Raumlehre - uwe schröder architekt
Raumlehre - uwe schröder architekt
Raumlehre - uwe schröder architekt
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Uwe Schröder<br />
<strong>Raumlehre</strong><br />
Der Raum muss als übergeordnete Kategorie<br />
in der Wesensbestimmung der Architektur<br />
zugleich re-etabliert und verankert<br />
werden. Uwe Schröder versteht die Architekturlehre<br />
demnach als <strong>Raumlehre</strong>, die in<br />
einer Erarbeitung der „Raumgeschichte“<br />
den Fokus der historischen Architekturbetrachtung<br />
auf den Raum setzte. Eine<br />
„Raumtheorie“ müsste die eigentümliche<br />
Räumlichkeit der Architektur herausarbeiten,<br />
um schließlich im Architekturentwurf<br />
als „Raumentwurf“ zu münden.<br />
Die inhaltliche Unbestimmtheit des Begriffes<br />
vom <strong>architekt</strong>onischen Raum,<br />
der im zeitgenössischen Bauen Ausdruck<br />
findet und in der Raumvergessenheit der<br />
Stadt zur Anschauung kommt, wird als Krise<br />
aufgefasst: Die pragmatische Architektur<br />
gibt sich nicht als städtisch-gesellschaftlich<br />
gebundene Erscheinungsform <strong>architekt</strong>onischer<br />
Räumlichkeit zu erkennen, sondern<br />
als individualisierte Ausdrucksform von Anderen<br />
und Anderem!“ 1<br />
Die gegenwärtig anhaltende allgemeine<br />
Hinwendung zur Begrifflichkeit des<br />
Raumes, vornehmlich in den Sozial- und<br />
Kulturwissenschaften, hat in der Architektur<br />
nicht nur erneut die offene Frage nach<br />
dem eigentümlichen Raum stellen lassen,<br />
sondern in der Folge auch die grundsätzlichen<br />
und allzeit mit der Disziplin der Architektur<br />
verbundenen, begrifflichen Fragen<br />
nach dem Wesen, dem Zweck, dem<br />
Ort, der Form, der Gestalt und so fort in<br />
Aussicht gestellt. Der Begriff des Raumes<br />
hätte dort als übergeordnete Voraussetzung<br />
aufzutreten, um eine eigene begriffliche<br />
Neubestimmung zu ermöglichen und<br />
der Konzeptualisierung der Architektur ein<br />
erweitertes Feld von Möglichkeiten einzuräumen.<br />
Die historische Wandelbarkeit des<br />
kulturell und wissenschaftlich konstituierten<br />
Raumbegriffes macht eine begriffliche Neuorientierung<br />
des eigentümlichen Raumes<br />
der Architektur nicht nur möglich, sondern<br />
lässt sie gegenwärtig vor dem Hintergrund<br />
des sogenannten spatial turn vielmehr notwendig<br />
erscheinen.<br />
Raumgeschichte<br />
Nur einem höheren Zweck folgt die Architektur:<br />
dem Raum. Die Geschichte der<br />
Architektur sollte nicht länger nur als Baugeschichte<br />
erzählt, sondern als die Raumgeschichte<br />
der Architektur neu geschrieben<br />
werden.<br />
Die Überlieferung der konzeptionalisierten<br />
Auseinandersetzung mit Raum ist vom<br />
Anfang her eingelagert in die Bestimmung<br />
dessen, was Natur ist. Bis in die Neuzeit<br />
hinein ist die Philosophie, die von einer<br />
Einheit der physikalischen Natur und ihrem<br />
metaphysischen Begriff ausgeht, auch Naturwissenschaft.<br />
Vor dem Hintergrund der<br />
überlieferten Aristotelischen Kosmologie legen<br />
die pragmatischen Arbeiten von Filippo<br />
Brunelleschi und die frühe theoretische Fundamentierung<br />
durch Leon Battista Alberti<br />
die Grundlagen für die zentralperspektivische<br />
Konstruktion eines dreidimensionalen<br />
Raumes auf einem zweidimensionalen Bildträger.<br />
Die Erscheinung des Raumes ist nicht<br />
nur geometrisch nachweisbar, sondern darnach<br />
selbst auch bestimmbar. Durch den<br />
