67 Stunden â Ulrich Noethen las "Krieg und Frieden" - die agenten
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„Ich bin auf Tolstois ‚<strong>Krieg</strong> <strong>und</strong> Frieden’ eher durch Zufall gekommen“, erzählt <strong>Noethen</strong>. „Auf der Leipziger<br />
Buchmesse fragte man mich, ob ich mir <strong>die</strong>ses Projekt vorstellen könne. Ich hatte ja schon mein Gesellenstück<br />
abgegeben <strong>und</strong> einige Jahre zuvor ‚Vom Winde verweht’ gelesen. Fast spontan sagte ich zu.“ Er habe den<br />
Roman mit seinen fast zweitausend Seiten zunächst einmal durchgelesen, dann zusammen mit dem Regisseur<br />
das Buch in vier Teile geteilt <strong>und</strong> jeden Abend vor der Aufnahme zuhause vorgetragen. „Es ist bemerkenswert,<br />
wie sich <strong>die</strong> Aufmerksamkeit beim lauten Lesen verändert. Plötzlich achtet man auf Dinge, <strong>die</strong> einem zuvor gar<br />
nicht aufgefallen sind.“ <strong>Noethen</strong> schwärmt von Hermann Röhls Übersetzung des Romans im Insel Verlag. Mit<br />
leisem Lächeln fügt er nach einer Weile hinzu, dass er einige Wendungen, <strong>die</strong> den Lesefluss gestört hätten, leicht<br />
verändert hat, um <strong>die</strong> volle Aufmerksamkeit des Zuhörers zu gewinnen. Von zehn bis drei Uhr habe er täglich im<br />
Studio gesessen, um den Roman aufzunehmen.<br />
Wer <strong>Noethen</strong> von seiner Arbeit reden hört, der nimmt <strong>die</strong> Achtung wahr, <strong>die</strong> er Tolstoi entgegenbringt. Obgleich<br />
<strong>die</strong> Aufnahme des Buchs schon einige Jahre zurückliegt – sie wurde zunächst im Radio gesendet -, sind ihm <strong>die</strong><br />
einzelnen Charaktere bis heute nah. Fast schwärmerisch berichtet er von dem Oberbefehlshaber der russischen<br />
Armee, vom knorrigen Fürsten Kutusow, der ihm besonders behagt habe. Der sterbende Fürst Andrej mit seinen<br />
Fieberträumen habe ihn gleichfalls angesprochen. „Ich war als Kind oft krank“, erzählt <strong>Noethen</strong>, der aus einer<br />
Pfarrersfamilie aus Neu-Ulm stammt <strong>und</strong> 1959 geboren wurde. „Diese Träume haben mich berührt“, erklärt er<br />
zaudernd <strong>und</strong> so, als ob noch etwas kommen soll. Wie geht ein Schauspieler beim Erarbeiten eines solchen<br />
Textes vor? Bemüht er sich, den Roman auch intellektuell zu durchdringen oder ist er ein Bauchmensch, der<br />
„Es wäre grauenhaft, wenn es nur so wäre“, sagt <strong>Ulrich</strong> <strong>Noethen</strong>. Plötzlich kommt er auf Kutusow <strong>und</strong> Napoleon<br />
zu sprechen. „Haben Sie bemerkt, was für ein Menschenbild hinter den beiden Personen steht?“ Nun geschieht<br />
etwas Seltsames. <strong>Noethen</strong> erklärt, wie er Tolstoi versteht <strong>und</strong> aus welchem Gr<strong>und</strong> er gerade Kutusow schätz.<br />
Während <strong>Noethen</strong> spricht, sich erklärt <strong>und</strong> ausführt, kommt seinem Zuhörer Isaiah Berlin in den Sinn. In dessen<br />
berühmten Essay „Der Igel <strong>und</strong> der Fuchs“ charakterisiert der britische Philosoph Tolstois Auffassung vom Gang<br />
der Geschichte. <strong>Noethen</strong>, der Berlin nie gelesen hat, wie er glaubhaft beteuert, gelangt zu ähnlichen Schlüssen<br />
wie der Philosoph, ja, stößt leichtfüßig zum Wesenszug Tolstois, <strong>die</strong>ses größten russischen Prosaautors noch vor<br />
Gogol, Tschechow <strong>und</strong> Turgenjew, vor.<br />
Tolstois zentrales Anliegen in „<strong>Krieg</strong> <strong>und</strong> Frieden“ ist es, dem Leser neben den Liebes- <strong>und</strong> Leidensgeschichten<br />
der einzelnen Familien zu zeigen: Es gibt ein Naturrecht, das das Leben der Menschen nicht weniger bestimmt<br />
als das Naturgesetz. Dass aber <strong>die</strong> Menschen <strong>die</strong>se beständige Abhängigkeit von eben <strong>die</strong>sem Naturrecht nicht<br />
