Vorbemerkungen: 1. Ich bin Fachkrankenschwester für Psychiatrie ...
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<strong>Vorbemerkungen</strong>:<br />
<strong>1.</strong> <strong>Ich</strong> <strong>bin</strong> <strong>Fachkrankenschwester</strong> <strong>für</strong> <strong>Psychiatrie</strong> – ich verschreibe keine<br />
Medikamente, ich <strong>bin</strong> nicht verschwistert, verschwägert oder sonst wie<br />
verbandelt mit einem Mitarbeiter der Pharmaindustrie und erhalte keinerlei<br />
Vergünstigungen seitens der Pharmaindustrie – allerdings war ich<br />
mehrmals auf einer Veranstaltung / Kölner <strong>Psychiatrie</strong> Gespräche, die von<br />
Lilly gesponsert wurde – hier habe ich zwei Kugelschreiber und einen<br />
Schreibblock mitgenommen und das Buffet war hervorragend. Diese<br />
Veranstaltung war kostenfrei und <strong>für</strong> alle zugänglich.<br />
2. ich habe auch niemals, wie neulich in einem Vortrag reuevoll vorgetragen<br />
gehört, Leponex im Mörser zerstampft und die Substanz Klienten<br />
sozusagen „untergejubelt“, im Gegenteil -<br />
3. meine ersten <strong>Psychiatrie</strong> Erfahrungen habe ich in einer anderen Zeit<br />
gesammelt- vor 37 Jahren in einem großen Landeskrankenhaus. Dort<br />
herrschten Zustände, die in der <strong>Psychiatrie</strong> – Enquete mit Recht als<br />
„menschenunwürdig“ bezeichnet wurden und wir waren vehemente<br />
Gegnerinnen und Gegner der klinischen <strong>Psychiatrie</strong> einschließlich der<br />
gängigen so genannten „chemischen Keule“ bzw. „chemischen<br />
Zwangsjacke“ und unsere Bibel war: Frank Fischer: Irrenhäuser klagen an“<br />
und Jan Foudraine _Wer ist aus Holz?“<br />
4. Außerdem waren wir naiv, mutig, unbedarft oder auch unverantwortlich<br />
genug, um Dinge auszuprobieren – so haben wir einmal, um die Patienten<br />
von diesen Zwangskeulen zu befreien, aber auch, um den gnadenlos<br />
kustodial denkenden und handelnden Stationspfleger zu ärgern die<br />
Haloperidolflaschen ausgekippt und mit Wasser wieder aufgefüllt - die<br />
Werbung <strong>für</strong> das Medikament hieß: Kein Geschmack, große Wirkung! und<br />
uns amüsiert, wenn er dann so ernsthaft seine Wassertropfen abzählte. In<br />
Klammern: er hat sie wenigstens gezählt, ich erinnere mich durchaus an<br />
grobe Schätzungen…Leider ist dieses Experiment nicht wissenschaftlich<br />
begleitet worden und hat außer irgendwie ein bisschen Unruhe und<br />
magischen Denkens seitens des Personal „ach ja, wir kriegen wohl<br />
Vollmond, die Patienten sind so unruhig.“ zu keinen verwertbaren<br />
Ergebnissen geführt.“<br />
<strong>Ich</strong> greife vier wesentliche Punkte aus der Neuroleptika Debatte heraus:<br />
<strong>1.</strong> 2. die frühzeitige niedrig dosierte Behandlung und die kurzzeitige stationäre<br />
Behandlung<br />
2. die psychosoziale Begleitung<br />
3. Nebenwirkungen<br />
4. Mortalitätsrate/verkürzte Lebenserwartung/<br />
und hierzu möchte ich Ihnen vier Geschichten erzählen<br />
Frau D.<br />
Frau D. ist im Zuge einer Arbeitsmaßnahme nach Deutschland gekommen,<br />
wahrscheinlich 1966 erst nach Nürnberg, dann nach Köln. Sie hatte einen<br />
Lebensgefährten, mit dem sie lange Jahre zusammenlebte. Sie sei selbstständig<br />
gewesen mit einem kleinen Versandhandel, der dann aber pleite machte. Von dem<br />
Mann hat sie sich getrennt, weil die Beziehung einfach am Ende gewesen wäre. Es<br />
sei ein sehr liebevoller und gütiger Mensch gewesen.
