Führung und Verantwortung in der ... - Prager Dreifuss
Führung und Verantwortung in der ... - Prager Dreifuss
Führung und Verantwortung in der ... - Prager Dreifuss
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Son<strong>der</strong>druck aus:<br />
Thierry Luterbacher (Hrsg.)<br />
Verantwortlichkeits-, Zivilprozess- <strong>und</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
(Band 1 «Versicherung <strong>in</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> Praxis»)<br />
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
Aktuelle Fragen <strong>und</strong> Perspektiven für die Mitglie<strong>der</strong><br />
des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung<br />
Dike Verlag Zürich/St. Gallen 2012
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
Aktuelle Fragen <strong>und</strong> Perspektiven für die Mitglie<strong>der</strong><br />
des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung<br />
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger 1<br />
Inhaltsübersicht<br />
I. E<strong>in</strong>führung 4<br />
II. Klagelegitimation im Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft 5<br />
III. Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule 7<br />
IV. Haftungsbeschränkende Delegation 10<br />
V. Haftung <strong>der</strong> Muttergesellschaft im Konzern –<br />
e<strong>in</strong>e Verteidigungsstrategie <strong>der</strong> Organpersonen? 11<br />
VI. Gr<strong>und</strong>strukturen <strong>der</strong> Aktiengesellschaft <strong>und</strong> aktienrechtliche Verantwortlichkeit 13<br />
VII. Vergütung 15<br />
A. Kompetenzfragen 15<br />
B. «Golden Hellos», «marktübliche» Entschädigung <strong>und</strong><br />
Sorgfaltspflicht <strong>der</strong> Entscheidungsträger 16<br />
C. Konkretes zur Höhe <strong>der</strong> Vergütung an Organpersonen 19<br />
D. Abgangsentschädigungen 20<br />
E. Rückerstattung von Vergütungen 21<br />
F. Soziale Dimension <strong>der</strong> Vergütung 22<br />
VIII. Interessenkonflikte von Organpersonen –<br />
Aktuelle Entwicklungen 23<br />
A. Interessenkonflikte im Allgeme<strong>in</strong>en 23<br />
B. Verbot gegenseitiger E<strong>in</strong>flussnahme auf Entschädigungen 24<br />
C. Interessenkonflikte von Organpersonen <strong>und</strong> Verantwortlichkeit 25<br />
IX. Die Gesellschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Krise 27<br />
A. Pflichten <strong>der</strong> Verwaltungsräte – «Reden ist Silber, Handeln ist Gold» 27<br />
B. Pflichten <strong>der</strong> Revisionsstelle 29<br />
C. Gläubigerschutz 30<br />
D. Sanierungsrecht <strong>und</strong> Sanierungspflicht 32<br />
E. Der Richter als Manager? 33<br />
1 Der Beitrag entspricht e<strong>in</strong>er überarbeiteten Fassung des Beitrages an <strong>der</strong> Tagung <strong>der</strong><br />
AXA-ARAG vom 1. September 2010 <strong>in</strong> Zürich. Die Vortragsform wurde gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
beibehalten. Das Manuskript wurde Anfang September 2011 abgeschlossen.<br />
3
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
X. F<strong>in</strong>anzielle <strong>Führung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise – Aktienrechtsrevision 34<br />
A. Liquiditätsplan 34<br />
B. Massgeschnei<strong>der</strong>te Sanierungsvoraussetzungen 35<br />
XI. IKS-«Defence» des Verwaltungsrates 35<br />
XII. «Deep pockets» <strong>der</strong> Revisoren <strong>und</strong> Griff <strong>in</strong> die Taschen von Verwaltungsräten<br />
<strong>und</strong> Geschäfts leitungsmitglie<strong>der</strong>n 36<br />
A. Streitverkündungsklage 36<br />
B. Neuordnung <strong>der</strong> Revisionshaftung 42<br />
XIII. Ausblick – Diskussionskultur <strong>in</strong> den Leitungsgremien <strong>der</strong> Aktiengesellschaft 45<br />
Literaturverzeichnis / Materialienverzeichnis 46<br />
I. E<strong>in</strong>führung<br />
Verwaltungsrat <strong>und</strong> Geschäftsleitung s<strong>in</strong>d <strong>Führung</strong>s- <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong>sgremien.<br />
Wenn Geschäfte schief gehen, werden die Schuldigen gesucht. Wirtschaftlicher<br />
Misserfolg ist allerd<strong>in</strong>gs nicht per se e<strong>in</strong> Haftungsgr<strong>und</strong>. Dieses<br />
Rechtspr<strong>in</strong>zip hat volkswirtschaftliche Bedeutung, da es den Willen, ökonomische<br />
Risiken e<strong>in</strong>zugehen, determ<strong>in</strong>iert.<br />
Das Verantwortlichkeitsrecht ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> Gerichte das «lebendigste»<br />
Gebiet des Aktienrechts. Zwar s<strong>in</strong>d Verantwortlichkeitsklagen bei den aufrechtstehenden<br />
Gesellschaften e<strong>in</strong>e seltene Ausnahme, 2 doch spielt das aktienrechtliche<br />
Verantwortlichkeitsrecht auch ausser Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft als Druckmittel<br />
<strong>in</strong> Diskussionen, etwa zwischen unzufriedenen Aktionären <strong>und</strong> dem<br />
Verwaltungsrat, e<strong>in</strong>e gewisse Rolle. Der teilweise altruistische E<strong>in</strong>schlag <strong>der</strong><br />
Klage des Aktionärs ausser Konkurs, mit welcher e<strong>in</strong> Schaden <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
durch Leistung an diese, nicht an den Aktionär, liquidiert werden soll, 3 wirkt<br />
abschottend, ist aber systemkonform. 4 Ob die Gesellschaft gegen ausgeschiedene<br />
Organpersonen Klage führen soll, wie es im Nachgang zur F<strong>in</strong>anzkrise<br />
2 Vgl. dazu den unter VII.C. erwähnten Fall.<br />
3 Vgl. Art. 756 OR.<br />
4 Der Versuch <strong>der</strong> Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrates <strong>und</strong> des Stän<strong>der</strong>ates,<br />
im Nachgang zur F<strong>in</strong>anzkrise von 2008/2009 die Übernahme <strong>der</strong> Kosten<br />
von Verantwortlichkeitsklagen gegen ehemalige Organpersonen <strong>der</strong> UBS durch die<br />
Eidgenossenschaft garantieren zu lassen, ist zu Recht gescheitert (vgl. Die Behörden<br />
unter dem Druck <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzkrise <strong>und</strong> <strong>der</strong> Herausgabe von UBS-K<strong>und</strong>endaten an die<br />
USA, Bericht vom 30. Mai 2010 <strong>der</strong> Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrates<br />
<strong>und</strong> des Stän<strong>der</strong>ates, Stellungnahme des B<strong>und</strong>esrates vom 13. Oktober 2010, BBl<br />
19. April 2011, S. 3498 ff.).<br />
4
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
2008/2009 bei e<strong>in</strong>em systemrelevanten Unternehmen gefor<strong>der</strong>t wurde, liegt<br />
<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Verantwortung</strong> des Verwaltungsrates. Er fällt diesen Entscheid<br />
im Lichte von Art. 717 Abs. 1 OR im besten Interesse <strong>der</strong> Gesellschaft. 5<br />
Solange die Gesellschaft aufrecht steht, kommt den Gläubigern ke<strong>in</strong> Klagerecht<br />
zu. Zwar s<strong>in</strong>d ihre For<strong>der</strong>ungen buchhalterisch unter Umständen bereits im<br />
Wert zu berichtigen, doch steht das aktienrechtliche Verantwortlichkeitsrecht<br />
nicht im Dienste des präventiven Gläubigerschutzes, was sich auch mit e<strong>in</strong>er<br />
gewissen Abschottung <strong>der</strong> geschäftsführenden Organpersonen von Druckversuchen<br />
<strong>der</strong> Gläubiger erklärt.<br />
Im Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft s<strong>in</strong>d Verantwortlichkeitsklagen gegen die Verwaltungsräte<br />
<strong>und</strong> geschäftsführenden Organpersonen (sowie die Revisionsstelle 6 )<br />
weit verbreitet, sodass hier für die Organpersonen e<strong>in</strong>e substantielle Gefahr<br />
lauert, im Falle wirtschaftlichen Misserfolgs für verme<strong>in</strong>tliches Fehlverhalten <strong>in</strong><br />
den Strudel von Haftungsfragen gezogen zu werden. Bekanntlich ist die Geschäftsführungshaftung<br />
des Art. 754 OR <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Beziehung voll am Anschlag:<br />
Die Haftung ist zw<strong>in</strong>gen<strong>der</strong> Natur, greift bei jedem Verschulden, ohne dass e<strong>in</strong>e<br />
Haftungslimite bestünde. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage kann sich für das Privatvermögen<br />
<strong>der</strong> unter Art. 754 OR passivlegitimierten Personen – selbst bei e<strong>in</strong>er Organversicherung<br />
– e<strong>in</strong>e düstere Perspektive ergeben.<br />
Im Folgenden sollen aktuelle Aspekte <strong>der</strong> Haftung von Verwaltungsräten <strong>und</strong><br />
Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong>n aufgegriffen werden. Dabei wird sowohl auf Aspekte<br />
des geltenden Rechts als auch auf Fragen e<strong>in</strong>gegangen, welche sich im<br />
Zuge <strong>der</strong> laufenden Aktienrechtsrevision ergeben.<br />
II. Klagelegitimation im Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
Im Konkurs <strong>der</strong> Aktiengesellschaft ist die Aktivlegitimation des Klägers e<strong>in</strong> heiss<br />
umstrittenes Thema. Weil die Gleichbehandlung <strong>der</strong> Gläubiger im Konkurs<br />
5 Vgl. dazu den Transparenzbericht an die Aktionär<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Aktionäre <strong>der</strong> UBS AG,<br />
F<strong>in</strong>anzmarktkrise, grenzüberschreitendes US-Vermögensverwaltungsgeschäft, Verantwortlichkeitsfragen<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong>terne Aufarbeitung, 2010, S. 55 ff.(58 ff.). Das Gesellschafts<strong>in</strong>teresse<br />
bildet auch die Leitl<strong>in</strong>ie für den Fall, dass die Generalversammlung<br />
über die Anhebung e<strong>in</strong>er Verantwortlichkeitsklage entscheiden soll, was dazu führen<br />
kann, dass <strong>der</strong> Verwaltungsrat das Traktandum zur Ablehnung empfehlen muss.<br />
6 Art. 755 OR.<br />
5
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
hochgehalten wird, wurde mit BGE 122 III 176 ff. («X. Corporation») die Geltendmachung<br />
direkter Schäden durch die Gläubiger e<strong>in</strong>geschränkt. Diese zunächst<br />
heftig kritisierte Rechtsprechung, die mittlerweile e<strong>in</strong>geschliffen ist,<br />
stellt unter gewissen Umständen bei <strong>der</strong> Klagelegitimation nicht auf die Vermögensmasse<br />
ab, <strong>in</strong> welcher <strong>der</strong> Schaden e<strong>in</strong>getreten ist, son<strong>der</strong>n auf die Rechtsgr<strong>und</strong>lage<br />
<strong>der</strong> jeweiligen Schadenersatzpflicht.<br />
BGE 132 III 564 liefert e<strong>in</strong>e Zusammenfassung <strong>der</strong> geltenden Rechtslage. Direkter<br />
Schaden des Klägers ist direkt ersatzfähig <strong>und</strong> kann je<strong>der</strong>zeit geltend gemacht<br />
werden. Der <strong>in</strong>direkte Schaden bzw. Gesellschaftsschaden ist <strong>in</strong>direkt<br />
ersatzfähig. Es handelt sich um e<strong>in</strong>en Reflexschaden («dommage par ricochet»),<br />
welcher als Anspruch <strong>der</strong> Gläubigergesamtheit <strong>der</strong> Klage- <strong>und</strong> Verteilungsordnung<br />
von Art. 757 Abs. 2 <strong>und</strong> 3 OR unterliegt. Soweit gleichzeitig e<strong>in</strong> direkter<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong> <strong>in</strong>direkter Schaden des Klägers vorliegt, das heisst das Verhalten e<strong>in</strong>er<br />
Organperson e<strong>in</strong>en direkten Gläubigerschaden sowie e<strong>in</strong>en Schaden <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
verursacht hat, greift die bereits erwähnte Praxisschranke, wonach sich<br />
die Ersatzpflicht nach <strong>der</strong> Rechtsgr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> jeweiligen Schadenersatzpflicht<br />
bestimmt. In diesem Szenario kann <strong>der</strong> Gläubiger nur dann e<strong>in</strong>en direkten<br />
Schaden (mit Leistung an sich selbst) geltend machen, wenn dem fehlbaren<br />
Gesellschaftsorgan e<strong>in</strong> wi<strong>der</strong>rechtliches Verhalten nach Art. 41 OR, e<strong>in</strong>e culpa<br />
<strong>in</strong> contrahendo o<strong>der</strong> die Verletzung e<strong>in</strong>er (seltenen) Norm des Gesellschaftsrechts<br />
vorzuwerfen ist, welche ausschliesslich den Gläubiger<strong>in</strong>teressen dient.<br />
BGE 132 III 569 7 präzisiert, dass sich bei ausschliesslicher Schädigung des Gläubigers<br />
– ohne, dass die Gesellschaft selbst e<strong>in</strong>en Schaden erlitten hat – die<br />
Geltendmachung des Schadens nach den allgeme<strong>in</strong>en Regeln <strong>der</strong> zivilrechtlichen<br />
Haftung richtet.<br />
Der B<strong>und</strong>esrat schlägt im Rahmen <strong>der</strong> Aktienrechtsrevision die Streichung von<br />
Art. 757 Abs. 3 OR vor, weil diese Bestimmung, welche ausdrücklich auf die<br />
SchKG-Abtretung verweist, «überflüssig (sei), da bereits <strong>in</strong> Artikel 757 Absatz 2<br />
materiell auf Art. 260 SchKG verwiesen wird.» 8 Fraglich ist, ob Art. 757 Abs. 2<br />
OR über diesen materiellen Verweis auf das SchKG h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e selbständige<br />
Bedeutung im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Direktklagerechts <strong>der</strong> Aktionäre o<strong>der</strong> Gläubiger zukommt.<br />
Das B<strong>und</strong>esgericht hat festgehalten, dass <strong>in</strong> materiellrechtlicher H<strong>in</strong>sicht<br />
ke<strong>in</strong> Unterschied besteht zwischen dem Anspruch, den sich e<strong>in</strong> Gläubiger<br />
nach Art. 260 SchKG abtreten lässt, <strong>und</strong> dem Anspruch, den die Aktionäre o<strong>der</strong><br />
7 E. 3.2.1.<br />
8 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1693.<br />
6
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
Gläubiger direkt aus Art. 757 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 OR erheben können. 9 Ausdrücklich<br />
offen gelassen wurde die Frage, ob e<strong>in</strong> Gläubiger gestützt auf Art. 757 Abs. 2<br />
OR ohne entsprechende Abtretung direkt klagen könnte. 10 Früher hat das B<strong>und</strong>esgericht<br />
angedeutet, dass «es <strong>der</strong> Rechtssicherheit bzw. <strong>der</strong> Koord<strong>in</strong>ation<br />
unter den klageberechtigten Gläubigern halber» unter Art. 757 Abs. 2 OR «e<strong>in</strong>er<br />
Ermächtigung o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>er förmlichen Mitteilung <strong>der</strong> Konkursverwaltung<br />
bedarf», da die nach Art. 757 Abs. 2 OR klageberechtigten Gläubiger<br />
– wie bei Art. 260 SchKG – e<strong>in</strong>e notwendige Streitgenossenschaft bilden. 11 Die<br />
Voraussetzungen <strong>der</strong> Klageerhebung im Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft bleiben folglich<br />
auch nach <strong>der</strong> beabsichtigten Streichung von Art. 757 Abs. 3 OR etwas<br />
unklar.<br />
III. Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule<br />
Die aus dem angelsächsischen Rechtsraum bekannte «Bus<strong>in</strong>ess Judgement<br />
Rule» wurde vom B<strong>und</strong>esgericht erstmals im Urteil vom 19. Juni 2002 im Kontext<br />
<strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit allgeme<strong>in</strong> erwähnt, 12 doch blieb<br />
diese «Rule» <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtsprechung bislang ohne Kontur. Der Schweizer Gesetzgeber<br />
schickt sich nicht an, e<strong>in</strong>e entsprechende Regelung zu schaffen, was für<br />
die geschäftsführenden Organpersonen allerd<strong>in</strong>gs kaum von Nachteil se<strong>in</strong> dürfte.<br />
Im Schrifttum wird geltend gemacht, dass sich die Beweislastverteilung ausserhalb<br />
des Anwendungsbereiches e<strong>in</strong>er «Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule» gr<strong>und</strong>legend<br />
än<strong>der</strong>n würde, da (wi<strong>der</strong>legbar) vermutet würde, dass die beklagte Organperson<br />
ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist. 13<br />
Im erwähnten B<strong>und</strong>esgerichtsentscheid g<strong>in</strong>g es um die Gewährung e<strong>in</strong>es Betriebskredites<br />
durch e<strong>in</strong>e Bank. Der Kredit war hypothekarisch gesichert, wobei<br />
das Gr<strong>und</strong>stück zu h<strong>und</strong>ert Prozent belehnt wurde. Nach Feststellung <strong>der</strong> Vor<strong>in</strong>stanz<br />
waren ke<strong>in</strong>e Angaben zur Kreditfähigkeit <strong>und</strong> Kreditwürdigkeit des<br />
Schuldners verfügbar. Allerd<strong>in</strong>gs wurde <strong>der</strong> Kredit seitens <strong>der</strong> Bank nicht gera-<br />
9 B<strong>und</strong>esgericht 4A_446/2009 vom 8. Dezember 2009, E. 2.4 (nicht publiziert <strong>in</strong> BGE<br />
136 III 107).<br />
10 B<strong>und</strong>esgericht, a.a.O.<br />
11 B<strong>und</strong>esgericht 4C.263/2004 vom 23. Mai 2005, E. 1.2 (nicht publiziert <strong>in</strong> BGE 132 III<br />
222); vgl. zum Ganzen auch Vogt/Schönbächler, S. 251 ff.<br />
12 B<strong>und</strong>esgericht 4C.201/2001 vom 19. Juni 2002, E. 2.1.2.<br />
13 bahar/trigo tr<strong>in</strong>dade, S. 158.<br />
7
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
dezu bl<strong>in</strong>dl<strong>in</strong>gs erteilt. Wenngleich Betriebskredite <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bankpraxis auch<br />
blanko gewährt werden, bestand im betreffenden Fall e<strong>in</strong>e, wenn auch letztlich<br />
ungenügende Deckung <strong>und</strong> dem <strong>in</strong>härenten Risiko wurde mit e<strong>in</strong>em Z<strong>in</strong>szuschlag<br />
Rechnung getragen. Das B<strong>und</strong>esgericht kritisierte, dass es an e<strong>in</strong>er unabhängigen<br />
Verkehrswertschätzung <strong>der</strong> Liegenschaft mangelte, <strong>und</strong> stellte fest,<br />
dass e<strong>in</strong>er Schätzung <strong>der</strong> Liegenschaft aus dem Jahre 1989 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Höhe von CHF<br />
7 Mio. e<strong>in</strong> Schätzungsgutachten von 1998 mit e<strong>in</strong>em Liegenschaftswert von<br />
bloss CHF 6,25 Mio. gegenübersteht. Ins Gewicht fiel dabei auch, dass die Verkehrswertschätzung<br />
im Rahmen <strong>der</strong> Krediterteilung durch den Hauptaktionär<br />
erfolgte, was das B<strong>und</strong>esgericht andeutungsweise unter dem Gesichtspunkt <strong>der</strong><br />
Unabhängigkeit <strong>der</strong> Verkehrswertschätzung als problematisch erachtete. In<br />
se<strong>in</strong>en Erwägungen hält das B<strong>und</strong>esgericht fest: 14 «E<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anziell ges<strong>und</strong>e Basis<br />
erlaubt allenfalls, dass e<strong>in</strong> Unternehmen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em klar beschränkten Rahmen eher Risiken<br />
e<strong>in</strong>gehen kann als e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Unternehmen. Voraussetzung bleibt aber auch dann,<br />
dass das Risiko bewusst e<strong>in</strong>geschätzt <strong>und</strong> klar e<strong>in</strong>gegrenzt wird.»<br />
Die Entscheidungsf<strong>in</strong>dung unter Unsicherheit ist im Verwaltungsrat <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
e<strong>in</strong> Dauerbrenner. Der Datensatz für unternehmerische Entscheide<br />
ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis stets unvollständig. Risikofreie Transaktionen gibt es<br />
kaum, jedenfalls schafft normalerweise das Risiko erst die Verdienstmöglichkeit.<br />
Es müssen deshalb auch unter Risiko Entscheide gefällt werden <strong>und</strong> zwar sowohl<br />
