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Es war einmal ein tiefer Brunnen - Märchen-Stiftung Walter Kahn

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amstag, 17. Dezember 2011<br />

LEBEN<br />

nd wo ist der Apfel? Das leichtgläubige Schneewittchen ganz ohne Zubehör. FOTO: GETTY IMAGES<br />

<strong>Es</strong> <strong>war</strong><br />

<strong><strong>ein</strong>mal</strong><br />

<strong>ein</strong> <strong>tiefer</strong><br />

<strong>Brunnen</strong><br />

<strong>Märchen</strong><br />

<strong>Es</strong> sind uralte Geschichten voller Wunder.<br />

Sie bringen die Seele zum Klingen.<br />

Ein Blick hinter märchenhafte Kulissen<br />

mit Claudia Maria Pecher<br />

von der <strong>Märchen</strong>-<strong>Stiftung</strong> in Volkach.<br />

...................................................................................<br />

Von unserem Redaktionsmitglied<br />

CHRISTINE JESKE<br />

...................................................................................<br />

Wer kennt den Ausspruch<br />

nicht: „Das ist<br />

ja wie im <strong>Märchen</strong>.“<br />

Mit diesen Worten<br />

werden gerne diejenigen Ereignisse<br />

des Lebens beschrieben, denen <strong>ein</strong><br />

ganz eigener Zauber anhaftet: das<br />

erste Rendezvous ebenso wie die im<br />

Fernsehen übertragene königliche<br />

Hochzeit, aber auch unverhoffte<br />

Glücksmomente oder Situationen,<br />

in denen alles wunderbar glatt gelaufen<br />

ist oder sich etwas, trotz widriger<br />

Umstände, zum Guten wendet.<br />

Oft heißt es auch: „Erzähl mir bloß<br />

k<strong>ein</strong>e <strong>Märchen</strong>“. Dieser Satz hat dagegen<br />

<strong>ein</strong>en eher zwiespältigen Beigeschmack<br />

im Sinne von „Schwindel<br />

mich nicht an“. Diese Redensarten<br />

zeigen, wie tief verwurzelt das aus<br />

längst vergangenen Zeiten überlieferte<br />

Erzählgut im heutigen Alltag<br />

nachwirkt. Und sie zeigen die Bandbreite,<br />

für die <strong>Märchen</strong> stehen: Sie<br />

reicht vom wundersam Schönen bis<br />

zum Ansch<strong>ein</strong>, dass etwas so unglaublich<br />

ist, dass es sogar wahr s<strong>ein</strong><br />

könnte.<br />

„<strong>Märchen</strong> lassen nicht nur Wunderbares<br />

im Alltag zu – sie sind die<br />

Wunder im Alltäglichen“, sagt die<br />

Literaturwissenschaftlerin Claudia<br />

Maria Pecher, Mitglied im Vorstand<br />

der <strong>Märchen</strong>-<strong>Stiftung</strong> <strong>Walter</strong> <strong>Kahn</strong>,<br />

