13.05.2013 Aufrufe

Neues und Altes vom Antisemitismus in Europa. Eine Langzeitstudie ...

Neues und Altes vom Antisemitismus in Europa. Eine Langzeitstudie ...

Neues und Altes vom Antisemitismus in Europa. Eine Langzeitstudie ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Horst Helas<br />

Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

<strong>Neues</strong> <strong>und</strong> <strong>Altes</strong> <strong>vom</strong> <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> <strong>Europa</strong>.<br />

E<strong>in</strong>e <strong>Langzeitstudie</strong>.<br />

Erstes Diskussionsangebot, November 2004<br />

E<strong>in</strong>leitung<br />

Zur Begrifflichkeit<br />

- Was ist geme<strong>in</strong>t mit dem Begriff: „neuer“ <strong>Antisemitismus</strong>?<br />

- Def<strong>in</strong>itionen – Beispiele<br />

Zum <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> beiden deutschen Staaten bis 1989<br />

Zum <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> <strong>und</strong> <strong>in</strong> anderen Regionen heute<br />

- Zur OSZE-Konferenz zum <strong>Antisemitismus</strong>, Berl<strong>in</strong>, April 2004<br />

- Beispiel Frankreich<br />

- Beispiel Polen<br />

- Beispiel Lettland<br />

- Beispiel USA<br />

- Beispiel Nahost I: Israel<br />

- Beispiel Nahost II: Islamismus<br />

„Neuer“ <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> Deutschland heute<br />

- <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> der „Mitte der Gesellschaft“<br />

- <strong>Antisemitismus</strong> <strong>und</strong> Rechtsextremismus<br />

- Zu e<strong>in</strong>igen soziologischen Untersuchungen<br />

- <strong>Antisemitismus</strong> bei deutschen „L<strong>in</strong>ken“<br />

1


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

E<strong>in</strong>leitung<br />

In letzter Zeit sorgten <strong>in</strong>sbesondere von der OSZE <strong>in</strong> Auftrag gegebene Studien 1 über<br />

zunehmendes bzw. gleichbleibend hohes Niveau von <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> verschiedenen<br />

Ländern <strong>Europa</strong>s für Aufregung. Bis heute s<strong>in</strong>d die genauen Zahlen dieser Studien nicht frei<br />

zugänglich. Dennoch wird über ihren Wahrheitsgehalt heftig <strong>und</strong> kontrovers gestritten. Die<br />

e<strong>in</strong>en halten die Angaben für zu niedrig, die anderen für viel zu hoch. Im folgenden soll auf<br />

e<strong>in</strong>ige aktuelle Ersche<strong>in</strong>ungen von <strong>Antisemitismus</strong> 2 <strong>in</strong> der Gesellschaft von heute<br />

e<strong>in</strong>gegangen werden, ohne dabei die mir nur aus Presseberichten bekannte Zahlen der<br />

genannten Studien <strong>in</strong>terpretieren zu können. 3<br />

Zur Begrifflichkeit<br />

Was ist geme<strong>in</strong>t mit dem Begriff: „neuer“ <strong>Antisemitismus</strong>?<br />

Wenn es um den Begriff „neuer“ <strong>Antisemitismus</strong> geht, s<strong>in</strong>d mehrere Sichtweisen zu beachten,<br />

die es bei der Verwendung des Begriffes ause<strong>in</strong>anderzuhalten gilt, damit man genau<br />

verständlich macht, worüber man selbst gerade redet.<br />

Mit dem Begriff „neuer“ <strong>Antisemitismus</strong> war erstens seit dem Ende des 2. Weltkrieges <strong>und</strong><br />

dem genaueren Bekanntwerden des Ausmaßes der Planung <strong>und</strong> Durchführung des<br />

Verbrechens der Nationalsozialisten an den europäischen Juden zunächst immer geme<strong>in</strong>t, daß<br />

man „Auschwitz immer mitdenken muß“, wenn es um die Beschreibung aktueller<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen von <strong>Antisemitismus</strong> seit 1945 g<strong>in</strong>g. 4<br />

Dies war <strong>und</strong> ist übrigens e<strong>in</strong> Herangehen, das auch <strong>in</strong> anderen Bereichen der<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Zeit von 1933 bis 1945 - <strong>in</strong> den Wissenschaften wie <strong>in</strong> der Politik<br />

- Anwendung fand.<br />

Es ist auch e<strong>in</strong> Streitthema unter Künstlern, geblieben, ob <strong>und</strong> vor allem wie man „nach<br />

Auschwitz“, „durch die Brille von Auschwitz gesehen“, Kunst über das Schicksal der<br />

europäischen Juden, über die Verbrechen an ihnen oder auch über die Jahrh<strong>und</strong>erte langen<br />

reichen Traditionen des Mite<strong>in</strong>anderlebens von Juden <strong>und</strong> Nichtjuden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Ländern<br />

„völlig anders“ als bislang üblich auf überzeugende Weise gestalten sollte.<br />

Mit dem Begriff „neuer“ <strong>Antisemitismus</strong> ist zweitens oft geme<strong>in</strong>t, daß sich durch den<br />

Zusammenbruch des so genannten sozialistischen Weltsystems <strong>und</strong> der (wieder)<br />

ungebrochenen Dom<strong>in</strong>anz des Kapitalismus mit der Hegemonialmacht USA an der Spitze <strong>in</strong><br />

der ganzen Welt auch die Bed<strong>in</strong>gungen für das Wiederaufleben antisemitischer<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>in</strong> der Gesellschaft, <strong>in</strong> West <strong>und</strong> Ost, <strong>in</strong> Nord <strong>und</strong> Süd, qualitativ entscheidend<br />

verändert haben.<br />

Der Begriff „neuer“ <strong>Antisemitismus</strong> wird drittens oft <strong>in</strong> der Tagespolitik verwendet, wenn es<br />

um Kritik an der Politik der USA <strong>und</strong> Israels geht. Kurzschlüssig werden dabei häufig alle,<br />

