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Führung und Verantwortung in der ... - Prager Dreifuss

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Son<strong>der</strong>druck aus:<br />

Thierry Luterbacher (Hrsg.)<br />

Verantwortlichkeits-, Zivilprozess- <strong>und</strong><br />

Versicherungsrecht<br />

(Band 1 «Versicherung <strong>in</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> Praxis»)<br />

Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

Aktuelle Fragen <strong>und</strong> Perspektiven für die Mitglie<strong>der</strong><br />

des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung<br />

Dike Verlag Zürich/St. Gallen 2012


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

Aktuelle Fragen <strong>und</strong> Perspektiven für die Mitglie<strong>der</strong><br />

des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung<br />

Urs Bertsch<strong>in</strong>ger 1<br />

Inhaltsübersicht<br />

I. E<strong>in</strong>führung 4<br />

II. Klagelegitimation im Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft 5<br />

III. Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule 7<br />

IV. Haftungsbeschränkende Delegation 10<br />

V. Haftung <strong>der</strong> Muttergesellschaft im Konzern –<br />

e<strong>in</strong>e Verteidigungsstrategie <strong>der</strong> Organpersonen? 11<br />

VI. Gr<strong>und</strong>strukturen <strong>der</strong> Aktiengesellschaft <strong>und</strong> aktienrechtliche Verantwortlichkeit 13<br />

VII. Vergütung 15<br />

A. Kompetenzfragen 15<br />

B. «Golden Hellos», «marktübliche» Entschädigung <strong>und</strong><br />

Sorgfaltspflicht <strong>der</strong> Entscheidungsträger 16<br />

C. Konkretes zur Höhe <strong>der</strong> Vergütung an Organpersonen 19<br />

D. Abgangsentschädigungen 20<br />

E. Rückerstattung von Vergütungen 21<br />

F. Soziale Dimension <strong>der</strong> Vergütung 22<br />

VIII. Interessenkonflikte von Organpersonen –<br />

Aktuelle Entwicklungen 23<br />

A. Interessenkonflikte im Allgeme<strong>in</strong>en 23<br />

B. Verbot gegenseitiger E<strong>in</strong>flussnahme auf Entschädigungen 24<br />

C. Interessenkonflikte von Organpersonen <strong>und</strong> Verantwortlichkeit 25<br />

IX. Die Gesellschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Krise 27<br />

A. Pflichten <strong>der</strong> Verwaltungsräte – «Reden ist Silber, Handeln ist Gold» 27<br />

B. Pflichten <strong>der</strong> Revisionsstelle 29<br />

C. Gläubigerschutz 30<br />

D. Sanierungsrecht <strong>und</strong> Sanierungspflicht 32<br />

E. Der Richter als Manager? 33<br />

1 Der Beitrag entspricht e<strong>in</strong>er überarbeiteten Fassung des Beitrages an <strong>der</strong> Tagung <strong>der</strong><br />

AXA-ARAG vom 1. September 2010 <strong>in</strong> Zürich. Die Vortragsform wurde gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

beibehalten. Das Manuskript wurde Anfang September 2011 abgeschlossen.<br />

3


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

X. F<strong>in</strong>anzielle <strong>Führung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise – Aktienrechtsrevision 34<br />

A. Liquiditätsplan 34<br />

B. Massgeschnei<strong>der</strong>te Sanierungsvoraussetzungen 35<br />

XI. IKS-«Defence» des Verwaltungsrates 35<br />

XII. «Deep pockets» <strong>der</strong> Revisoren <strong>und</strong> Griff <strong>in</strong> die Taschen von Verwaltungsräten<br />

<strong>und</strong> Geschäfts leitungsmitglie<strong>der</strong>n 36<br />

A. Streitverkündungsklage 36<br />

B. Neuordnung <strong>der</strong> Revisionshaftung 42<br />

XIII. Ausblick – Diskussionskultur <strong>in</strong> den Leitungsgremien <strong>der</strong> Aktiengesellschaft 45<br />

Literaturverzeichnis / Materialienverzeichnis 46<br />

I. E<strong>in</strong>führung<br />

Verwaltungsrat <strong>und</strong> Geschäftsleitung s<strong>in</strong>d <strong>Führung</strong>s- <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong>sgremien.<br />

Wenn Geschäfte schief gehen, werden die Schuldigen gesucht. Wirtschaftlicher<br />

Misserfolg ist allerd<strong>in</strong>gs nicht per se e<strong>in</strong> Haftungsgr<strong>und</strong>. Dieses<br />

Rechtspr<strong>in</strong>zip hat volkswirtschaftliche Bedeutung, da es den Willen, ökonomische<br />

Risiken e<strong>in</strong>zugehen, determ<strong>in</strong>iert.<br />

Das Verantwortlichkeitsrecht ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> Gerichte das «lebendigste»<br />

Gebiet des Aktienrechts. Zwar s<strong>in</strong>d Verantwortlichkeitsklagen bei den aufrechtstehenden<br />

Gesellschaften e<strong>in</strong>e seltene Ausnahme, 2 doch spielt das aktienrechtliche<br />

Verantwortlichkeitsrecht auch ausser Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft als Druckmittel<br />

<strong>in</strong> Diskussionen, etwa zwischen unzufriedenen Aktionären <strong>und</strong> dem<br />

Verwaltungsrat, e<strong>in</strong>e gewisse Rolle. Der teilweise altruistische E<strong>in</strong>schlag <strong>der</strong><br />

Klage des Aktionärs ausser Konkurs, mit welcher e<strong>in</strong> Schaden <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

durch Leistung an diese, nicht an den Aktionär, liquidiert werden soll, 3 wirkt<br />

abschottend, ist aber systemkonform. 4 Ob die Gesellschaft gegen ausgeschiedene<br />

Organpersonen Klage führen soll, wie es im Nachgang zur F<strong>in</strong>anzkrise<br />

2 Vgl. dazu den unter VII.C. erwähnten Fall.<br />

3 Vgl. Art. 756 OR.<br />

4 Der Versuch <strong>der</strong> Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrates <strong>und</strong> des Stän<strong>der</strong>ates,<br />

im Nachgang zur F<strong>in</strong>anzkrise von 2008/2009 die Übernahme <strong>der</strong> Kosten<br />

von Verantwortlichkeitsklagen gegen ehemalige Organpersonen <strong>der</strong> UBS durch die<br />

Eidgenossenschaft garantieren zu lassen, ist zu Recht gescheitert (vgl. Die Behörden<br />

unter dem Druck <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzkrise <strong>und</strong> <strong>der</strong> Herausgabe von UBS-K<strong>und</strong>endaten an die<br />

USA, Bericht vom 30. Mai 2010 <strong>der</strong> Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrates<br />

<strong>und</strong> des Stän<strong>der</strong>ates, Stellungnahme des B<strong>und</strong>esrates vom 13. Oktober 2010, BBl<br />

19. April 2011, S. 3498 ff.).<br />

4


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

2008/2009 bei e<strong>in</strong>em systemrelevanten Unternehmen gefor<strong>der</strong>t wurde, liegt<br />

<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Verantwortung</strong> des Verwaltungsrates. Er fällt diesen Entscheid<br />

im Lichte von Art. 717 Abs. 1 OR im besten Interesse <strong>der</strong> Gesellschaft. 5<br />

Solange die Gesellschaft aufrecht steht, kommt den Gläubigern ke<strong>in</strong> Klagerecht<br />

zu. Zwar s<strong>in</strong>d ihre For<strong>der</strong>ungen buchhalterisch unter Umständen bereits im<br />

Wert zu berichtigen, doch steht das aktienrechtliche Verantwortlichkeitsrecht<br />

nicht im Dienste des präventiven Gläubigerschutzes, was sich auch mit e<strong>in</strong>er<br />

gewissen Abschottung <strong>der</strong> geschäftsführenden Organpersonen von Druckversuchen<br />

<strong>der</strong> Gläubiger erklärt.<br />

Im Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft s<strong>in</strong>d Verantwortlichkeitsklagen gegen die Verwaltungsräte<br />

<strong>und</strong> geschäftsführenden Organpersonen (sowie die Revisionsstelle 6 )<br />

weit verbreitet, sodass hier für die Organpersonen e<strong>in</strong>e substantielle Gefahr<br />

lauert, im Falle wirtschaftlichen Misserfolgs für verme<strong>in</strong>tliches Fehlverhalten <strong>in</strong><br />

den Strudel von Haftungsfragen gezogen zu werden. Bekanntlich ist die Geschäftsführungshaftung<br />

des Art. 754 OR <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Beziehung voll am Anschlag:<br />

Die Haftung ist zw<strong>in</strong>gen<strong>der</strong> Natur, greift bei jedem Verschulden, ohne dass e<strong>in</strong>e<br />

Haftungslimite bestünde. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage kann sich für das Privatvermögen<br />

<strong>der</strong> unter Art. 754 OR passivlegitimierten Personen – selbst bei e<strong>in</strong>er Organversicherung<br />

– e<strong>in</strong>e düstere Perspektive ergeben.<br />

Im Folgenden sollen aktuelle Aspekte <strong>der</strong> Haftung von Verwaltungsräten <strong>und</strong><br />

Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong>n aufgegriffen werden. Dabei wird sowohl auf Aspekte<br />

des geltenden Rechts als auch auf Fragen e<strong>in</strong>gegangen, welche sich im<br />

Zuge <strong>der</strong> laufenden Aktienrechtsrevision ergeben.<br />

II. Klagelegitimation im Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

Im Konkurs <strong>der</strong> Aktiengesellschaft ist die Aktivlegitimation des Klägers e<strong>in</strong> heiss<br />

umstrittenes Thema. Weil die Gleichbehandlung <strong>der</strong> Gläubiger im Konkurs<br />

5 Vgl. dazu den Transparenzbericht an die Aktionär<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Aktionäre <strong>der</strong> UBS AG,<br />

F<strong>in</strong>anzmarktkrise, grenzüberschreitendes US-Vermögensverwaltungsgeschäft, Verantwortlichkeitsfragen<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong>terne Aufarbeitung, 2010, S. 55 ff.(58 ff.). Das Gesellschafts<strong>in</strong>teresse<br />

bildet auch die Leitl<strong>in</strong>ie für den Fall, dass die Generalversammlung<br />

über die Anhebung e<strong>in</strong>er Verantwortlichkeitsklage entscheiden soll, was dazu führen<br />

kann, dass <strong>der</strong> Verwaltungsrat das Traktandum zur Ablehnung empfehlen muss.<br />

6 Art. 755 OR.<br />

5


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

hochgehalten wird, wurde mit BGE 122 III 176 ff. («X. Corporation») die Geltendmachung<br />

direkter Schäden durch die Gläubiger e<strong>in</strong>geschränkt. Diese zunächst<br />

heftig kritisierte Rechtsprechung, die mittlerweile e<strong>in</strong>geschliffen ist,<br />

stellt unter gewissen Umständen bei <strong>der</strong> Klagelegitimation nicht auf die Vermögensmasse<br />

ab, <strong>in</strong> welcher <strong>der</strong> Schaden e<strong>in</strong>getreten ist, son<strong>der</strong>n auf die Rechtsgr<strong>und</strong>lage<br />

<strong>der</strong> jeweiligen Schadenersatzpflicht.<br />

BGE 132 III 564 liefert e<strong>in</strong>e Zusammenfassung <strong>der</strong> geltenden Rechtslage. Direkter<br />

Schaden des Klägers ist direkt ersatzfähig <strong>und</strong> kann je<strong>der</strong>zeit geltend gemacht<br />

werden. Der <strong>in</strong>direkte Schaden bzw. Gesellschaftsschaden ist <strong>in</strong>direkt<br />

ersatzfähig. Es handelt sich um e<strong>in</strong>en Reflexschaden («dommage par ricochet»),<br />

welcher als Anspruch <strong>der</strong> Gläubigergesamtheit <strong>der</strong> Klage- <strong>und</strong> Verteilungsordnung<br />

von Art. 757 Abs. 2 <strong>und</strong> 3 OR unterliegt. Soweit gleichzeitig e<strong>in</strong> direkter<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong> <strong>in</strong>direkter Schaden des Klägers vorliegt, das heisst das Verhalten e<strong>in</strong>er<br />

Organperson e<strong>in</strong>en direkten Gläubigerschaden sowie e<strong>in</strong>en Schaden <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

verursacht hat, greift die bereits erwähnte Praxisschranke, wonach sich<br />

die Ersatzpflicht nach <strong>der</strong> Rechtsgr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> jeweiligen Schadenersatzpflicht<br />

bestimmt. In diesem Szenario kann <strong>der</strong> Gläubiger nur dann e<strong>in</strong>en direkten<br />

Schaden (mit Leistung an sich selbst) geltend machen, wenn dem fehlbaren<br />

Gesellschaftsorgan e<strong>in</strong> wi<strong>der</strong>rechtliches Verhalten nach Art. 41 OR, e<strong>in</strong>e culpa<br />

<strong>in</strong> contrahendo o<strong>der</strong> die Verletzung e<strong>in</strong>er (seltenen) Norm des Gesellschaftsrechts<br />

vorzuwerfen ist, welche ausschliesslich den Gläubiger<strong>in</strong>teressen dient.<br />

BGE 132 III 569 7 präzisiert, dass sich bei ausschliesslicher Schädigung des Gläubigers<br />

– ohne, dass die Gesellschaft selbst e<strong>in</strong>en Schaden erlitten hat – die<br />

Geltendmachung des Schadens nach den allgeme<strong>in</strong>en Regeln <strong>der</strong> zivilrechtlichen<br />

Haftung richtet.<br />

Der B<strong>und</strong>esrat schlägt im Rahmen <strong>der</strong> Aktienrechtsrevision die Streichung von<br />

Art. 757 Abs. 3 OR vor, weil diese Bestimmung, welche ausdrücklich auf die<br />

SchKG-Abtretung verweist, «überflüssig (sei), da bereits <strong>in</strong> Artikel 757 Absatz 2<br />

materiell auf Art. 260 SchKG verwiesen wird.» 8 Fraglich ist, ob Art. 757 Abs. 2<br />

OR über diesen materiellen Verweis auf das SchKG h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e selbständige<br />

Bedeutung im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Direktklagerechts <strong>der</strong> Aktionäre o<strong>der</strong> Gläubiger zukommt.<br />

Das B<strong>und</strong>esgericht hat festgehalten, dass <strong>in</strong> materiellrechtlicher H<strong>in</strong>sicht<br />

ke<strong>in</strong> Unterschied besteht zwischen dem Anspruch, den sich e<strong>in</strong> Gläubiger<br />

nach Art. 260 SchKG abtreten lässt, <strong>und</strong> dem Anspruch, den die Aktionäre o<strong>der</strong><br />

7 E. 3.2.1.<br />

8 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1693.<br />

6


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

Gläubiger direkt aus Art. 757 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 OR erheben können. 9 Ausdrücklich<br />

offen gelassen wurde die Frage, ob e<strong>in</strong> Gläubiger gestützt auf Art. 757 Abs. 2<br />

OR ohne entsprechende Abtretung direkt klagen könnte. 10 Früher hat das B<strong>und</strong>esgericht<br />

angedeutet, dass «es <strong>der</strong> Rechtssicherheit bzw. <strong>der</strong> Koord<strong>in</strong>ation<br />

unter den klageberechtigten Gläubigern halber» unter Art. 757 Abs. 2 OR «e<strong>in</strong>er<br />

Ermächtigung o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>er förmlichen Mitteilung <strong>der</strong> Konkursverwaltung<br />

bedarf», da die nach Art. 757 Abs. 2 OR klageberechtigten Gläubiger<br />

– wie bei Art. 260 SchKG – e<strong>in</strong>e notwendige Streitgenossenschaft bilden. 11 Die<br />

Voraussetzungen <strong>der</strong> Klageerhebung im Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft bleiben folglich<br />

auch nach <strong>der</strong> beabsichtigten Streichung von Art. 757 Abs. 3 OR etwas<br />

unklar.<br />

III. Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule<br />

Die aus dem angelsächsischen Rechtsraum bekannte «Bus<strong>in</strong>ess Judgement<br />

Rule» wurde vom B<strong>und</strong>esgericht erstmals im Urteil vom 19. Juni 2002 im Kontext<br />

<strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit allgeme<strong>in</strong> erwähnt, 12 doch blieb<br />

diese «Rule» <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtsprechung bislang ohne Kontur. Der Schweizer Gesetzgeber<br />

schickt sich nicht an, e<strong>in</strong>e entsprechende Regelung zu schaffen, was für<br />

die geschäftsführenden Organpersonen allerd<strong>in</strong>gs kaum von Nachteil se<strong>in</strong> dürfte.<br />

Im Schrifttum wird geltend gemacht, dass sich die Beweislastverteilung ausserhalb<br />

des Anwendungsbereiches e<strong>in</strong>er «Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule» gr<strong>und</strong>legend<br />

än<strong>der</strong>n würde, da (wi<strong>der</strong>legbar) vermutet würde, dass die beklagte Organperson<br />

ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist. 13<br />

Im erwähnten B<strong>und</strong>esgerichtsentscheid g<strong>in</strong>g es um die Gewährung e<strong>in</strong>es Betriebskredites<br />

durch e<strong>in</strong>e Bank. Der Kredit war hypothekarisch gesichert, wobei<br />

das Gr<strong>und</strong>stück zu h<strong>und</strong>ert Prozent belehnt wurde. Nach Feststellung <strong>der</strong> Vor<strong>in</strong>stanz<br />

waren ke<strong>in</strong>e Angaben zur Kreditfähigkeit <strong>und</strong> Kreditwürdigkeit des<br />

Schuldners verfügbar. Allerd<strong>in</strong>gs wurde <strong>der</strong> Kredit seitens <strong>der</strong> Bank nicht gera-<br />

9 B<strong>und</strong>esgericht 4A_446/2009 vom 8. Dezember 2009, E. 2.4 (nicht publiziert <strong>in</strong> BGE<br />

136 III 107).<br />

10 B<strong>und</strong>esgericht, a.a.O.<br />

11 B<strong>und</strong>esgericht 4C.263/2004 vom 23. Mai 2005, E. 1.2 (nicht publiziert <strong>in</strong> BGE 132 III<br />

222); vgl. zum Ganzen auch Vogt/Schönbächler, S. 251 ff.<br />

12 B<strong>und</strong>esgericht 4C.201/2001 vom 19. Juni 2002, E. 2.1.2.<br />

13 bahar/trigo tr<strong>in</strong>dade, S. 158.<br />

7


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

dezu bl<strong>in</strong>dl<strong>in</strong>gs erteilt. Wenngleich Betriebskredite <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bankpraxis auch<br />

blanko gewährt werden, bestand im betreffenden Fall e<strong>in</strong>e, wenn auch letztlich<br />

ungenügende Deckung <strong>und</strong> dem <strong>in</strong>härenten Risiko wurde mit e<strong>in</strong>em Z<strong>in</strong>szuschlag<br />

Rechnung getragen. Das B<strong>und</strong>esgericht kritisierte, dass es an e<strong>in</strong>er unabhängigen<br />

Verkehrswertschätzung <strong>der</strong> Liegenschaft mangelte, <strong>und</strong> stellte fest,<br />

dass e<strong>in</strong>er Schätzung <strong>der</strong> Liegenschaft aus dem Jahre 1989 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Höhe von CHF<br />

7 Mio. e<strong>in</strong> Schätzungsgutachten von 1998 mit e<strong>in</strong>em Liegenschaftswert von<br />

bloss CHF 6,25 Mio. gegenübersteht. Ins Gewicht fiel dabei auch, dass die Verkehrswertschätzung<br />

im Rahmen <strong>der</strong> Krediterteilung durch den Hauptaktionär<br />

erfolgte, was das B<strong>und</strong>esgericht andeutungsweise unter dem Gesichtspunkt <strong>der</strong><br />

Unabhängigkeit <strong>der</strong> Verkehrswertschätzung als problematisch erachtete. In<br />

se<strong>in</strong>en Erwägungen hält das B<strong>und</strong>esgericht fest: 14 «E<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anziell ges<strong>und</strong>e Basis<br />

erlaubt allenfalls, dass e<strong>in</strong> Unternehmen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em klar beschränkten Rahmen eher Risiken<br />

e<strong>in</strong>gehen kann als e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Unternehmen. Voraussetzung bleibt aber auch dann,<br />

dass das Risiko bewusst e<strong>in</strong>geschätzt <strong>und</strong> klar e<strong>in</strong>gegrenzt wird.»<br />

Die Entscheidungsf<strong>in</strong>dung unter Unsicherheit ist im Verwaltungsrat <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

e<strong>in</strong> Dauerbrenner. Der Datensatz für unternehmerische Entscheide<br />

ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis stets unvollständig. Risikofreie Transaktionen gibt es<br />

kaum, jedenfalls schafft normalerweise das Risiko erst die Verdienstmöglichkeit.<br />

Es müssen deshalb auch unter Risiko Entscheide gefällt werden <strong>und</strong> zwar sowohl<br />

auf <strong>der</strong> Stufe des Verwaltungsrates als auch <strong>der</strong> Geschäftsleitung <strong>der</strong><br />

Gesellschaft. Von grosser Tragweite ist die Erkenntnis, dass <strong>der</strong> wirtschaftliche<br />

Misserfolg alle<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>en Haftungsgr<strong>und</strong> bilden kann. 15 Sobald es zu e<strong>in</strong>em Schaden<br />

kommt, rückt deshalb <strong>der</strong> Entscheidungsprozess <strong>in</strong> den Brennpunkt des<br />