die in Volkach und Frankfurt beheimatet<br />

ist. Typische Elemente sind, so<br />

Pecher, „der reiche Prinz, der <strong>ein</strong><br />

armes Mädchen heiratet, die drei<br />

Wünsche, die schlafende Schöne, die<br />

Erlösung aus <strong>ein</strong>em Zauber“. Diese<br />

wundersamen Dinge werden zugelassen,<br />

ohne sie zu hinterfragen, sagt<br />

Pecher. Und sie faszinieren, bringen<br />

ganz tief in der Seele etwas zum Klingen,<br />

und das trotz ihres immer gleichen<br />

Aufbaus.<br />

<strong>Märchen</strong> der Brüder Grimm „folgen<br />

<strong>ein</strong>er zumeist <strong>ein</strong>fachen Struktur“,<br />

so Pecher: „<strong>Es</strong> zieht jemand aus,<br />

um etwas zu erleben. Er hat Erfolg,<br />

und es endet in <strong>ein</strong>em Happy-End.<br />

Die Figuren sind klar konturiert und<br />

zuzuordnen. Die Welt spaltet sich in<br />

Gut und Böse. Formelhaftigkeit und<br />

Archaisierung prägen ihren urtümlichen<br />

Geist.“<br />

Auch für den Volkskundler und<br />

<strong>Märchen</strong>forscher Hermann Bausinger<br />

liegt die Faszination des <strong>Märchen</strong>s<br />

„in der Spannung zwischen dem klaren,<br />

durchsichtigen und leicht verständlichen<br />

Verlauf der Geschichte<br />

und dem Unerklärten, ja Unerklärlichen,<br />

das die Geschichte abrückt<br />

von der banalen Wirklichkeit“. Wilhelm<br />

Grimm, der mit s<strong>ein</strong>em älteren<br />

Bruder Jacob die mündlich überlieferten<br />

<strong>Märchen</strong>geschichten gesammelt,<br />

Aktiver L<strong>ein</strong>wandheld:<br />

Der gestiefelte Kater<br />

von DreamWorks läuft<br />

derzeit im Kino.<br />

FOTO: CINETEXT<br />

aufgeschrieben und sprachlich geglättet<br />

hat, m<strong>ein</strong>te <strong>ein</strong>st, die Bedeutung<br />

der Geschichten sei längst verloren,<br />

würde aber immer noch empfunden<br />

und zugleich die natürliche Lust<br />

am Wunderbaren befriedigen. So ist<br />

es auch bei den Lesern und Zuhörern<br />

von heute.<br />

Kinder brauchen laut Claudia Maria<br />

Pecher <strong>Märchen</strong>, weil diese <strong>ein</strong><br />

Gefühl für literarische Strukturen<br />

und Poesie im Kl<strong>ein</strong>en vermitteln<br />

würden. „Sie beflügeln die Fantasie<br />

und regen zur Interpretation an –<br />

und sie verbinden Generationen.“<br />

Wer erinnert sich nicht gerne an<br />

s<strong>ein</strong>e Kinderzeit, in der <strong>ein</strong>e <strong>war</strong>me<br />

Stimme mal leise flüsternd oder aufgeregt<br />

und schnell von Hänsel und<br />

Gretel, Schneewittchen, Aschenputtel,<br />

Frau Holle oder dem Froschkönig<br />

erzählt hat. Wer hat nicht<br />

mitgefiebert, wann die böse Stiefmutter<br />

endlich bestraft wird, ängstlich<br />

gelauscht, was die im Wald ausgesetzten<br />

Kinder erleben oder staunend<br />

vernommen, wie Rotkäppchen<br />

und ihre Großmutter lebendig aus<br />

dem aufgeschnittenen Bauch des<br />

Wolfes herausfallen. Die Kinder- und<br />

Hausmärchen der Grimms gehören<br />

noch heute zu den Geschichten, die<br />

Kinder mit am liebsten hören, weil<br />

sie voller schauerlicher und wunderschöner<br />

Motive sind. Übernatürliches<br />

ist in Kinderohren ganz selbstverständlich<br />

normale Wirklichkeit.<br />

Auch <strong>Walter</strong> <strong>Kahn</strong>, auf dessen Initiative<br />

hin die <strong>Märchen</strong>-<strong>Stiftung</strong><br />

entstanden ist, <strong>war</strong> als Kind von den<br />

Erzählungen fasziniert, die so alt<br />

sind, dass unbekannt ist, wer sie sich<br />

<strong>ein</strong>st ausgedacht hat. K<strong>ein</strong> Wunder,<br />

dass Claudia Maria Pecher s<strong>ein</strong>e Lebensgeschichte<br />

so erzählt: „<strong>Es</strong> <strong>war</strong><br />

<strong><strong>ein</strong>mal</strong> <strong>ein</strong> Schuhmachermeister, der<br />

hatte acht Kinder. Das siebte aber,<br />

<strong>ein</strong> Knabe, <strong>war</strong> von besonderer Art:<br />

<strong>Es</strong> hatte s<strong>ein</strong> größtes Vergnügen daran,<br />

bei dem Vater auf der Schusterpritsche<br />

zu sitzen und s<strong>ein</strong>en <strong>Märchen</strong><br />

von Feen und Wichtelmännern<br />

des Harzwaldes zu lauschen.<br />

Auf diese Weise kam der Junge an<br />

<strong>ein</strong> unverlierbares und wunderträch-<br />

<strong>Märchen</strong>-<strong>Stiftung</strong> <strong>Walter</strong> <strong>Kahn</strong><br />