1<br />

Bereits 2002 legten Juliane Wetzel <strong>und</strong> Werner Bergmann <strong>vom</strong> Zentrum für <strong>Antisemitismus</strong>forschung der TU<br />

Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Studie vor.<br />

2<br />

Zu historischen Aspekten des <strong>Antisemitismus</strong> siehe die Texte von Re<strong>in</strong>er Zilkenat.<br />

3<br />

Siehe unter vielen anderen: Andre Taubert: Unbequeme Daten. Die Veröffentlichung der EU-<br />

<strong>Antisemitismus</strong>studie heizt die Debatte über muslimische Gewalt an. In: Tagesspiegel, 4.12.2003; Harald<br />

Neuber: Qualitätsmängel <strong>in</strong> Brüssel. Politische Umfragen <strong>und</strong> zensierte Studien: Schon wieder steht die<br />

Europäische Union im Zentrum e<strong>in</strong>es Skandals um <strong>Antisemitismus</strong>. In: Aufbau, 11.12.2003; Juden <strong>in</strong> EU<br />

zunehmend attackiert. In: <strong>Neues</strong> Deutschland, 1.4.2004; Edgar M Bronfman <strong>und</strong> Israel S<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Interview. In: Spiegel 3/2004, S. 98-99.<br />

4<br />

Wie bei anderen Begriffen auch, wird der „neue“ <strong>Antisemitismus</strong> auch als „sek<strong>und</strong>ärer“ oder „postmoderner“<br />

<strong>Antisemitismus</strong> bezeichnet.<br />

2


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

die <strong>in</strong>nen- wie außenpolitische Aktionen der Bush-Regierung oder der Regierung Scharon <strong>in</strong><br />

Israel kritisieren, unter Generalverdacht gestellt, Antisemiten zu se<strong>in</strong> oder <strong>Antisemitismus</strong><br />

Vorschub zu leisten. 5 Übrigens werden viel zu oft unter diesem Blickw<strong>in</strong>kel Äußerungen <strong>und</strong><br />

Aktivitäten L<strong>in</strong>ker mit denen von Rechtsextremisten auf e<strong>in</strong>e Stufe gestellt. E<strong>in</strong>e solche<br />

Position gilt es deutlich zurückzuweisen.<br />

Viertens ist festzuhalten, daß viele der angeblich neuen Denk- <strong>und</strong> Verhaltensmuster von<br />

<strong>Antisemitismus</strong> nur „alter We<strong>in</strong> <strong>in</strong> neuen Schläuchen“ s<strong>in</strong>d, sich weitgehend mit dem<br />

traditionellen <strong>Antisemitismus</strong> decken, wie er <strong>in</strong> Deutschland <strong>in</strong>sbesondere am Ende des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts se<strong>in</strong>en Vormarsch begann, bevor er <strong>in</strong> der antijüdischen Politik der<br />

Nationalsozialisten se<strong>in</strong>en „Höhepunkt“ (besser: Tiefpunkt) erreichte.<br />

Def<strong>in</strong>itionsangebot: <strong>Antisemitismus</strong><br />

Die Def<strong>in</strong>itionen zu diesem Begriff s<strong>in</strong>d zahlreich. In e<strong>in</strong>er populärwissenschaftlichen<br />

Broschüre haben Birgit Gregor <strong>und</strong> ich ihn wie folgt zu erklären versucht:<br />

„<strong>Antisemitismus</strong> kann man im weitesten S<strong>in</strong>ne mit Judenfe<strong>in</strong>dlichkeit übersetzen. Diese<br />

Judenfe<strong>in</strong>dlichkeit erlebte ihren ersten Aufschwung, als das Christentum im antiken Rom im<br />

Jahre 380 zur Staatsreligion erhoben wurde. Seither waren Juden <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> immer wieder<br />

Verfolgungen <strong>und</strong> Repressalien ausgesetzt.<br />

(...)<br />

Gegen (griechisch: anti) Semiten zu se<strong>in</strong>, ist eigentlich e<strong>in</strong>e besondere Form von allgeme<strong>in</strong>er<br />

Ausländerfe<strong>in</strong>dlichkeit, denn zur Geme<strong>in</strong>schaft der semitischen Sprachen gehören unter<br />

anderem sowohl Arabisch als Abess<strong>in</strong>isch als auch Hebräisch. Erst im Verlauf der<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte wurde <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Vore<strong>in</strong>genommenheit gegenüber den Völkern<br />

des Orients, die man für m<strong>in</strong>derwertig hielt, ausschließlich auf die Juden bezogen.“ 6<br />

Daß es auch ganz andere Beschreibungen geben kann, zeigt folgendes Beispiel.<br />

In e<strong>in</strong>em 1949 erschienen Lexikon heißt es zum Stichwort „Jude“ nach längeren historischen<br />

Abhandlungen, die bis <strong>in</strong> die Zeit vor Christi zurückreichen <strong>und</strong> mit der Zeit des<br />

Nationalsozialismus enden (hier die Begriffswahl u. a. : „erneute Verfolgung“,<br />

„Synagogenverbrennung“, „während des Krieges Deportationen zur Ausrottung <strong>in</strong> den<br />

besetzten Gebieten“), anschließend wie folgt:<br />

„ Die häufige Rassenkreuzung <strong>und</strong> die lange Unterdrückung haben den Charakter der Juden<br />

mitgeprägt. Sie s<strong>in</strong>d im allgeme<strong>in</strong>en vielseitig begabt, anpassungsfähig, betriebsam,<br />

geschäftstüchtig, oft hart, im Abendland körperlicher Arbeit zumeist abgeneigt, halten sehr<br />

zusammen <strong>und</strong> zeigen starken Familiens<strong>in</strong>n.<br />