Sie habe dann in einem Appartement gelebt, dieses aber verloren, weil sie die Miete<br />
nicht mehr zahlen konnte.<br />
Sie hat dann mindestens zwei Jahre auf der Straße gelebt, bis sie zufällig am<br />
Bahnhof auf einen Mitarbeiter der Heilsarmee traf, der ihr etwas über unser<br />
Sozialsystem und Wohnhilfen erzählte, worauf sie von der Fachstelle Wohnen einen<br />
Hotelplatz vermittelt bekam und auch Sozialhilfeleistungen.<br />
Während ihrer Aufenthalte in fast allen Hotels kam es immer wieder zu<br />
Auseinandersetzungen mit Zimmernachbarn, was dann zu ihrer Entlassung führte.<br />
Im letzten Hotel, in dem sie ein Einzelzimmer hatte, kam es zum Kontakt mit einer<br />
Kollegin von HPM, die ihr zum ersten Mal ein Hilfsangebot machte mit einem<br />
psychiatrischen Hintergedanken.<br />
Frau D. wehrte (natürlich) alle Hilfsangebote ab, wenn sie hießen SPZ, Cafe Auszeit,<br />
Arzt, Klinik, Ambulanz, Medikamente, traf sich aber gerne mit der Kollegin, um Kaffee<br />
trinken zu gehen und zu reden. Da ihr in dem Hotel 2 x sämtliche Papiere und Geld<br />
gestohlen wurden, gab sie seitdem immer alles am Tage des Erhalts der Sozialhilfe<br />
aus, was natürlich zu erheblichen Engpässen Ende des Monats führte.<br />
Zwischendurch kam es immer wieder zu verbalen Attacken und Entgleisungen<br />
gegenüber dem Hotelier und auch Mitbewohnern. Viele dieser Beschimpfungen<br />
erfolgten auf polnisch, was sie sonst leugnete, noch zu sprechen. Sie führte ständig<br />
Zwiesprache mit nicht anwesenden Personen, und vor allem die nächtlichen<br />
Beschimpfungen wurden immer mehr.<br />
Als auch hier trotz des Einzelzimmers der Rauswurf drohte, wurde Frau D. ein<br />
Zimmer im Hotel Plus angeboten, der Kollegin schien es die einzige Chance zu sein,<br />
Frau D. längerfristige Hilfen zu ermöglichen.<br />
Im Hotel Plus änderte sich die Situation logischerweise auch nicht sonderlich,<br />
sondern spitzte sich hier ebenfalls allmählich zu bis zu einem Schreiben der<br />
Nachbarn an den OB. Mittlerweile war es aber gelungen, einen guten Kontakt zu<br />
Frau D. herzustellen und ihr <strong>für</strong> diesen Ort etwas Sicherheit zu vermitteln. Die<br />
Bedrohung, ihr Zimmer wegen der nächtlichen Schreiattacken wieder zu verlieren,<br />
machte ihr sichtlich Angst, änderte aber nichts, da sie auch wohl kaum noch in der<br />
Lage war, ihr Verhalten zu steuern. Die zu dem Zeitpunkt bei uns als Praktikantin<br />
beschäftigte polnische Studentin weigerte sich, die Beschimpfungen zu übersetzen,<br />
sie sah sich nicht imstande, derartige Obszönitäten von sich zu geben…<br />
Langer Rede kurzer Sinn – es gelang mit Unterstützung durch den<br />
sozialpsychiatrischen Dienst und die rechtlichen Möglichkeiten –<br />
Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung und Unterbringung gegen den Willen, Frau<br />
D. die Möglichkeit einer stationären auch medikamentösen Behandlung zukommen<br />
zu lassen.<br />
Während dieser Behandlung wurde der Kontakt zu ihr intensiviert und auf neue<br />
Weise näher gestaltet.<br />
Frau D. lebt seit 3 Jahren in einer eigenen Wohnung, hat auf ihren Wunsch einen<br />