Vor über 26 Jahren, am 5. Juli 1985,<br />

genehmigte die Bezirksregierung<br />

Braunschweig die <strong>Märchen</strong>-<strong>Stiftung</strong><br />

<strong>Walter</strong> <strong>Kahn</strong> als gem<strong>ein</strong>nützige <strong>Stiftung</strong><br />

bürgerlichen Rechts. Seit 2002<br />

hat sie ihre Geschäftsstelle in Volkach,<br />

die Koordinierungsstelle befindet sich<br />

in Frankfurt. Die <strong>Stiftung</strong> fördert laut<br />

Vorstandsmitglied Claudia Maria<br />

Pecher vor allem die Pflege und Erforschung<br />

des europäischen <strong>Märchen</strong>und<br />

Sagengutes. Zu diesem Zweck<br />

unterstützt sie ideell und finanziell Veranstaltungen<br />

zu <strong>Märchen</strong> und Sagen<br />

in gem<strong>ein</strong>nützigen Einrichtungen von<br />

der Kindertagesstätte bis zum Altersheim.<br />

Außerdem werden Ringvorlesungen,<br />

Seminare und Projekte an Universitäten<br />

gefördert, die sich nicht nur<br />

tiges väterliches Erbe: die Liebe zu<br />

den <strong>Märchen</strong>.“ Diese Liebe führte<br />

Jahre später in Braunschweig zur<br />

Geburt der <strong>Märchen</strong>-<strong>Stiftung</strong>. Heute<br />

ist sie in Volkach und Frankfurt<br />

beheimatet.<br />

<strong>Walter</strong> <strong>Kahn</strong> hat als Soldat im<br />

Bunker sogar selbst <strong>Märchen</strong> geschrieben,<br />

„die ihn über die Kriegszeit<br />

tragen sollten“, so Pecher. Der erfolgreiche<br />

Geschäftsmann – er gründete<br />

in der Nachkriegszeit die Firma<br />

Scharnow-Reisen und <strong>war</strong> Mitinitiator<br />

des Studienkreises für Tourismus<br />

sowie der Touristik Union International<br />

(TUI) – vergaß die <strong>Märchen</strong><br />

s<strong>ein</strong>er Kindheit nie. „Als in den 60er<br />

Jahren von politischen Ultraideologen<br />

und Pädagogen über die Volks-<br />

........................<br />

„Heute wird Rotkäppchen<br />

von <strong>ein</strong>em Produzenten<br />

verführt, der ihr goldene<br />

Platten verspricht.“<br />

Claudia Maria Pecher<br />

von der <strong>Märchen</strong>-<strong>Stiftung</strong><br />

........................<br />

märchen hergefallen wurde, ist in<br />

mir der Gedanke geboren worden,<br />

wenn m<strong>ein</strong>e finanziellen Mittel es<br />

<strong><strong>ein</strong>mal</strong> erlauben sollten, <strong>ein</strong>e <strong>Märchen</strong>-<strong>Stiftung</strong><br />