freiwählbaren Standpunkt der Konstruktion<br />
ist der Raum Gegenstand subjektiver Betrachtung<br />
und in der Folge das Objekt der<br />
Gestaltung: Denn was sollte die dunkelgrünweiße<br />
Marmorinkrustation der Santa Maria<br />
Novella anderes sein, wenn nicht das schöne<br />
Kleid der innenraumbildenden Wand der Piazza<br />
vor der Kirche.<br />
Zwar hat in der Folge auch die aufklärende<br />
naturwissenschaftliche Welt-Raum-Vorstellung<br />
zu mimetischen <strong>architekt</strong>onischen<br />
Raumentwürfen Anlass gegeben, aber erst<br />
die programmatische Architektur des ausgehenden<br />
18. Jahrhunderts spiegelt die Zerrissenheit<br />
der cartesianischen Dopplung der<br />
Welt in die res extensa, in eine äußere Welt<br />
der materiellen Dinge, der die res cogitans,<br />
eine innere Welt der Vorstellung, gegenübergestellt<br />
ist. 2<br />
In seinem „Essai sur l‘art“ setzt Etienne-<br />
Louis Boullée die Natur programmatisch<br />
ins Werk: 3 Der Entwurf für das an Newton<br />
gewidmete Leergrab stellt im Äußeren eine<br />
monumentale Kugel auf einem halbschalenartigen<br />
Sockel vor, die die Gestalt der Erde<br />
abstrahiert. Im Schnitt erweist sich die Kugel<br />
mit dem Sockel in einem Massiv zusammengewachsen<br />
als Hohlform. Der erhabene, leere<br />
und bis auf die kleinen trichterförmigen Öffnungen<br />
der Gestirne nahezu geschlossene<br />
Kugelraum ließe die Unendlichkeit des Naturraumes<br />
als sinnliches Erlebnis im Betrachter<br />
entstehen, verspricht Boullée in der enthusiastischen<br />
Erläuterung seines Entwurfes.<br />
Gleich in mehrfacher Hinsicht aber scheinen<br />
der <strong>architekt</strong> 3/08 69
<strong>architekt</strong>onischer Entwurf und programmatische<br />
Konzeption auseinander zu fallen: In<br />
den mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie<br />
fundamentiert Isaac Newton die<br />
aufgeklärte Vorstellung eines physikalischen<br />
Raumes, den er in einen „absoluten“ Raum,<br />
der stets gleich und unbeweglich sei, und in<br />
einen „relativen“ Raum differenziert, der in<br />
jenem „absoluten“ Raum einen beliebigen<br />
70<br />
veränderlichen Ausschnitt daraus darstellte<br />
oder einen Messwert desselben bezeichnete.<br />
4 Newton entwickelt die Vorstellung einer<br />
homogenen unendlichen Welt, die jene alte<br />
und abgeschlossene Welt-Raum-Vorstellung<br />
durch die neue eines unendlichen Raumes<br />
ersetzt. Aber wie sollte die Architektur<br />
nach der überkommenen Idee der imitatio<br />
naturae nunmehr Newtons Raumbegriff<br />
transformieren, mehr noch ihn unmittelbar<br />
abbilden und zur Anschauung bringen, wie<br />
sollte die Architektur in ihrer notwendigen<br />
Geschlossenheit grenzenlose Offenheit und<br />
Der <strong>architekt</strong>onische<br />
Raum I-VI, Ausstellung<br />
im Museum für Angewandte<br />
Kunst, Köln,<br />
September-Oktober<br />
2007<br />
alle Fotos:<br />
Thomas Malara<br />
in dieser unumgänglichen Begrenztheit und<br />
Endlichkeit Unendlichkeit zur Darstellung<br />
bringen? Zudem wäre die Architektur ihrer<br />
Ortsgebundenheit wegen und in Folge der<br />
Erdbewegung selbst als ein sich dynamisch<br />
verhaltender Körper vorzustellen, der sich<br />
durch einen gleichen und unbeweglichen<br />
„absoluten“ Raum bewegt und der daher<br />
der <strong>architekt</strong> 3/08
immer nur einen sich permanent wandelnden<br />
Teil desselben als „relativen“ Raum einnehmen<br />
könnte. Der Boulléesche Kugelraum<br />
