polen und wir - 3-2008.qxp - Deutsch-Polnische Gesellschaft der ...
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TAGUNG<br />
Nationalaufständen des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
for<strong>der</strong>t auch PPN die Einheit <strong>der</strong><br />
Nation über alle trennenden politischen<br />
<strong>und</strong> gesellschaftlichen Unterschiede hinweg.<br />
In einleitenden Prinzipien zur Programmerklärung<br />
von PPN stellt man sich<br />
in die demokratischen Traditionen von<br />
Polens Adelsrepublik seit dem 16. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
<strong>und</strong> formuliert einige Prinzipien <strong>und</strong><br />
Ziele. Zu diesen gehören das Recht auf<br />
nationale Selbstbestimmung, die Gleichheit<br />
<strong>der</strong> Bürger vor dem Recht, die Ablehnung<br />
<strong>der</strong> Diskriminierung <strong>der</strong> katholischen<br />
Mehrheit <strong>der</strong> Bevölkerung, die ständige<br />
Vergrößerung <strong>der</strong> Bürgerfreiheiten <strong>und</strong> die<br />
Zugehörigkeit zur westlichen Zivilisation.<br />
Die Ziele von PPN leiten sich daraus ab<br />
<strong>und</strong> lassen sich auf die Wie<strong>der</strong>gewinnung<br />
einer <strong>wir</strong>klichen Souveränität, die Einführung<br />
einer Mehrparteiendemokratie in<br />
Polen, die Garantie von Menschen- <strong>und</strong><br />
Bürgerrechte sowie die Öffnung zur Welt<br />
zusammenfassen. (...) Im Bereich <strong>der</strong><br />
Außenpolitik <strong>wir</strong>d die Unabhängigkeit von<br />
<strong>der</strong> Sowjetunion betont <strong>und</strong> auch die Jahrh<strong>und</strong>erte<br />
lange Gemeinschaft mit Litauern,<br />
Weißrussen <strong>und</strong> Ukrainern hervorgehoben.“<br />
KOR [Komitet Obrony Robotników -<br />
Komitee zur Verteidigung <strong>der</strong> Arbeiter]<br />
setzte sich für die Wahrung <strong>der</strong> Menschen<strong>und</strong><br />
Bürgerrechte, das freie Vereinigungsrecht<br />
<strong>und</strong> somit für die Gründung freier<br />
Gewerkschaften ein. „An<strong>der</strong>s als PPN, die<br />
auf eine geheime Tätigkeit ausgerichtet<br />
war, strebten KOR <strong>und</strong> auch seine organisatorische<br />
Fortentwicklung KSS-KOR<br />
[Komitet Samoobrony Spo³ecznej-Komitet<br />
Obrony Robotników - Komitee <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Selbstverteidigung - Komitee<br />
zur Verteidigung <strong>der</strong> Arbeiter] nach Öffentlichkeit.“<br />
Bereits vor dem August 1980 bestanden<br />
Elemente einer Bürgergesellschaft, d.h.<br />
Vereinigungen, Organisationen <strong>und</strong> Menschen,<br />
die sich gegen staatliche Übergriffe<br />
wehrten <strong>und</strong> sich für gesellschaftlichen<br />
Freiraum einsetzten. Die Gründung <strong>der</strong><br />
SolidarnoϾ ist aus Sicht <strong>der</strong> Organisationen<br />
eine Fortsetzung, aus Sicht <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong><br />
<strong>wir</strong>d sie als Durchbruch zu einer<br />
unabhängigen Bürgergesellschaft gesehen,<br />
die in <strong>der</strong> Gewerkschaft SolidarnoϾ eine<br />
freie Interessenvertretung erhielt.<br />
Zur Vorgeschichte <strong>der</strong> Solidarnoœæ gehört<br />
die Gründung freier Gewerkschaften in<br />
Danzig <strong>und</strong> Kattowitz 1978. In <strong>der</strong> Begründung<br />
für diesen Schritt hieß es, dass in <strong>der</strong><br />
Staats<strong>wir</strong>tschaft <strong>der</strong> Arbeitgeber zu stark<br />
sei, was ein Ungleichgewicht zwischen<br />