Interesses. Im Rahmen <strong>der</strong> «Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule» schweizerischer Prägung geht<br />

es nach e<strong>in</strong>er Lehrme<strong>in</strong>ung darum, dass e<strong>in</strong> bewusster <strong>und</strong> formell korrekter<br />

Entscheid gefällt wird, sich das Handeln im Rahmen des Gesellschaftszweckes<br />

bewegt, die geschäftsführenden Organpersonen unabhängig <strong>und</strong> frei von Interessenkonflikten<br />

entscheiden können, <strong>der</strong> Entscheid aufgr<strong>und</strong> ausreichen<strong>der</strong><br />

Informationen <strong>und</strong> im Rahmen e<strong>in</strong>es angemessenen Verfahrens erfolgt, die<br />

zw<strong>in</strong>genden gesetzlichen Vorschriften e<strong>in</strong>gehalten werden <strong>und</strong> <strong>der</strong> Entscheid<br />

sich im weitesten Rahmen des Vernünftigen bewegt. 16 Unter diesen Vorausset-<br />

14 B<strong>und</strong>esgericht 4C.201/2001, E. 2.1.2.<br />

15 Vgl. dazu schon oben unter I.<br />

16 Vgl. zum Ganzen graSS, mit <strong>der</strong> schematischen Übersicht auf S. 147 zum «Bus<strong>in</strong>ess<br />

Judgement Rule-Test» unter schweizerischem Recht.<br />

8


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

zungen fällt e<strong>in</strong>e Haftung <strong>der</strong> Entscheidungsträger für e<strong>in</strong>en schadenstiftenden<br />

Geschäftsführungsentscheid ausser Betracht. 17<br />

Das Gesagte erhellt, dass <strong>der</strong> unternehmerische «Bauchentscheid» ex post mit<br />

rechtlichen Risiken verb<strong>und</strong>en se<strong>in</strong> kann. Es lässt sich kaum bezweifeln, dass<br />

gekonntes Unternehmertum viel mit Intuition zu tun hat. Unter rechtlichem<br />

Gesichtspunkt drängt sich allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e gewisse Formalisierung <strong>der</strong> Entscheidungsf<strong>in</strong>dung<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft auf, was zum Box Tick<strong>in</strong>g führt, etwa<br />

h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Frage, ob die wesentlichen Aspekte e<strong>in</strong>es Geschäftes tangiert<br />

<strong>und</strong> dokumentiert s<strong>in</strong>d. 18 Dabei spielt auch e<strong>in</strong>e Rolle, ob die Grenzen des eigenen<br />

Beurteilungsvermögens <strong>der</strong> Verwaltungsräte gesprengt werden <strong>und</strong> sich<br />

deshalb <strong>der</strong> Beizug e<strong>in</strong>es Beraters o<strong>der</strong> die Verstärkung des Verwaltungsrates<br />

mit e<strong>in</strong>er fehlenden Kompetenz aufdrängt.<br />

In <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> Gerichte zeigt sich e<strong>in</strong>e Zurückhaltung bei <strong>der</strong> richterlichen<br />

Überprüfung von Geschäftsführungsentscheiden, wobei e<strong>in</strong>e «ernsthafte Entscheidungsf<strong>in</strong>dung»<br />

vorausgesetzt wird. 19 Das B<strong>und</strong>esgericht br<strong>in</strong>gt zum Ausdruck,<br />

dass «dieser Gr<strong>und</strong>satz auch nur für Entscheide gelten mag, die frei von Interessenkonflikten<br />

getroffen wurden.» 20 Unter praktischem Gesichtspunkt ist bedeutsam,<br />

dass den beklagten Organpersonen die Verteidigung wegen mangelhafter<br />

Substanziierung des klägerischen Vorbr<strong>in</strong>gens offen steht. Die Gerichte neigen<br />

nicht dazu, im Bereich von Geschäftsführungsentscheiden die allgeme<strong>in</strong>e Lebenserfahrung<br />

extensiv zum Tragen zu br<strong>in</strong>gen. Entsprechend hat das B<strong>und</strong>esgericht<br />

e<strong>in</strong>em Kläger, <strong>der</strong> geltend machte, «dass e<strong>in</strong> Personalabbau bei massiven<br />

Liquiditätsschwierigkeiten zufolge auftragsrückgangsbed<strong>in</strong>gter Überkapazität<br />

e<strong>in</strong> probates Mittel sei, e<strong>in</strong>en Konkurs zu vermeiden», entgegengehalten, dass<br />

darzutun gewesen wäre, «welche konkreten Personen hätten entlassen werden<br />

müssen, damit dies S. (Tochtergesellschaft) genützt <strong>und</strong> nicht vielmehr geschadet<br />

hätte.» 21<br />

17 Kritisch böckli, Verwaltungsräte, S. 6 f., mit dem H<strong>in</strong>weis, dass das zentrale Haftungsrisiko<br />

für die Verwaltungsräte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Unterlassung liege. – Damit ist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die<br />

Überwachungspflicht angesprochen, bei <strong>der</strong>en Verletzung (als Ausfluss <strong>der</strong> Verschuldenshaftung)<br />

im Rahmen des Menschenmöglichen die Haftung e<strong>in</strong>tritt; vgl. dazu auch<br />

unter IV.<br />

18 Zur Dokumentation des Entscheidungsprozesses auch Von <strong>der</strong> crone, S. 8.<br />

19 B<strong>und</strong>esgericht 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010, E. 7.2.1.<br />

20 B<strong>und</strong>esgericht 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010, E. 7.2.4.<br />

21 B<strong>und</strong>esgericht 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010, E. 7.2.4.<br />

9


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

IV. Haftungsbeschränkende Delegation<br />

Mit den Entscheiden 4A_501/2007 <strong>und</strong> 4A_503/2007 vom 22. Februar 2008<br />

hat das B<strong>und</strong>esgericht die formellen Voraussetzungen <strong>der</strong> Delegation <strong>der</strong><br />

Geschäftsführung festgelegt, unter denen die Haftungserleichterung gemäss<br />

Art. 754 Abs. 2 OR greift. Nach dieser Vorschrift haftet <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> die Erfüllung<br />

e<strong>in</strong>er Aufgabe befugterweise e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Organ überträgt, für den<br />

von diesem verursachten Schaden, sofern er nicht nachweist, dass er bei <strong>der</strong><br />

Auswahl, Unterrichtung <strong>und</strong> Überwachung die nach den Umständen gebotene<br />

Sorgfalt angewendet hat. 22 Das B<strong>und</strong>esgericht stellt klar, dass mit <strong>der</strong> «befugterweise»<br />

erfolgten Delegation die Voraussetzungen von Art. 716b OR angesprochen<br />

s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e haftungsbeschränkende Delegation <strong>der</strong> Geschäftsführung<br />

verlangt folglich nach e<strong>in</strong>er statutarischen Gr<strong>und</strong>lage – was e<strong>in</strong>er Standardklausel<br />

<strong>in</strong> den Gesellschaftsstatuten entspricht – sowie e<strong>in</strong>em Organisationsreglement.<br />

Dabei setzt das B<strong>und</strong>esgericht zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>en protokollierten<br />

Mehrheitsbeschluss des Verwaltungsrates voraus, <strong>der</strong> die Ordnung <strong>der</strong> Geschäftsführung<br />

regelt, die hierfür erfor<strong>der</strong>lichen Stellen bestimmt, <strong>der</strong>en<br />

Aufgaben umschreibt sowie die Berichterstattung an den Verwaltungsrat regelt.<br />

Geschäftskorrespondenz o<strong>der</strong> bloss mündliche Aussagen s<strong>in</strong>d für e<strong>in</strong>e<br />

haftungsbeschränkende Delegation unzureichend. 23 E<strong>in</strong>e unbefugte Delegation,<br />

das heisst e<strong>in</strong>e Delegation, welche nicht die erwähnten formellen Voraussetzungen<br />

erfüllt, schliesst nach Auffassung des B<strong>und</strong>esgerichts auch das Ar-<br />

22 Kritisch zur Wirksamkeit von Art. 754 Abs. 2 OR böckli, Verwaltungsräte, S. 5 f., mit<br />

Verweis auf die Überwachungspflicht (Aufsichts- <strong>und</strong> E<strong>in</strong>griffspflicht); vgl. auch Bun-<br />

10<br />

desgericht 4C.358/2005 vom 12. Februar 2007, E. 5.2.1 (nicht publiziert <strong>in</strong> BGE 133 III<br />

116): «Es Es gehört zu den unübertragbaren <strong>und</strong> unentziehbaren Aufgaben des Verwal- Verwal-<br />

tungsrats, die Oberaufsicht über die mit <strong>der</strong> Geschäftsführung betrauten Personen<br />

wahrzunehmen, namentlich im H<strong>in</strong>blick auf die Befolgung <strong>der</strong> Gesetze, Statuten <strong>und</strong><br />

Weisungen (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 5 OR). Der nicht geschäftsführende Verwaltungsrat<br />

ist zwar nicht verpflichtet, jedes e<strong>in</strong>zelne Geschäft <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Geschäftsführung <strong>und</strong><br />

Vertretung Beauftragten zu überwachen, son<strong>der</strong>n darf sich auf die Überprüfung <strong>der</strong><br />

Tätigkeit <strong>der</strong> Geschäftsleitung <strong>und</strong> des Geschäftsganges beschränken. Dazu gehört,<br />

dass er sich laufend über den Geschäftsgang <strong>in</strong>formiert, Rapporte verlangt, sie sorgfältig<br />

studiert, nötigenfalls ergänzende Auskünfte e<strong>in</strong>zieht <strong>und</strong> Irrtümer abzuklären<br />

versucht. Ergibt sich aus diesen Informationen <strong>der</strong> Verdacht falscher o<strong>der</strong> unsorgfältiger<br />

Ausübung <strong>der</strong> delegierten Geschäftsführungs- <strong>und</strong> Vertretungsbefugnisse, ist <strong>der</strong><br />

Verwaltungsrat verpflichtet, sogleich die erfor<strong>der</strong>lichen Abklärungen zu treffen, nötigenfalls<br />

durch Beizug von Sachverständigen (…). Verdachtsmomente können Gr<strong>und</strong><br />

für erhöhte Aufmerksamkeit se<strong>in</strong>».<br />

23 A.M. noch bertSch<strong>in</strong>ger, Organisationsreglement, S. 190 f.


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

gument des rechtmässigen (aber nutzlosen) Alternativverhaltens aus. 24 Nach<br />

dieser allgeme<strong>in</strong>en Figur des Haftpflichtrechts haftet nicht, wer geltend machen<br />

kann, dass <strong>der</strong> Schaden selbst bei sorgfältiger Auswahl, Instruktion <strong>und</strong><br />

Überwachung nicht hätte verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t werden können bzw. gleichwohl e<strong>in</strong>getreten<br />

wäre. 25<br />

Nach dem Gesagten erweist sich die laufende Anpassung des Organisationsreglementes<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er lebendigen Organisation als e<strong>in</strong> Muss. Das Organisationsreglement<br />

sollte deshalb sowohl e<strong>in</strong> Standard- als auch e<strong>in</strong> Ad hoc-Traktandum des<br />

Verwaltungsrates darstellen, 26 damit die tatsächliche Organisation mit <strong>der</strong> formell<br />

dokumentierten Organisation übere<strong>in</strong>stimmt <strong>und</strong> sich die Delegation im<br />

Rahmen des Abweichungsgrades nach <strong>der</strong> Rechtsprechung nicht als unwirksam<br />

erweist. Die vom B<strong>und</strong>esgericht erkannte Beweismittelbeschränkung für die<br />

arbeitsteilige Organisation 27 setzt e<strong>in</strong>en weiteren Akzent im formellen Spiel <strong>der</strong><br />

Aktiengesellschaft.<br />

V. Haftung <strong>der</strong> Muttergesellschaft im Konzern –<br />

e<strong>in</strong>e Verteidigungsstrategie <strong>der</strong> Organpersonen?<br />

Die Haftung <strong>der</strong> Muttergesellschaft aus faktischer Organschaft für fehlbares<br />

Verhalten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tochtergesellschaft stellt e<strong>in</strong> heikles Thema <strong>der</strong> Haftung im<br />

Konzern dar. Auf <strong>der</strong> Suche nach Haftungssubstrat tendieren Kläger dazu, Argumente<br />

e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen, welche nicht bloss auf die Haftung natürlicher Personen<br />

aus Art. 754 OR zielen, son<strong>der</strong>n die Muttergesellschaft aus faktischer Organschaft<br />

<strong>in</strong>s Recht fassen wollen. Im Urteil 4A_306/2009 vom 8. Februar 2010 hat<br />

das B<strong>und</strong>esgericht die bisherige Rechtsprechung zusammengefasst. Juristische<br />

Personen fallen als faktische Organe <strong>in</strong> Betracht, wobei e<strong>in</strong>e dauernde Zuständigkeit<br />

erfor<strong>der</strong>lich ist <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Handeln im E<strong>in</strong>zelfall nicht genügt. 28 In Anlehnung<br />

an BGE 128 III 92 bestätigt das B<strong>und</strong>esgericht, dass e<strong>in</strong>e blosse E<strong>in</strong>flussnahme<br />

bzw. E<strong>in</strong>mischung die Organstellung nicht zu begründen vermag, son<strong>der</strong>n<br />

die Bildung übertragener o<strong>der</strong> usurpierter Zuständigkeiten erfor<strong>der</strong>lich<br />

24 B<strong>und</strong>esgericht 4A_501/2007 <strong>und</strong> 4A_503/2007, E. 3.3.<br />

25 Vgl. allgeme<strong>in</strong> roberto, S. 49 f., sowie B<strong>und</strong>esgericht 9C_330/2010 vom 18. Januar<br />

2011, E. 3.2.<br />

26 Vgl. Art. 716a Abs. 1 Ziff. 2 OR.<br />

27 Vgl. bei Fn. 23.<br />

28 Urteil 4A_306/2009, E. 7.1.1.<br />

11


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

ist. Nach den Erwägungen des B<strong>und</strong>esgerichts fällt die faktische Organschaft<br />

e<strong>in</strong>er Muttergesellschaft bei Doppelorganschaft von Personen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mutter<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Tochter <strong>in</strong> Betracht. Dabei müssen sich diese Personen «<strong>in</strong> <strong>der</strong> Eigenschaft<br />

als Organ <strong>der</strong> Muttergesellschaft <strong>in</strong> die Verwaltung <strong>und</strong> Geschäftsführung <strong>der</strong><br />

Tochtergesellschaft e<strong>in</strong>mischen <strong>und</strong> dieser dabei e<strong>in</strong>en Schaden verursachen.» Das B<strong>und</strong>esgericht<br />

hält allgeme<strong>in</strong> fest: «Nimmt die Muttergesellschaft direkt durch Weisungen<br />

auf das Verhalten des Doppelorgans E<strong>in</strong>fluss, kann sie selber zum faktischen Organ<br />

<strong>der</strong> Tochtergesellschaft <strong>und</strong> somit nach Art. 754 OR für Pflichtverletzungen haftbar<br />

werden.» 29 Allerd<strong>in</strong>gs lässt sich e<strong>in</strong>e Pflichtverletzung <strong>der</strong> Muttergesellschaft<br />

nicht schon dadurch dartun, dass e<strong>in</strong> Doppelorgan e<strong>in</strong>en Entscheid <strong>der</strong> Obergesellschaft<br />

mitträgt, beispielsweise den Beschluss, <strong>der</strong> Untergesellschaft weniger<br />

Aufträge zu erteilen. In diesem Fall handelt es sich nicht um e<strong>in</strong>en Entscheid<br />

im Rahmen <strong>der</strong> Geschäftsleitung <strong>der</strong> Untergesellschaft <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Haftung liefe<br />

nach Auffassung des B<strong>und</strong>esgerichts darauf h<strong>in</strong>aus, «die Muttergesellschaft für<br />

jeden <strong>in</strong> ihrem Interesse gefällten Entscheid, <strong>der</strong> sich zulasten <strong>der</strong> Tochtergesellschaft<br />

auswirkt, wegen des blossen Umstands, dass daran Doppelorgane mitwirken, haftbar<br />

zu machen, ohne dass e<strong>in</strong>e haftungsbegründende Verletzung von organschaftlichen<br />

Pflichten <strong>der</strong> Obergesellschaft als faktisches Organ <strong>der</strong> Untergesellschaft darzutun<br />

wäre.» 30 Illustrativ ist die Erwägung des B<strong>und</strong>esgerichts, wonach die Haftung <strong>der</strong><br />

Muttergesellschaft aus faktischer Organschaft denkbar wäre, «wenn die Muttergesellschaft<br />

gegenüber <strong>der</strong> Tochtergesellschaft e<strong>in</strong>e Bezugsverpflichtung für IT-Dienstleistungen<br />

e<strong>in</strong>gegangen wäre <strong>und</strong> das Doppelorgan es auf Weisung <strong>der</strong> Muttergesellschaft<br />

h<strong>in</strong> unterlassen hätte, diese Verpflichtung bzw. diesen Anspruch als Organ <strong>der</strong><br />

Tochtergesellschaft durchzusetzen.» 31<br />

Die Entwicklung, welche die Muttergesellschaft stärker <strong>in</strong> den Fokus <strong>der</strong> faktischen<br />

Organschaft rückt, ist – bei vertiefter Reflexion – bedauerlich. Schadenstiftendes<br />

Fehlverhalten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft entspr<strong>in</strong>gt stets e<strong>in</strong>em Willensentschluss<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Willensbetätigung durch natürliche Personen, wofür<br />

diese Personen nach <strong>der</strong> Ordnung des Gesetzes persönlich haften sollen. Die<br />

Geschäftsführungshaftung des Art. 754 OR sollte deshalb auch weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

erster L<strong>in</strong>ie auf den fehlbaren E<strong>in</strong>zelnen zielen, ansonsten das Fehlverhalten<br />

e<strong>in</strong>er natürlichen Person unter Umständen e<strong>in</strong>e grosse Gesellschaft <strong>in</strong>s Ver<strong>der</strong>ben<br />

stürzen kann. 32 Damit würde das Fehlverhalten e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>zelnen quasi kol-<br />

29 Urteil 4A_306/2009, E. 7.1.2.<br />

30 Urteil 4A_306/2009, E. 7.2.2.<br />

31 Urteil 4A_306/2009, E. 7.2.2.<br />

32 Vgl. auch bertSch<strong>in</strong>ger, Verantwortlichkeit, N 315.<br />

12


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

lektiviert, was den Organpersonen ermöglichen könnte, die Verantwortlichkeit<br />

auf die juristische Person «abzuschieben», sofern die natürliche Person aufgr<strong>und</strong><br />

ihres vergleichsweise ger<strong>in</strong>gen Haftungssubstrates gar nicht <strong>in</strong> den Verantwortlichkeitsprozess<br />

e<strong>in</strong>bezogen wird. 33 Im Ergebnis kann sich <strong>in</strong>folge <strong>der</strong><br />

Haftung <strong>der</strong> Muttergesellschaft aus faktischer Organschaft für den Verantwortlichkeitskläger<br />

nach <strong>der</strong> hier vertretenen Auffassung e<strong>in</strong> tendenziell überschiessen<strong>der</strong><br />

Schutz zu Lasten e<strong>in</strong>er Vielzahl von Stakehol<strong>der</strong>s ergeben.<br />

VI. Gr<strong>und</strong>strukturen <strong>der</strong> Aktiengesellschaft <strong>und</strong><br />

aktienrechtliche Verantwortlichkeit<br />

Der B<strong>und</strong>esrat hat im Gesetzesentwurf zur Revision des Aktienrechts vom<br />

Dezember 2007 e<strong>in</strong> neues Element für die Kompetenzordnung <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

vorgeschlagen, <strong>in</strong>dem aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es bed<strong>in</strong>gt notwendigen Statuten<strong>in</strong>haltes<br />

Entscheide des Verwaltungsrates <strong>der</strong> Genehmigung durch die Generalversammlung<br />

unterworfen werden könnten. 34 Konkret hätten sich Entscheide,<br />

welche die Oberleitung <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>und</strong> die Erteilung <strong>der</strong> nötigen Weisungen<br />

sowie die Festlegung <strong>der</strong> Organisation betreffen, 35 <strong>der</strong> Genehmigung durch<br />

die Generalversammlung unterwerfen lassen. 36 Die Entscheide des Verwaltungsrates<br />

nach Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3-7 OR sollten gemäss Art. 716b Abs. 1<br />

E-OR von dieser Ordnung ausgenommen se<strong>in</strong>. Als praktische Anwendungsfälle<br />

für die Genehmigung durch die Generalversammlung konnte man sich den<br />

Beschluss über das Organisationsreglement, Investitionsentscheide, die <strong>der</strong><br />

Genehmigung des Verwaltungsrates unterliegen, den Erwerb o<strong>der</strong> die Veräusserung<br />

e<strong>in</strong>er sachlich festgelegten Beteiligung sowie die Geschäftsausweitung<br />

33 Vgl. Art. 759 Abs. 2 OR.<br />

34 Art. 627 Ziff. 14 E-OR.<br />

35 Vgl. Art 716a Abs. 1 Ziff. 1 <strong>und</strong> 2 OR.<br />

36 Mit <strong>der</strong> Botschaft Abzockerei (vom 5. Dezember 2008) wurde <strong>der</strong> Bereich <strong>der</strong> zulässigen<br />

Genehmigungsvorbehalte seitens <strong>der</strong> Generalversammlung auf die Ziffern 3 <strong>und</strong><br />

5 bis 7 von Art. 716a Abs. 1 OR e<strong>in</strong>geschränkt. Damit sollte im Rahmen von Art. 716a<br />