auf <strong>der</strong> Stufe des Verwaltungsrates als auch <strong>der</strong> Geschäftsleitung <strong>der</strong><br />
Gesellschaft. Von grosser Tragweite ist die Erkenntnis, dass <strong>der</strong> wirtschaftliche<br />
Misserfolg alle<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>en Haftungsgr<strong>und</strong> bilden kann. 15 Sobald es zu e<strong>in</strong>em Schaden<br />
kommt, rückt deshalb <strong>der</strong> Entscheidungsprozess <strong>in</strong> den Brennpunkt des<br />
Interesses. Im Rahmen <strong>der</strong> «Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule» schweizerischer Prägung geht<br />
es nach e<strong>in</strong>er Lehrme<strong>in</strong>ung darum, dass e<strong>in</strong> bewusster <strong>und</strong> formell korrekter<br />
Entscheid gefällt wird, sich das Handeln im Rahmen des Gesellschaftszweckes<br />
bewegt, die geschäftsführenden Organpersonen unabhängig <strong>und</strong> frei von Interessenkonflikten<br />
entscheiden können, <strong>der</strong> Entscheid aufgr<strong>und</strong> ausreichen<strong>der</strong><br />
Informationen <strong>und</strong> im Rahmen e<strong>in</strong>es angemessenen Verfahrens erfolgt, die<br />
zw<strong>in</strong>genden gesetzlichen Vorschriften e<strong>in</strong>gehalten werden <strong>und</strong> <strong>der</strong> Entscheid<br />
sich im weitesten Rahmen des Vernünftigen bewegt. 16 Unter diesen Vorausset-<br />
14 B<strong>und</strong>esgericht 4C.201/2001, E. 2.1.2.<br />
15 Vgl. dazu schon oben unter I.<br />
16 Vgl. zum Ganzen graSS, mit <strong>der</strong> schematischen Übersicht auf S. 147 zum «Bus<strong>in</strong>ess<br />
Judgement Rule-Test» unter schweizerischem Recht.<br />
8
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
zungen fällt e<strong>in</strong>e Haftung <strong>der</strong> Entscheidungsträger für e<strong>in</strong>en schadenstiftenden<br />
Geschäftsführungsentscheid ausser Betracht. 17<br />
Das Gesagte erhellt, dass <strong>der</strong> unternehmerische «Bauchentscheid» ex post mit<br />
rechtlichen Risiken verb<strong>und</strong>en se<strong>in</strong> kann. Es lässt sich kaum bezweifeln, dass<br />
gekonntes Unternehmertum viel mit Intuition zu tun hat. Unter rechtlichem<br />
Gesichtspunkt drängt sich allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e gewisse Formalisierung <strong>der</strong> Entscheidungsf<strong>in</strong>dung<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft auf, was zum Box Tick<strong>in</strong>g führt, etwa<br />
h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Frage, ob die wesentlichen Aspekte e<strong>in</strong>es Geschäftes tangiert<br />
<strong>und</strong> dokumentiert s<strong>in</strong>d. 18 Dabei spielt auch e<strong>in</strong>e Rolle, ob die Grenzen des eigenen<br />
Beurteilungsvermögens <strong>der</strong> Verwaltungsräte gesprengt werden <strong>und</strong> sich<br />
deshalb <strong>der</strong> Beizug e<strong>in</strong>es Beraters o<strong>der</strong> die Verstärkung des Verwaltungsrates<br />
mit e<strong>in</strong>er fehlenden Kompetenz aufdrängt.<br />
In <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> Gerichte zeigt sich e<strong>in</strong>e Zurückhaltung bei <strong>der</strong> richterlichen<br />
Überprüfung von Geschäftsführungsentscheiden, wobei e<strong>in</strong>e «ernsthafte Entscheidungsf<strong>in</strong>dung»<br />
vorausgesetzt wird. 19 Das B<strong>und</strong>esgericht br<strong>in</strong>gt zum Ausdruck,<br />
dass «dieser Gr<strong>und</strong>satz auch nur für Entscheide gelten mag, die frei von Interessenkonflikten<br />
getroffen wurden.» 20 Unter praktischem Gesichtspunkt ist bedeutsam,<br />
dass den beklagten Organpersonen die Verteidigung wegen mangelhafter<br />
Substanziierung des klägerischen Vorbr<strong>in</strong>gens offen steht. Die Gerichte neigen<br />
nicht dazu, im Bereich von Geschäftsführungsentscheiden die allgeme<strong>in</strong>e Lebenserfahrung<br />
extensiv zum Tragen zu br<strong>in</strong>gen. Entsprechend hat das B<strong>und</strong>esgericht<br />
e<strong>in</strong>em Kläger, <strong>der</strong> geltend machte, «dass e<strong>in</strong> Personalabbau bei massiven<br />
Liquiditätsschwierigkeiten zufolge auftragsrückgangsbed<strong>in</strong>gter Überkapazität<br />
e<strong>in</strong> probates Mittel sei, e<strong>in</strong>en Konkurs zu vermeiden», entgegengehalten, dass<br />
darzutun gewesen wäre, «welche konkreten Personen hätten entlassen werden<br />
müssen, damit dies S. (Tochtergesellschaft) genützt <strong>und</strong> nicht vielmehr geschadet<br />
hätte.» 21<br />
17 Kritisch böckli, Verwaltungsräte, S. 6 f., mit dem H<strong>in</strong>weis, dass das zentrale Haftungsrisiko<br />
für die Verwaltungsräte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Unterlassung liege. – Damit ist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die<br />
Überwachungspflicht angesprochen, bei <strong>der</strong>en Verletzung (als Ausfluss <strong>der</strong> Verschuldenshaftung)<br />
im Rahmen des Menschenmöglichen die Haftung e<strong>in</strong>tritt; vgl. dazu auch<br />
unter IV.<br />
18 Zur Dokumentation des Entscheidungsprozesses auch Von <strong>der</strong> crone, S. 8.<br />
19 B<strong>und</strong>esgericht 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010, E. 7.2.1.<br />
20 B<strong>und</strong>esgericht 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010, E. 7.2.4.<br />
21 B<strong>und</strong>esgericht 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010, E. 7.2.4.<br />
9
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
IV. Haftungsbeschränkende Delegation<br />
Mit den Entscheiden 4A_501/2007 <strong>und</strong> 4A_503/2007 vom 22. Februar 2008<br />
hat das B<strong>und</strong>esgericht die formellen Voraussetzungen <strong>der</strong> Delegation <strong>der</strong><br />
Geschäftsführung festgelegt, unter denen die Haftungserleichterung gemäss<br />
Art. 754 Abs. 2 OR greift. Nach dieser Vorschrift haftet <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> die Erfüllung<br />
e<strong>in</strong>er Aufgabe befugterweise e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Organ überträgt, für den<br />
von diesem verursachten Schaden, sofern er nicht nachweist, dass er bei <strong>der</strong><br />
Auswahl, Unterrichtung <strong>und</strong> Überwachung die nach den Umständen gebotene<br />
Sorgfalt angewendet hat. 22 Das B<strong>und</strong>esgericht stellt klar, dass mit <strong>der</strong> «befugterweise»<br />
erfolgten Delegation die Voraussetzungen von Art. 716b OR angesprochen<br />
s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e haftungsbeschränkende Delegation <strong>der</strong> Geschäftsführung<br />
verlangt folglich nach e<strong>in</strong>er statutarischen Gr<strong>und</strong>lage – was e<strong>in</strong>er Standardklausel<br />
<strong>in</strong> den Gesellschaftsstatuten entspricht – sowie e<strong>in</strong>em Organisationsreglement.<br />
Dabei setzt das B<strong>und</strong>esgericht zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>en protokollierten<br />
Mehrheitsbeschluss des Verwaltungsrates voraus, <strong>der</strong> die Ordnung <strong>der</strong> Geschäftsführung<br />
regelt, die hierfür erfor<strong>der</strong>lichen Stellen bestimmt, <strong>der</strong>en<br />
Aufgaben umschreibt sowie die Berichterstattung an den Verwaltungsrat regelt.<br />
Geschäftskorrespondenz o<strong>der</strong> bloss mündliche Aussagen s<strong>in</strong>d für e<strong>in</strong>e<br />
haftungsbeschränkende Delegation unzureichend. 23 E<strong>in</strong>e unbefugte Delegation,<br />
das heisst e<strong>in</strong>e Delegation, welche nicht die erwähnten formellen Voraussetzungen<br />
erfüllt, schliesst nach Auffassung des B<strong>und</strong>esgerichts auch das Ar-<br />
22 Kritisch zur Wirksamkeit von Art. 754 Abs. 2 OR böckli, Verwaltungsräte, S. 5 f., mit<br />
Verweis auf die Überwachungspflicht (Aufsichts- <strong>und</strong> E<strong>in</strong>griffspflicht); vgl. auch Bun-<br />
10<br />
desgericht 4C.358/2005 vom 12. Februar 2007, E. 5.2.1 (nicht publiziert <strong>in</strong> BGE 133 III<br />
116): «Es Es gehört zu den unübertragbaren <strong>und</strong> unentziehbaren Aufgaben des Verwal- Verwal-<br />
tungsrats, die Oberaufsicht über die mit <strong>der</strong> Geschäftsführung betrauten Personen<br />
wahrzunehmen, namentlich im H<strong>in</strong>blick auf die Befolgung <strong>der</strong> Gesetze, Statuten <strong>und</strong><br />
Weisungen (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 5 OR). Der nicht geschäftsführende Verwaltungsrat<br />
ist zwar nicht verpflichtet, jedes e<strong>in</strong>zelne Geschäft <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Geschäftsführung <strong>und</strong><br />
Vertretung Beauftragten zu überwachen, son<strong>der</strong>n darf sich auf die Überprüfung <strong>der</strong><br />
Tätigkeit <strong>der</strong> Geschäftsleitung <strong>und</strong> des Geschäftsganges beschränken. Dazu gehört,<br />
dass er sich laufend über den Geschäftsgang <strong>in</strong>formiert, Rapporte verlangt, sie sorgfältig<br />
studiert, nötigenfalls ergänzende Auskünfte e<strong>in</strong>zieht <strong>und</strong> Irrtümer abzuklären<br />
versucht. Ergibt sich aus diesen Informationen <strong>der</strong> Verdacht falscher o<strong>der</strong> unsorgfältiger<br />
Ausübung <strong>der</strong> delegierten Geschäftsführungs- <strong>und</strong> Vertretungsbefugnisse, ist <strong>der</strong><br />
Verwaltungsrat verpflichtet, sogleich die erfor<strong>der</strong>lichen Abklärungen zu treffen, nötigenfalls<br />
durch Beizug von Sachverständigen (…). Verdachtsmomente können Gr<strong>und</strong><br />
für erhöhte Aufmerksamkeit se<strong>in</strong>».<br />
23 A.M. noch bertSch<strong>in</strong>ger, Organisationsreglement, S. 190 f.
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
gument des rechtmässigen (aber nutzlosen) Alternativverhaltens aus. 24 Nach<br />
dieser allgeme<strong>in</strong>en Figur des Haftpflichtrechts haftet nicht, wer geltend machen<br />
kann, dass <strong>der</strong> Schaden selbst bei sorgfältiger Auswahl, Instruktion <strong>und</strong><br />
Überwachung nicht hätte verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t werden können bzw. gleichwohl e<strong>in</strong>getreten<br />
wäre. 25<br />
Nach dem Gesagten erweist sich die laufende Anpassung des Organisationsreglementes<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er lebendigen Organisation als e<strong>in</strong> Muss. Das Organisationsreglement<br />
sollte deshalb sowohl e<strong>in</strong> Standard- als auch e<strong>in</strong> Ad hoc-Traktandum des<br />
Verwaltungsrates darstellen, 26 damit die tatsächliche Organisation mit <strong>der</strong> formell<br />
dokumentierten Organisation übere<strong>in</strong>stimmt <strong>und</strong> sich die Delegation im<br />
Rahmen des Abweichungsgrades nach <strong>der</strong> Rechtsprechung nicht als unwirksam<br />
erweist. Die vom B<strong>und</strong>esgericht erkannte Beweismittelbeschränkung für die<br />
arbeitsteilige Organisation 27 setzt e<strong>in</strong>en weiteren Akzent im formellen Spiel <strong>der</strong><br />
Aktiengesellschaft.<br />
V. Haftung <strong>der</strong> Muttergesellschaft im Konzern –<br />
e<strong>in</strong>e Verteidigungsstrategie <strong>der</strong> Organpersonen?<br />
Die Haftung <strong>der</strong> Muttergesellschaft aus faktischer Organschaft für fehlbares<br />
Verhalten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tochtergesellschaft stellt e<strong>in</strong> heikles Thema <strong>der</strong> Haftung im<br />
Konzern dar. Auf <strong>der</strong> Suche nach Haftungssubstrat tendieren Kläger dazu, Argumente<br />
e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen, welche nicht bloss auf die Haftung natürlicher Personen<br />
aus Art. 754 OR zielen, son<strong>der</strong>n die Muttergesellschaft aus faktischer Organschaft<br />
<strong>in</strong>s Recht fassen wollen. Im Urteil 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010 hat<br />
das B<strong>und</strong>esgericht die bisherige Rechtsprechung zusammengefasst. Juristische<br />
Personen fallen als faktische Organe <strong>in</strong> Betracht, wobei e<strong>in</strong>e dauernde Zuständigkeit<br />
erfor<strong>der</strong>lich ist <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Handeln im E<strong>in</strong>zelfall nicht genügt. 28 In Anlehnung<br />
an BGE 128 III 92 bestätigt das B<strong>und</strong>esgericht, dass e<strong>in</strong>e blosse E<strong>in</strong>flussnahme<br />
bzw. E<strong>in</strong>mischung die Organstellung nicht zu begründen vermag, son<strong>der</strong>n<br />
die Bildung übertragener o<strong>der</strong> usurpierter Zuständigkeiten erfor<strong>der</strong>lich<br />
24 B<strong>und</strong>esgericht 4A_501/2007 <strong>und</strong> 4A_503/2007, E. 3.3.<br />
25 Vgl. allgeme<strong>in</strong> roberto, S. 49 f., sowie B<strong>und</strong>esgericht 9C_330/2010 vom 18. Januar<br />
2011, E. 3.2.<br />
26 Vgl. Art. 716a Abs. 1 Ziff. 2 OR.<br />
27 Vgl. bei Fn. 23.<br />
28 Urteil 4A_306/2009, E. 7.1.1.<br />
11
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
ist. Nach den Erwägungen des B<strong>und</strong>esgerichts fällt die faktische Organschaft<br />
e<strong>in</strong>er Muttergesellschaft bei Doppelorganschaft von Personen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mutter<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Tochter <strong>in</strong> Betracht. Dabei müssen sich diese Personen «<strong>in</strong> <strong>der</strong> Eigenschaft<br />
als Organ <strong>der</strong> Muttergesellschaft <strong>in</strong> die Verwaltung <strong>und</strong> Geschäftsführung <strong>der</strong><br />
Tochtergesellschaft e<strong>in</strong>mischen <strong>und</strong> dieser dabei e<strong>in</strong>en Schaden verursachen.» Das B<strong>und</strong>esgericht<br />
hält allgeme<strong>in</strong> fest: «Nimmt die Muttergesellschaft direkt durch Weisungen<br />
auf das Verhalten des Doppelorgans E<strong>in</strong>fluss, kann sie selber zum faktischen Organ<br />
<strong>der</strong> Tochtergesellschaft <strong>und</strong> somit nach Art. 754 OR für Pflichtverletzungen haftbar<br />
werden.» 29 Allerd<strong>in</strong>gs lässt sich e<strong>in</strong>e Pflichtverletzung <strong>der</strong> Muttergesellschaft<br />
nicht schon dadurch dartun, dass e<strong>in</strong> Doppelorgan e<strong>in</strong>en Entscheid <strong>der</strong> Obergesellschaft<br />
mitträgt, beispielsweise den Beschluss, <strong>der</strong> Untergesellschaft weniger<br />
Aufträge zu erteilen. In diesem Fall handelt es sich nicht um e<strong>in</strong>en Entscheid<br />
im Rahmen <strong>der</strong> Geschäftsleitung <strong>der</strong> Untergesellschaft <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Haftung liefe<br />
nach Auffassung des B<strong>und</strong>esgerichts darauf h<strong>in</strong>aus, «die Muttergesellschaft für<br />
jeden <strong>in</strong> ihrem Interesse gefällten Entscheid, <strong>der</strong> sich zulasten <strong>der</strong> Tochtergesellschaft<br />
auswirkt, wegen des blossen Umstands, dass daran Doppelorgane mitwirken, haftbar<br />
zu machen, ohne dass e<strong>in</strong>e haftungsbegründende Verletzung von organschaftlichen<br />
Pflichten <strong>der</strong> Obergesellschaft als faktisches Organ <strong>der</strong> Untergesellschaft darzutun<br />
wäre.» 30 Illustrativ ist die Erwägung des B<strong>und</strong>esgerichts, wonach die Haftung <strong>der</strong><br />
Muttergesellschaft aus faktischer Organschaft denkbar wäre, «wenn die Muttergesellschaft<br />
gegenüber <strong>der</strong> Tochtergesellschaft e<strong>in</strong>e Bezugsverpflichtung für IT-Dienstleistungen<br />
e<strong>in</strong>gegangen wäre <strong>und</strong> das Doppelorgan es auf Weisung <strong>der</strong> Muttergesellschaft<br />
h<strong>in</strong> unterlassen hätte, diese Verpflichtung bzw. diesen Anspruch als Organ <strong>der</strong><br />
Tochtergesellschaft durchzusetzen.» 31<br />
Die Entwicklung, welche die Muttergesellschaft stärker <strong>in</strong> den Fokus <strong>der</strong> faktischen<br />
Organschaft rückt, ist – bei vertiefter Reflexion – bedauerlich. Schadenstiftendes<br />
Fehlverhalten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft entspr<strong>in</strong>gt stets e<strong>in</strong>em Willensentschluss<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Willensbetätigung durch natürliche Personen, wofür<br />
diese Personen nach <strong>der</strong> Ordnung des Gesetzes persönlich haften sollen. Die<br />
Geschäftsführungshaftung des Art. 754 OR sollte deshalb auch weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />
erster L<strong>in</strong>ie auf den fehlbaren E<strong>in</strong>zelnen zielen, ansonsten das Fehlverhalten<br />
e<strong>in</strong>er natürlichen Person unter Umständen e<strong>in</strong>e grosse Gesellschaft <strong>in</strong>s Ver<strong>der</strong>ben<br />
stürzen kann. 32 Damit würde das Fehlverhalten e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>zelnen quasi kol-<br />
29 Urteil 4A_306/2009, E. 7.1.2.<br />
30 Urteil 4A_306/2009, E. 7.2.2.<br />
31 Urteil 4A_306/2009, E. 7.2.2.<br />
32 Vgl. auch bertSch<strong>in</strong>ger, Verantwortlichkeit, N 315.<br />
12
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
lektiviert, was den Organpersonen ermöglichen könnte, die Verantwortlichkeit<br />
auf die juristische Person «abzuschieben», sofern die natürliche Person aufgr<strong>und</strong><br />
ihres vergleichsweise ger<strong>in</strong>gen Haftungssubstrates gar nicht <strong>in</strong> den Verantwortlichkeitsprozess<br />
e<strong>in</strong>bezogen wird. 33 Im Ergebnis kann sich <strong>in</strong>folge <strong>der</strong><br />
Haftung <strong>der</strong> Muttergesellschaft aus faktischer Organschaft für den Verantwortlichkeitskläger<br />
nach <strong>der</strong> hier vertretenen Auffassung e<strong>in</strong> tendenziell überschiessen<strong>der</strong><br />
Schutz zu Lasten e<strong>in</strong>er Vielzahl von Stakehol<strong>der</strong>s ergeben.<br />
VI. Gr<strong>und</strong>strukturen <strong>der</strong> Aktiengesellschaft <strong>und</strong><br />
aktienrechtliche Verantwortlichkeit<br />
Der B<strong>und</strong>esrat hat im Gesetzesentwurf zur Revision des Aktienrechts vom<br />
Dezember 2007 e<strong>in</strong> neues Element für die Kompetenzordnung <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
vorgeschlagen, <strong>in</strong>dem aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es bed<strong>in</strong>gt notwendigen Statuten<strong>in</strong>haltes<br />
Entscheide des Verwaltungsrates <strong>der</strong> Genehmigung durch die Generalversammlung<br />
unterworfen werden könnten. 34 Konkret hätten sich Entscheide,<br />
welche die Oberleitung <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>und</strong> die Erteilung <strong>der</strong> nötigen Weisungen<br />
sowie die Festlegung <strong>der</strong> Organisation betreffen, 35 <strong>der</strong> Genehmigung durch<br />
die Generalversammlung unterwerfen lassen. 36 Die Entscheide des Verwaltungsrates<br />
nach Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3-7 OR sollten gemäss Art. 716b Abs. 1<br />
E-OR von dieser Ordnung ausgenommen se<strong>in</strong>. Als praktische Anwendungsfälle<br />
für die Genehmigung durch die Generalversammlung konnte man sich den<br />
