Die Krise der Demokratie in Chile - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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794 KOCH <strong>Chile</strong><br />
9 Zu den beliebig auslegbaren<br />
Enteignungsgründen<br />
gehörten Preisspekulation,<br />
Hamsterei und Produktionsausfall<br />
<strong>in</strong> Zeiten <strong>der</strong> Knappheit.<br />
10 <strong>Die</strong> Privatunternehmer<br />
leisteten vielmehr mitunter<br />
hartnäckigen Wi<strong>der</strong>stand.<br />
Von beson<strong>der</strong>er symbolischer<br />
Bedeutung war <strong>der</strong><br />
Fall <strong>der</strong> Compañía Manufacturera<br />
de Papeles y<br />
Cartones (Papelera), <strong>der</strong>en<br />
Präsident Allendes rechter<br />
Gegenspieler Jorge Alessandri<br />
war. <strong>Die</strong>ses Unternehmen<br />
war bei <strong>der</strong><br />
Papierherstellung quasi<br />
Monopolist und <strong>in</strong>sofern<br />
von strategischer Bedeutung<br />
für das Ersche<strong>in</strong>en<br />
regierungskritischer<br />
Zeitungen.<br />
angewandtes Gesetz von 1932, das die Verstaatlichung von Unternehmen<br />
<strong>in</strong> bestimmten Situationen erlaubte. 9 Dazu fand sich e<strong>in</strong> weiteres<br />
Gesetz aus den 40er Jahren, welches staatliche Intervention <strong>in</strong><br />
private Unternehmungen bei Arbeitskonflikten erlaubte. Nun waren<br />
Arbeitskämpfe <strong>in</strong> dieser Zeit die Regel und wurden nicht selten von<br />
Arbeitern <strong>in</strong>itiiert, die <strong>der</strong> Regierung nahe standen. Viele Unternehmer<br />
wurden auf diese Weise dazu gebracht, ihre Unternehmen an<br />
den Staat zu verkaufen. Als Konsequenz dieser Politik kontrollierte<br />
<strong>der</strong> Staat im September 1973 <strong>in</strong>sgesamt 507 Firmen, davon 259 per<br />
Intervention, d. h. ohne formellen Eigentumswechsel. Trotz dieser<br />
imposanten Bilanz kam es allerd<strong>in</strong>gs – an<strong>der</strong>s als im Bergbau, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Landwirtschaft und im Bankenwesen – nicht zu e<strong>in</strong>er vollständigen<br />
staatlichen Kontrolle des <strong>in</strong>dustriellen Sektors. 10<br />
Der Verstaatlichungs- und Nationalisierungskurs – welcher an <strong>der</strong><br />
Macht des Landadels, <strong>der</strong> ausländischen Konzerne, <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzoligarchie<br />
und, mit Abstrichen, <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Bourgeoisie rüttelte –<br />
wurde <strong>in</strong> unterschiedlichem Maße von <strong>der</strong> Bevölkerung unterstützt.<br />
Während die Verstaatlichung <strong>der</strong> Bergwerke auf nahezu ungeteilte<br />
Zustimmung stieß, for<strong>der</strong>ten die Enteignungen <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en Sektoren<br />
neben dem offenen Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Opposition die Skepsis<br />
auch wohlme<strong>in</strong>en<strong>der</strong> Bevölkerungsteile heraus. Das lag daran, daß<br />
es nur im Falle <strong>der</strong> Bergwerke zur Verabschiedung e<strong>in</strong>es neuen Gesetzes<br />
im Parlament kam, während <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en Sektoren entwe<strong>der</strong><br />
alte (und mitunter fast vergessene) Gesetze wie<strong>der</strong>belebt wurden,<br />
o<strong>der</strong> – im Falle des Bankensektors – <strong>der</strong> Staat ökonomisch<br />
aktiviert wurde, um als Große<strong>in</strong>käufer von Privatbesitz aufzutreten.<br />
Larra<strong>in</strong>/Meller (1990, S. 170) bezeichnen es zudem als ständigen<br />
wirtschaftlichen Unruhefaktor, daß eigentlich ke<strong>in</strong> Mensch so recht<br />
wußte, wer nun enteignet werden sollte und wer nicht. Das Beispiel<br />
<strong>der</strong> tomas und <strong>der</strong> mitunter willkürlichen Interventionen <strong>in</strong> <strong>in</strong>dustrielle<br />
Privatbetriebe weist auf die mangelnde Berechenbarkeit <strong>der</strong><br />
Regierung h<strong>in</strong> – und dies trug nicht gerade zur Verbreiterung ihrer<br />
gesellschaftlichen Basis bei.<br />
<strong>Die</strong> Wirtschaftspolitik <strong>der</strong> UP erzielte im ersten Jahr geradezu spektakuläre<br />
Resultate. Das Wachstum des BSP lag 1971 bei 8,0 Prozent<br />
und damit weit über den 3,6 Prozent des vorhergehenden Jahres.<br />
Spitzenwerte wiesen dabei <strong>der</strong> Industrie- und <strong>der</strong> Handelssektor auf,<br />
<strong>der</strong>en Wachstumsraten 13,6 bzw. 15,8 Prozent erreichten (alle Zahlen<br />
nach Larra<strong>in</strong>/Meller 1990). <strong>Die</strong> Inflation g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> diesem Zeitraum<br />
von 36,1 Prozent auf 22,1 Prozent zurück, und auch die<br />
Arbeitslosigkeit reduzierte sich deutlich von 8,3 auf 3,8 Prozent.<br />
Schließlich erhöhten sich die Reallöhne um 22,3 Prozent, wobei die<br />
niedrigen E<strong>in</strong>kommensgruppen überdurchschnittlich von den Lohnerhöhungen<br />
profitierten. Um diesen Boom zu ermöglichen, wurde<br />
e<strong>in</strong>e expansive Geldpolitik des Staates <strong>in</strong> Kauf genommen. Der Ankauf<br />
von Firmen, die Lohnerhöhungen, die Aufblähung des öffentlichen<br />
Haushaltes etc., all dies konnte nur um den Preis e<strong>in</strong>er<br />
Erhöhung des Haushaltsdefizits von 3,5 auf 9,8 Prozent des BIP<br />
(1970-71), e<strong>in</strong>er exorbitanten öffentlichen Neuverschuldung und des<br />
Aufbrauchens <strong>in</strong>ternationaler Reserven f<strong>in</strong>anziert werden. <strong>Die</strong> f<strong>in</strong>anzielle<br />
Misere des Staates wurde zudem durch e<strong>in</strong>e negative Handelsbilanz<br />
verschlimmert, die sich dem Preisverfall des Kupfers auf