Abs. 1 Ziff. 4 OR <strong>der</strong> statutarische Genehmigungsvorbehalt für die Vergütungen von<br />

mit <strong>der</strong> Geschäftsführung betrauten Personen ausgeklammert werden (Art. 627<br />

Ziff. 4 E-OR; Botschaft Abzockerei, S. 320 f.). Im Vergleich dazu hätte <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>e<br />

Genehmigungsvorbehalt zu Gunsten <strong>der</strong> Generalversammlung betreffend Art. 716a<br />

Abs. 1 Ziff. 4 OR auch die Genehmigung von Personalentscheiden für das oberste<br />

Mana gement ermöglicht. Die Botschaft zur Abzockerei hat <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung<br />

gebracht.<br />

13


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

<strong>in</strong>nerhalb des statutarischen Zweckes auf e<strong>in</strong>en sachlich bestimmten Geschäftsbereich<br />

vorstellen. Bemerkenswert ist, dass gemäss Art. 716b Abs. 3 E-OR die<br />

Genehmigung durch die Generalversammlung die Haftung des Verwaltungsrates<br />

nicht e<strong>in</strong>schränken sollte. Der B<strong>und</strong>esrat hatte also quasi e<strong>in</strong>en «free lunch»<br />

für die Aktionäre im Auge.<br />

Der Stän<strong>der</strong>at hat am 9. Juni 2009 die Streichung dieser Bestimmungen beschlossen,<br />

weil sie das aktienrechtliche Paritätspr<strong>in</strong>zip durchbrechen würden<br />

<strong>und</strong> die erfor<strong>der</strong>lichen Informationen für die Generalversammlung im H<strong>in</strong>blick<br />

auf den Genehmigungsbeschluss auch Geschäftsgeheimnisse betreffen könnten.<br />

B<strong>und</strong>esrät<strong>in</strong> Widmer-Schlumpf hat damals für den Vorschlag des B<strong>und</strong>esrates<br />

gekämpft <strong>und</strong> geltend gemacht, dass es sich um e<strong>in</strong>en liberalen Ansatz<br />

handle, welcher für Familienunternehmen e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Gestaltungsmöglichkeit<br />

darstelle. Zudem hat sie e<strong>in</strong>gebracht, dass die Bestimmung ke<strong>in</strong>en<br />

zw<strong>in</strong>genden Charakter habe <strong>und</strong> die Haftung des Verwaltungsrates im Falle <strong>der</strong><br />

Genehmigung durch die Generalversammlung, wie erwähnt, nicht ausgeschlossen<br />

werde. 37 Dar<strong>in</strong> liegt nach Auffassung des Schreibenden denn auch e<strong>in</strong>er <strong>der</strong><br />

w<strong>und</strong>en Punkte. 38 Dass die Botschaft des B<strong>und</strong>esrates festhält, dass «<strong>in</strong> Ausnahmefällen<br />

die an <strong>der</strong> GV teilnehmenden Aktionär<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Aktionäre zu faktischen<br />

Organen im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit werden können, wenn sie<br />

Aufgaben des VR übernehmen <strong>und</strong> funktional an dessen Stelle treten», 39 macht die<br />

Sache ke<strong>in</strong>eswegs besser, son<strong>der</strong>n setzt vielmehr den Stachel für leidvolle Diskussionen<br />

um die aktienrechtliche Verantwortlichkeit <strong>der</strong> Aktionäre im Grenzbereich<br />

zur faktischen Organschaft.<br />

Die Aktiengesellschaft besticht mit dem Paritätspr<strong>in</strong>zip durch e<strong>in</strong> im Wesentlichen<br />

klares <strong>und</strong> damit marktfähiges Konzept. Bewegungen <strong>in</strong> den Gr<strong>und</strong>strukturen<br />

<strong>der</strong> Aktiengesellschaft, welche <strong>in</strong> die bislang als unübertragbar <strong>und</strong> unentziehbar<br />

bezeichneten Organkompetenzen 40 e<strong>in</strong>greifen, stellen deshalb e<strong>in</strong>en<br />

Malus dieses Institutes dar, was auch im <strong>in</strong>ternationalen Standort-Wettbewerb<br />

für die Schweiz negativ <strong>in</strong>s Gewicht fallen kann. Es ist deshalb zu hoffen, dass<br />

<strong>der</strong> Vorschlag des B<strong>und</strong>esrates, den Aktionären gestützt auf e<strong>in</strong>e statutarische<br />

Gr<strong>und</strong>lage die Genehmigung von Entscheiden des Verwaltungsrates aus dem<br />

Kompetenzbereich des Art. 716a Abs. 1 OR zu ermöglichen, im Zuge <strong>der</strong> wei-<br />

37 Stenographisches Bullet<strong>in</strong> StR vom 9. Juni 2009, S. 620.<br />

38 Vgl. dazu schon bertSch<strong>in</strong>ger, Generalversammlung, S. 314 f.<br />

39 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1687.<br />

40 Art. 716a Abs. 1 OR.<br />

14


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

teren Diskussionen um die Revision des Aktienrechts ke<strong>in</strong>e Wie<strong>der</strong>belebung<br />

erfährt.<br />

VII. Vergütung<br />

A. Kompetenzfragen<br />

Nach heute wohl herrschen<strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung kann die Generalversammlung über<br />

die Vergütung von Organpersonen nicht b<strong>in</strong>dend, son<strong>der</strong>n lediglich konsultativ<br />

entscheiden. Der Entscheid des Verwaltungsrates über se<strong>in</strong>e eigene Entschädigung<br />

entspricht e<strong>in</strong>em Insichgeschäft, sodass die Entscheidungsträger e<strong>in</strong>em<br />

potentiellen Interessenkonflikt unterliegen. Der B<strong>und</strong>esrat hat deshalb im Gesetzesentwurf<br />

vom Dezember 2007 den Entscheid <strong>der</strong> Generalversammlung<br />

über die Entschädigung des Verwaltungsrates als bed<strong>in</strong>gt notwendigen Statuten<strong>in</strong>halt<br />

etabliert (Art. 627 Ziff. 4 E-OR). In Analogie zu Art. 716a Abs. 1 Ziff.<br />

4 OR, welcher die Ernennung <strong>und</strong> Abberufung <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Geschäftsführung<br />

<strong>und</strong> Vertretung betrauten Personen durch den Verwaltungsrat betrifft <strong>und</strong> die<br />

Entschädigung dieser Organpersonen e<strong>in</strong>schliesst, lässt sich allerd<strong>in</strong>gs die Zuständigkeit<br />

<strong>der</strong> Generalversammlung für die Entschädigung des Verwaltungsrates<br />

schon unter dem geltenden Recht mit <strong>der</strong> Wahlkompetenz <strong>der</strong> Generalversammlung<br />

gemäss Art. 698 Abs. 2 Ziff. 2 OR verb<strong>in</strong>den. 41<br />

Nach <strong>der</strong> Volks<strong>in</strong>itiative m<strong>in</strong><strong>der</strong> (gegen die Abzockerei) soll die Generalversammlung<br />

jährlich über die Gesamtsumme aller Vergütungen <strong>der</strong> Geschäftsleitung<br />

abstimmen. Diese Kompetenz <strong>der</strong> Aktionäre kann sich im H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>e<br />

angemessene Flexibilität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Anstellung von Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> obersten operativen<br />

<strong>Führung</strong>sebene als problematisch erweisen. Es unterliegt nun <strong>der</strong> sich<br />

h<strong>in</strong>ziehenden politischen Ausmarchung, ob die Kontrolle seitens <strong>der</strong> Aktionäre<br />

41 So schon forStmoSer, Entschädigung, S. 147, Fn. 12; böckli, § 13, N 239b mit Verweis<br />

auf Art. 677 OR zur Tantieme; leu, S. 113; iSler, S. 278; a.M. Watter/roth pellanda,<br />

Art. 716a OR, N 47, wonach Entschädigungssysteme für den Verwaltungsrat <strong>und</strong> die<br />

Geschäftsleitung als wichtiger Teil des Anreizsystems von strategischer Bedeutung<br />

seien <strong>und</strong> deshalb unter die Oberleitungspflicht des Verwaltungsrates fallen. H<strong>in</strong>sichtlich<br />

<strong>der</strong> Entschädigung des Verwaltungsrates fällt <strong>in</strong> Betracht, dass gr<strong>und</strong>sätzlich nicht<br />

davon auszugehen ist, dass <strong>der</strong> Gesetzgeber e<strong>in</strong>e zw<strong>in</strong>gende Kompetenzordnung schaffen<br />

wollte, die im Kern auf e<strong>in</strong>em Interessenkonflikt basiert, sodass <strong>der</strong> b<strong>in</strong>dende Entscheid<br />

<strong>der</strong> Generalversammlung schon unter dem geltenden Recht möglich se<strong>in</strong> muss.<br />

15


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Entschädigung von Organpersonen im aktienrechtlichen Organisationsrecht<br />

verankert werden soll o<strong>der</strong> es bei <strong>der</strong> Ex post-Kontrolle durch das Verantwortlichkeitsrecht<br />

bleibt.<br />

B. «Golden Hellos», «marktübliche» Entschädigung <strong>und</strong><br />

Sorgfaltspflicht <strong>der</strong> Entscheidungsträger<br />

Mittlerweile ist aufgr<strong>und</strong> gewisser Vergütungs-Übertreibungen <strong>und</strong> im Fahrwasser<br />

<strong>der</strong> Volks<strong>in</strong>itiative m<strong>in</strong><strong>der</strong> (gegen die Abzockerei) e<strong>in</strong> nicht leicht überblickbares<br />

Gezänk um verschiedene Fragen <strong>der</strong> Entschädigung von Organpersonen<br />

– Zuständigkeit, 42 Höhe von Entschädigungen, Sanktionen bei Fehlverhalten<br />

– entstanden, wobei die direkten <strong>und</strong> <strong>in</strong>direkten Gegenvorschläge zur<br />

Volks<strong>in</strong>itiative m<strong>in</strong><strong>der</strong> mit etwelcher Hektik aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> folgten. 43 Unbestreitbar<br />

sche<strong>in</strong>t dem Schreibenden, dass im H<strong>in</strong>blick auf den Stellenantritt e<strong>in</strong>er<br />

Organperson bei <strong>der</strong> Entschädigung e<strong>in</strong> breites Ermessen <strong>der</strong> Entscheidungsträger<br />

bestehen muss. Der Anstellungsvertrag entspricht – wirtschaftlich betrachtet<br />

– e<strong>in</strong>er Option zu Gunsten <strong>der</strong> Gesellschaft, von <strong>der</strong> <strong>in</strong> diesem Zeitpunkt<br />

niemand weiss, ob <strong>und</strong> <strong>in</strong> welchem Mass sie e<strong>in</strong>mal «<strong>in</strong> the money» se<strong>in</strong><br />

wird <strong>und</strong> sich als Triebfe<strong>der</strong> für Erträge <strong>der</strong> Gesellschaft erweist. Das verbreitete<br />

Misstrauen gegen «Golden Hellos», die bei richtiger Handhabung als Investitionen<br />

<strong>in</strong> fähige <strong>Führung</strong>skräfte zu verstehen s<strong>in</strong>d, ersche<strong>in</strong>t deshalb nicht als<br />

gerechtfertigt. 44<br />

Auch die For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong> «marktüblichen» Entschädigung vermag als Leitl<strong>in</strong>ie<br />

nicht ohne Weiteres zu überzeugen, 45 da sie e<strong>in</strong>er Nivellierung Vorschub leistet.<br />

Selbst e<strong>in</strong>e im Branchenvergleich «unüblich» hohe Entschädigung zu Gunsten<br />

e<strong>in</strong>er Organperson sollte für die Entscheidungsträger im Falle e<strong>in</strong>es wirtschaftlichen<br />

Misserfolges nicht per se zu e<strong>in</strong>em Haftungsrisiko werden. Wichtiger als<br />

die Höhe e<strong>in</strong>er Entschädigung ist <strong>der</strong>en Ausgestaltung mit Blick auf die (risiko-<br />

42 Vgl. dazu schon unter VII.A.<br />

43 Vgl. dazu die jeweilige Übersicht <strong>in</strong> GesKR zum Verlauf <strong>der</strong> Revision des Aktien- <strong>und</strong><br />

Rechnungslegungsrechts.<br />

44 Die Richtl<strong>in</strong>ien zur Ausübung <strong>der</strong> Stimmrechte 2011 von ethos (www.ethosf<strong>und</strong>.ch)<br />

sehen <strong>in</strong> Anhang 2 zur Struktur von Vergütungssystemen vor, dass die Arbeitsverträge<br />

<strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> von <strong>Führung</strong>s<strong>in</strong>stanzen ke<strong>in</strong>e Anstellungsprämien (Golden Hellos)<br />

ohne Leistungskriterien vorsehen sollen, stehen <strong>der</strong>artigen Prämien also nicht generell<br />

entgegen.<br />

45 Vgl. dazu auch unter VII.C.<br />

16


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

gewichtete) Anreizwirkung. 46 In diesem Rahmen unterliegt die Festlegung von<br />

Vergütungen den allgeme<strong>in</strong>en Kautelen <strong>der</strong> «Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule» schweizerischer<br />

Prägung. 47<br />

Die Diskussion um die Vergütung hat sich <strong>in</strong> den eidgenössischen Räten weiter<br />

entwickelt. Gestützt auf e<strong>in</strong>en Vorschlag des B<strong>und</strong>esrates als Reaktion auf die<br />

«Abzocker»-Initiative 48 wurde schliesslich e<strong>in</strong> neuer Art. 717 Abs. 1 bis E-OR <strong>in</strong>s<br />

Spiel gebracht. Danach müssen die Art. 717 Abs. 1 OR unterliegenden Personen<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e bei <strong>der</strong> Festlegung <strong>der</strong> Vergütungen dafür sorgen, dass diese sowohl<br />

mit <strong>der</strong> wirtschaftlichen Lage als auch mit dem dauernden Gedeihen des<br />

Unternehmens im E<strong>in</strong>klang stehen <strong>und</strong> sich e<strong>in</strong> angemessenes Verhältnis zu den<br />

Aufgaben, Leistungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>der</strong> Empfänger ergibt.<br />

Zu Recht wurde bereits vor den Gefahren e<strong>in</strong>er erhöhten Sorgfaltspflicht <strong>der</strong> Verwaltungsräte<br />

für die Festlegung von Vergütungen gewarnt. 49 Wie bei jedem an<strong>der</strong>en<br />

Geschäftsführungsentscheid muss auch bei <strong>der</strong> Festlegung e<strong>in</strong>er Vergütung<br />

e<strong>in</strong>e konsequente Ex ante-Betrachtung greifen, welche durch das urteilende<br />

Gericht im Rahmen <strong>der</strong> objektiv nachträglichen Prognose zu beachten ist. 50 Die <strong>in</strong><br />

Art. 717 Abs. 1 bis E-OR aufgeführten Kriterien – wirtschaftliche Lage, dauerndes<br />

Gedeihen des Unternehmens, Aufgaben, Leistungen <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> – entsprechen<br />

den Leitl<strong>in</strong>ien, denen sich verantwortungsbewusste Entscheidungsträger<br />

<strong>in</strong> Unternehmen ohneh<strong>in</strong> verpflichtet fühlen. Sie dürften bei richtiger Lesart<br />

das gr<strong>und</strong>sätzlich breite Ermessen <strong>der</strong> Entscheidungsträger bei <strong>der</strong> Festsetzung<br />

<strong>der</strong> Vergütung also kaum beschränken. Da stets das «Humankapital» das Geschäft<br />

treibt, macht es volkswirtschaftlich ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, für die Investitionen <strong>in</strong><br />

die personellen Ressourcen des Unternehmens Kautelen aufzustellen, welche<br />

das unternehmerische Verhalten im Kampf um die besten Talente e<strong>in</strong>schränkt. 51<br />

Selbstverständlich fällt – als Ausfluss <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verant-<br />

46 forStmoSer, Entschädigung, S. 157.<br />

47 Vgl. dazu schon oben III.<br />

48 Vgl. Botschaft Abzockerei, S. 344, betr. Art. 717 Abs. 1a E-OR.<br />

49 böckli, Gesetzgeber, S. 36 f., zum Vorschlag des B<strong>und</strong>esrates, dass <strong>der</strong> Verwaltungsrat<br />

bei <strong>der</strong> Festlegung <strong>der</strong> Vergütungen dafür sorgen muss, dass diese sowohl mit <strong>der</strong><br />

wirtschaftlichen Lage als auch mit dem dauernden Gedeihen des Unternehmens im<br />

E<strong>in</strong>klang stehen.<br />

50 Dazu allgeme<strong>in</strong> bertSch<strong>in</strong>ger, Verantwortlichkeit, N 29.<br />

51 Zu Recht hält die Botschaft Abzockerei, S. 319, die Selbstverständlichkeit fest, dass<br />

«auch Situationen denkbar (s<strong>in</strong>d), <strong>in</strong> denen es trotz schlechter wirtschaftlicher Lage<br />

angezeigt se<strong>in</strong> kann, attraktive Löhne zu gewähren, um hoch qualifizierte <strong>Führung</strong>s-<br />

<strong>und</strong> Fachkräfte halten o<strong>der</strong> rekrutieren zu können.»<br />

17


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

wortlichkeit als Verschuldenshaftung – e<strong>in</strong>e Erfolgshaftung <strong>der</strong> Entscheidungsträger,<br />

welche e<strong>in</strong>e Vergütung gesprochen haben, bei wirtschaftlichem Misserfolg<br />

ausser Betracht. Zudem limitiert <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>satz, dass (Arbeits-)Verträge<br />

e<strong>in</strong>zuhalten s<strong>in</strong>d, die Verantwortlichkeit von Organpersonen, die <strong>in</strong> guten Treuen<br />

über e<strong>in</strong>e Vergütung für e<strong>in</strong>e angemessene Dauer entschieden haben. Es<br />

gehört allerd<strong>in</strong>gs zu den Sorgfaltspflichten von Organpersonen, e<strong>in</strong> Vergütungspaket<br />

möglichst flexibel auszugestalten, um unter geän<strong>der</strong>ten Verhältnissen<br />

bei <strong>der</strong> Vergütung Anpassungen vornehmen zu können. In diesem S<strong>in</strong>ne ist<br />

die Äusserung <strong>in</strong> den Materialien zu verstehen, dass es unsorgfältig wäre, wenn<br />

<strong>der</strong> Verwaltungsrat o<strong>der</strong> die mit <strong>der</strong> Geschäftsführung befassten Personen<br />

Vergütungssysteme e<strong>in</strong>führen würden, die selbst <strong>in</strong> Verlustsituationen den dafür<br />

verantwortlichen Personen noch e<strong>in</strong>e «leistungsabhängige» zusätzliche<br />

Vergütung gewähren. 52<br />

Der Verwaltungsrat muss die erfor<strong>der</strong>lichen Massnahmen ergreifen, um Interessenkonflikte<br />

bei <strong>der</strong> Entschädigung von Organpersonen angemessen zu<br />

handhaben. 53 Zu diesem Zweck hat sich bei den börsenkotierten Gesellschaften<br />

die Bildung von Compensation Committees etabliert, die im Wesentlichen durch<br />

nicht-exekutive <strong>und</strong> unabhängige Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates besetzt se<strong>in</strong><br />

sollten. 54 Der Verwaltungsrat kommt damit se<strong>in</strong>er Organisationspflicht nach.<br />

Gemäss Lehre <strong>und</strong> Rechtsprechung muss e<strong>in</strong> Verwaltungsratsmitglied <strong>in</strong> den<br />

Ausstand treten, wenn über Verträge zwischen ihm o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er ihm nahe stehenden<br />

Person <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft entschieden wird. 55 Freilich schützt im Falle<br />

e<strong>in</strong>er pflichtwidrigen Handlung <strong>der</strong> Ausstand e<strong>in</strong> Mitglied nicht vor Verantwortlichkeit,<br />

etwa bei e<strong>in</strong>er geldwerten Leistung <strong>der</strong> Aktiengesellschaft ohne<br />

Gegenleistung des Empfängers, <strong>der</strong> sich im Ausstand bef<strong>in</strong>det. 56<br />

52 Botschaft Abzockerei, S. 318.<br />

53 Vgl. BGE 130 III 219; siehe auch Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance,<br />

N 16.<br />

54 Vgl. Swiss Code of Best Practice, N 25/26 sowie Anhang 1: Empfehlungen zu den Entschädigungen<br />

für Verwaltungsrat <strong>und</strong> Geschäftsleitung vom September 2007.<br />

55 B<strong>und</strong>esgericht 4A_462/2009 vom 16. März 2010, E. 6.3 (<strong>in</strong> BGE 136 III 322 nicht ver-<br />

öffentlicht).<br />

56 B<strong>und</strong>esgericht 4A_462/2009 vom 16. März 2010, E. 6 (<strong>in</strong> BGE 136 III 322 nicht veröf-<br />

18<br />

fentlicht).