Sprachkurs gemacht, sich ihre Zähne richten lassen, probiert sich gerade bei einem<br />
Arbeitsversuch aus und führt nach ihren eigen Aussagen ein selbst bestimmtes<br />
Leben mit den Einschränkungen durch ihre Erkrankung. Sie wird auf ihren Wunsch<br />
weiter durch uns begleitet und hat nach verschiedentlichen Absetz – und<br />
Reduktionsversuchen die ihr zuträgliche Dosierung des Medikamentes gefunden.<br />
Herr F.<br />
Herr F. kam zu uns ins Hotel auf Wunsch seines gesetzlichen Betreuers, der<br />
sozusagen mit seinem Latein am Ende war. Herr F. hatte seine letzten Wohnungen<br />
verloren wegen mietwidrigem Verhalten, d.h. in seinem Fall wegen
Lärmbelästigungen der anderen Mieter sowie häufiger verbaler Bedrohungen (auf<br />
deutsch). Zuvor musste er die mütterliche Wohnung verlassen, weil er sowohl gegen<br />
Mutter als auch seine Schwester tätlich geworden war. Dies alles mit Hinweisen auf<br />
die dämonische Gewalt, die von ihnen ausginge. Jahre zuvor hatten diese Vorfälle<br />
wohl mal zu einem kurzen psychiatrischen Aufenthalt geführt, der allerdings ohne<br />
nachhaltige Wirkung blieb, es gab auch keine Nachbehandlung.<br />
Für die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung war die Diagnose der „paranoid<br />
halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis“ wohl gestellt<br />
worden, aber ohne weitere praktische Konsequenzen.<br />
Als Herr F. ins Hotel kam, war er Anfang vierzig, gut aussehend, gepflegt und<br />
geschmackvoll gekleidet und ausgesprochen höflich und charmant. <strong>Ich</strong> erwähne<br />
dies, weil es nicht der Norm entspricht, die bei uns herrscht.<br />
Brach Herr F. schon was Aussehen und Umgang betraf, alle Rekorde, so auch was<br />
die Ressourcen Ordnung und Sauberkeit betraf. Nie vorher und auch noch nicht<br />
nachher gab es jemanden bei uns, der sein eigenes Zimmer, aber auch die<br />
Gemeinschaftsküche in einen solch glänzenden Zustand gebracht hat. Und noch<br />
einen Rekord brach er – seine Tendenz zur Dissimulation und zur Bagatellisierung,<br />
was Krankheitssymptome betraf, war unübertroffen!<br />
Er hatte klare Pläne <strong>für</strong> die Zukunft – zunächst eine kurze Ruhephase, um etwas zu<br />
Kräften zu kommen, anschließend würde er ein Restaurant mit vorwiegend<br />
italienischer Küche eröffnen mit einem angeschlossenem Cateringservice. Das hörte<br />
sich auch nicht völlig realitätsfern an <strong>für</strong> uns, er hatte ja tatsächlich mal ein<br />
Restaurant gehabt (und in den Sand gesetzt)<br />
Die weitere Entwicklung aber war dann anders. Es gab unsrerseits ein konstantes<br />
Beziehungsangebot, zuverlässig, echt, empathisch, respektvoll. Es gab Angebote zu<br />
Arbeitserprobungsmaßnahmen, zur Tagesstruktur, zu Beschäftigung, zu allem<br />
möglichem und immer wieder, Beziehung, Beziehung Kontakt. Herr F. hat bei uns<br />
fünf Jahre lang seine Psychose ausgelebt, ausleben können mit diversen<br />
Kurzaufenthalten im europäischen Ausland – Sternfahrt – mit viel künstlerischer<br />
Kreativität und Schaffung von vielen Bildern, vor allem aber Objekten und unsere<br />
Beziehung wurde auch immer vertrauter. Allerdings<br />
