ersterhebung<br />
in folgenden Sätzen:<br />
„Zusammenfassend möchte ich zu Lisa bemerken, dass sie grundsätzlich langsam<br />
lernt, was sie teilweise durch ihren großen Fleiß kompensieren kann. Ihre<br />
ausgeprägte Rechts-Links-Schwäche macht sich sowohl in der Mathematik als<br />
auch beim Schreiben bemerkbar. Beim Lesen ist die Richtung eindeutig vorgegeben,<br />
so dass sie hier keine besonderen Schwierigkeiten hat. Es wird höchstens<br />
mal das ‚b‘ mit dem ‚d‘ verwechselt.“<br />
Zur Ersterhebung<br />
Bevor Lisa überprüft werden kann, muss ich das Einverständnis der Eltern einholen.<br />
Das ist keine leichte Aufgabe. Ich berichte zunächst von unserem Forschungsvorhaben.<br />
Die Mutter bekommt ‚große Bauchschmerzen‘, als ich Lisa für<br />
unser Forschungsprojekt vorschlage. Trotz vorhergehender intensiver Gespräche<br />
zum Lern- und Leistungsstand ihrer Tochter ist sie sehr erschrocken, dass Lisa<br />
solche Probleme haben soll. Sie hat offensichtlich alle Bemerkungen, die auf<br />
Schwächen deuteten, ausgeblendet. Meine Bemerkungen zu Lisas positiver Persönlichkeitsentwicklung,<br />
die auch den Eltern nicht verborgen blieb, sind offensichtlich<br />
viel deutlicher wahrgenommen worden. Auch der Vater wirkt anfangs<br />
sehr betroffen. Im Vergleich zum älteren Bruder hat er Lisa als mathematisch<br />
begabt eingestuft. Er lässt sich jedoch leichter von der Notwendigkeit einer zusätzlichen<br />
Förderung überzeugen und signalisiert mir gegenüber auch weiterhin<br />
großes Vertrauen.<br />
Lisa freut sich über die Aufmerksamkeit, die ihr geschenkt wird. Am 5.11.2001<br />
wird sie im IDM (siehe unter Beratungsstelle im Glossar) der Universität <strong>Bielefeld</strong><br />
überprüft. Sie ist vorher ein bisschen aufgeregt, hat jedoch überhaupt keine<br />
Bauchschmerzen und bewältigt den Test, in dem sie sich über einen längeren<br />
Zeitraum konzentrieren muss, sehr gut.<br />
Ich bin die ganze Zeit dabei und habe den Eindruck, dass sie in der Lage ist,<br />
wirklich alles zu zeigen, was sie zu diesem Zeitpunkt kann.
Befunde der Ersterhebung<br />
Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />
Die Ersterhebung bestätigt die von mir im Unterricht gemachten Beobachtungen.<br />
Lisa zeigt Probleme beim Rückwärtszählen im Zahlenraum bis 100. Bereits im<br />
Zahlenraum bis 20 werden Probleme sichtbar. Im Protokoll ist zu lesen:<br />
„Addition im Zahlenraum bis 20<br />
Die Verdoppelungsaufgaben im Zahlenraum bis 20 beherrscht Lisa<br />
auswendig.<br />
Zur Lösung der meisten Aufgaben im Zahlenraum bis 20 verwendet<br />
Lisa die Strategie des Alles-Zählens (vgl. Beitrag von Schipper in diesem<br />
Heft, S. 32ff.). Hierbei nutzt sie ihre Hände als Hilfsmittel. Die<br />
Strategie des Weiterzählens scheint von ihr noch nicht verstanden<br />
worden zu sein. Dennoch gelingt es ihr bereits manchmal, Ansätze<br />
von operativen Strategien zu nutzen, z. B. bei Aufgaben, in denen eine<br />
9 vorkommt, nutzt sie die Nachbaraufgabe mit 10.<br />
Subtraktion im Zahlenraum bis 20<br />
Bei den Subtraktionsaufgaben zählt Lisa ebenfalls. Entsprechend ihren<br />
Schwierigkeiten beim Rückwärtszählen scheinen ihr diese Aufgaben<br />
besonders schwer zu fallen. Vor allem aber auch, weil sie auf die<br />
Strategie des Alles-Zählens zurückgreift.<br />
Die Aufgabe 6 – 3 kann Lisa sofort lösen. Dazu erklärt sie, dass sie<br />
das weiß, weil 3 + 3 = 6 sind, d. h. sie greift auf das Verdoppeln<br />
bzw. Halbieren zurück (operative Strategien).“<br />
Die quasi-simultane Zahlauffassung am Hunderterrechenrahmen bereitet ihr<br />
Schwierigkeiten, obwohl dies vorher schon häufig im Unterricht geübt worden ist.<br />
Auffällige Probleme zeigen sich bei der Links-Rechts-Unterscheidung. Auch hierzu<br />
hat es bereits zahlreiche Übungen im Unterricht gegeben.<br />
Bei der Addition und Subtraktion im Hunderterraum bestätigen sich meine Beobachtungen<br />
aus dem Unterricht.<br />
„Addition im Hunderterraum<br />
Aufgaben der Art ZE + E und ZE + ZE kann Lisa mit dem Hunderter-<br />
Rechenrahmen lösen. Aber sie hat beim Aufschreiben der Aufgaben<br />
große Probleme. Bei dem Versuch, die Zahl 31 von rechts nach links<br />
zu notieren, kommt es zu einem Zahlendreher. Daraufhin aufgefordert,<br />
die Zahl 31 in einer Stellenwerttafel zu notieren, notiert Lisa die<br />
Ziffer 1 in der Zehnerspalte und die Ziffer 3 in der Einerspalte. Dabei<br />
ist zusätzlich auffällig, dass sie die Ziffer 3 spiegelverkehrt notiert ...“<br />
Die Diagnose zeigt auch, dass ihre Merkfähigkeit nicht besonders ausgeprägt ist.<br />
Zusammenfassend wird im Protokoll festgehalten:<br />
„Lisa ist noch unsicher bei der Links-Rechts-Unterscheidung an sich<br />
selber und am Gegenüber. Dies könnte ihre Probleme bei der Notation<br />
von Zahlen, aber auch ihre Unsicherheit im Bereich der Stellenwerte<br />
verstärken oder mit verursacht haben.<br />
Sie scheint größtenteils auf zählende Strategien zurückzugreifen.<br />
Wichtig wäre, mit ihr zunächst die Strategie des Weiterzählens zu er-<br />
69
70<br />
Paula G. Althoff<br />
arbeiten. Letztendlich geht es aber darum, die schon vorhandenen<br />
Ansätze zu operativen Strategien aufzugreifen und auszuweiten.<br />
Der Bereich der Subtraktion bereitet ihr besondere Schwierigkeiten<br />
und sollte im Rahmen einer Förderung besonders gestärkt werden.<br />
Auch ist unklar, ob Lisa ein gesichertes Verständnis für die Addition<br />
und Subtraktion entwickelt hat. Dies sollte mit ihr sowohl auf der enaktiven<br />
als auch auf der ikonischen Ebene erarbeitet werden.<br />
Mit Lisa sollten sinnvolle Kopfrechenstrategien erarbeitet werden. Die<br />
Strategie, die sie zur Zeit am Rechenrahmen nutzt, lässt sich nicht<br />
auf das Kopfrechnen übertragen.“<br />
Die Förderung<br />
Auf Grund der Ergebnisse der Ersterhebung ist sehr deutlich geworden, dass Lisa<br />
tatsächlich der besonderen Förderung im mathematischen Bereich bedarf. Nach<br />
Absprache in unserem Forschungsteam soll sie Einzelförderung erhalten.<br />
Auch für meinen Unterricht bedeutet dies, weiterhin mein besonderes Augenmerk<br />
auf Lisa richten zu müssen.<br />
Einzelförderung<br />
Die Einzelförderung übernimmt Bianca Beyer, ein Mitglied aus unserem Forschungsteam.<br />
Bianca kommt einmal wöchentlich für 60 Minuten. Diese Zeit steht<br />
für Lisa und ein zweites Kind aus ihrer Gruppe, welches ebenfalls erhebliche<br />
Probleme hat, zur Verfügung. Zeitweise können beide Kinder gleichzeitig gefördert<br />
werden, dadurch verlängert sich die Förderzeit über die üblichen 30 Minuten<br />
hinaus.<br />
Am 10.12.2001 findet die erste Förderstunde statt. Insgesamt können 20 Termine<br />
wahrgenommen werden. Die letzte Förderung ist am 2.7.2002.<br />
Basierend auf den Ergebnissen der Ersterhebung, der Diskussion im Forschungsteam<br />
sowie Biancas und meiner Beobachtungen, haben wir einen Förderplan für<br />
Lisa erstellt. Es ergeben sich zunächst folgende Förderschwerpunkte:<br />
• Rückwärtszählen im Hunderterraum<br />
• Links-Rechts-Unterscheidung<br />
• Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 20<br />
• Veranschaulichung des Stellenwertsystems<br />
• Arbeiten mit der Hundertertafel<br />
• Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 100<br />
• Multiplikation und Division<br />
Lisa genießt die Einzelförderung. Sie ist hoch motiviert und arbeitet sehr konzentriert.<br />
Auch Bianca, mit der ich mich nach jeder Förderung austausche, bereitet<br />
die Arbeit mit Lisa viel Freude. Sie hat die Förderstunden protokolliert. Nachfolgend<br />
zwei Beispiele:<br />
„Legen von Zahlenplättchen auf eine leere Hunderter–Tafel<br />
Lisa ordnet Plättchen mit Zahlen auf einer leeren Hunderter–Tafel ein.<br />
Dabei macht sie immer wieder folgende drei Zahlendreher:<br />
1. Sie nimmt das Plättchen z. B. mit der 69, sagt dazu 96 und legt es auf<br />
den Platz der 69.
Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />
2. Sie nimmt das Plättchen z. B. mit der 67, sagt dazu 76 und legt es auf<br />
den Platz der 76.<br />
3. Sie nimmt das Plättchen z. B. mit der 49, sagt dazu 49 und legt es auf<br />
den Platz der 94.<br />
Nach eigener Angabe sucht Lisa erst nach dem Zehner und dann nach dem<br />
Einer auf der Hunderter-Tafel.“<br />
„Arbeitsblätter mit Ausschnitten aus der Hunderter-Tafel<br />
Ich habe Lisa vier Förderstunden hintereinander Arbeitsblätter mit Ausschnitten<br />
aus der Hunderter-Tafel ausfüllen lassen. Dafür habe ich ihr jeweils<br />
eine Zahl in ein Kästchen des Ausschnitts geschrieben, von der sie<br />
ausgehen musste.<br />
Beim ersten Arbeitsblatt schreibt Lisa mehrfach den Vorgänger einer Zahl<br />
rechts neben die Zahl oder den Nachfolger links davon auf. Sie macht einen<br />
Zahlendreher, indem sie als den Nachfolger der 22 eine 32 notiert.<br />
Bei der Bearbeitung des zweiten Arbeitsblattes<br />
lasse ich Lisa die Zahlen<br />
benennen, die sie aufschreibt. Dabei<br />
passieren ihr häufig Zahlendreher. Den<br />
Nachfolger der 87 schreibt sie links daneben.<br />
Bei einem Ausschnitt, bei dem<br />
am Ende der mittleren Reihe die 65<br />
vorgegeben ist, notiert Lisa unter die 64<br />
eine 54 und unter die 62 eine 52. Dafür<br />
schreibt sie über die 61 eine 71.“<br />
Konsequenzen für meinen Unterricht<br />
Bereits lange, bevor die Einzelförderung bei Lisa einsetzte, habe ich meinen Unterricht<br />
im Bereich Mathematik kritisch hinterfragt. Angeregt und sensibilisiert<br />
wurde ich durch unseren Forschungsauftrag – erste Treffen mit unserem Forschungsteam<br />
hatten bereits im Herbst 2000 stattgefunden. In vielen Punkten<br />
hielt mein Unterricht den Kriterien unseres Teams stand. Durch mehr Hintergrundwissen<br />
über die Entstehung von Rechenstörungen und deren Symptome<br />
kommt es allmählich zu einer teilweise neuen Gewichtung der Unterrichtsschwerpunkte.<br />
Lisa ist nicht das einzige Kind in meiner Gruppe mit besonderem Förderbedarf.<br />
Wie schon oben beschrieben, gibt es noch ein weiteres Kind im Jahrgang<br />
2, welches im Rahmen unseres Forschungsprojektes Einzelförderung erhält. Ein<br />
drittes Kind im Jahrgang 2 hat ebenfalls mit größten Schwierigkeiten zu kämpfen.<br />
Leider ist es uns nicht gelungen, die Eltern für unser Projekt zu gewinnen.<br />
So ist dieses Kind allein auf meine Förderung während des Unterrichts angewiesen,<br />
da wir keine Einzelförderung anbieten können. Zwei weitere Kinder aus dem<br />
Jahrgang 1 zeigen Schwächen, die bei Nichtbeachtung zu Rechenstörungen führen<br />
können. Darüber hinaus gibt es noch bei zwei Vorschulkindern erhebliche<br />
Probleme.<br />
Zwei Kinder aus dem Jahrgang 1 und ein Vorschulkind zeigen herausragende Leistungen,<br />
teilweise nicht nur im mathematischen Bereich.<br />
Grundsätzlich erfordert das Arbeiten in altersgemischten Gruppen eine starke<br />
Differenzierung. Die auch für Laborschulverhältnisse außergewöhnliche Anhäufung<br />
in meiner Gruppe von Lernschwächen einerseits und besonderen Bega-<br />
71
72<br />
Paula G. Althoff<br />
bungen andererseits macht die Differenzierung um so dringender. Einige wichtige<br />
Merkmale meines Unterrichts möchte ich hier kurz anführen:<br />
• Es findet eine ausgeprägte Binnendifferenzierung statt (bei behutsamer Ermittlung<br />
der jeweiligen Lernausgangslage).<br />
• Unter- oder Überforderung werden weitgehend vermieden, um die Lernfreude<br />
zu erhalten oder zu wecken.<br />
• Unterrichtsmaterialien und der<br />
Zeitpunkt der Ausgabe sind auf<br />
das einzelne Kind abgestimmt.<br />
• Materialien, die Selbstkontrolle<br />
ermöglichen, erziehen zu selbständigem<br />
Arbeiten.<br />
• Während sich die Betreuungslehrerin<br />
einzelnen Kindern oder<br />
einer Kleingruppe zuwendet<br />
(Diagnose, Förderung, Vermittlung<br />
neuer Lerninhalte, Übung<br />
...), helfen sich die übrigen<br />
Kinder gegenseitig (kein Helfer-Prinzip<br />
sondern bereitwilliges<br />
Helfen, weil einsehbar und<br />
anerkannt).<br />
• Arbeitsmittel (z. B. der Rechenrahmen)<br />
stehen den Kindern<br />
immer frei zur Verfügung,<br />
sie dürfen sie so lange benutzen,<br />
wie sie sie brauchen.<br />
• Übungsmaterialien und Lernspiele<br />
sind gleichwertige Unterrichtsmaterialien,<br />
d. h. sie können<br />
ggf. Einheiten im Rechenbuch<br />
ersetzen.<br />
• Größtmögliche Individualisierung<br />
schließt meine Arbeit mit<br />
Kleingruppen nicht aus, sondern bewusst ein.<br />
• Leistungsstarke Kinder bekommen Zusatzmaterial, das sie herausfordert (z.<br />
B.: Knobelaufgaben, Tangram, Zauberdreieck (siehe Glossar), besondere<br />
Sachaufgaben und Spiele wie Backgammon, Rummikub o. Ä.)<br />
• Kinder, die ihre Lernzeit nicht sinnvoll organisieren können, bekommen ihr<br />
Pensum in Form von Tages- oder Wochenplänen vorgeschrieben.<br />
• Alle Kinder werden zur Reflexion angeregt:<br />
Hast du dich richtig angestrengt?<br />
Warst du konzentriert bei der Sache?<br />
Hast du diese Aufgaben verstanden?<br />
Machen dir diese Aufgaben Spaß?<br />
Wie hast du gerechnet?<br />
Wen hast du gefragt?<br />
• Diese Fragen muss ich mir regelmäßig stellen:<br />
Welche Materialien muss ich für welches Kind bereithalten?<br />
Wo liegen die Stärken und Schwächen der einzelnen Kinder?
Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />
Wie lassen sie sich in Kleingruppen zusammenfassen?<br />
Wer kann die lernschwachen Kinder zusätzlich fördern (Praktikanten, Nachmittagskräfte,<br />
Eltern) und was soll wie geübt werden?<br />
Welches Kind kann was erklären?<br />
Kann jedes Kind das, was es können kann?<br />
• Die Sichtweise der Kinder in Bezug auf Leistung wird eher in die Richtung gelenkt:<br />
„Heute schaffe ich das, was ich gestern noch nicht (so gut) geschafft habe.“<br />
Die Kinder können (und tun dies auch) ihre eigene Leistungsfähigkeit (auch im<br />
Vergleich mit anderen) oft besonders gut einschätzen, ohne darunter zu leiden<br />
und ohne damit zu prahlen.<br />
Die Förderschwerpunkte aus Lisas Förderplan finden nicht nur für Lisa Berücksichtigung.<br />
Sie fließen in meine Arbeit mit der ganzen Gruppe und mit Kleingruppen<br />
ein.<br />
Übungen zum Vorwärts- und Rückwärtszählen lassen sich gut mit der ganzen<br />
Gruppe durchführen. Auch das schrittweise Zählen (z. B.: 2, 4 ,6 ...) klappt gut<br />
mit der ganzen Gruppe. Zeitweise haben wir täglich eine kurze Übungsphase zu<br />
diesem Thema.<br />
Auch die Links-Rechts-Unterscheidung kann spielerisch mit der ganzen Gruppe<br />
am besten im Kreis geübt werden.<br />
„Tippe mit deinem rechten Zeigefinger deinem linken Nachbarn auf das<br />
rechte Knie.“<br />
„Fasse deinem rechten Nachbarn mit der rechten Hand ans linke Ohr.“<br />
Mit diesen Übungen haben wir oft viel Spaß und viele Kinder gewinnen schnell an<br />
Sicherheit bei der Links-Rechts-Unterscheidung. Als positiver Nebeneffekt scheinen<br />
diese Übungen die Konzentrationsfähigkeit der Kinder zu erhöhen, wenn sie<br />
z. B. kurz vor der Arbeitszeit eingesetzt werden.<br />
Viel Zeit verwenden wir für das Kopfrechnen. Hier bietet sich das Arbeiten mit<br />
der ganzen Gruppe eher selten an. Immer wieder machen wir in unterschiedlich<br />
zusammengesetzten Kleingruppen Übungen zur Zahlzerlegung. Die Zerlegung<br />
der 10 als Grundlage für den schrittweisen Zehnerübergang ist mir dabei besonders<br />
wichtig.<br />
Da den meisten Kindern das Addieren leichter fällt als das Subtrahieren, üben wir<br />
schwerpunktmäßig die Subtraktion. Vor allem die Subtraktion im Zahlenraum bis<br />
20 muss mit vielen Kindern über einen langen Zeitraum geübt werden.<br />
Als geeignete Differenzierungsmaßnahme hat sich der Einsatz des Computers<br />
herausgestellt. Mit dem Programm „Fehleranalysen, Version 6“ der Firma SoWo-<br />
Soft (D. + J. Wohlrab, 1989) mache ich sehr gute Erfahrungen (vgl. dazu auch<br />
den Beitrag von Schipper in diesem Heft, S. 38). Es ermöglicht eine sehr exakte<br />
Differenzierung, zugeschnitten auf die Stärken und Schwächen der einzelnen<br />
Kinder. Nach Beenden einer ‚Sitzung‘ bietet das Programm ein Protokoll mit Fehleranalyse<br />
an. Durch den Vergleich mehrerer gespeicherter Protokolle lassen sich<br />
Lernfortschritte schnell und unkompliziert ablesen. Obwohl das Programm auf<br />
optische Effekte und Geräusche gänzlich verzichtet, hat es von Anfang an große<br />
Attraktivität für die Kinder meiner Gruppe.<br />
73
74<br />
Paula G. Althoff<br />
Gemeinsam mit meiner Kollegin aus der Nachbargruppe habe ich einen ‚Mathe-<br />
Treff‘ installiert. Phasenweise werden die Kinder eines Jahrgangs aus beiden<br />
Gruppen einmal wöchentlich zusammengefasst, um Unterrichtsinhalte (z. B. Multiplikation<br />
und Division) einzuführen oder zu vertiefen. Dies erscheint uns sinnvoll,<br />
da wir so manchmal wertvolle Zeit einsparen, die dann wieder für mehr Differenzierung<br />
zur Verfügung steht. Zudem können wir uns so bei Problemen besser<br />
über die Kinder austauschen.<br />
Auswirkungen der Förderung<br />
Es ist interessant zu beobachten, welche Fortschritte Lisa in meinem Unterricht<br />
macht. Knapp zwei Monate nach der Erstüberprüfung wird ihr zunehmendes<br />
Selbstvertrauen auch im Bereich Mathematik deutlich sichtbar. Die Förderung<br />
und die zusätzliche Aufmerksamkeit, die sie erfährt, tun ihr sichtlich gut. Sie ist<br />
sehr motiviert und fleißig, und sie zeigt deutliche Fortschritte.<br />
Bei der Unterscheidung von rechts und links beobachte ich Ende Dezember 2001<br />
noch Unsicherheiten. Insgesamt ist Lisa jedoch viel sicherer geworden. Um herauszufinden,<br />
ob sie wirklich Rechtshänderin ist, werfe ich ihr unvermittelt ein<br />
Wollknäuel zu. Sie fängt es mit beiden Händen auf. Ich zeige ihr, dass man so<br />
ein kleines Knäuel auch mit einer Hand fangen kann. Als ich das Knäuel noch<br />
einmal werfe, reagiert sie spontan und versucht es mit der rechten Hand zu fangen.<br />
Der Versuch geht knapp daneben. Ich bitte sie es noch einmal mit der anderen<br />
Hand zu probieren. Dieser Versuch misslingt eindeutig.<br />
Die Häufigkeit, mit der sie Ziffern verdreht und/oder ihre Position im Stellenwertsystem<br />
vertauscht, hat deutlich abgenommen. Wirklich sicher ist sie jedoch noch<br />
nicht.<br />
Additionsaufgaben im Zahlenraum bis 20 kann sie inzwischen ohne Rechenrahmen<br />
recht sicher lösen. Viele Aufgaben kennt sie jetzt auswendig.<br />
Bei der Subtraktion ist sie unsicherer als bei der Addition. In unseren ‚Mathe-<br />
Treffs‘ hatte ich, wie oben beschrieben, einen Schwerpunkt auf die Subtraktion<br />
gelegt, nicht nur für Lisa.<br />
Zwischendurch hat Lisa auch schlechte Tage, an denen nichts so richtig gelingen<br />
will. Wir stoßen beide an unsere Grenzen. Sie spürt, dass sie vor einer Hürde<br />
steht, die ihr unüberwindlich erscheint. Mir fehlen die Worte und neue Ideen für<br />
weitere Veranschaulichungen und Erklärungen. Zweimal ist Lisa in solchen Situationen<br />
in Tränen ausgebrochen. Ich habe sie dann jedes Mal in den Arm genommen<br />
und getröstet, dass sie das schon noch verstehen werde. Die Mathe-Sachen<br />
haben wir vom Tisch verbannt und Lisa hat sich anschließend Dingen zugewandt,<br />
die sie besonders gern macht, wie lesen, malen oder Geschichten schreiben.<br />
Am 16.1.2002 mache ich folgende Beobachtungen und dokumentiere sie in meinem<br />
Forschungstagebuch:<br />
Lisa brütet über der folgenden Aufgabe: __ + 4 = 58<br />
Ich fordere sie auf, laut zu denken. Leider tut sie dies nicht.<br />
Ihr 1. Lösungsversuch: 80 (Strategie richtig, jedoch von 85 ausgegangen<br />
und dann um 1 verzählt)<br />
Ich fordere sie auf, es noch einmal zu probieren.<br />
Ihr 2. Lösungsversuch: eine andere Zahl aus der 80er-Reihe, jedoch nicht<br />
die 81 (Diese Lösung kann ich nicht nachvollziehen.)<br />
Jetzt nehmen wir den Rechenrahmen zu Hilfe.<br />
„Welche Zahl willst du einstellen?“
Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />
„58“<br />
Sie stellt die 85 ein.<br />
„Zähl noch einmal laut, welche Zahl das ist.“<br />
„85“<br />
„Jetzt stell bitte die 58 ein.“<br />
Sie stellt die 55 ein.<br />
„Zähl noch einmal laut, welche Zahl das ist.“<br />
„55“<br />
„Was musst du tun?“<br />
„Noch 3 dazu“ Sie tut es.<br />
„Jetzt zeig mir die 4 Perlen, die vorher dazu gekommen sind. Welche Zahl<br />
muss an den Anfang der Aufgabe?“<br />
„54“ Sie trägt 54 ein, verdreht jedoch die 5.<br />
Auf meinen Hinweis korrigiert sie dies.<br />
Die folgenden 16 Aufgaben ähnlichen Typs soll sie allein mit Hilfe des Rechenrahmens<br />
lösen. Sie soll sich die Zahlen laut vorsprechen.<br />
Sie rechnet zügig und kommt insgesamt zu 14 richtigen Ergebnissen. Sie<br />
notiert sie richtig, ohne Fehler im Stellenwertsystem. Zwei Ziffern schreibt<br />
sie spiegelverkehrt. Sie freut sich sehr über dieses gute Ergebnis und ich<br />
tue es auch.<br />
Im Mai 2002 tauschen Bianca und ich uns noch einmal sehr ausführlich über Lisa<br />
aus. Wir stimmen darin überein, dass sie insgesamt große Fortschritte gemacht<br />
hat und halten dies in einem Protokoll fest, welches ich hier nur auszugsweise<br />
wiedergebe:<br />
Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 20:<br />
„[...] Inzwischen ist sie hier recht sicher. Den Rechenrahmen gebraucht sie<br />
nicht. Sie scheint die meisten der Aufgaben, die sie nicht auswendig weiß,<br />
schrittweise zu rechnen. Additionsaufgaben löst sie schneller und sicherer<br />
als Subtraktionsaufgaben.<br />
Analogieaufgaben (z. B. 7 – 5, 17 – 5) kann Lisa erkennen und nutzen [...].<br />
Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 100:<br />
Grundsätzlich ist sie sicherer, wenn sie die Aufgaben schriftlich vor sich hat<br />
[...].<br />
ZE + E: Ohne Zehnerüberschreitung kann sie Aufgaben dieses Typs auch als<br />
Ergänzungsaufgaben meistens richtig lösen. Muss der Zehner überschritten<br />
werden, steigt die Anzahl der Fehler [...].<br />
ZE ± Z: Auch bei diesen Aufgaben ist sie inzwischen sehr sicher [...].<br />
ZE ± ZE: Aufgaben ohne Zehnerüberschreitung kann sie auch ohne Anschauungshilfen<br />
oft richtig lösen, braucht dafür jedoch noch viel Zeit. Ist die<br />
Lösung eine Zehnerzahl, kommt sie oft zu falschen Ergebnissen. Muss der<br />
Zehner überschritten werden, ist sie noch sehr unsicher [...].<br />
Multiplikation und Division:<br />
Das Prinzip des 1 x 1 hat sie verstanden. Sie kann gestellte Multiplikationsaufgaben<br />
mit Hilfe des ‚Malwinkels‘ am Hunderterfeld darstellen, sowie dargestellte<br />
Aufgaben ablesen. Sie kann mit 0 und 1 multiplizieren und kennt<br />
die Aufgaben aus dem Einmaleins mit 2, 5 und 10 auswendig. Die entsprechenden<br />
Divisionsaufgaben kann sie ebenfalls sicher lösen [...].<br />
75
76<br />
Paula G. Althoff<br />
Besonderheiten:<br />
Lisa ist hoch motiviert und sehr fleißig. So konnte sie insgesamt sehr erfreuliche<br />
Fortschritte machen. Alles, was sie intensiv geübt hat, bewältigt<br />
sie sicher. Schwierigkeiten hat sie, wenn sie Gelerntes in neuen Zusammenhängen<br />
anwenden soll. Beispiel: Sie sollte Datumsangaben umwandeln.<br />
„1.Mai 2000“ sollte sie in „1.5.2000“ umwandeln. Für nur fünf Aufgaben<br />
dieses Typs benötigte sie trotz intensiver Hilfe und Erklärungen 60 Minuten.<br />
Auch in Zukunft sind diese Schwierigkeiten bei ihr zu erwarten [...].<br />
Künftige Förderschwerpunkte:<br />
[...] Ein Schwerpunkt sollte in der Erarbeitung sinnvoller Kopfrechenstrategien<br />
liegen.<br />
Folgende Aufgabentypen sollten besonders geübt werden:<br />
ZE + E mit Zehnerübergang<br />
Z + ZE insbesondere Subtraktion und Ergänzungsaufgaben<br />
ZE + ZE<br />
Erarbeitung der noch fehlenden Einmaleinsreihen [...].“<br />
Zweite Überprüfung<br />
Am 13.6.2002 wird Lisa zum zweiten Mal im IDM überprüft. Begleitet wird sie<br />
diesmal von Bianca. Auch in der Testsituation kann Lisa die von uns beobachteten<br />
Fortschritte bestätigen. Das Vorwärts- und Rückwärtszählen im Zahlenraum<br />
bis 100 bereitet Lisa keine Probleme. Im Zahlenraum bis 1000 fällt ihr das Vorwärtszählen<br />
schwer. Auf der Hundertertafel findet sie sich problemlos zurecht.<br />
Lisa schreibt alle ein- und zweistelligen Zahlen richtig und von links nach rechts<br />
auf. Vor dem Aufschreiben der zweistelligen Zahlen überlegt sie immer erst, in<br />
welcher Reihenfolge sie die Zahlen schreiben muss. Das Notieren von dreistelligen<br />
Zahlen fällt ihr schwer:<br />
Sie kann links und rechts bei sich und am Gegenüber unterscheiden, scheint dabei<br />
jedoch noch etwas unsicher zu sein.<br />
Die Zerlegungen der 10 und der 20 sind für Lisa auch ohne die visuelle Unterstützung<br />
von Händen leicht durchzuführen.<br />
Sie kann zweistellige Zahlen problemlos bis zur 100 ergänzen und alle Zahlen im<br />
Zahlenraum bis 50 verdoppeln.<br />
Aufgaben vom Typ ZE + ZE mit Zehnerübergang kann sie schrittweise im Kopf<br />
berechnen, benötigt jedoch noch viel Zeit.<br />
Die geübten Einmaleinsreihen kennt sie sicher, Aufgaben aus den übrigen Reihen<br />
kann sie sich über Nachbaraufgaben erschließen. Die Division wurde mit Lisa im<br />
Unterricht nur kurz thematisiert. Hier muss noch weiter geübt werden.<br />
Am Ende des Protokolls ist zu lesen:<br />
„Insgesamt: Ein sehr erfreuliches Ergebnis. Lisa ist nahezu unauffällig [...]. Es<br />
besteht kein aktueller Förderbedarf mehr. Lisa sollte aber weiter beobachtet<br />
werden.“
Lisas Probleme bei der Links-/Rechts-Unterscheidung<br />
Bericht zum Lernvorgang Sommer 2002<br />
Der Bericht am Ende des zweiten Schuljahres führt Lisa und ihren Eltern ihre positive<br />
Entwicklung noch einmal deutlich vor Augen:<br />
„Liebe Lisa,<br />
erinnerst du dich noch an deinen Schulstart vor drei Jahren? Damals warst du<br />
noch ganz klein und ängstlich, hattest oft Bauchweh und musstest öfter mal weinen.<br />
Unglaublich, wie du dich entwickelt hast! Das Bauchweh ist schon lange<br />
weg, weinen musst du nur noch, wenn du dir richtig wehgetan hast und insgesamt<br />
bist du viel mutiger und selbstbewusster geworden [...].<br />
Besonders betonen möchte ich noch deine sportlichen Leistungen. Du bewegst<br />
dich geschickt und kannst unglaublich schnell rennen. Das hat sogar unsere<br />
schnellen Jungen beeindruckt [...].<br />
Unsere Arbeitszeit hast du immer bereitwillig und sehr ausdauernd zum Lernen<br />
genutzt. Du hast viel geschafft und bist in allen Lernbereichen gut voran gekommen<br />
[...].<br />
Beim Rechnen hast du mit viel Ausdauer und Fleiß einen riesigen Sprung geschafft.<br />
Zahlendreher und spiegelverkehrte Ziffern waren lange Zeit ein großes Problem<br />
für dich. Du hast es nahezu abgeschafft. Ich muss schon lange suchen, um solche<br />
Fehler noch bei dir zu entdecken. Plus- und Minusaufgaben im Zahlenraum<br />
bis 20 kannst du auch ohne Rechenrahmen sicher lösen. Viele Aufgaben kennst<br />
du auswendig. Den Zehnerübergang bewältigst du durch schrittweises Rechnen.<br />
Prima, das geht inzwischen ja auch schneller als das Zählen.<br />
Auch im Hunderterraum bewegst du dich mit zunehmender Sicherheit. Bei Plusaufgaben<br />
bist du etwas schneller und sicherer als bei Minusaufgaben. Es ist noch<br />
gar nicht lange her, da waren Aufgaben wie „68 + 27 = __“ ein scheinbar unlösbares<br />
Problem für dich. Inzwischen kannst du solche Aufgaben auch ohne schriftliche<br />
Zwischenschritte mit zunehmender Schnelligkeit lösen. Dafür hast du ein<br />
dickes Lob verdient.<br />
Das Prinzip des Einmaleins hast du verstanden. Einige Einmaleinsreihen kennst<br />
du auswendig und kannst auch die entsprechenden Divisionsaufgaben sicher lösen.<br />
Mit ein bisschen Übung wirst du bald auch die übrigen Reihen sicher beherrschen.<br />
Dafür wirst du im kommenden Schuljahr noch genügend Zeit haben.<br />
Deine erworbenen Rechenfertigkeiten kannst du in kleinen Sachaufgaben anwenden.<br />
Das Tollste ist, dass du jetzt gerne rechnest. Du weißt ja, Mädchen müssen Mathe<br />
mögen, dann klappt es noch einmal so gut.<br />
Liebe Lisa, es war eine wunderschöne Zeit mit dir. Unsere gemeinsamen Anstrengungen<br />
haben sich wirklich gelohnt [...].“<br />
Lisas Entwicklung im Haus 2<br />
Im Sommer 2002 endet Lisas Zeit in der Eingangsstufe. Sie wird gemeinsam mit<br />
einigen Kindern ihrer Gruppe aus Haus 1 in einer altersgemischten Gruppe im<br />
Haus 2 aufgenommen. Ihre neue Gruppe umfasst die Jahrgänge 3,4 und 5 (siehe<br />
Glossar: Altersmischung). Durch Gespräche mit ihrer Betreuungslehrerin, ihrer<br />
Mathematiklehrerin und mit ihr selbst werde ich über ihre weitere Entwicklung<br />
auf dem Laufenden gehalten.<br />
Lisa ist freundlich und aufgeschlossen, jedoch immer noch etwas still. Sie erin-<br />
77
78<br />
Paula G. Althoff<br />
nert sich gern an ihre Zeit im Haus 1 zurück und geht jetzt bereitwillig in ihre<br />
neue Gruppe. Seit den Weihnachtsferien haben ihre neuen Lehrerinnen den Eindruck,<br />
dass sie dort inzwischen „richtig angekommen“ ist.<br />
Das Rechnen macht ihr viel Spaß, sie schätzt sich jedoch selbst als sehr langsam<br />
ein, sobald es um neue Lerninhalte geht. Dieser Eindruck wird von den Lehrerinnen<br />
so bestätigt. Sie hat das Gefühl, dass sie vieles ganz gut kann und dass einige<br />
Kinder in ihrer Lerngruppe weitaus größere Probleme mit dem Rechnen haben.<br />
Manchmal stört es sie, dass besonders einige Jungen nicht konzentriert bei<br />
der Sache sind und versuchen, den Unterricht zu stören. Inzwischen hat sie den<br />
Mut, diesen Jungen die Meinung zu sagen.<br />
Ihre Lehrerinnen schätzen Lisas Motivation und ihren Fleiß, mit dem sie ihr oft<br />
verzögertes Verständnis neuer Lerninhalte meistens ausgleichen kann. Sie vermuten,<br />
dass Lisa ohne die intensive Differenzierung und Förderung in der Eingangsstufe<br />
heute die größten Schwierigkeiten hätte und zu den ‚Sorgenkindern‘<br />
gezählt werden müsste.<br />
Ich freue mich sehr für Lisa, dass sie nicht zu den lernschwachen Kindern ihrer<br />
Gruppe gehört und hoffe, dass sie ihre positive Einstellung zur Mathematik und<br />
zum Lernen allgemein auch weiterhin bewahren kann.