ist weniger ein Abbild noch ein Modell jenes<br />
physikalischen Raumes und mithin jener<br />
Natur, sondern er ist der <strong>architekt</strong>onische<br />
Raum, den die innere Hohlform der Kugel<br />
zur Erscheinung bringt und der symbolisch<br />
auf einen höheren Zweck hinweist, auf eine<br />
Kosmologie. Aber das Bild der Welt, das<br />
Boullée in der inneren Abgeschlossenheit<br />
der Kugel mit spiritueller Verklärtheit entstehen<br />
lässt, erscheint mehr als das alte Bild der<br />
Überlieferung und weniger als der Tondo einer<br />
aufgeklärten Naturbestimmung.<br />
In der Weise, in der sich die physikalisch-relativistische<br />
Raumvorstellung von<br />
der Lebenswelt abzulösen beginnt, kann sie<br />
unmittelbar für das Phänomen der <strong>architekt</strong>onischen<br />
Raumbildung weder Begriff noch<br />
Modell oder Anschauung sein. Auch für den<br />
Programm<strong>architekt</strong>en Boullée bleibt letztlich<br />
jede Vorstellung „eines nicht fassbaren<br />
Raums“ an die Wahrnehmungsfähigkeiten<br />
des Menschen gebunden. Der ästhetische<br />
Diskurs seiner Zeit stellt mit der Kunsttheorie<br />
des Erhabenen das philosophische Fundament<br />
bereit, auf dem Boullée sein Gedanken-<br />
und Vorstellungsgebäude errichtet.<br />
Als eigenständige ästhetische Kategorie<br />
stellt die philosophische Untersuchung 5<br />
von Edmund Burke das Erhabene der der<br />
Schönheit gegenüber: Furcht und Schrecken<br />
bestimmten die Macht des Erhabenen;<br />
Dunkelheit, Leere, Riesigkeit, Einsamkeit<br />
und Schweigen brächten sie hervor. Und<br />
auch die Unendlichkeit, die es aber unter<br />
den Dingen der sinnlichen Betrachtung in<br />
Wahrheit nur schwerlich geben könne und<br />
daher stets nur scheinbar vorhanden sei, besäße<br />
die Tendenz, den Geist mit einer Art<br />
frohen Schreckens zu erfüllen. Resümierend<br />
stellt Burke in seinen <strong>architekt</strong>urbezogenen<br />
Äußerungen fest: „Kein Werk der Kunst<br />
kann groß sein, wenn es nicht täuscht; auf<br />
andere Weise groß zu sein, ist das alleinige<br />
Vorrecht der Natur.“ 6 Nur unter Bezug auf<br />
den sinnlichen Eindruck kann Boullée den<br />
unendlichen Raum als Erscheinung im Inneren<br />
der Kugel vorstellen. Und es ist das sinnliche<br />
Erlebnis selbst, das hier zum Ziel- und<br />
Kerngedanken einer als Kunst verstandenen<br />
Architektur des Erhabenen gerät, die nicht<br />
nur die Riesigkeit einer räumlichen Ausdehnung<br />
zu bestimmen weiß, sondern der es mit<br />
Geschick durch die geeignet erscheinenden<br />
Mittel der „Täuschung“ gelingt – Boullée<br />
nennt an erster Stelle Symmetrie, Regelmäßigkeit<br />
und Vielfalt –, den Raum-Eindruck zu<br />
vergrößern und ausz<strong>uwe</strong>iten.<br />
Die Theorie des Erhabenen führt die Architektur<br />
zu einer Ästhetik des Erscheinens,<br />
die das Subjekt als Sensorium (wieder) im<br />
Zentrum der Raumanschauung verankert,<br />
aber dieser Raum ist nicht (mehr) der Raum<br />
an sich, sondern beschreibt die sinnlich<br />
wahrnehmbaren Phaenomena seines Erscheinens.<br />
Die verlorene Welteinheit scheint<br />
der Architektur die kosmologisch gegründete<br />
Vorstellung der imitatio naturae, von<br />
der die gesamte neuzeitliche Traktatliteratur<br />
durchzogen ist, das Fundament zu entziehen.<br />
Auch wenn sich Boullée diesbezüglich<br />
noch in der alten Tradition stehend sieht, liefert<br />
ihm die Natur lediglich noch ein grandioses<br />
Schauspiel, das in der Architektur zu einer<br />