zu verstehen imstande sind, <strong>und</strong> das Leben deshalb als eine Abfolge freier Wahlhandlungen darstellen, <strong>die</strong> von<br />
angeblich großen Männern wie Napoleon, Zar Alexander oder Kutusow gesteuert werden. „Es ist herrlich zu<br />
lesen, mit welch leiser Ironie Tolstoi <strong>die</strong> angeblich so großen Generäle <strong>und</strong> Feldmarschälle überzieht“, erklärt<br />
<strong>Noethen</strong> <strong>und</strong> zieht <strong>die</strong> Beine behaglich auf den Sessel. „Im Gr<strong>und</strong>e sind sie bei Tolstoi allesamt armselige<br />
Figuren <strong>und</strong> Statisten einer großen <strong>Krieg</strong>stragö<strong>die</strong>, Napoleon eingeschlossen.“ <strong>Noethen</strong> schildert, wie allenfalls<br />
Kutusow eine Ahnung vom Geheimnis der Geschichte hat <strong>und</strong> wie alle anderen im Gr<strong>und</strong>e nichts als eitle Nullen<br />
sind. <strong>Noethen</strong>, der Menschendarsteller, braucht dafür keinen theoretischen Überbau. Er zieht seine Schlüsse aus<br />
der Beobachtung der einzelnen Personen.<br />
Tolstoi privat in "Ein russischer Sommer"<br />
„Ich habe Fre<strong>und</strong>e, <strong>die</strong> ‚<strong>Krieg</strong> <strong>und</strong> Frieden’ ebenfalls gelesen haben. Einige von ihnen aber haben <strong>die</strong> langen<br />
geschichtsphilosophischen Abschnitte als eine geradezu unnatürliche Unterbrechung des Leseflusses betrachtet<br />
<strong>und</strong> übersprungen. Wer es aber nicht tat, der war, wie ich, beeindruckt von der Kraft, <strong>die</strong> sie entfalten. Auch von<br />
der Erkenntnis, dass es nicht weit her ist mit den Männern, <strong>die</strong> angeblich Geschichte machen.“<br />
<strong>Noethen</strong> kommt auf Pierre Besuchow zu sprechen, der im Roman wie verloren auf dem Schlachtfeld von<br />
Borodino umherirrt, als suche er einen <strong>Krieg</strong>, wie ihn ein Historiker oder Historienmaler beschreibt, doch Pierre<br />
findet nur verwirrte Menschen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sem oder jenem Bedürfnis folgen. Gibt es für Tolstoi <strong>die</strong> Freiheit des<br />
Einzelnen überhaupt? <strong>Noethen</strong> nimmt einen Schluck von seinem Capuccino, überlegt eine Zeit, zitiert fast<br />
wörtlich aus „<strong>Krieg</strong> <strong>und</strong> Frieden“ <strong>und</strong> zieht dann selbst seinen Schluss: „Mit der Annahme, das menschliche<br />
Leben könne allein nach den Gr<strong>und</strong>sätzen des Verstandes geleitet werden, verneint man <strong>die</strong> Möglichkeit des<br />
Leben selbst. Der Mensch fühlt sich frei. Jeder denkt, er hätte eine gewisse Freiheit. Wenn man dann später<br />
etwas weiter schaut, dann sieht man, dass <strong>die</strong> Menschen in einem bestimmten Lauf stecken.“ Ist es tatsächlich<br />
so? Gibt es keine Freiheit der Entscheidung?<br />
Nach Tolstoi jedenfalls nicht oder nur ganz selten. Freilich ist Tolstoi mit der Geschichte nicht wie ein Historiker<br />
umgegangen, sondern – wen w<strong>und</strong>ert’s – wie ein Dichter, <strong>und</strong> <strong>Noethen</strong> will nicht als Deuter von „<strong>Krieg</strong> <strong>und</strong><br />
Frieden“ auftreten, sondern als Schauspieler, der das Werk zum Hör-Roman macht. Doch gerade weil er sich<br />
Gedanken gemacht <strong>und</strong> den Roman zu durchdringen versucht hat, erschließt sich dem Hörer auch <strong>die</strong><br />
Erzählweise des russischen Schriftstellers. Darin liegt <strong>Noethen</strong>s Leistung.<br />
Wer <strong>die</strong> Muße mitbringt, allen CDs aufmerksam zu lauschen, der wird Thomas Mann folgen: „Nur das<br />
Ausführliche ist unterhaltend.“ Er wird zudem lernen, wie souverän Tolstoi <strong>die</strong> Kunst der lebensnahen Schilderung