Mircea Radu<br />
Einleitung 1<br />
Rechen- und Rechtschreibschwäche als<br />
personengebundene Anfälligkeit –<br />
Leichtfertige Diagnosen und ihre Folgen<br />
L. Wie viel ist zwanzig plus dreißig?<br />
C. (Schreibt „20 + 30“, überlegt kurz und<br />
fügt „= 50“ hinzu)<br />
L. Dreißig plus fünfzehn?<br />
C. (Schreibt „30 + 15“, überlegt kurz und<br />
fügt hinzu „= 45“)<br />
L. Siebzehn plus fünfzig?<br />
C. (Schreibt „17 + 50“, überlegt kurz und<br />
fügt „= 67“ hinzu)<br />
L. Wie hast du das herausgefunden?<br />
C. Im Kopf!<br />
L. Ich verstehe, aber wie?<br />
C. Gerechnet!!<br />
L. Und wie hast du gerechnet?<br />
C. (Ungeduldig) 17 + 50 eben.<br />
L. Ich würde gerne genauer verstehen, wie<br />
du auf 67 gekommen bist. Warum gerade<br />
67 und nicht, sagen wir, 73 oder 51?<br />
C. (Beginnt leise und undeutlich etwas vor<br />
sich hin zu murmeln; es hört sich an wie 7<br />
+ 5 = 12, 26; es werden auch andere Zahlen<br />
gesagt; das alles erfordert etwa eine<br />
halbe Minute.)<br />
L. Ich verstehe es immer noch nicht. Sag<br />
das bitte deutlicher, so dass ich das aufschreiben<br />
kann.<br />
C. 10 + 5 = 15 und 5 + 7 = 12 (Pause) 27.<br />
L. Vorhin hast du 67 hingeschrieben.<br />
C. 27.<br />
1 Auszug aus dem Protokoll der Erstüberprüfung im<br />
Schuljahr 2002/2003.<br />
„Schuhu: Guten Tag, mein Herr.<br />
Schuhologe: Guyau-uo.<br />
Schuhu: Ich bin der Schuhu, des Schneiders Sohn.<br />
Ich möchte zum Großherzog.<br />
Schuhologe: Hu, hu, ouaf auff!<br />
Schuhu: Ich kann bei Nacht sehen, alle Rätsel auflösen<br />
und gute Ratschläge erteilen; dabei esse ich<br />
nicht unmäßig und verlange keinen hohen Lohn.<br />
Schuhologe: Gusch.<br />
Schuhu: Wird man mich vorlassen?<br />
Schuhologe: Gusch. (Zu dem Wachposten): Das ist,<br />
sofern es überhaupt ein Schuhu ist, ein besonders<br />
dummer Schuhu. Kein Wort von seinem Gestammel<br />
ist mir verständlich.“<br />
Peter Hack, Der Schuhu und die fliegende Prinzessin<br />
L. 67 war aber richtig.<br />
C. (lustlos) ...<br />
L. (notiert in seinen Unterlagen ein Fragezeichen<br />
neben der Aufgabe 17 + 50). C.<br />
Warum schreibst du das?<br />
L. Ich möchte wissen, welche Aufgaben du<br />
lösen kannst und welche dir noch Schwierigkeiten<br />
bereiten.<br />
C. (Sichtlich unzufrieden mit diesem Vermerk<br />
erklärt sie sofort:) 10 + 50 ist 60 und<br />
60 + 7 = 67.<br />
L. Hast du vorhin so gerechnet?<br />
C. Ja!<br />
L. Warum hast du das nicht von Anfang an<br />
so erklärt?<br />
C. Ich dachte, es würde auch anders gehen.<br />
L. Gut. Rechnen wir weiter. Zehn plus<br />
neunzig?<br />
C. (sofort) 100.<br />
L. Fünfundzwanzig plus fünfundsiebzig?<br />
C. (sofort) 90.<br />
L. Sicher? Wie hast du gerechnet?<br />
C. 20 + 70 = 80 und ...<br />
L. (unterbricht) Wie viel ist zwei plus sieben?<br />
C. (sofort) 8.<br />
L. Sicher?<br />
C. (zählt leise) 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 (benutzt<br />
dabei die Finger); Neun! Ich weiß, ich<br />
weiß, 90.<br />
L. 90?<br />
C. Ja, 25 + 75 = 100.<br />
L. Wie viel ist 50 – 30?<br />
C. Minusaufgaben finde ich doof.<br />
79
80<br />
Mircea Radu<br />
Claudia besucht den dritten Jahrgang der Laborschule. Am Anfang des Schuljahres<br />
2002/2003 wechselte sie von der ‚Beige‘-Gruppe (Eingangsstufe im Haus 1)<br />
zur ‚Pink‘-Gruppe (altersgemischte Gruppe Stufe II). Sie hat nun eine neue Lehrerin<br />
und neue Klassenkameraden. Der Wechsel war für sie offenbar anstrengend.<br />
Die Lehrerin berichtet, dass Claudia während der ersten zwei Wochen oft<br />
weinte. „Sie wirkte verunsichert und lustlos.“ Danach hat sie sich gefangen und<br />
an die neuen Bedingungen gewöhnt. Das Weinen hörte auf und sie konnte rasch<br />
Freunde finden. Die Lehrerin betont, dass Claudia nun gut integriert sei und bereitwillig<br />
arbeite. In Mathematik aber würden sich einige Probleme zeigen: Claudia<br />
mache oft Fehler. Ihr würden viele elementare Erkenntnisse fehlen. Dennoch<br />
sei sie kein besonders gravierender Fall. In ihrer Gruppe befänden sich sogar<br />
zwei andere Kinder, die viel größere Schwierigkeiten als Claudia hätten. 1<br />
Wenn man den vorangehenden Dialog betrachtet, könnte man leicht zu dem<br />
Schluss gelangen, dass die Lehrerin Claudias Schwierigkeiten unterschätzt. Man<br />
muss aber dabei bedenken, dass die Laborschule oft mit viel ‚härteren‘ Fällen<br />
konfrontiert ist. Aus der Perspektive der Laborschule mögen also Claudias<br />
Schwierigkeiten nicht als besonders schwerwiegend erscheinen. Dennoch bleibt<br />
es befremdlich, dass ein neunjähriges Mädchen im dritten Schuljahr erhebliche<br />
Schwierigkeiten mit der Addition zweistelliger Zahlen hat und Subtraktionsaufgaben<br />
scheut.<br />
Die weitere Überprüfung zeigte, dass Claudia die Zahlzerlegungen der Zahlen im<br />
Bereich bis 10 nicht auswendig kennt. Sie benutzt zwar einfache Analogie-<br />
Strategien; zum Beispiel berechnet sie 20 + 30, indem sie zunächst 2 + 3 rechnet.<br />
Sie scheitert aber an der Tatsache, dass sie die einfachen Einspluseins-<br />
Aufgaben immer wieder falsch löst. Hinzu kommt, dass Claudia sogar für die Lösung<br />
solcher Einspluseins-Aufgaben keine besseren Wege kennt als das ‚Weiterzählen‘.<br />
Dieses ist aber ineffizient und führt zu häufigen ±1 - Fehlern.<br />
Im Falle der Subtraktion sind ihre Schwierigkeiten noch größer. Zunächst möchte<br />
sie die Minusaufgaben gar nicht rechnen. Alleine kann sie solche Aufgaben – wie<br />
z. B. 26 – 11 – nur am Rechenrahmen lösen. Dabei nutzt sie wieder zählende<br />
Strategien, die anfällig für Fehler sind. Es fällt auf, dass sie während der Arbeit<br />
zappelig ist und hastig arbeitet. Sie ist bemüht, die Aufgaben so schnell wie möglich<br />
zu lösen, das alles ‚hinter sich zu bringen‘. Sie mag es auch nicht, ihre Rechenwege<br />
zu beschreiben. Wenn sie manchmal einen Rechenweg angibt, dann<br />
geschieht dies hastig und ungenau. Wenn sie mit für sie schwierigen Aufgaben<br />
konfrontiert ist, wie im Falle der Minusaufgaben, gibt sie schnell auf „Ich kann‘s<br />
nicht! Sag du mir, wie ich‘s machen soll!“. Sie ist aber auch nicht bereit, meine<br />
Hilfestellungen hierzu genau zu verfolgen, wirkt etwas abweisend und manchmal<br />
unbeteiligt.<br />
Wenn man bedenkt, dass Claudia mich seit einem halben Jahr kennt, während<br />
dessen sie von mir zweimal wöchentlich für eine halbe Stunde Einzelförderung in<br />
Mathematik erhielt, kann man vermuten, dass bei ihr gravierende Rechenprobleme<br />
vorhanden sind. Vielleicht Dyskalkulie? Vielleicht zusätzlich Legasthenie?<br />
Vielleicht auch ADS? Auf alle Fälle Rechenschwäche, Konzentrationsprobleme,<br />
mangelnde Motivation. Ein durchaus gängiger Weg in solchen Situationen ist der<br />
Besuch bei PsychologInnen, um ihre Intelligenz und ihre Wahrnehmungsfähigkeit<br />
zu testen.<br />
1 Eine Überprüfung bestätigte diese Aussage.
Rechen- und Rechtschreibschwäche als personengebundene Anfälligkeit<br />
Als Claudia im Februar 2001 zur Laborschule wechselte, hatte sie gerade einen<br />
solchen Irrweg hinter sich. Der Verdacht liegt nahe, dass dieser Weg sie erst dahin<br />
gebracht hat, wo sie heute steht. Ihr Selbstvertrauen ist weitgehend zerschlagen<br />
und ihre Angst vor der Schule, vor neuen Umgebungen, aber insbesondere<br />
vor der Mathematik ist groß.<br />
Dieser Beitrag soll zum einen Claudias Odyssee erzählen, die sich über die verschiedenen<br />
Beurteilungen, Beratungen, Diagnosen und medikamentösen Behandlungen<br />
bis hin zur Empfehlung für die Sonderschule erstreckte, bis ihr<br />
schließlich durch die verzweifelte Mutter ein vorläufiges Ende gesetzt wurde: der<br />
Wechsel an die Laborschule.<br />
Zum anderen sollen die Grundzüge der von Februar 2002 bis zum Ende des zweiten<br />
Schuljahres durchgeführten Förderung erläutert und anhand einiger Beispiele<br />
exemplarisch illustriert werden. Darüber hinaus sollen die Erfolge, aber auch einige<br />
Misserfolge der bisher durchgeführten Förderung kurz umrissen werden.<br />
Die Vorgeschichte<br />
Der Zeitpunkt, an dem Claudias Probleme begannen oder zumindest deutlich<br />
wurden, lässt sich nicht genau bestimmen. Während des Kindergartens haben die<br />
ErzieherInnen nach Aussagen der Mutter keine besonderen Auffälligkeiten festgestellt.<br />
Claudia wirkte zu diesem Zeitpunkt wie jedes andere Kind ihres Alters<br />
fröhlich und verspielt. Ihre Mutter berichtet, dass der Schulbeginn ebenfalls ohne<br />
sichtbare Probleme verlaufen sei. Claudia schien damals gerne zur Schule zu gehen.<br />
Auch die ersten Schulmonate vermittelten Claudias Mutter den Eindruck,<br />
dass alles problemlos laufen würde. Genauere Angaben konnte sie nicht machen.<br />
Das am 4.7.01 – am Ende des ersten Schuljahres –, erstellte Zeugnis zeigt folgendes<br />
Bild: Unter dem Stichwort „Hinweise zum Arbeits- und Sozialverhalten“<br />
wird von „anfänglichen Schwierigkeiten“ gesprochen, welche aber allmählich überwunden<br />
worden seien. Der Zeugnisbericht benennt diese Schwierigkeiten<br />
nicht. Auf der positiven Seite wird festgehalten, dass Claudia freundlich gewesen<br />
und mit ihren Klassenkameraden gut ausgekommen sei. Ferner soll sie in allen<br />
Unterrichtsfächern bemüht gewesen sein mitzumachen. Ihre Hausaufgaben seien<br />
stets vollständig gewesen. Gleichzeitig wird kritisch festgehalten, dass Claudia<br />
etwas zurückhaltend gewesen sei und dass sie künftig mutiger sein könnte.<br />
Die Aussagen zu Claudias „Lernentwicklung und Leistungsstand“ halten Folgendes<br />
fest: Claudia würde „die meisten Buchstaben“ kennen. Sie könne auch „geübte<br />
Texte“ lesen und in Druckschrift verfasste Wörter und Sätze „fast fehlerfrei<br />
abschreiben“. Das Aufschreiben von Wörtern aus dem Gedächtnis bereite ihr einige<br />
Schwierigkeiten, da sie manchmal die Buchstaben „verwechsele“.<br />
Zur Mathematik findet man folgende Einschätzung: „Im Rechnen bist du sicherer<br />
geworden. So kannst du jetzt viele Plus- und Minusaufgaben im Zahlenraum bis<br />
20 richtig ausrechnen. Sowohl im mündlichen als auch im schriftlichen Bereich<br />
arbeitest du gewissenhaft mit. Insgesamt brauchst du beim Rechnen aber etwas<br />
mehr Zeit“.<br />
Hinter den wohlwollenden Formulierungen des Berichtes lassen sich aber doch<br />
einige Schwierigkeiten vermuten. Diese werden aber leider nirgendwo genau<br />
festgehalten und keine Aussage benennt gravierende Probleme. Claudias Eltern<br />
hatten zu diesem Zeitpunkt also keine Anhaltspunkte für die Vermutung, dass<br />
ihre Tochter mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert wäre.<br />
81
82<br />
Mircea Radu<br />
Die Situation änderte sich erst während der zweiten Klasse. Mitte Oktober 2001<br />
wird den Eltern ein etwas umfangreicherer Bericht zugeschickt. Darin findet man<br />
zum ersten Mal etwas deutlichere Worte, welche einige erhebliche Probleme benennen.<br />
Die größten Probleme werden im Bereich Rechtschreiben und Rechnen<br />
gesehen.<br />
So heißt es zur Rechtschreibung: „Es treten Buchstabenverwechslungen, Auslassungen,<br />
unvollständige Wortfragmente sowie falsche Laut-Buchstabenzuordungen<br />
auf. Dabei hat sie Mühe, Regeln anzuwenden. Kurze, altersgemäße Druckschrifttexte<br />
in Schreibschrift zu übertragen, gelingt ihr teilweise. Beim Aufschreiben<br />
von bekannten, geübten Texten nach Diktat unterlaufen ihr noch viele Fehler.“<br />
Zur Mathematik wird Folgendes festgehalten: „Beim Zerlegen der Zahlen in Zehner<br />
und Einer so wie beim Lesen der Zahlen ist sie noch nicht sicher. Beim Subtrahieren<br />
von Zehner- und Einerzahlen hat sie ohne Anschauungshilfen noch<br />
Schwierigkeiten. Zweistellige Zahlen addiert sie noch fehlerhaft. Insgesamt<br />
braucht sie zum Rechnen einer Aufgabe viel Zeit, Anschauungsmaterial bzw. Hilfe.“<br />
Obwohl Claudias Mutter bemüht ist, ihrer Tochter zu helfen, werden kaum nennenswerte<br />
Fortschritte sichtbar. Die Lehrerin sieht eine große Diskrepanz zwischen<br />
Claudias Leistungen und dem ihrer Meinung nach für Kinder ihres Alters<br />
normalen Leistungsniveau. Sie empfiehlt deshalb eine Versetzung der Schülerin<br />
auf eine Sonderschule.<br />
Anfang Dezember 2001 findet eine Überprüfung von Claudia durch einen Kinderarzt<br />
statt. Der von dem Arzt angefertigte Bericht enthält eine in zehn Zeilen verfasste<br />
Diagnose. Es wird von „deutlichen Hinweisen auf Schwächen in der Raumlage,<br />
Wahrnehmung und der Formkonstanzbeachtung“ und von weiteren „sensomotorischen<br />
Problemen“ gesprochen. Genauere Angaben hierzu sucht man in<br />
diesem Bericht vergebens.<br />
Darüber hinaus werden Claudias schwache Leistungen im Bereich Lesen und<br />
Rechtschreiben durch verschiedene Tests bestätigt (z. B. durch den „Züricher<br />
Lesetest“). Diese werden aber auf ihre „Wahrnehmungsfehler“ zurückgeführt.<br />
Abschließend wird festgehalten, dass es sich in Claudias Fall „wahrscheinlich um<br />
eine Lese-Rechtschreib-Störung“, um eine „Aufmerksamkeits-Defizit-Störung“<br />
und um „sensomotorisch-perzeptive“ Probleme handele. Es wird ein Anspruch auf<br />
Maßnahmen nach §35a SGB VIII (siehe Glossar KJGH) festgestellt. Empfohlen<br />
werden Ergotherapie, eine „lerntherapeutische Behandlung“ und schließlich eine<br />
Behandlung mit den umstrittenen Stimulanzien Ritalin und Medikinet. 2 Zur Mathematik<br />
gibt es keine Angaben.<br />
Mitte Januar 2002 wird von der Schule ein Antrag auf Feststellung des sonderpädagogischen<br />
Förderbedarfs gestellt. Claudias Mutter ist von diesem Beschluss<br />
2 Zu verschiedenen Standpunkten hierzu vgl. z. B. http://www.ads-infopool.de/ads.htm und http://<br />
www.forum-bioethik.de/Ritalin.html. Es ist interessant hervorzuheben, dass Claudia bereits während der<br />
ärztlichen Untersuchung, also bevor ein endgültiger Befund feststand, solche Mittel verabreicht wurden. In<br />
der fachärztlichen Stellungnahme liest man Folgendes: „Hinzu kommt eine Aufmerksamkeit-Defizit-Störung;<br />
so zeigte ein Versuch mit Stimulanzien positive Wirkung“. Zu der Art und Weise wie dieses „Defizit“ festgestellt<br />
wurde, gibt es keine Angaben. Es ist durchaus möglich, diesen Satz auch dahingehend zu interpretieren,<br />
dass die angeblich positive Wirkung der „Stimulanzien“ als Begründung für das Vorhandensein der ADS<br />
verwendet wird. Die Ungenauigkeit dieser fachärztlichen Stellungnahme ist kaum zu überbieten.
Rechen- und Rechtschreibschwäche als personengebundene Anfälligkeit<br />
beunruhigt. Obwohl sie sich um fünf Kinder kümmern muss – Claudia hat noch<br />
jüngere Geschwister –, versucht sie, ihrer Tochter beim Lernen zu helfen und<br />
sucht gleichzeitig nach einer Alternative zur Sonderschule. Zufällig erfährt sie<br />
von der Existenz der Laborschule und beschließt sofort, Claudia noch während<br />
des zweiten Schuljahres umzumelden. Dies gelingt und Claudia wird im Februar<br />
2002 an der Laborschule aufgenommen.<br />
Ihre neue Lehrerin kann zwar die schwachen Leistungen im Bereich Lesen,<br />
Rechtschreiben und Mathematik bestätigen, doch sieht sie keine Anzeichen von<br />
schwerwiegenden Problemen, welche eine Versetzung auf eine Sonderschule erforderlich<br />
machen würden. Sie stellt allerdings fest, dass Claudia mittlerweile ein<br />
unsicheres, verängstigtes Kind ist, welches eine besondere Aufmerksamkeit<br />
braucht. Die Behandlung mit Stimulanzien wird abgebrochen. 3 Die unmittelbar<br />
nach der ärztlichen Beratung begonnene Ergotherapie wird jedoch fortgeführt.<br />
Kurz danach wurde Claudia in unser Förderprogramm aufgenommen.<br />
Die Förderung<br />
Eine erste mathematikdidaktische Überprüfung verdeutlicht, dass Claudia den<br />
Zahlenraum bis Hundert gut kennt. Sie kann vor- und rückwärts zählen, sie kann<br />
auch den Vorgänger und Nachfolger einer Zahl korrekt benennen. Sie ist ebenfalls<br />
fähig, zweistellige Zahlen richtig und von links nach rechts zu schreiben.<br />
Zahlendreher treten nur vereinzelt auf. Ihr gelingt es auch, die additiven Zahlzerlegungen<br />
der Zahl 10 mit und ohne Anschauungsmaterial zu benennen. Allerdings<br />
kennt sie diese nicht auswendig und ermittelt sie in der Regel zählend. Unter<br />
diesen Umständen überrascht es nicht, dass Claudia die Zahlzerlegungen fast<br />
nie als Hilfsmittel für die Lösung von gegebenen Rechenaufgaben verwendet. Die<br />
Rechengeschichte: „Du hast 3 Murmeln. Wie viele Murmeln muss ich dir schenken,<br />
damit du 10 Murmeln hast?“ kann auf die Zahlzerlegung 10 = 7 + 3, welche<br />
Claudia vertraut ist, zurückgeführt werden. Claudia jedoch löst diese Aufgabe<br />
indem sie laut „4, 5, 6, 7, 8, 9, 10“ zählt und dabei für jede Zahl einen Finger<br />
nach oben fährt. Anschließend schaut sie sich die Finger an und erkennt auf einen<br />
Blick die dargestellte Zahl. In diesem Fall handelte es sich um die Zahl 7.<br />
Auch die additiven Zahlzerlegungen der Zahl 20 meistert sie fast fehlerfrei, allerdings<br />
benutzt sie hier ebenfalls zählende Strategien und benötigt mehr Zeit. Analogien<br />
erkennt und verwendet sie nur teilweise (z. B. 3 + 7 = 10, also ist 30 + 70<br />
= 100). Das geschieht nur sporadisch und nur in bestimmten Fällen. 4<br />
Claudia kann gut mit dem Rechenrahmen umgehen. Vor allem kann sie die<br />
Struktur des Materials benutzen, um eine am Rechenrahmen dargestellte Zahl<br />
leicht zu erkennen (quasi-simultane Zahlauffassung). Ihr Operationsverständnis<br />
demonstriert sie durch Bilder – zur Aufgabe 3 × 2 malt sie 2 Geschenke, 2 Bonbons<br />
und 2 Äpfel – und durch Rechengeschichten – zur Aufgabe 3 + 2 erklärt sie:<br />
„Ich nehme 3 Äpfel und meine Freundin schenkt mir noch 2, dann habe ich 5 Äpfel“.<br />
3 Die Entscheidung dazu wurde von Claudias Familie getroffen nach einer Absprache mit Claudias neuen Lehrerin.<br />
4 Die erste Überprüfung zeigte, dass Claudia keine Schwierigkeiten hat, sich eine vierstellige ‚Telefonnummer‘<br />
zu merken und über längere Zeit im Gedächtnis zu behalten. Das zeigt, dass Claudias Schwierigkeiten sich<br />
die Zahlzerlegungen zu merken, nicht ohne weiteres auf ein schwaches Gedächtnis zurückführbar sind.<br />
83
84<br />
Mircea Radu<br />
Es werden vor allem zwei Problemfelder deutlich. Erstens verwendet Claudia fast<br />
ausschließlich zählende Strategien, sowohl bei der Addition als auch bei der Subtraktion<br />
(Weiterzählen oder Zurückzählen). Sogar die Zahlzerlegungen der Zahlen<br />
10 und 20 findet sie auf diesem Weg. Ihre Fähigkeit, solche Zerlegungen zählend<br />
zu finden, ist nicht ‚anschlussfähig‘, sie kann ihr bei der Lösung anderer<br />
Aufgaben in der Regel nicht behilflich sein. Um 18 + 7 mit Hilfe der Zahlzerlegungen<br />
herauszufinden, muss man simultan mit mehreren Zahlzerlegungen operieren.<br />
Beispielsweise kann man die Zerlegungen 18 + 2 = 20 und 2 + 5 = 7 heranziehen.<br />
Diese Zerlegungen sind nicht unabhängig, sondern die erste bedingt die<br />
zweite. Das wird in der folgenden Schreibweise deutlicher: 18 + 7 = 18 + (2 + 5)<br />
= (18 + 2) + 5 = 20 + 5. Wenn man aber wie Claudia von der Strategie des ‚Weiterzählens‘<br />
beherrscht wird und die verschiedenen Zahlzerlegungen im Zahlenraum<br />
bis 10 nicht auswendig kennt, ist es schwierig zu erkennen, dass hier genau<br />
die Zerlegung 7 = 2 + 5 angebracht ist. 5 Claudia löst diese Aufgabe zählend<br />
(„19, 20, 21, 22, 23, 24, 25“) und begleitet dies durch Fingerbewegungen.<br />
Obwohl also Claudia die Zahlzerlegungen auf Nachfrage generieren kann und<br />
obwohl sie Analogien ab und zu nutzt, kann man in ihrem Fall wohl von einem<br />
verfestigten zählenden Rechnen sprechen. Sie braucht deshalb oft längere Zeit,<br />
um das Ergebnis einer Rechenaufgabe herauszufinden. Es führt auch zu häufigen<br />
±1- und ±10-Fehlern, vor allem dann, wenn sie ohne Material rechnet.<br />
Darüber hinaus hat sie Probleme mit der Links-Rechts-Unterscheidung am Gegenüber,<br />
was zu den typischen Symptomen von rechenschwachen Schülern gehört.<br />
Allerdings führt dies in ihrem Fall nicht zu Zahlendrehern oder zu Schwierigkeiten<br />
in der Berücksichtung der Reihenfolge der Zeichen (Zahlzeichen und<br />
5 Vgl. auch Moog/Schulz 1999, S. 7
Rechen- und Rechtschreibschwäche als personengebundene Anfälligkeit<br />
Operationszeichen) in gegebenen Aufgaben. Es wurde hierzu keine besondere<br />
Förderung durchgeführt.<br />
Wichtiger aber als diese inhaltlichen Schwierigkeiten ist Claudias generelle Verunsicherung.<br />
Die erste Förderstunde begann mit Tränen. Claudia hatte sich bereit<br />
erklärt, an einer Förderung teilzunehmen. Als ich jedoch auftauchte und ihr als<br />
künftiger Förderlehrer vorgestellt wurde, fing sie an zu weinen. Es gelang ihrer<br />
Lehrerin schließlich, sie zu besänftigen, und wir vereinbarten, dass die Förderung<br />
sofort abgebrochen werden würde, sobald sie dieses wünschen würde. Das<br />
schien sie einigermaßen zu beruhigen und die Arbeit konnte aufgenommen werden.<br />
Sie erhielt durchschnittlich zwei Mal wöchentlich je eine halbe Stunde Einzelförderung.<br />
Die Förderung fand in unmittelbarer Nähe ihrer Gruppe statt, jedoch etwas<br />
abgesondert, so dass wir uns ungehindert unterhalten konnten, ohne dadurch<br />
die anderen MitschülerInnen zu stören und ohne von ihnen gestört zu werden.<br />
Die Arbeit verlief jedoch mühsam. Der Hauptgrund lag darin, dass trotz<br />
wiederholter Erklärungen und trotz meiner behutsamen Umgangsweise Claudia<br />
wiederholt eine Verhinderungsstrategie anwendete. So versuchte sie oft, die Arbeit<br />
zu verzögern, indem sie verschiedene für die Förderarbeit belanglose Geschichten<br />
erzählte. Einige Male erklärte sie, sie würde sich am liebsten mit anderen<br />
Sachen weiter beschäftigen (in der Regel malen, lesen oder schreiben).<br />
Eine andere Verhinderungsstrategie bestand darin, immer wieder die von mir<br />
geplanten Übungen abzulehnen. Manchmal sagte sie, dass sie eigentlich in ihrem<br />
Rechenbuch weiter rechnen wolle. Zuweilen willigte ich ein, es stellte sich jedoch<br />
oft heraus, dass sie in ihrem Rechenbuch selektiv arbeitete und ihr schwierig erscheinende<br />
Aufgaben – vor allem solche, die zahlenstrahlartige Darstellungen<br />
enthielten – ablehnte.<br />
Nachdem wir etwas länger zusammen gearbeitet hatten und sie mittlerweile bestimmte<br />
Aufgabenformate kannte, kam es auch vor, dass sie nur diese ihr nun<br />
bekannten Aufgabentypen lösen wollte. Manchmal aber lehnte sie es sogar ab,<br />
die ihr vertrauten Zahlzerlegungsübungen zu bearbeiten, so dass in dieser Situation<br />
eine Weiterarbeit zwecks Verinnerlichung an diesen Aufgaben unmöglich<br />
wurde. Viel Zeit ging mit Verhandlungen verloren und es war unter diesen Umständen<br />
kaum möglich, systematisch zu arbeiten.<br />
Claudia wirkte auf mich sehr verunsichert, bemüht, ihr Gesicht zu wahren, bemüht,<br />
weitere unangenehme Erfahrungen zu vermeiden, tapfer sich wehrend gegen<br />
eine ihr fremd erscheinende Schulwelt, deren Sinn sie nicht erfassen konnte<br />
und von welcher sie als unfähig abgestempelt wurde. Das zeigte sich z. B. an<br />
ihrer Reaktion auf die Frage „Wie hast du gerechnet?“. Sie sperrte sich jedesmal<br />
gegen diese Frage. Egal ob die Aufgabe einfach oder schwer war, egal ob sie sie<br />
richtig oder falsch gelöst hatte, wehrte sie sich lange Zeit dagegen ihre, Rechenwege<br />
zu beschreiben.<br />
Angesichts dieser ‚Blockade‘-Haltung wurde Claudia wiederholt gefragt, ob sie<br />
bereit wäre, weiter zu machen und ob ihr die Arbeit vielleicht doch etwas Spaß<br />
machen würde. Sie erklärte jedesmal, dass sie unbedingt weiter arbeiten wolle.<br />
Sie behauptete auch, die Arbeit meistens interessant zu finden. Wenn ab und zu<br />
wegen Überschneidungen von Terminen eine Förderstunde ausgesetzt werden<br />
musste, beschwerte sie sich. Nach den ersten drei Förderstunden verwandelte sie<br />
ihre ursprüngliche ‚Blockade‘-Haltung in ein Verhandlungsspiel: Zu Beginn jeder<br />
85
86<br />
Mircea Radu<br />
Stunde versuchte sie, die Inhalte und Aufgabenformate der Förderstunde zu bestimmen<br />
oder zumindest zu beeinflussen.<br />
Nach zwei Monaten, als wir uns doch etwas aneinander gewöhnt hatten, gab es<br />
auch Situationen, in denen sie einwilligte, ihr schwierig erscheinende Aufgaben<br />
zu lösen. Jedoch versuchte sie, diese Aufgaben nicht immer rational zu bewältigen,<br />
sondern oft durch ein willkürliches Ratespiel.<br />
Die meisten dieser genannten Problemfelder tauchten bereits während der ersten<br />
Förderstunden auf. Angesichts dessen versuchte ich, folgende Strategie anzuwenden.<br />
Zum einem sollte die von unserem Projekt vertretene Förderkonzeption<br />
so weit wie möglich eingesetzt werden. In Ihrem Fall bestand das vor allem in<br />
Folgendem: Übungen für eine Verinnerlichung der Zahlzerlegungen im Zahlbereich<br />
Null-Zwanzig; Übungen zur systematischen Anwendung dieser Zerlegungen<br />
bei der Lösung von anderen Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum<br />
bis Hundert. Hierbei ging es auch um die Entwicklung von effektiven Rechenstrategien,<br />
die die dezimale Struktur des Zahlenraums vorteilhaft nutzen. Als Grundlage<br />
dafür sollten vor allem der Rechenrahmen, das Hunderterfeld und die Hundertertafel<br />
dienen. 6 Ein weiterer Aspekt der Förderung bestand darin, während<br />
der letzten Förderstunden im zweiten Schuljahr eine systematische Einführung in<br />
die Multiplikation zu geben.<br />
Zum anderen aber sollte dieses behutsam angegangen werden, denn angesichts<br />
von Claudias Verunsicherung war es ein zentrales Ziel der Förderung, ihr Selbstbewusstsein<br />
zu stärken. Um das zu gewährleisten, sollten überwiegend Aufgaben<br />
und Aufgabenformate verwendet werden, die ihr vertraut waren und mit denen<br />
sie gut umgehen konnte. Es sollten nur dann ungewohnte Aufgaben gelöst werden,<br />
wenn sie diese interessant finden würde.<br />
Im Ergebnis konnten die inhaltlichen Ziele nur teilweise und mit vielen Unterbrechungen<br />
verfolgt werden. Das führte unter anderem dazu, dass es Claudia nicht<br />
gelang, die Zahlzerlegungen hinreichend und ohne Zuhilfenahme des Weiterzählens<br />
zu verinnerlichen. Sie lernte zwar die Funktion dieser Zerlegungen sowie alle<br />
additiven Zahlzerlegungen einer Zahl im Zahlbereich bis 20 systematisch zu erzeugen.<br />
Sie schaffte es jedoch nicht, diese auswendig zu lernen. Auch verwendete<br />
sie weiterhin zählende Strategien, um die Zerlegungen zu generieren. Ein<br />
Grund für die Beharrlichkeit dieser Rechenstrategien war vielleicht auch die Tatsache,<br />
die sich erst später heraus stellte, dass sie immer wieder mit ihrer Mutter<br />
zusammen übte, die zählendes Rechnen als unproblematisch ansah. 7<br />
6 Vgl. dazu auch Schipper 2002 und Lorenz/Radatz 1993<br />
7 Hier tritt ein nicht unübliches Problem der Förderarbeit in Erscheinung: Der Konflikt zwischen gegensätzlichen<br />
Rechenstrategien. Claudias Mutter betrachtet ‚Weiterzählen‘ und ‚Zurückzählen‘ als unproblematisch,<br />
solange diese Strategien zum erwünschten Ergebnis führen. Ihre Haltung dazu wurde nicht von Anfang an<br />
deutlich. Es kam fast zufällig heraus, als sie in einem Gespräch spontan Claudias Rechenweg zu der Aufgabe<br />
28 + 14 schilderte. Aus Sicht der Förderung sollen gerade solche Rechenstrategien überwunden werden und<br />
durch allgemeinere ersetzt werden. Es ist aber nicht immer leicht, den Eltern zu verdeutlichen, warum bestimmte<br />
Rechenstrategien, welche sowohl ihre Kinder als auch sie selbst leicht anwenden können, ungünstig<br />
sind. Vor allem dann, wenn ein Kind sogar für die Zahlzerlegungen der Zahlen im Bereich bis Zehn Material<br />
braucht, scheinen ‚Weiterzählen‘ und ‚Zurückzählen‘ einfache und natürliche Wege mit den Rechenaufgaben<br />
fertig zu werden. Es ist deshalb nicht immer einfach, die Eltern davon zu überzeugen, diese Rechenstrategien<br />
nicht weiter zu unterstützen. Die alternativen Rechentechniken, welche zu einer Ablösung vom verfestigten<br />
zählenden Rechnen führen können, sind aufwändiger und erfordern eine didaktische Kompetenz, welche<br />
die Eltern in der Regel nicht haben. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie sich diese<br />
leicht aneignen könnten. In Claudias Fall vereinbarten wir, dass die Rechenarbeit vollständig der Förderung<br />
überlassen werden soll.
Rechen- und Rechtschreibschwäche als personengebundene Anfälligkeit<br />
Claudia lernte allmählich, Analogieaufgaben zu verwenden, was sie mit zunehmendem<br />
Erfolg tat. Obwohl die von ihr ausgesuchten Analogieaufgaben korrekt<br />
waren, blieb das Problem jedoch, dass sie die einfachen Einspluseins-Aufgaben<br />
nicht genügend verinnerlicht hatte bzw. immer wieder zählend rechnen musste.<br />
So scheiterte sie noch am Anfang der dritten Klasse an Aufgaben wie 25 + 75 =<br />
?, weil sie 20 + 70 auf 2 + 7 zurückführte, dann aber das Ergebnis der letzten<br />
Aufgabe durch Raten als 8 angab (siehe oben). Spontan versuchte sie weiterhin,<br />
diesen Fehler durch zählendes Rechnen zu beheben.<br />
Allerdings zeigte die Überprüfung im Herbst 2002, dass sie auch andere Rechenstrategien<br />
benutzen konnte, jedoch nur unter Verwendung von Material. Bei der<br />
Überprüfung am Anfang der dritten Klasse rechnete sie z. B. 37 + 9 wohl mental<br />
wie folgt: (37 + 3) + 6. Diese Rechenstrategie wendete sie aber erst nach meinem<br />
ausdrücklichen Hinweis an, um das Zählen zu vermeiden. Das wiederum<br />
funktionierte nur, solange der Rechenrahmen für sie in Sichtweite war. (Sie<br />
brauchte ihn nicht zu berühren, es reichte, wenn sie sich den Rahmen anschaute,<br />
um daran die Zerlegungen mit den Augen festzuhalten).<br />
Obgleich sie im rechnerischen Bereich nur langsam Fortschritte machte, gab es<br />
andere durchaus wichtige Erfolge. Zum einem gewann sie etwas Mut. Nach den<br />
ersten zwei Monaten der Förderung überraschte sie ihre Lehrerin, indem sie öfter<br />
von sich aus fragte, ob sie nicht rechnen könne, was am Anfang nicht der Fall<br />
gewesen war. Manchmal überraschte sie auch mich, indem sie ab und zu kreative<br />
Strategien vorschlug (siehe unten) oder indem sie, gegen Ende des zweiten<br />
Schuljahres, aufhörte, ständig zu fragen, ob die halbe Stunde nicht bereits vorbei<br />
sei. Sie hatte es ganz im Gegenteil mit der Zeit geschafft, Ausdauer zu entwickeln.<br />
Es kam auch vor, dass sie mich über eine Stunde festhielt und immer<br />
mehr Übungen forderte. Meines Erachtens ist dies auch ein wichtiger Hinweis<br />
darauf, dass Claudia nach und nach ein Gefühl der Beherrschung von bestimmten<br />
mathematischen Aufgaben entwickelte, welches sie dann für sich selbst bestätigt<br />
wissen wollte. Als wir während der letzten Förderstunden eines Computer-<br />
Lernprogramms einige Aufgaben zur Multiplikation lösen wollten, arbeitete sie<br />
mit Begeisterung, eifrig und sehr konzentriert. Die meisten Aufgaben konnte sie<br />
korrekt lösen. Als ich ihr ab und zu einiges zur Bedienung des Computerprogramms<br />
erklären wollte, schubste sie mich zur Seite und sagte mit Nachdruck:<br />
„Ich mach das schon selbst!“<br />
Ein Beispiel: Die Hälfte von 76.<br />
Eine Klasse von Aufgaben, die Kindern mit Rechnschwäche dabei helfen können,<br />
den Zahlenraum operativ zu strukturieren, sind das Verdoppeln und das Halbieren<br />
einer Zahl. 8 Um Claudias Verständnis des Halbierens zu fördern, habe ich ihr<br />
während einer Förderstunde folgende Aufgabe vorgeschlagen. Sie erhielt eine<br />
große Menge kleiner Holzwürfel (es waren 76). Ich forderte sie auf, die Hälfte<br />
dieser Menge herauszufinden. Erst zählte sie die Würfel, dieses jedoch half ihr<br />
nicht weiter, da sie keinen Weg sah, die Hälfte rechnerisch zu bestimmen. Sie<br />
schlug vor, dieses durch Schätzen zu tun. Ich lobte ihre Idee, beharrte aber darauf,<br />
dass sie einen Weg suchen sollte, die Aufgabe genau zu lösen.<br />
8 Es muss hervorgehoben werden, dass es mir dabei nicht um ein bloß mechanisches ‚deklaratives‘ Wissen von<br />
arithmetischen Fakten geht. Vielmehr geht es hier um die Entwicklung von Verdopplungs- und Halbierungsschemata,<br />
welche die Handlungsebene mit der bildhaften Darstellungsebene und der symbolischen rechnerischen<br />
Ebene verbindet.<br />
87
88<br />
Mircea Radu<br />
Ihr erster Vorschlag hierzu überraschte mich. Sie nahm je zwei Würfel und bildete<br />
Paare, die sie über den Tisch verteilte. Ich fragte sie, wo die Hälfte zu sehen<br />
sei und ob sie die passende Zahl nennen könne. Als sie mir ihre Lösung nicht genauer<br />
erläutern konnte, schlug ich ihr vor, eine andere Lösung zu suchen. Nach<br />
einer Weile fand sie den folgenden Weg. Sie bildete lauter Viererketten, welche<br />
sie nebeneinander stellte. Mit der Viererkette als Maßeinheit bildete sie zwei identische<br />
4 x 9-Rechtecke. Dann verteilte sie die übrig gebliebenen Würfel und<br />
konnte durch schrittweises Zählen (4, 8, 12 usw.), die passende Zahl dazu nennen.<br />
Auf meine Anregung eine weitere Lösung zu finden, antwortete sie, sie könne<br />
eine Pyramide bauen. Sie legte dann das folgende Muster: 9<br />
Sie konnte die Symmetrie des Musters benutzen, um die Aufgabe zu lösen. Diese<br />
schöne geometrische Lösung überraschte mich. Da es die erste während der Förderung<br />
gestellte Aufgabe dieser Art war, gehe ich davon aus, dass Claudia ihre<br />
Lösungsansätze spontan entwickelt hat. Was bei der letzten Lösung vor allem<br />
verblüfft, ist ihre Aussage: „Ich könnte eine Pyramide bauen.“ Diese ist ein deutlicher<br />
Hinweis dafür, dass diese letzte Lösung von einer gezielten, mental erzeugten<br />
Strategie ausging. 10 Für ein „legasthenisches, rechenschwaches, von<br />
ADS geplagtes Kind, welches auch noch mit erheblichen Wahrnehmungsproblemen<br />
zu kämpfen hat,“ ist das keine so schlechte Lösung. Rückblickend lässt sich<br />
sogar ihre erste Lösung, die darin bestand, die Menge der Würfel in Paare zu teilen,<br />
vielleicht doch als sinnvoll betrachten. Diese Zerlegung realisiert eine Strukturierung<br />
der Menge, die eine Halbierung beinhaltet: Die Anzahl der gebildeten<br />
Paare ist dann die Hälfte. Der einzige Nachteil dieser Lösung besteht darin, dass<br />
durch die willkürliche Verteilung dieser Paare auf dem Tisch deren Anzahl nur<br />
zählend ermittelt werden kann.<br />
Weitere Herausforderungen<br />
Die am Ende des zweiten Schuljahres von der Laborschule erstellte Beurteilung<br />
betont Claudias große Fortschritte bezüglich ihres Selbstbewusstseins, ihrer Fähigkeit<br />
selbstständig zu arbeiten und ihrer Bereitschaft, neue Aufgaben in Angriff<br />
zu nehmen. Hinsichtlich der Mathematik wird unter anderem hervorgehoben:<br />
9 Was mir vorschwebte, war die banale Lösung, die Würfel nach der Regel „Einer dir, einer mir“ zu verteilen.<br />
10 Claudia baute ihre Pyramide nach und nach von links nach rechts. Zuerst legte sie den Würfel am linken<br />
Unterrand. Dann legte sie die folgenden zwei und erzeugte so die erste ‚Stufe‘ ihrer Konstruktion usw. Sie<br />
baute so schrittweise immer höhere Stufen, bis sie einschätzte, ungefähr die Hälfte der Würfel benutzt zu<br />
haben. Danach begann sie die Stufen Schritt für Schritt zu verkleinern. Am Ende blieben ihr 4 Würfeln übrig,<br />
welche sie an die Spitze der Konstruktion stellte.