zu gründen“, sagte er.<br />

<strong>Kahn</strong> protestierte laut Pecher gegen<br />

die Verfälschung und Entwertung<br />

überlieferter Volkspoesie.<br />

<strong>Märchen</strong> sind jedoch nicht nur<br />

für Kinderohren interessant. Sie verlieren<br />

– auch wenn man längst erwachsen<br />

geworden ist –, nichts von<br />

ihrer Anziehungskraft. „<strong>Märchen</strong><br />

verfügen über mehrere Lesarten und<br />

sind darum in unterschiedlichen Altersstufen<br />

lesbar“, m<strong>ein</strong>t Claudia<br />

Maria Pecher. „Sie ermöglichen bei<br />

vielen Erwachsenen und vor allem<br />

im Alter <strong>ein</strong>en Zirkelschluss im Leben.<br />

Und sie geben vielen Menschen<br />

Lebenshilfe.“<br />

in Bezug auf Volkskunde, Pädagogik<br />

und Didaktik, sondern auch im Hinblick<br />

auf die Psychotherapie, Theologie, Soziologie,<br />

Literaturwissenschaft, Philosophie<br />

und Kunstwissenschaft mit dem<br />

Thema Volksmärchen und -sagen aus<strong>ein</strong>andersetzen.<br />

Zudem publiziert die<br />

<strong>Stiftung</strong> <strong>ein</strong>e Zeitschrift, den „<strong>Märchen</strong>spiegel“,<br />

sowie <strong>ein</strong>e Schriftenreihe,<br />

in der Beiträge aus Vorlesungen<br />

veröffentlicht werden. Neben Claudia<br />

Maria Pecher gehören Roland <strong>Kahn</strong><br />

(als Vorsitzender) sowie Prof. Dr. Kurt<br />

Franz zum Vorstand der <strong>Stiftung</strong>.<br />

Pecher und Franz sind zugleich im<br />

Präsidium der Volkacher Akademie für<br />

Kinder- und Jugendliteratur.<br />

Information im Internet:<br />

www.maerchen-stiftung.de<br />

<strong>Märchen</strong>forscher suchen vor allem<br />

nach den historischen Ursprüngen,<br />

Bedeutungen und Veränderungen im<br />

Lauf der Zeit. Wer sich näher mit<br />

dieser Form der Volkspoesie beschäftigt,<br />

der erfährt zum Beispiel, dass<br />

das <strong>Märchen</strong> vom Rotkäppchen aus<br />

Frankreich kommt, erstmals Ende des<br />

17. Jahrhunderts von Charles Perrault<br />

unter dem Titel „Le Petit Chaperon<br />

rouge“ (Die Kl<strong>ein</strong>e mit dem roten<br />

Käppchen) in s<strong>ein</strong>en „Histoires ou<br />

contes du temps passé avec des moralités“,<br />

den Geschichten und <strong>Märchen</strong><br />

aus vergangenen Zeiten mit moralischen<br />

Anmerkungen, veröffentlicht<br />

wurde. Die Erzählung <strong>war</strong> am königlichen<br />

Hof in Frankreich zur Unterhaltung<br />

und Belehrung heranwachsender<br />

Mädchen gedacht. Denn die<br />

Moral von der Geschichte lautete,<br />

sich vor aufdringlichen Verführern zu<br />

hüten. Der Wolf, zu dem sich das<br />

Mädchen ins Bett legte, <strong>war</strong> in den<br />

Augen der damaligen Zeitgenossen<br />

nichts anderes. Zwei Jahrhunderte<br />

später, bei den Brüdern Grimm, seien<br />

die erotischen Züge nicht mehr tragbar<br />

gewesen, erzählt Pecher. „Und<br />

heute ist das Rotkäppchen <strong>ein</strong>e junge<br />

Frau, das von <strong>ein</strong>em Produzenten verführt<br />

wird, der ihr goldene Platten<br />

verspricht – zumindest im Fernsehen,<br />

in der ProSieben-<strong>Märchen</strong>stunde.“<br />

Jede Generation hat also ihre Modifizierungen.<br />

Die Grimms haben es<br />

so beschrieben: <strong>Märchen</strong> seien wie<br />

<strong>ein</strong> <strong>Brunnen</strong>, dessen Tiefe man nicht<br />

kennen würde, aus dem aber jeder<br />

nach s<strong>ein</strong>em Bedürfnis schöpft. Ein<br />

anderes schönes Bild der Grimms beschreibt<br />

<strong>Märchen</strong> als Edelst<strong>ein</strong>e, die<br />

<strong>ein</strong>st zersprungen sind und deren<br />

bunte Splitter heute noch aufgefunden<br />

werden könnten. Dies gilt seit<br />

199 Jahren.<br />

Am 20. Dezember 1812 haben die<br />

Brüder den ersten Band mit den von<br />

ihnen vor allem in Hessen und in der<br />

Main- und Kinziggegend gesammelten<br />

Kinder- und Hausmärchen veröffentlicht.<br />

Deshalb fangen die Veranstaltungen<br />

des Grimm-Jubiläumsjahres<br />

2013 bereits im nächsten Jahr,<br />

Ende 2012 an.<br />

Gewinnen Sie <strong>ein</strong><br />

<strong>Märchen</strong>buch<br />

Die <strong>Märchen</strong>-<strong>Stiftung</strong> <strong>Walter</strong> <strong>Kahn</strong><br />