kunstvollen Wiederaufführung gebracht<br />
werden soll.<br />
Realer und phänomenaler Raum stehen in<br />
der konzeptionalisierten Vorstellung begrifflich<br />
unvermittelt nebeneinander. Vom Ersteren<br />
scheint Boullée nur eine vage Ahnung<br />
zu besitzen, nicht aber naturwissenschaftliche<br />
Erkenntnis, denn auch der Naturraum<br />
mit dem ihm zugewiesenen Charakter<br />
erhabener Unendlichkeit, die den frohen<br />
Schrecken bewirkt, ist letztlich wiederum<br />
nur die Vorstellung einer Anschauung: Diejenige<br />
Natur, die im Werk der Architektur<br />
zu einem mimetischen Ausdruck kommen<br />
soll, gehört einer Welt der Vorstellungen<br />
und Erscheinungen an. Im Verlauf des 18.<br />
Jahrhunderts erlangt die Ästhetisierung des<br />
Raumes für die Architektur grundlegende<br />
Bedeutung, vergleichbar der der Objektivierung<br />
des Raumes und der Subjektivierung<br />
seiner Betrachtung durch die neuzeitliche<br />
Entdeckung der Perspektive.<br />
In der Philosophie von Immanuel Kant<br />
ist das Raumdenken und -vorstellen der<br />
Epoche in einer Weise aufgenommen, die<br />
das Überlieferte in begrifflicher Zusammenfügung<br />
auszugleichen und auch abzuschließen<br />
sucht, die vor allem aber der Differenz<br />
der nachfolgenden Raumkonzeptionen die<br />
Gründe zu legen scheint: Mit dem Diktum,<br />
dass der Begriff des Raumes reine Anschauung<br />
sei, 7 führt Kant die Raumbegrifflichkeit<br />
aus der physikalischen Naturerklärung<br />
in den philosophischen Kontext. Nur vom<br />
Standpunkt eines Menschen her könne man<br />
überhaupt vom Raum reden. 8 Der Raum sei<br />
die Form a priori, in der dem Menschen die<br />
äußeren Gegenstände, die ihm als Dinge an<br />
sich unbekannt seien, als bloße Vorstellungen<br />
der Sinnlichkeit erscheinen. 9 Daneben<br />
stiftete der Raum die Unterscheidung der<br />
der <strong>architekt</strong> 3/08 71
drei Richtungen, welche oben und unten,<br />
links und rechts sowie vorne und hinten in<br />
der relationalen Ordnung des Raumes erfahrbar<br />
machten und die dem Menschen als<br />
denkendem Subjekt im Zentrum dieser sich<br />
schneidenden Richtungen eine weltliche<br />
Orientierung im Raum mit seinen Gegenden<br />
erst ermögliche. 10 Damit ist der eine, innere<br />
Weg gebahnt, der die Raumkonstitution<br />
durch die an die physiologischen und<br />
nachfolgend auch psychologischen Voraussetzungen<br />
des Menschen gebundenen Gesetzmäßigkeiten<br />
der Raumwahrnehmung<br />
zu begründen sucht und auch der andere,<br />
äußere Weg vorgezeichnet, der mit der<br />
Vorstellung des subjektiven, weltlichen Orientierungsraumes<br />
phänomenologische und<br />
daran anknüpfend soziale Theorien vom<br />
Raum des 20. Jahrhunderts vorauszunehmen<br />
scheint.<br />
Die Raumgeschichte der Architektur ist<br />
in eine Begriffsgeschichte des Raumes eingelagert,<br />
die nicht nur die abstrakte Ideengeschichte<br />
erzählte, sondern sich auch als<br />
eine Kultur- und Sozialgeschichte vorzustellen<br />
hätte. 11<br />
72<br />
Raumtheorie<br />
Ein Versuch der begrifflichen Neubestimmung<br />
des <strong>architekt</strong>onischen Raumes hätte<br />
zunächst Grenzen und Übergänge zu anderen<br />
Räumen zu bestimmen, um der eigentümlichen<br />
Räumlichkeit der Architektur<br />
auch eine eigenständige begriffliche Kontur<br />
geben zu können.<br />
Vor dem Hintergrund der Vorgeschichte<br />
nimmt die Begrifflichkeit des Raumes etwa<br />
seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch für die<br />
theoretischen Grundlagen der Architektur<br />
an Bedeutung zu. Ausgehend von Gottfried<br />
Sempers Bekleidungstheorie legen der<br />
kunstwissenschaftliche Diskurs über den<br />
Raumbegriff von August Schmarsow bis<br />
Herman Sörgel und die physiologischen und<br />
typologischen Raumgedanken zur Stadt von<br />
Camillo Sitte bis Albert Erich Brinckmann<br />
Grundlagen einer anthropologisch fundamentierten,<br />
praktischen Ästhetik.<br />
Die inhaltliche Zersplitterung und wissenschaftliche<br />
Spezifizierung des Raumbegriffes<br />
im angehenden 20. Jahrhundert<br />
führen die Architektur nicht nur in eine<br />
babylonische Krise, sondern scheinen ihr<br />
für eine eigenständige substanzielle raumtheoretische<br />
Reflexion und infolge auch für<br />
die pragmatische Anschauung durch die<br />
Architektur selbst den Boden zu entziehen.<br />
Ähnliches gilt auch und vor allem für die unter<br />
dem Eindruck der neuen physikalischen<br />
Raumanschauung stehenden Transformationsversuche<br />
in eine „unbeständige“ oder<br />
„grenzenlos offene“ Architektur, die nicht<br />
ohne Substanzverlust verlaufen.<br />
In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts<br />
haben geschlossene Theoriesysteme<br />
des <strong>architekt</strong>onischen Raumes dann<br />
auch eher Seltenheitswert, so dass die<br />
„fünfzehn Lektionen über die Disposition<br />
der menschlichen Behausung“ von Dom<br />
Hans van der Laan theoretisch und auch<br />
in der <strong>architekt</strong>onischen Umsetzung wohl<br />
als eine Ausnahme angesehen werden<br />
können. Das Interesse an einer Verwissenschaftlichung<br />
der Architektur, näherhin des<br />
<strong>architekt</strong>onischen Entwerfens, stellt den<br />
<strong>architekt</strong>onischen Raum beispielshalber mit<br />
Philippe Boudons Versuch über eine „Architekturologie“<br />
in das Zentrum einer konzeptualisierten<br />
Untersuchung, ohne jedoch den<br />
Begriff inhaltlich systematisch zu entfalten.<br />
Die in verschiedenen Positionen hier und da<br />
geäußerten Raumgedanken zur Architektur<br />
stellen sich als Konzepte einer theoretischen<br />
oder auch praktischen Übertragung phänomenologischer,<br />
kulturgeographischer und<br />
soziologischer Kontexte heraus.<br />
Mit Blick auf die phänomenale Eigenständigkeit<br />
der von ihr hervorgebrachten Räume<br />
rekurriert die Architektur gegenwärtig (wieder)<br />
auf eine absolute Raumauffassung und<br />
läuft durch die Auseinandersetzung mit dem<br />
die Moderne kennzeichnenden relationalen<br />
Raumverständnis auch auf eine neue Konfrontation<br />
mit ihrer jüngeren Geschichte zu.<br />
Unter dem Eindruck des interdisziplinären<br />
Raumdiskurses hat die <strong>architekt</strong>urtheoretische<br />
Erörterung ihre in den Grundzügen<br />
noch vom kunstgeschichtlichen Raumbe-<br />
der <strong>architekt</strong> 3/08
griff her geprägte „Perspektive“ gewendet:<br />
Dabei kommt das große Haus der Stadt<br />
in seiner Räumlichkeit in Betracht, dessen<br />
konstellative Anordnung von Räumen sich<br />
als kulturelle und gesellschaftliche Repräsentation<br />
erweist.<br />
Raumentwurf<br />
Raumgeschichte und Raumtheorie sind notwendige<br />
Vorarbeiten für das Entwerfen und<br />
den Entwurf: „Zunächst für eine Raumentwurfslehre<br />
der Architektur, die den phänomenalen<br />
Raum als elementare Grundlage<br />
wählte, um Stadt und Haus auf diesen<br />
Raum zurückzuführen und in der Folge für<br />