Beschluss über das Organisationsreglement, Investitionsentscheide, die <strong>der</strong><br />
Genehmigung des Verwaltungsrates unterliegen, den Erwerb o<strong>der</strong> die Veräusserung<br />
e<strong>in</strong>er sachlich festgelegten Beteiligung sowie die Geschäftsausweitung<br />
33 Vgl. Art. 759 Abs. 2 OR.<br />
34 Art. 627 Ziff. 14 E-OR.<br />
35 Vgl. Art 716a Abs. 1 Ziff. 1 <strong>und</strong> 2 OR.<br />
36 Mit <strong>der</strong> Botschaft Abzockerei (vom 5. Dezember 2008) wurde <strong>der</strong> Bereich <strong>der</strong> zulässigen<br />
Genehmigungsvorbehalte seitens <strong>der</strong> Generalversammlung auf die Ziffern 3 <strong>und</strong><br />
5 bis 7 von Art. 716a Abs. 1 OR e<strong>in</strong>geschränkt. Damit sollte im Rahmen von Art. 716a<br />
Abs. 1 Ziff. 4 OR <strong>der</strong> statutarische Genehmigungsvorbehalt für die Vergütungen von<br />
mit <strong>der</strong> Geschäftsführung betrauten Personen ausgeklammert werden (Art. 627<br />
Ziff. 4 E-OR; Botschaft Abzockerei, S. 320 f.). Im Vergleich dazu hätte <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>e<br />
Genehmigungsvorbehalt zu Gunsten <strong>der</strong> Generalversammlung betreffend Art. 716a<br />
Abs. 1 Ziff. 4 OR auch die Genehmigung von Personalentscheiden für das oberste<br />
Mana gement ermöglicht. Die Botschaft zur Abzockerei hat <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung<br />
gebracht.<br />
13
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
<strong>in</strong>nerhalb des statutarischen Zweckes auf e<strong>in</strong>en sachlich bestimmten Geschäftsbereich<br />
vorstellen. Bemerkenswert ist, dass gemäss Art. 716b Abs. 3 E-OR die<br />
Genehmigung durch die Generalversammlung die Haftung des Verwaltungsrates<br />
nicht e<strong>in</strong>schränken sollte. Der B<strong>und</strong>esrat hatte also quasi e<strong>in</strong>en «free lunch»<br />
für die Aktionäre im Auge.<br />
Der Stän<strong>der</strong>at hat am 9. Juni 2009 die Streichung dieser Bestimmungen beschlossen,<br />
weil sie das aktienrechtliche Paritätspr<strong>in</strong>zip durchbrechen würden<br />
<strong>und</strong> die erfor<strong>der</strong>lichen Informationen für die Generalversammlung im H<strong>in</strong>blick<br />
auf den Genehmigungsbeschluss auch Geschäftsgeheimnisse betreffen könnten.<br />
B<strong>und</strong>esrät<strong>in</strong> Widmer-Schlumpf hat damals für den Vorschlag des B<strong>und</strong>esrates<br />
gekämpft <strong>und</strong> geltend gemacht, dass es sich um e<strong>in</strong>en liberalen Ansatz<br />
handle, welcher für Familienunternehmen e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Gestaltungsmöglichkeit<br />
darstelle. Zudem hat sie e<strong>in</strong>gebracht, dass die Bestimmung ke<strong>in</strong>en<br />
zw<strong>in</strong>genden Charakter habe <strong>und</strong> die Haftung des Verwaltungsrates im Falle <strong>der</strong><br />
Genehmigung durch die Generalversammlung, wie erwähnt, nicht ausgeschlossen<br />
werde. 37 Dar<strong>in</strong> liegt nach Auffassung des Schreibenden denn auch e<strong>in</strong>er <strong>der</strong><br />
w<strong>und</strong>en Punkte. 38 Dass die Botschaft des B<strong>und</strong>esrates festhält, dass «<strong>in</strong> Ausnahmefällen<br />
die an <strong>der</strong> GV teilnehmenden Aktionär<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Aktionäre zu faktischen<br />
Organen im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit werden können, wenn sie<br />
Aufgaben des VR übernehmen <strong>und</strong> funktional an dessen Stelle treten», 39 macht die<br />
Sache ke<strong>in</strong>eswegs besser, son<strong>der</strong>n setzt vielmehr den Stachel für leidvolle Diskussionen<br />
um die aktienrechtliche Verantwortlichkeit <strong>der</strong> Aktionäre im Grenzbereich<br />
zur faktischen Organschaft.<br />
Die Aktiengesellschaft besticht mit dem Paritätspr<strong>in</strong>zip durch e<strong>in</strong> im Wesentlichen<br />
klares <strong>und</strong> damit marktfähiges Konzept. Bewegungen <strong>in</strong> den Gr<strong>und</strong>strukturen<br />
<strong>der</strong> Aktiengesellschaft, welche <strong>in</strong> die bislang als unübertragbar <strong>und</strong> unentziehbar<br />
bezeichneten Organkompetenzen 40 e<strong>in</strong>greifen, stellen deshalb e<strong>in</strong>en<br />
Malus dieses Institutes dar, was auch im <strong>in</strong>ternationalen Standort-Wettbewerb<br />
für die Schweiz negativ <strong>in</strong>s Gewicht fallen kann. Es ist deshalb zu hoffen, dass<br />
<strong>der</strong> Vorschlag des B<strong>und</strong>esrates, den Aktionären gestützt auf e<strong>in</strong>e statutarische<br />
Gr<strong>und</strong>lage die Genehmigung von Entscheiden des Verwaltungsrates aus dem<br />
Kompetenzbereich des Art. 716a Abs. 1 OR zu ermöglichen, im Zuge <strong>der</strong> wei-<br />
37 Stenographisches Bullet<strong>in</strong> StR vom 9. Juni 2009, S. 620.<br />
38 Vgl. dazu schon bertSch<strong>in</strong>ger, Generalversammlung, S. 314 f.<br />
39 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1687.<br />
40 Art. 716a Abs. 1 OR.<br />
14
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
teren Diskussionen um die Revision des Aktienrechts ke<strong>in</strong>e Wie<strong>der</strong>belebung<br />
erfährt.<br />
VII. Vergütung<br />
A. Kompetenzfragen<br />
Nach heute wohl herrschen<strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung kann die Generalversammlung über<br />
die Vergütung von Organpersonen nicht b<strong>in</strong>dend, son<strong>der</strong>n lediglich konsultativ<br />
entscheiden. Der Entscheid des Verwaltungsrates über se<strong>in</strong>e eigene Entschädigung<br />
entspricht e<strong>in</strong>em Insichgeschäft, sodass die Entscheidungsträger e<strong>in</strong>em<br />
potentiellen Interessenkonflikt unterliegen. Der B<strong>und</strong>esrat hat deshalb im Gesetzesentwurf<br />
vom Dezember 2007 den Entscheid <strong>der</strong> Generalversammlung<br />
über die Entschädigung des Verwaltungsrates als bed<strong>in</strong>gt notwendigen Statuten<strong>in</strong>halt<br />
etabliert (Art. 627 Ziff. 4 E-OR). In Analogie zu Art. 716a Abs. 1 Ziff.<br />
4 OR, welcher die Ernennung <strong>und</strong> Abberufung <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Geschäftsführung<br />
<strong>und</strong> Vertretung betrauten Personen durch den Verwaltungsrat betrifft <strong>und</strong> die<br />
Entschädigung dieser Organpersonen e<strong>in</strong>schliesst, lässt sich allerd<strong>in</strong>gs die Zuständigkeit<br />
<strong>der</strong> Generalversammlung für die Entschädigung des Verwaltungsrates<br />
schon unter dem geltenden Recht mit <strong>der</strong> Wahlkompetenz <strong>der</strong> Generalversammlung<br />
gemäss Art. 698 Abs. 2 Ziff. 2 OR verb<strong>in</strong>den. 41<br />
Nach <strong>der</strong> Volks<strong>in</strong>itiative m<strong>in</strong><strong>der</strong> (gegen die Abzockerei) soll die Generalversammlung<br />
jährlich über die Gesamtsumme aller Vergütungen <strong>der</strong> Geschäftsleitung<br />
abstimmen. Diese Kompetenz <strong>der</strong> Aktionäre kann sich im H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>e<br />
angemessene Flexibilität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Anstellung von Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> obersten operativen<br />
<strong>Führung</strong>sebene als problematisch erweisen. Es unterliegt nun <strong>der</strong> sich<br />
h<strong>in</strong>ziehenden politischen Ausmarchung, ob die Kontrolle seitens <strong>der</strong> Aktionäre<br />
41 So schon forStmoSer, Entschädigung, S. 147, Fn. 12; böckli, § 13, N 239b mit Verweis<br />
auf Art. 677 OR zur Tantieme; leu, S. 113; iSler, S. 278; a.M. Watter/roth pellanda,<br />
Art. 716a OR, N 47, wonach Entschädigungssysteme für den Verwaltungsrat <strong>und</strong> die<br />
Geschäftsleitung als wichtiger Teil des Anreizsystems von strategischer Bedeutung<br />
seien <strong>und</strong> deshalb unter die Oberleitungspflicht des Verwaltungsrates fallen. H<strong>in</strong>sichtlich<br />
<strong>der</strong> Entschädigung des Verwaltungsrates fällt <strong>in</strong> Betracht, dass gr<strong>und</strong>sätzlich nicht<br />
davon auszugehen ist, dass <strong>der</strong> Gesetzgeber e<strong>in</strong>e zw<strong>in</strong>gende Kompetenzordnung schaffen<br />
wollte, die im Kern auf e<strong>in</strong>em Interessenkonflikt basiert, sodass <strong>der</strong> b<strong>in</strong>dende Entscheid<br />
<strong>der</strong> Generalversammlung schon unter dem geltenden Recht möglich se<strong>in</strong> muss.<br />
15
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Entschädigung von Organpersonen im aktienrechtlichen Organisationsrecht<br />
verankert werden soll o<strong>der</strong> es bei <strong>der</strong> Ex post-Kontrolle durch das Verantwortlichkeitsrecht<br />
bleibt.<br />
B. «Golden Hellos», «marktübliche» Entschädigung <strong>und</strong><br />
Sorgfaltspflicht <strong>der</strong> Entscheidungsträger<br />
Mittlerweile ist aufgr<strong>und</strong> gewisser Vergütungs-Übertreibungen <strong>und</strong> im Fahrwasser<br />
<strong>der</strong> Volks<strong>in</strong>itiative m<strong>in</strong><strong>der</strong> (gegen die Abzockerei) e<strong>in</strong> nicht leicht überblickbares<br />
Gezänk um verschiedene Fragen <strong>der</strong> Entschädigung von Organpersonen<br />
– Zuständigkeit, 42 Höhe von Entschädigungen, Sanktionen bei Fehlverhalten<br />
– entstanden, wobei die direkten <strong>und</strong> <strong>in</strong>direkten Gegenvorschläge zur<br />
Volks<strong>in</strong>itiative m<strong>in</strong><strong>der</strong> mit etwelcher Hektik aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> folgten. 43 Unbestreitbar<br />
sche<strong>in</strong>t dem Schreibenden, dass im H<strong>in</strong>blick auf den Stellenantritt e<strong>in</strong>er<br />
Organperson bei <strong>der</strong> Entschädigung e<strong>in</strong> breites Ermessen <strong>der</strong> Entscheidungsträger<br />
bestehen muss. Der Anstellungsvertrag entspricht – wirtschaftlich betrachtet<br />
– e<strong>in</strong>er Option zu Gunsten <strong>der</strong> Gesellschaft, von <strong>der</strong> <strong>in</strong> diesem Zeitpunkt<br />
niemand weiss, ob <strong>und</strong> <strong>in</strong> welchem Mass sie e<strong>in</strong>mal «<strong>in</strong> the money» se<strong>in</strong><br />
wird <strong>und</strong> sich als Triebfe<strong>der</strong> für Erträge <strong>der</strong> Gesellschaft erweist. Das verbreitete<br />
Misstrauen gegen «Golden Hellos», die bei richtiger Handhabung als Investitionen<br />
<strong>in</strong> fähige <strong>Führung</strong>skräfte zu verstehen s<strong>in</strong>d, ersche<strong>in</strong>t deshalb nicht als<br />
gerechtfertigt. 44<br />
Auch die For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong> «marktüblichen» Entschädigung vermag als Leitl<strong>in</strong>ie<br />
nicht ohne Weiteres zu überzeugen, 45 da sie e<strong>in</strong>er Nivellierung Vorschub leistet.<br />
Selbst e<strong>in</strong>e im Branchenvergleich «unüblich» hohe Entschädigung zu Gunsten<br />
e<strong>in</strong>er Organperson sollte für die Entscheidungsträger im Falle e<strong>in</strong>es wirtschaftlichen<br />
Misserfolges nicht per se zu e<strong>in</strong>em Haftungsrisiko werden. Wichtiger als<br />
die Höhe e<strong>in</strong>er Entschädigung ist <strong>der</strong>en Ausgestaltung mit Blick auf die (risiko-<br />
42 Vgl. dazu schon unter VII.A.<br />
43 Vgl. dazu die jeweilige Übersicht <strong>in</strong> GesKR zum Verlauf <strong>der</strong> Revision des Aktien- <strong>und</strong><br />
Rechnungslegungsrechts.<br />
44 Die Richtl<strong>in</strong>ien zur Ausübung <strong>der</strong> Stimmrechte 2011 von ethos (www.ethosf<strong>und</strong>.ch)<br />
sehen <strong>in</strong> Anhang 2 zur Struktur von Vergütungssystemen vor, dass die Arbeitsverträge<br />
<strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> von <strong>Führung</strong>s<strong>in</strong>stanzen ke<strong>in</strong>e Anstellungsprämien (Golden Hellos)<br />
ohne Leistungskriterien vorsehen sollen, stehen <strong>der</strong>artigen Prämien also nicht generell<br />
entgegen.<br />
45 Vgl. dazu auch unter VII.C.<br />
16
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
gewichtete) Anreizwirkung. 46 In diesem Rahmen unterliegt die Festlegung von<br />
Vergütungen den allgeme<strong>in</strong>en Kautelen <strong>der</strong> «Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule» schweizerischer<br />
Prägung. 47<br />
Die Diskussion um die Vergütung hat sich <strong>in</strong> den eidgenössischen Räten weiter<br />
entwickelt. Gestützt auf e<strong>in</strong>en Vorschlag des B<strong>und</strong>esrates als Reaktion auf die<br />
«Abzocker»-Initiative 48 wurde schliesslich e<strong>in</strong> neuer Art. 717 Abs. 1 bis E-OR <strong>in</strong>s<br />
Spiel gebracht. Danach müssen die Art. 717 Abs. 1 OR unterliegenden Personen<br />
<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e bei <strong>der</strong> Festlegung <strong>der</strong> Vergütungen dafür sorgen, dass diese sowohl<br />
mit <strong>der</strong> wirtschaftlichen Lage als auch mit dem dauernden Gedeihen des<br />
Unternehmens im E<strong>in</strong>klang stehen <strong>und</strong> sich e<strong>in</strong> angemessenes Verhältnis zu den<br />
Aufgaben, Leistungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>der</strong> Empfänger ergibt.<br />
Zu Recht wurde bereits vor den Gefahren e<strong>in</strong>er erhöhten Sorgfaltspflicht <strong>der</strong> Verwaltungsräte<br />
für die Festlegung von Vergütungen gewarnt. 49 Wie bei jedem an<strong>der</strong>en<br />
Geschäftsführungsentscheid muss auch bei <strong>der</strong> Festlegung e<strong>in</strong>er Vergütung<br />
e<strong>in</strong>e konsequente Ex ante-Betrachtung greifen, welche durch das urteilende<br />
Gericht im Rahmen <strong>der</strong> objektiv nachträglichen Prognose zu beachten ist. 50 Die <strong>in</strong><br />
Art. 717 Abs. 1 bis E-OR aufgeführten Kriterien – wirtschaftliche Lage, dauerndes<br />
Gedeihen des Unternehmens, Aufgaben, Leistungen <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> – entsprechen<br />
den Leitl<strong>in</strong>ien, denen sich verantwortungsbewusste Entscheidungsträger<br />
<strong>in</strong> Unternehmen ohneh<strong>in</strong> verpflichtet fühlen. Sie dürften bei richtiger Lesart<br />
das gr<strong>und</strong>sätzlich breite Ermessen <strong>der</strong> Entscheidungsträger bei <strong>der</strong> Festsetzung<br />
<strong>der</strong> Vergütung also kaum beschränken. Da stets das «Humankapital» das Geschäft<br />
treibt, macht es volkswirtschaftlich ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, für die Investitionen <strong>in</strong><br />
die personellen Ressourcen des Unternehmens Kautelen aufzustellen, welche<br />
das unternehmerische Verhalten im Kampf um die besten Talente e<strong>in</strong>schränkt. 51<br />
Selbstverständlich fällt – als Ausfluss <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verant-<br />
46 forStmoSer, Entschädigung, S. 157.<br />
47 Vgl. dazu schon oben III.<br />
48 Vgl. Botschaft Abzockerei, S. 344, betr. Art. 717 Abs. 1a E-OR.<br />
49 böckli, Gesetzgeber, S. 36 f., zum Vorschlag des B<strong>und</strong>esrates, dass <strong>der</strong> Verwaltungsrat<br />
bei <strong>der</strong> Festlegung <strong>der</strong> Vergütungen dafür sorgen muss, dass diese sowohl mit <strong>der</strong><br />
wirtschaftlichen Lage als auch mit dem dauernden Gedeihen des Unternehmens im<br />
E<strong>in</strong>klang stehen.<br />
50 Dazu allgeme<strong>in</strong> bertSch<strong>in</strong>ger, Verantwortlichkeit, N 29.<br />
51 Zu Recht hält die Botschaft Abzockerei, S. 319, die Selbstverständlichkeit fest, dass<br />
«auch Situationen denkbar (s<strong>in</strong>d), <strong>in</strong> denen es trotz schlechter wirtschaftlicher Lage<br />
angezeigt se<strong>in</strong> kann, attraktive Löhne zu gewähren, um hoch qualifizierte <strong>Führung</strong>s-<br />
<strong>und</strong> Fachkräfte halten o<strong>der</strong> rekrutieren zu können.»<br />
17
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
wortlichkeit als Verschuldenshaftung – e<strong>in</strong>e Erfolgshaftung <strong>der</strong> Entscheidungsträger,<br />
welche e<strong>in</strong>e Vergütung gesprochen haben, bei wirtschaftlichem Misserfolg<br />
ausser Betracht. Zudem limitiert <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>satz, dass (Arbeits-)Verträge<br />
e<strong>in</strong>zuhalten s<strong>in</strong>d, die Verantwortlichkeit von Organpersonen, die <strong>in</strong> guten Treuen<br />
über e<strong>in</strong>e Vergütung für e<strong>in</strong>e angemessene Dauer entschieden haben. Es<br />
gehört allerd<strong>in</strong>gs zu den Sorgfaltspflichten von Organpersonen, e<strong>in</strong> Vergütungspaket<br />
möglichst flexibel auszugestalten, um unter geän<strong>der</strong>ten Verhältnissen<br />
bei <strong>der</strong> Vergütung Anpassungen vornehmen zu können. In diesem S<strong>in</strong>ne ist<br />
die Äusserung <strong>in</strong> den Materialien zu verstehen, dass es unsorgfältig wäre, wenn<br />
<strong>der</strong> Verwaltungsrat o<strong>der</strong> die mit <strong>der</strong> Geschäftsführung befassten Personen<br />
Vergütungssysteme e<strong>in</strong>führen würden, die selbst <strong>in</strong> Verlustsituationen den dafür<br />
verantwortlichen Personen noch e<strong>in</strong>e «leistungsabhängige» zusätzliche<br />
Vergütung gewähren. 52<br />
Der Verwaltungsrat muss die erfor<strong>der</strong>lichen Massnahmen ergreifen, um Interessenkonflikte<br />
bei <strong>der</strong> Entschädigung von Organpersonen angemessen zu<br />
handhaben. 53 Zu diesem Zweck hat sich bei den börsenkotierten Gesellschaften<br />
die Bildung von Compensation Committees etabliert, die im Wesentlichen durch<br />
nicht-exekutive <strong>und</strong> unabhängige Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates besetzt se<strong>in</strong><br />
sollten. 54 Der Verwaltungsrat kommt damit se<strong>in</strong>er Organisationspflicht nach.<br />
Gemäss Lehre <strong>und</strong> Rechtsprechung muss e<strong>in</strong> Verwaltungsratsmitglied <strong>in</strong> den<br />
Ausstand treten, wenn über Verträge zwischen ihm o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er ihm nahe stehenden<br />
Person <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft entschieden wird. 55 Freilich schützt im Falle<br />
e<strong>in</strong>er pflichtwidrigen Handlung <strong>der</strong> Ausstand e<strong>in</strong> Mitglied nicht vor Verantwortlichkeit,<br />
etwa bei e<strong>in</strong>er geldwerten Leistung <strong>der</strong> Aktiengesellschaft ohne<br />
Gegenleistung des Empfängers, <strong>der</strong> sich im Ausstand bef<strong>in</strong>det. 56<br />
52 Botschaft Abzockerei, S. 318.<br />
53 Vgl. BGE 130 III 219; siehe auch Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance,<br />
N 16.<br />
54 Vgl. Swiss Code of Best Practice, N 25/26 sowie Anhang 1: Empfehlungen zu den Entschädigungen<br />
für Verwaltungsrat <strong>und</strong> Geschäftsleitung vom September 2007.<br />
55 B<strong>und</strong>esgericht 4A_462/2009 vom 16. März 2010, E. 6.3 (<strong>in</strong> BGE 136 III 322 nicht ver-<br />
öffentlicht).<br />
56 B<strong>und</strong>esgericht 4A_462/2009 vom 16. März 2010, E. 6 (<strong>in</strong> BGE 136 III 322 nicht veröf-<br />
18<br />
fentlicht).