Arbeitnehmer <strong>und</strong> Arbeitgeber zur Folge<br />
hatte. „Den ideologischen Ansprüchen, als<br />
Volksdemokratie beson<strong>der</strong>s die Rechte <strong>der</strong><br />
Arbeiter zu vertreten, <strong>wir</strong>d hier eine klare<br />
Absage erteilt. Indem sich die Gründungs-<br />
24 POLEN <strong>und</strong> <strong>wir</strong> 3/2008<br />
mitglie<strong>der</strong> dieser Initiative auf die Konvention<br />
Nr. 87 <strong>der</strong> Internationalen Organisation<br />
für Arbeit beriefen, for<strong>der</strong>ten sie das<br />
Recht auf unabhängige Vertretungen für<br />
Arbeitnehmer <strong>und</strong> Arbeitgeber, frei von<br />
staatlicher Einmischung, wobei sie<br />
zugleich klarstellten, dass sie keine politischen<br />
Ziele hegten <strong>und</strong> auch nicht die<br />
Machtübernahme im Lande planten .“<br />
Es gab noch zahlreiche an<strong>der</strong>e unabhängige<br />
Gruppierungen <strong>und</strong> Vereinigungen, die<br />
Ende <strong>der</strong> Siebziger Jahre nicht nur die Einhaltung<br />
<strong>der</strong> Bürgerrechte for<strong>der</strong>ten, son<strong>der</strong>n<br />
auch für eine neue <strong>Gesellschaft</strong>sordnung<br />
<strong>und</strong> für ein Anknüpfen an eigene<br />
politische Traditionen kämpfte.<br />
In den Handlungsrichtlinien werden die<br />
Traditionen <strong>der</strong> Nation, die Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> Demokratie <strong>und</strong> <strong>der</strong> sozialistische<br />
Sozialgedanke sowie die christliche<br />
Ethik benannt <strong>und</strong> damit die Prinzipien<br />
sozialer Gerechtigkeit verteidigt.<br />
Bei <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> Gruppierungen<br />
bestand trotz <strong>der</strong> programmatischen Unterschiede<br />
Einigkeit darüber, dass sich das<br />
System in Richtung einer Demokratie entwickeln<br />
sollte, hinsichtlich <strong>der</strong> einzusetzenden<br />
Mittel bestand keine Übereinstimmung.<br />
Aspekte <strong>und</strong> Aus<strong>wir</strong>kungen des<br />
Wandels von 1989<br />
Obwohl die Zivilgesellschaft durch die<br />
Schaffung neuer institutioneller Rahmen<br />
nach 1989 eine enorme Stärkung erfuhr,<br />
wurde sie durch eine Abwan<strong>der</strong>ung einiger<br />
Führungseliten wie<strong>der</strong>um geschwächt, da<br />
einige Vertreter nun in die Politik wechselten.<br />
Das hatte zur Folge, dass sich bei Teilen<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung ein Misstrauen gegen<br />
den Staat zeigte. Korruptionsaffären, negative<br />
Transformationserfahrungen <strong>und</strong> enttäuschte<br />
Erwartungen bestätigten nur noch<br />
die neue Sichtweise. Schließlich erlebte die<br />
polnische <strong>Gesellschaft</strong> gleich eine dreifache<br />
Entzauberung im Vergleich zur Vorwendezeit:<br />
- Der Zerfall des SolidarnoϾ-Lagers 1990<br />
stellte einen Bruch des ethischen Codes <strong>der</strong><br />
Vorwendezeit dar. Es fand eine gewisse<br />
Säkularisierung statt, da nun die Moral<br />
durch das politische Kalkül ersetzt wurde.<br />
- Nach 1989 offenbarten sich sehr schnell<br />
enorme ökonomische Unterschiede <strong>und</strong><br />
das Ausmaß dieses Phänomens stellte für<br />
viele einen Schock dar.<br />
- Im Kontext <strong>der</strong> von Leszek Balcerowicz<br />
initiierten Reformen kam es noch zu einer<br />
dritten Entzauberung, <strong>und</strong> zwar zum Verdrängen<br />
<strong>der</strong> ökonomischen Ideen <strong>und</strong> Konzepte<br />
<strong>der</strong> Vorwendezeit. Bereits vor 1989<br />