den Raumentwurf einer Architektur, die den<br />
phänomenalen Raum einer konzeptualisierten<br />
Anwendung zustellte, um Stadt und<br />
Haus aus diesem Raum hervorgehen zu lassen.<br />
Das wäre Architektur! Eine Architektur,<br />
die das Phänomen der <strong>architekt</strong>onischen<br />
Raumbildung (wieder) einem zweckmäßigen<br />
Erscheinen zuführte: Eine Architektur<br />
der Räume.“ 12<br />
Indem sie das begriffliche Denken auf<br />
die Wesensbestimmung der Architektur<br />
ausrichten, sind Raumgeschichte und -theorie<br />
fundamentale Grundlagen der Ent-<br />
wurfslehre. Weder geht es dabei um bloße<br />
Ansammlung geschichtlichen Wissens, noch<br />
um Erfindung neuer Raumgedanken, sondern<br />
um das Denken in und das Erkennen<br />
von Konzeptionen, also die Fähigkeit der<br />
analytischen und kritischen Deskription der<br />
Architektur.<br />
Die konzeptualisierten Gedanken gelangen<br />
in den Entwurf einer Architektur,<br />
der insofern das Angewandte zur bildlichen<br />
Darstellung bringt. Mit vorausahnendem<br />
Vorstellungsvermögen hat das Entwerfen<br />
hier bereits das Bauen vorwegzunehmen,<br />
beispielshalber in der Vorstellung der räum-
lichen Konstellation oder näherhin in der<br />
Idee der Konstruktion, der Materialität und<br />
so fort. Der Entwurf zeigt den ersten Bauplan!<br />
Zumal in der Lehre sind das Entwerfen<br />
und der Entwurf, die die Architektur in<br />
Zeichnung und Modell zu einer sinnlichen<br />
Anschauung bringen, als die Praxis anzusehen.<br />
Die Konzeption führt Geschichte, Theorie<br />
und Entwurf zusammen:<br />
Der Stadt liegt eine Ordnung zugrunde, die<br />
als Anordnung von Räumen erscheint. Nicht<br />
aber sind diese Räume bereits vorher als<br />
Raum vorhanden und nicht etwa zieht die<br />
Form daher nur eine bauliche Grenze, um<br />
ein so bestimmtes Kompartiment des ausgedehnten<br />
Raumes für ihre Zwecke abzuteilen<br />
und einzuschließen. Vielmehr ist für das Entwerfen<br />
und den Entwurf der Architektur davon<br />
auszugehen, dass der <strong>architekt</strong>onische<br />
Raum mit seinem Erscheinen eine ursprüng-<br />
74<br />
liche Entfaltung vorstellt. Architektonische<br />
Räume und andere Räume sind daher nicht<br />
unvergleichbar, sondern liegen der Konzeption<br />
folgend als Räume im Raum ineinander.<br />
Aber jede ausschließende Vorstellung eines<br />
relationalen Raumes, von der etwa weite<br />
Kreise der zeitgenössischen Kultur- und Sozialwissenschaften<br />
getragen zu sein scheinen,<br />
ginge nicht nur an der Raumentfaltung in<br />
der Architektur vorbei, sondern ließe letztendlich<br />
auch die alltägliche Räumlichkeit der<br />
Lebenswelt weit hinter sich zurück.<br />
Der Vorgang des Entwerfens konzeptualisiert<br />
die Geschichte und die Theorie<br />
des <strong>architekt</strong>onischen Raumes, um das<br />
begriffliche Denken (Sprache) in die vorausahnende<br />
Vorstellung einer sinnlichen<br />
Anschauung (Bild) des Raumes zu transferieren.<br />
Und in der Weise, in der das Entwerfen<br />
die Begriffe anschaulich werden lässt,<br />
das heißt die Konzeption mit der Idee in<br />
den Zeichnungen und Modellen zur Darstellung<br />
kommt, ist auch die Anschauung<br />
selbst verständlich. Die Darstellung der Idee<br />
bleibt an die Konzeption gebunden und ihr<br />
unterstellt. Geschichte und Theorie wirken<br />
verallgemeinernd auf das Entwerfen und<br />
den Entwurf ein (Deduktion), demgegenüber<br />
erzeugen der empirische Vorgang des<br />
