16.04.2013 Aufrufe

dashackersyndrom100

dashackersyndrom100

dashackersyndrom100

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

01. Szene: Prolog<br />

(Musik)<br />

Stephan Also ich hab den Krieg am Bildschirm miterlebt. Sehr live, sehr direkt.<br />

Aber natürlich hab ich nicht die Schüsse mitgekriegt. Ich habe nicht<br />

mitbekommen, wie es ist, wenn jemand in Deinen Armen stirbt, wenn<br />

Raketen fliegen. Diese Distanz konnte ich mir dann doch noch<br />

bewahren. Aber es ist trotzdem schlimm.<br />

Ansage Das Hacker-Syndrom<br />

Ein Feature von Johannes Nichelmann<br />

Autor Hast Du genug für heute?<br />

(trinkt etwas aus einer Glasflasche)<br />

Stephan Ja, ich glaube ich bin jetzt auch gerade ziemlich fertig. Wie lange<br />

haben wir jetzt gemacht.<br />

Autor Zweieinhalb Stunden.<br />

Stephan Wow! Woooow! Das ist krass. Mir ist gerade eben auch ganz viel erst<br />

beim darüber Sprechen... hat es mich erwischt, wie eine kalte Wand.<br />

Ich hab mir bis eben gerade nicht Gedanken über den Krieg<br />

gemacht. Ich hab mir jetzt bis eben gerade keine Gedanken drüber<br />

gemacht. Weil mich auch nie jemand gefragt hat.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

1


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

02. Szene: Wie wird man Hacker?<br />

(Ankommen bei Stephan in der Wohnung)<br />

Stephan Oh! Kein Kaffee mehr. Ich dachte, ich hätte noch ein Pfund gekauft.<br />

Aber irgendwie...<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

(aufreißen der Schachtel)<br />

Sprecherin Stephan Urbach, in seiner Wohnung in Berlin-Charlottenburg. Altbau,<br />

Hinterhaus. Zweieinhalb Zimmer, einen Flur in L-Form, ein Bad in<br />

dem seit Wochen der Strom nicht mehr funktioniert und eine kleine<br />

Küche. Frühstückszeit.<br />

(öffnet den Kühlschrank)<br />

Stephan Da ist Wurst, Schokolade, Käse. Schokolade, Käse, Wurst. Weiß ich<br />

nicht, ich bin ein riesen Schokoladenfan und das ist so vier-<br />

Tagesvorrat?<br />

Autor Das ist ein vier-Tagesvorrat? Das sind eins, zwei, drei, vier, fünf ...<br />

fünf Tafeln.<br />

Stephan Plus die im Schlafzimmer.<br />

Autor Wie viele sind da noch?<br />

Stephan Da ist noch eine und hier sind noch Nippons. Ja, das ist... Joa.<br />

(Schritte in das Wohnzimmer)<br />

2


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Stephan Muss aber diese Wohnung noch fertig einrichten. Aber ich komme ja<br />

zu nichts. Also ich sitze halt immer so gerne hier herum. Ja!<br />

Telecomix. Ähm... das ist das Logo auf meinem Rechner. Das ist der<br />

einzige Aufkleber, der da raufkommt. Hab ich beschlossen bei dem<br />

Rechner, weil der alte war ja voll geklebt.<br />

Sprecherin Die Eckbank ist der Lieblingsplatz von Stephan. Auf dem kleinen<br />

Tisch davor stehen sein Laptop, leere Flaschen, ein Aschenbecher.<br />

Darin ein Berg aus Kippen. Gestern war Besuch da.<br />

Stephan Furchtbar! Diese Alkohol-Exzesse sind nicht gesund für mich. Die tun<br />

mir nicht gut. (zündet sich eine Zigarette an)<br />

Sprecherin Stephan ist 31 Jahre alt. 2011 zog er nach Berlin.<br />

Stephan Haben wir mit Bier angefangen, mit Gin weitergemacht und mit dem<br />

Portwein aufgehört. Und dann, joa. Jetzt geht‘s mir nicht ganz so gut.<br />

Oh, ich muss noch die Gurken wegschmeißen vom Gin.<br />

Sprecherin Viele seiner Freunde von der r deutschen Hacker-Community leben<br />

hier und in Berlin finden viele Treffen der gesamten Szene statt.<br />

Stephan Oh, ich muss noch die Gurken wegschmeißen vom Gin.<br />

Stephan Mein erster eigener Computer war ein „C64“ von Commodore. Den<br />

hat, glaube ich, damals jeder gehabt, der irgendwie Computer<br />

spielen wollte. Und ich hab halt immer nicht verstanden, wie das<br />

funktioniert und dann wollte ich halt wissen, wie das funktioniert.<br />

Warum irgendwie dieses Diskettenlaufwerk noch so ein halber<br />

Computer ist. So Sachen. Das hab ich halt, joa, so fing das an.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

3


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Sprecherin Damals ist Stephan zwölf Jahre alt. Mit 17 fliegt er von der Schule,<br />

muss auf ein Internat, macht Abitur, studiert Deutsch, bricht ab,<br />

arbeitet bei einem großen Online-Konzern. Weil das keinen Spaß<br />

macht, kündigt er und geht nach Berlin. Wegen der Piratenpartei und<br />

den Netzaktivisten von „Telecomix“.<br />

Stephan „Telecomix“ ist eigentlich eine Nachrichtenagentur gewesen. „Die<br />

Telecomix News Agency“. Ich hab die kennen gelernt 2009, als ich<br />

für die Piratenpartei „ACTA“ bearbeitet habe. Die wurde gegründet,<br />

um gegen das Telekompaket der europäischen Union zu lobbieren in<br />

Schweden. Das Telecom-Package. Erfolgreich! Und hat dann aber...<br />

„Telecomix“ hat dann nicht mehr aufgehört Lobbyarbeit zu machen.<br />

So mit „nach Brüssel fahren“, ins europäische Parlament gehen, mit<br />

Leuten sprechen. Nationalem Parlament zu Anhörungen, all son<br />

Gedönz...Und ich bin irgendwie bei denen im IRC gelandet und<br />

irgendwann . Also IRC ist ein Chatprotokoll. Internet Relay Chat heißt<br />

das.<br />

Sprecherin Ein nicht kommerzieller Chatroom. Stephan beginnt für „Telecomix“<br />

zu arbeiten. Dann beginnt der arabische Frühling.<br />

Agent Hi! Who are you?<br />

03. Szene: Mohammad I<br />

Mohammad Call me Mohammad. I am 20 years old. From Aleppo.<br />

Agent Hey Mohammad!<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

4


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Mohammad And you? Are you from Telecomix? Do you have time to talk?<br />