Rechen- und Rechtschreibschwäche als personengebundene Anfälligkeit<br />
„Ergänzungsaufgaben und Analogiebildungen verstehst Du, wenn wir sie dir erklären.<br />
Du vergisst sie, wenn Du sie am nächsten Tag wieder anwenden sollst.“<br />
Obwohl Claudia bis zum Jahresende viel gerechnet hatte, konnte zu diesem Zeitpunkt<br />
noch nicht von einem Durchbruch bezüglich der Beseitigung des zählenden<br />
Rechnens und der systematischen Entwicklung von zuverlässigen mentalen Rechenstrategien<br />
für den Umgang mit den Rechenaufgaben im Zahlenraum bis 100<br />
gesprochen werden. Was allerdings erreicht werden konnte, ist eine bedeutende<br />
Milderung ihrer Angst vor der Mathematik. Sie war nun zunehmend bereit, sich<br />
auf unbekannte oder ihr zunächst schwierig erscheinende Aufgaben einzulassen,<br />
sich mit diesen dann konzentriert und mit Ausdauer zu beschäftigen. Schließlich<br />
schaffte sie es, ihre ‚Phobie‘ gegenüber der Frage „Wie hast du gerechnet?“ zu<br />
überwinden. Sie lernte diese als eine normale Aufgabe in ihre Arbeit zu integrieren<br />
und oft – wenn auch nicht immer – klar zu beantworten.<br />
Am Ende des zweiten Schuljahres wurde sie in die nächste Stufe versetzt. Die zu<br />
Anfang des dritten Schuljahres durchgeführte Überprüfung, von der ein Teil zu<br />
Beginn dieses Aufsatzes wiedergegeben wurde, suggerierte in einigen Punkten –<br />
wie z. B. in der Behandlung der „Wie hast du gerechnet“ – Frage – einen Rückfall<br />
in die vor der Förderung üblichen Arbeitsmuster. Die unmittelbar darauf folgenden<br />
Förderstunden verdeutlichten jedoch, dass diese Befürchtung unbegründet<br />
war. Claudia zeigte jedesmal große Bereitschaft mitzuarbeiten, sie versuchte kein<br />
einziges Mal, Verhinderungsstrategien anzuwenden und konnte konzentriert<br />
sechzig Minuten lang arbeiten. Obwohl zählende Strategien für sie immer noch<br />
am sichersten erschienen, gelang es ihr aber zunehmend, wenn sie darauf hingewiesen<br />
wurde, auch andere Rechenstrategien anzuwenden (z. B. durch Zuhilfenahme<br />
von Verdopplung – so würde 5 + 9 als 5 + 5 + 4 gelöst – oder durch<br />
Zählen in Schritten). Claudia entwickelte zudem ein gutes Verständnis der Multiplikation.<br />
Man könnte sogar sagen, dass es ihr leichter fiel, Multiplikationsaufgaben<br />
zu lösen als Additions- und Subtraktionsaufgaben. Bei der Multiplikation fiel<br />
vor allem positiv auf, dass sie keine Schwierigkeiten hatte, einen Übergang zwischen<br />
einer Rechenaufgabe, einer entsprechenden Rechengeschichte und einer<br />
ikonischen Darstellung durch passende schachbrettartige Muster zu vollziehen.<br />
Claudia gelang es auch regelmäßig, ihr unbekannte Multiplikationsaufgaben auf<br />
bekannte Aufgaben zurückzuführen (z. B. 3 x 12 auf 3 x 10 + 6).<br />
Fazit<br />
Claudias Fall steht in exemplarischer Weise für eine Reihe von Kindern, welche<br />
Schwierigkeiten in ihrer schulischen Entwicklung aufweisen. Ein solches Kind<br />
zeigt sich vor allem in Deutsch und Mathematik als leistungsschwächer als andere:<br />
es lernt langsamer und es macht wesentlich mehr Fehler als seine Klassenkameraden.<br />
Die Lehrerin versucht über einen längeren Zeitraum, dem Kind zu<br />
helfen, doch kann sie keinen nennenswerten Fortschritt erkennen. Der Abstand<br />
zu den anderen Schülern nimmt zu und die alten Fehler erweisen sich als äußerst<br />
beständig. Offenbar gibt es irgendwo ein Problem, aber wo? Wo liegen die Ursachen<br />
solcher Schwierigkeiten?<br />
Im Umgang mit dieser Frage spielen die Zuschreibungsstrategien eine wesentliche<br />
Rolle. Da in einem solchen Fall offenbar die große Mehrheit der Klassenkameraden<br />
keine vergleichbaren Schwierigkeiten hat, erscheint es naheliegend, die<br />
Schwierigkeiten auf Ursachen zurückzuführen, welche nicht unmittelbar mit der<br />
Schule in Zusammenhang stehen. Es erscheint dann denkbar, dass die Ursachen<br />
89
90<br />
Mircea Radu<br />
entweder beim Kind selbst liegen (Gesundheitsprobleme, unterdurchschnittliche<br />
Intelligenz, Wahrnehmungsstörungen, ADS usw.) oder aber in seinem sozialen<br />
Umfeld (vor allem Familie oder weitere soziale Umgebung). 11 Aus der Sicht der<br />
Lehrerin gibt es unter solchen Umständen kaum Gründe zu der Annahme, dass<br />
die festgestellten Schwierigkeiten doch auf die methodisch-didaktische Herangehensweise<br />
zurückgeführt werden könnten. Die Schwierigkeiten können genauso<br />
gut bedeuten, dass z. B. die verwendete Methode für dieses eine Kind ungünstig<br />
war und dass man deshalb alternative Wege suchen sollte. Sie können sogar ein<br />
Hinweis dafür sein, dass die verwendete Methode allgemeine Probleme in sich<br />
trägt, welche zunächst bei den anderen Schülern (noch) nicht sichtbar geworden<br />
sind. Wenn aber von vornherein die Schwierigkeiten nicht auf dieser Ebene gesucht<br />
werden, liegt es auf der Hand anzunehmen, dass auch die erforderliche<br />
Förderarbeit aus dem regulären Unterricht und sogar aus der Schule auszugliedern<br />
ist: was notwendig ist, wird dann z. B. der Entscheidung von KinderärztInnen<br />
oder KinderpsychologInnen überlassen. Wenn die Schwierigkeiten erheblich<br />
sind, dann wird das Kind auf eine Sonderschule geschickt, wo es eine sonderpädagogische<br />
Förderung erhalten kann. Die Ausgliederung der Förderarbeit ausschließlich<br />
in den psychologisch-medizinischen Bereich kann zu einer einseitigen<br />
Förderung führen, welche die mathematikdidaktische Komponente nicht genügend<br />
berücksichtigt. Sicherlich können in bestimmten Fällen solche Maßnahmen<br />
notwendig sein. Sind sie aber auch hinreichend, um die Schulleistungen der Kinder<br />
zu verbessern?<br />
In Claudias Fall haben diese Maßnahmen keineswegs einen solchen Erfolg gebracht.<br />
Die einzigen sichtbaren unmittelbaren Folgen der unternommenen Schritte<br />
waren eine induzierte Schulangst, eine induziertes mangelndes Selbstvertrauen<br />
im Umgang mit den Fächern Deutsch und Mathematik und die bereits geschilderte<br />
Abwehrhaltung, welche einen Fortschritt erheblich erschwert.<br />
Die nach Claudias Übergang zur Laborschule geleistete mathematikdidaktische<br />
Förderarbeit war in zweierlei Hinsicht besonders erfolgreich. Erstens gelang es,<br />
ihre Haltung gegenüber sich selbst in der Auseinandersetzung mit der Mathematik<br />
radikal zu ändern. Wo früher Unsicherheit, Unlust, schwache Konzentrationsfähigkeit<br />
auftraten, findet man heute Neugier, Ausdauer und sogar kreatives<br />
Verhalten. Zweitens war es am Anfang fast unmöglich, eine Diskussion über verschiedene<br />
Lösungswege derselben Aufgabe zu führen. Dieses produktiv zu tun,<br />
wurde jedoch nach einem halben Jahr Förderung möglich. Claudia zeigt zur Zeit<br />
sogar eine gewisse Leichtigkeit darin, verschiedene Lösungswege für eine Reihe<br />
von Aufgaben zu finden. Das einzige besondere, noch bestehende Problem ist der<br />
Rückgriff auf zählende Strategien bei (oft auch einfachen) Additions- und Subtraktionsaufgaben.<br />
Das ist verbunden mit einer Angst vor großen Zahlen. Angesichts<br />
der bereits erwähnten Fortschritte sollte es möglich sein, während dieses<br />
Jahres auch dieses besondere Problem durch systematisches Fördern zu beseitigen.<br />
11 Dass dieser letzte Schluss nicht zwingend ist, haben verschiedene Forschungen längst belegt. Vgl. Brousseau,<br />
Guy, 1997, Theory of Didactical Situations in Mathematics 1970 – 1990, herausgegeben von Nicolas<br />
Balacheff, Dordrecht [u. a.]: Kluwer Academic Publ.
Literatur<br />
Rechen- und Rechtschreibschwäche als personengebundene Anfälligkeit<br />
Lorenz, J. H./Radatz, H.: Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht. Hannover:<br />
Schroedel 1993<br />
Moog, W./Schulz, A.: Zahlen begreifen – Diagnose und Förderung bei Kindern mit Rechenschwäche,<br />
Teil 1. Neuwied: Luchterhand 1999<br />
Schipper, W.: Thesen und Empfehlungen zum schulischen und außerschulischen Umgang<br />
mit Rechenstörungen. In: JDM 23, Heft 3/4 (2002), S. 243–261<br />
91
92<br />
Mircea Radu
<strong>Christine</strong> Huth<br />
„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />
Wenn ich zu John in die Gruppe seines 4. Jahrgangs komme, ruft dies meist einer<br />
der Klassenkameraden. John ist mal mehr, mal weniger erfreut, mich zu sehen.<br />
Mir macht es Spaß, mit ihm zu arbeiten, da er gut mitarbeitet und in der Regel<br />
mir gegenüber offen ist. Sicher, ich brauche auch immer wieder viel Geduld,<br />
denn er macht nur langsam Fortschritte. Ich bemühe mich sehr darum, dass wir<br />
beide nicht den Mut verlieren.<br />
Wenn ich da bin, legt John seinen Stift beiseite und wir setzen uns an einen separaten<br />
Tisch auf der Unterrichtsfläche zwischen die anderen SchülerInnen.<br />
Selbst wenn ich ihn bei einer interessanten Arbeit unterbreche, weiß er, dass er<br />
später daran weiterarbeiten kann. Wir arbeiten mittlerweile ein Jahr zusammen,<br />
jeweils zweimal in der Woche für 30 Minuten.<br />
Zu meiner Person<br />
Ich bin Studentin der Universität <strong>Bielefeld</strong> im Studienbereich Primarstufe mit<br />
Schwerpunkt im Fach Mathematik. Als studentische Hilfskraft arbeite ich bei dem<br />
Forschungs- und Entwicklungsprojekt „‚Ich erklär’ dir, wie ich rechne‘ – Prävention<br />
von Rechenstörungen“ mit und fördere John seit November 2001. Durch die<br />
Veranstaltung „Prävention und Förderung“ von Herrn Prof. Dr. Schipper wurde<br />
mein Interesse an dem Thema ‚Rechenstörungen‘ geweckt.<br />
Da ich John nur während der Förderung erlebe, erkundige ich mich über seinen<br />
familiären Hintergrund, seine sozialen Kontakte und seine schulischen Leistungen<br />
bei den ihn betreuenden Lehrerinnen. Somit ist dieser Teil meines Beitrags, in<br />
dem ich darüber berichte, aus ‚zweiter Hand‘. Zumal es nicht leicht ist, mit John<br />
und seiner Familie in wirklichen Kontakt zu treten. Selbst seine Betreuungslehrerin<br />
sagt dazu: „John ist eines der wenigen Kinder im Laufe meiner Zeit als Lehrerin,<br />
das für mich schwer einzuschätzen und mir fremd geblieben ist.“<br />
Über meine Förderarbeit berichte ich so, wie ich sie erlebt habe.<br />
John – Zwei Sprachen und ein besorgter Vater<br />
Auf meine Frage, wer in seiner Gruppe ein nicht so guter Rechner ist, antwortet<br />
John: „Peter, aber der ist noch tausendmal besser als ich.“<br />
Johns familiärer Hintergrund<br />
John ist in <strong>Bielefeld</strong> geboren und zweisprachig aufgewachsen. Sein Vater lebt seit<br />
40 Jahren in Deutschland. Beide Eltern kommen aus zwei Nachbarländern im<br />
ostasiatischen Raum. Sie sind noch sehr mit der Kultur ihrer Heimat verbunden.<br />
Die Mutter spricht nur mäßig Deutsch. Im Laufe der Schulzeit hat John gelernt,<br />
fließend Deutsch zu sprechen, nur die Aussprache der Zahlen bereitet ihm<br />
manchmal noch Probleme. Häufig unterlaufen ihm Zahlendreher. So löst John die<br />
Aufgabe 30 + 5 richtig, aber nennt als Lösung ‚dreiundfünfzig‘. Nach meinen Informationen<br />
werden in seiner Heimatsprache die Zahlen wie im Englischen aus-<br />
93
94<br />
<strong>Christine</strong> Huth<br />
gesprochen, womit diese Verwirrung erklärt werden könnte.<br />
Johns Schwester besucht den Jahrgang 10 an der Laborschule, sein älterer Bruder<br />
geht auf eine Sonderschule.<br />
Johns Vater ist sehr unglücklich über die mangelnden schulischen Leistungen von<br />
John und ist in Sorge, dass auch sein zweiter Sohn auf eine Sonderschule wechseln<br />
muss. Nach Angaben der Lehrerin übt Johns Vater daher zu Hause viel mit<br />
ihm, jedoch mit Methoden, die eher schaden, als nützen und mit Inhalten, die<br />
John teilweise überfordern. Zum Beispiel lernt John in der Schule die Buchstaben<br />
lautgetreu und ihn verwirren die Buchstabenbezeichnungen des Vaters ,<br />
, usw. Die Betreuungslehrerin beklagt, dass sich die Eltern uneinsichtig<br />
gegenüber ihren Ratschlägen zeigen und ihr kein Vertrauen entgegen bringen.<br />
Seit John auf der Laborschule ist, hat der Vater Bedenken, dass sein Sohn von<br />
den LehrerInnen nicht genug bzw. nicht richtig lernt.<br />
Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern nutzt John nicht die freiwillige Teilnahme<br />
an der Nachmittagsbetreuung der Schule, die an zwei Wochentagen angeboten<br />
wird, sondern wird von seinem Vater abgeholt. Viele Situationen, wie beispielsweise<br />
das häufige Abholen zeigen, wie besorgt die Eltern um John sind. Sie<br />
sind sehr darauf bedacht, dass ihr Sohn nicht Diskriminierungen auf Grund seiner<br />
Hautfarbe ausgesetzt wird.<br />
John trifft sich nachmittags nur selten mit Freunden aus der Gruppe. Er scheint<br />
auch zuhause nur wenige Freunde zu haben, denn nach eigenen Angaben schaut<br />
er in seiner Freizeit viel fern oder spielt am Computer.<br />
Leider versäumt John viele Unterrichtsstunden, weil er häufig krankheitsbedingt<br />
nicht zur Schule kommt. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb er im gesamten<br />
Lernprozess nur langsam Fortschritte macht. Vor einem Jahr kam John häufiger<br />
nicht zur Schule, wenn er verschlafen hatte, da ihm dies sehr unangenehm war.<br />
Dieses Problem konnte die Betreuungslehrerin jedoch mit den Eltern thematisieren<br />
und beheben.<br />
Johns schulischer Werdegang – Schulwechsel und wenig Freunde<br />
Die 1. Klasse besucht er in einer Regelschule, die er aber auf Wunsch der Eltern<br />
hin verlässt. Seine Eltern begründen diesen Schulwechsel damit, dass John unter<br />
den Hänseleien und Diskriminierungen über seine Hautfarbe leidet. Im Gespräch<br />
mit der ehemaligen Klassenlehrerin beschreibt diese John als verschüchtertes<br />
Kind, was teilweise emotionslos reagiert und wenig zum Unterrichtsgespräch beigetragen<br />
hätte. Auch John habe häufig seine MitschülerInnen geärgert und gehänselt.<br />
Nach Angaben dieser Lehrerin hätte er bereits im 1. Schuljahr einige<br />
schulische Probleme gezeigt, hauptsächlich im Lesen und Schreiben.<br />
Seine Kontakte<br />
Ich spreche sowohl mit Johns Lehrerin in Stufe I, als auch mit seiner jetzigen<br />
Betreuungslehrerin über Johns schulischen Leistungen und sozialen Kontakte.<br />
Eigentlich sollte John noch ein weiteres Jahr in der Eingangsstufe bleiben, aber<br />
als er und sein damals bester Freund Kevin hören, dass sie sich trennen sollen,<br />
sind sie sehr unglücklich. Kevin hilft ihm in dieser Zeit, wo er kann. Die Lehrerin<br />
des 2. Jahrgangs entscheidet, John doch in den nächsten Jahrgang weiterzugeben<br />
und spricht die Problematik mit der zukünftigen Lehrerin ab. Zunächst<br />
scheint John durch diese Entscheidung sehr motiviert. Nach dem Wechsel in den<br />
Jahrgang 3 kann John jedoch nicht mit den Leistungen seiner MitschülerInnen
„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />
mithalten und außerdem geht die intensive Freundschaft zu Kevin auseinander.<br />
Nach Angaben der Betreuungslehrerin bemüht sich Kevin noch darum, dass John<br />
Anschluss an die Gruppe findet.<br />
In der nunmehr altershomogenen Gruppe in Haus 2 (ab Jahrgang 3) sind konkrete<br />
soziale Kontakte zu einzelnen Kindern von Johns Seite aus kaum erkennbar. In<br />
der Schule spricht er wenig und wirkt zunächst zurückhaltend. Er ist dennoch<br />
kein Außenseiter, sondern wird integriert. Die vielen Fehlzeiten verhindern allerdings<br />
einen engen und kontinuierlichen Kontakt zu anderen. Seine MitschülerInnen<br />
haben viel Geduld mit ihm und beziehen ihn immer wieder mit ein. Während<br />
der Pause ist John mit den Jungen draußen und sie spielen Fußball, Diabolo oder<br />
Tischtennis. In den Gesprächen mit seinen MitschülerInnen kann er temperamentvoll<br />
sein, besonders wenn es um Inhalte geht, zu denen er aufgrund seines<br />
vermutlich sehr hohen Fernsehkonsums etwas beitragen kann. Im Unterrichtsgespräch<br />
dagegen zeigt er kaum Eigeninitiative. Am Gesprächskreis beteiligt er sich<br />
ebenfalls nur, wenn es um Themen rund um das Fernsehen geht.<br />
Am folgenden Beispiel wird deutlich, dass John MitschülerInnen gegenüber auch<br />
durchaus aggressiv sein kann. In seinem Berichtszeugnis des Jahrgangs 3 wird<br />
erwähnt, dass John manchmal andere Kinder mit Schimpfwörtern ärgert, die auf<br />
ihr Aussehen bezogen sind: „Manchmal gibt es – bei den Jungen und bei den<br />
Mädchen – heftige Beschwerden darüber, dass du dich sehr ungut verhalten<br />
hast. Wir können nicht verstehen, warum du Kinder wegen ihres besonderen<br />
Aussehens mit Schimpfwörtern belegst (‚Fettsack‘, ‚Liliputanerin‘ und so weiter)<br />
[...]“ (aus dem Bericht der Betreuungslehrerin).<br />
In den Gesprächen mit den Lehrerinnen wird deutlich, dass sie sich einig sind,<br />
dass John im Nachhinein ein Jahr länger in Haus 1 (Jahrgang 0-2) hätte bleiben<br />
sollen. Die derzeitige Betreuungslehrerin wird John als Kind mit sonderpädagogischen<br />
Förderbedarf porträtieren (vgl. Glossar) und ihn den Jahrgang 4 wiederholen<br />
lassen.<br />
Sein Arbeitsverhalten<br />
Nach Angaben der Betreuungslehrerin leistet John mehr, wenn er alleine arbeitet,<br />
als wenn ein Mitschüler oder ein Erwachsener neben ihm sitzt. Seine deutliche<br />
Stärke liegt im künstlerischen Bereich, besonders im Aquarellmalen, und im<br />
fehlerlosen Abschreiben von Texten. Im Lesen macht er im letzten Schuljahr erstaunliche<br />
Fortschritte (Zitat der Betreuungslehrerin: „Da ist endlich der Knoten<br />
geplatzt.“). Im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden fällt es ihm schwer, eigene<br />
Geschichten zu formulieren und aufzuschreiben oder in anderer Form frei zu<br />
schreiben. Damit sind seine Leistungen im Lesen und Schreiben nicht der Jahrgangsstufe<br />
entsprechend.<br />
In Johns Gruppe wird Mathematik in den gesamten Unterricht, eine allgemeine<br />
Arbeitszeit, eingebunden. Die Kinder arbeiten individuell und selbstständig an für<br />
sie ausgewählten Arbeitsblättern und Aufgaben. Neue Themen werden in leistungshomogenen<br />
Kleingruppen eingeführt. Durch den individualisierten Unterricht<br />
hat John die Möglichkeit, in einem nicht seinem Alter entsprechenden Übungsheft<br />
zu arbeiten. Teilweise nimmt er die Übungsblätter und Hefte mit nach<br />
Hause, vergisst sie allerdings oft wieder mitzubringen. John ist sich seiner<br />
Schwächen, besonders im Rechnen wohl bewusst und versucht, dies zu kaschieren,<br />
indem er sich am Unterricht wenig beteiligt.<br />
Es gibt Zeiträume, in denen John motiviert ist und aufmerksam zuhört, wenn ich<br />
etwas mit ihm bespreche, aber manchmal hat er keine Lust und lässt sich leicht<br />
95
96<br />
<strong>Christine</strong> Huth<br />
durch andere Reize ablenken. Dies steht im Zusammenhang mit seinem eingeschränkten<br />
Konzentrationsvermögen. Ich beschränke meinen Förderzeitraum auf<br />
30 Minuten, wobei ihm gegen Ende Flüchtigkeitsfehler unterlaufen. Auch im morgendlichen<br />
Gesprächskreis schaltet er häufig nach einiger Zeit ab und folgt nicht<br />
mehr den Beiträgen. Auffällig ist, dass John schon morgens müde zur Schule<br />
kommt und häufig gähnt, was die Betreuungslehrerin auf das häufige und lange<br />
Fernsehen zurückführt.<br />
John kommt nur langsam vorwärts. Seine Lehrerin betont, dass es Momente<br />
gibt, in denen sie denkt, dass John den Unterrichtsinhalt bzw. den Sachverhalt<br />
verstanden und verinnerlicht hat. Er kann sie aber im nächsten Moment auch<br />
schon wieder vergessen haben. „Meist macht er einen Schritt nach vorn, dann<br />
aber auch wieder einen halben bis einen ganzen Schritt zurück“ (Zitat der Betreuungslehrerin).<br />
Nur mit viel Geduld erreicht er Erfolge. Bei häufigem Üben und<br />
Wiederholen zeigt er sich zeitweise gelangweilt, weil seine Motivation abbaut.<br />
Manchmal ist er verunsichert bzw. schaltet ab, sobald ein neuer Inhalt an ihn<br />
herangeführt wird. Wenn John ein Fehler unterläuft, ist er sehr verunsichert, resigniert<br />
und beginnt zu raten, anstatt erneut zu überlegen.<br />
Die Förderung – langsame Lernfortschritte<br />
Erhebung der Lernausgangslage<br />
John wird von seiner Lehrerin für unser Projekt „‚Ich erklär’ dir, wie ich rechne‘ –<br />
Prävention von Rechenstörungen“ angemeldet. In der Erstüberprüfung der Beratungsstelle<br />
für Kinder mit Rechenstörungen des IDM (siehe Glossar) wird geprüft,<br />
ob bei ihm mögliche Symptome für eine Rechenstörung erkennbar sind.<br />
Die Erhebung im Oktober 2001, die per Video aufgezeichnet wird, ergibt folgendes:<br />
Auffällig sind Johns Orientierungsprobleme, die in mehreren Bereichen zum Ausdruck<br />
kommen. Ihm fehlt der Überblick im Zahlenraum, z. B. kann er nicht sicher<br />
rückwärts zählen und nicht Vorgänger und Nachfolger bestimmen. Bis zu diesem<br />
Zeitpunkt rechnet er nur im Zahlenraum bis 100, wobei besonders die Zahlendreher<br />
bei der Nennung der Zahlen auffallen und ihm Probleme bereiten. Die<br />
Zahlen und das Stellenwertsystem über 100 hinaus sind ihm nicht vertraut. Er<br />
notiert die Zahl ‚Hundertfünfundzwanzig‘ als 10025 und die ‚Hunderteins‘ als<br />
1001.<br />
Seine Zahldarstellungen am Rechenrahmen, die Zahlzerlegungen der 10 und die<br />
häufigen +/–1-Fehler, deuten auf zählende Rechenstrategien hin. Während der<br />
Überprüfung nutzt er, sowohl bei der Addition als auch bei der Subtraktion, keine<br />
operativen bzw. heuristischen Strategien (vgl. Beitrag von Schipper in diesem<br />
Heft, S. 25). Zum Beispiel löst John die Aufgabe 6 + 6 durch weiterzählen und<br />
nennt 12 + 7 = 18, obwohl er zuvor die Analogieaufgabe 2 + 7 = 9 richtig gelöst<br />
hat. Besonders zu erwähnen ist, dass John häufig die Aufgabenstellung vergisst.<br />
Der Rechenrahmen ist ihm als Arbeitsmittel aus der Schule bekannt. Er kann diesen<br />
während der Überprüfung jedoch nicht als Hilfe zur Lösung der Additionsaufgaben<br />
nutzen. Bei der quasi-simultanen Zahlauffassung am Rechenrahmen unterlaufen<br />
ihm einige Fehler, woran zu erkennen ist, dass er die Struktur dieses<br />
Materials noch nicht verinnerlicht hat. Er zählt anscheinend die Zehnerreihen und<br />
die Einerperlen aus, da ihm viele +/– 1-Fehler unterlaufen.
„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />
Er hat außerdem Orientierungsprobleme im räumlichen Bereich, z.B. bei der Seitenzuordnung<br />
und beim Nachbauen von Würfelbauwerken. Bei der Rechts-Links-<br />
Unterscheidung hat John deutliche Probleme bei sich und besonders an der gegenüberstehenden<br />
Gliederpuppe.<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass er von den bekannten Symptomen, die<br />
auf Rechenschwäche hinweisen können, folgende zeigt: Verfestigtes zählendes<br />
Rechnen, Rechts-Links-Schwäche und fehlende Operationsvorstellungen.<br />
Zusätzlich ist zu erwähnen, dass John eines der wenigen Kinder ist, das zu Beginn<br />
der Überprüfung in Tränen ausbricht. Wir haben den Eindruck, dass er durch<br />
die externe Testsituation verängstigt ist, obwohl er gut vorbereitet worden ist<br />
und auch von seiner Lehrerin in die Beratungsstelle begleitet wird. Während der<br />
70minütigen Videoaufzeichnung ist er unsicher und zurückhaltend. Ein Gespräch<br />
mit der Lehrerin bestätigt, dass sein Weinen anscheinend ein Schutzmechanismus<br />
ist und er auch in der Einzelarbeit mit der Lehrerin manchmal weint.<br />
Die Einzelförderung<br />
Im November 2001 beginne ich mit John eine Einzelförderung in der Nähe seines<br />
Klassenverbandes. Sie findet zweimal wöchentlich, nach Absprache mit der Lehrerin,<br />
während der Arbeitszeit an einem separaten Tisch auf der Unterrichtsfläche<br />
statt.<br />
Die Beobachtungen, die während der Ersterhebung gemacht wurden, kann ich<br />
nach den ersten Stunden, die ich mit John gearbeitet habe, deutlich bestätigen.<br />
Besonders auffällig ist das häufige Zählen und die Zahlendreher.<br />
Ich versuche mich zunächst auf wenige Förderschwerpunkte zu beschränken.<br />
Besonders wichtig ist mir, John die Freude an der Mathematik und die Motivation<br />
durch Erfolge und abwechslungsreiche Übungen zu vermitteln. Ich möchte sein<br />
Selbstvertrauen aufbauen und ihm die Zuversicht geben, dass er Leistungsfortschritte<br />
erzielen kann.<br />
In regelmäßigen Abständen versuche ich, den Leistungsstand von John zu erfassen<br />
und mit Blick auf die Ziele einen aktuellen Förderplan zu entwerfen. In Form<br />
einer Tabelle plane ich jede einzelne Förderstunde und halte diese anschließend<br />
anhand eines Gedächtnisprotokolls fest. Jede Förderstunde beinhaltet meist zwei,<br />
höchstens drei Förderschwerpunkte und die entsprechenden Übungen. Bei meiner<br />
Planung fixiere ich mich bewusst auf Fragestellungen, Erwartungen und Ziele,<br />
auf die ich in meinem Protokoll Bezug nehmen kann. Das nimmt zwar viel<br />
Vor- und Nachbereitungszeit in Anspruch, aber auf diese Weise kann ich Johns<br />
Fortschritte dokumentieren und es hilft mir, mich mit seinen Problemen auseinander<br />
zu setzen.<br />
Beispiel eines Protokolls einer Förderstunde:<br />
Vorbereitung der Förderstunde am 27. 2. 2002<br />
1. Inhaltlicher Schwerpunkt: Übung an den Händen<br />
Ziel und Begründung: Zahlzerlegung<br />
Dauer (ca.): 10 min.<br />
Inhalt/Aufgabenstellung Material Beobachtungsschwerpunkt<br />
Zahlzerlegung der 10, der 8 und<br />
der 20 (möglichst mit verdeckten<br />
Händen)<br />
Tuch Verbesserung der Zahlzerlegung?<br />
Wo sind noch Schwierigkeiten bzw.<br />
Lücken?<br />
97
98<br />
<strong>Christine</strong> Huth<br />
2. Inhaltlicher Schwerpunkt: Addition (ZE + E mit ZÜ) am Rechenrahmen<br />
Ziel und Begründung: Zehnerübergang mit der Strategie des schrittw.<br />
Rechnens<br />
Dauer (ca.): 20 min.<br />
Inhalt/Aufgabenstellung Material Beobachtungsschwerpunkt<br />
Addition am Rechenrahmen (RR)<br />
ZE + E mit Zehnerüberschreitung<br />
(ZÜ):<br />
Strategie und Sprechweise erklären,<br />
Additionsaufgaben am RR lösen,<br />
John diktiert die Handlungen, die<br />
ich dann ausführe,<br />
abschließend soll er nur den RR<br />
anschauen und ohne zu handeln<br />
die Aufgaben lösen.<br />
Rechen-<br />
rahmen<br />
Protokoll der Förderstunde am 27.2.2002<br />
1. Inhaltlicher Schwerpunkt: Zahlzerlegung an den Händen<br />
Inhalt Beobachtung<br />
ZZ der<br />
10, 8 und<br />
20<br />
John hat sich in der Zahlzerlegung<br />
verbessert. Er kennt<br />
jedoch noch nicht alle auswendig.<br />
Bei der 20 nutzt er<br />
jetzt die Analo-<br />
gien.<br />
Ich muss deutlich darauf achten,<br />
dass John nicht die Perlen abzählt,<br />
sondern sie mit einem Fingerstreich<br />
schiebt.<br />
Wie sicher ist er bei den Zerlegungen?<br />
Kann er die Strategie automatisieren?<br />
Auf die Versprachlichung achten!<br />
Hypothesen und<br />
Folgerungen<br />
Manche Zahlzerlegungen<br />
muss John sich noch herleiten,<br />
aber im Allgemeinen<br />
braucht er nur weiterhin viel<br />
Übung.<br />
2. Inhaltlicher Schwerpunkt: Addition mit Zehnerübergang<br />
Inhalt Beobachtung<br />
Addition<br />
am RR<br />
ZE + E mit<br />
ZÜ<br />
John hat die Strategie und<br />
das Vorgehen anscheinend<br />
verstanden und kann es auch<br />
anwenden. In der Zahlzerlegung<br />
ist er sich noch unsicher,<br />
dann zählt er die Perlen<br />
mit den Augen ab. Das Diktieren<br />
der Handlung gelingt<br />
ihm gut. Die weitere Ablösung<br />
von der Handlung fällt<br />
ihm schwer.<br />
Die Schwerpunkte der Förderung<br />
Hypothesen und<br />
Folgerungen<br />
Diese Strategie muss mit<br />
John noch weiter geübt und<br />
vertieft werden. John hat dies<br />
noch nicht verinnerlicht. Er<br />
braucht noch die Handlungen<br />
am Material, um die Aufgaben<br />
zu lösen.<br />
Sonstiges<br />
Am Anfang<br />
wirkt er sehr<br />
unkonzentriert<br />
bzw.<br />
unmotiviert.<br />
Sonstiges<br />
John ist<br />
deutlich sicherer<br />
im<br />
Umgang mit<br />
dem RR geworden.<br />
Mein Schwerpunkt liegt darin, John vom zählenden Rechnen wegzuführen und<br />
mit ihm die Strategie des schrittweisen Rechnens zu erarbeiten. Auch der Zehnerübergang,<br />
eine große und wichtige Hürde im Lernprozess, kann durch die
„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />
Anwendung dieser Strategie bewältigt werden. Um diese Strategie zu verinnerlichen,<br />
sind u. a. zwei Bedingungen zu erfüllen: Zum einen müssen die Zahlzerlegungen<br />
der Zahlen bis 10 beherrscht werden, zum anderen muss die entsprechende<br />
Handlung an einem Arbeitsmittel, vorzugsweise am Rechenrahmen, erarbeitet<br />
werden (vgl. Beitrag von Schipper in diesem Heft, S. 41).<br />
Ich möchte nun einige Übungen vorstellen, die genau dieses bezwecken und mit<br />
denen ich Johns Förderung gestaltet habe. Zur Auflockerung und zur Abwechslung<br />
habe ich auch andere Themen in meine Förderung mit aufgenommen, z. B.<br />
das kleine 1 x 1.<br />
Zahlzerlegung:<br />
Um die Zahlzerlegungen der Zahlen bis 10 zu verinnerlichen, ist es sinnvoll,<br />
mentale Vorstellungen zu entwickeln, die es erlauben, sich von konkreten Hilfsmitteln<br />
zu lösen. Ich habe sehr viel mit der Übung gearbeitet, dass John seine<br />
beiden Händen auf den Tisch legt und die Zahlzerlegungen mit Hilfe eines Stiftes<br />
veranschaulicht werden (vgl. Beitrag von Schipper in diesem Heft, S. 37).<br />
Schrittweise habe ich versucht, John durch diese Übung von der visuellen Hilfe<br />
durch die Finger zu lösen. Abschließend soll John die Zahlzerlegungen mit verdeckten<br />
Fingern nennen können. Auf diese Weise kann auch die Zahlzerlegungen<br />
der 20 (vier Hände) und der anderen Zahlen bis 20 erarbeitet werden. Der Übergang<br />
zu der Ergänzung zum vollen Zehner kann dann schnell erschlossen werden.<br />
Weitere Übungen, um die Zahlzerlegungen zu festigen sind: Das Ausfüllen von<br />
Zahlenhäusern, die Arbeit mit der Schüttelbox (siehe Foto) und das ‚Klappenspiel‘<br />
(vgl. Beitrag von Beyer in diesem Heft, S. 110f.).<br />
Die ‚Schüttelbox‘ enthält 10 bzw. 20 Perlen, die durch schütteln auf die beiden Kammern verteilt werden.<br />
Auf diese Weise können die Zahlzerlegungen dargestellt und abgefragt werden.<br />
Schrittweises Rechnen am Rechenrahmen:<br />
Um Kopfrechenstrategien, vorzugsweise die Strategie des schrittweisen Rechnens,<br />
durch Handlungen am Material zu entwickeln, muss ein Arbeitsmittel eingeführt<br />
und erarbeitet werden. Ich entscheide mich für das Arbeitsmaterial Rechenrahmen<br />
(vgl. Beitrag von Schipper in diesem Heft, S. 40f.), den John schon<br />
aus dem Unterricht kennt. Besonders wichtig ist es den richtigen Umgang mit<br />
99
100<br />
<strong>Christine</strong> Huth<br />
dem Material zu üben, z. B. die Zahlen mit einem ‚Fingerstreich‘ einzustellen, die<br />
Festlegung der Leserichtung, die Zahldarstellung und die Zahlauffassung. Da mir<br />
kein Computer zur Verfügung steht, übe ich die quasi-simultane Zahlauffassung<br />
mit dem Spiel ‚Schnelles Sehen‘ am Rechenrahmen. Ich stelle Zahlen am Rechenrahmen,<br />
für ihn nicht sichtbar, ein und zeige ihm dann das Material kurz.<br />
Nach dieser Voraussetzung kann ich beginnen, mit John verschiedene Rechenstrategien<br />
zu erarbeiten. Zunächst stelle ich die Strategie der Analogieaufgaben<br />
vor und übe die Verdopplungsaufgaben mit John. Die meiste Zeit verwende ich<br />
darauf, mit ihm die Strategie des schrittweisen Rechnens zu erarbeiten. Der erste<br />
Schritt ist, dass er die einzelnen Rechenschritte am Rechenrahmen darstellt<br />
und sie entsprechend versprachlicht (z. B.: die Aufgabe 16 + 8 als „16 – (vier<br />
Perlen dazu, dann habe ich) 20 – (dann noch vier Perlen dazu schieben, dann<br />
habe ich) 24“). Nachdem er Aufgaben der Form ZE + E mit Zehnerübergang<br />
problemlos am Rechenrahmen lösen kann, beginne ich, die entsprechenden Übungen<br />
zum Ablösen vom Material einzuführen. Anfänglich diktiert er mir die<br />
Handlungen am Rechenrahmen und ich führe sie aus, später wird er sich die<br />
Handlungen am Material vorstellen, während er den Rechenrahmen als visuelle<br />
Hilfe vor sich stehen hat. Abschließend soll er die Handlungen so gut verinnerlicht<br />
haben, dass er mit verbundenen Augen die Handlungen am Rechenrahmen<br />
diktieren kann und die richtige Lösung nennt. Wenn dies erfolgreich erarbeitet<br />
ist, ist der Weg zu allen weiteren Aufgaben, auch ZE + ZE mit Zehnerübergang<br />
nicht mehr weit.<br />
Johns Reaktionen und Fortschritte<br />
Zahlzerlegung:<br />
Da John am Anfang der Förderung nur wenige der Zahlzerlegungen auswendig<br />
kann, habe ich die oben genannten Aufgabenformate zur Zahlzerlegungen in den<br />
ersten zwei Monaten bei jeder Förderung wiederholt. Solange die Finger sichtbar<br />
vor John liegen, ist die Zerlegung der 10 kein Problem und ihm unterlaufen nur<br />
selten Fehler. Sobald die Finger verdeckt sind, benötigt er mehr Zeit und er wird<br />
deutlich unsicherer. Zu Anfang ist deutlich zu sehen, dass die Finger sich unter<br />
dem Tuch bewegen und John anscheinend die Zahlzerlegungen durch Zählen<br />
herleitet. Wenn ich das merke, dann gehe ich eine Stufe zurück bzw. wähle ein<br />
anderes Übungsformat. Besonders viel Spaß hat John an dem ‚Klappenspiel‘ (vgl.<br />
Beitrag Beyer in diesem Heft, S. 110f.).<br />
Die Übertragung der Zahlzerlegungen der 10 auf die Zahlzerlegungen der 20 fällt<br />
ihm schwer. Am Anfang konzentriert John sich meist nur auf eine Hand bzw. auf<br />
ein Händepaar, wodurch ihm der Gesamtüberblick fehlt. Bei der Darstellung des<br />
Zerlegungspaares 14 und 6 nennt er beispielsweise nur „4 und 6“. Im Verlauf der<br />
Förderung lernt er die Analogien zu nutzen, aber ihm unterlaufen noch Fehler,<br />