hat drei <strong>Märchen</strong>bücher zur Verlosung<br />

zur Verfügung gestellt: „Hänsel<br />

& Gretel“ wurde von Sybille Schenker<br />

in außergewöhnlicher Weise in<br />

Bilder umgesetzt. Dafür erhielt sie in<br />

Volkach den Sonderpreis <strong>Märchen</strong>bilderbuch<br />

2011. Wer <strong>ein</strong>es dieser<br />

bei der Michael Neugebauer Edition<br />

erschienenen Bücher gewinnen<br />

möchte, schreibt <strong>ein</strong>e E-Mail oder<br />

<strong>ein</strong>e Postkarte mit dem Stichwort<br />

„<strong>Märchen</strong>“ an red.franken@mainpost.de<br />

bzw. an die Main-Post, Redaktion<br />

Franken, Berner Straße 2,<br />

97084 Würzburg. Einsendeschluss<br />

(Post<strong>ein</strong>gang) ist der 21. Dezember.


amstag, 17. Dezember 2011<br />

LEBEN<br />

lte Geschichten modern inszeniert: So sieht Fotograf Daniel Peter den Froschkönig, Dornröschen und Rotkäppchen. FOTOS: DANIEL PETER; AUTORENKÖPFE: WEIGERT, OBERMEIER, PETER, MÄRCHENSTIFTUNG, HERINGLEHNER<br />