Agent Yes I am! How did you find this Chatroom?<br />

Mohammad A friend told me about it! You are from Europe or America, right?<br />

Agent I am from Germany!<br />

Mohammad What is Telecomix exactly doing?<br />

Agent It‘s a great thing. We helped people in Egypt to go online a few<br />

weeks ago.<br />

Mohammad Here in Syria we are trying to do something against our President<br />

Assad, as well.<br />

Agent It was a big thing in Egypt. Now we want to help people in<br />

Libya or in Syria. Like you!<br />

Mohammad Yes, we need a lot of help. Now I have to leave, go to university. Will<br />

you be online in three or four hours again?<br />

Agent I think so! See you later!<br />

Mohammad Let‘s meet in better times!<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

5


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

04. Szene: Zugfahrt nach Regensburg<br />

Zug-Ansage Einen schönen guten Tag auch an alle zugestiegenen Fahrgäste hier<br />

im Intercity-Express nach München.<br />

Stephan (mit hessischem Akzent) Im Intercity-Express. (lacht)<br />

Zug-Ansage Wir wünschen Ihnen eine gute Fahrt. Beachten sie aufgrund einer<br />

Umleitung wegen einer Baustelle hat unser Zug zurzeit leider eine<br />

Verspätung von ca. 9 Minuten. Wir wünschen Ihnen eine gute Fahrt.<br />

Stephan Wir fahren jetzt gerade nach Regensburg. Das Venedig Bayerns.<br />

Ähm, oder so ähnlich, ähm...Was war das? Das ähm... die andere<br />

Stadt. Das Florenz Bayerns! Genau. Ich mag Regensburg. Da hat<br />

mich der AK-Vorrat eingeladen einen Vortrag zu halten. Und das<br />

mach ich heute.<br />

(Ankommen am Vortragsort)<br />

Sprecherin Der AK-Vorrat, der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, macht sich<br />

Gedanken um die Regeln in unserer digitalen Welt. In einer kleinen<br />

Kneipe wird für Stephan gerade vor einer kleinen Bühne ein Beamer<br />

aufgebaut.<br />

Stephan Hallo? Ah, Ordner öffnen, um Datei anzuzeigen. Das ist Windows.<br />

Junge Frau Wunderbar!<br />

(Flucht und tippt etwas ein)<br />

Ok, Tuuut. Sehr schön. Äh, Präsentation läuft prinzipiell.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

6


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Stephan Ja, ich hab doch einen neuen Rechner. Das ist doch alles weg!<br />

Mann Stimmt ja!<br />

Stephan Da war was, ne?<br />

Mann Ja!<br />

Sprecherin Vor ein paar Wochen hat Stephan seinen Laptop in der Bahn liegen<br />

lassen, weil er extrem erkältet war. Für jemanden wie Stephan, der<br />

im Netz zu Hause ist, ein schwerer Schlag.<br />

Stephan* Der großartige Tante hat dann gemeint so: „Kauf Dir doch einen<br />

Neuen!“ . Ich so: „Ne!“ Er so: „Doch!“ Ich so: „Na, von was so?“ Er<br />

so: „Na, ich schenk Dir einen.“ Ich so: „Kannste Dir doch gar nicht<br />

leisten.“ Er so: „Stimmt. Ich frag mal das Internet.“<br />

Tante* Ja, mein Name ist Tante. Oder Jürgen Geuter sagen auch einige.<br />

Stephan* Dann hat er Geld gesammelt im Netz.<br />

Tante* Natürlich hat Stephan ein gewisses Standing in der Community.<br />

Stephan* Innerhalb von fünf Stunden 2.300 Euro für dieses wunderschöne<br />

Gerät. War ziemlich cool.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

7


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Tante* Das hat mich schon, als jemand der im Netz lebt ziemlich geflasht,<br />

also ich war sehr sehr beeindruckt von dieser Macht, die plötzlich<br />

einzelne Menschen haben können.<br />

Stephan* Okay, der Shitstorm danach war ziemlich scheiße, aber das ist eine<br />

andere Geschichte.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

(Kurz vor dem Vortrag)<br />

Stephan Das ist alles noch sehr irritierend für mich hier. Ich weiß nicht. Ich bin<br />

mir gerade nicht sicher. Es ist halt eine Es sind Menschen. Also<br />

echte Menschen! So aus Fleisch und Blut und sie atmen Dir die Luft<br />

weg. Das ist ein Problem. Also eigentlich kann ich ja Menschen nicht<br />

ausstehen. Sie gucken alle so gespannt. Das ist toll.<br />

Mann Will noch jemand was zu trinken, bevor es losgeht?<br />

Stephan Ihr habt noch eine Zigarette Zeit!<br />

Agent Hey! You‘re back online!<br />

Mohammad Yes! You‘re too!<br />

Agent How are you?<br />

05. Szene: Mohammad II<br />

8


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Mohammad Confused. My sister is getting on my nerves. Her boyfriend is awful<br />

and they will marry next month.<br />

Agent What‘s wrong with him?<br />

Mohammad The question is: What is right with him! Don‘t know...<br />

Agent Oh my god. Do you want to change their plans of becoming wife and<br />

husband?<br />

Mohammad No! It‘s my sister‘s decision. I am just her little brother.<br />

Agent I know what you mean! What about you? How was your day?<br />

Mohammad We are very captured by this idea from Egypt. Some friends from<br />

university and I - we would like to organize a demonstration against<br />

Assad.<br />

Agent Are you and your friends safe? Some other people from Syria told<br />

me some horrible stories about your secret service...<br />

06. Szene: In Ägypten geht es los<br />

Gastgeber So, hallo zusammen! Ich darf Euch herzlich Begrüßen! Stephan<br />

Urbach ist da heute, mit dem Titel „Die digitale Revolution und der<br />

arabische Frühling.“ Und bin schon sehr gespannt auf den Vortrag.<br />

Und wünsch uns da viel Spass. Und da freu ich mich schon drauf.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