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

C. Konkretes zur Höhe <strong>der</strong> Vergütung an Organpersonen<br />

Die Höhe von Entschädigungen e<strong>in</strong>zelner Organpersonen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong><br />

börsenkotierten Gesellschaften, ist <strong>in</strong> breiten Bevölkerungskreisen auf Interesse<br />

gestossen. Illustrativ ist das Urteil des Kantonsgerichts Graubünden vom<br />

10. Juni 2008, wenngleich es lediglich kle<strong>in</strong>e Verhältnisse betrifft. 57 Das Gericht<br />

führt aus, dass bei <strong>der</strong> Festlegung des Honorars von Verwaltungsräten e<strong>in</strong> «relativ<br />

weiter Ermessungsspielraum» besteht. Die Grenze liegt im offensichtlichen<br />

Missverhältnis zur Gesamtleistung des Verwaltungsrates gemäss Art. 678 Abs. 2<br />

OR. Nach Auffassung des Gerichts darf «das Mass <strong>der</strong> Marktüblichkeit nicht überschritten<br />

werden». Im E<strong>in</strong>zelnen hält das Gericht zur Höhe <strong>der</strong> Entschädigung des<br />

Verwaltungsrates folgendes fest: «Die Festsetzung des Honorars erfolgt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

nach den Kriterien <strong>der</strong> Beanspruchung bzw. des Umfangs <strong>der</strong> geleisteten Arbeit, des<br />

Erfolgs <strong>der</strong> Geschäftsführung, <strong>der</strong> Bedeutung <strong>und</strong> <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Situation <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

sowie <strong>der</strong> <strong>Verantwortung</strong>. Das Verwaltungsratshonorar muss angemessen se<strong>in</strong>,<br />

wobei die Angemessenheit im E<strong>in</strong>zelfall unter Berücksichtigung <strong>der</strong> konkreten Umstände<br />

zu beurteilen ist. Die wirtschaftliche Entwicklung <strong>der</strong> Gesellschaft spielt dabei e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Rolle.»<br />

Im erwähnten Fall geht es um e<strong>in</strong>e Confiserie mit Mietwohnungen, also den<br />

Alltag e<strong>in</strong>es KMU. Der Verwaltungsratspräsident bezog CHF 2000 pro Monat<br />

<strong>und</strong> zwar CHF 1500 als Honorar sowie CHF 500 für Spesen. Die beiden weiteren<br />

Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates erhielten je CHF 600 pro Monat bzw. CHF 400<br />

als Honorar <strong>und</strong> CHF 200 für Spesen. Sowohl das erst- als auch das zweit<strong>in</strong>stanzliche<br />

Gericht hielten die Vergütung für den Verwaltungsratspräsidenten für<br />

überhöht. Zwar wurden die Zusatzaufgaben des Verwaltungsratspräsidenten<br />

h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>berufung <strong>und</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Sitzungen des Gremiums<br />

sowie <strong>der</strong> Vertretung <strong>der</strong> Gesellschaft nach aussen anerkannt. Allerd<strong>in</strong>gs wurde<br />

auch dafür gehalten, dass die <strong>Verantwortung</strong> von allen drei Verwaltungsräten<br />

geme<strong>in</strong>sam zu tragen war, was als H<strong>in</strong>weis aufzufassen ist, dass die Spannweite<br />

<strong>der</strong> Entschädigungen <strong>der</strong> verschiedenen Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates e<strong>in</strong><br />

nach den konkreten Umständen angemessenes Verhältnis nicht überschreiten<br />

sollte. Und schliesslich wurde auch angemerkt, dass sich die f<strong>in</strong>anzielle Situation<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft <strong>in</strong> den vergangenen Jahren stetig verschlechtert hatte, sodass<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft sogar Hypothekarkredite gekündigt wurden.<br />

57 Urteil ZF 08 19/20, verfügbar auf www.gr.ch/Entscheidungen ab 2003.<br />

19


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

Das Kantonsgericht reduzierte die monatlichen Bezüge des Verwaltungsratspräsidenten<br />

auf CHF 600 <strong>und</strong> zusätzlich CHF 250 für Spesen. Daraus resultierte<br />

für den Verwaltungsratspräsidenten e<strong>in</strong>e Vergütung von gesamthaft CHF 850,<br />

statt <strong>der</strong> ursprünglichen CHF 2000 pro Monat. Die Haftung <strong>der</strong> Verwaltungsräte<br />

aus Art. 754 OR im Umfang <strong>der</strong> überhöhten Bezüge wurde bejaht, nachdem<br />

Aktionäre <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em seltenen Fall auf Leistung an die Gesellschaft geklagt<br />

hatten (Art. 756 OR).<br />

Das Urteil lässt erahnen, womit als Verwaltungsrat e<strong>in</strong>es KMU vor e<strong>in</strong>em Landgericht<br />

zu rechnen ist. Bei den Grossgesellschaften besteht aus verschiedenen<br />

Gründen e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Kalkül, sei es, dass die Prozesskosten zu hoch o<strong>der</strong> die<br />

mediale Aufmerksamkeit zu gross ist. Hier ergeben sich unter dem geltenden<br />

Recht Impulse durch die Konsultativabstimmungen über den Entschädigungsbericht,<br />

<strong>der</strong> im Anhang zum Swiss Code of Best Practice vom September 2007<br />

empfohlen wird. 58<br />

D. Abgangsentschädigungen<br />

Im Abgangsstadium ist für jegliche Zahlungen <strong>und</strong> sonstigen geldwerten Leistungen<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft, die erst vere<strong>in</strong>bart werden, nachdem sich das Ausscheiden<br />

e<strong>in</strong>er <strong>Führung</strong>skraft abzeichnet o<strong>der</strong> gar beschlossene Sache ist, gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

ke<strong>in</strong> Spielraum vorhanden. Derartige Leistungen lassen sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nur<br />

mit dem Agency-Konzept <strong>der</strong> Aktiengesellschaft erklären, s<strong>in</strong>d also durch den<br />

Umstand begünstigt, dass die Verwaltungsräte mit fremdem Geld umgehen.<br />

Immerh<strong>in</strong> kann nicht a priori ausser Betracht fallen, dass sich e<strong>in</strong>e Abgangsentschädigung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em konkreten Fall aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Anreizwirkung für die verbleibenden<br />

<strong>und</strong> potentiellen Organpersonen e<strong>in</strong>er Gesellschaft rechtfertigen<br />

lässt. 59 Man darf sich allerd<strong>in</strong>gs nicht w<strong>und</strong>ern, wenn Leistungen mit Entschädigungscharakter<br />

ohne vorgängige vertragliche Vere<strong>in</strong>barung an e<strong>in</strong>e scheidende<br />

<strong>Führung</strong>skraft als wirtschaftlich unvernünftig taxiert werden, was zur Haf-<br />

58 Vgl. dazu die Ethos Studie Vergütungen 2010 <strong>der</strong> <strong>Führung</strong>s<strong>in</strong>stanzen, Unternehmen<br />

<strong>der</strong> Börsen<strong>in</strong>dizes SMI <strong>und</strong> SMIM: 48 grösste <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz kotierte Unternehmen,<br />

Juni 2011, Ziff. 4, S. 27 ff.<br />

59 Vgl. dazu den deutschen (Straf-)Fall «Mannesmann», Urteil des Landgerichtes Düsseldorf<br />

vom 22. Juli 2004, XIV. Grosse Strafkammer, XIV 5/03, Ziff. V.1 (wie<strong>der</strong>gegeben<br />

<strong>in</strong> NJW 2004, S. 3279), wo e<strong>in</strong>e Anreiz- o<strong>der</strong> Werbewirkung e<strong>in</strong>er «Anerkennungsprämie»<br />

für an<strong>der</strong>e potenzielle Vorstandsmitglie<strong>der</strong> verne<strong>in</strong>t wurde.<br />

20


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

tung <strong>der</strong> Entscheidungsträger aus Art. 754 OR führen kann. 60 Haftungsfragen<br />

könnten sich auch stellen, falls e<strong>in</strong>e entsprechende Anpassung des Arbeitsvertrages<br />

erfolgt, nachdem sich das Ausscheiden e<strong>in</strong>er <strong>Führung</strong>skraft aus <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

abzeichnet, sofern sich für diese Vertragsanpassung ke<strong>in</strong> sachlicher<br />

Gr<strong>und</strong> f<strong>in</strong>det. 61<br />

E. Rückerstattung von Vergütungen<br />

Im Zuge <strong>der</strong> Revision des Aktienrechts soll die Ex post-Kontrolle über Leistungen<br />

an Organpersonen im Rahmen von Art. 678 E-OR verstärkt werden, <strong>in</strong>dem<br />

auf die durch den Begünstigten «erbrachte» Gegenleistung Bezug genommen<br />

wird. 62 Selbst im Falle, wo e<strong>in</strong>e überschiessende Vergütung nach Art. 678 OR<br />

zurückzuerstatten, aber vom Betroffenen nicht e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>glich ist, besteht auch<br />

weiterh<strong>in</strong> nicht zwangsläufig e<strong>in</strong>e Haftung <strong>der</strong>jenigen Organpersonen, welche<br />

den Entscheid über diese Vergütung getroffen haben. 63 E<strong>in</strong>e Vergütung ist unter<br />

Art. 754 OR nur haftungsbegründend, wenn das Missverhältnis bereits im<br />

Zeitpunkt des Vergütungsentscheides als gegeben ersche<strong>in</strong>t, was (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

wohl seltenen Fall) aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er im Voraus absehbar <strong>in</strong>adäquaten Gegenleistung<br />

des Empfängers zutreffen könnte. Das «angemessene Verhältnis (<strong>der</strong><br />

Vergütung) zu den Aufgaben, Leistungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>der</strong> Empfänger»,<br />

wie es die neue Sorgfaltspflicht des Art. 717 Abs. 1 bis E-OR verlangt, 64 kann<br />

60 Vgl. dazu auch unter III. bei Fn. 16.<br />

61 Vgl. dazu die Empfehlung V <strong>der</strong> Übernahmekommission vom 23. August 2005 i.S. öffentliches<br />

Kaufangebot von Sumida Hold<strong>in</strong>g für die Aktien <strong>der</strong> Saia-Burgess Electronics<br />

Hold<strong>in</strong>g AG, wo vor <strong>der</strong> Voranmeldung des Kaufangebotes die Kündigungsfristen<br />

<strong>in</strong> den Arbeitsverträgen <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppenleitung verlängert wurden, was<br />

sowohl die Übernahmekommission <strong>in</strong> <strong>der</strong> erwähnten Empfehlung als auch die Übernahmekammer<br />

<strong>der</strong> Eidg. Bankenkommission mit Verfügung vom 19. September 2005<br />

als Verstoss gegen das Aktienrecht (Art. 717 OR) qualifizierten, weil diese Bestimmung<br />

das E<strong>in</strong>gehen von Geschäften ohne adäquate Gegenleistung verbietet.<br />

62 Botschaft Abzockerei, S. 316, wonach durch die Verbesserung <strong>der</strong> Rückerstattungsklage<br />

auch die Rückfor<strong>der</strong>ung von «exzessiven Vergütungen» erleichtert werden soll; vgl.<br />

auch bertSch<strong>in</strong>ger, Berichterstattung, S. 585.<br />

63 Zur umgekehrten Situation Botschaft Abzockerei, S. 318, wonach marktkonforme<br />

Vergütungen des Managements, die aufgr<strong>und</strong> des fehlenden Missverhältnisses zur<br />

erbrachten Gegenleistung nicht <strong>der</strong> Rückerstattungsklage nach Art. 678 Abs. 2 E-OR<br />

unterliegen, trotzdem zu e<strong>in</strong>er Haftung des Verwaltungsrates führen können, wenn<br />

diese Vergütungen nicht mit <strong>der</strong> wirtschaftlichen Lage <strong>und</strong> dem dauernden Gedeihen<br />

des Unternehmens im E<strong>in</strong>klang stehen (vgl. dazu bei Fn. 48).<br />

64 Dazu oben unter VII.B. bei Fn. 48.<br />

21


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

ex ante als erfüllt ersche<strong>in</strong>en <strong>und</strong> ex post gleichwohl e<strong>in</strong> «(offensichtliches)<br />

Missverhältnis» im S<strong>in</strong>ne von Art. 678 Abs. 2 E-OR vorliegen. Die mit dem betreffenden<br />

Vergütungsentscheid befassten Organpersonen unterliegen <strong>in</strong> diesem<br />

Fall nicht <strong>der</strong> Haftung des Art. 754 OR.<br />

E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Diskussion dreht sich um die Frage, ob e<strong>in</strong> blosses Missverhältnis<br />

zur Begründung des Anspruches auf Rückerstattung genügen soll o<strong>der</strong> ob das<br />

Missverhältnis zwischen <strong>der</strong> Leistung des Empfängers <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gegenleistung<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft unter Art. 678 Abs. 2 OR weiterh<strong>in</strong> «offensichtlich» se<strong>in</strong> muss.<br />

Nach <strong>der</strong> Botschaft von 2007 ist das Erfor<strong>der</strong>nis e<strong>in</strong>es offensichtlichen Missverhältnisses<br />

zwischen Leistung <strong>und</strong> Gegenleistung «materiell begründet, weil die<br />

Preisbildung gerichtlich nicht überprüft werden soll, solange sie Marktgr<strong>und</strong>sätzen<br />

folgt». 65 Falls e<strong>in</strong> blosses Missverhältnis genügt, würde sich <strong>der</strong> Spielraum für die<br />

Rückfor<strong>der</strong>ung wohl etwas erhöhen, wenngleich die entsprechende Botschaft<br />

diesen E<strong>in</strong>druck zu zerstreuen versucht. 66 Diese Diskussion ist mit Blick auf die<br />

Geschäftsführungshaftung <strong>in</strong>sofern relevant, als sich im Umfang <strong>der</strong> Une<strong>in</strong>br<strong>in</strong>glichkeit<br />

des Rückerstattungsbetrages vom Leistungsempfänger – im Rahmen<br />

<strong>der</strong> objektiv nachträglichen Prognose 67 – die Frage nach <strong>der</strong> Geschäftsführungshaftung<br />

<strong>der</strong> Organpersonen stellen kann, welche die Vergütung genehmigt<br />

haben.<br />

F. Soziale Dimension <strong>der</strong> Vergütung<br />

E<strong>in</strong>e unter Umständen brisante Frage ist, <strong>in</strong>wiefern <strong>der</strong> Verwaltungsrat bei <strong>der</strong><br />

Entschädigung von Organpersonen das Empf<strong>in</strong>den breiterer Bevölkerungsschichten<br />

<strong>in</strong>s Kalkül e<strong>in</strong>beziehen sollte. Die Frage stellen, heisst gleichzeitig sie<br />

zu bejahen, da sich die Gesellschaft nach dem anschaulichen Schalenmodell<br />

auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sozialen Umfeld bef<strong>in</strong>det, <strong>in</strong> welches sie sich angemessen e<strong>in</strong>betten<br />

muss. 68 Es vermag denn auch nicht zu erstaunen, dass <strong>der</strong> Umgang mit dem<br />

Geld durch die Organpersonen nicht nur im Aktionariat son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> den<br />

65 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1664.<br />

66 Gemäss Botschaft Abzockerei, S. 316, br<strong>in</strong>gt bereits das blosse «Missverhältnis» e<strong>in</strong><br />

«beträchtliches Ungleichgewicht» zwischen Leistung <strong>und</strong> Gegenleistung zum Ausdruck<br />

<strong>und</strong> es muss «<strong>der</strong> Wert <strong>der</strong> Gegenleistung <strong>der</strong> Empfänger<strong>in</strong> … schon aufgr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Voraussetzung e<strong>in</strong>es Missverhältnisses weiterh<strong>in</strong> klar <strong>und</strong> zweifelsfrei unter dem<br />

Wert <strong>der</strong> Leistung <strong>der</strong> Gesellschaft liegen»; kritisch böckli, Gesetzgeber, S. 35 f.<br />

67 Vgl. bei Fn. 50.<br />

68 Vgl. die schematische Darstellung bei m<strong>in</strong><strong>der</strong>, S. 36.<br />

22


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

Medien <strong>und</strong> <strong>der</strong> Politik zu Diskussionen führt, da das Geld die Leute schlicht<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong>teressiert. Unabhängig von e<strong>in</strong>er allfälligen Empörung Aussenstehen<strong>der</strong><br />

muss unter rechtlichem Gesichtspunkt <strong>der</strong> Entscheidungsprozess, welcher<br />

zu e<strong>in</strong>er bestimmten anreizorientierten Vergütung führt, massgeblich<br />

bleiben. 69 Die Komponenten e<strong>in</strong>er Vergütung sollten für e<strong>in</strong>en unvore<strong>in</strong>genommenen<br />

Dritten nachvollziehbar se<strong>in</strong>.<br />

VIII. Interessenkonflikte von Organpersonen –<br />

Aktuelle Entwicklungen<br />

A. Interessenkonflikte im Allgeme<strong>in</strong>en<br />

Schon vor e<strong>in</strong>iger Zeit hat das B<strong>und</strong>esgericht entschieden, dass strenge Massstäbe<br />

anzulegen s<strong>in</strong>d, wenn Verwaltungsräte nicht im Interesse <strong>der</strong> Gesellschaft,<br />

son<strong>der</strong>n im eigenen Interesse, <strong>in</strong> demjenigen von Aktionären o<strong>der</strong> von Drittpersonen<br />

handeln. 70 Dieser Gr<strong>und</strong>satz fliesst unter geltendem Recht aus <strong>der</strong><br />

Treuepflicht <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung<br />

gegenüber <strong>der</strong> Gesellschaft, wie sie <strong>in</strong> Art. 717 Abs. 1 OR nie<strong>der</strong>gelegt ist. Da<br />

allgeme<strong>in</strong>e Gr<strong>und</strong>sätze im mo<strong>der</strong>nen Wirtschaftsrecht zunehmend verdrängt<br />

werden, hat <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrat mit Art. 717a E-OR für die Interessenkonflikte e<strong>in</strong>en<br />

spezifischen Akzent gesetzt. 71 Nach diesem Gesetzesentwurf <strong>in</strong>formieren die<br />

Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung den Präsidenten des<br />

Verwaltungsrates unverzüglich <strong>und</strong> vollständig über Interessenkonflikte. Bef<strong>in</strong>det<br />

sich <strong>der</strong> Präsident <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interessenkonflikt, wendet er sich an den stellvertretenden<br />

Präsidenten. Der Präsident o<strong>der</strong> <strong>der</strong> stellvertretende Präsident<br />

<strong>in</strong>formiert, soweit erfor<strong>der</strong>lich, den Verwaltungsrat. Gestützt darauf ergreift<br />

<strong>der</strong> Verwaltungsrat diejenigen Massnahmen, die zur Wahrung <strong>der</strong> Interessen<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft nötig s<strong>in</strong>d. Der Vorschlag des B<strong>und</strong>esrates sieht zudem vor,<br />

dass die von e<strong>in</strong>em Interessenkonflikt betroffene Person bei <strong>der</strong> Beschlussfassung<br />

über die entsprechenden Massnahmen <strong>in</strong> den Ausstand tritt.<br />

69 Vgl. bei Fn. 46.<br />

70 BGE 113 II 52, E. 3.a.<br />

71 Heute orientiert sich die Praxis an Ziffer 16 des Swiss Code of Best Practice for Corpo-<br />

Praxis an Ziffer 16 des Swiss Code of Best Practice for Corporate<br />

Governance.<br />

23


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

Die Botschaft betont, dass es sich bei Art. 717a E-OR um e<strong>in</strong>e «wichtige Neuerung<br />

für e<strong>in</strong>e gute Corporate Governance» handelt. 72 Vergleichbar <strong>der</strong> Regelung bei den<br />

Revisoren 73 müssen die Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung<br />

tatsächlich sowie dem Ansche<strong>in</strong> nach <strong>in</strong> ihrer Entscheidungsf<strong>in</strong>dung unabhängig<br />

se<strong>in</strong> bzw. ke<strong>in</strong>em tatsächlichen o<strong>der</strong> potentiellen Interessenkonflikt<br />

unterliegen. Die «<strong>in</strong>dependence <strong>in</strong> fact» <strong>und</strong> die «<strong>in</strong>dependence <strong>in</strong> appearance» gehören<br />

zum Anfor<strong>der</strong>ungsprofil <strong>der</strong> Organpersonen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft.<br />

Das Vertrauen <strong>in</strong> die Unternehmensführung würde auch untergraben, wenn die<br />

Unabhängigkeit <strong>der</strong> Verwaltungsräte o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong><br />

bloss dem Ansche<strong>in</strong> nach bee<strong>in</strong>trächtigt wäre. 74 Wer e<strong>in</strong>em Interessenkonflikt<br />

unterliegt, ist <strong>in</strong> den Angelegenheiten <strong>der</strong> Gesellschaft nicht mehr frei <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Entscheidungsf<strong>in</strong>dung, womit die Interessen <strong>der</strong> Gesellschaft potentiell bee<strong>in</strong>trächtigt<br />

s<strong>in</strong>d. Entscheidungsträger sollten sich des rechtlichen Gehaltes von<br />

Interessenkonflikten bewusst se<strong>in</strong>, da – wie sogleich darzulegen ist – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

konfliktträchtigen Entscheidungsf<strong>in</strong>dung unter Umständen e<strong>in</strong>e hohe verantwortlichkeitsrechtliche<br />

Sprengkraft liegen kann. 75<br />

B. Verbot gegenseitiger E<strong>in</strong>flussnahme auf Entschädigungen<br />

Art. 717b E-OR des b<strong>und</strong>esrätlichen Entwurfes zur Aktienrechtsrevision schreibt<br />

vor, dass bei Gesellschaften, <strong>der</strong>en Aktien an <strong>der</strong> Börse kotiert s<strong>in</strong>d, ausgeschlossen<br />

se<strong>in</strong> muss, dass Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung,<br />

die zugleich dem Verwaltungsrat o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Gesellschaft<br />

angehören, gegenseitig E<strong>in</strong>fluss auf die Festsetzung ihrer Vergütungen<br />

haben. Sofern bei <strong>der</strong> Beschlussfassung über Vergütungen gegen diesen<br />