„Der Eisenhans“<br />

Goldene Haare für <strong>ein</strong>en<br />

gedemütigten Jungen<br />

ch m<strong>ein</strong>e, dass<br />

<strong>Märchen</strong> auch<br />

n unserer Zeit<br />

icht nur <strong>ein</strong>e Beechtigung<br />

haben,<br />

ondern durch<br />

hre Symbolkraft,<br />

urch ihre verorgenenBotchaften<br />

Hoffnung geben, sogar<br />

eilen können. Das Lieblingsmärhen<br />

m<strong>ein</strong>er Kindheit, ich muss<br />

igentlich sagen m<strong>ein</strong>er Jugend, <strong>war</strong><br />

Der Eisenhans“ von den Brüdern<br />

rimm. Ich las es oft, auch als ich<br />

as „<strong>Märchen</strong>alter“ schon lange<br />

inter mir hatte. Erst als Erwachseer<br />

wurde mir bewusst, weshalb mir<br />

usgerechnet dieses <strong>Märchen</strong> so viel<br />

edeutete. <strong>Es</strong> gab <strong>ein</strong>en harten<br />

ruch in m<strong>ein</strong>er Kindheit. Ich hatte<br />

ehn Jahre auf dem Land gelebt,<br />

atte viele Freunde, fühlte mich<br />

ohl. Dann kam m<strong>ein</strong> Vater aus der<br />

riegsgefangenschaft zurück, wir<br />

ogen in die Stadt, und ich fühlte<br />

ich fremd und unglücklich. In der<br />

chule wurde ich wegen m<strong>ein</strong>es<br />

örflichen Dialekts verspottet, heue<br />

würde man sagen gemobbt. Ich<br />

hasste die Schule, versank in Passivität,<br />

musste <strong>ein</strong>e Klasse wiederholen.<br />

Das veranlasste m<strong>ein</strong>en Vater zu der<br />

oft wiederholten Prophezeiung, aus<br />

mir würde höchstens mal <strong>ein</strong> Straßenkehrer<br />

werden. Heute weiß ich,<br />

weshalb mir die unausgesprochene<br />

Botschaft des <strong>Märchen</strong>s „Der Eisenhans“<br />

so wichtig <strong>war</strong>. Der Held der<br />

Geschichte ist <strong>ein</strong> gedemütigter<br />

Junge, der erst als Küchenjunge<br />

scheitert und dann <strong>ein</strong>fache Gartenarbeiten<br />

erledigen muss. Was<br />

k<strong>ein</strong>er weiß: Durch s<strong>ein</strong>e Begegnung<br />

mit dem Eisenhans hat er goldene<br />

Haare bekommen, die er sorgsam<br />

durch <strong>ein</strong> Hütchen verdeckt. An<br />

<strong>ein</strong>em heißen Nachmittag nimmt<br />

er im Garten s<strong>ein</strong> Hütchen ab, die<br />

Königstochter blickt aus dem Fenster<br />

und ruft: „Der hat ja goldene<br />

Haare!“ Tief im Innern wusste ich:<br />

Eines Tages werde auch ich m<strong>ein</strong><br />

Hütchen abnehmen, und alle, die<br />

über mich gespottet hatten, werden<br />

verblüfft rufen: „Der hat ja goldene<br />

Haare!“<br />

Paul Maar, gebürtiger Schw<strong>ein</strong>furter,<br />

ist Erfolgsautor von Kinderbüchern.<br />

„Vom Fischer . . .“<br />

Refrain mit <strong>tiefer</strong><br />

Bassstimme<br />

Ich hatte <strong>ein</strong>en<br />

Vater, der wunderbar<br />

<strong>Märchen</strong><br />

erzählen konnte.<br />

Sie folgten nur bedingt<br />

der Vorlage.<br />

Da gab es <strong>ein</strong><br />

<strong>Märchen</strong>, das <strong>war</strong><br />

fast schon Ritual:<br />

„Vom Fischer und s<strong>ein</strong>er Frau“ von<br />

den Brüdern Grimm. Dabei sang der<br />

Vater immer den Refrain „Manntje,<br />

manntje Timpe Te, Buttje, Buttje in<br />

der See, mine Frau, de Ilsebill, will<br />

nich so, as ik wol will“ jedes Mal,<br />

wenn der Fischer den Buttje rief.<br />

Das alles mit ganz <strong>tiefer</strong> Bassstimme.<br />

Das <strong>war</strong> <strong>ein</strong> echter Zuhörgenuss,<br />

und ich <strong>war</strong> jedes Mal nach<br />

dem <strong>Märchen</strong> damit zufrieden, dass<br />

ich eben k<strong>ein</strong>e Prinzessin, sondern<br />

nur <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>faches Kind <strong>war</strong>. Bis<br />