9


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

V Stephan Stell Dir vor, Du hast Angst eine Email zu versenden, weil man Dich<br />

dann zu Hause abholt. Stell Dir vor, Du hast Angst auf Facebook zu<br />

Posten, weil Du dann vielleicht auf der Straße erschossen wirst. Und<br />

jetzt stell Dir vor, dass Menschen Dir helfen, das zu umgehen. Wir<br />

sind da reingerutscht. Wir wollten das auch nie. Es fing an, als in<br />

Tunesien...<br />

V = Vortrag d = darüber<br />

d Stephan Wir haben dann, als der arabische Frühling los ging, das war ja<br />

Tunesien und vorher eigentlich ja auch im Iran irgendwie so<br />

halbwegs, haben wir das halt alles beobachtet. Die Prozesse<br />

beobachtet. Wie funktioniert das da gerade? Was passiert da<br />

gerade? Welche Technologie wird verwendet? Wie wird sie<br />

verwendet? Freunde von uns waren unten. Die kannten wir auch aus<br />

Telecomix. Wir haben vor unserem Bildschirm mitgefiebert. Und mit<br />

Leuten vor Ort halt auch gesprochen. Das war sehr spannend. Also<br />

so direkt „from the ground“ den Bericht zu bekommen. Und auch<br />

Ägypten, als am Tahrir-Platz das losging haben wir natürlich<br />

geschaut und geguckt. Dann war da plötzlich das Netz weg<br />

gewesen.<br />

V Stephan ...diese Menschen da eingeladen. Und die haben uns dann erzählt,<br />

was gerade vor Ort passiert. Und wir haben diese Sachen<br />

aufgeschrieben und wieder rausgegeben. Also wir haben als<br />

Nachrichtenagentur gearbeitet quasi. Wir haben es halt ziemlich<br />

ungefiltert durchgegeben. Dann, Ägypten. Wer weiß, wie viele Tage<br />

das Netz in Ägypten weg war? Es war gefühlt eine Ewigkeit. Aber<br />

eigentlich waren es nur vier Tage! Es waren nur vier Tage. Gefühlt<br />

waren es aber irgendwie zehn Wochen. In diesen vier Tagen konnte<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

10


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

keine Nachricht vom Tahrir Platz mehr nach Außen gesendet<br />

werden. Wer hat den Al Jazeera-Stream geguckt? Damals, Tahrir<br />

Platz?<br />

07. Szene: Einzug in die WG<br />

(Ankommen in der alten Wohngemeinschaft)<br />

Sprecherin Die ersten Aufstände in Ägypten beginnen Ende Januar 2011, da<br />

wohnt Stephan gerade seit 4 Wochen in Berlin bei Thomas -<br />

gemeinsam in einem Zimmer.<br />

Stephan Ich habe dort gewohnt!<br />

(Begrüßung Zimmer von Thomas, mit Musik)<br />

Thomas Da war eine Matratze. Da waren die Möbel noch nicht hier. Dafür<br />

standen jede Menge Umzugskartons herum.<br />

Stephan Und hier haben wir zusammen gewohnt. Also im Zimmer.<br />

Thomas Stephan brauchte ja spontan eine Wohnung.<br />

Stephan Ja, damals...<br />

Autor Von wo bist du dann her gekommen?<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

11


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Stephan Aus... aus... äh... damals aus Hanau.<br />

Thomas Ich hab das halt mitgekriegt, wie gesagt auf Twitter gelesen, dass es<br />

um die ersten ein, zwei Wochen, bis man was gefunden hat, geht.<br />

Und dachte okay. Stephan hat hier einen neuen Job und kennt auch<br />

Leute in Berlin und Bla. Dann wird das nicht so schwierig sein. Ja,<br />

Pustekuchen.<br />

Sprecherin Bis dahin kannten sich die beiden nur von einem Partywochenende,<br />

hatten ein bisschen gequatscht. Thomas‘ Mitbewohnerin Sophie ist<br />

immer noch verwundert.<br />

Autor Kannst Du Dich noch daran erinnern, als Stephan hier aufgetaucht<br />

ist?<br />

Sophie Ich kann mich noch daran erinnern, wie meine Erste,ähm... wann ich<br />

das erste Mal informiert wurde darüber. Ich war nämlich Silvester bei<br />

meinen Eltern in Rostock und bekam einen Anruf von Thomas und er<br />

sagte „Übrigens, Herr Urbach wohnt jetzt hier!“ (Stephan lacht) Und<br />

ich dachte mir: „Wer ist Herr Urbach?!“ (lachen) „Ja, den nennt man<br />

nicht Stephan. Den nennt man Herrn Urbach. Dann hat er hier<br />

gewohnt. Und erst hatte es mich gestört, dass er nicht gefragt hatte.<br />

Also er. Also Thomas. Aber dann war ja Herr Urbach so nett und<br />

außerdem hat er ja auch schon hier gewohnt und hatte eine eigene<br />

Matratze. Und dann war es irgendwie selbstverständlich. Was ich im<br />

Nachhinein merkwürdig finde, weil Du glaube ich auch keine Miete<br />

bezahlt hast?<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

12


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Stephan Ähm... doch! Ich hab den Monat bezahlt, als Thomas nicht da war.<br />

Sophie Ja, aber die anderen nicht.<br />

Stephan Hmm... bitte?<br />

Sophie Aber sonst nicht, oder?<br />

Stephan Ich habe an Thomas in Bier bezahlt.<br />

Sophie Ja, ja. Genau. Irgendwie das war merkwürdig und intransparent,<br />

übrigens! Aber es hat mich nicht gestört und wir sitzen ja eh beide<br />

vor unserem Laptop. Wir reden auch gar nicht soviel. (lachen) Und<br />

da ist eine ganz eigene Welt entstanden in diesem Zimmer. Aus der<br />

ich mich möglichst ganz rausgehalten habe.<br />

08. Szene: Details zum Kampf in Ägypten<br />

V Stephan Ah, leider ist dieses Powerpoint kaputt. Nein, da fehlt eine Folie. Naja<br />

gut. Dann ohne die Folie. Dann erzähl ich halt nur. Ähm... dann<br />

waren irgendwann diese vier dunklen Tage, wo halt kein Netz mehr<br />

da war und wir haben innerhalb von wenigen Stunden uns überlegt<br />

„Hmm... ist ein bisschen doof.“ Al Jazeera Livestream ist nämlich<br />

eigentlich nur ein Zusammenschnitt vonzwei Stunden die sich immer<br />

wiederholen. Und wir haben dann innerhalb kürzester Zeit in<br />

Schweden den ersten Modemeinwahlserver hingestellt. Wer von<br />

Euch hat noch ein Modem? (Publikum lacht) Wer von Euch hatte<br />

jemals ein Modem? (Publikum lacht) Wer von Euch weiß noch wie<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

13


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

langsam ISDN ist? (Publikum lacht) Okay! Es war halb so schnell. Es<br />

war halb so schnell wie ISDN. 56 Kilobyte pro Sekunde, durch eine<br />

dünne Leitung gepresst, weil nämlich das Telefonnetz hat noch<br />

funktioniert.<br />

Das haben die nicht abgeschaltet, weil da darüber ja auch die<br />

Anweisungen fürs Militär gegangen sind. Für die Polizei und<br />

dergleichen. Das haben die nicht getrennt als Regierungsnetz und<br />

als ziviles Netz.<br />

d Stephan Dann war da plötzlich das Netz weg gewesen, weil Mubarak<br />

durchgedreht ist und hat das Netz abschalten lassen. Also erst das<br />

Mobilfunknetz, dann das Internet. Und wir haben dann recht schnell<br />

reagiert und haben dann Modemeinwahlserver gemacht. In Europa<br />

und in Amerika. Weil die Telefonleitung ging ja noch. Und ja, dann<br />

konnten Ägypter über ein Modem sich ins Internet ein wählen. Und<br />

so wurde wir zu praktischen Aktivisten. Das war nie geplant. Das war<br />

nie die Absicht gewesen. Wir sind da quasi rein geraten.<br />

09. Szene: Umstände in der WG<br />

Stephan Wir haben auch meistens „Sterni“ getrunken.<br />

Thomas Ja!<br />

(Wohngemeinschaft, ohne Musik)<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