lebte Herr F. seine unterschiedlichsten Wahn oder sonst wie Ideen aus und rings um<br />
ihn herum gingen die Leute in die Knie – einschließlich uns.<br />
Seine direkte Zimmernachbarin traute sich vor Angst nicht mehr aus dem Zimmer. Er<br />
bedrohte nächtens verschiedene Hotelbewohner, sogar mit Waffen (Kurzschwert)<br />
Morgens von uns mit den Vorwürfen konfrontiert, hatte er niemals irgendetwas davon<br />
getan. Und natürlich reichte es niemals <strong>für</strong> eine Zwangsbehandlung aus, weil<br />
selbstverständlich der häufiger hinzugezogenen Arzt des Gesundheitsamtes zwar<br />
eine deutliche Behandlungsbedürftigkeit erkennen konnte, aber keine akute Fremd<br />
oder Selbstgefährdung. Insgesamt rückblickend betrachtet haben wir die meisten<br />
hehren Grundsätze der Sozialpsychiatrie im Kontakt mit Herrn F. verwirklicht,<br />
einschließlich des Prinzips Hoffnung, da wir überzeugt waren, dass Herrn F. ganz<br />
andere Lebensmöglichkeiten hat als in unserem Hotel zu leben. Aber erst als wirklich<br />
klar war, dass wir ihn zum Schutz der anderen Menschen im Hotel vor die Tür setzen<br />
würden, wenn er sich nicht in psychiatrische Behandlung begibt und auch klar war,<br />
dass wir mittlerweile eine vertrauenswürdige Beziehung miteinander hatten, d.h, ihm<br />
dieser Ort auch wichtig genug war, hat er sich darauf eingelassen. Nach der<br />
stationären und dann ambulant weitergeführten Behandlung mit unserer<br />
Unterstützung ging die Entwicklung rasend schnell. Innerhalb eines Jahres hat Herr<br />
F. wieder Kontakt zu seiner Familie aufbauen können, eine Wohnung gefunden, sich
<strong>für</strong> eine Umschulungsmaßnahme qualifiziert und seine seit mindestens 9 Jahren<br />
bestehende Betreuung konnte aufgehoben werden.<br />
Frau B.<br />
Damit Sie nicht sagen – „nun ja, sind ja alles wirklich schwierigste Krankheitsverläufe<br />
und wohnungslose Menschen sind doch noch ein anderes Klientel als bei uns im<br />
Betreuten Wohnen, kurz noch die Geschichte einer anderen Klientin, die mir<br />
ausdrücklich erlaubt hat, von ihr zu erzählen.<br />
Frau B. ist zahntechnische Assistentin und vor ca. 10 Jahren erkrankt. Sie war<br />
damals Anfang 30, bei einem großen Labor beschäftigt und nach eigenen Angaben<br />
von aufgeschlossener freundlicher und zugewandter Wesensart mit vielen<br />
Freundinnen und Freunden. M Laufe von 2 – 3 Jahren, vielleicht auch länger hat sich<br />
ihr Leben gewaltig verändert. Sie hat sich nach der Trennung von ihrem<br />
Lebensgefährten in eine kleine Wohnung zurückgezogen. Die Arbeit fiel ihr immer<br />
schwerer, da zunehmend <strong>für</strong> sie seltsame Dinge dort geschahen, die sie nicht<br />
einordnen konnte. Der mögliche Verlauf einer unbehandelten Psychose, denn um<br />
eine solche handelte es sich, ist Ihnen allen vertraut, aus welchen Gründen auch<br />
immer.<br />
Frau B. wurde irgendwann gegen ihren Willen zu einer Behandlung gebracht,<br />
herausgeholt aus einer völlig verwahrlosten Wohnung, abgemagert, verängstigt, seit<br />
Wochen/ Monate ohne Kontakt- - kurz ein uns vertrautes Bild des Jammers. Als ich<br />