hatten sich Vertreter von SolidarnoϾ von<br />
den Vorstellungen <strong>der</strong> Arbeiterselbstver-<br />
waltung in <strong>der</strong> Wirtschaft verabschiedet<br />
<strong>und</strong> nach 1989 wurde die Idee einer sich<br />
selbst verwaltenden Republik ohne große<br />
Proteste von Seiten <strong>der</strong> Arbeiter sehr<br />
schnell beerdigt. Stattdessen begann nun<br />
im Rahmen <strong>der</strong> Privatisierung <strong>der</strong> Kampf<br />
um die genaue Ausführung eines Volkskapitalismus.<br />
Auch die SolidarnoϾ sprach<br />
sich in diesem Zusammenhang für eine<br />
breite Privatisierung aus, für eine Gewerkschaft<br />
wohl ein einmaliger Vorgang.<br />
Das Erbe <strong>der</strong> SolidarnoϾ<br />
Heutige Umfragen bestätigen die weitestgehende<br />
Akzeptanz <strong>der</strong> Transformation<br />
<strong>und</strong> die Zufriedenheit. Dennoch werden die<br />
SolidarnoϾ <strong>und</strong> <strong>der</strong> R<strong>und</strong>e Tisch heute<br />
eher als Nie<strong>der</strong>lage gesehen.<br />
„Es muss damit abschließend festgehalten<br />
werden, dass beide große Ideen <strong>der</strong> Solidarnoœæ<br />
<strong>und</strong> damit <strong>der</strong> polnischen Zivilgesellschaft<br />
nach 1989 nicht umgesetzt wurden.<br />
Gab es dazu jedoch Alternativen? Die<br />
Ausdifferenzierung des SolidarnoϾ-<br />
Lagers erfolgte nicht erst 1989/90, son<strong>der</strong>n<br />
nahm bereits in den Achtziger Jahren<br />
Gestalt an, sodass es zur Auflösung <strong>der</strong><br />
Ethikgemeinschaft auf dem direkten Feld<br />
<strong>der</strong> Politik wohl keine Alternative gab.<br />
Dies gilt zweifellos nicht für die „wilde“<br />
Privatisierung <strong>und</strong> ihre Begleiterscheinungen,<br />
für Klientelismus, Korruption <strong>und</strong><br />
Verfall <strong>der</strong> Staatsautoritäten in den letzten<br />
Jahren. Eine konsequentere Umsetzung des<br />
zweiten Prinzips, <strong>der</strong> sich selbst verwaltenden<br />
Republik, mit stärkerer Bürgerbeteiligung<br />
bei Privatisierungsprozessen, Verwaltungsreformen<br />
o<strong>der</strong> Aufarbeitung <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
- alles Dinge, die im Bereich<br />
des Möglichen gelegen haben - hätte<br />
womöglich auch die Enttäuschungen über<br />
den Verlust <strong>der</strong> Ethikgemeinschaft gemil<strong>der</strong>t.<br />
Paradox ist, dass heute auch in westlichen<br />
Demokratien über normative Gr<strong>und</strong>lagen<br />
von Demokratie <strong>und</strong> über deliberative<br />
Prozesse als Ausweg aus <strong>der</strong> Legitimationskrise<br />
liberaler Demokratien diskutiert<br />
<strong>wir</strong>d. Wäre Polen stärker seinen eigenen<br />
Traditionen treu geblieben, würde es heute<br />
womöglich nicht diesen Prozessen hinterherlaufen,<br />
son<strong>der</strong>n sie mit prägen.<br />
Der Blick auf die Entwicklung <strong>der</strong> polnischen<br />
Zivilgesellschaft hat m.E. aber auch<br />
erste positive Verän<strong>der</strong>ungen in den letzen<br />
Jahren gezeigt, sodass ich verhalten optimistisch<br />
schließen möchte.“ <br />
(Auszüge aus dem Vortrag von Dr. Stefan<br />
Garsztecki, Universität Bremen)<br />
Die Vorträge wurden auf <strong>der</strong> Tagung<br />
„Polen an <strong>der</strong> Schwelle zur Fünften Republik?“<br />
<strong>der</strong> <strong>Deutsch</strong>-<strong>Polnische</strong>n <strong>Gesellschaft</strong><br />
<strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutsch</strong>land<br />
e.V. am 12. April 2008 in Berlin gehalten