wenn die von mir genannte Zahl kleiner als 10 ist (z. B. die Ergänzung zu 7).<br />
Nach Wiederholung in fast jeder Förderstunde lernt er die Zerlegungen der 10<br />
und der 20 langsam auswendig. In regelmäßigen Abständen (ca. 1–2mal im Monat)<br />
frage ich die Zahlzerlegungen ab, während die Hände verdeckt auf dem<br />
Tisch liegen. Leider beherrscht er diese noch nicht auswendig, sondern vergisst<br />
anscheinend manche Ergänzungen. Erst wenn er einmal die Zahlzerlegungspaare<br />
mit der visuellen Hilfe der Finger genannt hat, kann er die Zahlzerlegungen wieder<br />
ohne zu zählen nennen. Im April, September und Dezember 2002 übe ich<br />
jeweils drei bis vier Förderstunden hintereinander die Zahlzerlegungen mit John,<br />
bis er sie wieder präsent hat. Die Übertragung auf die Ergänzung zum vollen
„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />
Zehner im Zahlenraum bis 100 gelingt ihm während der ganzen Zeit erstaunlich<br />
gut.<br />
Schrittweises Rechnen am Rechenrahmen<br />
Nach einer Einführung in die Handhabung kann John das Material nutzen und die<br />
Operationen handelnd erfahren. Er nutzt den Rechenrahmen teilweise auch freiwillig<br />
in anderen Zusammenhängen zur Lösung einer Aufgabe. Erst später kommt<br />
der Zeitpunkt, an dem er für einige Zeit ‚müde‘ von diesem Arbeitsmittel wird<br />
und die Motivation nachlässt. Ich habe das Gefühl, dass er teilweise den Umgang<br />
am Material als Rückschritt und nicht seinem Alter entsprechend empfindet. Nach<br />
einer Pause von über einem Monat kann ich ihn wieder für den Rechenrahmen<br />
begeistern.<br />
Durch die Übung ‚Schnelles Sehen‘ lernt John die dargestellten Zahlen quasisimultan<br />
zu erfassen und die 5er und 10er Struktur des Materials zu nutzen. Bei<br />
der Zahldarstellung schiebt er am Anfang der Förderung die Perlen in Zweierbzw.<br />
in Dreiergruppen, nach einigen Hinweisen kann er die Zahlen mit einem<br />
Fingerstreich einstellen. Dabei unterlaufen ihm immer wieder Zahlendreher in der<br />
Aussprache der Zahlen. Durch längere Pausen zwischen den Förderstunden,<br />
durch Ferien oder Krankheit, hat John manchmal den richtigen Umgang mit dem<br />
Rechenrahmen vergessen. Er braucht häufige Wiederholungen und eine ‚Aufwärmphase‘,<br />
da er zu Beginn der Übungen immer die gleichen Fehler macht.<br />
Innerhalb eines Jahres hat John durch den häufigen Umgang mit dem Arbeitsmittel<br />
die Strukturen verinnerlicht und er kann vor den Sommerferien 2002 dargestellte<br />
Zahlen am Rechenrahmen nach kurzer Präsentationszeit sicher nennen.<br />
Die Zahlendreher sind seltener geworden und wenn dieser Fehler auftritt, erkennt<br />
und verbessert er ihn selbstständig. Dies ist ein lange erarbeiteter und daher<br />
umso erfreulicher Fortschritt.<br />
Die Strategie des schrittweisen Rechnens wendet er meist nur an, wenn man ihn<br />
dazu auffordert. Mit Hilfsfragen von mir kann er die Ergänzung bis zum nächsten<br />
Zehner und den weiteren Schritt zum Ergebnis nennen, woran zu erkennen ist,<br />
dass er die Strategie des schrittweisen Rechnens verstanden hat, aber noch nicht<br />
selbstständig anwendet. Nach einer kurzen Wiederholung der Strategie kann er<br />
das Vorgehen auch versprachlichen, somit den Zwischenschritt für die Ergebnisfindung<br />
nutzen, und die Aufgaben richtig lösen.<br />
Der Übergang zur Materialunabhängigkeit gelingt ihm noch nicht. Er kann die<br />
Handlungen diktieren und auch ohne die Perlen zu schieben, die richtige Lösung<br />
nennen (vgl. Beitrag Schipper in diesem Heft, S. 41f.). Jedoch hat er dies noch<br />
nicht so gut verinnerlicht, dass er sich von der visuellen Hilfe des Rechenrahmens<br />
lösen kann. Das Diktieren der Aufgabe mit verbundenen Augen gelingt ihm<br />
noch nicht. Bei dieser mentalen Vorstellung fällt er teilweise in das zählende<br />
Rechnen zurück, das er zu verstecken versucht, indem er die Hände unter den<br />
Tisch hält oder mit den Füßen klopft.<br />
Um seine Konzentrationsfähigkeit zu schulen, diktiere ich ihm Handlungen zu<br />
Aufgaben und fordere ihn auf zu sagen, welche Zahl als Ergebnis ablesbar wäre<br />
und welche Aufgabe ich gerechnet habe. Zum Beispiel sage ich: „Stell Dir vor ich<br />
habe die 15 am Rechenrahmen eingestellt, ich schiebe dann erst 5 Perlen dazu.<br />
Dann schiebe ich noch 4 Perlen. Welche Zahl ist dann eingestellt?“ Mit etwas Übung<br />
kann John dieses Aufgabenformat ohne Schwierigkeiten bewältigen.<br />
Trotz der thematisierten Vorteile des schrittweisen Rechnens hat John anscheinend<br />
die Effektivität der vorgestellten Strategie noch nicht akzeptiert. Ein Grund<br />
101
102<br />
<strong>Christine</strong> Huth<br />
für seine Schwierigkeit der Ablösung vom zählenden Rechnen ist sicher seine Unsicherheit<br />
in den Zahlzerlegungen. Ein weiterer Grund ist, dass er durch seine<br />
Konzentrationsschwierigkeiten die genannte Aufgabe und die Zwischenschritte im<br />
Laufe der Überlegungen vergisst. Es ist eine Erleichterung für ihn, wenn er sich<br />
die Aufgabenstellung notieren darf.<br />
Ich versuche weiter mit ihm die Handlungen am Rechenrahmen auf die ikonische<br />
Ebene zu übertragen (z. B. durch Kringel), um die Vorstellung von der Handlungen<br />
auf die wesentlichen Aspekte zu reduzieren. Aber John hat Probleme dies<br />
nachzuvollziehen. Dieser mögliche Zwischenschritt zu der symbolischen Ebene ist<br />
ihm anscheinend auch aus anderen Unterrichtszusammenhängen nicht bekannt.<br />
Auch die Versprachlichung seines Vorgehens bereitet ihm Mühe, damit macht er<br />
es mir wiederum schwer, seinen Rechenweg nachzuvollziehen.<br />
Weitere Inhalte der Förderung<br />
In allen Bereichen wird mir deutlich, dass John äußerst langsam lernt und Gelerntes<br />
nicht immer verinnerlicht und es deshalb wieder ‚vergisst‘. Zum Beispiel<br />
kann er Analogien nutzen, wenn ich ihn darauf aufmerksam mache, indem ich<br />
zuerst die Grundaufgabe nenne. Selbstständig kann er diese Strategie nur nach<br />
einer kurzen Wiederholung anwenden bzw. nutzen.<br />
Besonders oft frage ich das kleine 1 + 1 ab, weil es als Basiswissen zur Verfügung<br />
stehen muss. John kann das<br />
kleine 1 + 1 zwar immer<br />
noch nicht vollständig auswendig,<br />
aber Aufgaben des<br />
Formats Z + Z und Z + E gelingen<br />
ihm ohne zu zählen.<br />
Auch die Subtraktion thematisiere<br />
ich, jedoch soll er<br />
erst sicherer in der Addition<br />
werden, bevor er die Strategien<br />
auf die Subtraktion übertragen<br />
kann. Teilweise<br />
beherrscht er das kleine 1 –<br />
1 im Zahlenraum bis 20.<br />
Sicher ist er bei den Aufgaben<br />
der Form Z – Z und auch<br />
Z – E.<br />
Ein weiter Inhalt der Förderung<br />
ist die Wiederholung<br />
der Rechts-Links-Unterscheidung,<br />
welche in kurzen<br />
Pausen auf unterschiedliche<br />
Weise abgefragt wird (z. B.<br />
am eigenen Körper, an Puppen,<br />
anhand von Arbeitsblättern).<br />
Außerdem lockere<br />
ich die Förderstunden auf,<br />
indem ich operative Übungsformate<br />
integriere, wie z. B.<br />
Zauberdreieck und Zahlen-
„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />
brücke (siehe Glossar). Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ihn dies teilweise<br />
überfordert und ihm die Sicherheit im flexiblen Umgang mit Zahlen und Rechenoperationen<br />
fehlt. Jeder Fehler entmutigt ihn. Hierbei wird deutlich, dass er Probleme<br />
im Umgang mit Fehlern hat und ihm die Nutzbarkeit dieser nicht vertraut<br />
ist. Außerdem wird bei der Bearbeitung der operativen Übungsformate deutlich,<br />
dass es ihm schwer fällt, Zusammenhänge und seine Gedanken zu verbalisieren<br />
und darüber zu sprechen.<br />
Während des ganzen Förderzeitraums übe ich mit ihm die räumliche Orientierung<br />
anhand von Würfelbauwerken. Er kann geschickt mit den Würfeln umgehen,<br />
vermutlich weil er nach eigenen Angaben früher viel mit LEGO u. Ä. gespielt hat.<br />
Er hat dennoch Schwierigkeiten, die zweidimensionale Darstellung nachzubauen,<br />
besonders die Einbeziehung der nicht sichtbaren Würfel bereitet ihm Probleme.<br />
Im Sommer 2002 hat er im aktuellen Unterricht das kleine 1 x 1 erarbeitet und<br />
ich habe dies auch in die Förderung mit aufgenommen. Er ist sehr motiviert, bei<br />
diesem neuen Inhalt am Ball zu bleiben und die Aufgaben auswendig zu lernen.<br />
Zu Anfang wird deutlich, dass John auch beim 1 x 1 keine Vorstellung von der<br />
Operation hat und auch den Zusammenhang zu der Addition nicht kennt. Anhand<br />
von Handlungen mit Bausteinen und der entsprechenden ikonischen Darstellungen<br />
habe ich versucht, ihm die Zusammenhänge zu vermitteln. Mit Hilfe von<br />
Darstellungen von Situationen und Gegenständen im Klassenraum hat John die<br />
Multiplikation im Alltag entdeckt. Manche 1 x 1-Aufgaben kennt John schon auswendig,<br />
aber meist zählt er das Ergebnis anhand der Multiplikationsreihen ab,<br />
wobei er nur lückenhaft die Reihen beherrscht. Die Tauschaufgaben zur Vereinfachung<br />
nutzt er nur selten.<br />
Zwischenergebnisse der Förderung<br />
Kurz vor den Sommerferien im Juni 2002 wird erneut die Überprüfung im IDM<br />
mit John durchgeführt. Diese dient der Beobachtung und Dokumentation der<br />
Fortschritte, die John innerhalb des Förderzeitraums erreicht hat.<br />
Das Besondere an dieser Erhebung ist, dass John mit einem gänzlich anderen<br />
Selbstbewusstsein auftritt als im Oktober und sich durch die Fragen der Gutachterin<br />
nicht verunsichern lässt. Im Folgenden werden nur die Auffälligkeiten und<br />
Besonderheiten während dieser Überprüfung genannt:<br />
Im Gegensatz zu der Erstüberprüfung lässt er dieses Mal im Zählprozess einige<br />
der doppelziffrigen Zahlen aus. Anders als im Oktober 2001 kann er jetzt die<br />
Zahlen über 100 richtig notieren und flüssig rückwärts und in Schritten zählen.<br />
Auch bei der Rechts-Links-Unterscheidung hat John Fortschritte gemacht. Wenn<br />
er sich konzentriert, kann er die Seitenbezeichnungen auch an der gegenüberstehenden<br />
Gliederpuppe richtig benennen.<br />
Im Zahlenraum bis 20 kennt John im Juni 2002 mehr Aufgaben auswendig und<br />
erkennt Analogien. Den Zehnerübergang stellt er am Rechenrahmen richtig mit<br />
der Strategie des Zerlegens bzw. schrittweisen Rechnens dar. Er braucht den<br />
Rechenrahmen weiterhin als visuelle Hilfe.<br />
Während der Überprüfung nennt er die Zahlzerlegungen richtig, sobald ihm jedoch<br />
die visuelle Hilfe seiner Finger fehlt, zögert er und gibt zu, dass er unter<br />
dem Tuch gezählt hat. Anscheinend hat er sie memorisiert, aber noch nicht automatisiert.<br />
Wie schon bei der ersten Überprüfung vergisst John teilweise die Aufgabenstellung<br />
und hat Schwierigkeiten, seine Rechenstrategie zu erklären und darzustellen.<br />
103
104<br />
<strong>Christine</strong> Huth<br />
Insgesamt können besonders bei der Orientierung im Zahlenraum deutliche Fortschritte<br />
verzeichnet werden. Die Strategie des schrittweisen Rechnens hat John<br />
verstanden, aber noch nicht automatisiert. Ich bin positiv überrascht, von der<br />
Sicherheit und dem Selbstbewusstsein, welche John während des Förderzeitraums<br />
aufgebaut hat.<br />
Perspektiven und Ausblick<br />
John ist im mathematischen Bereich noch weit hinter dem Wissenstand seiner<br />
MitschülerInnen und wird weiterhin Förderung benötigen, jedoch hat er für seine<br />
Fähigkeiten und Möglichkeiten Fortschritte gemacht. Die Erstüberprüfung hat gezeigt,<br />
dass John zu Beginn der Förderung deutliche Schwierigkeiten im mathematischen<br />
Bereich hat und drei der vier auf Rechenstörung hinweisenden Symptome<br />
diagnostiziert werden können (verfestigtes zählendes Rechnen, Raumwahrnehmungsprobleme<br />
und ein mangelndes Operationsverständnis). Mittlerweile hat er<br />
sich im Rechnen deutlich verbessert und kann die Strategie des schrittweisen<br />
Rechnens am Material anwenden, anstatt zu zählen. Noch immer fehlt ihm die<br />
Sicherheit und die Automatisierung der alternativen Strategien.<br />
Die genannten Übungen und der Einsatz des Rechenrahmens als Veranschaulichungsmittel<br />
haben sich als sinnvoll erwiesen, um die Strategien zu erarbeiten.<br />
Mittlerweile hat er gelernt, dass Fehler nichts Schlimmes oder Ungewöhnliches<br />
sind. Er versucht trotzdem Fehler zu vermeiden und kein Risiko einzugehen, was<br />
seiner Meinung nach in Verbindung mit der Anwendung neuer Strategien steht.<br />
Somit empfindet er das zählende Rechnen immer noch als ein sicheres Rechenverfahren,<br />
auf das er bei ‚schwierigen‘ Aufgaben zurückgreift.<br />
Meine Förderarbeit wurde aber durch die außerschulischen Bedingungen erschwert,<br />
auf die ich keinen Einfluss nehmen konnte, wie z. B. das häufige Fehlen,<br />
die vergessenen Arbeitshefte und die wenigen Einblicke.<br />
John hat u. a. dank der Förderung einen motivierteren und selbstbewussteren<br />
Zugang zu der Mathematik gefunden, aber sein Lernweg geht insgesamt nur sehr<br />
langsam voran. Deshalb brauchen die Personen, die mit ihm arbeiten, viel Geduld<br />
und Motivation. Er muss immer wieder ermutigt werden, um mehr Vertrauen<br />
in seine eigenen Fähigkeiten aufzubauen. Zum Beispiel ist positiv hervorzuheben,<br />
dass er die für ihn teilweise neuen Übungsformate gut umsetzen und lösen<br />
kann. Manchmal ist John einfach etwas träge, müde und still, wodurch man wenig<br />
über ihn erfährt und ihn und seine Leistungen nur schwer einschätzen kann.<br />
Erst durch die genaue Diagnose und die Beobachtungen während der Förderstunden<br />
konnte ich die Inhalte so individuell auswählen, dass sie ihn ansprechen<br />
und motivieren.<br />
In der weiteren Förderung müssen die erarbeiteten Inhalte automatisiert werden<br />
und der Prozess zur Entwicklung von mentalen Vorstellungsbildern muss weiter<br />
fortgesetzt werden. Wichtig ist, dass er die Operationen und Handlungen am Material<br />
so gut verinnerlicht, dass er sich davon lösen kann. Außerdem sollte John<br />
die Strategien, die er bisher im Zahlenraum bis 100 bei der Addition anwendet,<br />
auf die Subtraktion übertragen und auch in größeren Zahlenräumen umsetzen.<br />
Seine sozialen Kontakte haben sich in dem Zeitraum meiner Förderung nicht verändert.<br />
Ebenso ist die Sorge des Vaters geblieben, was daran zu erkennen ist,<br />
dass er seinen Sohn weiterhin häufig abholt, um ihn vor vermeintlichen Diskriminierungen<br />
zu schützen.<br />
Ich muss gestehen, dass ich manchmal kaum Fortschritte bei der Einzelförderung
„John! <strong>Christine</strong> ist da! Du musst rechnen“<br />
gesehen habe und mich das langsame Vorankommen, u. a. durch die ausgefallenen<br />
Förderstunden, deprimiert hat, aber durch den Austausch mit den LehrerInnen<br />
und KollegInnen besonders innerhalb unseres Projektes und die gute Mitarbeit<br />
von John bin ich immer wieder motiviert worden.<br />
Mir ist deutlich geworden, wie langsam Lernfortschritte sein können und wie<br />
mühselig ein Kind lernen kann. Ich habe gelernt, dass die Förderarbeit einfühlsam,<br />
voller Geduld und kontinuierlich sein muss, damit sie zu nachhaltigen Erfolgen<br />
führt.<br />
105
106<br />
<strong>Christine</strong> Huth
Bianca Beyer<br />
Eine sperrige Förderung – Katrin und ich<br />
„Wenn mir das Thema keinen Spaß macht, dann habe ich auch keine Lust mitzuarbeiten.“<br />
(Katrin)<br />
Ich studiere im Studiengang Lehramt für Primarstufe an der Universität <strong>Bielefeld</strong>.<br />
Mein Schwerpunktfach ist Mathematik. Im Rahmen meines Studiums nahm ich<br />
an dem Seminar „Förderung und Prävention im Mathematikunterricht der Primarstufe“<br />
von Prof. Schipper teil. Dort lernte ich, wie Kinder mit besonderen Schwierigkeiten<br />
beim Rechnen gefördert werden sollen. In diesem Theorie – Praxis –<br />
Seminar habe ich gemeinsam mit einer anderen Studentin einmal in der Woche<br />
eine halbe Stunde lang ein Kind gefördert.<br />
Da man im Laufe dieses Studiengangs nur selten die Gelegenheit bekommt mit<br />
Kindern zu arbeiten, nahm ich gern eine Stelle als studentische Hilfskraft in dem<br />
Projekt „Ich erklär‘ dir, wie ich rechne – Prävention von Rechenstörungen“ an. Im<br />
Laufe dieses Forschungs- und Entwicklungsprojektes an der Laborschule, das im<br />
August 2001 begann, sollten Kinder, die Schwierigkeiten beim Rechnen haben,<br />
gefördert werden. So bekam ich die Gelegenheit, das Wissen, das ich mir in dem<br />
Seminar von Prof. Schipper angeeignet hatte, in der Praxis anzuwenden.<br />
Nach der Diagnose ihrer spezifischen Rechenstörungen, der Aufstellung eines<br />
entsprechenden Förderplans und Diskussionen in der Projektgruppe begann ich<br />
im November 2001 damit, drei Kinder zu fördern. Zwei Kinder waren im zweiten<br />
Schuljahr. Mit ihnen arbeitete ich entweder jeweils eine halbe Stunde pro Woche<br />
oder mit beiden zusammen eine Stunde, da sie in der gleichen Gruppe waren.<br />
Wir drei wurden schnell miteinander vertraut, so dass wir gut arbeiten und auch<br />
mal zusammen lachen konnten.<br />
Katrin war das dritte Kind, dass ich fördern sollte. Sie war schon im vierten<br />
Schuljahr. Bis zu den Sommerferien 2002 arbeitete ich zweimal in der Woche<br />
eine halbe Stunde mit ihr; seit September 2002 fördere ich sie nur noch einmal<br />
wöchentlich eine halbe Stunde.<br />
Erstüberprüfung<br />
Katrins Erstüberprüfung findet im Oktober 2001 statt. Diese Erstüberprüfung<br />
zeigt, dass Katrin sich bei allen Rechenaufgaben leicht verunsichern lässt.<br />
Schwierigkeiten hat sie besonders bei den grundlegenden Fertigkeiten ‚Rückwärtszählen‘,<br />
‚richtige Zahlenschreibweise‘ und ‚Zahlzerlegungen‘. Fingerbewegungen<br />
und ±1-Fehler lassen vermuten, dass sie eine ‚zählende Rechnerin‘ ist.<br />
Die folgenden Auszüge aus dem Protokoll der Erstüberprüfung dokumentieren<br />
einige von Katrins Problemen:<br />
Zahlauffassung und Zahldarstellung<br />
Der 20er und 100er Rechenrahmen ist Katrin aus der Schule bekannt.Bei einer<br />
kurzen Präsentationszeit von eingestellten Zahlen (Quasi-Simultane Zahlauffassung)<br />
unterlaufen ihr teilweise ±1-Fehler bzw. ±10-Fehler.<br />
107
108<br />
Bianca Beyer<br />
Zahlzerlegung<br />
Während Katrin ihre Finger noch sehen kann, nennt sie schnell die Zahlzerlegungen<br />
im Zahlenraum bis 10, wobei sie etwas mehr Zeit benötigt, wenn die<br />
vorgegebene Zahl kleiner als 4 ist. Sobald ihre Hände verdeckt sind, unterlaufen<br />
ihr häufiger Fehler. Auch im Zahlenraum bis 20 ist sie sehr unsicher in der<br />
Zahlzerlegung, und ihr unterlaufen viele Fehler, wenn kleine Zahlen vorgegeben<br />
sind.<br />
Kopfrechnen<br />
Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 20 kann Katrin nicht<br />
sicher auswendig, und ihr unterlaufen häufig +/–1-Fehler. Manchmal verwechselt<br />
sie auch die Operationen.<br />
Additions- und Subtraktionsaufgaben mit Zehnerübergang bereiten ihr Schwierigkeiten.<br />
Aufgaben mit gemischten Zehnern (ZE + ZE (siehe Glossar) mit Zehnerübergang)<br />
rechnet sie mit der Strategie ‚Stellenwerte extra‘, ist jedoch von dem<br />
Zehnerübergang irritiert („Das kann keinen Zehner ergeben. Das muss irgendetwas<br />
mit 100 sein. Das geht nicht.“).<br />
Erste Förderschwerpunkte<br />
Aus der Erstüberprüfung ergeben sich u. a. die folgenden Förderschwerpunkte:<br />
Die Quasi-Simultane-Zahlauffassung muss mit Katrin geübt werden, damit sie<br />
bei der Arbeit mit dem 100er Rechenrahmen problemlos Zahlen einstellen und<br />
ablesen kann. Zum Auswendiglernen der Zahlzerlegungen sollen diese an den<br />
(zugedeckten) Händen wiederholt werden. Für die Ablösung vom zählenden<br />
Rechnen müssen insbesondere Aufgaben mit Zehnerübergang (E + E; ZE – E; ZE<br />
+ E) geübt werden. Dadurch soll das schrittweise Rechnen entwickelt und die Ablösung<br />
von ‚Stellenwerte extra‘ vollzogen werden.<br />
Meine erste Begegnung mit Katrin<br />
Da ich bei der Erstüberprüfung nicht anwesend war, ist mein erster Fördertermin<br />
mit Katrin gleichzeitig meine erste Begegnung mit ihr. Vorher ist sie schon von<br />
ihrer Lehrerin auf mich vorbereitet worden.<br />
Als ich mich zu Katrin an den Tisch setze, mich ihr vorstelle und den Grund meines<br />
Besuchs erkläre, sieht sie nicht einmal zu mir auf, sondern arbeitet einfach<br />
weiter. Sie sagt nur, dass sie keine Hilfe benötigen würde. Ich bleibe bei ihr sitzen<br />
und sehe ihr erst mal bei ihrer Arbeit zu. Zwischendurch versuche ich mich<br />
immer wieder ein bisschen mit ihr zu unterhalten. Manchmal antwortet sie mir<br />
sogar. Am Ende der Schulstunde sage ich Katrin noch einmal, dass ich bald wiederkomme,<br />
um mit ihr ein bisschen Mathe zu lernen. Sie sagt nur: „O.k.“<br />
Ich gehe mit dem unschönen Gefühl, dass Katrin über meine Besuche nicht erfreut<br />
sein wird.<br />
Katrins Schulgeschichte<br />
Um Katrin besser kennen zu lernen, unterhalte ich mich mit ihrer alten Betreuungslehrerin<br />
aus der Eingangsstufe der Laborschule:
Eine sperrige Förderung – Katrin und ich<br />
„Katrin verbrachte ihr zweites Schuljahr in meiner Gruppe. Als sie bei mir ankam,<br />
war sie sehr eingeschüchtert. Mir gegenüber war Katrin besonders zurückhaltend,<br />
da sie in ihrem ersten Schuljahr an einer Grundschule mit ihrer<br />
Lehrerin anscheinend schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Daher ließ ich sie<br />
sich zunächst eingewöhnen. Ich arbeite mit Wochenplänen, so dass die Kinder<br />
sich einerseits kontinuierlich mit Mathe und Deutsch befassen müssen, sich andererseits<br />
ihre Arbeit selbst einteilen können.<br />
Katrin hatte hin und wieder ‚Null-Bock-Tage‘, an denen ich sie höchstens dazu<br />
animieren konnte zu lesen. Insgesamt war sie in Deutsch besser als in Mathematik,<br />
weshalb Deutsch ihr auch mehr Spaß machte. Trotzdem arbeitete auch<br />
Katrin kontinuierlich in ihren Arbeitsmaterialien für Mathematik für das 2. Schuljahr.<br />
Wenn ich jetzt im nachhinein darüber nachdenke, würde ich sagen, dass<br />
diese Arbeitshefte vielleicht zu anspruchsvoll für Katrin waren, doch für ihr<br />
schlechtes Selbstkonzept war es gut, als ‚Zweier‘ mit Materialien für das 2.<br />
Schuljahr zu arbeiten.<br />
Zu den anderen Kindern hatte Katrin einen guten Kontakt. Sie pflegte aber keine<br />
feste Freundschaft. Manchmal legte sie den Kindern gegenüber ein zickiges<br />
Verhalten an den Tag. Mir gegenüber ist das nicht vorgekommen.<br />
Am Ende des 2. Schuljahres freute sich Katrin darauf, im folgenden Schuljahr<br />
ins Haus 2 zu kommen. Der Übergang war für sie auch eine Ermutigung. Wenn<br />
ich sie im Haus 1 gelassen hätte, wäre ihr negatives Selbstkonzept gestärkt<br />
worden. Ich denke, an dieser Schule kann man ein Kind mit solchen Defiziten<br />
versetzen, wegen der guten Betreuung und des intensiven Eingehens auf jedes<br />
einzelne Kind.“<br />
Über Katrins 3. Schuljahr kann mir ihre jetzige Mathematiklehrerin etwas berichten:<br />
„Anfang des 3. Schuljahres war das ganze Schulleben überschattet von dem<br />
Schüler Kevin, ein sehr verhaltensauffälliger Junge, der zu Aggressionen neigte.<br />
Dadurch war Katrin mit ihrem ‚bockig sein‘ oder ‚nicht arbeiten wollen‘ gar nicht<br />
so sehr ins Auge gefallen. Sie verhielt sich meistens angepasst. Die Probleme in<br />
Mathematik waren allerdings schon deutlich.“<br />
Ermutigend und sehr vorsichtig schreibt diese Lehrerin in ihrer Beurteilung am<br />
Ende des 3. Schuljahres an Katrin:<br />
„Zu Beginn des neuen Schuljahres hast du mir in Mathematik zu verstehen gegeben,<br />
dass du ja eigentlich so gut wie gar nichts weißt und kannst! Wie du<br />
gemerkt hast, ist das nicht der Fall. Mit Anschauungsmaterial, ein paar zusätzlichen<br />
Erklärungen oder auch Hilfen deiner MitschülerInnen hast du in allen unterschiedlichen<br />
inhaltlichen Bereichen in diesem Jahr gut mitgearbeitet! Eine<br />
Zeit lang hast du mit einer Kleingruppe bei Petra gearbeitet, dort ging es noch<br />
einmal um ganz grundlegende Dinge. Mit Hilfe der Einer-, Zehner- und Hunderterklötze<br />
(siehe Glossar: Mehrsystemblöcke) hast du selbstständig und richtig<br />
Aufgaben im Tausenderraum gelöst und mit gelegentlicher Hilfe deiner Nachbarin<br />
alle Seiten dazu in deinem blauen Buch erledigt, prima. Beim schriftlichen<br />
Addieren und Subtrahieren hast du sehr motiviert mitgearbeitet und ganz toll<br />
aufgepasst. Mit wenigen einfachen Rechenschritten kann man hier mit ganz<br />
großen Zahlen rechnen und das gelingt dir meist auch richtig.“<br />
109
Szenen aus der Förderung<br />
110<br />
Bianca Beyer<br />
Wenn ich auf die Fläche komme, wird Katrin von einer ihrer Freundinnen auf<br />
mich aufmerksam gemacht, indem sie ihr zuruft, dass ich da bin. Doch Katrin<br />
blickt nicht auf. Sie arbeitet einfach weiter und beachtet mich nicht. Wenn ich sie<br />
anspreche, sagt sie, dass sie jetzt keine Zeit hat, weil sie ihre Arbeit erst noch<br />
beenden muss. Erst nachdem ich ihr einige Male versichert habe, dass sie später<br />
daran weiterarbeiten kann, ist sie bereit, mit mir die Förderstunde zu beginnen.<br />
Nachdem ich Katrin dazu überreden konnte, mit mir zu arbeiten, nimmt sie ca.<br />
20 Minuten lang mehr oder weniger konzentriert an der Förderstunde teil. Bei der<br />
Arbeit mit dem 100er-Rechenrahmen (vgl. Beitrag von Schipper in diesem Heft,<br />
Aufgabenformat 3.1–3.3) murrt sie oft, was für Aufgaben ich ihr immer stelle.<br />
Nach 20 Minuten wird sie meist unkonzentriert und auch müde. Sie sackt in sich<br />
zusammen, legt ihre Arme auf den Tisch und ihren Kopf darauf und jammert,<br />
dass sie nicht mehr kann. Meistens breche ich die Förderstunde dann ab. Doch<br />
manchmal habe ich das Gefühl, dass sie einfach keine Lust mehr hat, z. B. wenn<br />
sie ihren Zettel bemalt. Dann versuche ich ihr zu erklären, wie wichtig diese Förderung<br />
für sie ist. Da sie fast ein Teenager ist, kleide ich die Aufgaben in Themen<br />
ein, die sie ansprechen, z. B. wie man beim Einkaufsbummel mit seinem Geld<br />
rechnet.<br />
Förder-Beispiele<br />
Um Katrins Desinteresse zu Beginn jeder Förderstunde entgegenzuwirken, versuche<br />
ich die Inhalte so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten.<br />
Quasi-Simultane-Zahlauffassung<br />
Die Quasi-Simultane-Zahlauffassung habe ich mit Katrin auf die Art geübt, wie<br />
sie von W. Schipper in diesem Heft (vgl. dazu S.37ff.) dargestellt wird.<br />
Zunächst soll Katrin reine Zehnerzahlen auffassen. Dabei macht sie häufig ±10-<br />
Fehler. Diese unterliefen ihr auch beim Auffassen von Zahlen mit der 5 als Einer.<br />
In der darauffolgenden Förderstunde kann Katrin alle Zehnerzahlen und fast alle<br />
Zahlen mit der 5 als Einer sofort richtig erkennen. Beim Auffassen von gemischten<br />
Zehnerzahlen hat Katrin zunächst große Schwierigkeiten. Ihr unterlaufen ±1-<br />
Fehler, ±10-Fehler oder beide gleichzeitig und wenn sie unsicher ist, dann rät sie<br />
einfach. Nach einigen weiteren Förderstunden gelingt es Katrin fast alle Zahlen<br />
quasi – simultan aufzufassen.<br />
Zahlzerlegung<br />
Um die Anwendung der Zahlzerlegung zu üben, lasse ich Katrin die Anzahlen der<br />
Augen zweier Würfel addieren. Da ihr diese Aufgaben keine Schwierigkeiten bereiten,<br />
machen sie Katrin sichtlich Spaß.<br />
Um ein bisschen Abwechslung in die Förderungen zu bringen, gebe ich Katrin das<br />
Klappenspiel. Auch dieses Spiel bereitet ihr Freude. Die Zahlzerlegung kann sie<br />
dabei problemlos anwenden.
Eine sperrige Förderung – Katrin und ich<br />
Mit dem Klappenspiel können viele Zahlzerlegungen der Zahlen bis 10 spielend geübt werden.<br />
Kopfrechnen im Zahlenraum bis 20<br />
Zum Üben des Kopfrechnens im Zahlenraum bis 20 gebe ich Katrin zunächst das<br />
Zauberdreieck (siehe Glossar). Als Katrin die Aufgabenstellung sicher verstanden<br />
hat, hört sie auf zu zählen und benutzt nach eigener Angabe die Zahlzerlegung.<br />
Ihre Ergebnisse kommen deutlich schneller. Bei der Benutzung des Zauberdreiecks<br />
ein paar Wochen später wendet Katrin die Zahlzerlegung allerdings kaum<br />
an. Sie umgeht Subtraktionsaufgaben, indem sie vom Subtrahenden bis zum Minuenden<br />
vorwärts zählt z. B. 20 – 16; 17, 18, 19, 20. An der Anzahl ihrer Finger<br />
sieht sie dann das Ergebnis.<br />
Nach eigener Angabe weiß Katrin viele Aufgaben auswendig. Wenn sie eine Aufgabe<br />
nicht auswendig weiß, wendet sie die Zahlzerlegung eher nicht an, sondern<br />
sucht nach anderen Strategien wie z. B. dem Verdoppeln: 6 + ? = 13, 6 + 6 = 12,<br />
12 + 1 = 13 ? = 7<br />
Wegen Katrins besonderer Probleme bei der Subtraktion lasse ich sie eine Pyramide<br />
(siehe Glossar) mit Subtraktionsaufgaben im 20er Raum legen. Besonders<br />
bei Aufgaben ohne Zehnerübergang zählt Katrin. Nach mehreren Aufforderungen<br />
wendet sie bei Aufgaben mit Zehnerübergang die Zahlzerlegung an.<br />
Auch in den beiden darauffolgenden Förderstunden löst Katrin die meisten Subtraktionsaufgaben<br />
zählend. Analogieaufgaben erkennt und nutzt sie nur, wenn<br />
die Aufgaben direkt nacheinander gestellt werden, z. B. 9 – 4, 19 – 4.<br />
Nach Aufforderungen rechnet sie einige der Aufgaben mit Zehnerübergang<br />
schrittweise, was ihr jedoch sichtlich schwer fällt.<br />
In der nächsten Förderstunde lasse ich Katrin wieder mit dem Zauberdreieck arbeiten.<br />
Diesmal weiß sie ungewöhnlich viele Aufgaben auswendig. Wenn sie unsicher<br />
ist, zählt sie das Ergebnis, das ihr eingefallen ist, nach. Nur selten nutzt sie<br />
das schrittweise Rechnen, um sich Sicherheit zu verschaffen.<br />
In der nachfolgenden Förderung weiß Katrin alle Additionsaufgaben und einige<br />
Subtraktionsaufgaben auswendig.<br />
In der Förderstunde danach lasse ich sie die Pyramide – 20er Raum – Minus legen.<br />
Die ersten drei Aufgaben fallen Katrin schwer. Danach weiß sie fast alle<br />
Aufgaben auswendig. Sie findet auch die passenden Aufgaben zu gegebenen Ergebnissen.<br />
Die Zahlzerlegung wendet Katrin nur zweimal an und davon nur einmal erfolgreich.<br />
Nach einigen weiteren Förderstunden weiß Katrin viele Additions- und Subtraktionsaufgaben<br />
im Zahlenraum bis 20 auswendig, und die Aufgaben, die sie nicht<br />
111
112<br />
Bianca Beyer<br />
auswendig weiß, kann sie problemlos ausrechnen. Wenn sie unsicher ist, zählt<br />
sie jedoch das Ergebnis nach wie vor an ihren Fingern nach.<br />
Kopfrechnen im Zahlenraum bis 100<br />
In der Förderung stelle ich fest, dass Katrin Analogieaufgaben erkennt und anwenden<br />
kann, wenn sie direkt nacheinander gestellt werden, z. B. 6 + 5, 36 + 5.<br />
Zum Lösen von Aufgaben der Art ZE + E mit Zehnerübergang wendet sie problemlos<br />
die Zahlzerlegung an.<br />
Aufgaben der Art ZE – E mit Zehnerübergang löst Katrin ebenfalls mit Hilfe der<br />
Zahlzerlegung, was ihr allerdings deutlich schwerer fällt als bei der Addition. Die<br />
Subtraktionsaufgaben ohne Zehnerübergang löst Katrin durch zählendes Rechnen.<br />
Einige kann sie über Analogieaufgaben ausrechnen.<br />
Zur Ablösung vom zählenden Rechnen gehe ich nach den Aufgabenformaten vor,<br />
wie sie von W. Schipper erklärt werden. (Aufgabenformat 3.1 – 3.3)<br />
Am Rechenrahmen kann Katrin die Aufgaben (ZE±E mit Zehnerübergang) problemlos<br />
handelnd ausrechnen.<br />
Als sie den Rechenrahmen nur ansehen darf, kann sie zunächst keine Aufgabe<br />
mental daran lösen.<br />
Mit geschlossenen Augen kann sich Katrin – nach eigener Angabe – vorstellen,<br />
eine Aufgabe am Rechenrahmen zu lösen.<br />
Das probiere ich mit ihr aus, indem ich mir von Katrin die einzelnen Schritte diktieren<br />
lasse und sie am Rechenrahmen ausführe. Das funktioniert ganz gut, wobei<br />
Katrin oft bei der Zahlzerlegung durcheinander kommt, weil ihr einige Zahlenpärchen<br />
immer noch nicht einfallen.<br />
Am Ende des 4. Schuljahres gebe ich Katrin ein Arbeitsblatt mit Aufgaben der Art<br />
Z±Z, Z±E, ZE±E ohne Zehnerübergang und ZE±E mit Zehnerübergang.<br />
Dabei bereiten ihr die Ergänzungsaufgaben und die Aufgaben mit Zehnerübergang,<br />
die wir lange geübt haben, besonders große Probleme. Nach eigener Angabe<br />
rechnet Katrin einige Aufgaben zählend, weil sie die Anwendung der Zahlzerlegung<br />
nicht auf diese Aufgaben übertragen kann, die ihrer Meinung nach<br />
nichts mit dem zu tun haben, was wir in den Förderungen geübt haben.<br />
Als Katrin einmal unter den Tisch kroch ...<br />
Die Förderungen finden zunächst an einem Tisch nahe der Treppe etwas abseits<br />
der Fläche von Katrins Gruppe statt, bis Katrin im Mai 2002 plötzlich beginnt,<br />
sich unter einen Tisch zu verkriechen, wenn ich auf der Fläche erscheine. Diese<br />
Situation ist mir ziemlich peinlich. Da ich mir nicht anders zu helfen weiß, bitte<br />
ich Katrin einfach unter dem Tisch hervorzukommen und mit mir die Förderung<br />
zu beginnen. Und während ich mich an den Tisch setzte, kommt sie, wenn auch<br />
murrend und meckernd, tatsächlich zu mir.<br />
Dieses Verhalten von Katrin bringe ich in einer Projektsitzung zur Sprache. Ich<br />
erkläre, dass Katrin die Förderung peinlich zu sein scheint, da sie sich unter einem<br />
Tisch verkriecht, wenn ich auf die Fläche komme. Die Projektgruppe berät<br />
über dieses Problem und schlägt vor, dass die Betreuungslehrerin, die Mathematiklehrerin<br />
und ich mit Katrin ein Gespräch führen sollen. Dabei soll es um den<br />
Fortgang der Förderung gehen. Da die Förderstunden ziemlich anstrengend für<br />
mich sind, möchte ich dieses Problem mit Katrin thematisieren. Sie soll entscheiden,<br />
ob sie so kooperativ sein möchte bzw. kann, dass wir die Förderung entspannter<br />
weiterführen können.