Bei glaubenstreuen Juden f<strong>in</strong>det sich echte Frömmigkeit <strong>und</strong> Gottesfurcht. Kaufmännische<br />

<strong>und</strong> freie akademische Berufe werden von Juden bevorzugt. Ihr E<strong>in</strong>fluß im wirtschaftlichen,<br />

politischen <strong>und</strong> kulturellen Leben ist tiefgreifend; sie beherrschen weitgehend Geldwesen,<br />

Theater, K<strong>in</strong>o <strong>und</strong> Presse.<br />

Die eigentliche Bedeutung des Judentums liegt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Religion.<br />

(...)“ 7<br />

E<strong>in</strong> Kommentar ist wohl überflüssig.<br />

5 Siehe die andern von mir zum Thema vorgelegten Texte.<br />

6 Siehe: Horst Helas unter Mitarbeit von Birgit Gregor: Davidstern <strong>und</strong> Synagoge. Antworten auf Fragen<br />

Fürstenwalder Jugendlicher zur Geschichte der Juden <strong>in</strong> Deutschland, Berl<strong>in</strong> 1999, S. 16-17.<br />

7 Siehe: Der Neue Herder, Freiburg 1949, S. 1917.<br />

3


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

Zum <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> beiden deutschen Staaten bis 1989<br />

(Hier sollen nur e<strong>in</strong>ige Aspekte angerissen werden; verwiesen sei auf e<strong>in</strong>schlägige neuere<br />

Literatur. 8 )<br />

Unmittelbar nach Ende des 2. Weltkrieges herrschte <strong>in</strong> Deutschland <strong>in</strong> weiten Kreisen der<br />

Bevölkerung große Unsicherheit im Umgang mit all dem, was mit „den Juden“<br />

zusammenh<strong>in</strong>g. Das f<strong>in</strong>g häufig schon mit der Überlegung an, ob man nach dem <strong>in</strong>flationären<br />

<strong>und</strong> fast ausschließlich nur abwertenden Gebrauch des Wortes „Jude“ im „3. Reich“ dieses<br />

Wort überhaupt weiter verwenden durfte, ohne gleich als alter (oder junger neuer) Nazi<br />

beargwöhnt zu werden.<br />

Diese Unsicherheit hatte viele Facetten: Progressive Verleger hatten Zweifel, ob<br />

beispielsweise Sachbücher über die Architekturgeschichte von Synagogen nicht der<br />

Verbreitung von <strong>Antisemitismus</strong> neu Vorschub leisten würden.<br />

Besonders viel über Judentum zu reden, das war <strong>in</strong> den Reihen der Arbeiterbewegung<br />

weitgehend verpönt, eher nebensächlich, <strong>und</strong> dies nicht nur bei ihrem kommunistischen Teil.<br />

Schließlich stand die „Klassenfrage“ an erster Stelle <strong>und</strong> alle Kapitalisten, jüdische <strong>und</strong><br />

nichtjüdische, wurden als Hauptfe<strong>in</strong>de ausgemacht.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs wurde auf den die stal<strong>in</strong>istischen Gr<strong>und</strong>lagen der Gesellschaft <strong>in</strong> den Ländern des<br />

so genannten sozialistischen Weltsystems auch bald wieder e<strong>in</strong>en ganz anderer Fe<strong>in</strong>d <strong>in</strong>s<br />

Visier genommen, der angeblich bis <strong>in</strong> die eigenen Reihen vorgedrungen war: die Symbiose<br />

von Zionismus <strong>und</strong> Imperialismus. (Verwiesen sei nur auf die Prozesse gegen den<br />

„Judenfre<strong>und</strong>“ Paul Merker <strong>in</strong> der DDR <strong>und</strong> den Schauprozeß gegen Rudolf Slansky <strong>und</strong><br />

andere <strong>in</strong> der Tschechoslowakei.) Das gewählte Vokabular hatte damals durchaus<br />

Ähnlichkeiten mit dem „Stürmer“-Jargon von der „jüdisch-bolschewistischen<br />

Weltverschwörung“ e<strong>in</strong>es Joseph Goebbels<br />

.<br />

In der langen Zeit des Kalten Krieges spielte auch der Umgang mit antisemitischen<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>in</strong> der BRD wie der DDR e<strong>in</strong>e nicht zu unterschätzende, wenn gleich nicht die<br />

zentrale Rolle <strong>in</strong> der politisch-ideologischen Ause<strong>in</strong>andersetzung. Beispielsweise hatten die<br />

verständlichen Sympathien von L<strong>in</strong>ken <strong>in</strong> Ost <strong>und</strong> West für die nationalen<br />

Befreiungsbewegungen im Nahen Osten fast automatisch e<strong>in</strong>e antiisraelischantiimperialistische<br />

Komponente, wobei <strong>in</strong> diesem Zusammenhang e<strong>in</strong>zelne antisemitische<br />

Äußerungen weniger Beachtung <strong>und</strong> gar nur selten strikte Zurückweisung erfuhren.<br />

Auch der Massenmord an den europäischen Juden wurde im Kalten Krieg unter aktuellpolitischem<br />

Kalkül ideologisch ge- <strong>und</strong> mißbraucht. In der DDR galten lange Zeit nur die SS<br />