Gr<strong>und</strong>satz verstossen wird, ist <strong>der</strong> Beschluss nichtig. Die Art <strong>der</strong> Bee<strong>in</strong>flussung<br />

von Entschädigungen ist nach <strong>der</strong> Botschaft irrelevant. 76<br />

Bei <strong>der</strong> kreuzweisen Mitgliedschaft, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> Entschädigungsausschüssen<br />

von börsenkotierten Gesellschaften, handelt es sich um e<strong>in</strong>en spezifischen<br />

potentiellen Interessenkonflikt, <strong>der</strong> dem B<strong>und</strong>esrat e<strong>in</strong>e spezielle Norm wert<br />

72 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1687.<br />

73 Vgl. Art. 728 Abs. 1 OR <strong>und</strong> Art. 729 Abs. 1 OR.<br />

74 In Analogie zur Unabhängigkeit <strong>der</strong> Revisionsstelle; vgl. Botschaft Revisionsrecht,<br />

S. 4018.<br />

75 Vgl. unten VIII.C.<br />

76 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1688.<br />

24


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

ist. 77 Das B<strong>und</strong>esgericht hat schon verschiedentlich festgehalten, dass es im<br />

schweizerischen Arbeitsrecht über alle Stufen e<strong>in</strong>er Aktiengesellschaft h<strong>in</strong>weg<br />

lediglich e<strong>in</strong>e Kategorie von Arbeitnehmern gibt. 78 Da Art. 717b Abs. 2 E-OR<br />

e<strong>in</strong>en Gehalt als Son<strong>der</strong>arbeitsrecht für Topka<strong>der</strong>leute aufweist, sollte <strong>der</strong> Normverstoss<br />

mit <strong>der</strong> Nichtigkeitsfolge e<strong>in</strong>er tendenziell restriktiven Handhabung<br />

unterliegen.<br />

C. Interessenkonflikte von Organpersonen <strong>und</strong><br />

Verantwortlichkeit<br />

Die Botschaft des B<strong>und</strong>esrates zur Revision des Aktienrechts verweist darauf,<br />

dass Organmitglie<strong>der</strong>, welche die Gesellschaft aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es fehlerhaften<br />

Umgangs mit e<strong>in</strong>em Interessenkonflikt schädigen, gestützt auf Art. 754 OR<br />

haftbar werden können. 79 E<strong>in</strong> Interessenkonflikt, <strong>der</strong> sich zum Schaden <strong>der</strong><br />

Gesellschaft auswirkt, stellt e<strong>in</strong>e Pflichtverletzung dar. Unter Art. 717a E-OR<br />

erwähnt die Botschaft den Fall, dass e<strong>in</strong> Organmitglied <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er engen Beziehung<br />

zu e<strong>in</strong>em Dritten steht, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Gesellschaft geschäftliche Beziehungen<br />

pflegt. 80 E<strong>in</strong> Interessenkonflikt kann seitens e<strong>in</strong>es Verwaltungsrates auch<br />

dar<strong>in</strong> bestehen, dass aufgr<strong>und</strong> substantieller Beratungsmandate von e<strong>in</strong>er wirtschaftlichen<br />

Abhängigkeit auszugehen ist. Bei den Revisionsgesellschaften hat<br />

sich im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Unabhängigkeit e<strong>in</strong> Schwellenwert von 10%<br />

für das jährliche Honorar aus Revisions- <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Dienstleistungen für e<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong>zelne Gesellschaft <strong>und</strong> die mit ihr durch e<strong>in</strong>heitliche Leitung verb<strong>und</strong>enen<br />

Gesellschaften (Konzern) etabliert. 81 Was für die Revisionsstelle als Sek<strong>und</strong>ärorgan<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft 82 gilt, muss gr<strong>und</strong>sätzlich auch für die primären Gesellschaftsorgane<br />

(Verwaltungsräte) 83 anwendbar se<strong>in</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs wird man die<br />

Konfliktträchtigkeit bzw. die (potentielle) Bee<strong>in</strong>flussung <strong>der</strong> Entscheidungsfreiheit<br />

e<strong>in</strong>es Organträgers, welche sich aus substantiellen Aufträgen seitens <strong>der</strong><br />

77 Watter, S. 296, macht geltend, dass es sich um e<strong>in</strong>e sehr seltene Konstellation handle.<br />

78 BGE 130 III 213, E. 2.1; B<strong>und</strong>esgericht 4C.39/2005 vom 8. Juni 2005, E. 2.<br />

79 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1688 f.; vgl. auch Watter, S. 295.<br />

80 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1688.<br />

81 Vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. a des Revisionsaufsichtsgesetzes (RAG) sowie die Unabhängigkeitsrichtl<strong>in</strong>ien<br />

<strong>der</strong> Treuhand-Kammer 2007 (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Fassung vom 6. Dezember 2010),<br />

Ziff. IX.<br />

82 B<strong>und</strong>esgericht 4C.118/2005 vom 8. August 2005, E. 4.3.<br />

83 Auf <strong>der</strong> Stufe <strong>der</strong> Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong> dürften Zusatzaufträge e<strong>in</strong>e seltene<br />

Konstellation darstellen.<br />

25


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

Gesellschaft ergeben kann, stets im E<strong>in</strong>zelfall beurteilen müssen. Gegen e<strong>in</strong>e<br />

starre Anwendung von Schwellenwerten ist bei den Verwaltungsräten die gleiche<br />

Vorsicht geboten, wie sie das B<strong>und</strong>esgericht bereits bei den Revisoren zum<br />

Ausdruck gebracht hat. In BGE 131 III 44 hat das B<strong>und</strong>esgericht unter Bezugnahme<br />

auf e<strong>in</strong>e ältere Version <strong>der</strong> Unabhängigkeitsrichtl<strong>in</strong>ien <strong>der</strong> Treuhand-<br />

Kammer Folgendes festgehalten: «e<strong>in</strong>e unzulässige wirtschaftliche Abhängigkeit<br />

(lässt) sich nicht <strong>der</strong>art mit e<strong>in</strong>em ziffernmässig festgelegten Anteil <strong>der</strong> Honorare<strong>in</strong>nahmen<br />

verknüpfen, dass bei e<strong>in</strong>em Wert, <strong>der</strong> ger<strong>in</strong>gfügig unterhalb <strong>der</strong> Limite liegt, die<br />

Unabhängigkeit per se gegeben <strong>und</strong> bei e<strong>in</strong>em Wert ger<strong>in</strong>gfügig darüber per se e<strong>in</strong>e<br />

Abhängigkeit anzunehmen wäre. … Vielmehr ist von Fall zu Fall zu prüfen, ob die Höhe<br />

des Anteils <strong>der</strong> aus e<strong>in</strong>em Revisionsmandat fliessenden Honorare die Unabhängigkeit<br />

<strong>der</strong> Revisionsstelle bee<strong>in</strong>trächtigt.»<br />

Unter verantwortlichkeitsrechtlichem Gesichtspunkt stellt <strong>der</strong> Beweis des Kausalzusammenhangs<br />

zwischen dem bestehenden Interessenkonflikt bzw. <strong>der</strong><br />

Pflichtverletzung seitens e<strong>in</strong>er geschäftsführenden Organperson e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Entstehung des Schadens an<strong>der</strong>seits das eigentliche «pièce de résistance»<br />

dar. Allerd<strong>in</strong>gs wird e<strong>in</strong>e Organperson, sofern sich im Verantwortlichkeitsprozess<br />

e<strong>in</strong> Interessenkonflikt durch den Kläger substantiieren lässt, e<strong>in</strong>er starken<br />

Darlegungs- <strong>und</strong> Gegenbeweislast ausgesetzt. 84 Mit Blick auf die Kautelen unter<br />

<strong>der</strong> hiesigen Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule 85 kann e<strong>in</strong> Interessenkonflikt bzw. die<br />

damit verb<strong>und</strong>ene mangelnde Unabhängigkeit e<strong>in</strong>en gewissen Spielraum für<br />

die richterliche Überprüfung von Geschäftsführungsentscheiden eröffnen.<br />

Damit kann sich im Falle des Fehlschlagens e<strong>in</strong>es Geschäftsführungsentscheides<br />

alsbald e<strong>in</strong> substantielles Haftungsrisiko für die unter e<strong>in</strong>em tatsächlichen o<strong>der</strong><br />

potentiellen Interessenkonflikt handelnden Entscheidungsträger ergeben.<br />

Verschiedene Entscheide des B<strong>und</strong>esgerichts befassen sich mit <strong>der</strong> Bedeutung<br />

des Wahlentscheides <strong>der</strong> Generalversammlung im Falle e<strong>in</strong>es Interessenkonflikts <strong>der</strong><br />

gewählten Organperson. Ohne Weiteres nachvollziehbar ist die Argumentation,<br />

dass die <strong>der</strong> Generalversammlung bei <strong>der</strong> Wahl e<strong>in</strong>es Mitgliedes des Verwaltungsrates<br />

bekannt gegebenen Informationen dem Anspruch aus aktienrechtlicher<br />

Verantwortlichkeit gegen diesen Verwaltungsrat seitens <strong>der</strong> (zustim-<br />

84 So Watter/ramp<strong>in</strong>i, Art. 728 OR, N 67, für den Fall <strong>der</strong> mangelnden Unabhängigkeit<br />

<strong>der</strong> Revisionsstelle, was analog bei den geschäftsführenden Organpersonen gelten<br />

dürfte.<br />

85 Vgl. graSS, S. 147, wonach <strong>der</strong> Beklagte im Zeitpunkt se<strong>in</strong>er Entscheidung unbefangen<br />

<strong>und</strong> unabhängig se<strong>in</strong> muss; zum Ganzen auch oben unter III.<br />

26


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

menden) Aktionäre <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft entgegenstehen können. 86 Dem<br />

Gläubigeranspruch wird man schadensrelevante Informationen, die <strong>der</strong> Generalversammlung<br />

bei <strong>der</strong> Wahl e<strong>in</strong>es Verwaltungsrates vorlagen, höchstens<br />

entgegenhalten können, sofern <strong>der</strong> klagende Gläubiger 87 im Zeitpunkt des Erwerbs<br />

<strong>der</strong> Gläubigerstellung davon Kenntnis hatte. In diesem Zusammenhang<br />

hat das B<strong>und</strong>esgericht zu allgeme<strong>in</strong> festgehalten, dass nicht ersichtlich sei, wie<br />

die Muttergesellschaft als faktisches Organ e<strong>in</strong>er 100%-igen Tochtergesellschaft<br />

bloss «dadurch hätte organschaftliche Verpflichtungen im Rahmen <strong>der</strong><br />

Verwaltung <strong>und</strong> Geschäftsleitung dieser Gesellschaft verletzen können, wenn<br />

sie ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressenkonfliktfreie Verwaltungsratsmitglie<strong>der</strong> als Gegengewicht<br />

zu N. (Organ von Mutter- <strong>und</strong> Tochtergesellschaft) ernannte.» 88 Lapidar hält<br />

das B<strong>und</strong>esgericht <strong>in</strong> diesem Zusammenhang fest, dass die Wahl von Mitglie<strong>der</strong>n<br />

des Verwaltungsrates zu den unübertragbaren Befugnissen <strong>der</strong> Generalversammlung<br />

gehört, die nicht <strong>der</strong> Haftung nach Art. 754 OR unterliegt. 89<br />

IX. Die Gesellschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Krise<br />

A. Pflichten <strong>der</strong> Verwaltungsräte – «Reden ist Silber,<br />

Handeln ist Gold»<br />

In wirtschaftlich unsicheren Zeiten ist <strong>der</strong> Verwaltungsrat hart gefor<strong>der</strong>t; das<br />

B<strong>und</strong>esgericht hat als Ausfluss von Art. 717 Abs. 1 OR formuliert: «Il lui appartient<br />

notamment de contrôler de manière régulière la situation économique et f<strong>in</strong>ancière<br />

de la société.» 90 Wenn Schönwetter-Kapitäne <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Sturmtief geraten, wird oftmals<br />

zu lange geredet <strong>und</strong> zu wenig energisch gehandelt. Gemäss BGE 132 III<br />

564 haben die Verwaltungsräte den Präsidenten des Gremiums über Jahre auf<br />

die sich verschlechternde F<strong>in</strong>anzlage h<strong>in</strong>gewiesen <strong>und</strong> den Verwaltungsratspräsidenten<br />

regelmässig befragt, was se<strong>in</strong>e Absichten für die Zukunft <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

s<strong>in</strong>d. Das zögerliche Verhalten des Verwaltungsrates führte mangels<br />

86 Vgl. B<strong>und</strong>esgericht 4A_317/2009 vom 1. Oktober 2009, E 2.3, betreffend den verme<strong>in</strong>tlichen<br />

Interessenkonflikt aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Doppelorganschaft bei e<strong>in</strong>er Immobilien-<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Betreibergesellschaft.<br />

87 Vgl. Art. 757 OR.<br />

88 B<strong>und</strong>esgericht 4A_306/2009, E 7.2.3.1.<br />

89 B<strong>und</strong>esgericht a.a.O.<br />

90 BGE 132 III 564, E. 5.1.<br />

27


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

Rückstellungen für Mietz<strong>in</strong>sverpflichtungen zu e<strong>in</strong>er verspäteten Bilanzdeponierung;<br />

aufgr<strong>und</strong> zweier offener Mietz<strong>in</strong>srechnungen war die Überschuldung<br />

e<strong>in</strong>getreten. Die Verwaltungsräte hatten fälschlicherweise Rückhalt bei <strong>der</strong><br />

Revisionsstelle gesucht, was nicht zu e<strong>in</strong>em pflichtgemässen Ergebnis führte. 91<br />

Das B<strong>und</strong>esgericht hielt unter Art. 725 Abs. 2 OR fest: «Les défendeurs, qui<br />

exerçaient parallèlement la profession d’avocats, devaient maîtriser cette<br />

procédure». 92<br />

Die Unterbilanz <strong>und</strong> die <strong>in</strong> Art. 725 Abs. 1 OR vorgesehenen Verhaltenspflichten<br />

des Verwaltungsrates – unverzügliche E<strong>in</strong>berufung e<strong>in</strong>er Generalversammlung<br />

mit Beantragung von Sanierungsmassnahmen – erfahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis<br />

oftmals e<strong>in</strong>e ungenügende Beachtung. Zu oft ist Art. 725 Abs. 1 OR blosses «law<br />

<strong>in</strong> the books»; die Sanierung <strong>der</strong> Gesellschaft wird aufgeschoben. Dabei wird<br />

immer wie<strong>der</strong> übersehen, dass <strong>der</strong> Aufschub <strong>der</strong> Sanierung aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>hergehenden<br />

Verschlechterung <strong>der</strong> Sanierungs- bzw. F<strong>in</strong>anzierungskonditionen<br />

– selbst wenn die Sanierung später noch gel<strong>in</strong>gt – e<strong>in</strong>er Pflichtwidrigkeit <strong>der</strong><br />

Verwaltungsräte entspricht. 93 Im Zuge <strong>der</strong> Verschleppung e<strong>in</strong>er Sanierung entsteht<br />

e<strong>in</strong> zunehmen<strong>der</strong> Handlungsdruck, <strong>der</strong> zu e<strong>in</strong>er Verschiebung von Vermögenssubstanz<br />

<strong>und</strong> Upside-Potential des Unternehmens von den Altaktionären<br />

zu den sanierungswilligen F<strong>in</strong>anzgläubigern <strong>und</strong> weiteren Kapitalgebern<br />

führen kann. Die Sorgfaltspflicht <strong>der</strong> Verwaltungsräte verlangt e<strong>in</strong> vorausschauendes<br />

Agieren, um die Interessen <strong>der</strong> Gesellschaft mit möglichst günstigen F<strong>in</strong>anzierungskosten<br />

zu wahren. Zwar belässt die Oberleitungspflicht gemäss<br />

Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 OR dem Verwaltungsrat auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sanierung e<strong>in</strong><br />

gr<strong>und</strong>sätzlich breites Ermessen für das «reasonable bus<strong>in</strong>ess judgement» <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> adäquate Kausalzusammenhang zwischen e<strong>in</strong>er verschleppten Sanierung<br />

(als Pflichtverletzung) <strong>und</strong> den daraus für die Gesellschaft bei den F<strong>in</strong>anzgläubigern<br />

resultierenden zusätzlichen Sanierungskosten (als Schaden <strong>der</strong> Gesellschaft)<br />

dürfte nicht leicht zu erbr<strong>in</strong>gen se<strong>in</strong>. Scheitert die Sanierung, ergibt sich<br />

nach Auffassung des B<strong>und</strong>esgerichts bei e<strong>in</strong>er verspäteten Überschuldungsanzeige<br />

e<strong>in</strong>e natürliche Vermutung für die schadensstiftende Wirkung, was im<br />

Rahmen von Art. 42 Abs. 2 OR bei <strong>der</strong> richterlichen Bestimmung <strong>der</strong> Schadens-<br />

91 BGE 132 III 564, E. 5.2: «se satisfaisant de l’avis émis par l’organe de révision selon<br />

lequel une simple note en pied de bilan mentionnant cette créance était suffisante».<br />

92 BGE 132 III 564, E. 5.2.<br />

93 Da die Gesellschaft <strong>in</strong> diesem Szenario aufrecht stehen bleibt, wären allenfalls e<strong>in</strong>zelne<br />

Aktionäre <strong>und</strong> die Gesellschaft selbst klageberechtigt (Art. 756 OR).<br />

28


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

höhe bedeutsam se<strong>in</strong> kann. 94 Ähnlich könnte es sich bei e<strong>in</strong>er verschleppten,<br />

aber schliesslich doch noch gelungenen Sanierung verhalten, falls e<strong>in</strong> Aktionär 95<br />

die Zusatzkosten aus verzögerter Sanierung als Schaden <strong>der</strong> Gesellschaft geltend<br />

machen will.<br />

B. Pflichten <strong>der</strong> Revisionsstelle<br />

Sobald die offensichtliche Überschuldung <strong>der</strong> Gesellschaft e<strong>in</strong>tritt, greift die<br />

Ersatzvornahme <strong>der</strong> Revisionsstelle; sie muss den Richter benachrichtigen, sofern<br />

<strong>der</strong> Verwaltungsrat die Anzeige unterlässt. 96 Selbst wenn die Revisionsstelle<br />

abberufen wird, bleibt sie zur Benachrichtigung des Richters legitimiert <strong>und</strong><br />

zwar zum<strong>in</strong>dest solange, wie die Revisionsstelle noch im Handelsregister e<strong>in</strong>getragen<br />

ist. 97 Damit wird <strong>der</strong> Gefahr Rechnung getragen, dass die Ersatzvornahme<br />

durch die Revisionsstelle vereitelt werden könnte. Nimmt die Revisionsstelle<br />

dem Verwaltungsrat die Bilanz «aus <strong>der</strong> Hand», um sie beim Richter zu deponieren,<br />

bedeutet dies für den Verwaltungsrat oftmals auch e<strong>in</strong> Sesselrücken<br />

vom «Driver Seat» auf die «Anklagebank». Die Revisionsstelle sitzt dem Verwaltungsrat<br />

mit zunehmen<strong>der</strong> Dauer <strong>der</strong> Sanierungsbemühungen fester «im Nacken»<br />

<strong>und</strong> wird schliesslich, falls <strong>der</strong> Konkurs nicht noch aufgeschoben werden<br />

kann, 98 mit <strong>der</strong> Bilanzdeponierung zum «Totengräber» <strong>der</strong> Gesellschaft. Nach<br />

<strong>der</strong> hier vertretenen Auffassung muss für den Verwaltungsrat auch im Falle <strong>der</strong><br />

Bilanzdeponierung durch die Revisionsstelle die Möglichkeit zum Antrag auf<br />

Konkursaufschub bestehen, 99 da man <strong>in</strong> Bezug auf die Wirksamkeit von Sanierungsbemühungen<br />

unter Umständen <strong>in</strong> guten Treuen unterschiedlicher Auffassung<br />

se<strong>in</strong> kann. 100/101<br />

94 BGE 136 III 322, E. 3.4.5.<br />

95 Vgl. Art. 756 OR.<br />

96 Art. 728c Abs. 3 OR bzw. Art. 729c OR.<br />

97 Obergericht Zürich, ZR 2009, Nr. 14.<br />

98 Art. 725a OR.<br />

99 Gl.M. Schweizer Prüfungsstandard 290, Ausgabe 2010, Abschnitt LL.<br />

100 Vgl. Schweizer Prüfungsstandard 290, Ausgabe 2010, Abschnitt JJ bis LL.<br />

101 Vgl. zum Me<strong>in</strong>ungsstand WüSt<strong>in</strong>er, Art. 725a OR, N 5. Ziltener, S. 191, E<strong>in</strong>zelrichter<br />

am Bezirksgericht Zürich, vertritt die Auffassung, dass nicht auf e<strong>in</strong> Aufschubbegehren<br />

des Verwaltungsrates e<strong>in</strong>zutreten ist, welches erst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Stellungnahme zur<br />

Überschuldungsanzeige <strong>der</strong> Revisionsstelle gestellt wird. Als Begründung hält dieser<br />

Autor fest, dass e<strong>in</strong> <strong>der</strong>artiges Aufschubbegehren <strong>und</strong> <strong>der</strong> Sanierungsplan e<strong>in</strong>es Verwaltungsrates,<br />

welcher die gr<strong>und</strong>legende Pflicht <strong>der</strong> Überschuldungsanzeige im Falle<br />

e<strong>in</strong>er offensichtlichen Überschuldung nicht wahrnimmt, von «vornhere<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Ver-<br />