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
C. Konkretes zur Höhe <strong>der</strong> Vergütung an Organpersonen<br />
Die Höhe von Entschädigungen e<strong>in</strong>zelner Organpersonen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong><br />
börsenkotierten Gesellschaften, ist <strong>in</strong> breiten Bevölkerungskreisen auf Interesse<br />
gestossen. Illustrativ ist das Urteil des Kantonsgerichts Graubünden vom<br />
10. Juni 2008, wenngleich es lediglich kle<strong>in</strong>e Verhältnisse betrifft. 57 Das Gericht<br />
führt aus, dass bei <strong>der</strong> Festlegung des Honorars von Verwaltungsräten e<strong>in</strong> «relativ<br />
weiter Ermessungsspielraum» besteht. Die Grenze liegt im offensichtlichen<br />
Missverhältnis zur Gesamtleistung des Verwaltungsrates gemäss Art. 678 Abs. 2<br />
OR. Nach Auffassung des Gerichts darf «das Mass <strong>der</strong> Marktüblichkeit nicht überschritten<br />
werden». Im E<strong>in</strong>zelnen hält das Gericht zur Höhe <strong>der</strong> Entschädigung des<br />
Verwaltungsrates folgendes fest: «Die Festsetzung des Honorars erfolgt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
nach den Kriterien <strong>der</strong> Beanspruchung bzw. des Umfangs <strong>der</strong> geleisteten Arbeit, des<br />
Erfolgs <strong>der</strong> Geschäftsführung, <strong>der</strong> Bedeutung <strong>und</strong> <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Situation <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
sowie <strong>der</strong> <strong>Verantwortung</strong>. Das Verwaltungsratshonorar muss angemessen se<strong>in</strong>,<br />
wobei die Angemessenheit im E<strong>in</strong>zelfall unter Berücksichtigung <strong>der</strong> konkreten Umstände<br />
zu beurteilen ist. Die wirtschaftliche Entwicklung <strong>der</strong> Gesellschaft spielt dabei e<strong>in</strong>e<br />
wichtige Rolle.»<br />
Im erwähnten Fall geht es um e<strong>in</strong>e Confiserie mit Mietwohnungen, also den<br />
Alltag e<strong>in</strong>es KMU. Der Verwaltungsratspräsident bezog CHF 2000 pro Monat<br />
<strong>und</strong> zwar CHF 1500 als Honorar sowie CHF 500 für Spesen. Die beiden weiteren<br />
Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates erhielten je CHF 600 pro Monat bzw. CHF 400<br />
als Honorar <strong>und</strong> CHF 200 für Spesen. Sowohl das erst- als auch das zweit<strong>in</strong>stanzliche<br />
Gericht hielten die Vergütung für den Verwaltungsratspräsidenten für<br />
überhöht. Zwar wurden die Zusatzaufgaben des Verwaltungsratspräsidenten<br />
h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>berufung <strong>und</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Sitzungen des Gremiums<br />
sowie <strong>der</strong> Vertretung <strong>der</strong> Gesellschaft nach aussen anerkannt. Allerd<strong>in</strong>gs wurde<br />
auch dafür gehalten, dass die <strong>Verantwortung</strong> von allen drei Verwaltungsräten<br />
geme<strong>in</strong>sam zu tragen war, was als H<strong>in</strong>weis aufzufassen ist, dass die Spannweite<br />
<strong>der</strong> Entschädigungen <strong>der</strong> verschiedenen Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates e<strong>in</strong><br />
nach den konkreten Umständen angemessenes Verhältnis nicht überschreiten<br />
sollte. Und schliesslich wurde auch angemerkt, dass sich die f<strong>in</strong>anzielle Situation<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft <strong>in</strong> den vergangenen Jahren stetig verschlechtert hatte, sodass<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft sogar Hypothekarkredite gekündigt wurden.<br />
57 Urteil ZF 08 19/20, verfügbar auf www.gr.ch/Entscheidungen ab 2003.<br />
19
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
Das Kantonsgericht reduzierte die monatlichen Bezüge des Verwaltungsratspräsidenten<br />
auf CHF 600 <strong>und</strong> zusätzlich CHF 250 für Spesen. Daraus resultierte<br />
für den Verwaltungsratspräsidenten e<strong>in</strong>e Vergütung von gesamthaft CHF 850,<br />
statt <strong>der</strong> ursprünglichen CHF 2000 pro Monat. Die Haftung <strong>der</strong> Verwaltungsräte<br />
aus Art. 754 OR im Umfang <strong>der</strong> überhöhten Bezüge wurde bejaht, nachdem<br />
Aktionäre <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em seltenen Fall auf Leistung an die Gesellschaft geklagt<br />
hatten (Art. 756 OR).<br />
Das Urteil lässt erahnen, womit als Verwaltungsrat e<strong>in</strong>es KMU vor e<strong>in</strong>em Landgericht<br />
zu rechnen ist. Bei den Grossgesellschaften besteht aus verschiedenen<br />
Gründen e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Kalkül, sei es, dass die Prozesskosten zu hoch o<strong>der</strong> die<br />
mediale Aufmerksamkeit zu gross ist. Hier ergeben sich unter dem geltenden<br />
Recht Impulse durch die Konsultativabstimmungen über den Entschädigungsbericht,<br />
<strong>der</strong> im Anhang zum Swiss Code of Best Practice vom September 2007<br />
empfohlen wird. 58<br />
D. Abgangsentschädigungen<br />
Im Abgangsstadium ist für jegliche Zahlungen <strong>und</strong> sonstigen geldwerten Leistungen<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft, die erst vere<strong>in</strong>bart werden, nachdem sich das Ausscheiden<br />
e<strong>in</strong>er <strong>Führung</strong>skraft abzeichnet o<strong>der</strong> gar beschlossene Sache ist, gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
ke<strong>in</strong> Spielraum vorhanden. Derartige Leistungen lassen sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nur<br />
mit dem Agency-Konzept <strong>der</strong> Aktiengesellschaft erklären, s<strong>in</strong>d also durch den<br />
Umstand begünstigt, dass die Verwaltungsräte mit fremdem Geld umgehen.<br />
Immerh<strong>in</strong> kann nicht a priori ausser Betracht fallen, dass sich e<strong>in</strong>e Abgangsentschädigung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em konkreten Fall aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Anreizwirkung für die verbleibenden<br />
<strong>und</strong> potentiellen Organpersonen e<strong>in</strong>er Gesellschaft rechtfertigen<br />
lässt. 59 Man darf sich allerd<strong>in</strong>gs nicht w<strong>und</strong>ern, wenn Leistungen mit Entschädigungscharakter<br />
ohne vorgängige vertragliche Vere<strong>in</strong>barung an e<strong>in</strong>e scheidende<br />
<strong>Führung</strong>skraft als wirtschaftlich unvernünftig taxiert werden, was zur Haf-<br />
58 Vgl. dazu die Ethos Studie Vergütungen 2010 <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>s<strong>in</strong>stanzen, Unternehmen<br />
<strong>der</strong> Börsen<strong>in</strong>dizes SMI <strong>und</strong> SMIM: 48 grösste <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz kotierte Unternehmen,<br />
Juni 2011, Ziff. 4, S. 27 ff.<br />
59 Vgl. dazu den deutschen (Straf-)Fall «Mannesmann», Urteil des Landgerichtes Düsseldorf<br />
vom 22. Juli 2004, XIV. Grosse Strafkammer, XIV 5/03, Ziff. V.1 (wie<strong>der</strong>gegeben<br />
<strong>in</strong> NJW 2004, S. 3279), wo e<strong>in</strong>e Anreiz- o<strong>der</strong> Werbewirkung e<strong>in</strong>er «Anerkennungsprämie»<br />
für an<strong>der</strong>e potenzielle Vorstandsmitglie<strong>der</strong> verne<strong>in</strong>t wurde.<br />
20
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
tung <strong>der</strong> Entscheidungsträger aus Art. 754 OR führen kann. 60 Haftungsfragen<br />
könnten sich auch stellen, falls e<strong>in</strong>e entsprechende Anpassung des Arbeitsvertrages<br />
erfolgt, nachdem sich das Ausscheiden e<strong>in</strong>er <strong>Führung</strong>skraft aus <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
abzeichnet, sofern sich für diese Vertragsanpassung ke<strong>in</strong> sachlicher<br />
Gr<strong>und</strong> f<strong>in</strong>det. 61<br />
E. Rückerstattung von Vergütungen<br />
Im Zuge <strong>der</strong> Revision des Aktienrechts soll die Ex post-Kontrolle über Leistungen<br />
an Organpersonen im Rahmen von Art. 678 E-OR verstärkt werden, <strong>in</strong>dem<br />
auf die durch den Begünstigten «erbrachte» Gegenleistung Bezug genommen<br />
wird. 62 Selbst im Falle, wo e<strong>in</strong>e überschiessende Vergütung nach Art. 678 OR<br />
zurückzuerstatten, aber vom Betroffenen nicht e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>glich ist, besteht auch<br />
weiterh<strong>in</strong> nicht zwangsläufig e<strong>in</strong>e Haftung <strong>der</strong>jenigen Organpersonen, welche<br />
den Entscheid über diese Vergütung getroffen haben. 63 E<strong>in</strong>e Vergütung ist unter<br />
Art. 754 OR nur haftungsbegründend, wenn das Missverhältnis bereits im<br />
Zeitpunkt des Vergütungsentscheides als gegeben ersche<strong>in</strong>t, was (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
wohl seltenen Fall) aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er im Voraus absehbar <strong>in</strong>adäquaten Gegenleistung<br />
des Empfängers zutreffen könnte. Das «angemessene Verhältnis (<strong>der</strong><br />
Vergütung) zu den Aufgaben, Leistungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>der</strong> Empfänger»,<br />
wie es die neue Sorgfaltspflicht des Art. 717 Abs. 1 bis E-OR verlangt, 64 kann<br />
60 Vgl. dazu auch unter III. bei Fn. 16.<br />
61 Vgl. dazu die Empfehlung V <strong>der</strong> Übernahmekommission vom 23. August 2005 i.S. öffentliches<br />
Kaufangebot von Sumida Hold<strong>in</strong>g für die Aktien <strong>der</strong> Saia-Burgess Electronics<br />
Hold<strong>in</strong>g AG, wo vor <strong>der</strong> Voranmeldung des Kaufangebotes die Kündigungsfristen<br />
<strong>in</strong> den Arbeitsverträgen <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppenleitung verlängert wurden, was<br />
sowohl die Übernahmekommission <strong>in</strong> <strong>der</strong> erwähnten Empfehlung als auch die Übernahmekammer<br />
<strong>der</strong> Eidg. Bankenkommission mit Verfügung vom 19. September 2005<br />
als Verstoss gegen das Aktienrecht (Art. 717 OR) qualifizierten, weil diese Bestimmung<br />
das E<strong>in</strong>gehen von Geschäften ohne adäquate Gegenleistung verbietet.<br />
62 Botschaft Abzockerei, S. 316, wonach durch die Verbesserung <strong>der</strong> Rückerstattungsklage<br />
auch die Rückfor<strong>der</strong>ung von «exzessiven Vergütungen» erleichtert werden soll; vgl.<br />
auch bertSch<strong>in</strong>ger, Berichterstattung, S. 585.<br />
63 Zur umgekehrten Situation Botschaft Abzockerei, S. 318, wonach marktkonforme<br />
Vergütungen des Managements, die aufgr<strong>und</strong> des fehlenden Missverhältnisses zur<br />
erbrachten Gegenleistung nicht <strong>der</strong> Rückerstattungsklage nach Art. 678 Abs. 2 E-OR<br />
unterliegen, trotzdem zu e<strong>in</strong>er Haftung des Verwaltungsrates führen können, wenn<br />
diese Vergütungen nicht mit <strong>der</strong> wirtschaftlichen Lage <strong>und</strong> dem dauernden Gedeihen<br />
des Unternehmens im E<strong>in</strong>klang stehen (vgl. dazu bei Fn. 48).<br />
64 Dazu oben unter VII.B. bei Fn. 48.<br />
21
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
ex ante als erfüllt ersche<strong>in</strong>en <strong>und</strong> ex post gleichwohl e<strong>in</strong> «(offensichtliches)<br />
Missverhältnis» im S<strong>in</strong>ne von Art. 678 Abs. 2 E-OR vorliegen. Die mit dem betreffenden<br />
Vergütungsentscheid befassten Organpersonen unterliegen <strong>in</strong> diesem<br />
Fall nicht <strong>der</strong> Haftung des Art. 754 OR.<br />
E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Diskussion dreht sich um die Frage, ob e<strong>in</strong> blosses Missverhältnis<br />
zur Begründung des Anspruches auf Rückerstattung genügen soll o<strong>der</strong> ob das<br />
Missverhältnis zwischen <strong>der</strong> Leistung des Empfängers <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gegenleistung<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft unter Art. 678 Abs. 2 OR weiterh<strong>in</strong> «offensichtlich» se<strong>in</strong> muss.<br />
Nach <strong>der</strong> Botschaft von 2007 ist das Erfor<strong>der</strong>nis e<strong>in</strong>es offensichtlichen Missverhältnisses<br />
zwischen Leistung <strong>und</strong> Gegenleistung «materiell begründet, weil die<br />
Preisbildung gerichtlich nicht überprüft werden soll, solange sie Marktgr<strong>und</strong>sätzen<br />
folgt». 65 Falls e<strong>in</strong> blosses Missverhältnis genügt, würde sich <strong>der</strong> Spielraum für die<br />
Rückfor<strong>der</strong>ung wohl etwas erhöhen, wenngleich die entsprechende Botschaft<br />
diesen E<strong>in</strong>druck zu zerstreuen versucht. 66 Diese Diskussion ist mit Blick auf die<br />
Geschäftsführungshaftung <strong>in</strong>sofern relevant, als sich im Umfang <strong>der</strong> Une<strong>in</strong>br<strong>in</strong>glichkeit<br />
des Rückerstattungsbetrages vom Leistungsempfänger – im Rahmen<br />
<strong>der</strong> objektiv nachträglichen Prognose 67 – die Frage nach <strong>der</strong> Geschäftsführungshaftung<br />
<strong>der</strong> Organpersonen stellen kann, welche die Vergütung genehmigt<br />
haben.<br />
F. Soziale Dimension <strong>der</strong> Vergütung<br />
E<strong>in</strong>e unter Umständen brisante Frage ist, <strong>in</strong>wiefern <strong>der</strong> Verwaltungsrat bei <strong>der</strong><br />
Entschädigung von Organpersonen das Empf<strong>in</strong>den breiterer Bevölkerungsschichten<br />
<strong>in</strong>s Kalkül e<strong>in</strong>beziehen sollte. Die Frage stellen, heisst gleichzeitig sie<br />
zu bejahen, da sich die Gesellschaft nach dem anschaulichen Schalenmodell<br />
auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sozialen Umfeld bef<strong>in</strong>det, <strong>in</strong> welches sie sich angemessen e<strong>in</strong>betten<br />
muss. 68 Es vermag denn auch nicht zu erstaunen, dass <strong>der</strong> Umgang mit dem<br />
Geld durch die Organpersonen nicht nur im Aktionariat son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> den<br />
65 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1664.<br />
66 Gemäss Botschaft Abzockerei, S. 316, br<strong>in</strong>gt bereits das blosse «Missverhältnis» e<strong>in</strong><br />
«beträchtliches Ungleichgewicht» zwischen Leistung <strong>und</strong> Gegenleistung zum Ausdruck<br />
<strong>und</strong> es muss «<strong>der</strong> Wert <strong>der</strong> Gegenleistung <strong>der</strong> Empfänger<strong>in</strong> … schon aufgr<strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Voraussetzung e<strong>in</strong>es Missverhältnisses weiterh<strong>in</strong> klar <strong>und</strong> zweifelsfrei unter dem<br />
Wert <strong>der</strong> Leistung <strong>der</strong> Gesellschaft liegen»; kritisch böckli, Gesetzgeber, S. 35 f.<br />
67 Vgl. bei Fn. 50.<br />
68 Vgl. die schematische Darstellung bei m<strong>in</strong><strong>der</strong>, S. 36.<br />
22
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
Medien <strong>und</strong> <strong>der</strong> Politik zu Diskussionen führt, da das Geld die Leute schlicht<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong>teressiert. Unabhängig von e<strong>in</strong>er allfälligen Empörung Aussenstehen<strong>der</strong><br />
muss unter rechtlichem Gesichtspunkt <strong>der</strong> Entscheidungsprozess, welcher<br />
zu e<strong>in</strong>er bestimmten anreizorientierten Vergütung führt, massgeblich<br />
bleiben. 69 Die Komponenten e<strong>in</strong>er Vergütung sollten für e<strong>in</strong>en unvore<strong>in</strong>genommenen<br />
Dritten nachvollziehbar se<strong>in</strong>.<br />
VIII. Interessenkonflikte von Organpersonen –<br />
Aktuelle Entwicklungen<br />
A. Interessenkonflikte im Allgeme<strong>in</strong>en<br />
Schon vor e<strong>in</strong>iger Zeit hat das B<strong>und</strong>esgericht entschieden, dass strenge Massstäbe<br />
anzulegen s<strong>in</strong>d, wenn Verwaltungsräte nicht im Interesse <strong>der</strong> Gesellschaft,<br />
son<strong>der</strong>n im eigenen Interesse, <strong>in</strong> demjenigen von Aktionären o<strong>der</strong> von Drittpersonen<br />
handeln. 70 Dieser Gr<strong>und</strong>satz fliesst unter geltendem Recht aus <strong>der</strong><br />
Treuepflicht <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung<br />
gegenüber <strong>der</strong> Gesellschaft, wie sie <strong>in</strong> Art. 717 Abs. 1 OR nie<strong>der</strong>gelegt ist. Da<br />
allgeme<strong>in</strong>e Gr<strong>und</strong>sätze im mo<strong>der</strong>nen Wirtschaftsrecht zunehmend verdrängt<br />
werden, hat <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrat mit Art. 717a E-OR für die Interessenkonflikte e<strong>in</strong>en<br />
spezifischen Akzent gesetzt. 71 Nach diesem Gesetzesentwurf <strong>in</strong>formieren die<br />
Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung den Präsidenten des<br />
Verwaltungsrates unverzüglich <strong>und</strong> vollständig über Interessenkonflikte. Bef<strong>in</strong>det<br />
sich <strong>der</strong> Präsident <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interessenkonflikt, wendet er sich an den stellvertretenden<br />
Präsidenten. Der Präsident o<strong>der</strong> <strong>der</strong> stellvertretende Präsident<br />
<strong>in</strong>formiert, soweit erfor<strong>der</strong>lich, den Verwaltungsrat. Gestützt darauf ergreift<br />
<strong>der</strong> Verwaltungsrat diejenigen Massnahmen, die zur Wahrung <strong>der</strong> Interessen<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft nötig s<strong>in</strong>d. Der Vorschlag des B<strong>und</strong>esrates sieht zudem vor,<br />
dass die von e<strong>in</strong>em Interessenkonflikt betroffene Person bei <strong>der</strong> Beschlussfassung<br />
über die entsprechenden Massnahmen <strong>in</strong> den Ausstand tritt.<br />
69 Vgl. bei Fn. 46.<br />
70 BGE 113 II 52, E. 3.a.<br />
71 Heute orientiert sich die Praxis an Ziffer 16 des Swiss Code of Best Practice for Corpo-<br />
Praxis an Ziffer 16 des Swiss Code of Best Practice for Corporate<br />
Governance.<br />
23
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
Die Botschaft betont, dass es sich bei Art. 717a E-OR um e<strong>in</strong>e «wichtige Neuerung<br />
für e<strong>in</strong>e gute Corporate Governance» handelt. 72 Vergleichbar <strong>der</strong> Regelung bei den<br />
Revisoren 73 müssen die Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung<br />
tatsächlich sowie dem Ansche<strong>in</strong> nach <strong>in</strong> ihrer Entscheidungsf<strong>in</strong>dung unabhängig<br />
se<strong>in</strong> bzw. ke<strong>in</strong>em tatsächlichen o<strong>der</strong> potentiellen Interessenkonflikt<br />
unterliegen. Die «<strong>in</strong>dependence <strong>in</strong> fact» <strong>und</strong> die «<strong>in</strong>dependence <strong>in</strong> appearance» gehören<br />
zum Anfor<strong>der</strong>ungsprofil <strong>der</strong> Organpersonen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft.<br />
Das Vertrauen <strong>in</strong> die Unternehmensführung würde auch untergraben, wenn die<br />
Unabhängigkeit <strong>der</strong> Verwaltungsräte o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong><br />
bloss dem Ansche<strong>in</strong> nach bee<strong>in</strong>trächtigt wäre. 74 Wer e<strong>in</strong>em Interessenkonflikt<br />
unterliegt, ist <strong>in</strong> den Angelegenheiten <strong>der</strong> Gesellschaft nicht mehr frei <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Entscheidungsf<strong>in</strong>dung, womit die Interessen <strong>der</strong> Gesellschaft potentiell bee<strong>in</strong>trächtigt<br />
s<strong>in</strong>d. Entscheidungsträger sollten sich des rechtlichen Gehaltes von<br />
Interessenkonflikten bewusst se<strong>in</strong>, da – wie sogleich darzulegen ist – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
konfliktträchtigen Entscheidungsf<strong>in</strong>dung unter Umständen e<strong>in</strong>e hohe verantwortlichkeitsrechtliche<br />
Sprengkraft liegen kann. 75<br />
B. Verbot gegenseitiger E<strong>in</strong>flussnahme auf Entschädigungen<br />
Art. 717b E-OR des b<strong>und</strong>esrätlichen Entwurfes zur Aktienrechtsrevision schreibt<br />
vor, dass bei Gesellschaften, <strong>der</strong>en Aktien an <strong>der</strong> Börse kotiert s<strong>in</strong>d, ausgeschlossen<br />
se<strong>in</strong> muss, dass Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung,<br />
die zugleich dem Verwaltungsrat o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Gesellschaft<br />
angehören, gegenseitig E<strong>in</strong>fluss auf die Festsetzung ihrer Vergütungen<br />
haben. Sofern bei <strong>der</strong> Beschlussfassung über Vergütungen gegen diesen<br />
Gr<strong>und</strong>satz verstossen wird, ist <strong>der</strong> Beschluss nichtig. Die Art <strong>der</strong> Bee<strong>in</strong>flussung<br />
von Entschädigungen ist nach <strong>der</strong> Botschaft irrelevant. 76<br />
Bei <strong>der</strong> kreuzweisen Mitgliedschaft, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> Entschädigungsausschüssen<br />
von börsenkotierten Gesellschaften, handelt es sich um e<strong>in</strong>en spezifischen<br />
potentiellen Interessenkonflikt, <strong>der</strong> dem B<strong>und</strong>esrat e<strong>in</strong>e spezielle Norm wert<br />
72 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1687.<br />
73 Vgl. Art. 728 Abs. 1 OR <strong>und</strong> Art. 729 Abs. 1 OR.<br />
74 In Analogie zur Unabhängigkeit <strong>der</strong> Revisionsstelle; vgl. Botschaft Revisionsrecht,<br />
S. 4018.<br />
75 Vgl. unten VIII.C.<br />
76 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1688.<br />
24
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
ist. 77 Das B<strong>und</strong>esgericht hat schon verschiedentlich festgehalten, dass es im<br />
schweizerischen Arbeitsrecht über alle Stufen e<strong>in</strong>er Aktiengesellschaft h<strong>in</strong>weg<br />
lediglich e<strong>in</strong>e Kategorie von Arbeitnehmern gibt. 78 Da Art. 717b Abs. 2 E-OR<br />