<strong>und</strong> die großen deutschen Konzerne als die Haupttäter des Holocaust Die Verstrickung<br />

großer Teile der deutschen Bevölkerung <strong>in</strong> die tagtägliche Durchsetzung der Richtl<strong>in</strong>ien der<br />

antijüdische Politik der Nationalsozialisten wurde zu Gunsten e<strong>in</strong>er raschen antifaschistischen<br />

Erziehung <strong>und</strong> Umerziehung möglichst breiter Kreise der Bevölkerung zunächst <strong>in</strong> den<br />

H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> gestellt. 9 In der BRD wurde - ungeachtet der Tatsache, daß wichtige<br />

Funktionsträger des NS-Regimes <strong>in</strong> neuen Ämtern wirkten oder zum<strong>in</strong>dest unbestraft blieben<br />

- gegenüber Israel e<strong>in</strong>e durchaus aufrichtig geme<strong>in</strong>te, wirtschaftlich, f<strong>in</strong>anziell <strong>und</strong> politisch<br />

8 Siehe u. a.: Ulrike Offenberg: „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“. Die jüdischen Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> der SBZ<br />

<strong>und</strong> der DDR 1945-1990, Berl<strong>in</strong> 1998; Angelika Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis<br />

der DDR zu Zionismus <strong>und</strong> Staat Israel, Berl<strong>in</strong> 1997; Wir s<strong>in</strong>d da. Juden <strong>in</strong> Deutschland nach 1945. E<strong>in</strong>e<br />

Dokumentation <strong>in</strong> vier Teilen von Richard Chaim Schneider, Bayrischer R<strong>und</strong>funk 2000.<br />

9 Es ist nicht Gegenstand dieses Textes, die vielen wissenschaftlichen <strong>und</strong> künstlerischen Aktivitäten <strong>in</strong> der DDR<br />

zur Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Holocaust ausführlich darzustellen. Verwiesen sei auf Walter Schmidt:<br />

Jüdisches Erbe <strong>in</strong> der DDR (Vortragsmanuskript), Berl<strong>in</strong> 1998.<br />

4


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

untersetzte Wiedergutmachungspolitik betrieben. Die Tatsache, welchen tiefen Schock die<br />

Ausstrahlung des amerikanischen Holocaust-Fernsehfilms 10 auf breite Kreise der BRD-<br />

Bevölkerung hatte, bezeugt allerd<strong>in</strong>gs auch weit verbreitetes Unwissen <strong>und</strong> rüttelte nicht<br />

wenige L<strong>in</strong>ke auf. Mancher Vater oder Großvater fand unter dem Weihnachtsbaum das <strong>in</strong> der<br />

DDR erschienene Braunbuch 11 vor, aufgeschlagen jene Seite, die von se<strong>in</strong>er persönlichen<br />

Verstrickung <strong>in</strong> das NS-Regime Zeugnis ablegte.<br />

Ich b<strong>in</strong> mir hier<strong>in</strong> nicht sicher:<br />

Noch e<strong>in</strong> anderer Aspekt soll genannt werden. E<strong>in</strong>e differenzierte Analyse des<br />

Verbreitungsgrades gediegenen Wissens <strong>in</strong> den verschiedenen Bevölkerungsschichten <strong>und</strong><br />

Altersgruppen der DDR-Bevölkerung über die NS-Zeit, die antijüdische Gr<strong>und</strong>komponente<br />

der NS-Politik e<strong>in</strong>geschlossen, wäre wohl noch zu leisten bzw. verdiente e<strong>in</strong>e Vertiefung.<br />

Zum<strong>in</strong>dest habe ich <strong>in</strong> über zehn Jahren politischer Bildungsarbeit mit Jugendlichen im Land<br />

Brandenburg <strong>und</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> bei ihnen viel Interesse, aber auch sehr häufig e<strong>in</strong>e erschreckend<br />

große Unkenntnis darüber gef<strong>und</strong>en, was die Geschichte der Juden <strong>und</strong> ihres<br />

Zusammenlebens mit Nichtjuden e<strong>in</strong>mal ausgemacht hatte.<br />

Zum <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> <strong>Europa</strong> <strong>und</strong> <strong>in</strong> anderen Regionen heute<br />

Zur OSZE-Konferenz zum <strong>Antisemitismus</strong>, Berl<strong>in</strong>, April 2004<br />

(Siehe dazu den Artikel im R<strong>und</strong>brief.)<br />

Ergänzend seien hierzu nur zwei Bemerkungen gemacht.<br />

1. Seit Anfang der 90er Jahre richtet die PDS im Deutschen B<strong>und</strong>estag an den<br />

Innenm<strong>in</strong>ister monatlich e<strong>in</strong>e Anfrage zu neuen Erkenntnissen über<br />

rechtsextremistische Gewalttaten, die Zahl deren Opfer sowie die Zahlen der<br />

Festnahmen <strong>in</strong> diesem Zusammenhang. 12 Wir alle s<strong>in</strong>d aufgerufen, Petra ständig über<br />

solche Vorkommnisse zu <strong>in</strong>formieren. Die Vermutung liegt nahe, daß unsere Zahlen<br />

leider höher liegen werden als die des B<strong>und</strong>es<strong>in</strong>nenm<strong>in</strong>isteriums.<br />

2. .Der Sprecherrat der AG Rechtsextremismus / Antifaschismus beim Parteivorstand der<br />

PDS bittet um die Übermittlung aller bekanntwerdenden lokalen Aktivitäten <strong>und</strong><br />

Dokumente zum Thema für unsere Materialsammlung. Zu überlegen ist, wie solche<br />

Nachrichten <strong>in</strong> bestimmten Abständen als gebündeltes Paket von der PDS an die<br />

zuständige OSZE-Stelle <strong>in</strong> Warschau <strong>und</strong> an die Europäische Union herangetragen<br />

werden könnten.<br />

E<strong>in</strong>ige Bemerkungen zu vier ausgewählten Ländern <strong>und</strong> der Region Naher Osten.<br />