die Wohnung das erste Mal sah, war ich einen Moment mutlos. Nun, mit vielen<br />
vereinten Kräften gelang es, die Wohnung wieder in einen bewohnbaren Zustand zu<br />
versetzen, Frau B. war anfangs noch sehr zurückhaltend, vorsichtig, manchmal noch<br />
ängstlich. Im Laufe der folgenden zwei Jahre besserte sich ihr Zustand zusehends<br />
und es machte Spaß, zu erleben, wie sie immer mehr wieder Gewalt über ihr eigenes<br />
Leben bekam. Sie war auch in regelmäßiger Behandlung einer Psychiaterin und<br />
gleichzeitig auch in Psychotherapie. Mit uns ging es mehr um das Thema Arbeit /<br />
Beziehungen/ Wohnen/ Freizeit.<br />
Irgendwann setzte sie ohne sich mit der Ärztin oder uns abzusprechen ihre<br />
Medikamente ab. Zunächst ging es ihr auch besser ohne Medikamente, aber nach<br />
ziemlich kurzer Zeit setzten massive Halluzinationen ein und ihr Wahnsystem,<br />
welches sie aber noch in irgendeiner Form als nicht real erleben konnte, machte ihr<br />
schwer zu schaffen. Zum Glück hatte sie genügend Vertrauen, um erzählen zu<br />
können, was mit ihr geschieht. Als die Faszination nachließ und die Ängste größer<br />
als die Buntheit des Alltags, ließ sie sich wieder auf eine medikamentöse Behandlung<br />
ein, die sie sehr sorgfältig kontrolliert. Mittlerweile ist sie auch statt zur Klientin zur<br />
Kollegin geworden, sie arbeitet jetzt in einem anderen Fachbereich beim DRK.<br />
Und noch eine andere Geschichte:<br />
Eine von mir vor 25 Jahren begleitete Klientin, der einen oder anderen bekannt aus<br />
meiner Erzählung „Rette mich wer kann“, zu der ich regelmäßigen Kontakt habe so<br />
auf einer Art ehrenamtlicher Basis, ist jetzt stabil gewesen seit bestimmt 15 Jahren.<br />
Hanne lebt sehr zurückgezogen mit einer kleinen Rente mehr oder weniger zufrieden<br />
in ihrer kleinen gepflegten Wohnung. Sie hat auch unter der Medikation immer noch<br />
Stimmen gehört, dies aber ganz gut aushalten können. Irgendwann mal vor einigen<br />
Jahren hat sie ein neues Medikament bekommen, wovon sie sehr begeistert war,<br />
weil es ihr noch mal ein ganz anderes Leben ermöglicht. Die Stimmen waren fast<br />
weg, sie war nicht mehr so müde, sondern konnte tatsächlich auch mal länger als bis<br />
abends 8 Uhr aufbleiben, kurz, sie fühlte sich einfach wieder mehr im Leben<br />
angekommen. Meine uneingeschränkte Bewunderung hatte sie <strong>für</strong> ihren unglaublich
disziplinierten Umgang mit Geld, trotz ihres spärlichen Einkommens (350,-€ zum<br />
Leben) gelang es, immer noch zu sparen. Außerdem hat sie mit ungeheurer Disziplin<br />
bei der Ernährung 30 Kilo abgenommen über einen Zeitraum von 2 Jahren. In den<br />
letzten 15 Jahren hatte es keinen Krankenhausaufenthalt mehr gegeben und ehrlich<br />
gesagt, hielt ich sie auch <strong>für</strong> ziemlich gesund. Mindestens so gesund wie mich.<br />
Im vergangenen Jahr hat sie dann, weil sie sich Gedanken über die Langzeitfolgen<br />
der Medikation machte und feststellte, dass es hierzu ja noch keine Ergebnisse gibt,<br />
die Tabletten weggelassen. Zunächst auch mit dem schönen Ergebnis, dass es ihr<br />
noch besser ging als vorher. Allerdings änderte sich das ziemlich bald und dann<br />