Eine sperrige Förderung – Katrin und ich<br />
Wir setzen uns daraufhin mit Katrin zusammen. Katrin reagiert kaum auf unsere<br />
Vorschläge, sondern sitzt nur da und starrt auf den Tisch. Wir erfahren nur von<br />
ihr, dass sie die Förderung nicht abbrechen möchte, wie wir es ihr zur Wahl gestellt<br />
haben. Da ich schon länger vermutete, dass es ihr peinlich sein könnte vor<br />
den anderen Kindern noch mit dem 100er-Rechenrahmen arbeiten zu müssen,<br />
schlage ich Katrin vor, die Förderung an einem anderen Ort stattfinden zu lassen.<br />
Diese Idee nimmt Katrin mit einem Kopfnicken an.<br />
Später unterhalte ich mich noch einmal mit Katrin über diesen Vorfall. Dabei erzählte<br />
sie mir folgendes:<br />
„Tobi, ein Junge aus meiner Klasse hänselt immer jeden und mich hat er immer<br />
mit meinem Matheproblem gehänselt. Daher hatte ich dann keine Lust mehr,<br />
vor allen anderen Kindern auf der Fläche Mathe zu machen, und bei der Treppe<br />
wollte ich auch kein Mathe machen, weil da immer alle lang gehen konnten und<br />
ich mich dann ein bisschen geschämt habe. Deshalb bin ich unter den Tisch gekrochen.<br />
Außerdem fand ich den Rechenrahmen voll bescheuert und finde ihn<br />
auch jetzt noch bescheuert. Ich kann mit so einem Ding gar nicht rechnen, und<br />
außerdem rechnet da auch sonst keiner mehr mit.“<br />
Meiner Meinung nach nennt Katrin diese Gründe auch, um sich nicht mit der Förderung<br />
bzw. dem Fach Mathematik auseinander setzen zu müssen. Mir ist nicht<br />
klar, ob sie diese Gründe vorschiebt, weil sie bezüglich Mathematik so sehr misserfolgsorientiert<br />
ist oder ob sie nur keine Lust hat sich mit der Mathematik zu<br />
befassen.<br />
Die Förderung nach dem ‚Ortswechsel‘<br />
Seit diesem Gespräch arbeite ich mit Katrin in einem kleinen Raum. Wenn ich<br />
jetzt auf die Fläche komme, murrt Katrin zwar manchmal immer noch, dass sie<br />
keine Zeit hat, kriecht aber nicht mehr unter einen Tisch. Meistens nimmt sie<br />
gleich ihre Federmappe und kommt mit. Bei der Förderung in diesem separaten<br />
Raum, wo uns keiner sehen kann, ist Katrin viel motivierter und ehrgeiziger, die<br />
Aufgaben auch wirklich richtig zu lösen. Sie bemerkt sogar ihre eigenen Fehler<br />
und versucht sie zu berichtigen. Hin und wieder kommt es immer noch vor, dass<br />
Katrin zwischendurch unkonzentriert wird. Doch sie meckert dann nicht mehr an<br />
den Aufgaben herum, sondern sie wechselt einfach das Thema und versucht,<br />
mich in ein Gespräch zu verwickeln.<br />
Auch bei diesen Förderungen wird Katrin nach ca. 20 Minuten müde. Doch diesmal<br />
liegt es daran, dass sie konzentriert gearbeitet hat und daher lasse ich sie<br />
dann auch gerne eher gehen.<br />
Katrin im 4. Schuljahr<br />
Katrins Mathematiklehrerin erzählt mir einiges über Katrins viertes Schuljahr:<br />
„Dass Katrin Matheprobleme hat, wusste ich schon als sie kam. Sehr viel wurde<br />
durch ihre Freundin Rosi abgefangen. Rosi ist eine sehr leistungsstarke Schülerin<br />
in Mathematik und hat Katrin gerne bei den Aufgaben geholfen und ihr vieles<br />
erklärt. Natürlich kann man nicht sehen, ob bzw. inwieweit das Katrin wirklich<br />
hilft, weil man nicht weiß, wie viel sie einfach nur abschreibt und wie viel Lernzuwachs<br />
dadurch wirklich entsteht. Ich habe schon früh überlegt, wie man Kat-<br />
113
114<br />
Bianca Beyer<br />
rin besser fördern kann und sie dann ja auch im Projekt als ein Kind vorgestellt,<br />
dem eine Förderung in Mathe helfen könnte. Am Anfang hat sie schon diese üblichen<br />
Sachen mitgemacht, z. B. die Wiederholung des kleinen 1 x 1 wiederholen,<br />
aber ganz schnell zeigte sich, dass das höchstens durch Auswendiglernen<br />
geht, also ein Verständnis für die Mal-Reihen war gar nicht vorhanden. Und<br />
manchmal brach allein schon beim Addieren von 3 + 4 eine Welt für sie zusammen.<br />
Diese starke Misserfolgsorientierung ist typisch für Katrin. Immer wieder kam<br />
bei ihr vor: „Ich kann das sowieso nicht.“ Außerdem war sie sehr schnell beleidigt.<br />
Wenn sie dachte, ein Kind würde ein bisschen bevorzugt – in welcher Weise<br />
auch immer –, war das für sie gleich ein Anlass sich zu verweigern.<br />
Mit ihren zwei Freundinnen ging Katrin ebenfalls sehr launenhaft um. Mal durfte<br />
die eine neben ihr sitzen, mal verabredete sie sich mit der anderen, worunter<br />
die beiden Mädchen sehr gelitten haben.“<br />
Ergebnisse der zweiten Überprüfung<br />
Im Juli 2002 wird Katrin noch einmal im IDM überprüft. Im Folgenden ein paar<br />
Auszüge aus dem Protokoll dieser Überprüfung:<br />
Quasi-Simultane-Zahlauffassung<br />
Katrin kann fast alle Zahlen quasi-simultan auffassen.<br />
Zahlzerlegung<br />
Die Zahlzerlegung der 10 an den Händen bereitet Katrin keine Probleme. Bei<br />
der Zahlzerlegung der 10 mit verdeckten Händen nennt Katrin als Ergänzung<br />
zur 2 erst die 7 und zur 3 nennt sie zuerst die 8. Die weiteren Ergänzungen<br />
nennt Katrin schnell und richtig.
Eine sperrige Förderung – Katrin und ich<br />
Bei der Zahlzerlegung der 20 hat Katrin keine Schwierigkeiten.<br />
Die Lösung der einzelnen Aufgaben sagt sie so schnell, dass die Vermutung nahe<br />
liegt, dass sie die Zahlzerlegung bis 10 memoriert hat und nun auf die Zahlzerlegung<br />
bis 20 überträgt.<br />
Die Zahlzerlegung bis 100 beherrscht Katrin noch nicht vollständig. Besondere<br />
Schwierigkeiten hat sie, wenn mit gemischten Zehnerzahlen, die kleiner als 50<br />
sind gerechnet wird. Die Ergänzung bis 100 bei vollen Zehnerzahlen und Zahlen,<br />
die größer als 50 sind, löst sie richtig.<br />
Kopfrechnen<br />
Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 20<br />
Die Grundaufgaben des kleinen 1 + 1 hat Katrin noch nicht komplett automatisiert,<br />
d. h., dass sie manche Aufgaben noch zählend löst.<br />
Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 1000<br />
Aufgaben der Art (H)ZE + E mit Zehnerübergang im Zahlenraum bis 1000 rechnet<br />
Katrin alle mit Anwendung der Zahlzerlegung des zweiten Summanden richtig<br />
aus.<br />
Beispielaufgabe: 186 + 6 186 + 4 = 190 190 + 2 = 192<br />
Aufgaben der Art (H)ZE ± ZE mit (Hunderter- und) Zehnerübergang im Zahlenraum<br />
bis 1000 rechnet sie schrittweise und mit Anwendung der Zahlzerlegung<br />
richtig, aber nur sehr langsam aus.<br />
Wo stehen wir – Katrin und ich – jetzt?<br />
Katrin:<br />
„Ich habe mich immer darüber gefreut, wenn Bianca gekommen ist, um mit mir<br />
zu arbeiten, aber über das Fach Mathe habe ich mich nicht gefreut. Es hätte mir<br />
besser gefallen, wenn sie Deutsch oder Sport mit mir gemacht hätte, weil das<br />
meine Lieblingsfächer sind. Wie sehr ich mitmache, kommt immer darauf an, ob<br />
mir das Thema auch Spaß macht. Wenn mir das Thema keinen Spaß macht,<br />
dann habe ich auch keine Lust mitzuarbeiten.“<br />
Katrins Mathematiklehrerin:<br />
„Katrin hat sich insgesamt gut entwickelt. Sie ist in der Gruppe recht gut integriert,<br />
hat aber keine beste Freundin. Sie hat jetzt einfach Ruhe zum Lernen und<br />
kann sich vom Kopf her besser auf die Inhalte einlassen. Sie hat im Allgemeinen<br />
große Fortschritte gemacht. Das betrifft auch – allerdings in geringerem Maße –<br />
die Mathematik. Sie hat jetzt erste Erfolge und nimmt wahr, dass sie etwas leisten<br />
kann und dass das sogar Spaß macht. Daher ist ihr Selbstwertgefühl bezüglich<br />
des Lernens gewachsen.“<br />
Mein Resümee:<br />
Die anderen Kinder, mit denen ich gearbeitet hatte, waren immer motiviert und<br />
ehrgeizig in den Förderstunden und freuten sich über jedes Lob von mir. Bei Katrin<br />
traf nichts davon zu. Daher nahm ich Katrins Verhalten mir gegenüber zunächst<br />
persönlich, weshalb die Förderungen ziemlich anstrengend für mich waren.<br />
Dabei hängt Katrins Mitarbeit vom Thema ab, und sie hatte in den Förderstunden<br />
bei mir meistens keine Lust, weil sie das Fach Mathematik nicht gut findet<br />
und meine Inhalte ihr nicht gefielen.<br />
Daraus habe ich vor allem eines gelernt: Ich muss versuchen das Verhalten der<br />
115
116<br />
Bianca Beyer<br />
Kinder nicht mehr auf mich zu beziehen. Dadurch werde ich eine objektivere Perspektive<br />
einnehmen können, so dass ich die wirklichen Beweggründe der Kinder<br />
für ihr Verhalten herausfinden und ihnen entgegenkommen kann.
Brunhild Zimmer<br />
„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />
Mit diesen Worten springt Mike auf, sein Stuhl fällt um, er hüpft durch den Raum,<br />
seine Arme wedeln in der Luft. „Du kannst alle Aufgaben mit mir rechnen, nur<br />
keine Minusaufgaben“, hatte er mir noch vor einem halben Jahr kategorisch erklärt,<br />
als ich mit der Matheförderung mit ihm anfing. „Minusaufgaben kann ich<br />
nicht, überhaupt nicht, die verwirren mich! Da weiß ich gar nicht, was ich rechnen<br />
soll.“<br />
Mike ist 11 Jahre alt, Schüler des 4. Schuljahres in einer altersgemischten Gruppe<br />
3/4/5 (siehe Glossar) der Laborschule <strong>Bielefeld</strong> und hat mit mir seine ersten<br />
Minusaufgaben im Zahlenraum bis 20 erfolgreich bewältigt. Seit einigen Monaten<br />
fördere ich ihn im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprojekts „‚Ich erklär‘<br />
dir, wie ich rechne‘ – Prävention von Rechenstörungen“. Ich selbst bin nicht<br />
seine Mathematiklehrerin, unterrichte aber seine altersgemischte Gruppe mit vier<br />
Stunden im Gesamtunterricht Sprache/Projekt. Lehrerin an der Laborschule bin<br />
ich seit 1976.<br />
Mikes mathematische Entwicklung nimmt im Laufe der Schuljahre einen anderen<br />
und schwierigeren Verlauf als seine allgemeine schulische Entwicklung. Deshalb<br />
untergliedere ich meinen Bericht über Mike in drei Teile: Zunächst skizziere ich<br />
seine allgemeine schulische Entwicklung, ehe ich mich im zweiten Kapitel ausführlich<br />
seinen mathematischen Kenntnissen und meinen Fördermaßnahmen<br />
widme. Im dritten Kapitel ziehe ich ein vorläufiges Resümee.<br />
Mikes Schul- und Lerngeschichte<br />
Erstes und zweites Schuljahr (Stufe I)<br />
Mike besucht in seinem ersten Schuljahr eine Grundschule in <strong>Bielefeld</strong>. Aufgrund<br />
seiner schwachen Leistungen, vor allem in Mathematik, muss er das Schuljahr<br />
wiederholen. Bevor für ihn ein Verfahren zum sonderpädagogischen Förderbedarf<br />
eingeleitet werden kann, wird er an der Laborschule angemeldet und bekommt<br />
im April 1999 als Einer in einer altersgemischten Gruppe der Eingangsstufe einen<br />
Platz.<br />
Nach Aussagen seiner damaligen Laborschullehrerin kommt er als sehr verängstigtes<br />
und verschüchtertes Kind in die Laborschule. Er spricht kaum und hat wenig<br />
Selbstbewusstsein, er wirkt sehr kindlich und naiv. Er hat große Schwierigkeiten,<br />
Kontakt zu anderen Kindern der Gruppe aufzunehmen, und orientiert sich<br />
vor allem an den Kleineren und sucht die freundschaftliche Beziehung zu einem<br />
Vorschuljungen. Am liebsten spielt Mike Brettspiele oder baut mit Klötzen auf<br />
dem Teppich. Vor dem Toben und dem Fußballspielen anderer Kinder hat er großen<br />
Respekt, er beobachtet lieber aus sicherer Entfernung das Geschehen. Als er<br />
nach vielen Ermutigungen seiner Lehrerin zum ersten Mal seine Angst überwinden<br />
kann und beim Fußballspiel mitmacht, ist er stolz und überglücklich.<br />
Am liebsten ist Mike aber der Kontakt zu den Erwachsenen. Er redet gerne und<br />
viel und erzählt von allem, was ihn beschäftigt.<br />
117
118<br />
Brunhild Zimmer<br />
Beim Arbeiten mit seinen Materialien hat er große Angst, Fehler zu machen bzw.<br />
zu versagen. Gerade in der Anfangszeit wählt er aus seinem Wochenplan vor allem<br />
Schreibübungen aus, da er sich hierbei am sichersten fühlt. Bei Rechen- und<br />
Leseübungen fragt er stets die Lehrerin um Rat. Tipps und Hilfen anderer Kinder<br />
reichen nie aus, um ihm seine Unsicherheit zu nehmen. Er sucht ständig die Bestätigung<br />
durch den Erwachsenen.<br />
Der Lernbericht seiner Betreuungslehrerin am Ende des zweiten Schuljahres dokumentiert<br />
seine Probleme:<br />
„Beim Arbeiten in den verschiedenen Übungsmaterialien bist du ein gutes<br />
Stück vorangekommen. Du hast im letzten Schuljahr schon viel mehr<br />
Selbstvertrauen bekommen. Trotzdem hast du oft alleine gearbeitet. Ich<br />
habe den Eindruck, dass du beim Arbeiten noch immer befürchtest, nicht so<br />
schnell oder weit zu sein wie andere Kinder. Auch wenn das manchmal so<br />
ist, so kannst du stolz darauf sein, wie gut du dir deine Arbeiten einteilen<br />
kannst und genau einschätzen kannst, wann du regelmäßig üben musst. ...<br />
Manche Rechenaufgaben machen dir leider immer wieder Schwierigkeiten.<br />
Viele Aufgaben bis 20 kannst du lösen, und auch bei den Zahlen im Hunderterraum<br />
kennst du dich nun schon besser aus. Es ist gut, dass du dir verschiedene<br />
Rechenhilfen holst: ob die Hundertertafel, den Zählrahmen oder<br />
die Zählbretter. Sie geben dir mehr Sicherheit und das ist gut so.“<br />
Dieser Lernbericht ist – wie in der Laborschule üblich – sehr bestärkend verfasst.<br />
Lernberichte zeigen die individuellen Fortschritte der Schüler und Schülerinnen<br />
auf und sollen Kindern Mut und Zuversicht in ihren eigenen Entwicklungsweg geben.<br />
In diesem Sinne ist auch der Lernbericht, der an Mike selbst adressiert ist,<br />
zu verstehen; für uns Pädagogen sind seine Lernschwächen jedoch deutlich herauszulesen.<br />
Da Eltern nicht unbedingt ‚zwischen den Zeilen‘ lesen können und<br />
müssen, werden Mikes Eltern in einem Gespräch mit der Betreuungslehrerin die<br />
Lernschwächen ihres Sohnes noch einmal verdeutlicht. In diesem Zusammenhang<br />
schlägt Mikes Lehrerin den Eltern vor, sich an die Beratungsstelle des ‚Instituts<br />
für Didaktik der Mathematik‘ (IDM) an der Universität <strong>Bielefeld</strong> (siehe Glossar)<br />
zu wenden, um eine genauere Diagnose seiner Rechenschwierigkeiten zu<br />
erhalten. Danach sollen geeignete schulische und private Fördermaßnahmen eingeleitet<br />
werden.<br />
Die Eltern zeigen sich hier wie auch während aller weiteren Schuljahre kooperativ.<br />
Sie sind freundlich, offen und froh, dass Mike an der Laborschule einen für<br />
ihn passenden Platz gefunden hat. Der Schule gegenüber tritt meistens die Mutter<br />
in Erscheinung. Sie ist an Elternabenden präsent, zu Eltern-Kinder-<br />
Nachmittagen erscheinen auch Mikes Vater und seine ältere Schwester, die die<br />
Schule schon abgeschlossen hat und in einem Supermarkt als Verkäuferin arbeitet.<br />
Die Eltern geben sich große Mühe bei der Erziehung und Bildung von Mike<br />
und scheuen auch keine Kosten, um zusätzliche Hilfen und therapeutische Maßnahmen<br />
einzuleiten. Mike nimmt für einige Zeit an einer motorischen Förderung<br />
teil. Hier geht es vor allem darum, seine Angst vor dem Wasser zu verlieren. In<br />
einer weiteren therapeutischen Maßnahme geht es um Verhaltensprobleme, insbesondere<br />
um das unangemessen dominante und fordernde Verhalten, das Mike<br />
(vor allem weiblichen) Erwachsenen gegenüber zeigt. Später setzt dann die außerschulische<br />
Mathematikförderung im IDM ein.
„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />
Drittes und viertes Schuljahr (Stufe II)<br />
Mike verbringt ein Jahr und zwei Monate in der Eingangsstufe der Laborschule,<br />
die normalerweise das Vorschuljahr, das erste und zweite Schuljahr umfasst.<br />
Aus Altersgründen (er ist fast 10 Jahre alt) wechselt Mike nach seinem zweiten<br />
Schuljahr im Sommer 2000 in den Jahrgang drei, obwohl er die Lernziele und die<br />
Übergangsqualifikationen für den Übergang in die Stufe II nicht erreicht hat. Gut<br />
wäre sicherlich für ihn gewesen, er hätte noch ein weiteres Jahr in der Eingangsstufe<br />
verbringen können, um seine ersten Schritte in die (schulische) Selbständigkeit<br />
zu wagen und seine Ichstärke zu festigen; doch er ist körperlich zu weit<br />
entwickelt, um mit seinen zehn Jahren noch mit den Fünf- bis Achtjährigen unterrichtet<br />
zu werden.<br />
Ich kenne Mike seit dem Stufenwechsel (mit dem Übergang vom 2. zum 3.<br />
Schuljahr) und verfolge nun seit zweieinhalb Jahren seine Lerngeschichte als<br />
Fachlehrerin.<br />
Der Wechsel in die Stufe II 1 mit seinen vielen Neuerungen – ein neues Gebäude,<br />
eine neue Lerngruppe, neue Lehrer und Lehrerinnen, dem Fachunterricht in Englisch,<br />
Werken und Sport, um nur die wichtigsten Veränderungen zu nennen – ist<br />
eine große Herausforderung für Mike. Mike kommt in die altersgemischte Gruppe<br />
3/4, die sich gerade im Aufbau befindet und in diesem Schuljahr nur 2 Jahrgänge<br />
und 15 Kinder umfasst. Erst im nächsten, seinem vierten Schuljahr, soll sie ihre<br />
volle Größe von 21 Kindern und drei Schuljahren 3/4/5 haben.<br />
Fast das gesamte dritte Schuljahr läuft Mike den Erwachsenen hinterher wie ein<br />
‚junger Hund’. Er tut das beständig, den ganzen Tag lang. Er ist dabei nicht unterwürfig<br />
und ‚klebt’ nicht, weil er etwa die körperliche Nähe sucht. Nein, er verbindet<br />
diese Nähe mit einer fordernden Haltung, die heißt „Du musst mir jetzt<br />
sofort helfen, etwas erklären, einen Bleistift organisieren“, „Du bist für mich da,<br />
für mich allein, für die anderen Kinder jedenfalls nicht.“ Dieses Verhalten von<br />
Mike ist für alle seine LehrerInnen anfänglich sehr stressig. Es bedarf einiger ‚Befreiungsschläge‘,<br />
um das zu ändern, und auch einer ganzen Reihe von Selbständigkeitsübungen<br />
(wie „Du kannst erst wieder zu mir kommen, wenn du diese<br />
Aufgabe erledigt hast“). Wir können uns unter den Bedingungen der kleinen<br />
Gruppe sehr intensiv um ihn kümmern. Für jede Art von Förderung bleibt es eine<br />
Gradwanderung: Mike muss lernen selbständig zu arbeiten und braucht gleichzeitig<br />
viel Hilfe. Hilfe annehmen und nutzen – und sich nicht von ihr abhängig machen;<br />
Förderung annehmen und nutzen – und nicht die Förderer alleine arbeiten<br />
lassen. Beides muss er üben.<br />
Soziale Kontakte zu anderen Kindern sind kaum sichtbar. Mike wird geduldet,<br />
irgendwie mitgenommen; er ist kein Außenseiter, wird nicht von der Gruppe abgelehnt<br />
– zum Glück ist es eine Gruppe mit sehr freundlichen Kindern, die ihn ab<br />
und zu auch einladen „doch endlich mal mitzumachen“. Erst später im vierten<br />
und fünften Schuljahr wird Mike zu anderen Kindern Kontakt aufnehmen, zu den<br />
jüngeren Kindern vor allem und auch zu den weniger Lernstarken.<br />
Der Ausschnitt aus dem Bericht seines Betreuungslehrers am Ende des dritten<br />
Schuljahres dokumentiert noch einmal die Anstrengung, die dieser Übergang für<br />
Mike bedeutet.<br />
„Die Gruppe orange war für dich also ziemlich neu. ... Wie das so deine Art<br />
ist, orientierst du dich immer sehr deutlich an den Erwachsenen, das heißt<br />
1 Näheres dazu siehe unter Lenzen (1986)<br />
119
120<br />
Brunhild Zimmer<br />
an mir oder einem anderen Lehrer. ... Informationen holst du dir immer „direkt<br />
von der Quelle“, das heißt von mir. Das war für mich manchmal sehr<br />
anstrengend, weil du mich unablässig irgend etwas gefragt hast. Nun bin ich<br />
aber nicht Lehrer nur für dich, sondern auch für andere Kinder. Du solltest<br />
mit den anderen Kindern viel häufiger zusammen spielen und auch regelmäßiger<br />
zusammen arbeiten.“<br />
Im vierten Schuljahr kann Mike diesen Rat beherzigen. Dabei ist die altersgemischte<br />
Gruppe für ihn von großem Vorteil sowohl im sozialen Bereich als auch in<br />
den Lernbereichen. Er orientiert sich in diesem Schuljahr vor allem an den Dreier-Mädchen<br />
und kann bei ihnen für einige Zeit die Rolle des „Großen“ einnehmen.<br />
Das tut ihm sehr gut.<br />
Im Schreiben und Lesen macht er große Fortschritte. Er kann selbständig Texte<br />
erlesen und liest Geschichten auch in der Gruppenversammlung und in der großen<br />
Versammlung aller drei altersgemischten Gruppen vor. Seine Aufgaben im<br />
Rechtschreibkurs kann er schon viel selbständiger bearbeiten, er muss nicht<br />
dauernd mehr nachfragen. Das freie Schreiben von Texten fällt ihm jedoch sehr<br />
schwer, und hier braucht er die Hilfe eines Erwachsenen.<br />
Kleine Erfolge zeigen sich auch im Mathematikbereich, hier vor allem beim Erlernen<br />
des kleinen 1 x 1 (s. u.).<br />
Auszug aus dem Lernbericht des Betreuungslehrers am Ende des 4. Schuljahres:<br />
„Lieber Mike,<br />
Du hast ein erfolgreiches Schuljahr hinter Dir. Es ist Dir gelungen, in der<br />
Gruppe häufiger auch auf andere Kinder zuzugehen, sowohl beim Spielen<br />
als auch beim Arbeiten. Überhaupt bist Du, so haben wir den Eindruck, etwas<br />
mutiger und selbstbewusster geworden. Das zeigt sich auch in fast allen<br />
Unterrichtsbereichen.<br />
Du hast auch in diesem Schuljahr ehrgeizig und meist konzentriert gearbeitet.<br />
Auf jeden Fortschritt warst Du mächtig stolz, gleich ob es nun um Fortschritte<br />
beim Schwimmen oder im Mathematikunterricht ging. Es ist sehr<br />
wichtig, dass Du solche Fortschritte spürst, auch wenn sie – wie im Bereich<br />
Mathematik – manchmal nur langsam zu erreichen waren. Wir finden es<br />
sehr gut, dass Du Dich auch bei Schwierigkeiten nicht entmutigen lässt,<br />
sondern immer am Ball bleibst.<br />
Den Gesprächen in der Gruppe bist Du auch in diesem Halbjahr meist aufmerksam<br />
gefolgt, leider hast Du Dich selbst aber nur selten zu Wort gemeldet.<br />
Du solltest versuchen, das im nächsten Schuljahr zu ändern.“<br />
Trotz aller Fortschritte, die Mike in diesem Schuljahr macht, ist der Förderbedarf<br />
im Bereich Sprache und ganz besonders im Fach Mathematik deutlich und sein<br />
Betreuungslehrer dokumentiert das auch offiziell, indem er ein Porträt (siehe<br />
Glossar) für Mike schreibt.<br />
Die Mathematikförderung<br />
Organisation der Förderung<br />
Der Mathematikunterricht ist nach wie vor die größte Herausforderung für Mike.<br />
In der Mitte des 3. Schuljahres führt die Beratungsstelle des IDM eine Leistungsanalyse<br />
zu Mikes Rechenfähigkeiten durch (‚Erstüberprüfung‘ – s. u.). Anschließend<br />
wird in Abstimmung mit den Eltern eine erste Fördermaßnahme außerhalb
„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />
der Schule mit einer Lehramtsstudentin eingeleitet.<br />
Nachdem gut ein halbes Jahr später das Forschungsvorhaben „Ich erklär’ dir, wie<br />
ich rechne, Prävention von Rechenstörungen“ zwischen der Laborschule und dem<br />
IDM anläuft, kann Mikes Förderung seit Oktober 2001 in dieses Projekt integriert<br />
werden. So erhält er neben dem regulären Mathematikunterricht eine wöchentliche<br />
Förderstunde von mir. Dies geschieht innerhalb einer doppelbetreuten Unterrichtszeit<br />
mit seinem Mathematiklehrer, der zugleich sein Betreuungslehrer ist.<br />
Mehr Kapazität steht uns leider während der Schulstunden nicht zur Verfügung.<br />
Deshalb gebe ich Mike zusätzlich seit einem halben Jahr einmal pro Woche in der<br />
Mittagspause eine halbstündige Einzelförderung. Ich löse damit die Lehramtsstudentin<br />
ab, die diese Arbeit aus studienbedingten Gründen abgeben muss. Diese<br />
weitere Förderzeit ist absolut notwendig, um den Zeitraum zwischen den einzelnen<br />
Mathematikstunden nicht zu groß werden zu lassen und um das Gelernte<br />
häufiger wiederholen zu können. Gerade für Mike, dem eine enge soziale Bindung<br />
beim Lernen hilft, ist auch die kontinuierliche Förderung bei einer Person<br />
von Vorteil.<br />
Der Beginn einer Förderstunde:<br />
Mike liebt diese halbe Stunde mit mir alleine sehr und freut sich auf diese Zeit.<br />
„Machen wir Donnerstag wieder Mathe?“, fragt er mich zwischendurch immer<br />
wieder. Ist der Donnerstag da, erinnern wir uns gegenseitig morgens an unsere<br />
gemeinsame Arbeitszeit in der Mittagspause. Dann geht Mike zum Schwimmen,<br />
anschließend zum Mittagessen. Mindestens jedes zweite Mal erscheint er nicht<br />
zum Unterricht. Ich und seine Freunde und Freundinnen sind schon darauf eingestellt,<br />
ihn suchen zu müssen, in der Mensa, auf dem Bauspielplatz, beim Tennisspielen.<br />
Aufgeregt und erhitzt vom schnellen Laufen kommt er mit den suchenden<br />
Kindern zurück. „Tut mir wirklich leid, ich hab es völlig vergessen, aber<br />
nächstes Mal denke ich bestimmt daran!“ Zu Anfang des 4. Schuljahres ist er<br />
zweimal hintereinander nicht zum Unterricht erschienen und alles Suchen war<br />
vergeblich. Der Grund: Der neue Jahrespraktikant der Gruppe bietet in der großen<br />
Pause an, Gitarre spielen zu lernen. Mike ist begeistert und verbringt von<br />
nun an seine Pausenzeiten im Musikraum, was ich nicht wusste. Musik ist seine<br />
große Leidenschaft. Er singt in zwei Chören mit, in einem Jugend- und in einem<br />
Shantychor. Mike selbst ist erschüttert über seine Vergesslichkeit und auch darüber,<br />
das er die Chance vertut, im Rechnen weitere Fortschritte zu machen. Und<br />
natürlich bin ich ärgerlich. Die Idee, ihm ein Schild um den Hals zu hängen mit<br />
der Erinnerung, lehnen wir beide als zu peinlich für ihn ab. Am nächsten Tag präsentiert<br />
er mir die Lösung seiner Mutter und ist superstolz. „Ich nehme jetzt<br />
donnerstags immer mein Handy mit. Meine Mutter ruft mich dann an, wenn es<br />
Zeit ist, dann kann ich es nicht verpasse, und ihr braucht mich nicht zu suchen.<br />
Der nächste Donnerstag ist da. Aha, Mike hat an sein Handy gedacht, alles ist in<br />
Ordnung, die Mathe-Förderstunde gesichert. Zehn Minuten bevor der Unterricht<br />
beginnt sitze ich mit meinen Kolleginnen in einer Konferenz auf der Unterrichtsfläche<br />
als ein Handy anfängt zu läuten. Wir brechen in Gelächter aus. Natürlich<br />
ist es Mike Handy. Es liegt in seinem Schulfach, und er befindet sich im Musikraum.<br />
Karina läuft los, um Mike zu holen, zum Glück wissen wir ja jetzt, wo er<br />
ist!<br />
121
Analyse der Rechenfähigkeiten<br />
122<br />
Brunhild Zimmer<br />
Es gibt eine Erst- und Zweitüberprüfung zu Mikes Rechenfähigkeiten, deren Befunde<br />
im Folgenden tabellarisch gegenübergestellt werden. Dazwischen liegt der<br />
Förderzeitraum von mehr als einem Schuljahr, der unten im Abschnitt „Arbeitsschwerpunkte<br />
und Erkenntnisse“ ausführlicher betrachtet wird.<br />
Befunde der Ersterhebung<br />
(27.02.01, Mitte 3. Schuljahr)<br />
Das Vorwärtszählen bis 20 bereitet<br />
Mike keine Probleme, rückwärts zählt<br />
er zögernd, aber korrekt.<br />
Im Zahlenraum bis 100 bewegt er sich<br />
nur bis 33 sicher. Große Schwierigkeiten<br />
bereiten ihm danach die Zehnerübergänge.<br />
So springt er beispielsweise<br />
ganze Zehnerschritte zurück und<br />
beginnt dann vorwärts zu zählen, vertauscht<br />
also die Zählrichtung. Ab 65<br />
zählt er folgendermaßen: 65, 69, 50,<br />
40, 41 ... 49, 80.<br />
Vorgänger und Nachfolger kann Mike<br />
im Zahlenraum bis 100 nennen. Als<br />
Nachfolger der 100 nennt er die Zahl<br />
„Einhundert“.<br />
Auf die Frage nach der größten Zahl,<br />
die er kenne, antwortet er mit 1000.<br />
Eine größere kann er nicht nennen.<br />
Die Nummer 7820 kann Mike nach 5<br />
Minuten nicht wiedergeben, er weiß<br />
jedoch, dass eine 2 und eine 0 vorkommen.<br />
Die Ziffern werden für ihn<br />
im Laufe der Überprüfung mehrere<br />
Male genannt. Nach 30 Minuten kann<br />
Mike nur die letzten 3 Ziffern nennen.<br />
Seine Telefonnummer kennt er.<br />
1. Zählen<br />
2. Orientierung im Zahlenraum<br />
3. Gedächtnis<br />
Befunde der Zweiterhebung<br />
(15.07.02, Ende 4. Schuljahr)<br />
Das Vorwärts- und Rückwärtszählen<br />
im Zahlenraum bis 106 fällt Mike<br />
leicht. Nach eigener Angabe kann er<br />
bis 1000 zählen. Das Vorwärtszählen<br />
ab 538 gelingt ihm jedoch nicht.<br />
Mike kann die Begriffe Vorgänger und<br />
Nachfolger nicht richtig zuordnen. Als<br />
Mike sagen soll, welche Zahl z. B. vor<br />
7 kommt, nennt er den Nachfolger.<br />
Bei der Frage, welche Zahl nach 7<br />
kommt, nennt er den Vorgänger.<br />
Mike weiß nicht, dass es unendlich<br />
viele Zahlen gibt.<br />
Mike gibt an, seine Telefonnummer zu<br />
kennen. Auf die Frage, ob er sich Zahlen<br />
gut merken kann, antwortet er mit<br />
ja. Während der folgenden Aufgabe<br />
(4807) wiederholt er flüsternd die<br />
vierstellige Ziffernfolge, allerdings mit<br />
einem Fehler: 4827. Im Verlauf der<br />
Übung sagt Mike mehrmals, dass er<br />
die Zahl vergessen hat, ohne danach<br />
gefragt worden zu sein.<br />
4. Zahldarstellung und Zahlauffassung<br />
Mike erkennt die dargestellte 7 am<br />
20er- Rechenrahmen und gibt die Begründung<br />
„Da sind 2 dazugekommen“.<br />
Ebenso bei der 16: „... und eine Rote“.<br />
Er scheint die Fünferstruktur des<br />
Rahmens zu nutzen und ist nicht auf<br />
Mike kann am 20er-Rechenrahmen<br />
problemlos Zahlen ablesen und einstellen.