Beispiel Frankreich<br />

Frankreich hat gegenwärtig - wie e<strong>in</strong>e Reihe anderer europäischer Länder auch, bei weitem<br />

aber nicht alle - besonders klare Strafrechtsbestimmungen zur Ahndung antisemitischer Taten<br />

<strong>und</strong> Äußerungen. Das verdient höchste Anerkennung.<br />

Die auch auf der OSZE-Konferenz <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> Ende April 2004 geäußerte Behauptung,<br />

<strong>Antisemitismus</strong> wird heute nur durch die Migranten aus arabischen Ländern, aus ehemaligen<br />

10<br />

Siehe: Friedrich Knilli / Siegfried Ziel<strong>in</strong>ski (Hrsg): Holocaust zur Unterhaltung. Anatomie e<strong>in</strong>es<br />

<strong>in</strong>ternationalen Bestsellers, Berl<strong>in</strong> 1982.<br />

11<br />

Siehe: Braunbuch. Kriegs- <strong>und</strong> Naziverbrecher <strong>in</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik. Staat Wirtschaft Armee Verwaltung<br />

Justiz Wissenschaft, Berl<strong>in</strong> 1965.<br />

12<br />

Siehe Petra Pau: Anfrage zu rechtsextremistischer Gewalt im April 2004. In: R<strong>und</strong>brief 2+3/2004, S. 55-57.<br />

5


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

französischen Kolonien, am Leben erhalten, greift aber vielleicht doch etwas zu kurz. Diese<br />

Sichtweise verdrängt die Tatsache, wie schwer sich Frankreich mit den Themen Kollaboration<br />

generell <strong>und</strong> Hilfe der französischen Polizei bei der Deportation der Juden des Landes <strong>in</strong> der<br />

Vergangenheit getan hat.<br />

Auf e<strong>in</strong>en politischen Skandal, ausgelöst von Scharon, sei nur h<strong>in</strong>gewiesen. Se<strong>in</strong>e<br />

Aufforderung, alle Juden mögen Frankreich aus Sicherheitsgründen schnellstens <strong>in</strong> Richtung<br />

Israel verlassen, stieß völlig zu Recht seitens der französischen Regierung auf schärfste<br />

Zurückweisung.<br />

Beispiel Polen<br />

In Polen, <strong>und</strong> nicht nur <strong>in</strong> diesem europäischen Land, haben antisemitische Taten <strong>und</strong><br />

Äußerungen <strong>und</strong> Taten e<strong>in</strong>e lange geschichtliche Tradition. Antijüdisch Pogrome, die auch<br />

nach 1945 viele polnische Juden zur Flucht aus ihrer Heimat veranlaßten, s<strong>in</strong>d bekannt <strong>und</strong><br />

wirken nach.<br />

Antisemiten sitzen <strong>in</strong> Polen heute <strong>in</strong> etablierten Parteien, nicht ausschließlich <strong>in</strong><br />

rechtsextremistischen Zirkeln.<br />

Es war dennoch erklärlich, daß der polnische Staatspräsident Kwasniewski alle<br />

im Umfeld der OSZE-Konferenz geäußerte Befürchtungen aus der Leitung des Zentralrats der<br />

Juden <strong>in</strong> Deutschland, daß mit der Osterweiterung der EU - <strong>und</strong> namentlich durch Polen - e<strong>in</strong><br />

massives Anwachsen von <strong>Antisemitismus</strong> zu verzeichnen se<strong>in</strong> wird, für se<strong>in</strong> Land<br />

entschieden zurückwies. Außenm<strong>in</strong>ister Fischer war es, der die Pflichten der demokratischen<br />

Öffentlichkeit aller OSZE-Länder vorrangig dar<strong>in</strong> sah, im eigenen Land für Ordnung zu<br />

sorgen.<br />

Hier nur erwähnt werden soll, daß <strong>in</strong> der heutigen Gedenkstätte Auschwitz <strong>und</strong> bei<br />

Jahrestagen der Befreiung dieses Vernichtungslagers immer wieder Streit darüber aufflammt,<br />

wer dort die meisten Opfer zu beklagen hatte, die Polen oder das europäische Judentum.<br />

Gegen den erklärten Wunsch der Leitung der Gedenkstätte, alle Besucher mögen an diesem<br />

Ort auf Nationalfahnen <strong>und</strong> andere Staatssymbole verzichten, kommt es immer wieder zu<br />

Rangeleien, vor allem unter Jugendlichen, beispielsweise wenn die Staatsflagge Israels<br />

gezeigt wird. Ob diese e<strong>in</strong>en rechtsgerichteten H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> oder „nur“ e<strong>in</strong>en eher<br />

patriotischen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> haben, bliebe näher zu untersuchen.<br />

Beispiel Lettland<br />

Im Vorfeld der EU-Osterweiterung erregte <strong>in</strong>sbesondere e<strong>in</strong> Vorfall <strong>in</strong>ternational großes<br />

Aufsehen. Die ehemalige lettische Außenm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> <strong>und</strong> designierte EU-Kommissar<strong>in</strong>, Sandra<br />

Kalniete, behauptet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rede auf der Leipziger Buchmesse, „Dokumente wie<br />

Lebensgeschichten der Opfer bekräftigen die Wahrheit, daß die beiden totalitären Regime –<br />

Nazismus <strong>und</strong> Kommunismus – gleichermaßen krim<strong>in</strong>ell waren“.<br />

Solcherart zunehmende Vergleiche zwischen Nationalsozialismus <strong>und</strong> Kommunismus zielen<br />

nicht mehr nur auf e<strong>in</strong>e Gleichsetzung zweier als totalitär bestimmter Systeme, sondern auf<br />

den „Nachweis“, daß die kommunistische Herrschaft viel verbrecherischer gewesen ist als der<br />