nahm es einen <strong>für</strong> sie dramatischen Verlauf. Da sie es vor Stimmen und den damit<br />
verbundenen Verfolgungsideen in der Wohnung nicht aushielt, lief sie den ganzen<br />
Tag in der Stadt herum und suchte ab und zu ein Cafe auf. Außerdem ging sie<br />
häufiger raus zum essen, einfach weil es ihr gar nicht mehr gelang, ihren Tag anders<br />
zu strukturieren oder das Einkaufen nicht mehr funktionierte. Wie auch immer - mit<br />
einem Einkommen auf Sozialhilfeniveau kann man sich solche Eskapaden nicht<br />
lange leisten ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Und in die geriet sie heftig. Kein<br />
soziales Netz, was sie hätte auffangen können, niemand, der ihr mit Geld aus der<br />
Patsche helfen konnte. Ein paar Mal hab ich ihr Geld gegeben, weil ich (mal wieder)<br />
sie nicht hungern lassen konnte, wurde aber auch immer unwilliger, denn das kannte<br />
ich noch von vor 20 Jahren, wenn sie so psychotisch war, war sie auch aggressiv,<br />
gereizt, unwirsch und das Zusammensein mit ihr war nicht sehr angenehm. Da es<br />
auch nicht mehr mein Job war, fiel es mir zunehmend schwerer und einige male<br />
habe ich den Kontakt beendet, weil ich einfach keine Lust hatte, mich in meiner<br />
Freizeit beschimpfen zu lassen. Das hat sie sehr mitgenommen, es gab auch außer<br />
mir keinen Menschen. Zum Glück hat sie die Behandlung schnell wieder<br />
aufgenommen, aber es dauerte eine Weile, ehe sich ihr Zustand besserte. Angebote<br />
zur stationären Behandlung lehnte sie rigoros ab. Es hat ja auch so funktioniert, aber<br />
die Folgen sind noch nicht beseitigt, denn sie hat einen Kredit aufgenommen, den<br />
sie eigentlich nicht abbezahlen kann. Meine Einwände dagegen hatte sie<br />
weggewischt, sie hatte eine neue Rechenmethode entwickelt. Wäre dieser Prozess<br />
nicht gestoppt worden durch die Behandlung, so wäre sie wohl wohnungslos<br />
geworden, weil sie irgendwann auch die Miete nicht mehr hätte zahlen können.<br />
Zu <strong>1.</strong><br />
Das Problem liegt in der Frühzeitigkeit. Die Krankheit selbst ist es ja häufig, die ein<br />
frühzeitiges Behandeln verhindert durch den sozialen Rückzug und das<br />
Unvermögen, die Symptome als krank zu erkennen und die Ablehnung von<br />
Hilfsangeboten..<br />
Kurze stationäre Behandlung: Bei einigen Menschen ist es mitunter absolut<br />
kontraindiziert, die stationäre Behandlung so kurz zu halten, wie es im Wesentlichen<br />
ja schon aus Kostengründen geschieht. Hierauf drängen die Kassen zwar, aber ich<br />
finde, dass jeder Mensch ein Recht darauf hat, so lange behandelt zu werden, wie es<br />
seine Krankheit erfordert und das können auch schon mal Wochen oder sogar<br />
Monate sein.<br />
Zu 2.<br />
Selbstverständlich ist dies alles, was die tägliche Basisarbeit ausmacht, dringend<br />
notwendig und ohne sie, nämlich ohne Menschen, die mit ausreichend Hoffnung und<br />
Vertrauen in die Selbsthilfekräfte der Menschen diese respektvoll begleiten und wo<br />
nötig unterstützen! Meine Erfahrung ist, dass Reden seine Grenzen hat und<br />
manchmal nützt alles Reden rein gar nix und es geht um Handeln.