14


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Stephan Also ich saß da auf dieser Couch. Thomas da auf dem Sessel. Aber<br />

auf einem anderen. Auf so einem, glaub ich.<br />

Thomas Ja genau, der stand da noch vor Kopf.<br />

Stephan AUnd da haben wir haben immer gesessen abends und haben auf<br />

unsere Rechner gestarrt. Und äh...<br />

Thomas ...geschattet. Also miteinander.<br />

Stephan Miteinander. Da muss man nämlich nicht reden.<br />

Thomas Oder auch mit anderen. Oder tatsächlich mal geredet.<br />

Stephan Und dann ist damals nämlich die Situation da in Ägypten eskaliert.<br />

Thomas Da war es richtig zugemüllt und Stephan mittendrin. Entweder hier<br />

sitzend vor seinem Rechner, auf den Rechner starrend. Oft dann mit<br />

Headset auf, redend. Oder wild tippend. Völlig gebannt und er hat<br />

irgendwie ein automatisiertes „Hallo“ noch hingekriegt. Aber vielmehr<br />

war es dann auch in dem Moment erstmal nicht. Oder er tigerte auf<br />

und ab durchs Zimmer, wild hin und herlaufend mit dem Telefon am<br />

Ohr, oder dem Headset auf und hat telefoniert und erklärt und<br />

gesprochen und erzählt. Was relativ spannend war, weil allein wenn<br />

er gerade gesprochen hat, dann reichten mir meistens zwei Sätze,<br />

um zu wissen wie der aktuelle Stand der Lage ist. Um daraufhin zu<br />

wissen, ja ok, alles klar! Los geht‘s! Ja und ein bis zwei Stunde<br />

später, während derer wir halt gearbeitet und erzählt haben und ich<br />

mir noch die Infos geholt hab, die ich noch brauchte, bzw. Stephan<br />

mir die gegeben hat und gesagt hat: „Okay, Du könntest das und das<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

15


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

machen.“ - Was weiß ich... Sei es irgendwelche Faxnummern<br />

raussuchen oder... Das war eine schöne Sache ja. Faxnummern für...<br />

für...<br />

10. Szene: Fax für Ägypten<br />

V Stephan Für ich glaube zehn, fünfzehn Leute über mehrere Stunden. Ich hatte<br />

eine lange Liste und habe dann gesessen und habe gefaxt.<br />

(Publikum lacht) Habe dabei viel Bier getrunken und habe Faxe<br />

verschickt. (Publikum lacht) Immer wieder das gleiche. Auch da<br />

waren tote Nummern dabei, das ist in Ordnung, aber wir hatten<br />

nachher dann doch eine recht hohe Anzahl durch und plötzlich ging<br />

es los. Die Leitungen fingen an zu glühen. Auf dem Fax stand halt<br />

drauf: „To whom it may concern“ (Publikum lacht). Es ist halt im<br />

Computerladen gelandet. In einem Hotel, in der Bibliothek, in der Uni<br />

und da halt überall. Und dann gibt‘s halt meistens jemanden, der<br />

versteht: Modem, Telefonnummern, Passwort? Hey! Das kriege ich<br />

hin. Nach vier Tagen war dann alles wieder da. Also es war auch<br />

sehr schön zu sehen, wie die IP Adressen zurückkamen, also man<br />

kann es ja ...<br />

(Rede von Mubarak - darüber:)<br />

Sprecherin Stephan und die anderen Aktivisten von Telecomix sind an ihren<br />

Bildschirmen dabei, als Ägyptens Vizepräsident Suleiman den<br />

Rücktritt von Mubarak am 11. Februar 2011 zurück tritt. Doch der<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

16


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

arabische Frühling geht weiter.<br />

12. Szene: Der Kampf in Syrien beginnt<br />

V Stephan Wann ging es in Syrien los? Weiß das jemand? März letzten Jahres.<br />

Seit März letzten Jahres kämpfen in Syrien die Menschen für ihre<br />

Freiheit. Und da haben wir auch geguckt. Was ist denn da?<br />

d Stephan Und dann ging es an Syrien. Und das war das krasseste, was wir bis<br />

jetzt hier gesehen haben. Mittlerweile weiß ich nicht mehr, welche<br />

Seite recht hat oder wer Schuld ist an dem Ganzen. Es ist halt ein<br />

verdreckter Bürgerkrieg geworden. Wir haben darauf aufmerksam<br />

gemacht, dass es westliche Technologie ist, die da steht. Das es der<br />

Westen ist, der dem Regime im Endeffekt durch Hardware-Lieferung<br />

geholfen hat das aufzubauen so.<br />

V Stephan Und da haben wir auch geguckt. So was ist denn da? Und haben<br />

gefunden: „Blue Coat“! Ist eigentlich für Firmennetzwerke gedacht.<br />

Man kann halt wunderbar jeden einzelnen Seitenaufruf, jeden http-<br />

Request komplett sehen und man kann Alarme schalten. Wenn ein<br />

bestimmtes Wort in einer URL drin ist, alarmiere den Geheimdienst.<br />

Und teile mit, welche IP das ist und wo diese IP gerade aufgeschaltet<br />

ist. Das haben sie getan. Sie haben Leute abgeholt, weil sie auf<br />

Facebook waren. Gut: „Blue Coat“ kann man ja knacken. Mussten<br />

wir nicht. Stand offen wie ein Scheunentor. Wir konnten dann<br />

rausfinden, welche Regeln sie laufen haben und haben das auch<br />

veröffentlicht dann ein paar Monate später, um zu zeigen: das tun sie<br />

gerade in Syrien. Ja, wir haben dann halt angefangen uns zu<br />

überlegen, wie können wir Leuten helfen, dass sie um die<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