29


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

C. Gläubigerschutz<br />

Der Volksm<strong>und</strong> sagt, «wes Brot ich ess, des Lied ich s<strong>in</strong>g». Wenngleich die Verwaltungsräte<br />

<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie dem Gesellschafts<strong>in</strong>teresse verpflichtet s<strong>in</strong>d, 102<br />

werden sie sich zwangsläufig <strong>der</strong> Interessen von Aktionären vergewissern, die<br />

ihnen zur Wahl <strong>in</strong> den Verwaltungsrat verholfen haben. In <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Krise<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft ist allerd<strong>in</strong>gs vor «falschen» Loyalitäten zu warnen. Sobald<br />

Ansprüche <strong>der</strong> Gläubiger auszufallen drohen, erhalten ihre Interessen e<strong>in</strong> höheres<br />

Profil <strong>und</strong> die primäre Risikoabsorptionsfunktion des Aktienkapitals lässt<br />

die Interessen <strong>der</strong> Aktionäre entsprechend zurücktreten. Die Wahrung von<br />

Aktionärs<strong>in</strong>teressen stösst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sanierung <strong>der</strong> Gesellschaft zunehmend an<br />

enge Grenzen. 103<br />

Bei <strong>der</strong> Planung konkreter Sanierungsmassnahmen ist auf allfällige «Nebenwirkungen»<br />

lebenserhalten<strong>der</strong> Sofortmassnahmen zu achten. Das schnell verfügbare<br />

Geld von Gläubigerbanken zur Überbrückung e<strong>in</strong>es f<strong>in</strong>anziellen Engpasses<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft kann zum virulenten Verantwortlichkeitsrisiko für den Verwaltungsrat<br />

werden. Das B<strong>und</strong>esgericht hat festgehalten, dass e<strong>in</strong>e Gefährdung<br />

von Gläubiger<strong>in</strong>teressen nicht schon deshalb ausgeschlossen sei, weil die Banken<br />

die Sanierungsbemühungen mit e<strong>in</strong>er Überbrückungsf<strong>in</strong>anzierung mittra-<br />

trauen verdient». ZR 1995, Nr. 50, S. 152 ff., hat die Legitimation des Verwaltungsrates<br />

zum Aufschubbegehren nach unterlassener Bilanzdeponierung zwar ebenfalls<br />

verne<strong>in</strong>t. Allerd<strong>in</strong>gs handelt es sich um e<strong>in</strong>en Extremfall, wo die Sanierung erst über<br />

zwei Jahre nach festgestellter <strong>und</strong> unverän<strong>der</strong>t bestehen<strong>der</strong> Überschuldung <strong>in</strong> Angriff<br />

genommen werden sollte. Die vorstehende Auffassung von Ziltener ersche<strong>in</strong>t je nach<br />

den konkreten Umständen als zu absolut.<br />

102 Art. 717 Abs. 1 OR.<br />

103 Anschaulich Schenker, S. 496: «Damit e<strong>in</strong> Sanierungsplan Aussicht auf Erfolg hat, sollte<br />

er – im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er ‹Opfersymmetrie› allen Beteiligten e<strong>in</strong>e ihrer Position als Eigenkapital-<br />

bzw. Fremdkapitalgeber entsprechende angemessene Sanierungsleistung abfor<strong>der</strong>n,<br />

ohne e<strong>in</strong>zelne Beteiligte gegenüber den an<strong>der</strong>en zu benachteiligen. Opfersymmetrie<br />

bedeutet <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sanierung allerd<strong>in</strong>gs nicht ‹Gleichbehandlung› aller Beteiligten.<br />

Es muss vielmehr den unterschiedlichen rechtlichen Positionen <strong>der</strong> Beteiligten Rechnung<br />

getragen werden: Da die Aktionäre mit dem Eigenkapital das Unternehmensrisiko<br />

tragen, s<strong>in</strong>d von ihnen die grössten Beiträge zu erwarten. Bei e<strong>in</strong>er überschuldeten<br />

Gesellschaft müssen sie deshalb damit rechnen, ihre gesamte Rechtsposition im<br />

Rahmen e<strong>in</strong>er Kapitalherabsetzung aufzugeben, wenn sie nicht bereit s<strong>in</strong>d, <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

neues Kapital zuzuführen. Bei den Gläubigern muss dagegen gemäss dem Verlustrisiko<br />

im Konkursfall, d.h. nach konkursrechtlicher Rangordnung <strong>und</strong> Sicherheit,<br />

differenziert werden – je schlechter die Position e<strong>in</strong>es Gläubigers ist, desto grössere<br />

Leistungen können vom ihm erwartet werden.»<br />

30


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

gen. Falls mit e<strong>in</strong>em Kredit die erfor<strong>der</strong>liche Liquidität für die Fortführung des<br />

Unternehmens geschaffen wird, beurteile sich e<strong>in</strong>e Gefährdung <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Gläubiger nach den Gew<strong>in</strong>n- o<strong>der</strong> Verlustaussichten aus <strong>der</strong> weiteren<br />

Geschäftstätigkeit. «Zu prüfen ist, ob das Risiko, das mit dem Versuch e<strong>in</strong>er Sanierung<br />

naturgemäss verb<strong>und</strong>en ist, durch den ökonomischen Wert <strong>der</strong> Chance e<strong>in</strong>er erfolgreichen<br />

Sanierung aufgewogen wird.» 104<br />

Pauschalurteile, wie man habe «praktisch ke<strong>in</strong>e Wahl mehr» gehabt, helfen bei<br />

fortschreiten<strong>der</strong> Überschuldung nicht. 105 Erfor<strong>der</strong>lich ist die Evaluation konkreter<br />

Sanierungsmassnahmen, <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>e Glaube genügt nicht, was das<br />

B<strong>und</strong>esgericht schon mit folgenden Worten zum Ausdruck brachte: «Davon,<br />

dass alle<strong>in</strong> aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Lebenserfahrung davon ausgegangen werden<br />

könne, dass man auch bei <strong>der</strong> X.CH ‹das Geld nicht e<strong>in</strong>fach freiwillig zum Fenster h<strong>in</strong>auswarf,<br />

son<strong>der</strong>n ... tatsächlich an e<strong>in</strong>en langfristigen Erfolg <strong>der</strong> X.I glaubte›, kann zudem<br />

ke<strong>in</strong>e Rede se<strong>in</strong>. Abgesehen davon, dass sich e<strong>in</strong> solcher Schluss nicht aus <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en<br />

Lebenserfahrung ergibt, ist entgegen <strong>der</strong> Ansicht <strong>der</strong> Beschwerdeführer nicht<br />

entscheidend, woran die Organe <strong>der</strong> X.CH glaubten, son<strong>der</strong>n ob die von ihnen zu verantwortenden<br />

Mittelabflüsse angesichts <strong>der</strong> nach den konkreten Umständen objektiv<br />

gerechtfertigten Erwartungen h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Gesellschaft X.I getätigt werden<br />

durften.» 106 Der Verwaltungsrat kann bei <strong>der</strong> sanierungsbedürftigen Gesellschaft<br />

also nicht e<strong>in</strong>fach weiterwirtschaften <strong>und</strong> auf e<strong>in</strong> W<strong>und</strong>er hoffen, son<strong>der</strong>n muss<br />

die Sanierungsbemühungen ex ante e<strong>in</strong>em kritischen Chancentest unterziehen.<br />

D. Sanierungsrecht <strong>und</strong> Sanierungspflicht<br />

Nach <strong>der</strong> volkswirtschaftlichen Logik sollte <strong>der</strong> Verwaltungsrat an <strong>der</strong> Sanierung<br />

e<strong>in</strong>er überschuldeten Gesellschaft solange arbeiten können, als begründete<br />

Aussicht auf e<strong>in</strong>e zeitnahe, erfolgreiche Sanierung besteht. Gemäss e<strong>in</strong>em als<br />

Leitentscheid aufzufassenden Urteil des B<strong>und</strong>esgerichts vom 19. Juni 2001<br />

bleiben Sanierungsmassnahmen zulässig, sofern die For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gesellschaftsgläubiger<br />

nicht durch e<strong>in</strong>e neuerliche Verschlechterung <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen<br />

Lage gefährdet werden. Es müssen die Voraussetzungen für e<strong>in</strong>en Konkursaufschub<br />

nach Art. 725a OR gegeben se<strong>in</strong>, da die Gläubiger nicht schlechter gestellt<br />

104 B<strong>und</strong>esgericht 4C.366/2000 vom 19. Juni 2001, E. 5.a.aa.<br />

105 B<strong>und</strong>esgericht 4A_391/2009 vom 12. Februar 2010, E. 2.2.<br />

106 B<strong>und</strong>esgericht, a.a.O.<br />

31


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

werden dürfen, als wenn <strong>der</strong> Richter benachrichtigt würde. 107 Unzulässig s<strong>in</strong>d<br />

nach dieser Rechtsprechung «Massnahmen, welche auf Kosten <strong>der</strong> Gläubiger lediglich<br />

den Zusammenbruch des Unternehmens h<strong>in</strong>auszögern, wenn e<strong>in</strong>e Sanierung nicht ernsthaft<br />

<strong>in</strong> Aussicht steht. … S<strong>in</strong>d erhebliche Zweifel an den Erfolgsaussichten <strong>der</strong> Sanierung<br />

angebracht o<strong>der</strong> ist diese für die Gläubiger mit e<strong>in</strong>em erhöhten Risiko verb<strong>und</strong>en, hat<br />

<strong>der</strong> Verwaltungsrat gemäss Art. 725 OR den Richter zu benachrichtigen <strong>und</strong> ihm den<br />

Entscheid über die Fortführung <strong>der</strong> Gesellschaft zu überlassen.» Im E<strong>in</strong>klang mit den<br />

Kriterien <strong>der</strong> Bus<strong>in</strong>ess Judgement Rule 108 schliesst e<strong>in</strong> Sanierungsmisserfolg<br />

unter den erwähnten Voraussetzungen die Haftung <strong>der</strong> Verwaltungsräte aus. 109<br />

In <strong>der</strong> Praxis hat sich schon die Frage gestellt, ob <strong>der</strong> Verwaltungsrat zur Sanierung<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft verpflichtet ist, falls <strong>und</strong> solange es am Horizont noch<br />

e<strong>in</strong>en Silberstreifen für das Überleben <strong>der</strong> Gesellschaft gibt, <strong>der</strong> bei richtiger<br />

Optik für den Verwaltungsrat erkennbar se<strong>in</strong> müsste. In e<strong>in</strong>em schon etwas<br />

älteren Urteil hat das B<strong>und</strong>esgericht zum<strong>in</strong>dest von e<strong>in</strong>er «moralischen Pflicht»<br />

gesprochen, drohenden Schaden soweit möglich zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zu begrenzen;<br />

es gilt nach Auffassung des B<strong>und</strong>esgerichts «für die Betroffenen zu retten,<br />

was noch zu retten ist. Dazu können <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch geeignete Massnahmen<br />

zur Erhaltung des Betriebes dienen.» 110 In diesem Fall schützte das B<strong>und</strong>esgericht<br />

den unter normalen Umständen durch die Vertretungsmacht des Verwaltungsrats<br />

nicht gedeckten Verkauf e<strong>in</strong>es ganzen Unternehmens, da die Höhe<br />

<strong>der</strong> Überschuldung e<strong>in</strong> weiteres Zuwarten nicht mehr zuliess <strong>und</strong> die Käufer, die<br />

bereit waren, den Betrieb fortzuführen, ihr Übernahme<strong>in</strong>teresse zeitlich befristet<br />

hatten. Im jüngeren Schrifttum f<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>e grosse Anzahl von Stimmen,<br />

welche bei gegebenen Sanierungsaussichten von e<strong>in</strong>er Sanierungspflicht des<br />

Verwaltungsrates ausgehen. 111 Diese Auffassung fliesst aus <strong>der</strong> Oberleitungs-<br />

107 B<strong>und</strong>esgericht 4C.366/2000, E. 4.b.<br />

108 Vgl. dazu schon III.<br />

109 B<strong>und</strong>esgericht 4C.366/2000 vom 19. Juni 2001, E. 4.b.<br />

110 BGE 116 II 323.<br />

111 Vgl. bühler, S. 33; Senn, S. 89: «Ist die Gesellschaft fortführungsfähig, ist er (VR) verpflichtet,<br />

Sanierungsmassnahmen zu ergreifen. … Der Verwaltungsrat ist also auch im<br />

Falle <strong>der</strong> Überschuldung verpflichtet, e<strong>in</strong>e sanierungsfähige Gesellschaft zu retten.<br />

Demnach kann sich <strong>der</strong> Verwaltungsrat im Falle <strong>der</strong> Sanierungsfähigkeit <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

nicht mittels Benachrichtigung des Richters aus <strong>der</strong> <strong>Verantwortung</strong> stehlen. E<strong>in</strong>e Bilanzdeposition<br />

aus Trotz ist damit pflichtwidrig, aber ebenso die voreilige Benachrichtigung<br />

aus Angst, namentlich wenn zu lange die Augen vor den Tatsachen verschlossen <strong>und</strong><br />

Krisenanzeichen beschönigt wurden <strong>und</strong> die Notwendigkeit, das Vorliegen e<strong>in</strong>er Krise<br />

nun doch e<strong>in</strong>zugestehen, e<strong>in</strong>e grosse Schockwirkung entfaltet»; forStmoSer, Richter,<br />

S. 276 ff. (286); garbarSki, S. 175 f.<br />

32


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

pflicht des Verwaltungsrates, die auch <strong>und</strong> gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziellen Krise <strong>der</strong><br />

Gesellschaft greift. 112<br />

Kommt es zur Überschuldungsanzeige <strong>und</strong> zum Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft, steigt<br />

die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong>er Verantwortlichkeitsklage. 113 In e<strong>in</strong>em Verantwortlichkeitsprozess<br />

könnte es sich für die Verwaltungsräte sowohl unter dem Kriterium<br />

<strong>der</strong> Pflichtverletzung als auch des Verschuldens 114 als problematisch erweisen,<br />

sofern sie ke<strong>in</strong>e Unterlagen vorlegen können, welche <strong>in</strong>tensive Bemühungen<br />

zur Rettung <strong>der</strong> Gesellschaft belegen, um die (schliesslich gescheiterte)<br />

Sanierung zu bewerkstelligen <strong>und</strong> die (tatsächlich erfolgte) Bilanzdeponierung<br />

abzuwenden. Die Überschuldungsanzeige stellt im Lebenszyklus e<strong>in</strong>er Gesellschaft<br />

e<strong>in</strong>en tragischen Schritt dar, <strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>em «<strong>in</strong>formed judgement» des<br />

Verwaltungsrates basieren sollte, wozu es e<strong>in</strong>er entsprechenden Dokumentation<br />

bedarf. Dieses Erfor<strong>der</strong>nis leitet sich gr<strong>und</strong>sätzlich aus <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en<br />

Lebenserfahrung ab, dass sich die Verwaltungsräte die tatsächliche f<strong>in</strong>anzielle<br />

Lage <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>und</strong> die verbleibenden Handlungsoptionen wohl nur<br />

gestützt auf e<strong>in</strong>e schriftliche o<strong>der</strong> sonst durch Text nachweisbare Dokumentation<br />

ausreichend vergegenwärtigen können.<br />

E. Der Richter als Manager?<br />

Bestehen erhebliche Zweifel an den Erfolgsaussichten e<strong>in</strong>er Sanierung o<strong>der</strong> ist<br />

diese für die Gläubiger mit e<strong>in</strong>em erhöhten Risiko verb<strong>und</strong>en, hat <strong>der</strong> Verwaltungsrat<br />

nach <strong>der</strong> Rechtsprechung gemäss Art. 725 OR den Richter zu benachrichtigen<br />

«<strong>und</strong> ihm den Entscheid über die Fortführung zu überlassen.» 115 Diese Formulierung<br />

kann Missverständnisse erzeugen. Wenngleich das B<strong>und</strong>esgericht die<br />

Vorschriften über das Vorgehen <strong>und</strong> die Obliegenheiten <strong>der</strong> Organe sowie des<br />

Richters bei Kapitalverlust <strong>und</strong> Überschuldung e<strong>in</strong>er Gesellschaft als e<strong>in</strong> aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

abgestimmtes Ganzes auffasst, woraus sich nach Auffassung des B<strong>und</strong>esgerichts<br />

ableitet, dass <strong>der</strong> Konkursrichter gegenüber <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>und</strong><br />

den Gläubigern <strong>in</strong> ähnlichem Umfang <strong>Verantwortung</strong> übernimmt wie die<br />

Gesellschaftsorgane, 116 obliegt es nicht dem Richter, die Sanierungschancen bei<br />

112 Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 OR i.V.m. Art. 725 <strong>und</strong> 725a OR.<br />

113 Dazu schon unter I.<br />

114 Vgl. Art. 759 Abs. 1 OR.<br />

115 B<strong>und</strong>esgericht 4C.366/2000 vom 19. Juni 2001, E. 4.b.<br />

116 BGE 127 III 379.<br />

33


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

e<strong>in</strong>er überschuldeten Gesellschaft zu beurteilen. Der Richter ist e<strong>in</strong> weitgehend<br />

durch die Vorarbeiten des Verwaltungsrates gesteuertes Wesen. Legt <strong>der</strong> Verwaltungsrat<br />

dem Richter im Rahmen von Art. 725a OR ke<strong>in</strong> ausgearbeitetes<br />

Sanierungskonzept vor, bleibt dem Richter unter praktischem Gesichtspunkt<br />

wohl nur die Konkurseröffnung. 117 Diese Auffassung leitet sich aus dem Wortlaut<br />

von Art. 725a Abs. 1 OR ab, wonach <strong>der</strong> Richter den Konkurs auf Antrag<br />

des Verwaltungsrates o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Gläubigers aufschieben kann, falls Aussicht auf<br />

Sanierung besteht. Zwar kann <strong>der</strong> Richter gemäss Art. 173a Abs. 2 SchKG den<br />

Entscheid über den Konkurs von Amtes wegen aussetzen, wenn Anhaltspunkte<br />

für das Zustandekommen e<strong>in</strong>es Nachlassvertrages bestehen. Allerd<strong>in</strong>gs ersche<strong>in</strong>t<br />

auch e<strong>in</strong> <strong>der</strong>artiger Aufschub ohne detailliertes, nachvollziehbares<br />

Dossier des Verwaltungsrates zur erfolgreichen Sanierung <strong>der</strong> Gesellschaft als<br />

wenig wahrsche<strong>in</strong>lich. Der Verwaltungsrat ist <strong>und</strong> bleibt <strong>der</strong> zentrale Treiber <strong>der</strong><br />

Sanierung.<br />

X. F<strong>in</strong>anzielle <strong>Führung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise – Aktienrechtsrevision<br />

A. Liquiditätsplan<br />

«Cash is k<strong>in</strong>g», auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Unternehmenskrise. Nach diesem Credo will <strong>der</strong><br />

B<strong>und</strong>esrat den Verwaltungsrat nach Art. 725a E-OR zur Erstellung e<strong>in</strong>es Liquiditätsplans<br />

verpflichten, sofern begründete Besorgnis <strong>der</strong> Zahlungsunfähigkeit<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft besteht. Der Liquiditätsplan soll die aktuelle Liquidität sowie<br />

die Zahlungse<strong>in</strong>gänge <strong>und</strong> Zahlungsausgänge <strong>der</strong> nächsten zwölf Monate enthalten.<br />

Der Verwaltungsrat muss den Liquiditätsplan durch e<strong>in</strong>en zugelassenen<br />

Revisor prüfen lassen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Revisor unterliegt <strong>der</strong> Anzeigepflicht <strong>der</strong> Revisionsstelle.<br />

Ist die Gesellschaft zahlungsunfähig, muss <strong>der</strong> Verwaltungsrat unverzüglich<br />

e<strong>in</strong>e Generalversammlung e<strong>in</strong>berufen <strong>und</strong> ihr Sanierungsmassnahmen<br />

beantragen (Art. 725a Abs. 3 E-OR). E<strong>in</strong>e Pflicht des Verwaltungsrates, im Falle<br />

<strong>der</strong> Zahlungsunfähigkeit <strong>der</strong> Gesellschaft den Richter zu benachrichtigen, besteht<br />

nicht. 118 Der Stän<strong>der</strong>at hat dieser Regelung im Juni 2009 nur mit Stichent-<br />

117 Vgl. zu den formellen <strong>und</strong> materiellen Voraussetzungen des Konkursaufschubes auch<br />

Ziltener, S. 192, wonach zum erfor<strong>der</strong>lichen Sanierungsplan auch e<strong>in</strong> Zeitplan gehört,<br />

<strong>in</strong> welchem dargelegt wird, bis wann die Überschuldung vollständig beseitigt werden<br />

kann.<br />

118 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1690.<br />

34


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

scheid des Präsidenten zugestimmt, wenngleich die Liquidität <strong>in</strong> vielen Sanierungsfällen<br />

e<strong>in</strong> zentrales Thema darstellt.<br />

B. Massgeschnei<strong>der</strong>te Sanierungsvoraussetzungen<br />

Mit Art. 725b E-OR soll im Zuge <strong>der</strong> Aktienrechtsrevision die Gr<strong>und</strong>lage für<br />

gesellschaftsspezifische statutarische Voraussetzungen zur E<strong>in</strong>berufung e<strong>in</strong>er<br />

Generalversammlung im H<strong>in</strong>blick auf Sanierungsmassnahmen geschaffen werden.<br />

Betroffen s<strong>in</strong>d lediglich Verschärfungen des Sanierungsregimes, nicht jedoch<br />