Nationalsozialismus.<br />

Nicht nur <strong>in</strong> diesem lettischen Fall hat dies im Zusammenhang mit unserem Thema noch e<strong>in</strong>e<br />

besondere Komponente, <strong>in</strong>sbesondere im Zusammenhang mit der Aufrechnung von<br />

Opferzahlen im 2. Weltkrieg, die deutschen Opfer e<strong>in</strong>geschlossen.<br />

Festzuhalten bleibt: Das Wort „Ost-Transporte“ me<strong>in</strong>t geschichtlich ganz verschiedene<br />

Vorgänge. Nach 1939 war das Wort „Ost-Transporte“nicht nur durch die Richtungen von<br />

6


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

West-, Zentral- <strong>und</strong> Südeuropa nach Auschwitz, sondern auch durch solche Transporte<br />

bestimmt wie:<br />

- Letten nach Sibirien;<br />

- Wolgadeutsche nach Sibirien;<br />

- polnische Soldaten <strong>und</strong> Offiziere, Kriegsgefangene der Sowjetunion, nach Sibirien<br />

<strong>und</strong> andere.<br />

Was den Skandal um Frau Kalniete betrifft, kann man E<strong>in</strong>zelheiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeltungsartikel<br />

unter der Überschrift „Gleichsetzung. Lettische Geschichtspolitik“ : 13 nachlesen; unter<br />

anderem f<strong>in</strong>det man dar<strong>in</strong> folgende E<strong>in</strong>zelheiten:<br />

- 80 000 Letten waren Mitglied der SS-Legion,<br />

- 30 000 Letten dienten bei Polizei <strong>in</strong> der NS-Zeit.<br />

- Im Juni 1941 wurden: 20 00 Letten nach Sibirien deportiert, davon 5 00 Juden (Das<br />

wird gern verschwiegen.)<br />

- Der „virulente <strong>Antisemitismus</strong>“ <strong>in</strong> Lettland wurde schon <strong>in</strong> den 30er Jahren, vor der<br />

gewaltsamen Gründung der neuen Unionsrepublik Lettland der UdSSR, geschürt..<br />

- Frau Kalniete ist selbst <strong>in</strong> der sibirischen Verbannung geboren worden, die Familie<br />

durfte erst nach 16 Jahren wieder nach Lettland zurückkehren. Dies war ke<strong>in</strong><br />

Ausnahmefall, sondern ist für nicht wenige Letten Teil ihrer Familiengeschichte.<br />

Der Gulag <strong>und</strong> die Ermordung ganzer Völkerschaften im Herrschaftsbereich der Sowjetunion<br />

gehören zur europäischen Geschichte. Dies sollte die Botschaft Kalnietes wohl gewesen se<strong>in</strong>,<br />

begründet auch durch e<strong>in</strong>e jahrelange Ignoranz oder Gleichgültigkeit gegenüber dieser<br />

doppelten Leidensgeschichte, auch <strong>in</strong> Westeuropa.<br />

Beispiel USA<br />

Die Bush-Adm<strong>in</strong>istration verdächtigt alle ihre ausländischen Kritiker oft <strong>und</strong> schnell des<br />

<strong>Antisemitismus</strong>. Andererseits hat der Jüdische Weltkongreß mit Sitz <strong>in</strong> den USA großen<br />

Anteil an der Bekämpfung von <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> Wort <strong>und</strong> Tat. Verwiesen sei <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang ausdrücklich auch auf die Rolle jüdischer Organisationen bei der<br />

Durchsetzung von Entschädigungszahlungen Deutschlands an ausländische Zwangsarbeiter,<br />

Juden wie Nichtjuden.<br />

Die Initiative von Präsident Bush, im Wahlkampf schnell noch e<strong>in</strong> neues Gesetz zur<br />

Bekämpfung des <strong>Antisemitismus</strong> zu schaffen, um potentielle Wähler mit jüdischem<br />

H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> zu gew<strong>in</strong>nen, ist allzu durchsichtig. Die OSZE-Instrumentarien, die von den<br />

USA mitbeschlossen wurden <strong>und</strong> erklärtermaßen mitgetragen werden, s<strong>in</strong>d eigentlich für das<br />

Handeln <strong>in</strong> jedem Land eigentlich ausreichend.<br />

13<br />

Siehe: Christian Semler: Gleichsetzung: Lettische Geschichtspolitik, <strong>in</strong>: taz, 26.3.2004, www.klick-nachrechts.de.<br />

7


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

Beispiel Nahost I: Israel<br />

(Hier soll auf 2 Phänomene e<strong>in</strong>gegangen werden:<br />

1. Die Kritik von Vertretern der Friedensbewegung <strong>in</strong> Israel an<br />

Menschenrechtsverletzungen, begangen von der Regierung Scharon an Paläst<strong>in</strong>ensern;<br />

2. auf antisemitische Ersche<strong>in</strong>ungen, die durch russische Immigranten <strong>in</strong> das Land<br />

getragen werden.<br />

Zur Friedensbewegung <strong>in</strong> Israel<br />

Zwei Namen, werden immer wieder genannt, die für viele andere stehen: Felicia Langer <strong>und</strong><br />

Moshe Zuckermann. Beide s<strong>in</strong>d Juden.<br />

Felicia Langer ist e<strong>in</strong>e der schärfsten Kritiker<strong>in</strong>nen der Menschenrechtsverletzungen der<br />