e<strong>in</strong>en Gehalt als Son<strong>der</strong>arbeitsrecht für Topka<strong>der</strong>leute aufweist, sollte <strong>der</strong> Normverstoss<br />
mit <strong>der</strong> Nichtigkeitsfolge e<strong>in</strong>er tendenziell restriktiven Handhabung<br />
unterliegen.<br />
C. Interessenkonflikte von Organpersonen <strong>und</strong><br />
Verantwortlichkeit<br />
Die Botschaft des B<strong>und</strong>esrates zur Revision des Aktienrechts verweist darauf,<br />
dass Organmitglie<strong>der</strong>, welche die Gesellschaft aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es fehlerhaften<br />
Umgangs mit e<strong>in</strong>em Interessenkonflikt schädigen, gestützt auf Art. 754 OR<br />
haftbar werden können. 79 E<strong>in</strong> Interessenkonflikt, <strong>der</strong> sich zum Schaden <strong>der</strong><br />
Gesellschaft auswirkt, stellt e<strong>in</strong>e Pflichtverletzung dar. Unter Art. 717a E-OR<br />
erwähnt die Botschaft den Fall, dass e<strong>in</strong> Organmitglied <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er engen Beziehung<br />
zu e<strong>in</strong>em Dritten steht, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Gesellschaft geschäftliche Beziehungen<br />
pflegt. 80 E<strong>in</strong> Interessenkonflikt kann seitens e<strong>in</strong>es Verwaltungsrates auch<br />
dar<strong>in</strong> bestehen, dass aufgr<strong>und</strong> substantieller Beratungsmandate von e<strong>in</strong>er wirtschaftlichen<br />
Abhängigkeit auszugehen ist. Bei den Revisionsgesellschaften hat<br />
sich im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Unabhängigkeit e<strong>in</strong> Schwellenwert von 10%<br />
für das jährliche Honorar aus Revisions- <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Dienstleistungen für e<strong>in</strong>e<br />
e<strong>in</strong>zelne Gesellschaft <strong>und</strong> die mit ihr durch e<strong>in</strong>heitliche Leitung verb<strong>und</strong>enen<br />
Gesellschaften (Konzern) etabliert. 81 Was für die Revisionsstelle als Sek<strong>und</strong>ärorgan<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft 82 gilt, muss gr<strong>und</strong>sätzlich auch für die primären Gesellschaftsorgane<br />
(Verwaltungsräte) 83 anwendbar se<strong>in</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs wird man die<br />
Konfliktträchtigkeit bzw. die (potentielle) Bee<strong>in</strong>flussung <strong>der</strong> Entscheidungsfreiheit<br />
e<strong>in</strong>es Organträgers, welche sich aus substantiellen Aufträgen seitens <strong>der</strong><br />
77 Watter, S. 296, macht geltend, dass es sich um e<strong>in</strong>e sehr seltene Konstellation handle.<br />
78 BGE 130 III 213, E. 2.1; B<strong>und</strong>esgericht 4C.39/2005 vom 8. Juni 2005, E. 2.<br />
79 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1688 f.; vgl. auch Watter, S. 295.<br />
80 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1688.<br />
81 Vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. a des Revisionsaufsichtsgesetzes (RAG) sowie die Unabhängigkeitsrichtl<strong>in</strong>ien<br />
<strong>der</strong> Treuhand-Kammer 2007 (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Fassung vom 6. Dezember 2010),<br />
Ziff. IX.<br />
82 B<strong>und</strong>esgericht 4C.118/2005 vom 8. August 2005, E. 4.3.<br />
83 Auf <strong>der</strong> Stufe <strong>der</strong> Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong> dürften Zusatzaufträge e<strong>in</strong>e seltene<br />
Konstellation darstellen.<br />
25
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
Gesellschaft ergeben kann, stets im E<strong>in</strong>zelfall beurteilen müssen. Gegen e<strong>in</strong>e<br />
starre Anwendung von Schwellenwerten ist bei den Verwaltungsräten die gleiche<br />
Vorsicht geboten, wie sie das B<strong>und</strong>esgericht bereits bei den Revisoren zum<br />
Ausdruck gebracht hat. In BGE 131 III 44 hat das B<strong>und</strong>esgericht unter Bezugnahme<br />
auf e<strong>in</strong>e ältere Version <strong>der</strong> Unabhängigkeitsrichtl<strong>in</strong>ien <strong>der</strong> Treuhand-<br />
Kammer Folgendes festgehalten: «e<strong>in</strong>e unzulässige wirtschaftliche Abhängigkeit<br />
(lässt) sich nicht <strong>der</strong>art mit e<strong>in</strong>em ziffernmässig festgelegten Anteil <strong>der</strong> Honorare<strong>in</strong>nahmen<br />
verknüpfen, dass bei e<strong>in</strong>em Wert, <strong>der</strong> ger<strong>in</strong>gfügig unterhalb <strong>der</strong> Limite liegt, die<br />
Unabhängigkeit per se gegeben <strong>und</strong> bei e<strong>in</strong>em Wert ger<strong>in</strong>gfügig darüber per se e<strong>in</strong>e<br />
Abhängigkeit anzunehmen wäre. … Vielmehr ist von Fall zu Fall zu prüfen, ob die Höhe<br />
des Anteils <strong>der</strong> aus e<strong>in</strong>em Revisionsmandat fliessenden Honorare die Unabhängigkeit<br />
<strong>der</strong> Revisionsstelle bee<strong>in</strong>trächtigt.»<br />
Unter verantwortlichkeitsrechtlichem Gesichtspunkt stellt <strong>der</strong> Beweis des Kausalzusammenhangs<br />
zwischen dem bestehenden Interessenkonflikt bzw. <strong>der</strong><br />
Pflichtverletzung seitens e<strong>in</strong>er geschäftsführenden Organperson e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> Entstehung des Schadens an<strong>der</strong>seits das eigentliche «pièce de résistance»<br />
dar. Allerd<strong>in</strong>gs wird e<strong>in</strong>e Organperson, sofern sich im Verantwortlichkeitsprozess<br />
e<strong>in</strong> Interessenkonflikt durch den Kläger substantiieren lässt, e<strong>in</strong>er starken<br />
Darlegungs- <strong>und</strong> Gegenbeweislast ausgesetzt. 84 Mit Blick auf die Kautelen unter<br />
<strong>der</strong> hiesigen Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule 85 kann e<strong>in</strong> Interessenkonflikt bzw. die<br />
damit verb<strong>und</strong>ene mangelnde Unabhängigkeit e<strong>in</strong>en gewissen Spielraum für<br />
die richterliche Überprüfung von Geschäftsführungsentscheiden eröffnen.<br />
Damit kann sich im Falle des Fehlschlagens e<strong>in</strong>es Geschäftsführungsentscheides<br />
alsbald e<strong>in</strong> substantielles Haftungsrisiko für die unter e<strong>in</strong>em tatsächlichen o<strong>der</strong><br />
potentiellen Interessenkonflikt handelnden Entscheidungsträger ergeben.<br />
Verschiedene Entscheide des B<strong>und</strong>esgerichts befassen sich mit <strong>der</strong> Bedeutung<br />
des Wahlentscheides <strong>der</strong> Generalversammlung im Falle e<strong>in</strong>es Interessenkonflikts <strong>der</strong><br />
gewählten Organperson. Ohne Weiteres nachvollziehbar ist die Argumentation,<br />
dass die <strong>der</strong> Generalversammlung bei <strong>der</strong> Wahl e<strong>in</strong>es Mitgliedes des Verwaltungsrates<br />
bekannt gegebenen Informationen dem Anspruch aus aktienrechtlicher<br />
Verantwortlichkeit gegen diesen Verwaltungsrat seitens <strong>der</strong> (zustim-<br />
84 So Watter/ramp<strong>in</strong>i, Art. 728 OR, N 67, für den Fall <strong>der</strong> mangelnden Unabhängigkeit<br />
<strong>der</strong> Revisionsstelle, was analog bei den geschäftsführenden Organpersonen gelten<br />
dürfte.<br />
85 Vgl. graSS, S. 147, wonach <strong>der</strong> Beklagte im Zeitpunkt se<strong>in</strong>er Entscheidung unbefangen<br />
<strong>und</strong> unabhängig se<strong>in</strong> muss; zum Ganzen auch oben unter III.<br />
26
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
menden) Aktionäre <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft entgegenstehen können. 86 Dem<br />
Gläubigeranspruch wird man schadensrelevante Informationen, die <strong>der</strong> Generalversammlung<br />
bei <strong>der</strong> Wahl e<strong>in</strong>es Verwaltungsrates vorlagen, höchstens<br />
entgegenhalten können, sofern <strong>der</strong> klagende Gläubiger 87 im Zeitpunkt des Erwerbs<br />
<strong>der</strong> Gläubigerstellung davon Kenntnis hatte. In diesem Zusammenhang<br />
hat das B<strong>und</strong>esgericht zu allgeme<strong>in</strong> festgehalten, dass nicht ersichtlich sei, wie<br />
die Muttergesellschaft als faktisches Organ e<strong>in</strong>er 100%-igen Tochtergesellschaft<br />
bloss «dadurch hätte organschaftliche Verpflichtungen im Rahmen <strong>der</strong><br />
Verwaltung <strong>und</strong> Geschäftsleitung dieser Gesellschaft verletzen können, wenn<br />
sie ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressenkonfliktfreie Verwaltungsratsmitglie<strong>der</strong> als Gegengewicht<br />
zu N. (Organ von Mutter- <strong>und</strong> Tochtergesellschaft) ernannte.» 88 Lapidar hält<br />
das B<strong>und</strong>esgericht <strong>in</strong> diesem Zusammenhang fest, dass die Wahl von Mitglie<strong>der</strong>n<br />
des Verwaltungsrates zu den unübertragbaren Befugnissen <strong>der</strong> Generalversammlung<br />
gehört, die nicht <strong>der</strong> Haftung nach Art. 754 OR unterliegt. 89<br />
IX. Die Gesellschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Krise<br />
A. Pflichten <strong>der</strong> Verwaltungsräte – «Reden ist Silber,<br />
Handeln ist Gold»<br />
In wirtschaftlich unsicheren Zeiten ist <strong>der</strong> Verwaltungsrat hart gefor<strong>der</strong>t; das<br />
B<strong>und</strong>esgericht hat als Ausfluss von Art. 717 Abs. 1 OR formuliert: «Il lui appartient<br />
notamment de contrôler de manière régulière la situation économique et f<strong>in</strong>ancière<br />
de la société.» 90 Wenn Schönwetter-Kapitäne <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Sturmtief geraten, wird oftmals<br />
zu lange geredet <strong>und</strong> zu wenig energisch gehandelt. Gemäss BGE 132 III<br />
564 haben die Verwaltungsräte den Präsidenten des Gremiums über Jahre auf<br />
die sich verschlechternde F<strong>in</strong>anzlage h<strong>in</strong>gewiesen <strong>und</strong> den Verwaltungsratspräsidenten<br />
regelmässig befragt, was se<strong>in</strong>e Absichten für die Zukunft <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
s<strong>in</strong>d. Das zögerliche Verhalten des Verwaltungsrates führte mangels<br />
86 Vgl. B<strong>und</strong>esgericht 4A_317/2009 vom 1. Oktober 2009, E 2.3, betreffend den verme<strong>in</strong>tlichen<br />
Interessenkonflikt aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Doppelorganschaft bei e<strong>in</strong>er Immobilien-<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Betreibergesellschaft.<br />
87 Vgl. Art. 757 OR.<br />
88 B<strong>und</strong>esgericht 4A_306/2009, E 7.2.3.1.<br />
89 B<strong>und</strong>esgericht a.a.O.<br />
90 BGE 132 III 564, E. 5.1.<br />
27
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
Rückstellungen für Mietz<strong>in</strong>sverpflichtungen zu e<strong>in</strong>er verspäteten Bilanzdeponierung;<br />
aufgr<strong>und</strong> zweier offener Mietz<strong>in</strong>srechnungen war die Überschuldung<br />
e<strong>in</strong>getreten. Die Verwaltungsräte hatten fälschlicherweise Rückhalt bei <strong>der</strong><br />
Revisionsstelle gesucht, was nicht zu e<strong>in</strong>em pflichtgemässen Ergebnis führte. 91<br />
Das B<strong>und</strong>esgericht hielt unter Art. 725 Abs. 2 OR fest: «Les défendeurs, qui<br />
exerçaient parallèlement la profession d’avocats, devaient maîtriser cette<br />
procédure». 92<br />
Die Unterbilanz <strong>und</strong> die <strong>in</strong> Art. 725 Abs. 1 OR vorgesehenen Verhaltenspflichten<br />
des Verwaltungsrates – unverzügliche E<strong>in</strong>berufung e<strong>in</strong>er Generalversammlung<br />
mit Beantragung von Sanierungsmassnahmen – erfahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis<br />
oftmals e<strong>in</strong>e ungenügende Beachtung. Zu oft ist Art. 725 Abs. 1 OR blosses «law<br />
<strong>in</strong> the books»; die Sanierung <strong>der</strong> Gesellschaft wird aufgeschoben. Dabei wird<br />
immer wie<strong>der</strong> übersehen, dass <strong>der</strong> Aufschub <strong>der</strong> Sanierung aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>hergehenden<br />
Verschlechterung <strong>der</strong> Sanierungs- bzw. F<strong>in</strong>anzierungskonditionen<br />
– selbst wenn die Sanierung später noch gel<strong>in</strong>gt – e<strong>in</strong>er Pflichtwidrigkeit <strong>der</strong><br />
Verwaltungsräte entspricht. 93 Im Zuge <strong>der</strong> Verschleppung e<strong>in</strong>er Sanierung entsteht<br />
e<strong>in</strong> zunehmen<strong>der</strong> Handlungsdruck, <strong>der</strong> zu e<strong>in</strong>er Verschiebung von Vermögenssubstanz<br />
<strong>und</strong> Upside-Potential des Unternehmens von den Altaktionären<br />
zu den sanierungswilligen F<strong>in</strong>anzgläubigern <strong>und</strong> weiteren Kapitalgebern<br />
führen kann. Die Sorgfaltspflicht <strong>der</strong> Verwaltungsräte verlangt e<strong>in</strong> vorausschauendes<br />
Agieren, um die Interessen <strong>der</strong> Gesellschaft mit möglichst günstigen F<strong>in</strong>anzierungskosten<br />
zu wahren. Zwar belässt die Oberleitungspflicht gemäss<br />
Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 OR dem Verwaltungsrat auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sanierung e<strong>in</strong><br />
gr<strong>und</strong>sätzlich breites Ermessen für das «reasonable bus<strong>in</strong>ess judgement» <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong> adäquate Kausalzusammenhang zwischen e<strong>in</strong>er verschleppten Sanierung<br />
(als Pflichtverletzung) <strong>und</strong> den daraus für die Gesellschaft bei den F<strong>in</strong>anzgläubigern<br />
resultierenden zusätzlichen Sanierungskosten (als Schaden <strong>der</strong> Gesellschaft)<br />
dürfte nicht leicht zu erbr<strong>in</strong>gen se<strong>in</strong>. Scheitert die Sanierung, ergibt sich<br />
nach Auffassung des B<strong>und</strong>esgerichts bei e<strong>in</strong>er verspäteten Überschuldungsanzeige<br />
e<strong>in</strong>e natürliche Vermutung für die schadensstiftende Wirkung, was im<br />
Rahmen von Art. 42 Abs. 2 OR bei <strong>der</strong> richterlichen Bestimmung <strong>der</strong> Schadens-<br />
91 BGE 132 III 564, E. 5.2: «se satisfaisant de l’avis émis par l’organe de révision selon<br />
lequel une simple note en pied de bilan mentionnant cette créance était suffisante».<br />
92 BGE 132 III 564, E. 5.2.<br />
93 Da die Gesellschaft <strong>in</strong> diesem Szenario aufrecht stehen bleibt, wären allenfalls e<strong>in</strong>zelne<br />
Aktionäre <strong>und</strong> die Gesellschaft selbst klageberechtigt (Art. 756 OR).<br />
28
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
höhe bedeutsam se<strong>in</strong> kann. 94 Ähnlich könnte es sich bei e<strong>in</strong>er verschleppten,<br />
aber schliesslich doch noch gelungenen Sanierung verhalten, falls e<strong>in</strong> Aktionär 95<br />
die Zusatzkosten aus verzögerter Sanierung als Schaden <strong>der</strong> Gesellschaft geltend<br />
machen will.<br />
B. Pflichten <strong>der</strong> Revisionsstelle<br />
Sobald die offensichtliche Überschuldung <strong>der</strong> Gesellschaft e<strong>in</strong>tritt, greift die<br />
Ersatzvornahme <strong>der</strong> Revisionsstelle; sie muss den Richter benachrichtigen, sofern<br />
<strong>der</strong> Verwaltungsrat die Anzeige unterlässt. 96 Selbst wenn die Revisionsstelle<br />
abberufen wird, bleibt sie zur Benachrichtigung des Richters legitimiert <strong>und</strong><br />
zwar zum<strong>in</strong>dest solange, wie die Revisionsstelle noch im Handelsregister e<strong>in</strong>getragen<br />
ist. 97 Damit wird <strong>der</strong> Gefahr Rechnung getragen, dass die Ersatzvornahme<br />
durch die Revisionsstelle vereitelt werden könnte. Nimmt die Revisionsstelle<br />
dem Verwaltungsrat die Bilanz «aus <strong>der</strong> Hand», um sie beim Richter zu deponieren,<br />
bedeutet dies für den Verwaltungsrat oftmals auch e<strong>in</strong> Sesselrücken<br />
vom «Driver Seat» auf die «Anklagebank». Die Revisionsstelle sitzt dem Verwaltungsrat<br />
mit zunehmen<strong>der</strong> Dauer <strong>der</strong> Sanierungsbemühungen fester «im Nacken»<br />
<strong>und</strong> wird schliesslich, falls <strong>der</strong> Konkurs nicht noch aufgeschoben werden<br />
kann, 98 mit <strong>der</strong> Bilanzdeponierung zum «Totengräber» <strong>der</strong> Gesellschaft. Nach<br />
<strong>der</strong> hier vertretenen Auffassung muss für den Verwaltungsrat auch im Falle <strong>der</strong><br />
Bilanzdeponierung durch die Revisionsstelle die Möglichkeit zum Antrag auf<br />
Konkursaufschub bestehen, 99 da man <strong>in</strong> Bezug auf die Wirksamkeit von Sanierungsbemühungen<br />
unter Umständen <strong>in</strong> guten Treuen unterschiedlicher Auffassung<br />
se<strong>in</strong> kann. 100/101<br />
94 BGE 136 III 322, E. 3.4.5.<br />
95 Vgl. Art. 756 OR.<br />
96 Art. 728c Abs. 3 OR bzw. Art. 729c OR.<br />
97 Obergericht Zürich, ZR 2009, Nr. 14.<br />
98 Art. 725a OR.<br />
99 Gl.M. Schweizer Prüfungsstandard 290, Ausgabe 2010, Abschnitt LL.<br />
100 Vgl. Schweizer Prüfungsstandard 290, Ausgabe 2010, Abschnitt JJ bis LL.<br />
101 Vgl. zum Me<strong>in</strong>ungsstand WüSt<strong>in</strong>er, Art. 725a OR, N 5. Ziltener, S. 191, E<strong>in</strong>zelrichter<br />
am Bezirksgericht Zürich, vertritt die Auffassung, dass nicht auf e<strong>in</strong> Aufschubbegehren<br />
des Verwaltungsrates e<strong>in</strong>zutreten ist, welches erst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Stellungnahme zur<br />
Überschuldungsanzeige <strong>der</strong> Revisionsstelle gestellt wird. Als Begründung hält dieser<br />
Autor fest, dass e<strong>in</strong> <strong>der</strong>artiges Aufschubbegehren <strong>und</strong> <strong>der</strong> Sanierungsplan e<strong>in</strong>es Verwaltungsrates,<br />
welcher die gr<strong>und</strong>legende Pflicht <strong>der</strong> Überschuldungsanzeige im Falle<br />
e<strong>in</strong>er offensichtlichen Überschuldung nicht wahrnimmt, von «vornhere<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Ver-<br />
29
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
C. Gläubigerschutz<br />
Der Volksm<strong>und</strong> sagt, «wes Brot ich ess, des Lied ich s<strong>in</strong>g». Wenngleich die Verwaltungsräte<br />
<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie dem Gesellschafts<strong>in</strong>teresse verpflichtet s<strong>in</strong>d, 102<br />
werden sie sich zwangsläufig <strong>der</strong> Interessen von Aktionären vergewissern, die<br />
ihnen zur Wahl <strong>in</strong> den Verwaltungsrat verholfen haben. In <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Krise<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft ist allerd<strong>in</strong>gs vor «falschen» Loyalitäten zu warnen. Sobald<br />
Ansprüche <strong>der</strong> Gläubiger auszufallen drohen, erhalten ihre Interessen e<strong>in</strong> höheres<br />
Profil <strong>und</strong> die primäre Risikoabsorptionsfunktion des Aktienkapitals lässt<br />
die Interessen <strong>der</strong> Aktionäre entsprechend zurücktreten. Die Wahrung von<br />
Aktionärs<strong>in</strong>teressen stösst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sanierung <strong>der</strong> Gesellschaft zunehmend an<br />
enge Grenzen. 103<br />
Bei <strong>der</strong> Planung konkreter Sanierungsmassnahmen ist auf allfällige «Nebenwirkungen»<br />
lebenserhalten<strong>der</strong> Sofortmassnahmen zu achten. Das schnell verfügbare<br />
Geld von Gläubigerbanken zur Überbrückung e<strong>in</strong>es f<strong>in</strong>anziellen Engpasses<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft kann zum virulenten Verantwortlichkeitsrisiko für den Verwaltungsrat<br />
werden. Das B<strong>und</strong>esgericht hat festgehalten, dass e<strong>in</strong>e Gefährdung<br />
von Gläubiger<strong>in</strong>teressen nicht schon deshalb ausgeschlossen sei, weil die Banken<br />
die Sanierungsbemühungen mit e<strong>in</strong>er Überbrückungsf<strong>in</strong>anzierung mittra-<br />
trauen verdient». ZR 1995, Nr. 50, S. 152 ff., hat die Legitimation des Verwaltungsrates<br />
zum Aufschubbegehren nach unterlassener Bilanzdeponierung zwar ebenfalls<br />
verne<strong>in</strong>t. Allerd<strong>in</strong>gs handelt es sich um e<strong>in</strong>en Extremfall, wo die Sanierung erst über<br />
zwei Jahre nach festgestellter <strong>und</strong> unverän<strong>der</strong>t bestehen<strong>der</strong> Überschuldung <strong>in</strong> Angriff<br />
genommen werden sollte. Die vorstehende Auffassung von Ziltener ersche<strong>in</strong>t je nach<br />
den konkreten Umständen als zu absolut.<br />
102 Art. 717 Abs. 1 OR.<br />
103 Anschaulich Schenker, S. 496: «Damit e<strong>in</strong> Sanierungsplan Aussicht auf Erfolg hat, sollte<br />
er – im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er ‹Opfersymmetrie› allen Beteiligten e<strong>in</strong>e ihrer Position als Eigenkapital-<br />
bzw. Fremdkapitalgeber entsprechende angemessene Sanierungsleistung abfor<strong>der</strong>n,<br />
ohne e<strong>in</strong>zelne Beteiligte gegenüber den an<strong>der</strong>en zu benachteiligen. Opfersymmetrie<br />
bedeutet <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sanierung allerd<strong>in</strong>gs nicht ‹Gleichbehandlung› aller Beteiligten.<br />
Es muss vielmehr den unterschiedlichen rechtlichen Positionen <strong>der</strong> Beteiligten Rechnung<br />
getragen werden: Da die Aktionäre mit dem Eigenkapital das Unternehmensrisiko<br />
tragen, s<strong>in</strong>d von ihnen die grössten Beiträge zu erwarten. Bei e<strong>in</strong>er überschuldeten<br />
Gesellschaft müssen sie deshalb damit rechnen, ihre gesamte Rechtsposition im<br />
Rahmen e<strong>in</strong>er Kapitalherabsetzung aufzugeben, wenn sie nicht bereit s<strong>in</strong>d, <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
neues Kapital zuzuführen. Bei den Gläubigern muss dagegen gemäss dem Verlustrisiko<br />
im Konkursfall, d.h. nach konkursrechtlicher Rangordnung <strong>und</strong> Sicherheit,<br />