17


Mohammad Hey!<br />

WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Überwachungs- und Zensurmaßnahmen des syrischen Regimes<br />

drum herum trotzdem Bilder, Videos und Texte aus dem Land kriegen<br />

können. Und dass sie sich trotzdem noch organisieren können, ohne<br />

dass jedes Mal, wenn sie irgendwas posten irgendwo, der<br />

Geheimdienst bei ihnen klopft. Wir haben Mittel und Wege gefunden,<br />

die ich nicht erklären kann, weil sie immernoch in Benutzung sind<br />

und es wäre jetzt total doof darüber zu erzählen, wie wir das genau<br />

machen, aber es funktioniert! Und zwar so, dass wir jedes Mal, wenn<br />

jemand einen Rechner benutzt irgendwo... wir jedes mal eine<br />

individuelle Lösung bauen müssen. Also es heißt, pro Telecomix-<br />

Agenten kann es irgendwie maximal zwei Leute geben, die in Syrien<br />

gerade Dinge tun und sich halbwegs sicher dabei fühlen können.<br />

13. Szene: Mohammad und Stephan<br />

Agent Hey Mohammad! What‘s up? Didn‘t see you for a long time.<br />

Mohammad I know! Today, demonstration at university. Assad must step down! A<br />

lot of people are against him. But yesterday they killed one of my<br />

friends. I am very very sad.<br />

Agent I am sorry. Are you sure he is dead?<br />

Mohammad I am. They killed a lot of people. I have to be very carefull.<br />

Stephan Und wir hatten einen Raum, der hieß „Obsyria“. Also die Räume<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

18


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

haben Namen. Und zwar ist das immer ein Raute und dahinter der<br />

Rauname. Und der hieß Obsyria. Also ich hab das IRC ganz<br />

altmodisch im Terminal drin. Also das sieht ungefähr so aus. Das ist<br />

bei mir schwarzer Hintergrund, weiße Schrift, blaue Balken. Wenn<br />

jemand meinen Namen schreibt, blinkt es rot. Aber das war es dann<br />

auch schon. Das ist im Endeffekt nur textbasierte Kommunikation.<br />

Vorne stehen Namen, Nicknames. Tante hier zum Beispiel, mit dem<br />

Du ja auch gesprochen hast. Es war einer sehr oft da , Mohammad.<br />

Es war irgendwie spät in der Nacht und ich konnte nicht schlafen.<br />

War nochmal online und er war in dem Raum und hat halt irgendwie<br />

gemeint, er bräuchte mal jemanden zum Reden. Ich meinte, ja. Bin<br />

gerade da. Hab gerade eh nichts zu tun. Dann meinte er: ja, aber<br />

jetzt nicht offen. Sondern eher im Privaten. Und wir haben dann uns<br />

lange unterhalten. Er hat viel von sich erzählt. Er wollte eigentlich nur<br />

über das Beziehungsdrama seiner Schwester reden. Da haben wir<br />

uns vor allem drüber unterhalten. Also beim ersten Gespräch.Wir<br />

hatten viele dieser Gespräche gehabt. Die fand ich immer sehr intim.<br />

Also diese direkten Zweiergespräche können sehr intim werden. So<br />

haben wir Freundschaft geschlossen.<br />

Es wurde recht schnell politisch, also das ist dann auch so... Er hat<br />

ganz viel in Aleppo organisiert. Demonstrationen, Flyer verteilt.<br />

Flugschriften. Vernetzungstreffen mit anderen Aktivistengruppen.<br />

Also der hat da echt viel gemacht. War schon also zumindest am<br />

Anfang, einer der Schlüsselfiguren in Aleppo. Ja,das konnte ich<br />

verifizieren. Aufgrund von Leuten, die halt auf anderen Kanälen..<br />

Über ihn gesprochen haben.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

(Handy vibriert)<br />

19


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

14. Szene: Aufgabe in Syrien - Vortrag<br />

d Stephan Es gab mal die Idee des... also sie wollten mal den „Tag des Zorns“<br />

machen. Relativ am Anfang. Und da haben sich in der Uni 600<br />

Studenten oder 300, ich weiß auch nicht mehr genau, gesammelt.<br />

Und da war halt einer vom Geheimdienst. Sind die alle nach Hause<br />

gegangen, weil sie Angst gehabt haben. Vor einer Person.<br />

V Stephan An diesem „Tag des Zorns“ haben sich Studenten versammelt, ich<br />

kann jetzt vor allem auch wieder von Aleppo sprechen. Da war einer<br />

vom Geheimdienst. Ein einziger. 700 Studenten sind nach Hause<br />

gegangen und auf dem Weg wurde auf sie geschossen. Die haben<br />

ihnen eine Falle gestellt.<br />

Die haben darauf gewartet und davon hatten wir Videos. Wir hatten<br />

Videos davon, die aus dem Land raus mussten. Die fingen an, die<br />

auf You-Tube hochzuladen. Und dann standen die Methadaten da<br />

drin. Also Location. Es stand sogar ein Rechner-Name mit drin in den<br />

Methadaten. Guckt von Euren Videos, wenn Ihr Videos hoch ladet<br />

oder macht mal die Methadaten an. Was da alles drin steht. Aber<br />

versucht mal bei Euren Kameras das abzuschalten! Versucht mal<br />

den Menüpunkt zu finden, wenn Ihr keine Anleitung habt! Nahezu<br />

unmöglich. Weil natürlich, warum sollte man das abschalten wollen?<br />

Also wenn man hier so in Europa lebt oder in den Staaten oder in<br />

Kanada. Gibt ja gar keinen Grund das abzuschalten, ist doch super.<br />

Ja, leider ist für drei viertel der Welt das total sinnvoll Sachen<br />

manchmal abzuschalten. Ja, in jedem Fall hatten wir diese Videos<br />

und wir haben dann in einer langen Aktion Skripte geschrieben, um<br />

diese Videos von den Daten zu bereinigen.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

20


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

d Stephan Wir waren für die Technikdienstleister, Seelsorger im Endeffekt. Wir<br />

haben uns ihre Wünsche, Sorgen, Nöte angehört. Wir waren quasi<br />

der Kontakt, mit dem sie frei und offen reden konnten.<br />

Sprecherin Stephan sieht die Videos bis heute bei ARD, BBC oder CNN. Für die<br />

Zeitung führt er ein Interview mit Mohammad.<br />

15. Szene: Mohammad und Telecomix<br />

Stephan Question: What’s happening there right now?<br />

Sprecherin Was passiert gerade in Syrien?<br />

d Mohammad Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Genozid. Die Menschen<br />

essen Chips zum Frühstück, weil die Läden geschlossen sind. Wir<br />

haben Beweise, dass sie Menschen foltern. Daran sterben einige.<br />

Die Gangs, die das Land regieren, können jeden töten. Kinder,<br />

Frauen und Männer. Und sie versuchen unsere Hoffnung zu töten.<br />

Stephan Gut, ist erstmal eine Aussage, die wir alle kennen. How is the Syrian<br />

government censoring the internet?<br />

Sprecherin Wie zensiert die syrische Regierung das Internet?<br />

d Mohammad Wir haben Quellen, die uns sagen, dass iranische Experten dem<br />

Regime helfen das Netz auszuspähen. Die Regierung und die<br />

Geheimdienste nutzen die momentane Situation aus, um<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

