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85. Ein Leichenhaus für Scheintote (ms) - Hildesheim

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<strong>Ein</strong> <strong>Leichenhaus</strong> <strong>für</strong> <strong>Scheintote</strong><br />

Historische Dokumente aus dem Stadtarchiv (Folge 85) / von Michael Schütz<br />

<strong>Ein</strong>e unter der Signatur Best. 101-842 Nr. 3 im Stadtarchiv <strong>Hildesheim</strong> verwahrte Akte trägt<br />

den knappen Titel „Totengräber auf dem Marienfriedhof“. Sie enthält Schriftverkehr der Marienfriedhofs-Kommission<br />

zum Aufgabenbereich des Totengräbers und einige separat geheftete<br />

Beschwerden über den „Kuhlengräber“ aus dem Zeitraum 1839 bis 1871 – auf den ersten<br />

Blick wenig interessante Archivalien. Doch den 1846 schriftlich fixierten Bedingungen und<br />

Verpflichtungen <strong>für</strong> den Totengräber ist eine sieben Seiten umfassende kulturgeschichtlich<br />

sehr interessante Anlage beigefügt, die überschrieben ist: „Instruction <strong>für</strong> den Todtengräber in<br />

Beziehung auf das nunmehr eröffnete Todten- oder <strong>Leichenhaus</strong> auf dem Marienfriedhofe ...<br />

Das hier angesprochene <strong>Leichenhaus</strong> hatte nicht, wie wir heute vermuten würden, die Bedeutung<br />

einer Leichenhalle oder gar Friedhofskapelle, in der die Verstorbenen eingesargt bis zur<br />

Beerdigung gelagert wurden. Im <strong>Leichenhaus</strong> konnten die Hinterbliebenen ihre verstorbenen<br />

Angehörigen unter der Aufsicht eines Leichenwärters aufgebahrt liegen lassen, bis eindeutige<br />

Anzeichen des Todes an ihnen festzustellen waren. Dieses ungewöhnliche Verfahren hatte<br />

seinen Ursprung in der großen Angst der damals lebenden Menschen, entgegen der ärztlichen<br />

Begutachtung nur scheinbar tot zu sein und möglicherweise lebendig begraben zu werden.<br />

Sicherlich ist vielen Leserinnen und Lesern die 1850 veröffentlichte Kurzgeschichte „Die<br />

<strong>Scheintote</strong>n“ von Edgar Allen Poe bekannt, ein Klassiker unter den so genannten Gruselgeschichten.<br />

Wahrscheinlich dürften die meisten aber nicht wissen, dass diese Kurzgeschichte<br />

auf der unter Poes Zeitgenossen verbreiteten Angst vor dem Scheintod basierte. Diese Angst,<br />

deren Anfänge in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückreichen, hatte sich durch eine Vielzahl<br />

von medizinischen Publikationen und vor allem durch Geschichten über wieder erwachte Tote<br />

gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einer wahren Hysterie gesteigert.<br />

Mehrere Artikel im <strong>Hildesheim</strong>ischen Magazin der Jahrgänge 1790 und 1791 machen deutlich,<br />

dass diese Hysterie auch die <strong>Hildesheim</strong>er nicht unbeeindruckt ließ. 1826 sah sich sogar<br />

das Königliche Kabinetts-Ministerium in Hannover veranlasst, eine „Anweisung, wie bei Ermangelung<br />

ärztlicher Hülfe Scheintodte und plötzlich mit lebensgefährlichen Zufällen Erkrankte<br />

zu behandeln sind …“ zu veröffentlichen<br />

Um dem Lebendig-begraben-Werden vorzubeugen, erwirkte der bekannte Mediziner Dr.<br />