differenziert werden – je schlechter die Position e<strong>in</strong>es Gläubigers ist, desto grössere<br />
Leistungen können vom ihm erwartet werden.»<br />
30
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
gen. Falls mit e<strong>in</strong>em Kredit die erfor<strong>der</strong>liche Liquidität für die Fortführung des<br />
Unternehmens geschaffen wird, beurteile sich e<strong>in</strong>e Gefährdung <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> Gläubiger nach den Gew<strong>in</strong>n- o<strong>der</strong> Verlustaussichten aus <strong>der</strong> weiteren<br />
Geschäftstätigkeit. «Zu prüfen ist, ob das Risiko, das mit dem Versuch e<strong>in</strong>er Sanierung<br />
naturgemäss verb<strong>und</strong>en ist, durch den ökonomischen Wert <strong>der</strong> Chance e<strong>in</strong>er erfolgreichen<br />
Sanierung aufgewogen wird.» 104<br />
Pauschalurteile, wie man habe «praktisch ke<strong>in</strong>e Wahl mehr» gehabt, helfen bei<br />
fortschreiten<strong>der</strong> Überschuldung nicht. 105 Erfor<strong>der</strong>lich ist die Evaluation konkreter<br />
Sanierungsmassnahmen, <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>e Glaube genügt nicht, was das<br />
B<strong>und</strong>esgericht schon mit folgenden Worten zum Ausdruck brachte: «Davon,<br />
dass alle<strong>in</strong> aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Lebenserfahrung davon ausgegangen werden<br />
könne, dass man auch bei <strong>der</strong> X.CH ‹das Geld nicht e<strong>in</strong>fach freiwillig zum Fenster h<strong>in</strong>auswarf,<br />
son<strong>der</strong>n ... tatsächlich an e<strong>in</strong>en langfristigen Erfolg <strong>der</strong> X.I glaubte›, kann zudem<br />
ke<strong>in</strong>e Rede se<strong>in</strong>. Abgesehen davon, dass sich e<strong>in</strong> solcher Schluss nicht aus <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en<br />
Lebenserfahrung ergibt, ist entgegen <strong>der</strong> Ansicht <strong>der</strong> Beschwerdeführer nicht<br />
entscheidend, woran die Organe <strong>der</strong> X.CH glaubten, son<strong>der</strong>n ob die von ihnen zu verantwortenden<br />
Mittelabflüsse angesichts <strong>der</strong> nach den konkreten Umständen objektiv<br />
gerechtfertigten Erwartungen h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Gesellschaft X.I getätigt werden<br />
durften.» 106 Der Verwaltungsrat kann bei <strong>der</strong> sanierungsbedürftigen Gesellschaft<br />
also nicht e<strong>in</strong>fach weiterwirtschaften <strong>und</strong> auf e<strong>in</strong> W<strong>und</strong>er hoffen, son<strong>der</strong>n muss<br />
die Sanierungsbemühungen ex ante e<strong>in</strong>em kritischen Chancentest unterziehen.<br />
D. Sanierungsrecht <strong>und</strong> Sanierungspflicht<br />
Nach <strong>der</strong> volkswirtschaftlichen Logik sollte <strong>der</strong> Verwaltungsrat an <strong>der</strong> Sanierung<br />
e<strong>in</strong>er überschuldeten Gesellschaft solange arbeiten können, als begründete<br />
Aussicht auf e<strong>in</strong>e zeitnahe, erfolgreiche Sanierung besteht. Gemäss e<strong>in</strong>em als<br />
Leitentscheid aufzufassenden Urteil des B<strong>und</strong>esgerichts vom 19. Juni 2001<br />
bleiben Sanierungsmassnahmen zulässig, sofern die For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gesellschaftsgläubiger<br />
nicht durch e<strong>in</strong>e neuerliche Verschlechterung <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen<br />
Lage gefährdet werden. Es müssen die Voraussetzungen für e<strong>in</strong>en Konkursaufschub<br />
nach Art. 725a OR gegeben se<strong>in</strong>, da die Gläubiger nicht schlechter gestellt<br />
104 B<strong>und</strong>esgericht 4C.366/2000 vom 19. Juni 2001, E. 5.a.aa.<br />
105 B<strong>und</strong>esgericht 4A_391/2009 vom 12. Februar 2010, E. 2.2.<br />
106 B<strong>und</strong>esgericht, a.a.O.<br />
31
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
werden dürfen, als wenn <strong>der</strong> Richter benachrichtigt würde. 107 Unzulässig s<strong>in</strong>d<br />
nach dieser Rechtsprechung «Massnahmen, welche auf Kosten <strong>der</strong> Gläubiger lediglich<br />
den Zusammenbruch des Unternehmens h<strong>in</strong>auszögern, wenn e<strong>in</strong>e Sanierung nicht ernsthaft<br />
<strong>in</strong> Aussicht steht. … S<strong>in</strong>d erhebliche Zweifel an den Erfolgsaussichten <strong>der</strong> Sanierung<br />
angebracht o<strong>der</strong> ist diese für die Gläubiger mit e<strong>in</strong>em erhöhten Risiko verb<strong>und</strong>en, hat<br />
<strong>der</strong> Verwaltungsrat gemäss Art. 725 OR den Richter zu benachrichtigen <strong>und</strong> ihm den<br />
Entscheid über die Fortführung <strong>der</strong> Gesellschaft zu überlassen.» Im E<strong>in</strong>klang mit den<br />
Kriterien <strong>der</strong> Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule 108 schliesst e<strong>in</strong> Sanierungsmisserfolg<br />
unter den erwähnten Voraussetzungen die Haftung <strong>der</strong> Verwaltungsräte aus. 109<br />
In <strong>der</strong> Praxis hat sich schon die Frage gestellt, ob <strong>der</strong> Verwaltungsrat zur Sanierung<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft verpflichtet ist, falls <strong>und</strong> solange es am Horizont noch<br />
e<strong>in</strong>en Silberstreifen für das Überleben <strong>der</strong> Gesellschaft gibt, <strong>der</strong> bei richtiger<br />
Optik für den Verwaltungsrat erkennbar se<strong>in</strong> müsste. In e<strong>in</strong>em schon etwas<br />
älteren Urteil hat das B<strong>und</strong>esgericht zum<strong>in</strong>dest von e<strong>in</strong>er «moralischen Pflicht»<br />
gesprochen, drohenden Schaden soweit möglich zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zu begrenzen;<br />
es gilt nach Auffassung des B<strong>und</strong>esgerichts «für die Betroffenen zu retten,<br />
was noch zu retten ist. Dazu können <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch geeignete Massnahmen<br />
zur Erhaltung des Betriebes dienen.» 110 In diesem Fall schützte das B<strong>und</strong>esgericht<br />
den unter normalen Umständen durch die Vertretungsmacht des Verwaltungsrats<br />
nicht gedeckten Verkauf e<strong>in</strong>es ganzen Unternehmens, da die Höhe<br />
<strong>der</strong> Überschuldung e<strong>in</strong> weiteres Zuwarten nicht mehr zuliess <strong>und</strong> die Käufer, die<br />
bereit waren, den Betrieb fortzuführen, ihr Übernahme<strong>in</strong>teresse zeitlich befristet<br />
hatten. Im jüngeren Schrifttum f<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>e grosse Anzahl von Stimmen,<br />
welche bei gegebenen Sanierungsaussichten von e<strong>in</strong>er Sanierungspflicht des<br />
Verwaltungsrates ausgehen. 111 Diese Auffassung fliesst aus <strong>der</strong> Oberleitungs-<br />
107 B<strong>und</strong>esgericht 4C.366/2000, E. 4.b.<br />
108 Vgl. dazu schon III.<br />
109 B<strong>und</strong>esgericht 4C.366/2000 vom 19. Juni 2001, E. 4.b.<br />
110 BGE 116 II 323.<br />
111 Vgl. bühler, S. 33; Senn, S. 89: «Ist die Gesellschaft fortführungsfähig, ist er (VR) verpflichtet,<br />
Sanierungsmassnahmen zu ergreifen. … Der Verwaltungsrat ist also auch im<br />
Falle <strong>der</strong> Überschuldung verpflichtet, e<strong>in</strong>e sanierungsfähige Gesellschaft zu retten.<br />
Demnach kann sich <strong>der</strong> Verwaltungsrat im Falle <strong>der</strong> Sanierungsfähigkeit <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
nicht mittels Benachrichtigung des Richters aus <strong>der</strong> <strong>Verantwortung</strong> stehlen. E<strong>in</strong>e Bilanzdeposition<br />
aus Trotz ist damit pflichtwidrig, aber ebenso die voreilige Benachrichtigung<br />
aus Angst, namentlich wenn zu lange die Augen vor den Tatsachen verschlossen <strong>und</strong><br />
Krisenanzeichen beschönigt wurden <strong>und</strong> die Notwendigkeit, das Vorliegen e<strong>in</strong>er Krise<br />
nun doch e<strong>in</strong>zugestehen, e<strong>in</strong>e grosse Schockwirkung entfaltet»; forStmoSer, Richter,<br />
S. 276 ff. (286); garbarSki, S. 175 f.<br />
32
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
pflicht des Verwaltungsrates, die auch <strong>und</strong> gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Krise <strong>der</strong><br />
Gesellschaft greift. 112<br />
Kommt es zur Überschuldungsanzeige <strong>und</strong> zum Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft, steigt<br />
die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong>er Verantwortlichkeitsklage. 113 In e<strong>in</strong>em Verantwortlichkeitsprozess<br />
könnte es sich für die Verwaltungsräte sowohl unter dem Kriterium<br />
<strong>der</strong> Pflichtverletzung als auch des Verschuldens 114 als problematisch erweisen,<br />
sofern sie ke<strong>in</strong>e Unterlagen vorlegen können, welche <strong>in</strong>tensive Bemühungen<br />
zur Rettung <strong>der</strong> Gesellschaft belegen, um die (schliesslich gescheiterte)<br />
Sanierung zu bewerkstelligen <strong>und</strong> die (tatsächlich erfolgte) Bilanzdeponierung<br />
abzuwenden. Die Überschuldungsanzeige stellt im Lebenszyklus e<strong>in</strong>er Gesellschaft<br />
e<strong>in</strong>en tragischen Schritt dar, <strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>em «<strong>in</strong>formed judgement» des<br />
Verwaltungsrates basieren sollte, wozu es e<strong>in</strong>er entsprechenden Dokumentation<br />
bedarf. Dieses Erfor<strong>der</strong>nis leitet sich gr<strong>und</strong>sätzlich aus <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en<br />
Lebenserfahrung ab, dass sich die Verwaltungsräte die tatsächliche f<strong>in</strong>anzielle<br />
Lage <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>und</strong> die verbleibenden Handlungsoptionen wohl nur<br />
gestützt auf e<strong>in</strong>e schriftliche o<strong>der</strong> sonst durch Text nachweisbare Dokumentation<br />
ausreichend vergegenwärtigen können.<br />
E. Der Richter als Manager?<br />
Bestehen erhebliche Zweifel an den Erfolgsaussichten e<strong>in</strong>er Sanierung o<strong>der</strong> ist<br />
diese für die Gläubiger mit e<strong>in</strong>em erhöhten Risiko verb<strong>und</strong>en, hat <strong>der</strong> Verwaltungsrat<br />
nach <strong>der</strong> Rechtsprechung gemäss Art. 725 OR den Richter zu benachrichtigen<br />
«<strong>und</strong> ihm den Entscheid über die Fortführung zu überlassen.» 115 Diese Formulierung<br />
kann Missverständnisse erzeugen. Wenngleich das B<strong>und</strong>esgericht die<br />
Vorschriften über das Vorgehen <strong>und</strong> die Obliegenheiten <strong>der</strong> Organe sowie des<br />
Richters bei Kapitalverlust <strong>und</strong> Überschuldung e<strong>in</strong>er Gesellschaft als e<strong>in</strong> aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
abgestimmtes Ganzes auffasst, woraus sich nach Auffassung des B<strong>und</strong>esgerichts<br />
ableitet, dass <strong>der</strong> Konkursrichter gegenüber <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>und</strong><br />
den Gläubigern <strong>in</strong> ähnlichem Umfang <strong>Verantwortung</strong> übernimmt wie die<br />
Gesellschaftsorgane, 116 obliegt es nicht dem Richter, die Sanierungschancen bei<br />
112 Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 OR i.V.m. Art. 725 <strong>und</strong> 725a OR.<br />
113 Dazu schon unter I.<br />
114 Vgl. Art. 759 Abs. 1 OR.<br />
115 B<strong>und</strong>esgericht 4C.366/2000 vom 19. Juni 2001, E. 4.b.<br />
116 BGE 127 III 379.<br />
33
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
e<strong>in</strong>er überschuldeten Gesellschaft zu beurteilen. Der Richter ist e<strong>in</strong> weitgehend<br />
durch die Vorarbeiten des Verwaltungsrates gesteuertes Wesen. Legt <strong>der</strong> Verwaltungsrat<br />
dem Richter im Rahmen von Art. 725a OR ke<strong>in</strong> ausgearbeitetes<br />
Sanierungskonzept vor, bleibt dem Richter unter praktischem Gesichtspunkt<br />
wohl nur die Konkurseröffnung. 117 Diese Auffassung leitet sich aus dem Wortlaut<br />
von Art. 725a Abs. 1 OR ab, wonach <strong>der</strong> Richter den Konkurs auf Antrag<br />
des Verwaltungsrates o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Gläubigers aufschieben kann, falls Aussicht auf<br />
Sanierung besteht. Zwar kann <strong>der</strong> Richter gemäss Art. 173a Abs. 2 SchKG den<br />
Entscheid über den Konkurs von Amtes wegen aussetzen, wenn Anhaltspunkte<br />
für das Zustandekommen e<strong>in</strong>es Nachlassvertrages bestehen. Allerd<strong>in</strong>gs ersche<strong>in</strong>t<br />
auch e<strong>in</strong> <strong>der</strong>artiger Aufschub ohne detailliertes, nachvollziehbares<br />
Dossier des Verwaltungsrates zur erfolgreichen Sanierung <strong>der</strong> Gesellschaft als<br />
wenig wahrsche<strong>in</strong>lich. Der Verwaltungsrat ist <strong>und</strong> bleibt <strong>der</strong> zentrale Treiber <strong>der</strong><br />
Sanierung.<br />
X. F<strong>in</strong>anzielle <strong>Führung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise – Aktienrechtsrevision<br />
A. Liquiditätsplan<br />
«Cash is k<strong>in</strong>g», auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Unternehmenskrise. Nach diesem Credo will <strong>der</strong><br />
B<strong>und</strong>esrat den Verwaltungsrat nach Art. 725a E-OR zur Erstellung e<strong>in</strong>es Liquiditätsplans<br />
verpflichten, sofern begründete Besorgnis <strong>der</strong> Zahlungsunfähigkeit<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft besteht. Der Liquiditätsplan soll die aktuelle Liquidität sowie<br />
die Zahlungse<strong>in</strong>gänge <strong>und</strong> Zahlungsausgänge <strong>der</strong> nächsten zwölf Monate enthalten.<br />
Der Verwaltungsrat muss den Liquiditätsplan durch e<strong>in</strong>en zugelassenen<br />
Revisor prüfen lassen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Revisor unterliegt <strong>der</strong> Anzeigepflicht <strong>der</strong> Revisionsstelle.<br />
Ist die Gesellschaft zahlungsunfähig, muss <strong>der</strong> Verwaltungsrat unverzüglich<br />
e<strong>in</strong>e Generalversammlung e<strong>in</strong>berufen <strong>und</strong> ihr Sanierungsmassnahmen<br />
beantragen (Art. 725a Abs. 3 E-OR). E<strong>in</strong>e Pflicht des Verwaltungsrates, im Falle<br />
<strong>der</strong> Zahlungsunfähigkeit <strong>der</strong> Gesellschaft den Richter zu benachrichtigen, besteht<br />
nicht. 118 Der Stän<strong>der</strong>at hat dieser Regelung im Juni 2009 nur mit Stichent-<br />
117 Vgl. zu den formellen <strong>und</strong> materiellen Voraussetzungen des Konkursaufschubes auch<br />
Ziltener, S. 192, wonach zum erfor<strong>der</strong>lichen Sanierungsplan auch e<strong>in</strong> Zeitplan gehört,<br />
<strong>in</strong> welchem dargelegt wird, bis wann die Überschuldung vollständig beseitigt werden<br />
kann.<br />
118 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1690.<br />
34
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
scheid des Präsidenten zugestimmt, wenngleich die Liquidität <strong>in</strong> vielen Sanierungsfällen<br />
e<strong>in</strong> zentrales Thema darstellt.<br />
B. Massgeschnei<strong>der</strong>te Sanierungsvoraussetzungen<br />
Mit Art. 725b E-OR soll im Zuge <strong>der</strong> Aktienrechtsrevision die Gr<strong>und</strong>lage für<br />
gesellschaftsspezifische statutarische Voraussetzungen zur E<strong>in</strong>berufung e<strong>in</strong>er<br />
Generalversammlung im H<strong>in</strong>blick auf Sanierungsmassnahmen geschaffen werden.<br />
Betroffen s<strong>in</strong>d lediglich Verschärfungen des Sanierungsregimes, nicht jedoch<br />
Erleichterungen. Beispielsweise könnte für den Verwaltungsrat die Pflicht<br />
zur Beantragung von Sanierungsmassnahmen bereits dann bestehen, wenn die<br />
Nettoaktiven e<strong>in</strong>en Viertel des Aktienkapitals <strong>und</strong> <strong>der</strong> Reserven nicht mehr<br />
decken. Es bestünde auch die Möglichkeit, statutarisch zusätzliche Parameter<br />
zu normieren. Nach se<strong>in</strong>er systematischen Stellung muss sich Art. 725b E-OR<br />
sowohl auf Aspekte des Kapitalverlusts (Art. 725 E-OR) als auch auf Liquiditätsaspekte<br />
(Art. 725a E-OR) beziehen. 119<br />
XI. IKS-«Defence» des Verwaltungsrates<br />
Gemäss den allgeme<strong>in</strong>en Vorgaben <strong>in</strong> Art. 716a Abs. 1 OR bildet e<strong>in</strong> funktionsfähiges<br />
<strong>in</strong>ternes Kontrollsystem (IKS) e<strong>in</strong>e unübertragbare <strong>und</strong> unentziehbare<br />
Aufgabe des Verwaltungsrates. 120 Teilweise ist den Verwaltungsräten diese<br />
wichtige Organisationspflicht erst aufgr<strong>und</strong> des revidierten Revisionsrechts 121<br />
richtig bewusst geworden. Bei <strong>der</strong> ordentlichen Revision hat die Revisionsstelle<br />
gemäss Art. 728a Abs. 1 Ziff. 3 OR die Existenz e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>ternen Kontrollsystems<br />
zu prüfen. Die Treuhand-Kammer hat das Vorgehen des Revisors im Schweizer<br />
Prüfungsstandard (PS) 890 konkretisiert. Damit wird das Verhalten des Verwaltungsrates<br />
bei <strong>der</strong> Erstellung <strong>und</strong> fortlaufenden Überprüfung des <strong>in</strong>ternen<br />
Kontrollsystems nun auch <strong>in</strong>direkt über das Revisionsrecht reguliert.<br />
119 bühler, S. 21 f., schlägt <strong>in</strong> Ergänzung zum b<strong>und</strong>esrätlichen Gesetzesentwurf vor, dass<br />
den Gesellschaften ausdrücklich ermöglicht werden sollte, <strong>in</strong> den Statuten weitere<br />
Kennzahlen vorzusehen.<br />
120 Vgl. peyer, S. 87 ff.<br />
121 In Kraft getreten am 1. Januar 2008.<br />
35
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
E<strong>in</strong> adäquates Kontrollklima stellt zweifellos e<strong>in</strong>e grosse Chance zur Verm<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />
von Haftungsrisiken für die Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Geschäftsleitung dar. Gemäss Art. 754 Abs. 2 OR haftet <strong>der</strong> Delegierende für<br />
das Fehlverhalten e<strong>in</strong>es Delegierten nicht, sofern er nachzuweisen vermag, dass<br />
er bei <strong>der</strong> Auswahl, Unterrichtung <strong>und</strong> Überwachung die nach den Umständen<br />
gebotene Sorgfalt angewendet hat. E<strong>in</strong> adäquates IKS bildet den zentralen<br />
Bauste<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es angemessenen Überwachungsapparates. Wahrsche<strong>in</strong>lich lässt<br />
sich letztlich je<strong>der</strong> Schaden auf e<strong>in</strong>e Schwäche im unternehmens<strong>in</strong>ternen Kontrollsystem<br />
zurückführen. Da die Revisoren bei den volkswirtschaftlich bedeutsameren<br />
Gesellschaften zur Prüfung <strong>der</strong> Existenz e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>ternen Kontrollsystems<br />
gehalten s<strong>in</strong>d, könnten die Verwaltungsräte <strong>der</strong> Versuchung unterliegen,<br />
sich im Verantwortlichkeitsprozess aus mangelhafter Geschäftsführung mit<br />
Verweis auf e<strong>in</strong> Fehlverhalten <strong>der</strong> Revisionsstelle unter Art. 728a Abs. 1 Ziff. 3<br />
OR zu verteidigen. Diesem Vorgehen dürfte allerd<strong>in</strong>gs kaum Erfolg beschieden<br />
se<strong>in</strong>, da – als Ausfluss des aktienrechtlichen Paritätspr<strong>in</strong>zips – die verschiedenen<br />
Gesellschaftsorgane – Verwaltungsrat e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> Revisionsstelle an<strong>der</strong>erseits<br />
– die vom Gesetz normierten Pflichten selbstständig erfüllen müssen <strong>und</strong><br />
sich im Rahmen ihres eigenen Aufgabenbereiches gr<strong>und</strong>sätzlich nicht auf e<strong>in</strong><br />
Fehlverhalten e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en Organes berufen können. 122 Mit an<strong>der</strong>en Worten,<br />
e<strong>in</strong>er Verteidigung <strong>der</strong> Verwaltungsräte unter Art. 754 OR aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> vorbehaltlosen<br />
Berichterstattung zum unternehmens<strong>in</strong>ternen Kontrollsystem durch<br />
die Revisionsstelle 123 dürfte kaum Erfolg beschieden se<strong>in</strong>.<br />
XII. «Deep pockets» <strong>der</strong> Revisoren <strong>und</strong> Griff <strong>in</strong> die<br />
Taschen von Verwaltungsräten <strong>und</strong> Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong>n<br />
A. Streitverkündungsklage<br />
Im Kontext <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit ist augensche<strong>in</strong>lich geworden,<br />
dass die Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung, welche<br />
an <strong>der</strong> Entstehung des Schadens <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel die Hauptverantwortung tragen,<br />
mangels ausreichenden Haftungssubstrates o<strong>der</strong> aus sonstigen Gründen oft-<br />
122 B<strong>und</strong>esgericht 4A_65/2008 vom 3. August 2009, E. 8.3, zur Haftung <strong>der</strong> Revisionsstelle<br />
e<strong>in</strong>er Bank, wenn auch unter vertragsrechtlichen Gr<strong>und</strong>sätzen.<br />
123 Vgl. Art. 728b OR.<br />
36
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
mals für e<strong>in</strong>en zu ger<strong>in</strong>gen Anteil des Schadens haften. In diesen Fällen f<strong>in</strong>det<br />
die Schadensregelung <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e mit den Revisoren statt <strong>und</strong> richtet sich<br />
weniger nach dem Verursacherpr<strong>in</strong>zip als vielmehr nach <strong>der</strong> Solvenz, was als<br />
stossend ersche<strong>in</strong>t. Im H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>e Schadensregelung nach dem Verursacherpr<strong>in</strong>zip<br />
kommt Bestrebungen für e<strong>in</strong> Gesamtverfahren grosse Bedeutung zu.<br />
E<strong>in</strong> erster Schritt <strong>in</strong> diese Richtung erfolgte mit Art. 759 Abs. 2 OR bereits im<br />
Rahmen <strong>der</strong> Aktienrechtsrevision von 1991. Nach dieser Bestimmung kann <strong>der</strong><br />