heute liebe ich diese Erzählung, weil<br />

darin die Vergänglichkeit von<br />

Reichtum und Besitz deutlich wird<br />

und alle eigenen Begehrlichkeiten<br />

relativiert. M<strong>ein</strong> Vater, Jahrgang<br />

1911, zielte mit dieser Erzählung bestimmt<br />

auf diesen Effekt ab, <strong>war</strong><br />

ihm doch durch alle erlebten Zeitwirren<br />

und den Zweiten Weltkrieg<br />

die Vergänglichkeit des Materiellen<br />

sehr bewusst.<br />

Claudia Lichte ist Direktorin des Mainfränkischen<br />

Museums in Würzburg (Festung<br />

Marienberg).<br />

„Die drei Sprachen“<br />

Wo Probleme<br />

laut bellen<br />

M<strong>ein</strong> Lieblingsmärchen<br />

ist das <strong>Märchen</strong><br />

„Die drei<br />

Sprachen“ aus<br />

Grimms <strong>Märchen</strong>.<br />

<strong>Es</strong> beschreibt den<br />

Entwicklungsweg<br />

<strong>ein</strong>es Menschen.<br />

Besonders imponiert hat mir die<br />

Sprache der bellenden Hunde, die<br />

der junge Mann lernt. Er kommt in<br />

<strong>ein</strong>e Burg, in der wilde, bellende<br />

Hunde hausen, die schon manchen<br />

verschlungen haben. Aber da er die<br />

Sprache kann, redet er freundlich<br />

mit ihnen. Und sie verraten, dass sie<br />

nur deshalb so wild bellen, weil sie<br />

<strong>ein</strong>en Schatz hüten. Sie helfen dem<br />

jungen Mann, den Schatz auszugraben.<br />

Und dann verschwinden sie.<br />

Das ist für mich <strong>ein</strong> schönes Bild:<br />

Dort, wo m<strong>ein</strong>e Probleme am lautesten<br />

bellen, dort liegt auch der<br />

Schatz, dort könnte ich auch in Berührung<br />

kommen mit m<strong>ein</strong>em<br />

wahren Wesen.<br />

Anselm Grün ist Benediktinerpater,<br />

Cellerar der Abtei Münstersch<strong>war</strong>zach<br />

und Autor spiritueller Bücher.<br />

Rotkäppchen & Co.<br />

Aschenputtel<br />

an der Uni<br />

Ich habe viele<br />

Lieblingsmärchen.<br />

Neben<br />

„Rotkäppchen“<br />

wären da auch<br />

noch „Der Froschkönig“,<br />

„Der Teufel<br />

mit den drei<br />

goldenen Haaren“,<br />

„Marienkind“, „Jorinde und<br />

Joringel“, „Die Sterntaler“ und – für<br />

fast alle Frauen unverzichtbar –<br />

„Aschenputtel“. Interessant ist, dass<br />

all die modernen Studentinnen<br />

m<strong>ein</strong>er Kurse am Institut für Jugendbuchforschung<br />

an der Johann<br />

Wolfgang Goethe Universität Frankfurt<br />

dieses <strong>Märchen</strong> favorisieren, vor<br />

allem in der TV-Version „Drei Nüsse<br />

für Aschenbrödel“, die pünktlich zu<br />

Weihnachten über die Fernsehbildschirme<br />

flimmert.<br />

Claudia Maria Pecher ist Vorstandsmitglied<br />

der <strong>Märchen</strong>-<strong>Stiftung</strong> <strong>Walter</strong><br />

<strong>Kahn</strong>.<br />

„Ayana Rabentochter“<br />

Vom Weggeben<br />

und Bekommen<br />

M<strong>ein</strong> Lieblingsmärchen<br />

ist derzeit<br />

naturgemäß „AyanaRabenschwester.<br />

Vom Mädchen,<br />

das mit<br />

<strong>ein</strong>em Hahn auszog,<br />

s<strong>ein</strong>e Brüder<br />

zu retten“ – das diesjährige Weihnachtsstück<br />

für Kinder. S<strong>ein</strong>e Botschaft<br />

lautet: „Je mehr du von dir<br />

weggibst, desto mehr wird du bekommen“.<br />

Die Geschichte hat ihre<br />

Wurzeln in Afrika und Deutschland.<br />

Grundlage des Theaterstücks,<br />

das ich zusammen mit Mona Becker<br />

geschrieben habe, sind drei westafrikanische<br />

und <strong>ein</strong> <strong>Märchen</strong> der<br />

Brüder Grimm. Bei ihnen hieß es<br />

zunächst „Die drei Raben“, später<br />

„Die sieben Raben“. Bei unseren<br />

Recherchen für das Kinderstück<br />

haben wir etliche Gem<strong>ein</strong>samkeiten<br />

zwischen afrikanischen und den<br />

klassischen Grimm’schen Kinderund<br />

Hausmärchen entdeckt; so ist<br />

oftmals die Symbolik ähnlich. Und<br />

immer wieder geht es um jemanden,<br />

der <strong>ein</strong>e Reise unternimmt –<br />

wie Ayana – und wieder zurückkommt.<br />

Bernhard Stengele ist Schauspieldirektor<br />

des Mainfranken Theaters Würzburg.<br />

So sehen Illustratoren die <strong>Märchen</strong>: Hänsel und Gretel, Der Froschköng oder der eiserne H<strong>ein</strong>rich. Rechts: Achenputtel aus „Die schönsten <strong>Märchen</strong> der Brüder Grimm“. A BBILDUNGEN : K L AUs EN sI K At / t ULIpA N ( 2 ) , A N A s tA ssIjA A rchIpowA E ssL INGEr V ErL AG j.F. schrEIBEr GmBh

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