Christoph Wilhelm Hufeland 1792 in Weimar die Errichtung eines ersten <strong>Leichenhaus</strong>es, dem<br />

dann zahlreiche weitere folgen sollten (1797 Berlin, 1803 Mainz, 1818 München). In ihnen<br />

sollten Verstorbene in einer gleichmäßig belüfteten und temperierten Leichenkammer, in die<br />

der Totenwärter durch ein Glasfenster des Wächterzimmers beständig hineinschauen konnte,<br />

aufgebahrt werden, bis die Verwesung einsetzte. Für den Fall, dass der (nur scheinbar) Tote<br />

wirklich wieder erwachte, gab es eine größere Anzahl von Utensilien, die das zurückkehrende<br />

Leben unterstützen sollten.<br />

Der in der Nähe des Hauptbahnhofs gelegene Marienfriedhof wurde 1834 angelegt. Von Beginn<br />

an war beabsichtigt, auf dem Friedhof ein <strong>Leichenhaus</strong> zu errichten. Es sollte allerdings<br />

durch Spenden finanziert werden und konnte vermutlich deswegen erst 1842 <strong>für</strong> die Benutzung<br />

freigegeben werden. Der Magistrat entschloss sich, keinen speziellen Aufseher <strong>für</strong> das<br />

<strong>Leichenhaus</strong> einzustellen, sondern übertrug dem Totengräber, der im <strong>Leichenhaus</strong> zu wohnen<br />

hatte, diese Aufgabe.<br />

Die eingangs vorgestellte neun Paragrafen umfassende Instruktion legte <strong>für</strong> den Totengräber<br />

des Marienfriedhofs unter Anderem fest: 㤠3: Es hat derselbe die ihm wegen der der Leiche<br />

zu gebenden Lage, Befestigung der mit dem Weckapparate in Verbindung stehenden Fingerhütchen<br />

oder Ringe an den Fingern und Zehen der Leiche und so weiter von dem Herrn Medicinalrathe<br />

… ertheilte … Anweisung auf das genaueste zu befolgen. § 4: Es hat derselbe<br />

ferner auf das [sic!] Weckapparat seine größte Aufmerksamkeit zu richten und falls selbiger<br />

© Stadtarchiv <strong>Hildesheim</strong> – Am Steine 7, 31134 <strong>Hildesheim</strong><br />

Tel. 05121-1681-0 Fax 05121-1681-24 E-Mail info@stadtarchiv-hildesheim.de


durch eine Bewegung des oder der in dem Leichenzimmer Niedergesetzten in Lärmen gesetzt<br />

werden sollte, ohne Verzug den zunächst wohnenden Arzt oder Wundarzt herbeizurufen, ...“<br />

Unter diesem Weckapparat oder auch Rettungswecker hat man eine Apparatur zu verstehen,<br />

welche die Extremitäten des Verstorbenen über Drähte und Umlenkrollen mit einem Wecker<br />

verband, der sich in der Schlafstube des Totenwärters an der Wand befand. Über die Drähte<br />

wurde er bei einer Bewegung des Aufgebahrten entriegelt und begann zu klingeln. Auch im<br />

<strong>Hildesheim</strong>er <strong>Leichenhaus</strong> gab es zahlreiche Gegenstände, die bei einer Wiederbelebung eingesetzt<br />

werden konnten. Glücklicherweise ist weder in den städtischen Akten noch in den<br />

Zeitungen und Zeitschriften der Fall eines wiedererwachten Toten überliefert.<br />

Als 1894 der vollständig belegte Marienfriedhof geschlossen und in eine Grünanlage umgestaltet<br />

wurde, wechselte das <strong>Leichenhaus</strong> seine Funktion: es wurde zum Gärtnerhaus. In dieser<br />

Funktion überstand es den Zweiten Weltkrieg und wurde 1957 noch einmal aufwändig restauriert.<br />

Doch 1982 war das Gebäude, dessen ehemalige Funktion in Vergessenheit geraten war,<br />

angeblich so stark beschädigt, dass es abgerissen werden musste. Seinen Platz auf dem Friedhof<br />

kann man noch heute erkennen. Es befand sich, von der Lüntzelstraße kommend, auf der<br />

freien Fläche hinter dem großen Friedhofskreuz mit den davor lagernden Resten des ehemaligen<br />

1870/71er-Denkmals.<br />

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