das Abzählen angewiesen.<br />
Am 100er-Rechenrahmen kann Mike<br />
dargestellte Zahlen sicher erkennen.<br />
Auch das Einstellen genannter Zahlen<br />
am Rechenrahmen gelingt ihm, wobei<br />
er bei der 8 fünf mit einem Fingerstreich<br />
schiebt und die restlichen 3<br />
einzeln abzählt. Bei der 65 schiebt er<br />
6 Reihen und die restlichen 5 einzeln<br />
ab.<br />
Mike scheint schon teilweise in der<br />
Lage zu sein, die Struktur des Rechenrahmens<br />
zu nutzen.<br />
Die Quasi-Simultane Zahlauffassung<br />
gelingt Mike am 20er-Rechenrahmen<br />
Die Quasi-Simultane Zahlauffassung<br />
am 100er-Rechenrahmen wurde nicht<br />
differenzierter erhoben.<br />
Mike notiert die genannten Zahlen wie<br />
sie gesprochen werden, also bei Zahlen<br />
über 12 zuerst den Einer.<br />
Die Zahl 125 schreibt er korrekt, bei<br />
der Tausend macht er eine Null zuviel<br />
und notiert 10000.<br />
Die kardinale Invarianz wurde nicht<br />
erhoben.<br />
„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />
5. Quasi-Simultane Zahlauffassung<br />
6. Zahlendiktat<br />
7. Kardinale Invarianz (Piaget)<br />
Mike weiß, dass der 100er-<br />
Rechenrahmen 100 Perlen besitzt.<br />
Beim Einstellen der 65 macht er einen<br />
±10 Fehler. Er stellt 75 ein. Durch die<br />
Nachfrage, wie viele Zehner eingestellt<br />
sind, bemerkt er seinen Fehler und<br />
korrigiert ihn. Alle anderen genannten<br />
Zahlen liest er richtig ab bzw. stellt sie<br />
richtig ein.<br />
Bei der Quasi-Simultanen Zahlauffassung<br />
am 20er Rechenrahmen fasst<br />
Mike alle Zahlen sofort richtig auf.<br />
Die Quasi-Simultane Zahlauffassung<br />
am 100er-Rechenrahmen fällt Mike<br />
schwer. Die Zahl 77 erkennt er nicht<br />
sofort. Als die 77 gezeigt wird, macht<br />
er einen Zahlendreher. Er sagt zuerst<br />
37, dann 73. Nachdem die 77 zum<br />
zweiten Mal gezeigt wurde, sagt er<br />
wieder 73. Daraufhin soll er die Zahl<br />
vom 100er-Rechenrahmen ablesen. Er<br />
macht dabei einen ±1-Fehler, in dem<br />
er 76 statt 77 abliest.<br />
Beim Zahlendiktat notiert Mike statt<br />
der genannten 34 die 43 und danach<br />
statt der 43 die 34, ohne seinen Fehler<br />
zu bemerken. Beim Lesen der Zahlen<br />
macht er keine Zahlendreher, und am<br />
Ende des Zahlendiktats notiert er die<br />
noch einmal diktierte 43 richtig. Alle<br />
anderen genannten Zahlen im Zahlenraum<br />
bis 1000 schreibt Mike richtig<br />
auf.<br />
Zwei Reihen mit Plättchen liegen vor<br />
Mike. Nachdem eine der Reihen weiter<br />
auseinander geschoben und er gefragt<br />
wurde, wo mehr sind, zeigt Mike auf<br />
die ausgebreitete Plättchenreihe. Er<br />
sagt, dass das mehr sind, weil die weiter<br />
auseinander sind. Auf die Frage, ob<br />
es auch mehr Plättchen sind, antwortet<br />
er mit nein.<br />
Nachdem eine Reihe zusammengeschoben<br />
wurde, antwortet er genauso<br />
123
Die Zuordnung der Begriffe rechts und<br />
links gelingt Mike am eigenen Körper.<br />
Am Gegenüber kann er die Begriffe<br />
nicht immer richtig zuordnen.<br />
Die Aufgabe 6 + 6 zählt Mike an den<br />
Fingern ab. Dabei zählt er korrekt bis<br />
zum Finger der zweiten Hand, nennt<br />
aber als Ergebnis die 11. Auch andere<br />
Aufgaben im Zahlenraum bis 20 versucht<br />
er, mit Hilfe der Finger zu lösen.<br />
Bei der Aufgabe 2 + 7 = zählt er richtig<br />
(9 Finger), liest aber falsch 14, d. h.<br />
eine Hand mehr ab.<br />
Subtraktionsaufgaben bis 20 löst Mike<br />
ebenfalls zählend.<br />
Das Kopfrechnen im Zahlenraum bis<br />
100 bereitet Mike Schwierigkeiten und<br />
auch mit einem Hilfsmittel (der Hundertertafel)<br />
kann Mike nicht immer<br />
richtige Lösungen liefern. Er löst auch<br />
124<br />
Brunhild Zimmer<br />
8. Links-Rechts-Unterscheidung<br />
9. Kopfrechnen<br />
wie bei der ersten Aufgabe auf die<br />
Frage, wo mehr sind. Die Frage, ob<br />
die Anzahl noch dieselbe ist, beantwortet<br />
Mike mit ja.<br />
Er hat somit die Invarianz der Anzahl<br />
verinnerlicht.<br />
Mike kann links und rechts sicher am<br />
eigenen Körper, am Gegenüber und an<br />
der Gliederpuppe unterscheiden.<br />
Die Verdoppelungsaufgaben löst Mike,<br />
indem er die 1 x 1-Reihe mit 2 nutzt.<br />
Bei ZE + E ohne Zehnerübergang nutzt<br />
er nach eigener Angabe die Analogieaufgaben.<br />
Einige Aufgaben der Art E + E mit<br />
Zehnerübergang löst Mike zählend.<br />
Nach eigener Angabe weiß Mike, dass<br />
er den ersten Summanden bis zur 10<br />
auffüllen und den Rest des zweiten<br />
dann dazuaddieren muss. Er weiß jedoch<br />
nicht mehr, warum man so rechnet.<br />
Nachdem er einige Aufgaben der Art Z<br />
+ E problemlos gerechnet hat, fällt es<br />
ihm leichter E + E mit Zehnerübergang<br />
unter Anwendung der Zahlzerlegung<br />
zu rechnen.<br />
Nachdem die erste Aufgabe (8 – 4)<br />
genannt wurde, sagt Mike sofort, dass<br />
er Minus nicht rechnen kann. Dann<br />
begründet er die Aufgabe 8 – 4 = 4<br />
zweimal mit 8 – 8 = 4.<br />
Die Aufgaben 10 – 3, 10 – 5 und 17 –<br />
10 kann er problemlos ausrechnen.<br />
Bei der Addition im Zahlenraum bis<br />
100 sind Aufgaben der Art Z + E und Z<br />
+ Z sind für Mike kein Problem. ZE + E<br />
ohne Zehnerübergang löst er zählend,<br />
wahrscheinlich ebenso die Aufgabe 29<br />
+ 5, bei der er einen ±1 Fehler macht<br />
und 35 erhält.<br />
Bei der Aufgabe 80 – 30 = 50 hat Mike<br />
nach eigener Angabe gezählt. 47 – 5<br />
kann er nicht lösen.
hier die Aufgabe zählend. Einige Aufgaben<br />
wie 19 + 6 = 25 rechnet er korrekt.<br />
Die Begriffe „das Doppelte“ und „die<br />
Hälfte“ kann Mike nicht immer richtig<br />
anwenden.<br />
„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />
10. Halbschriftliches und schriftliches Rechnen<br />
Die Aufgabe 43 + 26 = 76 löst Mike<br />
wie folgt: 4 + 2 = 6 (die Zehnerstellen),<br />
er notiert diese jedoch an der<br />
Einerstelle im Ergebnis. Dann notiert<br />
er eine 7 an der Zehnerstelle, da „sieben<br />
einer mehr als sechs“ ist (er wählt<br />
dabei die Einerstelle eines beliebigen<br />
Summanden; später bei der Subtraktionsaufgabe<br />
zieht er dann eins ab).<br />
Diese Methode behält er auch bei weiteren<br />
Aufgaben bei:<br />
• 27 + 35 = 85 (2 + 3 = 5 notiert an<br />
der Einerstelle; und „acht ist einer<br />
mehr als sieben“);<br />
• 82 – 36 = 55 (8 – 3 = 5 notiert an der<br />
Einerstelle; und „fünf ist einer weniger<br />
als sechs“).<br />
Eine andere „Strategie“ des halbschriftlichen<br />
Rechnens scheint ihm<br />
nicht zur Verfügung zu stehen.<br />
Schriftliche Rechenverfahren kennt<br />
Mike nicht.<br />
Bei der Zahlzerlegung der 10 an den<br />
Händen gelingt es Mike nicht immer,<br />
die richtige Reihenfolge (von links<br />
nach rechts) einzuhalten. Er kommt<br />
immer zu einem richtigen Ergebnis.<br />
Mit abgedeckten Fingern kommt er<br />
manchmal auf die Gesamtsumme 11,<br />
z. B. 3, 8.<br />
Die Zerlegung bis zur 20 gelingt Mike<br />
größtenteils korrekt.<br />
Mike findet sich ohne Probleme auf der<br />
Hundertertafel zurecht, sodass er auch<br />
abgedeckte Zahlen richtig benennen<br />
kann. Es scheint allerdings so, als<br />
11. Zahlzerlegung<br />
12. Hundertertafel<br />
Das halbschriftliche und schriftliche<br />
Rechnen wurde nicht erhoben.<br />
Die Zahlzerlegung der 10 ist für Mike<br />
kein Problem.<br />
Mike kann die genannten Zahlen (4,<br />
12, 19, 0, 9) richtig bis zur 20 ergänzen.<br />
Er macht nur einen Fehler, in<br />
dem er als Ergänzung zur 17 die 13<br />
nennt. Er bemerkt und verbessert seinen<br />
Fehler sofort.<br />
Die Zahlzerlegung der 50 kann Mike<br />
nicht (41 : 11; 48 : 12; 49 : 11; 20 :<br />
18).<br />
Mike findet sofort alle genannten Zahlen<br />
auf der Hundertertafel. Auch die<br />
Zahl vor der 90 und die verdeckte 57<br />
zeigt er richtig. Als die Felder mit 55,<br />
125
könne er ihre Struktur zum Rechnen<br />
nicht nutzen.<br />
Während der Arbeitsphase mit der<br />
Hundertertafel unterläuft ihm allerdings<br />
ein Zahlendreher, er deutet auf<br />
das Feld, das der 45 entspricht und<br />
nennt die Zahl 54. Hieraus lässt sich<br />
schließen, dass Mike noch auf das<br />
Schriftbild einer Zahl angewiesen ist,<br />
um diese sicher zu benennen.<br />
Auch auf der leeren Hundertertafel<br />
findet sich Mike gut zurecht.<br />
Auf die Bitte, ein Bild zur Zahl drei zu<br />
malen, notiert Mike die Aufgabe 3 + 4<br />
= 7, auf die Frage, ob das auch anders<br />
gehe, notiert er die Tauschaufgabe 4 +<br />
3.<br />
Eine Subtraktionsaufgabe beschreibt<br />
Mike mit: „Da muss man was abziehen“.<br />
Auf die Bitte, eine Multiplikationsaufgabe<br />
darzustellen, sagt er die Reihe<br />
auf.<br />
Ein Zahl- und Operationsverständnis<br />
scheint bei Mike nicht vorhanden zu<br />
sein.<br />
Stell dir vor Peter hat 7 Kuscheltiere<br />
und du hast 5. Wieviel Kuscheltiere<br />
hat Peter mehr als du?<br />
Wieviel Kuscheltiere musst du noch<br />
bekommen, damit du genau so viele<br />
hast wie Peter?<br />
Bei der Frage nach mehr, nennt Mike<br />
die Anzahl der meisten Kuscheltiere,<br />
also 7. Auf die zweite Frage mit der<br />
Handlungsanweisung kann er keine<br />
Lösung finden.<br />
Mike schätzt seine eigene Größe auf<br />
1,60 m, die Höhe der Tür auf 38,1 cm.<br />
Auf die Bitte, einen 1 cm langen Strich<br />
zu malen, zeichnet er einen Strich mit<br />
ca. 11 cm Länge, ein 3 cm langer<br />
126<br />
Brunhild Zimmer<br />
13. Zahl- und Operationsverständnis<br />
14. Rechengeschichten<br />
15. Größenvorstellung<br />
56, 57, 46 und 66 mit Plättchen verdeckt<br />
sind, erkennt er die 56, in dem<br />
er sich – nach eigener Angabe – an der<br />
54 orientiert.<br />
Die Zielfelder der Wege auf der Hundertertafel<br />
kann Mike problemlos finden.<br />
Auch auf der leeren Hundertertafel<br />
findet Mike alle genannten Zahlen sofort.<br />
Nur bei der 65 macht er einen<br />
±10 Fehler, in dem er auf die 55 tippt.<br />
Die 3 stellt Mike dar, in dem er 3 Kreise,<br />
3 Vierecke und 3 Dreiecke nebeneinander<br />
aufzeichnet. Um die Aufgabe<br />
3 + 4 darzustellen, malt er 3 Kreise<br />
und 4 Dreiecke mit einem Pluszeichen<br />
dazwischen. Dahinter zeichnet er ein<br />
Gleichheitszeichen und 7 Vierecke. D.<br />
h. er hat zwei verschiedene Zeichen<br />
zu einem dritten Zeichen zusammengefasst.<br />
Bei der Multiplikationsaufgabe<br />
2·3 geht er genauso vor. Als Ergebnis<br />
der Multiplikation von 2 Dreiecken und<br />
3 Kreisen erhält er 5 Vierecke. Außerdem<br />
addiert er, anstatt zu multiplizieren.<br />
Tom hat 7 Äpfel und Nina hat 4.<br />
Auf die Frage, wie viele Äpfel hat Tom<br />
mehr, antwortet Mike 7.<br />
Die Frage, wie viele Äpfel muss Nina<br />
noch bekommen, damit sie genauso<br />
viele hat, wie Tom, beantwortet er<br />
richtig mit 3.<br />
Auf die Kapitänsaufgabe (siehe letzte<br />
Anekdote) fällt Mike herein. Auch auf<br />
die Nachfrage, ob der Kapitän wirklich<br />
so alt ist wie die Anzahl seiner Tiere,<br />
antwortet er mit ja. Er ist auch überzeugt<br />
davon, dass der Kapitän 2 Jahre<br />
jünger wird, wenn 2 Schafe über Bord<br />
gehen.<br />
Mike kann seine Größe nicht angeben.<br />
Die Höhe der Tür schätzt er auf 2 m.<br />
Um zu zeigen, wie groß 1 m ist, zeigt<br />
Mike auf ein Blatt Papier in Hochformat.<br />
Sein 1 cm und sein 10 cm langer
Strich fällt bei ihm im Vergleich dazu<br />
nur etwas kürzer aus: ungefähr 10<br />
cm.<br />
Eine Kugel Eis kostet seiner Meinung<br />
nach 1 DM. Den Wert des Fahrrads<br />
schätzt er auf 100 DM.<br />
„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />
Strich sind fast gleich lang.<br />
Als Preis für eine Kugel Eis nennt Mike<br />
1 Euro. Den Preis für ein Brötchen<br />
schätzt er auf 45 Cent.<br />
16. Würfelbauwerke (Raumvorstellung)<br />
Die 2-dimensionale Abbildung eines<br />
Würfels bezeichnet Mike zunächst als<br />
Viereck. Die Anzahl der Würfel einer<br />
2-dimensionalen Anordnung kann Mike<br />
korrekt bestimmen. Eine 3-dimensionale<br />
Anordnung mit verdeckten Würfeln<br />
kann er auch richtig deuten und<br />
gibt als Erklärung ab, dass der obere<br />
Würfel nicht schweben könne. Die Anzahl<br />
bestimmt er korrekt durch Abzählen.<br />
Bei einer komplexeren Anordnung<br />
kann er die Würfelanzahl jedoch<br />
nicht korrekt bestimmen. Die Gebäude<br />
werden von Mike richtig nachgebaut.<br />
Wenn Mike beim Zählen der Würfel<br />
von den 2-dimensionalen Darstellungen<br />
der 3-dimensionalen Würfelbauwerke<br />
mit dem Finger auf die Zeichnungen<br />
tippt, nennt er die richtigen<br />
Anzahlen der benötigten Würfel. Wenn<br />
er nur mit den Augen zählt, verzählt<br />
er sich.<br />
Das Nachbauen der Würfelbauwerke<br />
ist für Mike kein Problem. Er kann<br />
auch Würfel, die ihm auf der Darstellung<br />
gezeigt werden, an seinem Bauwerk<br />
wiederfinden und umgekehrt.<br />
Folgende zwei Hauptstörungen werden beim Befund der Ersterhebung bei Mike<br />
festgestellt und entsprechende Fördermaßnahmen vorgeschlagen.<br />
Der erste Befund zeigt, dass Mikes grundsätzlichen Probleme beim Rechnen im<br />
Zahlenraum bis 20 liegen. Er ist bei der Lösung von Additions- und Subtraktionsaufgaben<br />
auf ein zählendes Rechnen an seinen Fingern angewiesen und hat die<br />
Zahlzerlegung bis 10 noch nicht automatisiert. Besondere Schwierigkeiten hat<br />
Mike mit der Subtraktion.<br />
Vorgesehene Fördermaßnahmen:<br />
In einer Förderung soll ein Schwerpunkt auf der Ablösung von diesem Verfahren<br />
und der Erarbeitung sinnvoller Rechenstrategien liegen. Die Aufgaben des kleinen<br />
1 + 1 sollen von Mike automatisiert werden.<br />
Im Zahlenraum über 20 häufen sich die Probleme von Mike. Er verfügt über keine<br />
gesicherten Vorstellungen über den dezimalen Aufbau der Zahlen im Zahlenraum<br />
bis 100; der Zahlenraum über 100 ist ihm praktisch unbekannt.<br />
Vorgesehene Fördermaßnahmen:<br />
Der Zahlenraum bis 100 muss weiter gefestigt werden, damit Mike sich sicher in<br />
diesem orientieren kann. Hierbei soll auch besonders das Rückwärtszählen geübt<br />
werden, da er bei den Subtraktionsaufgaben noch große Schwierigkeiten hat.<br />
Aufgaben im Zahlenraum bis 100 müssen mit Mike mit Hilfe von Material (100er-<br />
Rechenrahmen) erarbeitet werden, um ihm sinnvolle Strategien näherzubringen,<br />
aber auch um ihn weiterhin zu ermutigen, Strukturen zu nutzen.<br />
Hierbei können mit ihm auch die halbschriftlichen Rechenverfahren thematisiert<br />
werden, da ihm z. Zt. kein sinnvolles zur Verfügung steht.<br />
Außerdem muss während einer Förderung darauf geachtet werden, dass Mike<br />
keine Zahlendreher produziert und wenn doch, dass diese mit ihm besprochen<br />
werden. Mikes noch unsichere Rechts-Links-Orientierung kann im Zusammenhang<br />
mit anderen geometrischen Fragestellungen gefördert werden, da er mit<br />
127
128<br />
Brunhild Zimmer<br />
diesen gut zurecht kommt und nach Aussage seiner Mutter auch Spaß daran hat.<br />
Mit Text- und Sachaufgaben scheint Mike Probleme zu haben, daher scheint es<br />
sinnvoll, mit ihm ‚bedeutungsvolle‘ Aufgaben zu bearbeiten, also Themen anzusprechen,<br />
die für ihn wichtig sind.<br />
Weiterhin sollen mit ihm Längen und Geldwerte besprochen werden, um eine<br />
Größenvorstellung zu fördern.<br />
Da Mike ein wissbegieriges Kind zu sein scheint, ist eine Förderung sinnvoll und<br />
in Anbetracht der vorliegenden Defizite auch nötig.<br />
Arbeitsschwerpunkte und Erkenntnisse<br />
Als ich mit Mike im Oktober 2001 (Anfang seines 4. Schuljahres) während des<br />
regulären Mathematikunterrichts die Rechenförderung beginne, ist die Zahlzerlegung<br />
bis 10 und bis 20 noch nicht automatisiert, sie ist noch fehleranfällig, z. T.<br />
erfolgt sie durch zählendes Rechnen im Kopf.<br />
Mit seinem Mathematiklehrer treffe ich anknüpfend an die Befunde der Erstüberprüfung<br />
die Absprache, dass ich mit Mike vor allem den Zehnerübergang übe<br />
(Zahlenraum bis 20) und darüber hinaus die Orientierung im Hunderter- und<br />
Tausenderraum vornehme und in diesen Bereichen einfache Additions- und Subtraktionsaufgaben<br />
mit ihm rechne. Dies sind die Arbeitsschwerpunkte für meine<br />
Förderzeit mit Mike.<br />
Im regulären Matheunterricht wiederholt Mike – wie alle anderen Kinder – Aufgaben<br />
des kleinen 1 x 1 und Aufgaben, die sich aus meinem Förderunterricht ergeben.<br />
Zu diesem Zeitpunkt hat er noch seine wöchentliche Förderstunde bei der Lehramtsstudentin,<br />
die ihn vor allem bei den 1 x 1 Aufgaben unterstützt und auch<br />
den Zehnerübergang mit ihm übt.<br />
An zwei Beispielen möchte ich meinen Förderunterricht mit Mike genauer darstellen:<br />
• Kopfrechnen und Zahlzerlegung<br />
• Hundertertafel und Tausenderraum.<br />
Sowohl der Tausenderraum als auch das kleine 1 x 1 spielen in der Erstüberprüfung<br />
keine Rolle, da diese Inhalte Mike noch nicht zur Verfügung stehen. Sie sind<br />
aber im dritten und vierten Schuljahr zentrale Themen des Mathematikunterrichts,<br />
die in der altersgemischten Gruppe von den meisten Kindern bearbeitet<br />
werden und deshalb auch für Mike von Wichtigkeit sind.<br />
Kopfrechnen und Zahlzerlegung<br />
Die Zahlzerlegung bis 10 und anschließend bis 20 erarbeite ich mit Mike an den<br />
Händen mit der „10-Finger-auf-den-Tisch-Übung“ (vgl. dazu Aufgabenformat 1.1<br />
im Beitrag von Schipper in diesem Heft, S. 37) und festige sie am 20er-<br />
Rechenrahmen. Mike kann schnell die Ergänzungspaare zum Zehner und auch<br />
zum Zwanziger benennen, das hat er lange mit der Lehramtsstudentin geübt.<br />
Werden seine Hände – als Abstraktionsschritt – von einem Tuch bedeckt und ich<br />
nenne ihm nur noch eins der Zahlenpaare, gelingt ihm die Zerlegung bis 10.<br />
Die Zahlzerlegungspaare bis 20 zu benennen, fällt ihm deutlich schwerer, und es<br />
unterlaufen ihm häufiger +1 Fehler, da ich seine Zählstrategien (manchmal<br />
durch Bewegung der Finger, manchmal durch nickendes Weiterzählen mit dem<br />
Kopf) untersage.<br />
Aufgaben mit Zehnerüberschreitung sind zum Zeitpunkt meiner ersten Förder-
„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />
stunden ohne zählendes Rechnen für Mike nicht lösbar. Er weiß aber bereits,<br />
dass er sich von dieser Zählstrategie verabschieden muss und akzeptiert mein<br />
„Stopp“, wenn er es doch mal wieder probiert. Für die Zehnerüberschreitung<br />
nimmt Mike den 20er-Rechenrahmen zu Hilfe. Er kennt die Fünferstruktur des<br />
Rechenrahmens und schiebt die Zahl 7 mit 5 und 2. Am Rechenrahmen übe ich<br />
mit ihm die Strategie des schrittweisen Rechnens. Auch diese Strategie ist ihm<br />
zu diesem Zeitpunkt bekannt, er kann sie jedoch nicht alleine am Rechenrahmen<br />
ausführen. Bei der Aufgabe 7 + 4 = schiebt er zunächst die 7 und weiß dann nicht<br />
weiter. Erst die Frage „Welche Zahl stellst du als zweite ein?“ hilft ihm dazu, zunächst<br />
die 3 und dann die 1 am Rechenrahmen zu schieben und das Ergebnis 11<br />
abzulesen. Die Aufgabe 8 + 6<br />
löst er 8 + 2 + 2 + 2.<br />
Mike ist in diesen ersten Förderstunden<br />
höchst motiviert<br />
und begibt sich mit guter<br />
Laune an die Aufgaben.<br />
Schwierig wird für ihn der<br />
Moment, wenn er sich vom<br />
Material lösen und die Additionsaufgaben<br />
nur noch gedanklich<br />
in Schritten vollziehen<br />
soll (vgl. Aufgabenformat<br />
1.2 im Beitrag von Schipper<br />
in diesem Heft, S. 37). Hierbei<br />
kann er mir zunächst die<br />
Zahlergänzungen zum Zehner<br />
und darüber hinaus nennen,<br />
und ich schiebe sichtbar für<br />
ihn die Perlen auf dem Rechenrahmen.<br />
Als nächsten<br />
Abstraktionsschritt verbinde<br />
ich ihm die Augen, und er<br />
muss mir die Aufgabe schrittweise<br />
diktieren. Dann gilt es,<br />
die Aufgabe nur noch im Kopf<br />
zu lösen. Oft beginnt spätestens<br />
hier seine Konzentration<br />
nachzulassen, der Rechenweg<br />
wird mühsamer und er versucht<br />
den nächsten Aufgaben durch vielerlei Ablenkungsstrategien zu entweichen.<br />
Er hat Durst und muss sich Wasser holen, es ist zu warm im Raum und das<br />
Fenster muss geöffnet werden, das Bein schläft ein, der Stift muss angespitzt<br />
werden, der Ablenkungen gibt es ganz viele! Aber immer wieder freut sich Mike<br />
auch, wenn er dann doch die nächste Aufgabe geschafft und das Ergebnis beim<br />
ersten oder zweiten Anlauf richtig ist. Manchmal will ich ihm eine Minusaufgabe<br />
stellen, aber dann springt er empört auf und ruft „Bitte nicht, dass ist viel zu<br />
schwierig für mich!“ Ich denke dasselbe und begnüge mich zunächst mit den Additionsaufgaben.<br />
In vielen vielen Stunden übe ich nun immer zu Beginn die Zahlzerlegung bis 10<br />
und 20 und das schrittweise Rechnen am Material. Das Klappenspiel (vgl. Beitrag<br />
129
130<br />
Brunhild Zimmer<br />
von Beyer in diesem Heft, S. 111) lockert die immer wiederkehrende Übungsform<br />
auf. Wenn ich am Ende einer Stunde manchmal die Hoffnung hege und<br />
denke „Es ist geschafft, Mike braucht das Material nicht mehr“, werde ich zu Beginn<br />
der nächsten Förderstunde in seine Rechenrealität zurückgeholt. In jeder<br />
Mathematikstunde wird Mikes Geduld neu herausgefordert, immer wieder muss<br />
er sich mit dem schrittweisen Rechnen jede Plus- und Minusaufgabe erarbeiten.<br />
Dass er sich diesen Anforderungen in allen Förderstunden mit neuem Mut und<br />
guter Laune stellt, ruft meine Bewunderung hervor und macht das Arbeiten mit<br />
ihm leicht. Meine Geduld wird, so scheint mir, manchmal mehr ‚strapaziert‘ als<br />
seine, denn auch nach häufigen Üben kann Mike nur wenige Zahlensätze des<br />
kleinen 1 + 1 im Zahlenraum bis 20 auswendig, auch nicht, nachdem er sie aufgeschrieben<br />
und auswendig zu lernen versucht hat. Aber er bekommt allmählich<br />
eine größere Sicherheit und Schnelligkeit und kann schließlich jeden Zehnerübergang<br />
bis 20 mit Hilfe des schrittweisen Rechnens bewältigen.<br />
Rechnen im Hunderter- und Tausenderraum<br />
Die Hundertertafel und den 100er Rechenrahmen kennt Mike, und er freut sich<br />
jedesmal aufs Neue, wenn wir den Zahlenraum bis 20 verlassen. In den ersten<br />
Förderstunden ‚quäle‘ ich ihn nämlich nicht mit dem Zehnerübergang von Additionsaufgaben<br />
wie ZE + E, denn Analogien zu erkennen fällt Mike grundsätzlich<br />
schwer. Hat er die Aufgabe 7 + 4 gelöst und das Ergebnis benannt, wendet er bei<br />
der Aufgabe 7 + 5 wieder das schrittweise Rechnen an. Der ihm nahegebrachte<br />
Vorschlag, dann doch einfach nur noch eine Perle mehr auf dem Rechenrahmen<br />
zu schieben, löst zwar anerkennende Begeisterungsrufe ob dieser einfachen Strategie<br />
aus, ist aber erst nach vielen Übungen für ihn alleine nachvollziehbar. So<br />
kann er auch nach der gelösten Aufgabe 7 + 4 nicht die Analogie zu 47 + 4 erkennen.<br />
Also sind unsere ersten Übungen, die Hundertertafel zu erforschen: Vorgänger<br />
und Nachfolger zu bestimmen, vorwärts und rückwärts mit und ohne Tafel<br />
zu zählen und die Ziffern verdeckter Felder zu benennen. Dann gehen wir<br />
langsam zu schwereren Aufgaben über. Rechenwege wie „Du stehst auf der 45,<br />
du gehst zwei Kästchen nach unten und drei nach rechts, bei welcher Zahl<br />
kommst du an?“ werden zunächst mit Spielsteinen gesetzt, dann nur noch mit<br />
den Augen verfolgt und später soll Mike sich solche Rechenwege nur noch mental<br />
vorstellen.<br />
Mike liebt es, Zahlendiktate (siehe Glossar) zu schreiben. Nachdem er mit Hilfe<br />
von Taschenrechnerdiktaten gelernt hat, erst den Zehner und dann den Einer zu<br />
schreiben, gelingt ihm die richtige Ziffernschreibweise auch im Tausenderraum.<br />
Ebenso gerne legt er mit den Mehrsystem-Blöcken (siehe Glossar) ‚große‘ Zahlen<br />
wie 385 oder 704. Erst legt er sie auf dem Tisch, dann auf eine laminierte Stellenwerttafel<br />
und überträgt schließlich diese Tafel in sein Heft. Mit den Mehrsystem-Blöcken<br />
lege ich auch Analogieaufgaben wie 9 + 4, 39 + 4, 340 + 90 und wir<br />
rechnen sie gemeinsam. Ähnliche Aufgaben schreibe ich in sein Heft. Die erste<br />
Aufgabe rechnet Mike im Kopf, die zweite mit der Rechenmaschine, die dritte mit<br />
den Blöcken. In den nächsten Wochen arbeiten wir viel mit der Hundertertafel,<br />
dem Hunderter-Punktefeld, den Mehrsystem-Blöcken und auch mit dem Zahlenstrahl.<br />
Und immer wieder übe ich den Zehnerübergang bei einfachen Additionsaufgaben.<br />
Halbschriftliche Rechenverfahren übe ich mit Mike nicht, da sie mir zu fehleranfällig<br />
scheinen. Hier ein Beispiel wie er versucht, die Aufgabe 58 + 37 zu lösen:
„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />
Mike addiert die 5 und die 3 und<br />
schreibt die 8 an die Einerstelle.<br />
Dann addiert er die 7 und die 8<br />
und mit dem Ergebnis der 15<br />
rahmt er die 8 ein. Die 1 ist ihm<br />
wahrscheinlich als Übertrag aus<br />
der schriftlichen Addition in Erinnerung<br />
geblieben. Beim zweiten<br />
Versuch (durchgestrichene Zahlen)<br />
Hier versucht er, bis zum nächsten<br />
Zehner zu rechnen, und bricht<br />
dann die Rechenaufgabe ab. Der<br />
nächste Versuch zeigt dann seine<br />
totale Verwirrung. Eine Rechenstrategie<br />
ist nicht mehr auszumachen.<br />
Mein Tipp geht an ihn, es mit der<br />
schriftlichen Addition zu probieren,<br />
die er eigentlich kennt. Festgelegt<br />
durch sein erstes Ergebnis notiert<br />
er die 1 des Zehnerübertrags an<br />
die Hunderterstelle. Meine aufgezeichnete<br />
Stellenwerttafel gibt ihm<br />
die nötige Struktur, die Aufgabe<br />
richtig lösen zu können.<br />
Die Verfahren der schriftlichen Addition mit Zehnerüberschreitung und der<br />
schriftlichen Division ohne Zehnerüberschreitung hat Mike schnell gelernt und ist<br />
darüber sehr glücklich. Für ihn ist es das geeignete mathematische Rechenverfahren<br />
für Aufgaben ZE + ZE und HZE + HZE. Die obige Aufgabe zeigt, dass die<br />
Schreibweise der zu addierenden Zahlen nebeneinander und nicht untereinander<br />
die Verwirrung bei ihm ausgelöst hat.<br />
Mike hat eine Tausendertafel. Diese hat er selbst mit einigen Kindern aus der<br />
Gruppe gebastelt. Wenn er Minusaufgaben im Zahlenraum bis Hundert oder Tausend<br />
rechnen will, benutzt er sie. Seine Freude darüber, dass er Minusaufgaben<br />
rechnen kann, beziehen sich auf den Zahlenraum bis Hundert ohne Zehnerüberschreitung,<br />
aber das ist ja ein Anfang!<br />
Fazit und künftige Förderschwerpunkte<br />
Trotz der großen Schwierigkeiten, den Zehnerübergang zu automatisieren, hat<br />
Mike viel dazugelernt und einige Fortschritte gemacht. Er ist selbstsicherer und<br />
schneller geworden in der Anwendung bestimmter Rechenstrategien und Lösungshilfen,<br />
und er überblickt einen für ihn sehr großen Zahlenraum bis 1000 mit<br />
Hilfe der Tausendertafel.<br />
Große Probleme hat Mike – und wird sie wahrscheinlich immer haben – mit der<br />
Merkfähigkeit für Zahlen. Gelernte und immer wieder geübte Rechenwege kann<br />
er memorisieren, er kann jedoch nicht alle Grundaufgaben des kleinen 1 + 1 behalten<br />
und automatisieren. Er kennt jedoch alle Verdoppelungsaufgaben bis 20<br />
auswendig und löst sie über die Malaufgabe. Er kann sich beispielsweise auch<br />
131
132<br />
Brunhild Zimmer<br />
nicht eine genannte und immer wiederholte Ziffernfolge über eine Stunde hinweg<br />
merken, seine eigene Telefonnummer kennt er jedoch auswendig. Erstaunlich ist,<br />
dass er die Einmaleinsreihen und -aufgaben über einen langen Zeitraum erinnern<br />
kann und diese auch, nachdem die Reihen nur noch lückenhaft in seinem Gedächtnis<br />
vorhanden sind, relativ schnell wieder lernen kann. Das kleine 1 x 1 ist<br />
wohl übersichtlicher in seiner Struktur und in sich abgeschlossener als die Aufgaben<br />
des kleinen 1 + 1 und deshalb für Mike leichter lernbar.<br />
Wir Erwachsenen müssen außerdem darauf achten, dass der Aufgabentyp in einer<br />
Stunde für Mike nicht so häufig wechselt, denn Aufgabenwechsel verwirren<br />
ihn. Für ihn ist es gut, nur ganz wenige Rechenverfahren zu kennen und diese<br />
dann auch beherrschen zu lernen, wie das obige Beispiel der schriftlichen Addition<br />
zeigt.<br />
Nach wie vor bleiben die bisherigen Arbeitsschwerpunkte bestehen. Wichtig finde<br />
ich, dass Mike sich im Zahlenraum bis 100 und auch bis 1000 bewegen kann,<br />
auch wenn ihm das meistens nur mit den entsprechenden Hilfsmitteln gelingt. So<br />
kann er zumindest teilweise dem allgemeinen Mathematikunterricht folgen und<br />
erfährt nicht das Gefühl der Stagnation.<br />
Anzustreben ist die Materialunabhängigkeit und Versuche werde ich immer wieder<br />
machen, aber die Erfahrung bis jetzt hat gezeigt, dass Mike immer wieder<br />
konkretes Material benötigt, um bestimmte Rechenoperationen verstehen und<br />
durchführen zu können.<br />
Insgesamt hat Mike eine sehr positive Entwicklung in seiner Laborschulzeit gemacht.<br />
Er ist inzwischen ein sehr fröhliches, wissbegieriges und lerneifriges Kind,<br />
das auch zu einigen seiner Mitschüler und Mitschülerinnen gute Kontakte hat und<br />
gemeinsam mit ihnen lernen kann. Wir und auch Mike werden uns damit abfinden<br />
müssen, dass seine Rechenfähigkeiten auch in Zukunft nicht altersangemessen<br />
fortschreiten und Erfolge nur kleinschrittig zu erringen sind. Aber damit<br />
scheint Mike ganz gut leben zu können, denn immer noch kommt er gerne zum<br />
Förderunterricht und gibt sich viel Mühe. Die emotionale und kontinuierliche Bindung<br />
zu mir als fördernder Lehrerin unterstützt ihn dabei.<br />
Mike wird – weil es seinem Alter entspricht – im nächsten Schuljahr in den Jahrgang<br />
6 wechseln. Er wird dann die altersgemischte Gruppe verlassen und bis<br />
zum 10. Schuljahr einer (annähernd) altersgleichen Gruppe angehören, in der er<br />
seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert werden soll. Dass er eine besondere<br />
Unterstützung weiterhin braucht, vor allem im Fach Mathematik, steht zweifelsohne<br />
fest. Es wird die Aufgabe seiner jetzigen und zukünftigen LehrerInnen<br />
sein – in Absprache mit den Eltern – ein schulisches und vielleicht auch außerschulisches<br />
Förderkonzept festzulegen, das ihm hilft, seinem Entwicklungsstand<br />
gemäß Lernfortschritte zu machen und einen Schulabschluss der 10. Klasse der<br />
Sonderschule für Lernbehinderte zu bekommen.<br />
Eine kleine Matheanekdote von Mike zum Ende dieses Berichts<br />
In seiner zweiten Überprüfung beim IDM am Ende des 4. Schuljahres wurde Mike<br />
die Kapitänsaufgabe gestellt.<br />
„Stell dir vor, ein Kapitän hat auf seinem Schiff sechs Schafe, vier Kühe und<br />
drei Schweine. Wie alt ist der Kapitän?“ Mike verlangt mehrmals die Wiederholung<br />
der Aufgabe, damit er alle Tiere zusammenzählen kann. Der Überprüfer gibt<br />
durch Betonung der Stimme kleine Hinweise beim Wiederholen der Anzahl der<br />
Tiere und der Altersfrage. Mike findet schwierig, sich so viele Zahlen merken zu<br />
müssen, nimmt ein Blatt Papier und notiert die Zahlen. Seine Antwort: „Der Ka-
„Juchhu, ich kann Minus rechnen!“<br />
pitän ist dreizehn Jahre alt“. „Und wie alt ist er, als zwei Schafe bei einem Sturm<br />
über Bord fallen?“ Die Antwort für Mike ist klar: „elf Jahre!“ Ein junger Kapitän!<br />
Das findet Mike nicht besonders merkwürdig. Er erzählt von einem Onkel, der<br />
auch Kapitän ist. „Hat der auch Tiere?“ „Nee!“ „Ist der denn elf Jahre alt?“ „Wieso?“<br />
Ich war bei dieser Überprüfung anwesend und Mike bekommt mein Schmunzeln<br />
bei seiner Antwort mit. Auf dem Rückweg zur Schule verlangt er Aufklärung über<br />
mein Amüsement. Ich stelle ihm die Aufgabe noch einmal vor und gebe ihm Hinweise<br />
zur Lösung. Mike guckt mich mit großen Augen an, scheint auch zunächst<br />
dem Gedankengang folgen zu können, dass das Alter des Kapitäns nichts mit den<br />
über Bord geworfenen Tieren zu tun habe, aber dann kommt sein Einwand. „Aber<br />
ich muss doch das Alter des Kapitäns ausrechnen, und das kann man doch gar<br />
nicht anders machen“. Jedenfalls hat ihn diese Aufgabe so beschäftigt, dass seine<br />
Mutter mich am Nachmittag anruft, um zu hören, was es mit dieser Rechengeschichte<br />
auf sich habe. Mike selbst spricht mich in den nächsten Tagen immer<br />
wieder auf diese Kapitänsaufgabe an, und mir wird deutlich, dass letzte Zweifel<br />
ob der für ihn ungewöhnlichen Antwort noch nicht ausgeräumt sind. Zwei Wochen<br />
später während einer Förderstunde – wir beschäftigen uns gerade mit den<br />
Gesetzmäßigkeiten von Zahlenfolgen – geht ein Lachen über sein Gesicht. „Ich<br />
habe das jetzt mit dem Kapitän verstanden! Man muss in der Aufgabe gar nichts<br />
ausrechnen. Die wollten mich nur reinlegen!“<br />
Genau Mike, das lassen wir uns doch nicht gefallen, dafür rechnen wir ja schließlich<br />
zusammen! Wir schütteln uns die Hand und widmen uns der nächsten Aufgabe.<br />
Literatur<br />
Lenzen, K.-D. (Red.): Schulalltag in der Laborschule Stufe II (3. und 4. Schuljahr), Band<br />
I. IMPULS-Band 12. <strong>Bielefeld</strong> 1986<br />
133
134<br />
Brunhild Zimmer
Dagmar Heinrich<br />
Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />
Während sich Katrin mit dem Zehnerübergang plagt und immer wieder an den<br />
Fingern abzählt, produzieren Machmed und Maik in Windeseile ihre nächste Zahlenmauer,<br />
deren Spitze ganz sicher eine fünfstellige Zahl ergeben wird ...<br />
Auf dem Stundenplan des dritten Schuljahres der Gruppe Zitronengelb steht Mathematik.<br />
Anders als in der Grundschule sind die 21 Kinder erst seit Schuljahresbeginn eine<br />
feste Lerngruppe; vorher haben sie fast alle für drei Jahre die Eingangsstufe der<br />
Laborschule besucht. Sie kommen aus insgesamt sechs verschiedenen altersgemischten<br />
Gruppen der Fünf- bis Siebenjährigen und sind vor allen Dingen individuelles<br />
Arbeiten – oft nach Wochenplan – gewohnt.<br />
Meine Aufgabe als Fachlehrerin besteht gerade zu Beginn dieses Schuljahres<br />
nicht nur in der möglichst optimalen fachlichen Förderung der einzelnen Kinder<br />
im Bereich der Mathematik; ebenso wichtig ist es, den Prozess der Gruppenbildung<br />
zu unterstützen, um eine für alle angenehme, dem Lernen zuträgliche Atmosphäre<br />
zu schaffen – eine wesentliche Voraussetzung für gelingende Lernprozesse<br />
(vgl. dazu den Beitrag von <strong>Biermann</strong> in diesem Heft, S. 15ff.).<br />
Dabei gilt es, sowohl das einzelne Kind als auch die ganze Gruppe im Auge zu<br />
behalten, um sinnvoll Hilfen und Anregungen geben zu können.<br />
Anders als in der Stufe I, in der in den altersgemischten Gruppen große Heterogenität<br />
schon aufgrund der Altersspanne vorliegt, handelt es sich bei der Gruppe<br />
3 Zitronengelb um ein ,ganz normales’ drittes Schuljahr – und demnach um eine<br />
homogene Lerngruppe?<br />
Wie jeder Unterrichtende bestätigen wird, ist das Lern- und Arbeitsverhalten und<br />
das Leistungsvermögen einzelner Kinder einer Schulklasse nie homogen; auch<br />
wenn Lehrpläne dies oft so voraussetzen.<br />
Im Folgenden möchte ich einige Schülerinnen und Schüler dieser Gruppe 3 Zitronengelb<br />
näher beschreiben, dann auf die Gruppe als ganzes eingehen und die<br />
sich für meinen Unterricht ergebenden Konsequenzen anhand zweier Beispiele<br />
näher beschreiben. Dies geschieht als Rückblick, denn die Schülerinnen und<br />
Schüler sind zur Zeit bereits im fünften Jahrgang.<br />
Einzelne Schülerinnen und Schüler<br />
Die zwölf Schülerinnen und neun Schüler sind zu Schuljahresbeginn zwischen 8;5<br />
Jahre und 11;2 Jahre alt.<br />
Rilana hat erhebliche Probleme im Bereich der Lese-Rechtschreibkompetenz; für<br />
Kevin existiert ein erhöhter Erziehungshilfebedarf. Für diese beiden Kinder gibt<br />
es Porträts, die Lehrerinnen und Lehrer der Laborschule für Kinder mit sonderpädagogischem<br />
Förderbedarf (siehe Glossar) schreiben.<br />
Nicht ganz so offensichtlich ist vieles andere: da ist zum Beispiel Katrin, die nach<br />
einem erfolglosen ersten Grundschuljahr auf die Laborschule wechselte und den<br />
Spaß an der Schule schon fast verloren hat. In Mathematik hat sie auch noch im<br />
135
136<br />
Dagmar Heinrich<br />
dritten Schuljahr große Probleme mit den einfachsten Aufgaben. Katrin wird im<br />
Rahmen unseres Forschungs- und Entwicklungsprojektes individuell ein- bis<br />
zweimal eine halbe Stunde pro Woche während des Mathematikunterrichtes<br />
durch die Studentin Bianca Beyer gefördert (vgl. dazu den Beitrag von Beyer in<br />
diesem Heft).<br />
Im Unterricht versuche ich Katrin so sinnvoll wie möglich zu integrieren. Sie<br />
nimmt immer am Versammlungskreis teil und arbeitet oft mit Hilfe ihrer Freundinnen<br />
an den gleichen Aufgaben. Sind die Inhalte für Katrin zu komplex, arbeitet<br />
sie an Aufgaben ihres Leistungsniveaus, die ich ihr zusammenstelle.<br />
Machmed und Dunya haben beide als Kinder türkisch bzw. kurdisch sprechender<br />
Eltern noch einige Unsicherheiten im Sprechen, Lesen und Schreiben der deutschen<br />
Sprache, was sich natürlich auch auf das Lösen von Mathematikaufgaben<br />
auswirkt. Dunya ist zudem oft teilnahmslos und apathisch. Unbeweglich und still<br />
sitzt das hübsche zierliche Mädchen im Versammlungskreis; mit ihren Gedanken<br />
scheint sie meilenweit entfernt zu sein. Manchmal erzählt sie kleine Begebenheiten<br />
aus ihrem Alltag, dabei wagt sie kaum die Stimme oder ihren Blick zu erheben.<br />