21


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

herauszufinden, wie sie unsere Wörter und Hoffnungen kontrollieren<br />

können. Wenn sie einen Aktivisten schnappen, versuchen sie sein<br />

oder ihr Passwort unter Folter herauszubekommen. Gerade für<br />

Facebook. So können sie seine Freunde identifizieren, die die<br />

Revolution unterstützen.<br />

Stephan How was „Telecomix“ helping you?<br />

d Mohammad Das Team von „Telecomix“ hat uns emotional und materiell geholfen.<br />

Sie haben uns gesagt, wie wir uns sicher im Internet bewegen<br />

können. Was geht und was nicht geht. Und sie haben uns geholfen,<br />

unsere Botschaft zu verbreiten. Es ist ja bekannt, dass die syrische<br />

Regierung viele Seiten, wie YouTube sperrt, damit wir dort keine<br />

Videos hochladen können und die Welt sieht, was wirklich passiert.<br />

Für mich sind sie wie eine Familie. Du fühlst die intime Atmosphäre.<br />

Sie sind immer da, um uns zu unterstützen. Diese Leute haben einen<br />

hohen Grad an Menschlichkeit und Verantwortung in sich.<br />

Stephan Das war so: Wooow! Weil das ist eigentlich schonmal total krass,<br />

sowas zu lesen. Und jetzt, da hab ich irgendwie echt geheult. What<br />

do you think of „Telecomix“?<br />

Sprecherin Was denkst Du über Telecomix?<br />

d Mohammad Seitdem ich jung bin, habe ich daran geglaubt, dass alle Menschen<br />

gleich sind. Je älter ich wurde, desto mehr glaubte ich daran, dass<br />

wir alle eine Familie sind. Eine, die zusammen leiden und sich freuen<br />

kann. In allen Gesichtern, in jeder Liebesgeschichte, in jedem Buch,<br />

das ich las, in jedem Film den ich sah und in allem, was ich bisher<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

22


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

erlebt habe, habe ich gesehen, dass uns nichts trennen kann. Nicht<br />

die Politik, nicht die Wirtschaft oder Religion. Diese Mauern müssen<br />

wir einreißen! Wir müssen Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit für<br />

alle herstellen. „Telecomix“ geben mir ein wenig Hoffnung, dass wir<br />

auf dem richtigen Weg sind. Wenn ich nach dem Sieg der Revolution<br />

noch lebe, werde ich als Schriftsteller viel zu berichten haben. Es ist<br />

mein größter Traum ein Schriftsteller zu werden. Ich habe eine<br />

Menge guter Erinnerungen an diese Zeit und „Telecomix“ ist eine<br />

davon.<br />

Stephan Das ist halt total krass eigentlich. Also von jemanden, der gerade<br />

(Telecomix Videoton)<br />

mehr oder weniger beschossen wird, sowas zu lesen ist total krass.<br />

Also so richtig.<br />

16. Szene: Ende des Vortrags<br />

V Stephan Um dann wiederum von Nerds zu hören: Das ist gefälscht! Das ist<br />

gefaked. Ähm... ganz total und super gern im Netz. Man glaubt nur<br />

Studien und Sachen, die man in den Nachrichten gesehen hat. Oder<br />

auch welche die dann tot-diskutieren „Ja, vielleicht sind ja auch die<br />

Rebellen die Aggressoren und der Assad verteidigt sich ja nur?“.<br />

Dieses zulassen von kruden Theorien! Und dieses Zulassen von<br />

kruden Theorien hat ganz viele Aktivisten zermürbt! Dass sie kein<br />

Bock mehr hatten. Dieses tot-diskutieren von Fakten! Also von<br />

angeblichen... hat Menschen dazu gebracht nicht mehr zu helfen.<br />

Was vermutlich auch viele Menschenleben gekostet hat. Unsere<br />

gesamte Nerdarroganz, die wir in den letzten dreißig Jahren<br />

wunderbar kultiviert haben, die auch viel Spaß macht, also mir ja<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

23


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

auch früher mal. Ja, dieses „ich kann das Netz mit bauen, mit<br />

gestalten...die ist brandgefährlich“<br />

Vielen Dank! (Applaus)<br />

So, jetzt zünde ich mir eine Zigarette an. Boah, das war echt. Ich<br />

brauch echt ein Getränk. Das ist dringend wichtig. Anderthalb<br />

Stunden gelabert. Es war nicht ganz dumm, oder?<br />

junge Frau Nein! Es war super und flausch und so. Hast Du gut gemacht!<br />

Stephan Dankeschön!<br />

(Musik)<br />

17. Szene: Heldenverehrung<br />

Stephan Und das macht natürlich auch einen echt krassen Egopush! Und<br />

darauf muss man klar kommen und das ist nicht leicht. Und wenn Du<br />

dann noch in einem Umfeld bist, dass Dich erstmal speziell als<br />

Helden wahr nimmt. Oder primär... Ich fühlte mich früher immer wie<br />

Bastian Balthasar Bux aus der „Unendlichen Geschichte“. Die<br />

Hauptfigur, der kleine dicke Junge, der lieber Bücher liest als<br />

irgendwie raus zu gehen und der dann dort das Heldenhafte an ihm<br />

entdeckt. In Phantasien. Und der unglaublich viel anfängt und nichts<br />

fertig macht in dem Buch. Und das geht mir genauso. Ich fange<br />

unglaublich viel an und mache fast nichts fertig. Und ich glaube die<br />

Meisten von uns sind alle auf der Suche nach dem „Ding“ das es für<br />

sie ist. Und ich glaube auch die Meisten von uns träumen mal davon<br />

irgendwie Held zu sein und eine Statue irgendwo stehen zu haben.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

24


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Autor Wann hast Du Dich denn mal als Superstar gefühlt?<br />

Stephan Also ich hab da auch lange gebraucht um zu verstehen, was da<br />

eigentlich mit mir passiert ist. Das war so einmal die Außenwelt, die<br />

da so sagte: coole Sache! Und die Isolation gleichzeitig, wo man sich<br />

dann in Sachen reinsteigert. Ja und manchmal, wenn ich im Kopf<br />

gerade durchdrehe, will ich trotzdem eine Statue haben. Auf<br />

irgendeinem Marktplatz! Das ist halt so... also ich... also ich komme<br />

bis heute nicht so richtig klar drauf. Aber das muss ich halt lernen.<br />

Und da bin ich auch gerade bei. Ich weiß, dass uns Menschen als<br />

Helden betrachten. Auch Menschen von vor Ort. Aber wir sind halt<br />

keine Helden. Ich kann es nur immer wieder sagen. Wir sind keine<br />

Helden. Also mir ist das, als wir in Regensburg bei dem Vortrag<br />

eigentlich klar geworden, wie naiv das alles war, was wir gemacht<br />

haben. Es war so... ich erzählte und erzählte und erzählte und<br />

plötzlich war mir das so: Ich habe nurnoch gedacht. Was haben wir<br />

da eigentlich gemacht? Wir naiv waren wir eigentlich einfach mal so<br />

zu meinen, wir können das so tun?!<br />

18. Szene: Mohammad stirbt<br />

Stephan Und irgendwann kam er halt nicht mehr wieder. Und dann hatten wir<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