Regierung Israels gegenüber den Paläst<strong>in</strong>ensern.<br />

In ihrem jüngsten Buch: „Brandherd Nahost oder: Die geduldete Heuchelei“ äußert sie sich<br />

auch zum <strong>Antisemitismus</strong>-Vorwurf gegenüber allen, die die Nahostpolitik von Israel <strong>und</strong><br />

USA kritisieren <strong>und</strong> mit friedlichen Mitteln bekämpfen.<br />

Hier e<strong>in</strong>ige Zitate aus dem genannten Buch<br />

:<br />

„Immer wieder spricht Israel von der ‚Liquidierung militanter Paläst<strong>in</strong>enser’, <strong>und</strong> manche<br />

deutsche Zeitung gibt diesen Ausdruck ohne Anführungszeichen wieder. Die ‚Liquidierung<br />

von Menschen’ ist e<strong>in</strong> Begriff der Nationalsozialisten. Wo bleibt da die Empf<strong>in</strong>dlichkeit<br />

derjenigen, die jeden Vergleich israelischer Taten mit denen der Nationalsozialisten als<br />

<strong>Antisemitismus</strong> bezeichnen? Ist e<strong>in</strong> menschenverachtender Begriff deshalb salonfähig, weil<br />

das israelische Establishment ihn gebraucht?“ ( S. 35)<br />

Dies ist sicher etwas zugespitzt formuliert. „Liquidierung“ ist ke<strong>in</strong> Wort von LTI, sondern <strong>in</strong><br />

der Gegenwart (leider) weit verbreitet<br />

„Bereits seit 1993 habe ich immer wieder feststellen müssen, daß man mit Hilfe dieses<br />

endlosen ‚Friedensprozesses’ den Konflikt nur e<strong>in</strong>zudämmen, aber nicht zu lösen versucht. Es<br />

ist e<strong>in</strong> Friedensprozeß ohne Frieden, der darauf lauert, daß die Paläst<strong>in</strong>enser am Ende<br />

kapitulieren – bislang vergeblich, <strong>und</strong> so wird es wohl auch bleiben.“ (S. 21)<br />

(bezogen auf die Politik Israels): „aber sie tragen die Schuld nicht alle<strong>in</strong>. Das Schweigen der<br />

Welt ist mitschuldig.“ (S. 45) „Die Weltgeme<strong>in</strong>schaft, e<strong>in</strong>schließlich Deutschland, ist<br />

aufgefordert, sich e<strong>in</strong>zumischen. Das Schweigen angesichts des Unrechts hat den bitteren<br />

Beigeschmack der Mittäterschaft.“ (S. 47)<br />

Der Historiker Moshe Zuckermann sprach kürzlich auf e<strong>in</strong>er <strong>Antisemitismus</strong>-Tagung <strong>in</strong><br />

Hannover über die Funktionalisierung <strong>und</strong> Ideologisierung des <strong>Antisemitismus</strong>. Durchaus mit<br />

Blick auf die allgeme<strong>in</strong>en Debatten über e<strong>in</strong>e angeblich überfällige, radikal vorzunehmende<br />

Revision der Geschichtsbilder über die jüngste Zeit <strong>und</strong> des Gedenkens daran, <strong>in</strong>sbesondere<br />

auch mit Blick auf die Art <strong>und</strong> Weise, wie der 60 Jahrestag der Befreiung <strong>vom</strong> Faschismus<br />

<strong>und</strong> des Endes des 2. Weltkrieges begangen wird, könnten Sätze von Zuckermann verstanden<br />

werden, wie zum Beispiel Die Feststellung: Je mehr sich der Holocaust <strong>vom</strong> historischen<br />

Ereignis zur Geschichte entwickele, sei darauf zu achten, daß Auschwitz „nicht endgültig zur<br />

Matrix identitätsbestimmender Bef<strong>in</strong>dlichkeiten <strong>und</strong> Staatsideologie verkommt“. 14<br />

14 Zitiert nach dem Konferenzbericht <strong>in</strong>: ND, 18.10.2004, S. 20.<br />

8


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

<strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> Israel<br />

In der Zeitung „Aufbau“ waren kürzlich mehrere Beiträge zu e<strong>in</strong>em brisanten Thema zu<br />

lesen: Aus Rußland e<strong>in</strong>gewanderte angebliche oder wirkliche Juden betätigen sich <strong>in</strong> Israel als<br />

Antisemiten. Daniel N. Sauerstrom schätzt, daß von den ca. 1 Million „Russen“ <strong>in</strong> Israel bei<br />

ca. 300 000 jeglicher jüdische H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> fehlt. Die „Russen“ machen bereits e<strong>in</strong> Fünftel der<br />

Gesamtbevölkerung Israels aus. Damit bilden sie für alle Parteien des Landes e<strong>in</strong> wichtiges<br />

Wählerpotential. Unter den „Russen“ gibt es viele Rechtsextremisten, auch Sk<strong>in</strong>heads <strong>und</strong><br />

Nationalisten verschiedener Art. Die Website der „Weißen Union Israels“, die es seit 2003<br />

gibt, wird von 2 Jugendlichen betrieben, gegen die jetzt wegen antisemitischer Hetze<br />

eventuell gerichtlich vorgegangen werden soll: „Auf den Websites der Neonazis posieren auf<br />

e<strong>in</strong>em Foto, neben der zerrissenen israelischen Flagge, bewaffnete Sk<strong>in</strong>heads mit Hitlergruß<br />

vor e<strong>in</strong>em Militärlager. Antisemitische <strong>und</strong> antiarabische sowie gegen Arbeitsmigranten<br />

gerichtete Texte füllten die Seiten. Die offiziellen Stellen <strong>und</strong> die Medien <strong>in</strong> Israel meiden<br />

dieses Thema, weil sie befürchten, neue E<strong>in</strong>wanderungswillige zu verschrecken. Der aus<br />