Oft fehlt sie wegen Krankheit.<br />
Dorothee und Tamaris sind vor Lerneifer und Fleiß kaum noch zu bremsen. Beim<br />
gemeinsamen Erarbeiten neuer Inhalte zeigen ihre guten Beiträge, dass sie<br />
schlussfolgernd denken und logische Schlüsse ziehen können und über grundlegende<br />
mathematische Kenntnisse sicher verfügen. Ihre Arbeiten am Tisch erledigen<br />
die beiden Mädchen konzentriert, ausdauernd und eifrig.<br />
Mario benötigt allein für das Zusammensuchen seiner Unterlagen eine Viertelstunde.<br />
Lustlos schleppt er sich zu seinem Stuhl und beugt sich über seine Aufgaben,<br />
die er umständlich und nur ganz langsam löst, so schafft er deutlich weniger<br />
als seine Mitschülerinnen und Mitschüler.<br />
Simon, ein pfiffiger, sprachgewandter Junge, zeigt deutliche Auffälligkeiten im<br />
Bereich der Konzentration und Feinmotorik. Sein Blick wandert rastlos durch den<br />
Raum, seine Hände sind ständig in Bewegung und es kostet ihn einige Anstrengung,<br />
sich auch nur für ein paar Minuten kontinuierlich seiner Arbeit am Tisch<br />
zuzuwenden. Dies zeigen dann auch seine schriftlichen Aufgaben, manches ist<br />
nicht zu Ende gebracht oder sogar doppelt gerechnet, denn der ,rote Faden‘ reißt<br />
immer wieder.<br />
Kerstin verziert mit vielen Farben den Rand ihres sehr ordentlich geführten Heftes.<br />
Zeichnen ist ihre große Liebe. Sie ist sehr still und hält sich gerne im Hintergrund,<br />
eher selten beteiligt sie sich am Unterrichtsgespräch. Oft fehlt dieses zarte<br />
Mädchen wegen Krankheit, manchmal kommt sie trotz Kopf- oder Bauchschmerzen<br />
in die Schule. Und immer steigt sie ohne Probleme in das Unterrichtsgeschehen<br />
ein und bringt in allen Bereichen außergewöhnlich gute schriftliche<br />
Leistungen; mit Leichtigkeit löst sie auch in Mathematik die jeweiligen Aufgaben.<br />
Tobi unterhält gerne die Mitschülerinnen und Mitschüler an seinem Tisch, dabei<br />
vergewissert er sich immer wieder der Anerkennung der anderen Kinder. Aber<br />
auch den Lehrerinnen möchte er gefallen, und so reicht manchmal nur ein Blick<br />
oder eine kurze Ermahnung, und er kann seine Rolle als ,Entertainer‘ zumindest<br />
für eine kurze Zeit fallen lassen, um an seinen Matheaufgaben zu arbeiten. Im<br />
Versammlungskreis gelingt es ihm zu Beginn des dritten Schuljahres kaum, still<br />
zu sitzen, zuzuhören oder sich an die Gesprächsregeln zu halten. Leider fragt er
Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />
auch nicht nach, wenn ihm etwas nicht ganz klar ist, sondern geht die Dinge<br />
dann eben auf seine Art und Weise und damit nicht immer ganz richtig an.<br />
Lara meldet sich schon wieder und möchte am liebsten nach jeder einzelnen Aufgabe<br />
hören, ob das Ergebnis denn so richtig sei; ähnlich ist es bei Ronja und Marike.<br />
Alle drei sind leistungsstarke Schülerinnen, die aber erst im Laufe der Zeit<br />
zunehmend an Sicherheit gewinnen und ihren guten und sicheren Umgang mit<br />
der Mathematik zeigen können.<br />
Das Verhalten dieser Schülerinnen ist in gewisser Weise ,geschlechtstypisch’ und<br />
deckt sich mit verschiedenen Untersuchungsergebnissen, die zeigen, dass Mädchen<br />
länger überlegen und das Bedürfnis nach Genauigkeit und Gründlichkeit im<br />
Verstehen mathematischer Zusammenhänge zeigen, Jungen dagegen die Aufgaben<br />
sofort angehen und ihre eigene Kompetenz und Leistungsfähigkeit höher, ja<br />
manchmal zu hoch, einschätzen (vgl. Jahnke-Klein 2001).<br />
Sascha ist ein oft unglücklich und abwesend wirkender Schüler, Freunde in der<br />
Gruppe hat und sucht er sich nicht. Seine Lernprobleme sind für ihn eher nebensächlich.<br />
Oft sitzt er mit abwesendem Blick im Versammlungskreis oder am<br />
Tisch, bemüht sich aber sehr, die Fassade eines eifrigen Schülers aufrechtzuerhalten,<br />
indem er, wenn eine Lehrerin vorbeikommt, schnell mit interessiertem<br />
Gesicht eine fachliche Frage stellt. Über seine Probleme spricht er nicht; er will<br />
die Fassade wahren. Seine schriftlichen Leistungen in Mathematik liegen oft unter<br />
seinem Vermögen, manchmal wird erst durch das Arbeiten am Tisch ersichtlich,<br />
dass er sich schon bei dem Unterrichtsgespräch im Versammlungskreis gedanklich<br />
ausgeklinkt hat. Inzwischen arbeitet der Schulpsychologe einmal in der<br />
Woche mit Sascha und wir erhoffen uns hiervon für ihn Hilfe und Entlastung.<br />
Rilana ist – wie schon erwähnt – ein Mädchen mit besonderem Förderbedarf. Ihre<br />
ausgeprägte Lese-Rechtschreib-Schwäche führt zu Problemen bei der schulischen<br />
Arbeit, die ihr sehr schwach ausgeprägtes Selbstvertrauen schnell ins Wanken<br />
bringen. Sie ist körperlich weiter entwickelt als die anderen Mädchen, fühlt sich<br />
oft in ihrer Haut nicht wohl und sitzt verkrampft auf ihrem Platz. Nur selten<br />
nimmt sie am Unterrichtsgespräch teil; dabei spricht sie sehr leise und manchmal<br />
zusammenhanglos, häufig sucht sie nach den passenden Worten. In ihrer<br />
Selbstwahrnehmung erlebt sie sich deutlich ,anders als die anderen‘ – dazu mag<br />
ihre bisherige Teilnahme an einigen Therapien beitragen oder auch die Tatsache,<br />
dass ihr einziger Bruder schwer behindert ist. Besonders Rilana müssen ihre Lernerfolge<br />
im Bereich der Mathematik deutlich zurückgespiegelt werden, damit sie<br />
sich über ihr Leistungsvermögen bewusst wird. Diese Erfolge können helfen, ihr<br />
Selbstbild als ,Lernversagerin‘ aufzubrechen und ihr Selbstvertrauen zu stärken.<br />
All dies sind Einzelfälle, doch sicherlich in ähnlicher Art und Weise in jeder Lerngruppe<br />
zu finden. Für mich als Lehrerin ist die erste Zeit in der neuen Gruppe<br />
spannend und interessant; ich lerne die Kinder immer besser kennen und nehme<br />
mir Zeit, mich mit ihrem Arbeitsverhalten und ihrem Lern- und Leistungsvermögen<br />
vertraut zu machen. In Mathematik lasse ich mir von einzelnen Schülerinnen<br />
und Schülern Aufgaben vorrechnen und gewinne so ein Bild über die Lösungsstrategien<br />
der Kinder.<br />
Es zeigt sich auch hier: homogene Lerngruppen gibt es nicht. 21 Persönlichkeiten<br />
mit ganz unterschiedlichen Lebens- und Lernerfahrungen gilt es optimal zu fördern<br />
und zu fordern.<br />
137
Die Gruppe<br />
138<br />
Dagmar Heinrich<br />
Gleichzeitig ist die Gruppe als Ganzes zu betrachten. Wenn die Kinder gerne zur<br />
Schule kommen und sich wohl und sicher fühlen können, ist eine wesentliche<br />
Voraussetzung für ein gutes Lern- und Arbeitsklima erfüllt.<br />
Hierzu bedarf es einiger Gespräche mit einzelnen Kindern, manchmal auch mit<br />
der ganzen Gruppe oder in Form von Mädchen- und Jungenkonferenzen. 1<br />
Wie ist Tobi zu helfen, seine Rolle als Klassenclown wieder abzulegen bzw. gar<br />
nicht erst weiter hineinzuwachsen? Hier ist erst mal ein Gespräch unter vier Augen<br />
angebracht. Dorothee und Tamaris, zwei beste Freundinnen, grenzen sich<br />
ganz aus und zeigen kein Interesse an Kontakten zu den anderen Kindern – dies<br />
wird von ihren Mitschülerinnen bei einer Mädchenkonferenz thematisiert. Kevin<br />
fordert mit seinem provokanten, aggressiven Auftreten die meiste Energie – für<br />
die neu zusammengesetzte Gruppe und für alle Lehrerinnen eine große Herausforderung.<br />
Gemeinsam mit allen Kindern überlegen wir – mit und ohne Kevin –<br />
wie wir mit bestimmten Situationen umgehen können, wie Kinder sich wehren<br />
können oder wo es wichtig ist, Erwachsene in Konfliktfälle einzubeziehen und Hilfe<br />
zu holen.<br />
Stark ausgeprägt ist zu Beginn des Schuljahres die Trennung zwischen Mädchen<br />
und Jungen. Viele Mädchen zeigen ein herablassendes Verhalten, wenn sich die<br />
Jungen nähern. Die wiederum reagieren mit Desinteresse – richtig glücklich mit<br />
dieser Situation ist aber eigentlich niemand. Wir thematisieren dieses Problem<br />
und nach einigem ,Frust‘, der abgelassen wird, kommen erste Vorschläge zur<br />
Änderung. Schließlich einigen sich die Schülerinnen und Schülern auf das wöchentliche<br />
Ziehen von Platzkarten, die angeben, neben wem man im Versammlungskreis<br />
sitzt. Dies soll kommentarlos geschehen – und es gelingt!<br />
Erste Verliebtheiten und tieferes Interesse aneinander treten erst jetzt, im fünften<br />
Schuljahr, auf.<br />
Ziel aller Gespräche ist es, die Schülerinnen und Schüler immer mehr zu befähigen,<br />
Verantwortung für ihr Verhalten zu erkennen und zunehmend eigenständig<br />
Konflikte zu lösen. Und da das Leben und Lernen in einer Gruppe ein dynamischer<br />
Prozess ist, ist auch nie ein ,Status quo’ erreicht; immer wieder neu verändert<br />
sich das Gefüge. Gleichzeitig lernen die Kinder immer mehr, sich für ihre<br />
Gruppe verantwortlich zu fühlen und bringen jetzt, zweieinhalb Jahre später, bei<br />
Problemen gute Lösungsvorschläge mit ein.<br />
Doch nicht nur eine gute Gesprächskultur, sondern auch gemeinsame Erlebnisse<br />
sind für die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen und den Zusammenhalt<br />
und die Kooperationsbereitschaft einer Gruppe enorm wichtig.<br />
Neben den jährlich stattfindenden Klassenfahrten soll an dieser Stelle die Arbeit<br />
in fächerübergreifenden Projekten hervorgehoben werden. Gemeinsam mit einer<br />
Parallelklasse ist im dritten Schuljahr ein Zirkusprojekt durchgeführt worden. Als<br />
ganz besonders ,Highlight‘ für die Gruppe Zitronengelb hat sich das Proben und<br />
Aufführen eines Musicals im vierten Schuljahr erwiesen, das nicht nur bei den<br />
Zuschauern ein großer Erfolg war, sondern auch den Zusammenhalt der Gruppe<br />
spürbar förderte und das Selbstvertrauen der einzelnen Schülerinnen und Schüler<br />
sehr stärkte. 2<br />
1 Mädchen- und Jungenkonferenzen sind geschlechtshomogene Gesprächskreise, die regelmäßig eingesetzt<br />
werden können. Näheres dazu in: <strong>Biermann</strong> 1997<br />
2 Zum integrativen Potential des Projektunterrichts vgl. Emer/Lenzen 2002
Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />
Mathematikunterricht in Beispielen<br />
Viertes Schuljahr: Erweiterung des Zahlenraums<br />
Einen wichtigen Bereich der Arithmetik im vierten Schuljahr nimmt die Erweiterung<br />
des Zahlenraums bis zu einer Million und darüber hinaus ein. Damit sich die<br />
Schülerinnen und Schüler auf unterschiedlichem Niveau mit den großen Zahlen<br />
auseinandersetzen können, biete ich ein möglichst breites Spektrum von Aufgaben<br />
an. Im Folgenden möchte ich die verschiedenen Arten der Aufgaben vorstellen,<br />
die den Kindern in der Art eines ,Verlaufsplans‘ vorliegen.<br />
Für alle Schülerinnen und Schüler gibt es verbindliche Basisinhalte, dazu gehören<br />
ausgewählte Aufgaben, die als Pflichtaufgaben von allen schriftlich zu lösen sind.<br />
Mario als besonders langsamer Rechner hat ein etwas reduziertes Pensum an<br />
Aufgaben zu erledigen; Katrin hat einige dieser Aufgaben mit Hilfe ihrer Freundin<br />
bearbeitet.<br />
Dabei stehen grundlegende Operationen im Mittelpunkt:<br />
– Vorgänger und Nachfolger großer Zahlen benennen<br />
– Zahlen in eine Stellenwerttafel eintragen<br />
– Zahlen auf einem Zahlenstrahl richtig einsetzen<br />
– Zahlen runden<br />
– Zahlen verdoppeln, halbieren, verzehnfachen<br />
– Zahlen zu einer Million ergänzen<br />
– Zahlen der Größe nach sortieren<br />
– Zahlendiktat<br />
Parallel dazu gibt es handlungsorientierte Angebote, um sich den großen Zahlen<br />
aktiv und begreifend zu nähern und um die grundlegenden Inhalte des dritten<br />
Schuljahres, Zahlenraumerweiterung bis 1000, auf die aufgebaut wird, zu wiederholen<br />
und zu vertiefen. Hierzu zählen Aufgaben wie das Zählen aller Stufen in<br />
unserer Schule, das Zählen der Schritte um die ganze Schule herum oder das<br />
Schätzen und dann in Zehner- und Hunderterreihen bündelnde Zählen der Urucum-Samen,<br />
die wir bei einem Unterrichtsbesuch 3 geschenkt bekommen haben.<br />
Mit diesen Aufgaben möchte ich besonders Schülerinnen und Schüler wie Katrin,<br />
Mario und Dunya ansprechen, die immer wieder Unterstützung, konkrete Anschauung<br />
und Wiederholung bereits bekannter Inhalte benötigen. Aber auch für<br />
Kinder wie Simon und Tobi bieten diese Aufgaben eine gute Möglichkeit, ihre überschüssige<br />
motorische Energie sinnvoll einzusetzen.<br />
Weiterhin gibt es verschiedene Angebotsaufgaben, die je nach Schwierigkeitsgrad<br />
mit ein, zwei oder drei Sternchen markiert sind. Diese Aufgaben sollen<br />
durch ihre interessante Aufgabenstellung Schülerinnen und Schüler wie Maik,<br />
Kerstin, Dorothee und Tamaris herausfordern oder auch für Simon so spannend<br />
sein, dass er sich gerne und ausdauernd damit beschäftigt. Viele dieser Sachaufgaben<br />
sind aus dem sehr ansprechend gestalteten Heft: „Lernspaß mit Paul<br />
Maar,: Sachrechnen, 4. Klasse“ und können von den Kindern einzeln aus einem<br />
3 Urucum ist heute weltweit ein begehrter Rohstoff in der industriellen Farbherstellung und Kosmetikindustrie,<br />
wurde aber schon von den indianischen Völkern in unterschiedlichster Weise genutzt. Deren Lebensweise<br />
und Lebensraum stand im Mittelpunkt unseres Projekttages im Naturkundemuseum zum Thema Papierverbrauch<br />
und Umweltschutz.<br />
139
140<br />
Dagmar Heinrich<br />
Ordner geholt werden (Schuldt/Quak 2000). Einzelne Kinder berate ich bei ihrer<br />
Auswahl, da sich auch hier zeigt, dass manche leistungsstarke Mädchen lieber<br />
,auf Nummer Sicher‘ gehen und sich die einfachen Aufgaben aussuchen, während<br />
fast alle Jungen sofort mit den schwierigen Aufgaben beginnen möchten.<br />
Verschiedene Themen werden angesprochen, zum Beispiel:<br />
Wie kannst du die Anzahl der Haare aller Kinder unserer Gruppe berechnen?<br />
Haarfarbe Anzahl der Haare<br />
Blond ca. 150 000<br />
Braun ca. 110 000<br />
Schwarz ca. 100 000<br />
Rot ca. 90 000<br />
(Schipper/Dröge/Ebeling 2000)<br />
Auf dieser Seite folgen weitere informative Aufgaben zum Thema Wasser, es<br />
geht um die trinkwasserarmen Gebiete dieser Erde, um Erosion und weggeschwemmten<br />
Boden. Das nächste Beispiel ist aus dem Themenkomplex<br />
,Menschen und Länder‘; Einwohnerzahlen und der Anteil der Kinder und Jugendlichen<br />
in den einzelnen Kontinenten werden verglichen.
Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />
Quelle: Schuldt/Quak 2000<br />
Stundenbeispiele<br />
Bewährt hat sich auch in Mathematik die Versammlung im Sitzkreis zu Beginn<br />
jeder Stunde (die Unterrichtsstunden in der Laborschule betragen jeweils 60 Minuten).<br />
Hier besprechen wir den Ablauf der Stunde, klären fachliche Fragen, erarbeiten<br />
neue Inhalte – oder ich gehe auch einmal nach einem tränenreichen Konflikt in<br />
der Pause zunächst auf das Klärungsbedürfnis der Kinder ein. Manchmal wiederhole<br />
ich für bestimmte Schülerinnen und Schüler Unterrichtsinhalte, während die<br />
anderen schon an ihren Tischen arbeiten. Und hier ist auch das Plenum für die<br />
Präsentationen der Kinder; kurze Vorträge können – bei Bedarf mit Hilfe der<br />
Wandtafel – gehalten werden.<br />
In der Gesamtgruppe thematisiere ich den Rechenstrich und den Zahlenstrahl;<br />
auch die Stellentafel haben wir erneut zur Wiederholung in den Blick genommen.<br />
Zur Veranschaulichung dienen uns außerdem die Zehner-Systemblöcke (siehe<br />
Glossar: Mehrsystemblöcke), die sich gut eignen, um große Zahlen darzustellen<br />
und die fortwährende Zehnerbündelung sichtbar werden zu lassen.<br />
Verschiedene Beispiele, die das Verständnis für große Zahlen Schritt für Schritt<br />
festigen sollen, habe ich eingebracht: 25 000 Haferkörner wiegen ungefähr 1 kg,<br />
ein Mensch hat ca. 420 Wimpern, wie viele Wimpern haben alle 21 Kinder unserer<br />
Gruppe zusammen und ähnliches (vgl. Schipper/Dröge/Ebeling 2000).<br />
Besondere Begeisterung löst das ,Guiness-Buch‘ 4 der Rekorde aus, das ich zum<br />
Staunen ausgelegt habe. Auch in den Pausen suchen manche Kinder eifrig nach<br />
noch größeren Zahlen.<br />
Im Versammlungskreis bestimmt jedes Kind zu Beginn der Stunde den Inhalt,<br />
den es in dieser Stunde allein oder mit einer Partnerin oder einem Partner bearbeiten<br />
will; besonders die anspruchsvollen Sachaufgaben werden meist zu zweit<br />
gelöst. Sowohl Dunya und Machmed mit anderem sprachlichen Hintergrund als<br />
4 Ein jährlich aktualisierter Band: Guinness World Records 2003 (Guinness Verlag GmbH Hamburg).<br />
141
142<br />
Dagmar Heinrich<br />
auch Rilana mit ihrer Leseschwäche profitieren besonders bei Aufgaben mit Text<br />
von einer Zusammenarbeit.<br />
Nach einiger Zeit werden die ersten Aufgaben von den jeweiligen Schülerinnen<br />
und Schülern im Versammlungskreis vorgestellt – für viele eine besondere Motivation.<br />
Diese Kinder sind dann auch ,ExpertInnen‘ für diese bestimmte Aufgabe<br />
und können von allen anderen hierzu um Hilfe gefragt werden. Das Präsentieren<br />
von Aufgaben und ihren Lösungswegen ist mir besonders für Schülerinnen wie<br />
Kerstin, Dunya oder auch Rilana wichtig, die durch das Vortragen ihrer Arbeit<br />
(zusammen mit ihrer jeweiligen Partnerin) mehr Selbstvertrauen gewinnen können<br />
und sich im freien Sprechen üben.<br />
Rückblick<br />
In einem kurzen Feedback nach Beendigung dieses Unterrichtsthemas in dieser<br />
Form wird von den Schülerinnen und Schülern vor allem als positiv herausgestellt,<br />
,etwas selber zu machen‘. Dies bezieht sich vor allem auf die eigene Planung<br />
und Auswahl der Aufgaben als auch auf das Präsentieren einer Aufgabe vor<br />
der ganzen Gruppe. Die konkreten Zählvorgänge und das Zahlensuchen im<br />
,Guinness-Buch‘ finden ebenfalls viel Zustimmung.<br />
Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich zunehmend für ihre Lernzeiten verantwortlich<br />
und müssen von mir nicht zum Arbeiten angehalten werden. Zwei Partner-<br />
Konstellationen trenne ich, da sich der intensive Austausch mehr auf Fußballergebnisse<br />
oder das letzte Britney Spears-Konzert zu beziehen droht. Andere<br />
Kinder arbeiten lieber alleine, so zum Beispiel Dorothee, die irgendwann ihren<br />
neuen Atlas mitbringt und sich auf meine Anregung hin mit den Einwohnerzahlen<br />
verschiedener Länder beschäftigt.
Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />
Tobis‘ großem Bewegungsdrang kommen Aufgaben wie die ,Schritte um die<br />
Schule herum zählen’ sehr entgegen; das stille Arbeiten am Tisch fällt ihm danach<br />
viel leichter.<br />
Einige nicht so leistungsstarke Schülerinnen und Schüler haben die als anspruchsvoll<br />
markierten Sachaufgaben mit überraschend guten Lösungsansätzen<br />
oder Ergebnissen bearbeitet. Ganz im Gegensatz zu der von mir im Studium der<br />
Sonderpädagogik erlernten Herangehensweise, dem Prinzip der kleinen Schritte<br />
und des langsamen und ,vorgekauten‘ Weges, macht mir das viel Mut, den Kindern<br />
mehr zuzutrauen, ihnen genügend Möglichkeiten zum Ausprobieren zu<br />
schaffen und manche didaktisch künstlich gesetzten Grenzen zu überschreiten.<br />
Fehler gehören dazu und werden zum Teil im Versammlungskreis thematisiert.<br />
Unterschiedliche Denkansätze und verschiedene Lösungswege werden verglichen,<br />
gemeinsam wird nach der optimalen Lösungsstrategie gesucht.<br />
Vor allem Katrin profitiert von dem Zählen der Urucum-Samenkörner und bündelt<br />
und sortiert in Zehnerhäufchen, Hunderterreihen und schließlich Tausenderfelder<br />
bis weit in die Pause hinein. In Zusammenarbeit mit ihrer Freundin Rosa<br />
löst sie auf ihren eigenen Wunsch auch einige der Pflichtaufgaben im Arbeitsheft,<br />
wobei dies teilweise ohne ein echtes Verständnis für die Rechenoperationen geschieht<br />
und damit nicht unbedingt einen Lernzuwachs bedeutet. Hier fehlt mit oft<br />
die Zeit, mich zu ihr zu setzen und gemeinsam mit ihr zu überlegen. Sehr dankbar<br />
bin ich deshalb für die halbstündige wöchentliche Förderzeit, in der sich die<br />
Studentin Bianca Beyer zu Katrin setzt und gezielt mit ihr arbeitet. Katrin selbst<br />
zeigt oft keine große Begeisterung über Biancas Besuche und ist auf einmal<br />
schrecklich müde oder muss gerade unbedingt auf Toilette gehen. Ob dieses<br />
Ausweichen ein Ausdruck ihrer sehr gering ausgeprägten Anstrengungsbereitschaft<br />
ist oder ob es Katrin vor den anderen Kindern unangenehm ist, wenn sich<br />
eine Erwachsene ausschließlich mit ihr beschäftigt, äußert sie nicht eindeutig<br />
(vgl. dazu Beitrag von Beyer in diesem Heft).<br />
Mario hat mein Angebot, die Menge an Pflichtaufgaben zu reduzieren, nicht angenommen.<br />
Hier hätte ich mich durchsetzen müssen, da er zwar misslaunig sein<br />
Pensum erledigt, dann aber keine Zeit mehr für anderes bleibt.<br />
Simon, der mit seinen besten Freunden viel reden, aber nicht arbeiten kann, habe<br />
ich zur Bearbeitung einer komplexen Sachaufgabe als Partner Sascha vorgeschlagen.<br />
Beide sind mit dieser Kombination einverstanden und haben – vor allem<br />
mit Ausblick auf die Präsentation im Versammlungskreis – produktiv an ihrer<br />
gewählten Aufgabe arbeiten können; am Ende geben sie uns einen guten Überblick<br />
über die riesigen Flugstrecken mancher Zugvögel.<br />
Andere kurze Berichte wie zum Beispiel der von Kerstin und Dunya sind für die<br />
Gesamtgruppe eher langweilig: mit viel zu leiser Stimme und ohne großes Tafelbild<br />
sind die vorgetragenen Inhalte nur schwer nachzuvollziehen.<br />
Idealerweise hätte ich als Lehrerin bei der Vorbereitung helfen sollen, doch bin<br />
ich an zeitliche Grenzen gestoßen. 21 Kinder arbeiten gleichzeitig an verschiedenen<br />
Aufgaben mit verschiedenen Inhalten und stellen dazu ganz verschiedene<br />
Fragen – dies erfordert eine hohe Flexibilität und mehr Zeit als zur Verfügung<br />
steht.<br />
Schon im Versammlungskreis muss ich manchmal aus zeitlichen Gründen ein oft<br />
interessantes Unterrichtsgespräch stoppen; so ist es zum Beispiel bei der Aufgabe<br />
mit der Anzahl der Haare für alle wahnsinnig interessant, wie man auf die<br />
143
144<br />
Dagmar Heinrich<br />
oben dargestellten Ausgangszahlen der verschiedenen Haarfarben gekommen ist.<br />
Lara und Tamaris haben den Wasserverbrauch in den Industrieländern im Vergleich<br />
mit den Entwicklungsländern vorgestellt und spannender als die hohen<br />
Zahlen und die dazugehörigen Rechenoperationen ist es verständlicherweise zu<br />
überlegen, wie und wo wir Wasser sparen können [...]<br />
Die Pflichtaufgaben zur Zahlenraumerweiterung und die Sachaufgaben sind auf<br />
dem Papier nachprüfbar; vieles andere wird ,nebenbei’ gelernt: Fähigkeiten und<br />
Fertigkeiten im Bereich des sozialen und überfachlichen Lernens sind gefördert<br />
und gefordert worden wie zum Beispiel das eigenverantwortliche Gestalten von<br />
Lernzeiten, das Vorbereiten und Präsentieren eigener Lösungswege, die Kooperation<br />
mit einer Partnerin oder einem Partner, Textverständnis, grundlegende<br />
Kenntnisse in ganz unterschiedlichen Alltagsbereichen oder logisches Denken.<br />
Fünftes Schuljahr: Maßstab und Umwandlung von Längen<br />
Direkt nach den Sommerferien zu Beginn des fünften Schuljahres sind geografische<br />
Grundkenntnisse als ein fächerübergreifendes Projekt unser Thema. 5 In<br />
möglichst vielen Unterrichtsstunden wird auf unterschiedliche Art und Weise an<br />
diesem Thema gearbeitet, um ein sinnvolles, in Zusammenhänge gestelltes Lernen<br />
zu ermöglichen. Nach einer Einführung und eher kleinschrittigen Aufgaben<br />
stehen am Ende auch in Mathematik komplexere Aufgaben, die von Kleingruppen<br />
über einen längeren Zeitraum selbständig erarbeitet werden.<br />
Auf einem sich anschließenden Eltern-Kind-Nachmittag sollen dann die Schülerinnen<br />
und Schüler ihre Produkte und ihr Wissen präsentieren.<br />
Aufgabenbeispiele<br />
In Rücksprache mit der Betreuungslehrerin wird es in den Mathematikstunden<br />
überwiegend um die Längenmaße, den Maßstab und damit verbunden dem Lesen<br />
unterschiedlicher Karten gehen. Meter und Zentimeter sind bekannt. Um noch<br />
einmal den Umgang mit dem Maßband zu trainieren, haben wir nachgeprüft, ob<br />
denn tatsächlich die Körpergröße der einzelnen Kinder mit der Spanne ihrer Arme<br />
annähernd übereinstimmt. Mit Hilfe der Größentabelle wandeln die Schülerinnen<br />
und Schüler anschließend unterschiedliche Längenmaße um, dabei wird auch die<br />
Kommaschreibweise angewandt.<br />
Radiergummi, Bleistift und ähnliches haben die Kinder maßstabsgetreu ins Heft<br />
gezeichnet und dann im Maßstab 1 : 2 bzw. 2 : 1 verkleinert oder vergrößert.<br />
Die Aufgabe der Woche, „Ich – im Maßstab 1 : 10“ ist auf recht unterschiedliche<br />
Art und Weise gelöst worden:<br />
5 Näheres dazu in: Struck 2001
Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />
Mehrere Stunden werden für Übungs- und Wiederholungsaufgaben zu den unterschiedlichen<br />
Längenmaßen und zum Thema ,Maßstab‘ genutzt, wobei wir im Ver-<br />
145
146<br />
Dagmar Heinrich<br />
sammlungskreis zu Beginn jeder Stunde aktuelle Fragen klären oder Inhalte wiederholen<br />
und vertiefen.<br />
Als eine Art ‚Erfolgskontrolle‘ habe ich schließlich die Differenzierungsmöglichkeiten<br />
dieses Themas genutzt; die Schüler sollen nun ihr Wissen anwenden. Zu<br />
zweit oder dritt sind Karten verschiedenen Maßstabs zu bearbeiten, dabei habe<br />
ich die Aufgaben hierzu unterschiedlich anspruchsvoll gestaltet, hier zwei Aufgabenbeispiele:<br />
Mont Blanc – Wanderkarte Maßstab 1 : 50.000<br />
1. Wo liegt das dargestellte Gebiet, welche drei Länder treffen hier zusammen?<br />
2. Wandelt den Maßstab in Meter um – jetzt könnt ihr besser rechnen.<br />
3. Wie lang ist der See „Lac des Toules“ an seiner längsten Stelle?<br />
4. Wie lang ist die Seilbahn von La Palud bis nach Aig. du Midi?<br />
5. Es gibt eine kurvige Straße durch das Gebirge von La Palud nach La Thuile.<br />
Rechnet aus, wie lang diese Strecke ist!<br />
Lara, Rilana und Ronja berechnen nicht nur den Durchmesser, sondern auch<br />
gleich den Umfang des Sees. Nach einigem Rätseln und Ausprobieren fragen sie<br />
mich nach einem Wollfaden, den sie einmal um den See herumlegen und dann<br />
zum Ausmessen an die Maßstabsleiste der Wanderkarte legen. Auf gleiche Art<br />
und Weise berechnen sie die Länge der kurvigen Gebirgsstraße.<br />
<strong>Bielefeld</strong> – Stadtplan Maßstab 1 : 20.000<br />
1. Erzählt kurz etwas zu unserer Stadt (Einwohnerzahl, Stadtteile, bekannte<br />
Gebäude, ...)<br />
2. Zeigt uns auf der Karte, wo ihr wohnt!<br />
3. Wandelt den Maßstab in Meter um – jetzt könnt ihr besser rechnen.<br />
4. Wie lang ist die Strecke von unserer Schule bis zum Sennefriedhof/<br />
von der Uni bis zur Alm (Luftlinie)?<br />
5. Wie lang ist die Strecke der Straßenbahn Linie 3 (Babenhausen/Stieghorst)?<br />
Sascha und Tobi haben sich mit dem Stadtplan ihrer Heimatstadt <strong>Bielefeld</strong> auseinanderzusetzen<br />
und lassen sich von den Mädchen anstecken: sie wollen nun<br />
auch auf den Meter genau die Länge der Straßenbahnlinie berechnen und legen<br />
die Strecke ebenfalls mit einem Faden ab.<br />
Kerstin und Dorothee beschäftigen sich mit dem Grundriss einer Wohnung, finden<br />
nach einigem Ausprobieren den Maßstab (1:60) heraus und beginnen dann<br />
damit, ihr Traumzimmer im Maßstab 1:30 mit viel Liebe zum Detail ins Heft zu<br />
zeichnen.<br />
Simon und Maik, beide absolute Italien-Fans, haben mit Hilfe der Toscana-Karte<br />
(Maßstab 1: 200.000) die Entfernungen zwischen bekannten Orten und die Länge<br />
der Fährstrecke von der Küste zu ihrer Lieblingsinsel Elba ausgerechnet.<br />
Die Karte der Naherholungsgebiete und der jeweiligen Attraktionen im Teutoburger<br />
Wald, die Karte zu Nordrhein-Westfalen, zu den Niederlanden, zu Europa und
Eine Gruppe – viele verschiedene Kinder – ein Ziel?<br />
schließlich auch die Weltkarte im Atlas werden auf ähnliche Art und Weise unter<br />
verschiedenen von mir formulierten Fragestellungen von den Schülerinnen und<br />
Schülern bearbeitet und dann im Versammlungskreis der ganzen Gruppe vorgestellt;<br />
so dass jedes Kind einen Überblick über die unterschiedlichen Karten und<br />
deren Maßstäbe gewinnen kann.<br />
Rückblick<br />
Nach der kurzen Präsentation kommt es zu Rückmeldungen der Mitschülerinnen<br />
und Mitschüler, wobei es viel Lob gibt, manchmal aber auch Kritik wie: „Ihr habt<br />
zu leise geredet“ – „Rilana hat viel weniger gesagt als Lara“, „Das war viel zu<br />
kurz, ihr habt nicht erklärt, wie ihr auf die Zahlen gekommen seid!“<br />
Besonders viel Spaß macht es den vortragenden Schülerinnen und Schülern dabei,<br />
der Gruppe eine Rätselfrage zu stellen, die nur bei gutem Zuhören zu lösen<br />
ist.<br />
Im Vergleich zum Vorjahr zeigen sich deutliche Unterschiede: die Kinder sind es<br />
inzwischen viel mehr gewohnt, vor der Gruppe laut und deutlich zu sprechen und<br />
ihre Lösungswege nachvollziehbar darzustellen. Gleichzeitig sind sie fähig, aktiv<br />
zuzuhören und sachliche Rückfragen zu stellen. Die Aufgabenstellungen geben<br />
eine gute Gliederung für die Präsentation vor; auf den einzelnen Karten lassen<br />
sich die Ergebnisse für alle interessant darstellen.<br />
Gesamtresümee<br />
Die 21 Kinder der Gruppe ,5 Zitronengelb‘ sind in den letzten zweieinhalb Jahren<br />
zu einer guten Lerngruppe zusammengewachsen; besonders im Verhaltensbereich<br />
haben sich die großen Unterschiede eher verringert: nur noch selten übergeht<br />
Tobi sämtliche Gesprächsregeln, immer öfter melden sich Rilana, Lara oder<br />
Kerstin zu Wort, auch Dunya gelingt es inzwischen, eine eigene Meinung zu entwickeln<br />
und zu äußern. Die Kinder kennen sich besser untereinander und akzeptieren<br />
sich mit ihren Besonderheiten. Mario braucht eben einfach etwas länger,<br />
Simon knetet an seinen Fingern, Rilana liest höchst ungern vor, Kerstin macht<br />
nie Fehler ...<br />
Wenn es um das Lösen schematischer Aufgabenstellungen und die Durchführung<br />
bestimmter vorgeschriebener Rechenschritte geht, mag sogar der vermeintliche<br />
Eindruck einer homogenen Gruppe entstehen. Auch Katrin zeigt in diesem Bereich<br />
dank der kontinuierlichen (Einzel-) Förderung erste Erfolge. Offene Aufgaben<br />
mit alternativen Lösungswegen zeigen wiederum das große Spektrum des<br />
Lern- und Leistungsverhalten dieser Gruppe, was den Unterricht lebendig und<br />
interessant macht. Auch weiterhin werden gemeinsame Wiederholungs- und Übungszeiten<br />
mit offeneren Lernsituationen abwechseln, um den Spaß an der Mathematik<br />
zu erhalten und den einzelnen Kindern in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht<br />
zu werden.<br />
Literatur<br />
<strong>Biermann</strong>. Chr. (Hrsg.): Kritische Koedukation: Mädchen und Jungen in der Laborschule.<br />
Werkstattheft Nr. 10. <strong>Bielefeld</strong> 1997<br />
Demmer-Dieckmann, I./Struck, B. (Hrsg.): Gemeinsamkeit und Vielfalt – Pädagogik und<br />
Didaktik einer Schule ohne Aussonderung. Weinheim und München: Juventa 2001<br />
147
148<br />
Dagmar Heinrich<br />
Emer, W./Lenzen, K.-D.: Projektunterricht gestalten – Schule verändern. Hohengehren:<br />
Schneider Verlag 2002<br />
Jahnke-Klein, S.: Sinnstiftender Mathematikunterricht für Mädchen und Jungen. Hohengehren:<br />
Schneider Verlag 2001<br />
Struck, B.: „Ruck-Zuck durch Germany“ – Die Geografie Deutschlands als Brettspiel. In:<br />
Demmer-Dieckmann/Struck (2001)<br />
Schuldt, W./Quak, U.: Lernspaß mit Paul Maar: Sachrechnen, 4. Klasse. Berlin: Cornelsen<br />
2000<br />
Schipper, W./Dröge, R./Ebeling, A.: Handbuch für den Mathematikunterricht, 4. Schuljahr.<br />
Braunschweig: Schroedel 2000
Altersmischung<br />
Anhang: Glossar<br />
Alle Kinder der Eingangsstufe der Laborschule (Vorschuljahr, 1. und 2. Schuljahr)<br />
lernen jahrgangsgemischt, während die SchülerInnen ab dem 3. Schuljahr in<br />
jahrgangshomogenen Gruppen unterrichtet werden. Seit dem Schuljahr<br />
2000/2001 wurde das jahrgangsübergreifende Konzept versuchsweise auch auf<br />
drei von neun Gruppen der Jahrgänge 3, 4 und 5 ausgeweitet. Der Schulversuch<br />
ist auf 6 Jahre angelegt und ist in ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt eingebettet.<br />
Literatur: Ulrich Bosse u. a.: Gemischt oder Gleich? Wie Schulen die Arbeit in<br />
jahrgangsgemischten Gruppen gestalten. Werkstattheft 18. <strong>Bielefeld</strong><br />
1999<br />
<strong>Christine</strong> Haschke u. a.: Lernen in jahrgangsgemischten Gruppen (Jg.<br />
3, 4, 5): Ein Schulversuch an der Laborschule. Konzeptentwicklung<br />
und erste Erfahrungen. Werkstattheft 23. <strong>Bielefeld</strong> 2001<br />
Beratungsstelle<br />
Die <strong>Bielefeld</strong>er Beratungsstelle für Kinder mit Rechenstörungen ist eine Einrichtung<br />
des IDM (Institut für Didaktik der Mathematik) an der Universität <strong>Bielefeld</strong>.<br />
Sie verbindet Forschungsaufgaben (Ursachen und Erscheinungsformen von Rechenstörungen)<br />
mit Aufgaben in der Lehrerausbildung (Lehramt Primarstufe) und<br />
Serviceaufgaben (telefonische Beratung [0521-1062502; immer Mittwoch 16-18<br />
Uhr] für Eltern und Lehrkräfte; Förderung von Kindern).<br />
BetreungslehrerIn<br />
Die Laborschule nimmt das Prinzip der kontinuierlichen Betreuung der Gruppen<br />
wichtig. In der Stufe I werden die Kinder in altersgemischten Gruppen über drei<br />
Jahre von einer BetreuungslehrerIn, im Ausnahmefall von zwei LehrerInnen begleitet.<br />
Am Nachmittag setzen sich die Gruppen neu zusammen; hier erfolgt die<br />
Betreuung durch ein Team von zwei ErzieherInnen/SozialpädagogInnen. In der<br />
Stufe II nimmt die Anzahl der LehrerInnen zwar zu – Englisch, Werkunterricht,<br />
Arbeitsgemeinschaften werden meist von anderen Personen unterrichtet –, aber<br />
die Wichtigkeit der Betreuungsperson/manchmal auch zwei LehrerInnen bleibt<br />
zwei bzw. drei Jahre bestehen. Durch die Stufen 3 und 4 (Jg. 5 bis 10) werden<br />
die SchülerInnen meist von einer BetreuungslehrerIn, seltener von einem Team<br />
geführt, die bzw. das möglichst eine hohe Anzahl an Fachstunden in der Gruppe<br />
unterrichtet.<br />
Erstüberprüfung<br />
Bei begründetem Verdacht auf Rechenstörungen besteht die Möglichkeit einer<br />
Erstüberprüfung in der Beratungsstelle. Mit der Methode des lauten Denkens<br />
werden die kindlichen Prozesse der Lösung von Aufgaben untersucht. Verwendet<br />
werden Aufgabenstellungen, die geeignet sind, auf die typischen Symptome für<br />
Rechenstörungen aufmerksam zu machen. Die einzelnen inhaltlichen Aufgabenschwerpunkte<br />
einer Erstüberprüfung sind im Beitrag von Zimmer in diesem Heft<br />
auf S. 122ff. nachzulesen.<br />
149
150<br />
Anhang: Glossar<br />
FEP – Forschungs- und Entwicklungsplan<br />
Alle zwei Jahre stellen die Versuchsschule und Wissenschaftliche Einrichtung Laborschule<br />
einen neuen Plan ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeit auf. Aus<br />
der Praxis heraus werden Fragestellungen formuliert, finden sich Forschungsgruppen<br />
von LehrerInnen (und WissenschaftlerInnen) zusammen und werden<br />
Projektanträge geschrieben. Im Gesamtumfang von fünf LehrerInnenstellen (entspricht<br />
90 Stunden) können Projektstunden, die zu einer „Entlastung“ des Lehrdeputats<br />
(normales nordrhein-westfälisches Gesamtschuldeputat) führen, verteilt<br />
werden. In unserem Mathematikprojekt arbeiteten die beteiligten LehrerInnen<br />
mit einem jeweiligen Forschungsdeputat von 3 Stunden.<br />
Literatur: Klaus-Jürgen Tillmann: „Autonomie“ – eine Schule regelt ihre Angelegenheiten<br />
selbst. In: Susanne Thurn/Klaus-Jürgen Tillmann: Das Beispiel<br />
Laborschule <strong>Bielefeld</strong>. Unsere Schule ist ein Haus des Lernens.<br />
Reinbek bei Hamburg 1997, S. 98ff.<br />
KJHG<br />
Das KJHG, das Kinder- und Jugendhilfegesetz, ist das SGB VIII, das Sozialgesetzbuch<br />
VIII.<br />
Im § 35a wird die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche<br />
geregelt. Über diesen Paragraphen können Kinder mit Rechenstörungen<br />
(„Dyskalkulie“) öffentlich finanzierte Förderung unter der Voraussetzung erhalten,<br />
dass sie seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht<br />
sind. Das Vorliegen einer Rechenstörung allein reicht also für die Gewährung öffentlicher<br />
Mittel für die Förderung nicht aus.<br />
Mathe-Treff<br />
Der Mathe-Treff stellt eine besondere Organisationsform des ansonsten ganzheitlichen<br />
Unterrichts in der Eingangsstufe der Laborschule dar. Bereits seit 12 Jahren<br />
haben die Lehrerinnen der Gruppen rosa und oliv Erfahrungen damit gesammelt.<br />
Der ‚große‘ Mathe-Treff bietet Gelegenheit gruppenübergreifend Mathematik<br />
zu betreiben. Die Kinder werden unterschiedlich gruppiert (jahrgangsweise,<br />
leistungsbezogen, erhöhter Förderbedarf ...) um mit einer der beiden Lehrerinnen<br />
neue Unterrichtsinhalte zu entdecken und zu erarbeiten, bereits Gelerntes zu<br />
üben, unterschiedliche Strategien zu entwickeln und zu diskutieren etc. Ein Teil<br />
der Kinder, die gerade nicht am Mathe-Treff teilnehmen, arbeiten parallel bei der<br />
anderen Lehrerin in einem Sprache-Treff, der ähnliche Ziele bezogen auf den Bereich<br />
Sprache verfolgt, die übrigen arbeiten selbständig. Der gruppenübergreifende<br />
Mathe-Treff findet phasenweise ein- bis zweimal wöchentlich statt. ‚Kleine‘<br />
Mathe-Treffs innerhalb der Gruppe finden fast täglich statt.