Erleichterungen. Beispielsweise könnte für den Verwaltungsrat die Pflicht<br />

zur Beantragung von Sanierungsmassnahmen bereits dann bestehen, wenn die<br />

Nettoaktiven e<strong>in</strong>en Viertel des Aktienkapitals <strong>und</strong> <strong>der</strong> Reserven nicht mehr<br />

decken. Es bestünde auch die Möglichkeit, statutarisch zusätzliche Parameter<br />

zu normieren. Nach se<strong>in</strong>er systematischen Stellung muss sich Art. 725b E-OR<br />

sowohl auf Aspekte des Kapitalverlusts (Art. 725 E-OR) als auch auf Liquiditätsaspekte<br />

(Art. 725a E-OR) beziehen. 119<br />

XI. IKS-«Defence» des Verwaltungsrates<br />

Gemäss den allgeme<strong>in</strong>en Vorgaben <strong>in</strong> Art. 716a Abs. 1 OR bildet e<strong>in</strong> funktionsfähiges<br />

<strong>in</strong>ternes Kontrollsystem (IKS) e<strong>in</strong>e unübertragbare <strong>und</strong> unentziehbare<br />

Aufgabe des Verwaltungsrates. 120 Teilweise ist den Verwaltungsräten diese<br />

wichtige Organisationspflicht erst aufgr<strong>und</strong> des revidierten Revisionsrechts 121<br />

richtig bewusst geworden. Bei <strong>der</strong> ordentlichen Revision hat die Revisionsstelle<br />

gemäss Art. 728a Abs. 1 Ziff. 3 OR die Existenz e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>ternen Kontrollsystems<br />

zu prüfen. Die Treuhand-Kammer hat das Vorgehen des Revisors im Schweizer<br />

Prüfungsstandard (PS) 890 konkretisiert. Damit wird das Verhalten des Verwaltungsrates<br />

bei <strong>der</strong> Erstellung <strong>und</strong> fortlaufenden Überprüfung des <strong>in</strong>ternen<br />

Kontrollsystems nun auch <strong>in</strong>direkt über das Revisionsrecht reguliert.<br />

119 bühler, S. 21 f., schlägt <strong>in</strong> Ergänzung zum b<strong>und</strong>esrätlichen Gesetzesentwurf vor, dass<br />

den Gesellschaften ausdrücklich ermöglicht werden sollte, <strong>in</strong> den Statuten weitere<br />

Kennzahlen vorzusehen.<br />

120 Vgl. peyer, S. 87 ff.<br />

121 In Kraft getreten am 1. Januar 2008.<br />

35


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

E<strong>in</strong> adäquates Kontrollklima stellt zweifellos e<strong>in</strong>e grosse Chance zur Verm<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

von Haftungsrisiken für die Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Geschäftsleitung dar. Gemäss Art. 754 Abs. 2 OR haftet <strong>der</strong> Delegierende für<br />

das Fehlverhalten e<strong>in</strong>es Delegierten nicht, sofern er nachzuweisen vermag, dass<br />

er bei <strong>der</strong> Auswahl, Unterrichtung <strong>und</strong> Überwachung die nach den Umständen<br />

gebotene Sorgfalt angewendet hat. E<strong>in</strong> adäquates IKS bildet den zentralen<br />

Bauste<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es angemessenen Überwachungsapparates. Wahrsche<strong>in</strong>lich lässt<br />

sich letztlich je<strong>der</strong> Schaden auf e<strong>in</strong>e Schwäche im unternehmens<strong>in</strong>ternen Kontrollsystem<br />

zurückführen. Da die Revisoren bei den volkswirtschaftlich bedeutsameren<br />

Gesellschaften zur Prüfung <strong>der</strong> Existenz e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>ternen Kontrollsystems<br />

gehalten s<strong>in</strong>d, könnten die Verwaltungsräte <strong>der</strong> Versuchung unterliegen,<br />

sich im Verantwortlichkeitsprozess aus mangelhafter Geschäftsführung mit<br />

Verweis auf e<strong>in</strong> Fehlverhalten <strong>der</strong> Revisionsstelle unter Art. 728a Abs. 1 Ziff. 3<br />

OR zu verteidigen. Diesem Vorgehen dürfte allerd<strong>in</strong>gs kaum Erfolg beschieden<br />

se<strong>in</strong>, da – als Ausfluss des aktienrechtlichen Paritätspr<strong>in</strong>zips – die verschiedenen<br />

Gesellschaftsorgane – Verwaltungsrat e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> Revisionsstelle an<strong>der</strong>erseits<br />

– die vom Gesetz normierten Pflichten selbstständig erfüllen müssen <strong>und</strong><br />

sich im Rahmen ihres eigenen Aufgabenbereiches gr<strong>und</strong>sätzlich nicht auf e<strong>in</strong><br />

Fehlverhalten e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en Organes berufen können. 122 Mit an<strong>der</strong>en Worten,<br />

e<strong>in</strong>er Verteidigung <strong>der</strong> Verwaltungsräte unter Art. 754 OR aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> vorbehaltlosen<br />

Berichterstattung zum unternehmens<strong>in</strong>ternen Kontrollsystem durch<br />

die Revisionsstelle 123 dürfte kaum Erfolg beschieden se<strong>in</strong>.<br />

XII. «Deep pockets» <strong>der</strong> Revisoren <strong>und</strong> Griff <strong>in</strong> die<br />

Taschen von Verwaltungsräten <strong>und</strong> Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong>n<br />

A. Streitverkündungsklage<br />

Im Kontext <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit ist augensche<strong>in</strong>lich geworden,<br />

dass die Mitglie<strong>der</strong> des Verwaltungsrates <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung, welche<br />

an <strong>der</strong> Entstehung des Schadens <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel die Hauptverantwortung tragen,<br />

mangels ausreichenden Haftungssubstrates o<strong>der</strong> aus sonstigen Gründen oft-<br />

122 B<strong>und</strong>esgericht 4A_65/2008 vom 3. August 2009, E. 8.3, zur Haftung <strong>der</strong> Revisionsstelle<br />

e<strong>in</strong>er Bank, wenn auch unter vertragsrechtlichen Gr<strong>und</strong>sätzen.<br />

123 Vgl. Art. 728b OR.<br />

36


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

mals für e<strong>in</strong>en zu ger<strong>in</strong>gen Anteil des Schadens haften. In diesen Fällen f<strong>in</strong>det<br />

die Schadensregelung <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e mit den Revisoren statt <strong>und</strong> richtet sich<br />

weniger nach dem Verursacherpr<strong>in</strong>zip als vielmehr nach <strong>der</strong> Solvenz, was als<br />

stossend ersche<strong>in</strong>t. Im H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>e Schadensregelung nach dem Verursacherpr<strong>in</strong>zip<br />

kommt Bestrebungen für e<strong>in</strong> Gesamtverfahren grosse Bedeutung zu.<br />

E<strong>in</strong> erster Schritt <strong>in</strong> diese Richtung erfolgte mit Art. 759 Abs. 2 OR bereits im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Aktienrechtsrevision von 1991. Nach dieser Bestimmung kann <strong>der</strong><br />

Kläger mehrere Beteiligte geme<strong>in</strong>sam für den Gesamtschaden e<strong>in</strong>klagen <strong>und</strong><br />

verlangen, dass <strong>der</strong> Richter im gleichen Verfahren die Ersatzpflicht jedes e<strong>in</strong>zelnen<br />

Beklagten festsetzt. Mit <strong>der</strong> Streitverkündungsklage <strong>der</strong> Schweizerischen<br />

Zivilprozessordnung (ZPO) 124 – Art. 81 <strong>und</strong> Art. 82 ZPO – wird dieses Recht auf<br />

den Gesamtprozess auch dem Beklagten gewährt. 125 Zum Beispiel kann die<br />

Revisionsstelle als e<strong>in</strong>zige Beklagte des Hauptprozesses e<strong>in</strong> vitales Interesse<br />

daran haben, die geschäftsführenden Organpersonen, welche die primären<br />

Ursachen <strong>der</strong> Schadensentstehung gesetzt haben, <strong>in</strong> die gerichtliche Beurteilung<br />

e<strong>in</strong>zubeziehen. Ähnlich kann es sich bei e<strong>in</strong>er vermögenden Verwaltungsrät<strong>in</strong><br />

verhalten, welche <strong>in</strong>folge des Hauptprozesses aus Bilanzmanipulation den<br />

Chief F<strong>in</strong>ancial Officer (CFO) <strong>der</strong> Gesellschaft mittels Streitverkündungsklage<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gesamtverfahren e<strong>in</strong>beziehen will. Die blosse Streitverkündung (Art. 78 ff.<br />

ZPO) greift <strong>in</strong> diesen Fällen zu kurz.<br />

Die streitverkündende Partei kann ihre Ansprüche, die sie im Falle des Unterliegens<br />

gegen die streitberufene Person zu haben glaubt, beim Gericht, das mit<br />

<strong>der</strong> Hauptklage befasst ist, geltend machen (Art. 81 Abs. 1 ZPO; Art. 16 ZPO).<br />

Der Streitverkündungsbeklagte wird nach Art. 81/82 ZPO zur Partei des Ver- Verfahrens.<br />

Diese Stellung rechtfertigt sich aufgr<strong>und</strong> des Sachzusammenhangs <strong>der</strong><br />

Streitverkündungsklage mit dem Hauptprozess, welcher im Rahmen <strong>der</strong> differenzierten<br />

Solidarität126 mehrerer Schadensverursacher gegeben ist. Die Botschaft<br />

zur ZPO streicht den Vorteil e<strong>in</strong>es solchen «Gesamtverfahrens» heraus,<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Prozesseffizienz gesehen wird, da sich das bereits mit <strong>der</strong> Hauptsache<br />

befasste Gericht auch unmittelbar mit dem Folgeprozess beschäftigt. Infolge<br />

<strong>der</strong> Aktenkenntnis des Gerichts werden Synergien genutzt, sodass sich dadurch<br />

124 Die Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) datiert vom 19. Dezember 2008 <strong>und</strong><br />

ist am 1. Januar 2011 <strong>in</strong> Kraft getreten.<br />

125 Vgl. zum Ganzen den Beitrag von urS bertSch<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> <strong>der</strong> Festschrift für Ivo Schwan<strong>der</strong>,<br />

2011.<br />

126 Art. 759 Abs. 1 OR.<br />

37


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

<strong>in</strong>sgesamt «e<strong>in</strong>e namhafte Kosten- <strong>und</strong> Ressourcenersparnis für die Parteien<br />

<strong>und</strong> das Gericht ergeben» kann. 127<br />

Dass die Streitverkündungsklage e<strong>in</strong>e ausgewogene Beurteilung <strong>der</strong> aktienrechtlichen<br />

Verantwortlichkeit begünstigt, zeigt e<strong>in</strong> Urteil des B<strong>und</strong>esgerichts<br />

aus dem Jahre 1996. Vor e<strong>in</strong>em Genfer Gericht wurde zunächst ausschliesslich<br />

die Revisionsstelle e<strong>in</strong>geklagt. In <strong>der</strong> Folge hat die Revisionsstelle gegen zwei<br />

Verwaltungsräte sowie die Buchhalter<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft Streitverkündungsklage<br />

(appels en cause) erhoben. 128 Im konkreten Fall resultierte e<strong>in</strong>e Schadenstragung<br />

von e<strong>in</strong>em Viertel durch die Revisionsstelle <strong>und</strong> drei Viertel durch die<br />

geschäftsführenden Personen, 129 was im betreffenden Fall dem angemessenen<br />

Verhältnis von <strong>Führung</strong> <strong>und</strong> Kontrolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft entsprach. Die<br />

Rechtsprechung im Zusammenhang mit den e<strong>in</strong>stigen kantonalrechtlichen<br />

Streitverkündungsklagen (appels en cause) 130 veranschaulicht, dass aufgr<strong>und</strong><br />

dieser Klage(n) beim Gericht e<strong>in</strong>e Aktenlage geschaffen werden kann, welche<br />

e<strong>in</strong>e umfassende Beurteilung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Schadensbeiträge ermöglicht.<br />

Die Streitverkündungsklage soll – im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Corporate Governance – gewährleisten,<br />

dass die Schadensregelung <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit<br />

unter E<strong>in</strong>bezug <strong>der</strong> wesentlichen Schadensverursacher erfolgt. Der<br />

B<strong>und</strong>esgesetzgeber trägt mit dieser Regelung zur Verwirklichung des Verursacherpr<strong>in</strong>zips<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit bei. E<strong>in</strong> Beklagter des<br />

Hauptprozesses soll <strong>in</strong> Streitigkeiten aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit<br />

das Gericht dazu bewegen können, erst zur Entscheidung zu kommen, wenn es<br />

dessen Aktenkenntnis über die e<strong>in</strong>zelnen Aspekte <strong>der</strong> Schadensverursachung<br />

127 Botschaft ZPO, S. 7284; B<strong>und</strong>esgericht 4A_431/2009 vom 18. November 2009,<br />

E. 2.3.<br />

128 B<strong>und</strong>esgericht 4C.506/1996 vom 3. März 1998, faits B.<br />

129 B<strong>und</strong>esgericht 4C.506/1996 vom 3. März 1998, E. 9: «La cour cantonale a évalué à<br />

trois quarts – un quart la mesure dans laquelle le dommage à réparer pouvait être imputé,<br />

respectivement, à la lésée et à la défen<strong>der</strong>esse. Elle a considéré, à juste titre, que les circons- circonstances<br />

imputables à la deman<strong>der</strong>esse – agissements de l’aide-comptable et négligence des adm<strong>in</strong>istrateurs<br />

– avaient contribué de manière nettement prépondérante à la survenance de<br />

ce dommage, quand bien même les omissions de la défen<strong>der</strong>esse n’y étaient pas étrangères.<br />

Quant à la proportion retenue dans l’arrêt attaqué, elle repose essentiellement sur le pouvoir<br />

d’appréciation du juge du fait, auquel la juridiction fédérale de réforme n’a pas à substituer<br />

le sien propre lorsque, comme c’est ici le cas, l’autorité cantonale n’a pas laissé de côté des circonstances<br />

pert<strong>in</strong>entes pour l’application du droit et ne s’est pas non plus fondée sur des faits<br />

qu’elle n’avait pas à prendre en considération sous cet angle.»<br />

130 In den kantonalen Zivilprozessordnungen war die Streitverkündungsklage (appel en<br />

cause) nur vere<strong>in</strong>zelt verankert, nämlich <strong>in</strong> den Kantonen Genf, Waadt <strong>und</strong> Wallis.<br />

38


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

durch die verschiedenen <strong>in</strong>volvierten Akteure erlaubt. 131 Damit ermöglicht das<br />

Prozessrecht, das System <strong>der</strong> Aktiengesellschaft abzubilden <strong>und</strong> knüpft an die<br />

Corporate Governance-Diskussion an, <strong>in</strong> welcher das Zusammenspiel <strong>der</strong> verschiedenen<br />

Organpersonen e<strong>in</strong>en zentralen Stellenwert e<strong>in</strong>nimmt. Die isolierte<br />

Beurteilung e<strong>in</strong>zelner Schadensverursacher im Prozess steht im krassen Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zu den Strukturen <strong>der</strong> Aktiengesellschaft, die auf e<strong>in</strong> Zusammenwirken<br />

<strong>der</strong> verschiedenen Organpersonen ausgelegt s<strong>in</strong>d. Die Streitverkündungsklage<br />

ist deshalb e<strong>in</strong>e logische Antwort des Prozessrechts auf den gestiegenen Reifegrad<br />

<strong>der</strong> Corporate Governance-Diskussion <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz.<br />

Die Zulassung <strong>der</strong> Streitverkündungsklage ist mit <strong>der</strong> Klageantwort (o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Replik im Hauptprozess) zu beantragen. Die Rechtsbegehren, welche die streitverkündende<br />

Partei gegen die streitberufene Person zu stellen gedenkt, s<strong>in</strong>d zu<br />

nennen <strong>und</strong> kurz zu begründen (Art. 82 Abs. 1 ZPO). Gemäss Art. 82 Abs. 2<br />

ZPO gibt das Gericht <strong>der</strong> Gegenpartei des Hauptprozesses <strong>und</strong> <strong>der</strong> streitberufenen<br />

Person Gelegenheit zur Stellungnahme. Im Rahmen dieses Zulassungsverfahrens<br />

können Verwaltungsräte, welche zum Beispiel durch die Revisionsstelle<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gesamtverfahren aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit gezogen<br />

werden sollen, ihre Argument vorbr<strong>in</strong>gen, welche die Ablehnung <strong>der</strong> Streitverkündungsklagen<br />

rechtfertigen. Da das Zulassungsverfahren ke<strong>in</strong> summarisches<br />

Vorprüfungsverfahren ist, dürfte e<strong>in</strong>er Argumentation <strong>der</strong> Verwaltungsräte, welche<br />

die Zulassung <strong>der</strong> Streitverkündungsklagen abwenden will, lediglich <strong>in</strong><br />

Ausnahmefällen Erfolg beschieden se<strong>in</strong>. Die Stellungnahmen <strong>der</strong> Gegenpartei<br />

des Hauptprozesses sowie <strong>der</strong> streitberufenen Partei gemäss Art. 82 Abs. 2 ZPO<br />

dienen nicht e<strong>in</strong>er vertiefenden, materiellen Plausibilitätsprüfung <strong>der</strong> potentiellen<br />

Ansprüche des Streitverkündungsklägers. Es ist deshalb ausreichend, wenn<br />

e<strong>in</strong> nachvollziehbares Interesse an <strong>der</strong> Streitverkündungsklage im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es<br />

potentiellen Regress<strong>in</strong>teresses gegenüber dem Streitverkündungsbeklagten<br />

aufgezeigt werden kann. 132 Das B<strong>und</strong>esgericht hat auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage e<strong>in</strong>er<br />

kantonalen Prozessbestimmung schon von <strong>der</strong> «vraisemblance suffisante» ge-<br />

131 Botschaft ZPO, S. 7284.<br />

132 morf, Art. 82 ZPO, N 6.<br />

39


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

sprochen 133 <strong>und</strong> sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e summarische Begründung genügen zu lassen. 134<br />

Die spezifischen Nachweise s<strong>in</strong>d erst Gegenstand des Schriftenwechsels, wie er<br />

vom Gericht nach Art. 82 Abs. 3 ZPO angeordnet wird. 135 An e<strong>in</strong>er «genügenden<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit» zur Zulassung e<strong>in</strong>er Streitverkündungsklage könnte es<br />

zum Beispiel fehlen, wenn <strong>der</strong> Streitverkündungsbeklagte – etwa die Konzernmuttergesellschaft<br />

im Verantwortlichkeitsprozess gegen Organpersonen <strong>der</strong><br />

Tochtergesellschaft 136 – nur diffus als faktisches Organ <strong>der</strong> Tochtergesellschaft<br />

dargestellt wird <strong>und</strong> gleichwohl für e<strong>in</strong>en Teilschaden zur <strong>Verantwortung</strong> gezogen<br />

werden soll. 137 Wenngleich die faktische Organschaft als Haftungskonzept<br />

133 In diesem S<strong>in</strong>ne auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage von Art. 104 Abs. 1 <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>stigen) Genfer<br />

Zivilprozessordnung (Une partie peut appeler un tiers en cause si elle a un <strong>in</strong>térêt<br />

direct à contra<strong>in</strong>dre un tiers à <strong>in</strong>tervenir au procès: (a) soit qu’elle puisse faire valoir<br />

contre lui, si elle succombe, une prétention récursoire ou en dommages-<strong>in</strong>térêts; (b)<br />

soit qu’elle entende lui opposer le jugement; (c) soit enf<strong>in</strong> qu’elle fasse valoir contre<br />

lui des prétentions connexes à celles qui sont en cause) B<strong>und</strong>esgericht 4A_462/2010<br />

vom 17. November 2010, E. 2.2: «Pour que l’appel soit recevable à la forme, il suffit<br />

dès lors que les prétentions de l’appelant soit alléguées avec une vraisemblance<br />

suffisante. Autrement dit, le juge de l’<strong>in</strong>cident ne doit pas préjuger le droit litigieux<br />

(en l’occurrence, les prétentions de l’<strong>in</strong>timé contre la recourante), mais se satisfaire<br />

d’une vraisemblance»; B<strong>und</strong>esgericht 4P.116/2006 vom 6. Juli 2006, E. 3.4.2: «Il ne<br />

s’agissait donc pas de se prononcer sur le bienfondé matériel des prétentions à la base<br />

de l’action, mais il fallait seulement se deman<strong>der</strong> si les motifs <strong>in</strong>voqués par l’organe<br />

de contrôle étaient suffisamment pert<strong>in</strong>ents pour justifier la recevabilité des appels<br />

en cause»; wohl strenger hahn, Art. 82 ZPO, N 5, wonach <strong>der</strong> Streitberufene geltend<br />

machen könne, <strong>der</strong> Streitverkündungskläger habe die Ansprüche «nicht glaubhaft<br />

gemacht».<br />

134 B<strong>und</strong>esgericht 4D_81/2007 vom 17. März 2008, E. 3.4 (nicht publiziert <strong>in</strong> BGE 134<br />

III 379), wonach die Streitverkündungsklage durch im Hauptprozess beklagte Verwaltungsräte<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft gegen e<strong>in</strong>en weiteren Verwaltungsrat nach Auffassung<br />

des B<strong>und</strong>esgerichts durch die Vor<strong>in</strong>stanz zu Unrecht abgelehnt wurde, obwohl die<br />