Kläger mehrere Beteiligte geme<strong>in</strong>sam für den Gesamtschaden e<strong>in</strong>klagen <strong>und</strong><br />
verlangen, dass <strong>der</strong> Richter im gleichen Verfahren die Ersatzpflicht jedes e<strong>in</strong>zelnen<br />
Beklagten festsetzt. Mit <strong>der</strong> Streitverkündungsklage <strong>der</strong> Schweizerischen<br />
Zivilprozessordnung (ZPO) 124 – Art. 81 <strong>und</strong> Art. 82 ZPO – wird dieses Recht auf<br />
den Gesamtprozess auch dem Beklagten gewährt. 125 Zum Beispiel kann die<br />
Revisionsstelle als e<strong>in</strong>zige Beklagte des Hauptprozesses e<strong>in</strong> vitales Interesse<br />
daran haben, die geschäftsführenden Organpersonen, welche die primären<br />
Ursachen <strong>der</strong> Schadensentstehung gesetzt haben, <strong>in</strong> die gerichtliche Beurteilung<br />
e<strong>in</strong>zubeziehen. Ähnlich kann es sich bei e<strong>in</strong>er vermögenden Verwaltungsrät<strong>in</strong><br />
verhalten, welche <strong>in</strong>folge des Hauptprozesses aus Bilanzmanipulation den<br />
Chief F<strong>in</strong>ancial Officer (CFO) <strong>der</strong> Gesellschaft mittels Streitverkündungsklage<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gesamtverfahren e<strong>in</strong>beziehen will. Die blosse Streitverkündung (Art. 78 ff.<br />
ZPO) greift <strong>in</strong> diesen Fällen zu kurz.<br />
Die streitverkündende Partei kann ihre Ansprüche, die sie im Falle des Unterliegens<br />
gegen die streitberufene Person zu haben glaubt, beim Gericht, das mit<br />
<strong>der</strong> Hauptklage befasst ist, geltend machen (Art. 81 Abs. 1 ZPO; Art. 16 ZPO).<br />
Der Streitverkündungsbeklagte wird nach Art. 81/82 ZPO zur Partei des Ver- Verfahrens.<br />
Diese Stellung rechtfertigt sich aufgr<strong>und</strong> des Sachzusammenhangs <strong>der</strong><br />
Streitverkündungsklage mit dem Hauptprozess, welcher im Rahmen <strong>der</strong> differenzierten<br />
Solidarität126 mehrerer Schadensverursacher gegeben ist. Die Botschaft<br />
zur ZPO streicht den Vorteil e<strong>in</strong>es solchen «Gesamtverfahrens» heraus,<br />
<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Prozesseffizienz gesehen wird, da sich das bereits mit <strong>der</strong> Hauptsache<br />
befasste Gericht auch unmittelbar mit dem Folgeprozess beschäftigt. Infolge<br />
<strong>der</strong> Aktenkenntnis des Gerichts werden Synergien genutzt, sodass sich dadurch<br />
124 Die Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) datiert vom 19. Dezember 2008 <strong>und</strong><br />
ist am 1. Januar 2011 <strong>in</strong> Kraft getreten.<br />
125 Vgl. zum Ganzen den Beitrag von urS bertSch<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> <strong>der</strong> Festschrift für Ivo Schwan<strong>der</strong>,<br />
2011.<br />
126 Art. 759 Abs. 1 OR.<br />
37
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
<strong>in</strong>sgesamt «e<strong>in</strong>e namhafte Kosten- <strong>und</strong> Ressourcenersparnis für die Parteien<br />
<strong>und</strong> das Gericht ergeben» kann. 127<br />
Dass die Streitverkündungsklage e<strong>in</strong>e ausgewogene Beurteilung <strong>der</strong> aktienrechtlichen<br />
Verantwortlichkeit begünstigt, zeigt e<strong>in</strong> Urteil des B<strong>und</strong>esgerichts<br />
aus dem Jahre 1996. Vor e<strong>in</strong>em Genfer Gericht wurde zunächst ausschliesslich<br />
die Revisionsstelle e<strong>in</strong>geklagt. In <strong>der</strong> Folge hat die Revisionsstelle gegen zwei<br />
Verwaltungsräte sowie die Buchhalter<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft Streitverkündungsklage<br />
(appels en cause) erhoben. 128 Im konkreten Fall resultierte e<strong>in</strong>e Schadenstragung<br />
von e<strong>in</strong>em Viertel durch die Revisionsstelle <strong>und</strong> drei Viertel durch die<br />
geschäftsführenden Personen, 129 was im betreffenden Fall dem angemessenen<br />
Verhältnis von <strong>Führung</strong> <strong>und</strong> Kontrolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft entsprach. Die<br />
Rechtsprechung im Zusammenhang mit den e<strong>in</strong>stigen kantonalrechtlichen<br />
Streitverkündungsklagen (appels en cause) 130 veranschaulicht, dass aufgr<strong>und</strong><br />
dieser Klage(n) beim Gericht e<strong>in</strong>e Aktenlage geschaffen werden kann, welche<br />
e<strong>in</strong>e umfassende Beurteilung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Schadensbeiträge ermöglicht.<br />
Die Streitverkündungsklage soll – im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Corporate Governance – gewährleisten,<br />
dass die Schadensregelung <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit<br />
unter E<strong>in</strong>bezug <strong>der</strong> wesentlichen Schadensverursacher erfolgt. Der<br />
B<strong>und</strong>esgesetzgeber trägt mit dieser Regelung zur Verwirklichung des Verursacherpr<strong>in</strong>zips<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit bei. E<strong>in</strong> Beklagter des<br />
Hauptprozesses soll <strong>in</strong> Streitigkeiten aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit<br />
das Gericht dazu bewegen können, erst zur Entscheidung zu kommen, wenn es<br />
dessen Aktenkenntnis über die e<strong>in</strong>zelnen Aspekte <strong>der</strong> Schadensverursachung<br />
127 Botschaft ZPO, S. 7284; B<strong>und</strong>esgericht 4A_431/2009 vom 18. November 2009,<br />
E. 2.3.<br />
128 B<strong>und</strong>esgericht 4C.506/1996 vom 3. März 1998, faits B.<br />
129 B<strong>und</strong>esgericht 4C.506/1996 vom 3. März 1998, E. 9: «La cour cantonale a évalué à<br />
trois quarts – un quart la mesure dans laquelle le dommage à réparer pouvait être imputé,<br />
respectivement, à la lésée et à la défen<strong>der</strong>esse. Elle a considéré, à juste titre, que les circons- circonstances<br />
imputables à la deman<strong>der</strong>esse – agissements de l’aide-comptable et négligence des adm<strong>in</strong>istrateurs<br />
– avaient contribué de manière nettement prépondérante à la survenance de<br />
ce dommage, quand bien même les omissions de la défen<strong>der</strong>esse n’y étaient pas étrangères.<br />
Quant à la proportion retenue dans l’arrêt attaqué, elle repose essentiellement sur le pouvoir<br />
d’appréciation du juge du fait, auquel la juridiction fédérale de réforme n’a pas à substituer<br />
le sien propre lorsque, comme c’est ici le cas, l’autorité cantonale n’a pas laissé de côté des circonstances<br />
pert<strong>in</strong>entes pour l’application du droit et ne s’est pas non plus fondée sur des faits<br />
qu’elle n’avait pas à prendre en considération sous cet angle.»<br />
130 In den kantonalen Zivilprozessordnungen war die Streitverkündungsklage (appel en<br />
cause) nur vere<strong>in</strong>zelt verankert, nämlich <strong>in</strong> den Kantonen Genf, Waadt <strong>und</strong> Wallis.<br />
38
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
durch die verschiedenen <strong>in</strong>volvierten Akteure erlaubt. 131 Damit ermöglicht das<br />
Prozessrecht, das System <strong>der</strong> Aktiengesellschaft abzubilden <strong>und</strong> knüpft an die<br />
Corporate Governance-Diskussion an, <strong>in</strong> welcher das Zusammenspiel <strong>der</strong> verschiedenen<br />
Organpersonen e<strong>in</strong>en zentralen Stellenwert e<strong>in</strong>nimmt. Die isolierte<br />
Beurteilung e<strong>in</strong>zelner Schadensverursacher im Prozess steht im krassen Wi<strong>der</strong>spruch<br />
zu den Strukturen <strong>der</strong> Aktiengesellschaft, die auf e<strong>in</strong> Zusammenwirken<br />
<strong>der</strong> verschiedenen Organpersonen ausgelegt s<strong>in</strong>d. Die Streitverkündungsklage<br />
ist deshalb e<strong>in</strong>e logische Antwort des Prozessrechts auf den gestiegenen Reifegrad<br />
<strong>der</strong> Corporate Governance-Diskussion <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz.<br />
Die Zulassung <strong>der</strong> Streitverkündungsklage ist mit <strong>der</strong> Klageantwort (o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Replik im Hauptprozess) zu beantragen. Die Rechtsbegehren, welche die streitverkündende<br />
Partei gegen die streitberufene Person zu stellen gedenkt, s<strong>in</strong>d zu<br />
nennen <strong>und</strong> kurz zu begründen (Art. 82 Abs. 1 ZPO). Gemäss Art. 82 Abs. 2<br />
ZPO gibt das Gericht <strong>der</strong> Gegenpartei des Hauptprozesses <strong>und</strong> <strong>der</strong> streitberufenen<br />
Person Gelegenheit zur Stellungnahme. Im Rahmen dieses Zulassungsverfahrens<br />
können Verwaltungsräte, welche zum Beispiel durch die Revisionsstelle<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gesamtverfahren aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit gezogen<br />
werden sollen, ihre Argument vorbr<strong>in</strong>gen, welche die Ablehnung <strong>der</strong> Streitverkündungsklagen<br />
rechtfertigen. Da das Zulassungsverfahren ke<strong>in</strong> summarisches<br />
Vorprüfungsverfahren ist, dürfte e<strong>in</strong>er Argumentation <strong>der</strong> Verwaltungsräte, welche<br />
die Zulassung <strong>der</strong> Streitverkündungsklagen abwenden will, lediglich <strong>in</strong><br />
Ausnahmefällen Erfolg beschieden se<strong>in</strong>. Die Stellungnahmen <strong>der</strong> Gegenpartei<br />
des Hauptprozesses sowie <strong>der</strong> streitberufenen Partei gemäss Art. 82 Abs. 2 ZPO<br />
dienen nicht e<strong>in</strong>er vertiefenden, materiellen Plausibilitätsprüfung <strong>der</strong> potentiellen<br />
Ansprüche des Streitverkündungsklägers. Es ist deshalb ausreichend, wenn<br />
e<strong>in</strong> nachvollziehbares Interesse an <strong>der</strong> Streitverkündungsklage im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es<br />
potentiellen Regress<strong>in</strong>teresses gegenüber dem Streitverkündungsbeklagten<br />
aufgezeigt werden kann. 132 Das B<strong>und</strong>esgericht hat auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage e<strong>in</strong>er<br />
kantonalen Prozessbestimmung schon von <strong>der</strong> «vraisemblance suffisante» ge-<br />
131 Botschaft ZPO, S. 7284.<br />
132 morf, Art. 82 ZPO, N 6.<br />
39
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
sprochen 133 <strong>und</strong> sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e summarische Begründung genügen zu lassen. 134<br />
Die spezifischen Nachweise s<strong>in</strong>d erst Gegenstand des Schriftenwechsels, wie er<br />
vom Gericht nach Art. 82 Abs. 3 ZPO angeordnet wird. 135 An e<strong>in</strong>er «genügenden<br />
Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit» zur Zulassung e<strong>in</strong>er Streitverkündungsklage könnte es<br />
zum Beispiel fehlen, wenn <strong>der</strong> Streitverkündungsbeklagte – etwa die Konzernmuttergesellschaft<br />
im Verantwortlichkeitsprozess gegen Organpersonen <strong>der</strong><br />
Tochtergesellschaft 136 – nur diffus als faktisches Organ <strong>der</strong> Tochtergesellschaft<br />
dargestellt wird <strong>und</strong> gleichwohl für e<strong>in</strong>en Teilschaden zur <strong>Verantwortung</strong> gezogen<br />
werden soll. 137 Wenngleich die faktische Organschaft als Haftungskonzept<br />
133 In diesem S<strong>in</strong>ne auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage von Art. 104 Abs. 1 <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>stigen) Genfer<br />
Zivilprozessordnung (Une partie peut appeler un tiers en cause si elle a un <strong>in</strong>térêt<br />
direct à contra<strong>in</strong>dre un tiers à <strong>in</strong>tervenir au procès: (a) soit qu’elle puisse faire valoir<br />
contre lui, si elle succombe, une prétention récursoire ou en dommages-<strong>in</strong>térêts; (b)<br />
soit qu’elle entende lui opposer le jugement; (c) soit enf<strong>in</strong> qu’elle fasse valoir contre<br />
lui des prétentions connexes à celles qui sont en cause) B<strong>und</strong>esgericht 4A_462/2010<br />
vom 17. November 2010, E. 2.2: «Pour que l’appel soit recevable à la forme, il suffit<br />
dès lors que les prétentions de l’appelant soit alléguées avec une vraisemblance<br />
suffisante. Autrement dit, le juge de l’<strong>in</strong>cident ne doit pas préjuger le droit litigieux<br />
(en l’occurrence, les prétentions de l’<strong>in</strong>timé contre la recourante), mais se satisfaire<br />
d’une vraisemblance»; B<strong>und</strong>esgericht 4P.116/2006 vom 6. Juli 2006, E. 3.4.2: «Il ne<br />
s’agissait donc pas de se prononcer sur le bienfondé matériel des prétentions à la base<br />
de l’action, mais il fallait seulement se deman<strong>der</strong> si les motifs <strong>in</strong>voqués par l’organe<br />
de contrôle étaient suffisamment pert<strong>in</strong>ents pour justifier la recevabilité des appels<br />
en cause»; wohl strenger hahn, Art. 82 ZPO, N 5, wonach <strong>der</strong> Streitberufene geltend<br />
machen könne, <strong>der</strong> Streitverkündungskläger habe die Ansprüche «nicht glaubhaft<br />
gemacht».<br />
134 B<strong>und</strong>esgericht 4D_81/2007 vom 17. März 2008, E. 3.4 (nicht publiziert <strong>in</strong> BGE 134<br />
III 379), wonach die Streitverkündungsklage durch im Hauptprozess beklagte Verwaltungsräte<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft gegen e<strong>in</strong>en weiteren Verwaltungsrat nach Auffassung<br />
des B<strong>und</strong>esgerichts durch die Vor<strong>in</strong>stanz zu Unrecht abgelehnt wurde, obwohl die<br />
Beschwerdeführer etwas unspezifisch begründet hatten. Die kantonale Instanz hatte<br />
den Beschwerdeführern h<strong>in</strong>gegen noch vorgeworfen, sie hätten ke<strong>in</strong>e «motifs spécifiques»<br />
zur Begründung des «appel en cause» vorgetragen.<br />
135 Botschaft ZPO, S. 7285 (Hervorhebung durch den Verfasser): «Erst nach Abschluss<br />
des Zulassungsverfahrens ist e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>lässliche Klageschrift e<strong>in</strong>zureichen»; vgl. auch frei,<br />
Art. 82 ZPO, N 8.<br />
136 Vgl. dazu auch unter V.<br />
137 Vgl. Chambre de recours, Waadt, JdT 2002 III S. 151 ff., wo <strong>der</strong> Streitverkündungskläger<br />
e<strong>in</strong>e Drittgesellschaft als faktisches Organ auffasste, aber die Verwaltungsräte<br />
<strong>der</strong> Drittgesellschaft <strong>in</strong>s Recht fassen wollte, sodass das Gericht e<strong>in</strong>e Solidarität (als<br />
Gr<strong>und</strong>lage e<strong>in</strong>es Regressverhältnisses) zwischen den Organpersonen <strong>der</strong> konkursiten<br />
Gesellschaft <strong>und</strong> den Organpersonen <strong>der</strong> Drittgesellschaft unter Art. 759 OR<br />
verne<strong>in</strong>te. Zur faktischen Organschaft <strong>der</strong> Drittgesellschaft hielt das Gericht fest:<br />
«même s’il ressort des procès verbaux du Conseil d’adm<strong>in</strong>istration de cette société<br />
40
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit längst e<strong>in</strong>geschliffen ist, bleiben die<br />
Konturen im E<strong>in</strong>zelfall oftmals etwas unscharf, was unter Umständen gegen die<br />
Zulassung e<strong>in</strong>er Streitverkündungsklage sprechen kann, mit welcher faktische<br />
Organpersonen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gesamtverfahren erfasst werden sollen. 138<br />
Indem Art. 81 Abs. 2 ZPO den Kettenappell untersagt, hat <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esgesetzgeber<br />
e<strong>in</strong>e feste Schranke gegen das umfassende Gesamtverfahren errichtet; e<strong>in</strong>e<br />
streitberufene Person kann deshalb ke<strong>in</strong>e weitere Streitverkündungsklage erheben.<br />
In <strong>der</strong> Vernehmlassung wurde diese Regelung noch kritisiert. 139 Zudem<br />
enthält Art. 82 Abs. 3 ZPO e<strong>in</strong>en Vorbehalt zu Gunsten von Art. 125 ZPO.<br />
Danach steht den Gerichten die Möglichkeit offen, geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>gereichte<br />
Klagen zu trennen, was dem Gesamtprozess <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit<br />
abträglich se<strong>in</strong> könnte, wenngleich Haupt- <strong>und</strong> Streitverkündungsklage<br />
am selben Gericht anhängig bleiben. 140<br />
Streitverkündungsklagen führen zu e<strong>in</strong>er Ausweitung des Prozessstoffes, weshalb<br />
sie auch zur Verfahrensverschleppung missbraucht werden können. Jede<br />
Partei muss sich im Prozess nach Treu <strong>und</strong> Glauben verhalten (Art. 2 ZGB; Art. 52<br />
ZPO). Streitverkündungsklagen, welche offensichtlich lediglich <strong>der</strong> Prozessverschleppung<br />
dienen, müssen schon im Zulassungsverfahren 141 scheitern. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
ist die mit den Streitverkündungsklagen zwangsläufig verb<strong>und</strong>ene erhöh-<br />
(Drittgesellschaft) qu’elle a discuté les résultats et les perspectives de Terraz SA<br />
(konkursite Gesellschaft) et pris certa<strong>in</strong>es décisions dans cette optique, il s’agit plus<br />
vraisemblablement d’actes relevant de ses prérogatives d’actionnaire majoritaire que<br />
d’actes de gestion proprement dits».<br />
138 Vgl. allgeme<strong>in</strong> leuenberger/uffer-tobler, S. 101, wonach die Zulassung <strong>der</strong> Streitverkündungsklage<br />
zu verweigern sei, wenn Regressansprüche des Streitverkündungsklägers<br />
gegen die streitberufene Partei im Falle des Unterliegens im Hauptprozess «offensichtlich<br />
nicht gegeben s<strong>in</strong>d».<br />
139 Vgl. Vernehmlassung des Freiburger Anwaltsverbandes (OAFIR), <strong>in</strong>: Zusammenstellung<br />
<strong>der</strong> Vernehmlassungen, Vorentwurf für e<strong>in</strong> B<strong>und</strong>esgesetz über die Schweizerische<br />
Zivilprozessordnung, 2004, S. 220: «Des appels en cause en chaîne doivent pouvoir être<br />
admis si le lien de connexité est donné (par example, action en responsabilité contre un organe<br />
de révision, lequel appelle en cause l’adm<strong>in</strong>istrateur, lequel devrait pouvoir aussi appeler en<br />
cause un directeur»).<br />
140 Vgl. frei, Art. 82 ZPO, N 27, mit dem H<strong>in</strong>weis, dass die Vorteile e<strong>in</strong>er Streitverkündungsklage<br />
auch bei e<strong>in</strong>er Trennung <strong>der</strong> Verfahren nicht ganz verloren gehen, da beide<br />
Streitsachen (Haupt- <strong>und</strong> Streitverkündungsprozess) bei demselben Gericht hängig<br />
bleiben.<br />
141 Vgl. Art. 82 ZPO.<br />
41
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
te Komplexität des Verfahrens sorgfältig von dilatorischem bzw. rechtsmissbräuchlichem<br />
Verhalten des Streitverkündungsklägers abzugrenzen. 142<br />
Verwaltungsräte <strong>und</strong> Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong> können aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Streitverkündungsklage<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gesamtverfahren aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit<br />
verwickelt werden, <strong>in</strong> welchem vor e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Gericht e<strong>in</strong>e «Gesamtabrechnung»<br />
über den verursachten Schaden stattf<strong>in</strong>det. Da für die<br />
Streitverkündungsklage das Gericht des Hauptprozesses zuständig ist, 143 gehen<br />
die von e<strong>in</strong>er Streitverkündungsklage betroffenen Organpersonen ihres Wohnsitzgerichtsstandes<br />
verlustig, 144 was sich dadurch rechtfertigt, dass mit dem<br />
Gesamtverfahren die Governance <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
um die aktienrechtliche Verantwortlichkeit reflektiert werden<br />
soll. Insgesamt dürften sich die Prozessrisiken für die Verwaltungsräte <strong>und</strong> Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong><br />
aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> verfahrensrechtlichen Vere<strong>in</strong>fachungen,<br />
welche mit <strong>der</strong> Streitverkündungsklage verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d, 145 tendenziell erhöhen.<br />
B. Neuordnung <strong>der</strong> Revisionshaftung<br />
Seit langem beklagen die Revisoren, dass sie für Managementfehler e<strong>in</strong>stehen<br />
müssen <strong>und</strong> im Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft tendenziell e<strong>in</strong>en zu hohen Teil des<br />
Gesamtschadens tragen. Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> «deep pocket policy» vieler Kläger, welche<br />
bei <strong>der</strong> alle<strong>in</strong> solventen Revisionsstelle ihren Schaden liquidieren wollen, ist<br />
seit e<strong>in</strong>igen Jahren e<strong>in</strong>e rechtspolitische Diskussion um die Haftung des Abschlussprüfers<br />
im Gange. 146 In <strong>der</strong> laufenden Aktienrechtsrevision soll die Haftungssituation<br />
<strong>der</strong> Revisoren im Rahmen von Art. 759 OR auf e<strong>in</strong> vernünftiges Mass<br />
zurückgeführt werden; Art. 755 Abs. 1 OR bleibt h<strong>in</strong>gegen unverän<strong>der</strong>t. Das<br />
Haftungsrisiko <strong>der</strong> Revisoren liegt – trotz Unabhängigkeitsvorschriften (Art.<br />
728 OR <strong>und</strong> Art. 729 OR) – <strong>in</strong> <strong>der</strong> unvermeidbaren «Nähe» ihres Wirkens zu<br />
142 Vgl. BGE 132 I 13, wo <strong>der</strong> «appel en cause» über 50 Personen betraf, weshalb das BGer<br />
erkannte: «la complication excessive du procès suffit à justifier le rejet des appels en<br />
cause». Dabei konnte sich das Gericht allerd<strong>in</strong>gs auf Art. 104 Abs. 2 <strong>der</strong> Genfer ZPO<br />
stützen («S’il en résulte une complication excessive du procès, le juge peut refuser<br />
l’appel en cause»), hielt aber auch fest, dass die zahlreichen Streitverkündungsklagen<br />
«en réalité qu’un but dilatoire» hatten (E. 5.3).<br />
143 Art. 16 ZPO.<br />
144 Vgl. auch Art. 40 ZPO.<br />
145 Vgl. den zweiten Abschnitt von XII.A.<br />
146 Vgl. bertSch<strong>in</strong>ger, Revisionsstelle, S. 598 ff. mit e<strong>in</strong>er Übersicht zu e<strong>in</strong>igen Lösungsan-<br />
42<br />
sätzen.