Mathewagen<br />
Anhang: Glossar<br />
Der ‚Mathewagen‘ war ursprünglich ein mobiles Regal in einem Kosmetikfachgeschäft<br />
und hat jetzt seinen festen Standort zwischen zwei Gruppen. Gut sichtbar<br />
und geordnet bietet er den Kindern viele Materialien zum selbstständigen Mathematiklernen<br />
und -üben in ansprechender Form an. Sie finden dort Rechenrahmen,<br />
Lineale, Maßbänder, Würfel, Rechenplättchen, Spielgeld, Rechenpyramiden,<br />
Hundertertafeln, das Zauberdreieck mit den zugehörigen Karten, Schüttelkästen<br />
zur Zahlzerlegung, Rechenpuzzles, Tangram, Schach u. v. m.<br />
151
Mehrsystemblöcke<br />
152<br />
Anhang: Glossar<br />
Dieses Übungsmaterial aus Holz oder Plastik ist auch unter den Namen Dienes-<br />
Blöcke oder Einer-, Zehner- und Hunderterklötze bekannt. Es dient der ‚fassbaren‘<br />
Darstellung von Zahlen im Zahlenraum bis 1000<br />
Literatur: H. Radatz/W. Schipper: Handbuch für den Mathematikunterricht an<br />
Grundschulen. Hannover 1983<br />
OTZ – Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung<br />
Dieser aufgaben- und produktorientierte Test zum Stand der Zahlbegriffsentwicklung<br />
für Kinder im Alter von 5 bis 7 ½ Jahren ist in den Niederlanden entwickelt<br />
und in Deutschland an die Verhältnisse angepasst und erprobt worden. Der Test<br />
besteht aus zwei Parallelversionen mit jeweils 40 Aufgaben und wird in Einzelüberprüfungen<br />
durchgeführt. Er dauert ca. eine halbe Stunde. Die Diagnose und<br />
Einordnung in einer der fünf Niveaugruppen der Entwicklung (A-E) ergibt sich aus<br />
dem Vergleich der Leistung des Kindes mit einer Normgruppe von Kindern gleichen<br />
Alters. In unserem Projekt haben wir mit Vorschulkindern diesen Test<br />
durchgeführt, um mögliche ‚Risikokinder‘ frühzeitig zu erkennen.<br />
Literatur: J.E.H Van Luit./B.A.M. Van de Rijt/K. Hasemann: OTZ – Osnabrücker<br />
Test zur Zahlbegriffsentwicklung. Göttingen 2001<br />
Patenkind<br />
Zu Beginn jedes neuen Schuljahres übernehmen ältere Kinder – meist ‚Zweier‘,<br />
die bereits im 3. Jahr die Eingangsstufe der Laborschule besuchen – Patenschaften<br />
für die neu aufgenommenen Vorschulkinder, damit diese sich in ihrer neuen<br />
Gruppe schneller aufgenommen fühlen.
Porträts<br />
Anhang: Glossar<br />
An der Laborschule schreiben die BetreuungslehrerInnen zusammen mit den<br />
SonderpädagogInnen anonymisierte Kinderporträts über die Kinder mit sonderpädagogischem<br />
Förderbedarf. Diese Berichte versuchen, ein möglichst vollständiges<br />
Bild des Kindes aufzuzeichnen und geben Informationen über die bisherige<br />
Entwicklung und die zukünftigen Förderschwerpunkte. Ähnlich den pädagogischen<br />
Gutachten, die im Rahmen der Verordnung über die Feststellung des sonderpädagogischen<br />
Förderbedarfs erstellt werden, werden auch die Porträts der<br />
Schulaufsichtsbehörde zugängig gemacht und dienen als Berechnungsgrundlage<br />
für die Zuweisung von Sonderpädagogik-Stunden.<br />
Literatur: Irene Demmer-Dieckmann: Porträts an der Laborschule. Die Beschreibung<br />
des individuellen Entwicklungs- und Lernstandes. In: Irene<br />
Demmer-Dieckmann/Bruno Struck (Hrsg.): Gemeinsamkeit und Vielfalt.<br />
Pädagogik und Didaktik einer Schule ohne Aussonderung. Weinheim<br />
und München 2001<br />
SGB VIII<br />
Sozialgesetzbuch VIII; vgl. auch KJHG<br />
Pyramide<br />
Sonderpädagogischer Förderbedarf<br />
Ein Lernspiel mit Selbstkontrolle für 1–4 Spielerinnen.<br />
Es gibt sie mit 25, 36 und 49 Elementen,<br />
je nach Schwierigkeitsgrad der zu<br />
lösenden Additions-Subtraktions, Multiplikations-<br />
und Divisionsaufgaben. Wenn richtig gerechnet<br />
und angelegt wird, entsteht ein großes<br />
Dreieck: die ‚Pyramide‘. Sie ist beim<br />
Spectra-Verlag erhältlich.<br />
Ein sonderpädagogischer Förderbedarf ist bei Kindern und Jugendlichen zu vermuten,<br />
deren Entwicklungs-, Lern- und Bildungsmöglichkeiten derart beeinträchtigt<br />
sind, dass sie über einen längeren Zeitraum spezifische, kontinuierliche und<br />
umfassende Hilfen benötigen.<br />
Der sonderpädagogische Förderbedarf entsteht nicht einseitig aus einer persönlichen<br />
Beeinträchtigung, sondern immer aus der Wechselwirkung mit der besonderen<br />
Lebens- und Schulsituation des einzelnen Kindes.<br />
Literatur: Gerd Ulrich Heuer: Beurteilen/Beraten/Fördern. Dortmund 2001<br />
153
Taschenrechnerdiktat<br />
154<br />
Anhang: Glossar<br />
Mit dem Taschenrechnerdiktat kann die Zahlenschreibweise von links nach rechts<br />
geübt werden, da ein Zahlendreher entsteht, wenn das Kind den Einer vor dem<br />
Zehner eintippt.<br />
Zahlenbrücke<br />
Siehe Zauberdreieck<br />
Zahlendiktat<br />
Zahlendreher, das inverse Aufschreiben von zweistelligen Zahlen und spiegelverkehrt<br />
notierten Ziffern, beim Zahlendiktat können auf eine Links-Rechts-<br />
Schwäche und/oder eine Stellenwertunsicherheit hinweisen. Zunächst können<br />
Zahlendiktate zur Diagnose herangezogen werden, später auch zur Übung dienen.<br />
Zauberdreieck<br />
Zauberdreieck und Zahlenbrücke sind zwei operative Übungsformate, bei denen<br />
die Zahlenfelder in Form eines Dreiecks bzw. einer Brücke angeordnet sind. Die<br />
Aufgabe besteht darin, die Felder so mit den Zahlen zu füllen, dass alle Seitensummen<br />
gleich sind. Die Schüler üben durch Ausprobieren und geschicktes Operieren<br />
mit den Zahlen verschiedene Probleme zu lösen. Diese Übungsformate<br />
können ab der 1. Klasse eingesetzt und durch Veränderungen der Aufgabenstellungen<br />
in ihrem Schwierigkeitsgrad verändert werden.<br />
Literatur: Jürgen Floer: Kombino I. Spectra 2000<br />
Jürgen Floer: Rechnen, Üben und Entdecken – Beispiel, Erfahrungen,<br />
Anmerkungen. In: Sache-Wort-Zahl, Juni 2001, S. 8–12<br />
Petra Scherer: Produktives Lernen für Kinder mit Lernschwächen: Fördern<br />
durch Fordern. Leipzig/Stuttgart/Düsseldorf 2000, S. 222ff.
155<br />
Anhang: Kernziele<br />
Ziele des Arithmetikunterrichts im Jahrgang 0 (Vorschuljahr)<br />
Kernziele Teilgruppen und Feinziele Klippen im Lernprozess<br />
Zählen,<br />
Zahlen darstellen und<br />
Zahlen auffassen im<br />
Zahlenraum (ZR) bis<br />
10<br />
Kleine Rechengeschichten<br />
bearbeiten<br />
Zahlzerlegungen im<br />
Zahlenraum bis 10<br />
Addition/Subtraktion<br />
im ZR bis 10<br />
• Zahlwortreihe aufsagen<br />
– „Zähle so weit du kannst.“ (vorwärts)<br />
– Welche Zahl kommt nach der 3,...?<br />
- Zähle rückwärts von 10 bis 0<br />
– Welche Zahl kommt vor der 9,...?<br />
– Welche Zahl liegt zwischen 3 und 5?<br />
• Kleine Mengen (Kinder, Knöpfe, Plättchen...) durch<br />
Abzählen bestimmen<br />
• Lege 5 Plättchen, male 3 Blumen ...<br />
• strukturiert dargestellte Mengen zunehmend quasi-<br />
simultan erfassen (Die Kraft der 5)<br />
• Kleine Zahlen z.B. am Rechenrahmen (RR) einstellen<br />
• Rechengeschichten im Zahlenraum bis 10 mit Hilfe von<br />
Handlungen an Materialien bearbeiten und dabei Einsicht in<br />
die symbolische Schreibweise gewinnen<br />
• Zerlegungen im ZR bis 10 mit Hilfe von Material erarbeiten<br />
und in geeigneten Formen (z. B. „Haus der 10“) notieren<br />
• Kleine Additionen und Subtraktionen im ZR bis 10 mit Hilfe<br />
von Handlungen an Materialien (Rechenrahmen)<br />
lösen (3 + 4 = __)<br />
• Erste Verdopplungsaufgaben auswendig wissen<br />
• Die sog. Zählprinzipien nach Gelman/<br />
Gallistel (1978) beachten, insbesondere<br />
– das Eindeutigkeitsprinzip (Zuordnung<br />
Zahlwort zu Gegenstand und nicht etwa<br />
Silbe zu Gegenstand)<br />
– das Kardinalzahlprinzip (Versteht das<br />
Kind, dass das letzte Zahlwort eine Eigenschaft<br />
der gesamten Menge ist?)<br />
• Quasi-Simultane Zahlauffassung<br />
• Auswahl eines geeigneten Arbeitsmittels<br />
• Rückwärts zählen<br />
• Verständnis der symbolischen Schreibweise<br />
(+ , - , =)<br />
• Verständnis der Darstellungsformen<br />
• Verständnis der symbolischen Schreibweise<br />
(+ , - , =)<br />
Anhang: Kernziele
156<br />
Ziele des Arithmetikunterrichts im 1. Schuljahr<br />
Kernziele Teilgruppen und Feinziele Klippen im Lernprozess<br />
Zählen,<br />
Zahlen darstellen und<br />
Zahlen auffassen<br />
Zahlzerlegungen im<br />
Zahlenraum bis 10<br />
automatisieren<br />
Zahlen verdoppeln und<br />
halbieren sowie das<br />
Wissen um das Doppelte<br />
und die Hälfte<br />
beim Rechnen nutzen<br />
• Zahlwortreihe aufsagen<br />
– “Zähle so weit du kannst.” (vorwärts)<br />
– Zählen ab ... (vorwärts)<br />
– Zählen von ... bis ...(vorwärts)<br />
– Zählen in Schritte<br />
– Zählen rückwärts ab ...<br />
– Zählen rückwärts von ... bis ...<br />
• Mengen abzählen<br />
• Abgedecktes Zählen<br />
• Alle Zerlegungen aller Zahlen bis 10 mit Hilfe von Material erarbeiten<br />
und in geeigneten Formen (z. B. “Haus der 10”) notieren<br />
• Alle Zerlegungen aller Zahlen bis 10 auswendig wissen<br />
• Verdoppelungs- und Halbierungsaufgaben im Zahlenraum bis 10<br />
auswendig wissen<br />
• Verdoppelungs- und Halbierungsaufgaben im Zahlenraum bis 20<br />
automatisiert lösen<br />
• Rechenaufgaben mit Hilfe des Verdoppelns bzw. Halbierens sowie<br />
des Fast-Verdoppelns und Fast-Halbierens lösen<br />
• Rückwärtszählen<br />
• Quasi-Simultane Zahlauffassung<br />
und -darstellung<br />
• Auswahl eines geeigneten Arbeitsmittels<br />
• Ablösung vom Material mit Hilfe<br />
von Übungen zur Entwicklung<br />
mentaler Vorstellungen (verdeckte<br />
Hände)<br />
• 14-6 über “Hälfte von 14 plus 1”<br />
(häufig: Rechenrichtungsfehler)<br />
Anhang: Kernziele
157<br />
Kernziele Teilgruppen und Feinziele Klippen im Lernprozess<br />
Das kleines Einspluseins<br />
bis 10 und<br />
seine Umkehrung<br />
auswendig wissen<br />
Beim Addieren und<br />
Subtrahieren im zweiten<br />
Zehner (10 bis 20)<br />
die Analogien nutzen<br />
Den Zehnerübergang<br />
mit guten Strategien<br />
bewältigen<br />
• Aufgaben vom Typ a±b=x (mit a, b gegeben; x gesucht) im Zahlenraum<br />
bis 10 auswendig wissen<br />
• Aufgaben mit Variation des Platzhalters erschließen können<br />
• Beispiel: 13+4=17, weil 3+4=7<br />
• Operative Strategien nutzen:<br />
– das Verdoppeln / Halbieren<br />
– gegen- bzw. gleichsinniges Verändern<br />
– schrittweises Rechnen<br />
• Mindestanforderung: schrittweises Rechnen bis 10, dann weiter<br />
• Variationen des Platzhalters nicht<br />
nur formal einführen sondern<br />
handelnd grundlegend<br />
• Ablösung vom zählenden Rechnen<br />
mit Hilfe von Übungen zur Verinnerlichung<br />
der Handlungen
158<br />
Ziele des Arithmetikunterrichts im 2. Schuljahr<br />
Kernziele Teilgruppen und Feinziele Klippen im Lernprozess<br />
Zählen,<br />
Zahlen darstellen und<br />
Zahlen auffassen im<br />
ZR bis 100<br />
• Zahlwortreihe bis 100 aufsagen<br />
– Zählen ab ... (vorwärts)<br />
– Zählen von ... bis ...(vorwärts)<br />
– Zählen in Schritten<br />
– Zählen rückwärts ab ...<br />
– Zählen rückwärts von ... bis ...<br />
• Benachbarte Zehnerzahlen finden<br />
• Strukturiert dargestellte Mengen (z.B. am Rechenrahmen)<br />
quasi-simultan erfassen<br />
• Orientierung an der Hundertertafel<br />
- Welche Zahl steht vor/ hinter 63, ...?<br />
- Welche Zahl steht über/ unter 54, ...?<br />
- Wo findest du die Zehnerzahlen?<br />
- Wo findest du die Zahlen, die als Einer eine 5,<br />
.... haben?<br />
- Verdeckte Zahlen benennen<br />
- Wege auf der Hundertertafel „im Kopf“<br />
• Die Zahlen bis 100 strukturiert darstellen (z.B.<br />
zeichnen mit Zehnerstreifen, einstellen am Hunderter-RR,<br />
.......)<br />
• Rückwärtszählen über den Zehner<br />
• Quasi-Simultane Zahlauffassung und -darstellung<br />
• Alle Zwanzigerzahlen befinden sich in der dritten<br />
Reihe der Hundertertafel etc.<br />
Anhang: Kernziele
159<br />
Kernziele Teilgruppen und Feinziele Klippen im Lernprozess<br />
Beim Addieren und<br />
Subtrahieren im Zahlenraum<br />
bis 100<br />
die Analogien nutzen<br />
• Von der Addition reiner Zehnerzahlen über das<br />
Addieren von einstelligen Zahlen und reinen Zehnerzahlen<br />
zu gemischten Zehner-Einer-Zahlen bis<br />
zur Addition zweier gemischter Zehner-Einer-<br />
Zahlen mit Zehnerübergang, Subtraktion entsprechend<br />
• Operative Strategien nutzen<br />
• Zunehmend ohne schriftliche Zwischenschritte „im<br />
Kopf“ rechnen<br />
• Schrittweises Rechnen<br />
(46 + 28 = 46 + 20 + 8)<br />
Das kleine Einmaleins • Grundvorstellungen der Multiplikation entwickeln<br />
• Multiplizieren mit 1, 2 ,5 und 10 als „Stützaufgaben“<br />
• Ausnutzen von Beziehungen/Rechenvorteilen<br />
• Möglichst viele Aufgaben des kleinen 1x1 auswendig<br />
wissen<br />
Division analog zum<br />
kleinen Einmaleins<br />
• Grundvorstellungen der Division aus der Multiplikation<br />
entwickeln<br />
• Ablösung vom Material<br />
• Subtraktion schwieriger als Addition<br />
• Schwierigkeiten bei den Zehnerübergängen<br />
• „Stellenwerte extra“ (46+28=40+20+6+8=<br />
40+20+14) häufige Fehlerquelle<br />
• Unverständnis der symbolischen Schreibweise<br />
• Grundverständnis der Multiplikation als wiederholte<br />
Addition<br />
• Multiplikation mit 0 und 1<br />
• Dividieren durch 1<br />
• Verständnis der symbolischen Schreibweise<br />
• Division als Umkehrung der Multiplikation verstehen<br />
Anhang: Kernziele
160<br />
Anhang: Kernziele<br />
Ziele des Arithmetikunterrichtes im 3. Schuljahr<br />
Kernziele Teilgruppen und Feinziele<br />
Den Zahlenraum bis<br />
1000 erweitern<br />
Mündlich und halbschriftlich<br />
addieren<br />
und subtrahieren<br />
Mündlich und halbschriftlichmultiplizieren<br />
Schriftlich addieren<br />
und subtrahieren<br />
Anzahlen schätzen<br />
Zahlen strukturiert darstellen, vergleichen<br />
und ordnen<br />
Das Verständnis für Bündelung und Stellenwert<br />
vertiefen<br />
Analogien nutzen<br />
Schrittweises Rechnen als Mindeststrategie<br />
erarbeiten<br />
Vorteilhafte Strategien entwickeln und<br />
nutzen<br />
Analogien verstehen und nutzen<br />
Überschlagsrechnungen durchführen<br />
Das kleine Einmaleins festigen und erweitern<br />
auf Aufgaben vom Typ E·EZ<br />
Beim halbschritlichen Multiplizieren neben<br />
der Normalform auch die Notation in<br />
Form des Malkreuzes verwenden<br />
Analogien verstehen und nutzen:<br />
8·2=16, 80·200 = 16000<br />
Überschlagsrechnungen durchführen<br />
Stellenwerte verstehen<br />
Bündelung und Entbündelung beherrschen<br />
Die Subtraktion in Form des Abziehens<br />
mit Entbündeln behandeln<br />
Addieren mehrerer Subtrahenden<br />
Überschlagsrechnungen durchführen<br />
Klippen im<br />
Lernprozess<br />
Verständnis Stellenwert<br />
Auf die Schreibweise<br />
der Zahlen achten<br />
Schrittweises Rechnen<br />
statt Stellenwerte<br />
extra thematisieren<br />
und favorisieren<br />
Die Entbündelungsmethode<br />
ist dann<br />
kompliziert, wenn der<br />
Minuend viele Nullen<br />
aufweist. Häufig können<br />
solche Aufgaben<br />
jedoch im Kopf (durch<br />
Ergänzen) gelöst werden.
Anhang: Kernziele<br />
Ziele des Arithmetikunterrichts im 4. Schuljahr<br />
Kernziele Teilgruppen und Feinziele<br />
Den Zahlenraum bis<br />
eine Million und darüber<br />
hinaus erweitern<br />
In allen vier Grundrechenarten<br />
im Kopf<br />
und halbschriftlich<br />
rechnen können<br />
Schriftlich multiplizieren<br />
und dividieren<br />
Stützpunktvorstellungen von großen<br />
Zahlen entwickeln (Vergleiche bzw.<br />
schrittweises Vorgehen)<br />
Zahlen strukturiert darstellen, vergleichen<br />
und ordnen<br />
Das Verständnis für Bündelung und<br />
Stellenwert vertiefen<br />
Analogien nutzen<br />
Diagramme als Veranschaulichungshilfe<br />
lesen und entwerfen können, ebenso<br />
auf dem Zahlenstrahl zurechtfinden<br />
Große Zahlen runden<br />
Schätzen und überschlägig rechnen<br />
Verständnis für die jeweiligen Rechenschritte<br />
und die Vorgehensweisen entwickeln<br />
Divisionsaufgaben mit Rest rechnen<br />
können (Restschreibweise)<br />
Kleines Einmaleins (und Einsdurcheins)<br />
auswendig können<br />
Analogien nutzen<br />
Großes Einmaleins halbschriftlich (z.B.<br />
mit Hilfe des Malkreuzes) rechnen<br />
können<br />
Schätzen und überschlägig rechnen<br />
Überschlags- und Kontrollrechnungen<br />
ausführen<br />
Subtraktion als Voraussetzung für Division<br />
beherrschen<br />
Division mit der Enthaltensein-<br />
Vorstellung erarbeiten<br />
Mindestanforderung: Division durch<br />
einstellige Divisoren<br />
Schätzen und überschlägig rechnen<br />
Klippen im<br />
Lernprozess<br />
Verständnis Stellenwert<br />
Auf die Schreibweise der<br />
Zahlen achten<br />
Nachbarn von Stufenzahlen<br />
(179 999 999,<br />
180 000 000,<br />
180 000 001)<br />
Das Verfahren der<br />
schriftlichen Division ist<br />
nicht direkt einleuchtend;<br />
beim Herunterschreiben<br />
der nächsten<br />
Ziffer kann Verwirrung<br />
entstehen;<br />
ebenso bei einer Null im<br />
Ergebnis<br />
161
162<br />
Anhang: Kernziele<br />
Geometrie: Unterrichtsziele für die Eingangsstufe<br />
Vorrangiges Ziel des Geometrieunterrichts in der Primarstufe ist die Förderung<br />
der räumlichen Vorstellung. Wichtig dafür sind folgende Aktivitäten:<br />
Erkunden der Umwelt, Begehen, Orientieren, Modellieren, Versprachlichen, Falten,<br />
Kleben, Schneiden, Legen, Bauen, Sehen, Vorstellen, Messen, Schätzen,<br />
Vergleichen, Färben und Zeichnen<br />
Inhalte und Kernziele handlungsorientierte Feinziele<br />
thematisch unabhängig von der Reihenfolge<br />
Raumerfahrungen<br />
- Raumerfahrungen durch Operationen<br />
im Raum gewinnen und vertiefen<br />
- geometrische Begriffe und Beziehungen<br />
in der Umwelt erkennen und untersuchen<br />
- die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit<br />
und das räumliche Vorstellungsvermögen<br />
schulen<br />
Körperformen<br />
- erste Erfahrungen über ihre Eigenschaften<br />
- Körperformen vergleichen, herstellen<br />
und untersuchen<br />
Ebene Figuren<br />
- ebene Figuren vergleichen, herstellen<br />
und untersuchen<br />
- erste Erfahrungen zur Symmetrie<br />
sammeln<br />
Messen und Zeichnen<br />
Erkennen, Benennen, Beschreiben, Untersuchen<br />
und Vertiefen von<br />
geometrischen Lagebeziehungen:<br />
über-unter, vor-hinter, links von-rechts von,<br />
neben, zwischen...<br />
Formqualitäten:<br />
dick-dünn, rund-eckig...<br />
geometrische Eigenschaften und Merkmalsbegriffe:<br />
eckig, rund, lang, kurz, dick, dünn, breit,<br />
schmal, viereckig, dreieckig, quadratisch ...<br />
geometrische Körper in der Umwelt erkennen,<br />
beschreiben, nachbauen und auf ihre<br />
Eigenschaften hin untersuchen.<br />
ebene Figuren, Formen in der Umwelt finden,<br />
benennen und beschreiben, zeichnen<br />
und auf ihre Eigenschaften hin untersuchen,<br />
geometrische Muster und Parkettierungen<br />
legen, nachlegen, auslegen, herstellen ,<br />
zeichnen, bzgl. der Größe vergleichen<br />
(Rechteck, Quadrat, Kreis, Dreieck), mit<br />
ihnen experimentieren<br />
achsensymmetrische Figuren erkennen, herstellen,<br />
legen, falten, klecksen, schneiden<br />
Grundvorstellungen geometrischen Messens<br />
entwickeln<br />
Schätzen, Strecken messen, Zeichnen mit<br />
Umweltmaterial, mit Schablonen, dem Lineal<br />
und aus der feien Hand
Anhang: Kernziele<br />
Geometrie: Unterrichtsziele für den Jahrgang 3 und 4<br />
Inhalte und Kernziele handlungsorientierte Feinziele<br />
Raumerfahrung<br />
visuelle Wahrnehmungsfähigkeiten<br />
und räumliches Vorstellungsvermögen<br />
erweitern<br />
Körperformen<br />
vergleichen, herstellen und untersuchen<br />
Ebene Figuren<br />
vergleichen, herstellen und untersuchen<br />
Erfahrungen zur Symmetrie<br />
vertiefen<br />
Messen und Zeichnen<br />
geometrische Beziehungen und Eigenschaften in der<br />
Umwelt erkennen, untersuchen und nutzen<br />
(fächerübergreifende Möglichkeiten nutzen, z.B. Bau<br />
eines Vogelhauses, Geometrie in der Kunst)<br />
Massiv- und Kantenmodelle geometrischer Körper<br />
(Würfel, Quader, Kugel, Pyramide, Zylinder, Prisma,<br />
Kegel) herstellen und auf ihre Eigenschaften untersuchen<br />
mit Würfeln nach Vorlage bauen und passende Baupläne<br />
erstellen<br />
Flächenmodelle von Würfeln und Quadern herstellen<br />
und deren Netze untersuchen<br />
ebene Figuren legen, auslegen, umformen und<br />
zeichnen<br />
Flächen nach verschiedenen Eigenschaften sortieren<br />
und die entsprechenden Fachbegriffe zuordnen<br />
Symmetrien (Achsen-, Dreh- und Schubsymmetrie)<br />
in der Umwelt erkennen; die Erfahrungen in weiteren<br />
Übungen vertiefen<br />
symmetrische Muster erkennen, fortsetzen und<br />
selbst entwickeln<br />
Parkettierungen, Bandornamente entwickeln<br />
Fertigkeiten mit Zeichengeräten (Schablonen,<br />
Lineal, Geodreieck, Zirkel) ausbauen<br />
Parallele und senkrechte Geraden erkennen, untersuchen<br />
und zeichnen<br />
gebräuchliche Winkeltypen kennen und sachangemessen<br />
anwenden<br />
ebene Figuren vergrößern und verkleinern<br />
Umfang und Flächeninhalt untersuchen<br />
maßstabsgetreues Zeichnen<br />
163
164<br />
Anhang: Kernziele<br />
Sachrechnen und Größen: Unterrichtsziele für die Eingangsstufe<br />
Inhalte und Kernziele handlungsorientierte Feinziele<br />
Sachverhalte quantitativ beschreiben<br />
Grundvorstellungen zu Geldwerten,<br />
Zeitspannen und Längen entwickeln<br />
und vertiefen<br />
Sachsituationen untersuchen<br />
Sachaufgaben bearbeiten<br />
Dinge aus der Lebenswirklichkeit beschreibend<br />
vergleichen, ordnen und sortieren;<br />
Verteilungen auszählen, Ergebnisse in einfachen<br />
Vorformen wie Tabellen und Diagrammen<br />
darstellen, erstellen und lesen;<br />
Geldbeträge mit Münzen und Banknoten<br />
darstellen, wechseln und nach Wert ordnen,<br />
wichtige Preise und Gebühren des täglichen<br />
Lebens kennen, damit umgehen und die<br />
Kenntnisse von Gebühren und Preisen nutzen,<br />
Längen schätzen und messen, realistische<br />
Vorstellungen zu den Einheiten cm und m<br />
gewinnen,<br />
Erfahrungen mit der Zeit, dem Kalender<br />
und der Uhr sammeln,<br />
Vertrautsein mit den alltäglichen Zeitmaßen<br />
(Monat, Woche, Tag, Stunde, Minute); mit<br />
Uhr und Kalender umgehen; Verständnis<br />
für Zeitpunkt und Zeitdauer gewinnen<br />
sachstrukturelle Beobachtungen; Erkundungen<br />
und Untersuchungen durchführen;<br />
fachübergreifend z.B. zum Schulleben,<br />
Sachunterricht, Verkehrserziehung in Form<br />
von Projekten oder Vorhaben bearbeiten<br />
als Rechengeschichten oder Bildaufgabe,<br />
mit Bezügen zu den Größen und zur Geometrie<br />
bearbeiten, in verschiedenen Darstellungen<br />
lösen, dabei Bearbeitungshilfen<br />
kennenlernen
Anhang: Kernziele<br />
Sachrechnen und Größen: Unterrichtsziele für den Jahrgang 3 und 4<br />
Die Schüler und Schülerinnen sollen befähigt werden, ihr Größenverständnis weiter<br />
zu entwickeln und kompetent mit Sach- und Informationstexten umzugehen.<br />
Dabei ist es wichtig, dass die Sachaufgaben an die Erfahrungen der Kinder anknüpfen,<br />
bedeutsam und sinnvoll sind und für sie einen Informations- bzw. Unterhaltungswert<br />
besitzen.* Übungsformen zum informativen Lesen sind dafür<br />
notwendig. Für das Sachrechnen eignen sich besonders fächerübergreifende Vorhaben<br />
und Projekte.<br />
Inhalte und Kernziele handlungsorientierte Feinziele<br />
Sachverhalte quantitativ beschreiben<br />
und den Umgang mit Daten und<br />
Stichproben erlernen<br />
Grundvorstellungen zu weiteren<br />
Größen entwickeln und vertiefen<br />
Geldwerte<br />
Längen<br />
Zeitspannen<br />
Gewichte<br />
Rauminhalte<br />
Sachsituationen untersuchen<br />
Sachaufgaben bearbeiten<br />
Daten aus der Lebenswirklichkeit sammeln, in<br />
Tabellen und Diagrammen darstellen und auswerten,<br />
umgekehrt solche Tabellen lesen und<br />
interpretieren, von einer Darstellung in die andere<br />
übersetzen<br />
eigene Stichproben erheben und die Daten auswerten<br />
schätzen und messen mit passenden Messgeräten<br />
einfache Umwandlungen durchführen<br />
- €, ct<br />
- mm, cm, dm, m, km,<br />
- s, min, h (Std.), Tag, Woche, Monat, Jahr<br />
- g, kg, t<br />
- ml, l<br />
die Kommaschreibweise für Geldbeträge, Längen<br />
und Rauminhalte verwenden<br />
mit einfachen Brüchen bei Größen umgehen<br />
zu jedem Größenbereich Repräsentanten aus der<br />
Erfahrungswelt kennen<br />
Beziehungen zwischen benachbarten Einheiten<br />
kennen, Umwandlungen und Rechnungen in den<br />
Größenbereichen vollziehen<br />
sachstrukturelle Beobachtungen, Erkundungen<br />
und Untersuchungen durchführen und in fächerübergreifenden<br />
Projekten und Vorhaben erarbeiten<br />
in verschiedenen Darstellungsweisen<br />
analysieren, bearbeiten, systematisch verändern<br />
und erfinden<br />
* Kassenzettel, Fahrpläne, Zeitungsannoncen, Rezepte, Speisekarten, Fernsehprogramme,<br />
Kalenderblätter, Eintrittskarten, Bundesjugendspielkarten, Witze, Cartoons, Ausschnitte<br />
aus Lexika, Medallienspiegel, Sporttabellen<br />
165