25


Autor Mit ihm?<br />

WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

kurz darauf das Video aus einem Folterkeller vom Geheimdienst,<br />

das wir online gestellt haben.<br />

Stephan (flüsternd) Ja. Also ich wusste wie er aussieht. Und dann kamen die<br />

Videos und wir haben ganz automatisch die Metadaten entfernt und<br />

Sachen verpixelt, rausgeschnitten. Haben ganz automatisch<br />

gearbeitet und haben erstmal überhaupt nicht darüber nachgedacht,<br />

was da genau passiert. Und erst später wurde das irgendwie klar.<br />

Und jetzt kommen die Zitate von Mohammad:<br />

„Please tell the people of the world, to not forgett the blood of the<br />

innocent children who died as matyrs.<br />

d Mohammad Bitte sagt den Menschen, dass sie das Blut der unschuldigen Kinder,<br />

die als Märtyrer gestorben sind, nicht vergessen sollen. Und auch<br />

nicht die Tränen der Eltern. Vergesst nicht die Tränen der Freunde.<br />

Bitte vergesst all das nicht.<br />

Unschuldige Menschen. Wir sind Brüder und Schwestern.<br />

Menschen. Ich sage das nicht zu irgendeiner Regierung, ich sage<br />

das zu normalen Leuten, weil ich nur an sie glaube. Die Regierungen<br />

der Welt lassen uns fallen. Das ist enttäuschend. Vielleicht ändert<br />

sich das eines Tages.<br />

Stephan But we hope that this will change soon. Ja. (zündet sich eine<br />

Zigarette an) Im Endeffekt konnten wir halt die Hoffnung nicht<br />

erfüllen, ne. Also wir konnten das Feuer der Hoffnung, dass wir bei<br />

diesem Menschen geweckt hatten nicht erfüllen. Aber wir waren auch<br />

nicht Schuld daran. Das macht es umso härter. Das macht‘s umso<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

26


(Telecomix Jingle)<br />

schwerer.<br />

WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

„Let‘s meet in better times!“ - Das war seine Abschiedsfloskel. Und<br />

das wird halt nicht mehr passieren.<br />

Sprecherin Ein Dreiviertel Jahr hat Stephan Urbach von seinem Computer aus<br />

für die arabische Revolution gekämpft. Er hat, gemeinsam mit<br />

anderen Aktivisten von „Telecomix“, dafür gesorgt, dass ein paar<br />

Menschen in Ägypten trotz Internetsperre Zugang zum Netz haben.<br />

Er hat syrischen Oppositionellen das mögliche Know-How verschafft,<br />

um sichere Onlineverbindungen aufbauen zu können. Und er hat<br />

Freunde gefunden, die jetzt tot sind. Ein Schock für ihn.<br />

19. Szene: Selbstmord<br />

Stephan Es gab einen Chatraum, wo die alle drin waren und da war halt Stille.<br />

Da war halt niemand mehr. Da war keiner mehr übrig. Und ich hab<br />

dann irgendwann, gesessen, vor meinem Rechner und hab mir<br />

überlegt, was machsten jetzt? Läßt du die laufen? Soll ich die laufen<br />

lassen? Oder schalte ich die ab? Und ich hab dann einfach<br />

irgendwann diesen Server abgeschaltet, um die Ressourcen für was<br />

anderes frei zu machen, aber es war... in dem Augenblick waren die<br />

halt wirklich tot. Da waren die halt dann, auch... Da war dieses letzte<br />

Fünkchen das ich noch von ihnen hatte war halt weg. Wenn man es<br />

halt abschaltet, dann sind sie wirklich weg. Also, wir verabschieden<br />

uns nicht mehr in dem Augenblick, wo der Mensch verstorben ist,<br />

sondern in dem Augenblick wo der User auspingt. Joa. (zündet sich<br />

eine Zigarette an) Aber das ist auch sowas, auf das wir nicht<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

27


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

vorbereitet waren. So überhaupt nicht. Das es diese intensiven<br />

Verbindungen gibt zu diesen Menschen. Ich mach keine<br />

Unterscheidung zwischen Online- und Offline kennen. Das ist Unfug.<br />

Das ist ähm... Viele Leute machen das noch, wenn sie irgendwas<br />

von reallife erzählen. Das ist genauso echt. Das ist nicht falsch oder<br />

virtuell. Es sind echte Menschen am anderen Ende der Leitung. Und<br />

das ist ganz wichtig. Ich hab die Menschen gekannt. Punkt. Ich hab<br />

sie halt nur nie getroffen.<br />

Sprecherin Stephan hat seitdem kein Zeitgefühl mehr. Manchmal schlägt er sein<br />

Leben im eigenen Blog nach.<br />

Stephan Du mußt dir vorstellen, ich hab irgendwie nur noch vor dem Rechner<br />

gesessen. Nur noch funktioniert und durch die Heldenverehrung, die<br />

uns dar gebracht worden ist, die ich auch schonmal geschildert habe,<br />

kommst Du in den Druck rein, immer mehr zu leisten. Was nicht<br />

funktioniert. Nicht ohne Beeinträchtigung. Dazu halt immer mehr<br />

schlimme Bilder sehen. Wie Menschen sterben, wie sie gefoltert<br />

werden. Bilder von Lazaretten in Kanalisationen. Toten Menschen,<br />

toten Kindern, Raketeneinschlägen. Weggesniperten Leuten auf der<br />

Straße. Und Du hast keine Zeit es zu verarbeiten. Dann sterben<br />

Freunde von Dir, um die Du nicht trauern kannst, weil Du keine Zeit<br />

dafür hast.<br />

Das sieht so aus, dass Du Dein eigenes Leben aufgegeben hast und<br />

nur noch ein fremdes Leben, nämlich das der Maschine, die diese<br />

Dinge tut, lebst. Eigene Bedürfnisse nicht mehr erfüllst. So gar nicht<br />

mehr. Mit niemandem drüber redest. Weil Du bist ja der Held und der<br />

Held hat keine Probleme. Und das alles hat halt in dieser Feedback<br />

Schleife zu einer ganz krassen Depression geführt.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