Oft ist es so, dass ohne medikamentöse Behandlung auch die beste Begleitung nicht<br />
angenommen werden kann.<br />
Zu 3..<br />
Niemand der seine 5 Sinne beisammen hat, wird bestreiten können, dass die<br />
Medikamente, die helfen sollen, ein beträchtliches Maß an Nebenwirkungen haben.<br />
Also ist es absolut notwendig, dass die verschreibenden Ärzte lernen, ihren<br />
Patienten richtig zuzuhören, sie ernst zu nehmen, sich Zeit zu nehmen und natürlich<br />
auch mit ihnen über Absetz und Reduktionsversuche zu verhandeln- weil ihre<br />
Patienten dies ja sowieso tun.<br />
Allerdings glaube ich auch, dass ein hohes Maß an Entstigmatisierung erreicht wurde<br />
durch die verbesserten Neuroleptika, hier vor allem auch den Atypika.<br />
Bei den Menschen, von denen ich Ihnen erzählt habe, käme niemand auf die Idee,<br />
dass sie psychisch krank seien. Sind sie ja derzeit auch nicht, sondern wieder<br />
gesund.<br />
Früher (vor 20 Jahren) konnte man auf Sommerfesten in der Klinik oder im<br />
Wohnheim deutlich erkennen, wer der Klient ist, das geht heute nicht mehr so<br />
einfach.<br />
Zu 4.<br />
Die erhöhte Mortalitätsrate ist ein Signal zu erhöhter Wachsamkeit und<br />
Aufmerksamkeit und wird sicher noch viele Studien benötigen. Allerdings <strong>bin</strong> ich<br />
auch hier wieder etwas skeptisch – ich kann nicht glauben, dass es sich bei den<br />
untersuchten Personen um Menschen gehandelt hat, die außer ihrer psychiatrischen<br />
Erkrankung und deren Behandlung mit Medikamenten ein gesundes Leben mit<br />
gesunder Ernährung, ausreichend Schlaf, stabilen sozialen Beziehungen, keinem<br />
Drogenkonsum einschließlich Nikotin geführt haben.<br />
Und wegen unserer Erfahrungen, nämlich dass es ein Ergebnis sein kann, dass<br />
Menschen ohne Behandlung alles verlieren, ihre sozialen Bezüge, ihre Arbeit und<br />
letztlich auch ihre Wohnung, ist dies mindestens genauso bedrohlich!<br />
Wohnungslos zu sein ist in aller Regel nicht selbst bestimmt. Niemand unserer<br />
Klienten hat sich mit dem Leben auf der Straße einen lange gehegten Traum<br />
erfüllt – es ist ein Resultat ihrer unbehandelten Erkrankung gewesen!<br />
Die Lebenserwartung eines wohnungslosen Menschen ist um 30 Jahre<br />
verkürzt.<br />
Behauptungen/ Vorschläge /Ideen<br />
Wir benötigen Nischen, Räume, Zeit und Medikamente, die wir nach<br />
Notwendigkeiten und Erfordernissen zur Verfügung stellen können.<br />
Außerdem <strong>bin</strong> ich der Überzeugung, dass die Menschen viel selbstständiger sind, als<br />
es sich bei unseren Überlegungen manchmal anhört. Sie sind nach meinem Erleben<br />
keinesfalls bedauernswerte Opfer der Pharmaindustrie und der üblen Nervenärzte!<br />
Eher müssen die Ärzte ihre Realitätsferne aufgeben: Selten werden Medikamente in<br />
der verordneten Form eingenommen und das gilt auch <strong>für</strong> andere Medikamente als<br />
Neuroleptika.<br />
Viele der Menschen, die ich im Laufe der Jahre bei der Arbeit kennen gelernt habe,<br />
haben mit sehr eigenwilligen Dosierungen experimentiert, sie haben sie nicht nur<br />
nach Gustos abgesetzt, sondern auch schon mal die doppelte oder dreifache Dosis<br />
kom<strong>bin</strong>iert mit anderen Drogen probiert, sie machen keine Gymnastik, rauchen<br />
immer noch und was sonst noch so konsumiert wird – da kann es einem schon mal<br />
schwindelig werden!
Fazit:<br />
<strong>Ich</strong> <strong>bin</strong> heilfroh, dass es bei den Medikamenten eine positive Weiterentwicklung<br />
gegeben hat, vertraue auch darauf, dass dies noch nicht der Weisheit letzter Schluss<br />
ist und <strong>bin</strong> überzeugt davon, dass sie schon vielen Menschen die Möglichkeit<br />
eröffnet haben, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.<br />
.<br />
Eine empathische respektvolle und stützende Begleitung hat nach unseren<br />
Erfahrungen den besten Erfolg, wenn beides zur Verfügung steht – Medikamente<br />
und Beziehung.<br />
<strong>Ich</strong> möchte schließen mit einem Zitat von LAOTSE:<br />
„Verantwortlich ist man nicht nur <strong>für</strong> das, was man tut, sondern auch <strong>für</strong> das, was<br />
man nicht tut.“