Beschwerdeführer etwas unspezifisch begründet hatten. Die kantonale Instanz hatte<br />

den Beschwerdeführern h<strong>in</strong>gegen noch vorgeworfen, sie hätten ke<strong>in</strong>e «motifs spécifiques»<br />

zur Begründung des «appel en cause» vorgetragen.<br />

135 Botschaft ZPO, S. 7285 (Hervorhebung durch den Verfasser): «Erst nach Abschluss<br />

des Zulassungsverfahrens ist e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>lässliche Klageschrift e<strong>in</strong>zureichen»; vgl. auch frei,<br />

Art. 82 ZPO, N 8.<br />

136 Vgl. dazu auch unter V.<br />

137 Vgl. Chambre de recours, Waadt, JdT 2002 III S. 151 ff., wo <strong>der</strong> Streitverkündungskläger<br />

e<strong>in</strong>e Drittgesellschaft als faktisches Organ auffasste, aber die Verwaltungsräte<br />

<strong>der</strong> Drittgesellschaft <strong>in</strong>s Recht fassen wollte, sodass das Gericht e<strong>in</strong>e Solidarität (als<br />

Gr<strong>und</strong>lage e<strong>in</strong>es Regressverhältnisses) zwischen den Organpersonen <strong>der</strong> konkursiten<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> den Organpersonen <strong>der</strong> Drittgesellschaft unter Art. 759 OR<br />

verne<strong>in</strong>te. Zur faktischen Organschaft <strong>der</strong> Drittgesellschaft hielt das Gericht fest:<br />

«même s’il ressort des procès verbaux du Conseil d’adm<strong>in</strong>istration de cette société<br />

40


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit längst e<strong>in</strong>geschliffen ist, bleiben die<br />

Konturen im E<strong>in</strong>zelfall oftmals etwas unscharf, was unter Umständen gegen die<br />

Zulassung e<strong>in</strong>er Streitverkündungsklage sprechen kann, mit welcher faktische<br />

Organpersonen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gesamtverfahren erfasst werden sollen. 138<br />

Indem Art. 81 Abs. 2 ZPO den Kettenappell untersagt, hat <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esgesetzgeber<br />

e<strong>in</strong>e feste Schranke gegen das umfassende Gesamtverfahren errichtet; e<strong>in</strong>e<br />

streitberufene Person kann deshalb ke<strong>in</strong>e weitere Streitverkündungsklage erheben.<br />

In <strong>der</strong> Vernehmlassung wurde diese Regelung noch kritisiert. 139 Zudem<br />

enthält Art. 82 Abs. 3 ZPO e<strong>in</strong>en Vorbehalt zu Gunsten von Art. 125 ZPO.<br />

Danach steht den Gerichten die Möglichkeit offen, geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>gereichte<br />

Klagen zu trennen, was dem Gesamtprozess <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktienrechtlichen Verantwortlichkeit<br />

abträglich se<strong>in</strong> könnte, wenngleich Haupt- <strong>und</strong> Streitverkündungsklage<br />

am selben Gericht anhängig bleiben. 140<br />

Streitverkündungsklagen führen zu e<strong>in</strong>er Ausweitung des Prozessstoffes, weshalb<br />

sie auch zur Verfahrensverschleppung missbraucht werden können. Jede<br />

Partei muss sich im Prozess nach Treu <strong>und</strong> Glauben verhalten (Art. 2 ZGB; Art. 52<br />

ZPO). Streitverkündungsklagen, welche offensichtlich lediglich <strong>der</strong> Prozessverschleppung<br />

dienen, müssen schon im Zulassungsverfahren 141 scheitern. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

ist die mit den Streitverkündungsklagen zwangsläufig verb<strong>und</strong>ene erhöh-<br />

(Drittgesellschaft) qu’elle a discuté les résultats et les perspectives de Terraz SA<br />

(konkursite Gesellschaft) et pris certa<strong>in</strong>es décisions dans cette optique, il s’agit plus<br />

vraisemblablement d’actes relevant de ses prérogatives d’actionnaire majoritaire que<br />

d’actes de gestion proprement dits».<br />

138 Vgl. allgeme<strong>in</strong> leuenberger/uffer-tobler, S. 101, wonach die Zulassung <strong>der</strong> Streitverkündungsklage<br />

zu verweigern sei, wenn Regressansprüche des Streitverkündungsklägers<br />

gegen die streitberufene Partei im Falle des Unterliegens im Hauptprozess «offensichtlich<br />

nicht gegeben s<strong>in</strong>d».<br />

139 Vgl. Vernehmlassung des Freiburger Anwaltsverbandes (OAFIR), <strong>in</strong>: Zusammenstellung<br />

<strong>der</strong> Vernehmlassungen, Vorentwurf für e<strong>in</strong> B<strong>und</strong>esgesetz über die Schweizerische<br />

Zivilprozessordnung, 2004, S. 220: «Des appels en cause en chaîne doivent pouvoir être<br />

admis si le lien de connexité est donné (par example, action en responsabilité contre un organe<br />

de révision, lequel appelle en cause l’adm<strong>in</strong>istrateur, lequel devrait pouvoir aussi appeler en<br />

cause un directeur»).<br />

140 Vgl. frei, Art. 82 ZPO, N 27, mit dem H<strong>in</strong>weis, dass die Vorteile e<strong>in</strong>er Streitverkündungsklage<br />

auch bei e<strong>in</strong>er Trennung <strong>der</strong> Verfahren nicht ganz verloren gehen, da beide<br />

Streitsachen (Haupt- <strong>und</strong> Streitverkündungsprozess) bei demselben Gericht hängig<br />

bleiben.<br />

141 Vgl. Art. 82 ZPO.<br />

41


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

te Komplexität des Verfahrens sorgfältig von dilatorischem bzw. rechtsmissbräuchlichem<br />

Verhalten des Streitverkündungsklägers abzugrenzen. 142<br />

Verwaltungsräte <strong>und</strong> Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong> können aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Streitverkündungsklage<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gesamtverfahren aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit<br />

verwickelt werden, <strong>in</strong> welchem vor e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Gericht e<strong>in</strong>e «Gesamtabrechnung»<br />

über den verursachten Schaden stattf<strong>in</strong>det. Da für die<br />

Streitverkündungsklage das Gericht des Hauptprozesses zuständig ist, 143 gehen<br />

die von e<strong>in</strong>er Streitverkündungsklage betroffenen Organpersonen ihres Wohnsitzgerichtsstandes<br />

verlustig, 144 was sich dadurch rechtfertigt, dass mit dem<br />

Gesamtverfahren die Governance <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

um die aktienrechtliche Verantwortlichkeit reflektiert werden<br />

soll. Insgesamt dürften sich die Prozessrisiken für die Verwaltungsräte <strong>und</strong> Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong><br />

aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> verfahrensrechtlichen Vere<strong>in</strong>fachungen,<br />

welche mit <strong>der</strong> Streitverkündungsklage verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d, 145 tendenziell erhöhen.<br />

B. Neuordnung <strong>der</strong> Revisionshaftung<br />

Seit langem beklagen die Revisoren, dass sie für Managementfehler e<strong>in</strong>stehen<br />

müssen <strong>und</strong> im Konkurs <strong>der</strong> Gesellschaft tendenziell e<strong>in</strong>en zu hohen Teil des<br />

Gesamtschadens tragen. Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> «deep pocket policy» vieler Kläger, welche<br />

bei <strong>der</strong> alle<strong>in</strong> solventen Revisionsstelle ihren Schaden liquidieren wollen, ist<br />

seit e<strong>in</strong>igen Jahren e<strong>in</strong>e rechtspolitische Diskussion um die Haftung des Abschlussprüfers<br />

im Gange. 146 In <strong>der</strong> laufenden Aktienrechtsrevision soll die Haftungssituation<br />

<strong>der</strong> Revisoren im Rahmen von Art. 759 OR auf e<strong>in</strong> vernünftiges Mass<br />

zurückgeführt werden; Art. 755 Abs. 1 OR bleibt h<strong>in</strong>gegen unverän<strong>der</strong>t. Das<br />

Haftungsrisiko <strong>der</strong> Revisoren liegt – trotz Unabhängigkeitsvorschriften (Art.<br />

728 OR <strong>und</strong> Art. 729 OR) – <strong>in</strong> <strong>der</strong> unvermeidbaren «Nähe» ihres Wirkens zu<br />

142 Vgl. BGE 132 I 13, wo <strong>der</strong> «appel en cause» über 50 Personen betraf, weshalb das BGer<br />

erkannte: «la complication excessive du procès suffit à justifier le rejet des appels en<br />

cause». Dabei konnte sich das Gericht allerd<strong>in</strong>gs auf Art. 104 Abs. 2 <strong>der</strong> Genfer ZPO<br />

stützen («S’il en résulte une complication excessive du procès, le juge peut refuser<br />

l’appel en cause»), hielt aber auch fest, dass die zahlreichen Streitverkündungsklagen<br />

«en réalité qu’un but dilatoire» hatten (E. 5.3).<br />

143 Art. 16 ZPO.<br />

144 Vgl. auch Art. 40 ZPO.<br />

145 Vgl. den zweiten Abschnitt von XII.A.<br />

146 Vgl. bertSch<strong>in</strong>ger, Revisionsstelle, S. 598 ff. mit e<strong>in</strong>er Übersicht zu e<strong>in</strong>igen Lösungsan-<br />

42<br />

sätzen.


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

den Fehlleistungen des Managements. Deshalb soll <strong>der</strong> subsidiären Stellung <strong>der</strong><br />

Revisoren Rechnung getragen <strong>und</strong> vermieden werden, dass die Revisionsstelle<br />

im Rahmen <strong>der</strong> differenzierten Solidarität (Art. 759 Abs. 1 OR) auch bei e<strong>in</strong>em<br />

sehr kle<strong>in</strong>en eigenen Verschulden letztlich voll für das Verschulden des Verwaltungsrates<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung aufkommen muss. 147 Zwar hat das B<strong>und</strong>esB<strong>und</strong>esgericht die Revisionsstelle bereits als Sek<strong>und</strong>ärorgan bezeichnet; 148 <strong>in</strong> n <strong>der</strong> Insolvenz<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft ersche<strong>in</strong>en die Revisoren dann allerd<strong>in</strong>gs oftmals als primäres<br />

Haftungsorgan, was bereits unter dem Titel «Den Letzten beissen die<br />

H<strong>und</strong>e» thematisiert wurde. 149<br />

Die Revisoren haften für e<strong>in</strong>en Fortsetzungsschaden; <strong>der</strong> Schadenskeim liegt <strong>in</strong><br />

aller Regel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fehlerhaften Verhalten <strong>der</strong> geschäftsführenden Organpersonen.<br />

Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage hat <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrat <strong>in</strong> <strong>der</strong> laufenden Aktienrechtsrevision<br />

für die Haftung <strong>der</strong> Revisionsstelle mit Art. 759 Abs. 1bis E-OR (Fassung<br />

vom Dezember 2007) folgende Regelung vorgeschlagen: Personen, die <strong>der</strong> Revisionshaftung<br />

unterstehen <strong>und</strong> die e<strong>in</strong>en Schaden lediglich fahrlässig mitverursacht haben,<br />

haften bis zu dem Betrag, für den sie zufolge Rückgriffs aufkommen müssten.<br />

Gemäss Botschaft soll damit <strong>der</strong> sek<strong>und</strong>ären Stellung von Personen, die mit <strong>der</strong><br />

Revision betraut s<strong>in</strong>d, im Verhältnis zu den Geschäftsführungsorganen Rechnung<br />

getragen werden. 150 Es geht darum, die Revisionsstelle im Bereich des<br />

fahrlässigen Handelns aus <strong>der</strong> differenzierten Solidarität des Art. 759 Abs. 1 OR<br />

herauszulösen. Unter <strong>der</strong> Annahme, dass <strong>der</strong> Gesamtschaden gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

durch die Verwaltungsräte <strong>und</strong> die Geschäftsleitungsmitglie<strong>der</strong> zu tragen ist,<br />

soll die Revisionsstelle im Aussenverhältnis lediglich <strong>in</strong> dem Masse haften, <strong>in</strong><br />

dem Mitbeklagte des Hauptprozesses (Art. 759 Abs. 2 OR) o<strong>der</strong> Dritte gegen<br />

die Revisionsstelle Rückgriff nehmen könnten. Dieser Regressbetrag entspricht<br />

folglich dem Haftungsbetrag <strong>der</strong> Revisionsstelle im Aussenverhältnis. Der Gesetzesentwurf<br />

reflektiert damit die Corporate Governance <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft.<br />

Wie erwähnt, wird <strong>der</strong> Schaden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel primär durch die geschäftsführenden<br />

Organpersonen <strong>und</strong> lediglich subsidiär im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Fortsetzungsschadens<br />

durch die Revisionsstelle verursacht. Das Haftungsproblem <strong>der</strong> Revisionsstelle<br />

besteht dabei dar<strong>in</strong>, dass sie e<strong>in</strong> schadenstiftendes Verhalten<br />

geschäftsführen<strong>der</strong> Organpersonen nicht o<strong>der</strong> nicht rechtzeitig bemerkt.<br />

147 Vgl. Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1694 ff.<br />

148 B<strong>und</strong>esgericht 4C.118/2005 vom 8. August 2005, E. 4.3.<br />

149 forStmoSer, S. 483 ff.<br />

150 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1694 ff.<br />

43


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

Der Rückgriffsbetrag wird mit Bezug auf Personen, die nicht am Prozess gegen<br />

die Revisionsstelle beteiligt s<strong>in</strong>d, virtuell bestimmt. Die Revisionsstelle erhält im<br />

Hauptprozess Gelegenheit, Tatsachen vorzutragen, welche die Schadensverursachung<br />

durch Mitbeklagte o<strong>der</strong> Dritte belegen sollen <strong>und</strong> ihren eigenen Beitrag<br />

zur Schadenstiftung als ger<strong>in</strong>ger ersche<strong>in</strong>en lassen, als es vom Kläger im<br />

Hauptprozess dargetan wird. Soweit sich die Argumente <strong>der</strong> Revisionsstelle im<br />

Hauptprozess durch Mitbeklagte nicht verifizieren lassen, ermittelt <strong>der</strong> Richter<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em «virtuellen Regressprozess» den Haftungsbetrag <strong>der</strong> Revisionsstelle im<br />

Aussenverhältnis. Nach <strong>der</strong> Botschaft soll mit dieser Regelung vermieden werden,<br />

«dass die Revisionsstelle auch bei e<strong>in</strong>em sehr kle<strong>in</strong>en Verschulden letztlich voll für<br />

das Verschulden des Verwaltungsrats <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geschäftsleitung aufkommen muss». 151<br />

Damit will <strong>der</strong> Gesetzesentwurf den Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Proportionalität zwischen<br />

Verschulden <strong>und</strong> Haftung verwirklichen.<br />

Die praktische Handhabung <strong>der</strong> vorgeschlagenen Regelung dürfte nicht e<strong>in</strong>fach<br />

se<strong>in</strong>, doch s<strong>in</strong>d gewisse Entlastungen zu Gunsten <strong>der</strong> Revisionsstelle zu erwarten,<br />

da <strong>der</strong> Richter ihren Ausführungen über schadenstiftendes Verhalten von<br />

Mitbeklagten des Hauptprozesses o<strong>der</strong> Dritten mehr Gehör schenken darf. Die<br />

E<strong>in</strong>schätzungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur über die praktischen Auswirkungen von<br />

Art. 759 Abs. 1 bis E-OR bewegen sich zwischen e<strong>in</strong>er bloss «leichten Dämpfung<br />

<strong>der</strong> Revisionshaftung» 152 <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er «merklichen Verschärfung <strong>der</strong> Haftung auf<br />

<strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Verwaltungsräte». 153<br />

Handelt die Revisionsstelle absichtlich, bleibt es nach dem Gesetzesentwurf bei<br />

<strong>der</strong> differenzierten Solidarität von Art. 759 Abs. 1 OR. Der vom B<strong>und</strong>esrat<br />

vorgeschlagene Art. 759 Abs. 1 bis E-OR blieb im Rahmen <strong>der</strong> Aktienrechtsrevision<br />

bislang unbestritten, sodass e<strong>in</strong>stweilen davon auszugehen ist, dass er<br />

geltendes Recht wird. Allerd<strong>in</strong>gs lässt die vorgeschlagene Bestimmung wichtige<br />

Fragen offen. Unklar ist etwa <strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>liche Grad <strong>der</strong> richterlichen Überzeugung,<br />

ab welchem die Argumente <strong>der</strong> Revisionsstelle berücksichtigt werden<br />

dürfen. Hier muss blosses Glaubhaftmachen gr<strong>und</strong>sätzlich genügen, will man<br />

die Bestimmung nicht <strong>in</strong>s Leere laufen lassen. Der tatsächliche Regressprozess<br />

(Art. 759 Abs. 3 OR) bleibt allemal vorbehalten. 154<br />

151 Botschaft Aktienrechtsrevision, S. 1694 ff.(1696).<br />

152 druey/glanZmann, § 14, N 125.<br />

153 böckli, Verwaltungsräte, S. 10.<br />

154 Vgl. zum Ganzen böckli/bühler, S. 241 ff.; Watter/garbarSki, S. 244 ff.<br />

44


<strong>Führung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

Die Neuordnung <strong>der</strong> Revisionshaftung dürfte die Haftungsrisiken für die Verwaltungsräte<br />

tendenziell erhöhen, da die Revisionsstelle etwas aus <strong>der</strong> «Schussl<strong>in</strong>ie»<br />

genommen werden soll. Stattdessen erfährt die Schadensverursachung<br />

durch die geschäftsführenden Organpersonen e<strong>in</strong>e stärkere Betonung. Sie sollen<br />

für den Schaden haften, sofern sie ihn nicht zufolge (virtuellen) Rückgriffs<br />

auf die Revisionsstelle abwälzen können. Ist die Revisionsstelle Alle<strong>in</strong>beklagte<br />

des Hauptprozesses, kann sie über die Neuordnung <strong>der</strong> Revisionshaftung gemäss<br />

Art. 759 Abs. 1 bis E-OR h<strong>in</strong>aus mittels <strong>der</strong> Streitverkündungsklage <strong>der</strong><br />

Zivilprozessordnung 155 die fehlbaren Organpersonen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gesamtverfahren<br />

zw<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Gericht e<strong>in</strong>en möglichst umfangreichen<br />

Überblick über die Zusammenhänge <strong>der</strong> Schadensverursachung ermöglichen.<br />

In diesem Fall werden die Argumente <strong>der</strong> Revisionsstelle im Kontakt mit den<br />

Streitverkündungsbeklagten, zum Beispiel e<strong>in</strong>em Verwaltungsrat <strong>und</strong> dem<br />

CEO, dem kontradiktorischen Härtetest ausgesetzt, sodass das Gericht auf<br />

dieser Gr<strong>und</strong>lage die e<strong>in</strong>zelnen Haftungsquoten mehrerer Schadensverursacher<br />

festlegen kann.<br />

XIII. Ausblick – Diskussionskultur <strong>in</strong> den Leitungsgremien<br />

<strong>der</strong> Aktiengesellschaft<br />

Die erfolgreiche Zusammenarbeit <strong>in</strong> Verwaltungsrat <strong>und</strong> Geschäftsleitung erfor<strong>der</strong>t<br />

aufmerksames Zuhören genau so wie kritisches H<strong>in</strong>terfragen. Das<br />

B<strong>und</strong>esgericht hat dem Mitglied e<strong>in</strong>es Bank-Verwaltungsrates, <strong>der</strong> für die fehlerhafte<br />

Erteilung e<strong>in</strong>es Kredites anlässlich se<strong>in</strong>er ersten Teilnahme an e<strong>in</strong>er<br />

Sitzung des Verwaltungsrates haftbar wurde, mangelnde Courage vorgeworfen:<br />

«Die e<strong>in</strong>fache Frage, wie es um die Kreditfähigkeit <strong>und</strong> Kreditwürdigkeit des Schuldners<br />

bestellt sei bzw. ob <strong>und</strong> wie diese abgeklärt worden sei, hätte noch ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> rigoroses<br />

E<strong>in</strong>greifen des Neul<strong>in</strong>gs bedeutet. Gerade wenn er mit den <strong>in</strong>ternen Abläufen noch<br />

nicht vertraut war, hätte er diese elementare Frage aufwerfen müssen <strong>und</strong> wäre ihm<br />

dieses Verhalten auch nicht verargt worden.» 156<br />

Die Lektion des B<strong>und</strong>esgerichts ist unmissverständlich: e<strong>in</strong>e offene Diskussionskultur<br />

ist zw<strong>in</strong>gende Voraussetzung zum Selbstschutz <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> von Verwaltungsräten<br />

<strong>und</strong> Geschäftsleitungen. Oftmals ist das relevante Wissen <strong>in</strong> den<br />

155 Vgl. XII.A.<br />

156 B<strong>und</strong>esgericht 4C.201/2001 vom 19. Juni 2002, E. 2.1.2.<br />

45


Urs Bertsch<strong>in</strong>ger<br />

Organisationen ausreichend vorhanden, um Problemfälle <strong>und</strong> Unternehmenskrisen<br />

zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Die aktienrechtlichen Verhaltenspflichten <strong>der</strong> Organpersonen<br />

verlangen, diese Informationsquellen zu nutzen <strong>und</strong> auf dieser<br />

Gr<strong>und</strong>lage die brennenden Fragen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Führung</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft beherzt<br />

anzugehen.<br />

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BBl 18. März 2008, S. 1589 ff. (zit. Botschaft Aktienrechtsrevision).<br />

Botschaft zur Volks<strong>in</strong>itiative «gegen die Abzockerei» <strong>und</strong> zur Än<strong>der</strong>ung des Obligationenrechts<br />

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48

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