28


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

(Nase putzen, Zigarette anstecken, rauchen)<br />

Ich beschreib sie immer, wenn mich jemand fragt, wie sich diese<br />

Leere anfühlt... in der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende<br />

wird das „Nichts“ beschrieben. Es ist nicht grau, es ist nicht weiß, es<br />

ist nicht schwarz. Es ist einfach nur „Nichts“. Und dieses „Nichts“<br />

frisst Phantasien auf.<br />

(Wohngemeinschaft, offenes Fenster)<br />

Sprecherin Sein ehemaliger Mitbewohner Thomas bemerkt erst spät, was mit<br />

Stephan wirklich los ist.<br />

Thomas Das war in dem Moment, in dem ich es gehört habe, sehr sehr<br />

schockierend. Und es war einfach wahnsinnig anstrengend. Ich hab<br />

mich natürlich gefragt, wäre das auch passiert, hätte er weiter hier<br />

gewohnt, oder nicht? Ich vermute ja. Ich weiß es nicht. Kann man nur<br />

sinnlos drüber spekulieren. Es ist eher so, dass ich mich ein<br />

bisschen schuldig gefühlt habe. Also ich habe ihn ja nicht wieder<br />

reingetrieben, oder sonst irgenetwas gemacht, aber genau das, was<br />

in vielen Kreisen auch passiert... habe ich zu wenig hingeguckt? Und<br />

mich ja mitreißen lassen von der Begeisterung und von der Intensität<br />

mit der Stephan an die Sache herangegangen ist mich eher<br />

anstecken lassen. Ich verstehe voll und ganz, dass es eine große<br />

Schwierigkeit ist , dass man in solchen Kreisen dann zu wenig auf<br />

die eigenen Bedürfnisse und die eigenen Grenzen achtet. Und ich<br />

als Freund auch nicht auf die Grenzen meines Freundes geachtet<br />

habe.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

29


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Stephan Das ging ja bei mir soweit, dass ich nicht mehr in diesem „Nichts“<br />

existieren wollte. Also ich wollte nicht mehr sein und hatte ja auch<br />

Pläne, das zu beenden alles. Und zwar auf die harte Tour. Ist aber<br />

nicht passiert. Weil... es gab einen Hacker, der hat sich umgebracht<br />

nach 15 Jahren Depression. Nach 15 Jahren Kampf gegen<br />

Depression hat er sich umgebracht. Und ich wollte nicht, dass die<br />

Menschen da stehen und um mich weinen. Ich wollte das nicht mehr<br />

in dem Augenblick. Da war es mir klar, dass es Gründe gibt einfach<br />

sein Leben in die Hand zu nehmen und das zu ändern. Ich hab mir<br />

dann Hilfe gesucht, vom Traumapsychologen. Und ja jetzt läuft es.<br />

20. Szene: Das Ende von Telecomix<br />

Sprecherin Stephan ist nicht der einzige Telecomix-Agent, dessen Kräfte<br />

aufgebraucht sind. Er thematisiert Depressionen in der Szene,<br />

nachdem es für ihn fast zu spät gewesen wäre.<br />

Stephan Das war im „Chaos-Communication-Camp“. Das ist ein Hacker-<br />

Event, alle vier Jahre. Das große Camp. Dreieinhalbtausend Hacker<br />

aus aller Welt. Und da hatten wir als Telecomix zum ersten Mal Zeit<br />

für uns. Um über unsere Gefühle zu sprechen, untereinander und wir<br />

stellten fest, dass es keinem von uns so richtig gut geht. Also keinem<br />

von uns. Und ich hatte einen Vortrag eingereicht und der wurde auch<br />

angenommen und wir hatten in der Nacht vorher entschieden, dass<br />

wir den jetzt spontan ändern werden und wir quasi live on Stage<br />

Telecomix abschalten. Das haben wir dann auch gemacht. Und dann<br />

haben wir ein Video gezeigt, dass ich immer noch als eines unser<br />

besten empfinde. Wo unsere Anführerin Cameron, die ja eigentlich<br />

nur eine KI ist, eine künstliche Intelligenz, uns befiehlt Telecomix<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

30


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

abzuschalten, um mal nachzudenken, was wir eigentlich tun. Das<br />

Video ist großartig.<br />

T-e-l-e-c-o-m-i-x ... shut down. Jetzt lad auch...<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

(tippt etwas am Computer)<br />

„Cameron“ Hello, this is Cameron from Telecomix.This is a message to all<br />

(Musik startet)<br />

internals and a public message to the internet works. That telecomix<br />

system is goin down for a reboot for n unknown amount of time. I<br />

have commanded the operators of the Telecomix system to shut it<br />

down! Upgrade it to the next level an then bring it back online. For<br />

the next moves do not worry. You will not get lost. I am Cameron. I<br />

will be found. You are from the internets. You come in peace. Let<br />

there be freedom for all people and computers.<br />

Stephan Und es war total krass, wie plötzlich Stille war.<br />

(öffnet eine Falsche, trinkt, atmet schwer aus)<br />

21. Szene: Die neue Generation<br />

(Kirche, Straße, Schritte im Schnee - Chemnitz)<br />

Sprecherin „Telecomix“ wird heruntergefahren, als Nachfolger entsteht die<br />

„World-Neighbour-Hood“. Eine neue Generation von Netzaktivisten<br />

aus der westlichen Welt.<br />

31


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Computer Signed on! Welcome to the Internet Relay Network: WNH638!<br />

WNH638@IRC.WNH. Your host is hello.irc.wnh, running version (x86<br />

unknown). Two operator(s) online, 27 channels formed. Highest<br />

connection count: 60.<br />

22. Szene: Fazit von Stephan<br />

Stephan Ja, Manchmal frag ich mich, warum mach ich den Scheiß eigentlich?<br />

Autor Na und warum machst Du den Scheiß?<br />

Stephan Ich hab keine Ahnung! Ne, eigentlich hab ich natürlich schon<br />

Ahnung. Ich mach es, weil ich an die Dinge, die ich tue, glaube. Also<br />

ich glaube daran, das ich mit daran helfen kann, diese Welt ein<br />

kleines Stückchen besser zu machen. Und wenn es nur für ein paar<br />

wenige Menschen ist. Da glaube ich einfach dran. Ich glaube da fest<br />

dran, dass diese Welt eine bessere sein kann und das ich dazu<br />

meinen Teil beitragen kann. Und ich hab die Energie irgendwo her,<br />

das irgendwie auch immer zu tun. Also werde ich das auch immer<br />

wieder tun.<br />

Absage Das Hacker-Syndrom<br />

Ein Feature von Johannes Nichelmann<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

32


WDR 3 open: pop drei, 15.04.2013<br />

Das Hacker-Syndrom<br />

Es sprachen: Navid Akhavan, Max Woithe und Bettina Kurth.<br />

Technische Realisation: Jonas Bergler<br />

Regieassistenz: Dirk Leyers<br />

Regie: Nikolai von Koslowski<br />

Redaktion: Leslie Rosin<br />

Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2013<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />

Dieses Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.<br />

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen<br />

Genehmigung des WDR.<br />

33

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!