Entwerfens und die Besonderung eines jeden<br />
Entwurfs Resonanzen des begrifflichen<br />
Denkens (Induktion):<br />
Die Architektur entfaltet Räume eigener<br />
Art, die sich von anderweitigen Raumerfahrungen<br />
der Lebenswelt, etwa der Räumlichkeit<br />
des Firmaments, einer Gebirgslandschaft<br />
oder auch eines Waldes unterscheiden. Erst<br />
das zweckhafte Ba<strong>uwe</strong>rk des Menschen<br />
lässt die <strong>architekt</strong>onischen Räume als innere<br />
Räume von Stadt und Haus erscheinen.<br />
Dabei erweisen sich die errichteten äußeren<br />
baulichen Formen als diejenigen Konturen,<br />
von denen ausgehend die inneren Räume<br />
ihr wesenhaftes Erscheinen beginnen, und<br />
dennoch sind es allein diese inneren Räume,<br />
die die Gestalt der äußeren Formen bestimmen.<br />
Die raumgebundenen Bauformen der<br />
Häuser zeigen sich als Abdruck der inneren<br />
Räume, der der Häuser und der von Wegen<br />
und Plätzen der Stadt.<br />
Anmerkungen<br />
1 Prolog, Verf., in: Der <strong>architekt</strong>onische<br />
Raum I-VI. Materialien zur Architekturtheorie,<br />
Verf. (Hg.), 3 Bde [MAT 1-3], Tübingen/<br />
Berlin 2007.<br />
2 Vgl. insbesondere: René Descartes, Meditationen<br />
über die Grundlagen der Philosophie<br />
(1641), mit sämtlichen Einwänden<br />
und Erwiderungen, übers. u. hrsg v. Artur<br />
Buchenau, Hamburg 1994, Zweite Meditation,<br />
S.17 ff.<br />
3 Etienne-Louis Boullée, Architektur. Abhandlung<br />
über die Kunst (ca. 1793), Edition:<br />
Beat Wyss, Einführung und Kommentar:<br />
Adolf Max Vogt, übers. a. d. Französischen:<br />
der <strong>architekt</strong> 3/08
Hanna Böck, Zürich/München 1987, S. 63<br />
(„mettre la nature en œuvre“) u. Kommentar<br />
S. 28.<br />
4 Isaac Newton, Mathematische Grundlagen<br />
der Naturphilosophie [Philosophiae naturalis<br />
principia mathematica (1687)], ausgew.,<br />
übers., eingel. und hrsg. v. Ed Dellian, Sankt<br />
Augustin 2007, Scholium, S. 57 ff.<br />
5 Edmund Burke, Vom Erhabenen und Schönen<br />
[A Philosophical Enquiry into the Origin<br />
of our Ideas of the Sublime and Beautiful<br />
(1757)], hrsg. u. a. d. Englischen übers. v.<br />
Friedrich Bassenge, Berlin 1956, S. 91 ff. u.<br />
S. 113.<br />
6 Burke 1956, S. 114.<br />
7 Immanuel Kant, § 15. Von dem Raume,<br />
Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt<br />
und ihren Gründen (1770), in: Schriften<br />
zur Metaphysik und Logik I. Werkausgabe,<br />
Bd. 5, Frankfurt am Main 1977, S. 59.<br />
8 Kant, Die Transzendentale Ästhetik, Von<br />
dem Raume § 2, § 3, Schlüsse aus obigen<br />
Begriffen, in: Kritik der reinen Vernunft<br />
(1781(1), 1787(2)) Werkausgabe, Bd. 3,<br />
Frankfurt am Main 1974, S. 75.<br />
9 Kant 1974, S. 77-78.<br />
10 Vgl. im Zusammenhang: Kant, Von dem<br />
ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden<br />
im Raume (1768), in: Vorkritische<br />
Schriften Werkausgabe, Bd. 2, Frankfurt am<br />
Main 1977, S. 993 ff. und s.a.: Was heißt:<br />
Sich im Denken orientieren? (1786), in:<br />
Schriften zur Metaphysik und Logik Werkausgabe,<br />
Bd. 5, Frankfurt am Main 1977, S.<br />
267 ff.<br />
11 Zur Theorie und Methode der Begriffsgeschichte<br />
s. im Besonderen: Reinhart Kosselleck,<br />
Begriffsgeschichten, Frankfurt am<br />
Main 2006.<br />
12 Der <strong>architekt</strong>onische Raum I-VI 2007, Bd.<br />
1 [MAT 1], Prolog.<br />
Prof. Dipl.-Ing. Uwe Schröder (vgl. S. 23).<br />
der <strong>architekt</strong> 3/08 75