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
den Fehlleistungen des Managements. Deshalb soll <strong>der</strong> subsidiären Stellung <strong>der</strong><br />
Revisoren Rechnung getragen <strong>und</strong> vermieden werden, dass die Revisionsstelle<br />
im Rahmen <strong>der</strong> differenzierten Solidarität (Art. 759 Abs. 1 OR) auch bei e<strong>in</strong>em<br />
sehr kle<strong>in</strong>en eigenen Verschulden letztlich voll für das Verschulden des Verwaltungsrates<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung aufkommen muss. 147 Zwar hat das B<strong>und</strong>esB<strong>und</strong>esgericht die Revisionsstelle bereits als Sek<strong>und</strong>ärorgan bezeichnet; 148 <strong>in</strong> n <strong>der</strong> Insolvenz<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft ersche<strong>in</strong>en die Revisoren dann allerd<strong>in</strong>gs oftmals als primäres<br />
Haftungsorgan, was bereits unter dem Titel «Den Letzten beissen die<br />
H<strong>und</strong>e» thematisiert wurde. 149<br />
Die Revisoren haften für e<strong>in</strong>en Fortsetzungsschaden; <strong>der</strong> Schadenskeim liegt <strong>in</strong><br />
aller Regel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fehlerhaften Verhalten <strong>der</strong> geschäftsführenden Organpersonen.<br />
Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage hat <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrat <strong>in</strong> <strong>der</strong> laufenden Aktienrechtsrevision<br />
für die Haftung <strong>der</strong> Revisionsstelle mit Art. 759 Abs. 1bis E-OR (Fassung<br />
vom Dezember 2007) folgende Regelung vorgeschlagen: Personen, die <strong>der</strong> Revisionshaftung<br />
unterstehen <strong>und</strong> die e<strong>in</strong>en Schaden lediglich fahrlässig mitverursacht haben,<br />
haften bis zu dem Betrag, für den sie zufolge Rückgriffs aufkommen müssten.<br />
Gemäss Botschaft soll damit <strong>der</strong> sek<strong>und</strong>ären Stellung von Personen, die mit <strong>der</strong><br />
Revision betraut s<strong>in</strong>d, im Verhältnis zu den Geschäftsführungsorganen Rechnung<br />
getragen werden. 150 Es geht darum, die Revisionsstelle im Bereich des<br />
fahrlässigen Handelns aus <strong>der</strong> differenzierten Solidarität des Art. 759 Abs. 1 OR<br />
herauszulösen. Unter <strong>der</strong> Annahme, dass <strong>der</strong> Gesamtschaden gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
durch die Verwaltungsräte <strong>und</strong> die Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong> zu tragen ist,<br />
soll die Revisionsstelle im Aussenverhältnis lediglich <strong>in</strong> dem Masse haften, <strong>in</strong><br />
dem Mitbeklagte des Hauptprozesses (Art. 759 Abs. 2 OR) o<strong>der</strong> Dritte gegen<br />
die Revisionsstelle Rückgriff nehmen könnten. Dieser Regressbetrag entspricht<br />
folglich dem Haftungsbetrag <strong>der</strong> Revisionsstelle im Aussenverhältnis. Der Gesetzesentwurf<br />
reflektiert damit die Corporate Governance <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft.<br />
Wie erwähnt, wird <strong>der</strong> Schaden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel primär durch die geschäftsführenden<br />
Organpersonen <strong>und</strong> lediglich subsidiär im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Fortsetzungsschadens<br />
durch die Revisionsstelle verursacht. Das Haftungsproblem <strong>der</strong> Revisionsstelle<br />
besteht dabei dar<strong>in</strong>, dass sie e<strong>in</strong> schadenstiftendes Verhalten<br />
geschäftsführen<strong>der</strong> Organpersonen nicht o<strong>der</strong> nicht rechtzeitig bemerkt.<br />
147 Vgl. Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1694 ff.<br />
148 B<strong>und</strong>esgericht 4C.118/2005 vom 8. August 2005, E. 4.3.<br />
149 forStmoSer, S. 483 ff.<br />
150 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1694 ff.<br />
43
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
Der Rückgriffsbetrag wird mit Bezug auf Personen, die nicht am Prozess gegen<br />
die Revisionsstelle beteiligt s<strong>in</strong>d, virtuell bestimmt. Die Revisionsstelle erhält im<br />
Hauptprozess Gelegenheit, Tatsachen vorzutragen, welche die Schadensverursachung<br />
durch Mitbeklagte o<strong>der</strong> Dritte belegen sollen <strong>und</strong> ihren eigenen Beitrag<br />
zur Schadenstiftung als ger<strong>in</strong>ger ersche<strong>in</strong>en lassen, als es vom Kläger im<br />
Hauptprozess dargetan wird. Soweit sich die Argumente <strong>der</strong> Revisionsstelle im<br />
Hauptprozess durch Mitbeklagte nicht verifizieren lassen, ermittelt <strong>der</strong> Richter<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em «virtuellen Regressprozess» den Haftungsbetrag <strong>der</strong> Revisionsstelle im<br />
Aussenverhältnis. Nach <strong>der</strong> Botschaft soll mit dieser Regelung vermieden werden,<br />
«dass die Revisionsstelle auch bei e<strong>in</strong>em sehr kle<strong>in</strong>en Verschulden letztlich voll für<br />
das Verschulden des Verwaltungsrats <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung aufkommen muss». 151<br />
Damit will <strong>der</strong> Gesetzesentwurf den Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Proportionalität zwischen<br />
Verschulden <strong>und</strong> Haftung verwirklichen.<br />
Die praktische Handhabung <strong>der</strong> vorgeschlagenen Regelung dürfte nicht e<strong>in</strong>fach<br />
se<strong>in</strong>, doch s<strong>in</strong>d gewisse Entlastungen zu Gunsten <strong>der</strong> Revisionsstelle zu erwarten,<br />
da <strong>der</strong> Richter ihren Ausführungen über schadenstiftendes Verhalten von<br />
Mitbeklagten des Hauptprozesses o<strong>der</strong> Dritten mehr Gehör schenken darf. Die<br />
E<strong>in</strong>schätzungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur über die praktischen Auswirkungen von<br />
Art. 759 Abs. 1 bis E-OR bewegen sich zwischen e<strong>in</strong>er bloss «leichten Dämpfung<br />
<strong>der</strong> Revisionshaftung» 152 <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er «merklichen Verschärfung <strong>der</strong> Haftung auf<br />
<strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Verwaltungsräte». 153<br />
Handelt die Revisionsstelle absichtlich, bleibt es nach dem Gesetzesentwurf bei<br />
<strong>der</strong> differenzierten Solidarität von Art. 759 Abs. 1 OR. Der vom B<strong>und</strong>esrat<br />
vorgeschlagene Art. 759 Abs. 1 bis E-OR blieb im Rahmen <strong>der</strong> Aktienrechtsrevision<br />
bislang unbestritten, sodass e<strong>in</strong>stweilen davon auszugehen ist, dass er<br />
geltendes Recht wird. Allerd<strong>in</strong>gs lässt die vorgeschlagene Bestimmung wichtige<br />
Fragen offen. Unklar ist etwa <strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>liche Grad <strong>der</strong> richterlichen Überzeugung,<br />
ab welchem die Argumente <strong>der</strong> Revisionsstelle berücksichtigt werden<br />
dürfen. Hier muss blosses Glaubhaftmachen gr<strong>und</strong>sätzlich genügen, will man<br />
die Bestimmung nicht <strong>in</strong>s Leere laufen lassen. Der tatsächliche Regressprozess<br />
(Art. 759 Abs. 3 OR) bleibt allemal vorbehalten. 154<br />
151 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1694 ff.(1696).<br />
152 druey/glanZmann, § 14, N 125.<br />
153 böckli, Verwaltungsräte, S. 10.<br />
154 Vgl. zum Ganzen böckli/bühler, S. 241 ff.; Watter/garbarSki, S. 244 ff.<br />
44
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
Die Neuordnung <strong>der</strong> Revisionshaftung dürfte die Haftungsrisiken für die Verwaltungsräte<br />
tendenziell erhöhen, da die Revisionsstelle etwas aus <strong>der</strong> «Schussl<strong>in</strong>ie»<br />
genommen werden soll. Stattdessen erfährt die Schadensverursachung<br />
durch die geschäftsführenden Organpersonen e<strong>in</strong>e stärkere Betonung. Sie sollen<br />
für den Schaden haften, sofern sie ihn nicht zufolge (virtuellen) Rückgriffs<br />
auf die Revisionsstelle abwälzen können. Ist die Revisionsstelle Alle<strong>in</strong>beklagte<br />
des Hauptprozesses, kann sie über die Neuordnung <strong>der</strong> Revisionshaftung gemäss<br />
Art. 759 Abs. 1 bis E-OR h<strong>in</strong>aus mittels <strong>der</strong> Streitverkündungsklage <strong>der</strong><br />
Zivilprozessordnung 155 die fehlbaren Organpersonen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gesamtverfahren<br />
zw<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Gericht e<strong>in</strong>en möglichst umfangreichen<br />
Überblick über die Zusammenhänge <strong>der</strong> Schadensverursachung ermöglichen.<br />
In diesem Fall werden die Argumente <strong>der</strong> Revisionsstelle im Kontakt mit den<br />
Streitverkündungsbeklagten, zum Beispiel e<strong>in</strong>em Verwaltungsrat <strong>und</strong> dem<br />
CEO, dem kontradiktorischen Härtetest ausgesetzt, sodass das Gericht auf<br />
dieser Gr<strong>und</strong>lage die e<strong>in</strong>zelnen Haftungsquoten mehrerer Schadensverursacher<br />
festlegen kann.<br />
XIII. Ausblick – Diskussionskultur <strong>in</strong> den Leitungsgremien<br />
<strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
Die erfolgreiche Zusammenarbeit <strong>in</strong> Verwaltungsrat <strong>und</strong> Geschäftsleitung erfor<strong>der</strong>t<br />
aufmerksames Zuhören genau so wie kritisches H<strong>in</strong>terfragen. Das<br />
B<strong>und</strong>esgericht hat dem Mitglied e<strong>in</strong>es Bank-Verwaltungsrates, <strong>der</strong> für die fehlerhafte<br />
Erteilung e<strong>in</strong>es Kredites anlässlich se<strong>in</strong>er ersten Teilnahme an e<strong>in</strong>er<br />
Sitzung des Verwaltungsrates haftbar wurde, mangelnde Courage vorgeworfen:<br />
«Die e<strong>in</strong>fache Frage, wie es um die Kreditfähigkeit <strong>und</strong> Kreditwürdigkeit des Schuldners<br />
bestellt sei bzw. ob <strong>und</strong> wie diese abgeklärt worden sei, hätte noch ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> rigoroses<br />
E<strong>in</strong>greifen des Neul<strong>in</strong>gs bedeutet. Gerade wenn er mit den <strong>in</strong>ternen Abläufen noch<br />
nicht vertraut war, hätte er diese elementare Frage aufwerfen müssen <strong>und</strong> wäre ihm<br />
dieses Verhalten auch nicht verargt worden.» 156<br />
Die Lektion des B<strong>und</strong>esgerichts ist unmissverständlich: e<strong>in</strong>e offene Diskussionskultur<br />
ist zw<strong>in</strong>gende Voraussetzung zum Selbstschutz <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> von Verwaltungsräten<br />
<strong>und</strong> Geschäftsleitungen. Oftmals ist das relevante Wissen <strong>in</strong> den<br />
155 Vgl. XII.A.<br />
156 B<strong>und</strong>esgericht 4C.201/2001 vom 19. Juni 2002, E. 2.1.2.<br />
45
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
Organisationen ausreichend vorhanden, um Problemfälle <strong>und</strong> Unternehmenskrisen<br />
zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Die aktienrechtlichen Verhaltenspflichten <strong>der</strong> Organpersonen<br />
verlangen, diese Informationsquellen zu nutzen <strong>und</strong> auf dieser<br />
Gr<strong>und</strong>lage die brennenden Fragen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Führung</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft beherzt<br />
anzugehen.<br />
Literaturverzeichnis<br />
raShid bahar/rita trigo tr<strong>in</strong>dade, Revision des Verantwortlichkeitsrechts: Differenzierte<br />
Solidarhaftung <strong>der</strong> Revisionsstelle <strong>und</strong> übrige Än<strong>der</strong>ungen, GesKR 2008 Son<strong>der</strong>nummer,<br />
S. 146 ff.<br />
urS bertSch<strong>in</strong>ger, Streitverkündungsklage <strong>und</strong> aktienrechtliche Verantwortlichkeit, <strong>in</strong>: Daniel<br />
Staehel<strong>in</strong>/Franco Lorandi (Hrsg.), Festschrift für Ivo Schwan<strong>der</strong>, St. Gallen 2011,<br />
S. 811 ff.<br />
<strong>der</strong>S., Organisationsreglement, Orientierungsanspruch über die Organisation <strong>der</strong> Geschäftsführung<br />
<strong>und</strong> aktienrechtliche Verantwortlichkeit bei Delegation, SZW 1997,<br />
185 ff. (zit. Organisationsreglement).<br />
<strong>der</strong>S., Arbeitsteilung <strong>und</strong> aktienrechtliche Verantwortlichkeit, Zürich 1999 (zit. Verantwortlichkeit).<br />
<strong>der</strong>S., Berichterstattung zum Handels- <strong>und</strong> Gesellschaftsrecht 2007-2009, <strong>in</strong>: Walter Fellmann/Tomas<br />
Poledna (Hrsg.), Aktuelle Anwaltspraxis 2009, Bern 2009, S. 563 ff. (zit.<br />
Berichterstattung).<br />
<strong>der</strong>S., Zuständigkeit <strong>der</strong> Generalversammlung <strong>der</strong> Aktiengesellschaft – e<strong>in</strong> unterschätzter<br />
Aspekt <strong>der</strong> Corporate Governance, <strong>in</strong>: Ra<strong>in</strong>er J. Schweizer/Herbert Burkert/Urs Gasser,<br />
Festschrift für Jean Nicolas Druey, Zürich 2002, S. 309 ff. (zit. Generalversammlung).<br />
<strong>der</strong>S., Verantwortlichkeit <strong>der</strong> Revisionsstelle – Aktuelle Fragen <strong>und</strong> Perspektiven, ZSR<br />
2005 II, S. 569 ff. (zit. Revisionsstelle).<br />
peter böckli, Schweizer Aktienrecht, 4. Aufl., Zürich 2009.<br />
<strong>der</strong>S., Doktor Eisenbart als Gesetzgeber? Die Initiative «m<strong>in</strong><strong>der</strong>» <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gegenvorschlag<br />
des B<strong>und</strong>esrates zu den Vergütungen an Verwaltungsrat <strong>und</strong> Geschäftsleitung, <strong>in</strong>: Rita<br />
Trigo Tr<strong>in</strong>dade/Henry Peter/Christian Bovet (Hrsg.), Economie Environnement Ethique,<br />
De la responsabilité sociale et sociétale, Liber Amicorum Anne Petitpierre-Sauva<strong>in</strong>,<br />
Genf/Zürich/Basel 2009, S. 29 ff. (zit. Gesetzgeber).<br />
<strong>der</strong>S., Die Schweizer Verwaltungsräte zwischen Hammer <strong>und</strong> Amboss, SJZ 2010, S. 1 ff./<br />
25 ff. (zit. Verwaltungsräte).<br />
peter böckli/chriStoph b. bühler, Ausklammerung <strong>der</strong> Revisionsstelle aus <strong>der</strong> Solidarhaftung<br />
mit den geschäftsführenden Organen, <strong>in</strong>: Festschrift Max Boemle zum 80. Geburtstag,<br />
Bern 2005, S. 235 ff.<br />
chriStoph b. bühler, Sanierung nach Aktienrecht de lege lata et ferenda, Schriften zum<br />
Aktienrecht Nr. 25, Zürich 2010.<br />
46
<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />
Jean nicolaS druey, Gesellschafts- <strong>und</strong> Handelsrecht, 10. Auflage, Zürich 2010, bearbeitet<br />
von Eva Druey Just/Jean Nicolas Druey/Lukas Glanzmann.<br />
peter forStmoSer, Den Letzten beissen die H<strong>und</strong>e, Zur Haftung <strong>der</strong> Revisionsstelle aus aktienrechtlicher<br />
Verantwortlichkeit, <strong>in</strong>: Jürg-Beat Ackermann/Andreas Donatsch/Jörg<br />
Rehberg (Hrsg.), Wirtschaft <strong>und</strong> Strafrecht, FS für Niklaus Schmid zum 65. Geburtstag,<br />
Zürich 2001, 483 ff.<br />
<strong>der</strong>S., Der Richter als Krisenmanager, Überlegungen zu Art. 725 f OR, <strong>in</strong>: Peter Forstmoser/<br />
He<strong>in</strong>rich Honsell/Wolfgang Wiegand (Hrsg.), Festschrift für Hans Peter Walter, Bern<br />
2005, S. 263 ff. (zit. Richter).<br />
<strong>der</strong>S., Die Entschädigung <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> von Verwaltungsrat <strong>und</strong> Topmanagement, <strong>in</strong>: Rita<br />
Trigo Tr<strong>in</strong>dade/Henry Peter/Christian Bovet (Hrsg.), Economie Environnement Ethique.<br />
De la responsabilité sociale et sociétale, Liber Amicorum Anne Petitpierre-Sauva<strong>in</strong>,<br />
Genf/Zürich/Basel 2009, S. 145 ff. (zit. Entschädigung).<br />
n<strong>in</strong>a J. frei, <strong>in</strong>: Basler Kommentar Schweizerische Zivilprozessordnung, Basel 2010.<br />
andreW m. garbarSki, La reponsabilité civile et pénale des organes dirigeants de sociétés<br />
anonymes, Zürich 2006.<br />
andrea r. graSS, Bus<strong>in</strong>ess Judgment Rule, Zürich 1998.<br />
anne-cather<strong>in</strong>e hahn, <strong>in</strong>: Baker&McKenzie (Hrsg.), Schweizerische Zivilprozessordnung<br />
(ZPO), Bern 2010.<br />
mart<strong>in</strong>a iSler, Konsultativabstimmung <strong>und</strong> Genehmigungsvorbehalt zugunsten <strong>der</strong> Generalversammlung,<br />
Unter beson<strong>der</strong>er Berücksichtigung von Entschädigungen, Zürich<br />
2010.<br />
daniel leu, Variable Vergütungen für Manager <strong>und</strong> Verwaltungsräte, Zürich 2005.<br />
chriStoph leuenberger/beatrice uffer-tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Bern 2010.<br />
kar<strong>in</strong> i. m<strong>in</strong><strong>der</strong>, Die Autonomie <strong>der</strong> Unternehmung, Bern 1994.<br />
roger morf, <strong>in</strong>: Myriam A. Gehri/Michael Kramer (Hrsg.), ZPO Kommentar, Zürich 2010.<br />
mart<strong>in</strong> peyer, Das <strong>in</strong>terne Kontrollsystem als Aufgabe des Verwaltungsrats <strong>und</strong> <strong>der</strong> Revisionsstelle,<br />
Zürich 2009.<br />
Vito roberto, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Zürich 2002.<br />
urS Schenker, Möglichkeiten zur privatrechtlichen Sanierung von Aktiengesellschaften, SJZ<br />
2009, S. 485 ff.<br />
dorothea Senn, Die Haftung des Verwaltungsrates bei <strong>der</strong> Sanierung <strong>der</strong> AG; Zürich 2001.<br />
hanS-ueli Vogt/marcel Schönbächler, Verantwortlichkeitsansprüche im Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft:<br />
Modalitäten <strong>der</strong> Geltendmachung <strong>und</strong> Zulässigkeit von E<strong>in</strong>reden, GesKR<br />
2010, S. 246 ff.<br />
hanS caSpar Von <strong>der</strong> crone, Haftung <strong>und</strong> Haftungsbeschränkung <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktienrechtlichen<br />
Verantwortlichkeit, SZW 2006, S. 2 ff.<br />
rolf Watter, Neuerungen im Bereich des Verwaltungsrates, Eigentore im Bereich <strong>der</strong><br />
Corporate Governance, <strong>in</strong>: Rolf Watter (Hrsg.), Die «grosse» Schweizer Aktienrechtsrevision,<br />
E<strong>in</strong>e Standortbestimmung per Ende 2010, Zürich 2010, S. 285 ff.<br />
47
Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />
rolf Watter/andreW michael garbarSki, La responsabilité solidaire du réviseur selon le<br />
project de révision du droit de la société anonyme: changement de paradigme?, SZW<br />
2009, S. 235 ff.<br />
rolf Watter/corrado ramp<strong>in</strong>i, <strong>in</strong>: Basler Kommentar Revisionsrecht, Basel 2011.<br />
rolf Watter/katJa roth pellanda, <strong>in</strong>: Basler Kommentar Obligationenrecht II, 3. Aufl., Basel<br />
2008.<br />
hanSpeter WüSt<strong>in</strong>er, <strong>in</strong>: Basler Kommentar Obligationenrecht II, 3. Aufl., Basel 2008.<br />
felix Ziltener, Sanierung – die Sicht e<strong>in</strong>es Richters, <strong>in</strong>: Thomas Sprecher (Hrsg.), Sanierung<br />
<strong>und</strong> Insolvenz von Unternehmen, Zürich 2011, S. 181 ff.<br />
Materialienverzeichnis<br />
Botschaft zur Än<strong>der</strong>ung des Obligationenrechts (Revisionspflicht im Gesellschaftsrecht)<br />
sowie zum B<strong>und</strong>esgesetz über die Zulassung <strong>und</strong> Beaufsichtigung <strong>der</strong> Revisor<strong>in</strong>nen <strong>und</strong><br />
Revisoren vom 23. Juni 2004, BBl 20. Juli 2004, S. 3969 ff. (zit. Botschaft Revisionsrecht).<br />
Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO) vom 28. Juni 2006, BBl 19. September<br />
2006, S. 7221 (zit. Botschaft ZPO).<br />
Botschaft zur Än<strong>der</strong>ung des Obligationenrechts (Aktienrecht <strong>und</strong> Rechnungslegungsrecht<br />
sowie Anpassungen im Recht <strong>der</strong> Kollektiv- <strong>und</strong> <strong>der</strong> Kommanditgesellschaft, im GmbH-<br />
Recht, Genossenschafts-, Handelsregister- sowie Firmenrecht) vom 21. Dezember 2007,<br />
BBl 18. März 2008, S. 1589 ff. (zit. Botschaft Aktienrechtsrevision).<br />
Botschaft zur Volks<strong>in</strong>itiative «gegen die Abzockerei» <strong>und</strong> zur Än<strong>der</strong>ung des Obligationenrechts<br />
(Aktienrecht) vom 5. Dezember 2008, BBl 13. Januar 2009, S. 299 ff. (zit. Botschaft<br />
Abzockerei).<br />
48