Moldawien e<strong>in</strong>gewanderte Zalman Gilich<strong>in</strong>sky hat <strong>in</strong> Gegenwehr zu diesem neuen Trend <strong>in</strong><br />

Tel Aviv das „Israeli Information and Assistance Center for the Victims of Anti-Semitism“<br />

gegründet. Politiker, die er auf das Problem aufmerksam machte, reagierten fast gar nicht <strong>und</strong><br />

wenn doch, dann beschwichtigend. 15<br />

Beispiel Nahost II: <strong>Antisemitismus</strong> von Islamisten<br />

Für den verbreiteten <strong>Antisemitismus</strong>, namentlich <strong>in</strong> Medien arabischer Länder, gibt es<br />

zahllose Beispiele. Demokratische Kräfte <strong>in</strong> arabischen Ländern s<strong>in</strong>d sich dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ig, daß<br />

dies den an sich schon so schwierigen Friedensprozeß im Nahen Osten zusätzlich stark<br />

belastet.<br />

Im Zusammenhang mit dem terroristischen Anschlag <strong>vom</strong> 11. September <strong>und</strong> der weltweiten<br />

Verfolgung <strong>und</strong> Verurteilung der Attentäter, ihrer H<strong>in</strong>termänner <strong>und</strong> Geldgeber, verschärfte<br />

sich auch die Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem <strong>Antisemitismus</strong>.<br />

Dabei hat die kontrovers geführte Debatte darüber wohl gerade erst richtig begonnen, ob der<br />

Islam an sich <strong>und</strong> generell immer antisemitisch ist oder von Juden wie Nicht-Juden lediglich<br />

der reaktionäre islamistische Extremismus 16 , der sich auch, aber nicht nur, namentlich gegen<br />

Juden als Personen, gegen Synagogen <strong>und</strong> andere E<strong>in</strong>richtungen von jüdischen Geme<strong>in</strong>den<br />

richtet, wirksam bekämpft werden kann.<br />

In diesem Zusammenhang ist es eher e<strong>in</strong> Armutszeugnis staatspolitischen Handelns, wenn<br />

kürzlich <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Nazi-Demonstration durch e<strong>in</strong>en vor allem von Ausländern<br />

muslimischen Glaubens bewohnten Stadtteil nur deshalb verboten wurde, weil die<br />

Anmeldenden r nicht zielgerichtet gegen das Wirken von Islamisten protestieren wollten,<br />

sondern gegen Anhänger des Islam schlechth<strong>in</strong> demonstrieren wollten.<br />

„Neuer“ <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> Deutschland heute<br />

<strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> der „Mitte der Gesellschaft“<br />

Die oft wiederholte Formel, <strong>Antisemitismus</strong> käme (wie auch andere reaktionäre<br />

Auffassungen) immer mehr aus der „Mitte der Gesellschaft“, ist für sich gesehen nur e<strong>in</strong>e<br />

15 Daniel N. Sauerstrom: From Russia with Hate. <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> Israel – e<strong>in</strong> Phänomen, das es nicht geben<br />

darf. In: Aufbau, 18.3.2004. Diese Zeitung ersche<strong>in</strong>t künftig nur noch im Internet: www.aufbauonl<strong>in</strong>e.com.<br />

16 Zum islamistischen <strong>Antisemitismus</strong> siehe: Klaus Dicke / Michael Ed<strong>in</strong>ger / Andreas Hallermann / Karl<br />

Schmitt (Hrsg.): Politische Kultur im Freistaat Thür<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>stellungen zur Demokratie. Ergebnisse des<br />

Thür<strong>in</strong>gen-Monitors 2003, S. 33-39.<br />

9


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

abgedroschen Phrase. Viele e<strong>in</strong>zelne Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>in</strong> letzter Zeit weisen jedoch darauf h<strong>in</strong>,<br />

daß es um e<strong>in</strong>en Qualitätsumschwung geht. Die antisemitische Rede des CDU-<br />

B<strong>und</strong>estagsabgeordneten Hohmann <strong>und</strong> die andauernde Solidarität mit ihm <strong>in</strong>nerhalb der<br />

CDU <strong>und</strong> von weiter rechts zu f<strong>in</strong>denden politischen Kräften, der juristische Streit um die<br />

schließlich <strong>vom</strong> B<strong>und</strong>esverfassungsgericht erteilte Erlaubnis für Neonazis, <strong>in</strong> Bochum gegen<br />

den Bau e<strong>in</strong>er neuen Synagoge öffentlich protestieren zu dürfen <strong>und</strong> die Wahlerfolge<br />

rechtsextremistischer Parteien bei Kommunal- <strong>und</strong> Landtagswahlen, nicht nur <strong>in</strong> Sachsen <strong>und</strong><br />

Brandenburg, s<strong>in</strong>d nur die bekanntesten Indizien für solche Veränderungen.<br />

Was Roland Bach <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er jüngsten Analyse zum Rechtsextremismus e<strong>in</strong>geschätzt hat, gilt<br />

auch für den „Spezialfall“ <strong>Antisemitismus</strong>: „Es ist nicht entscheidend, ob man heute wie<br />

manche Forscher <strong>in</strong> ihren Analysen von e<strong>in</strong>em Rechtsextremismus neuen Typs spricht.<br />

Wichtig ist, zu erkennen, wie Kont<strong>in</strong>uität <strong>und</strong> Veränderung gleichermaßen vorhanden s<strong>in</strong>d,<br />

um richtige Strategien des Widerstandes gegen den gefährlichen Aufstieg der Neonazis zu<br />

entwickeln.“ 17<br />

Der Geschäftsführende Direktor der Berl<strong>in</strong>er Stiftung Topographie des Terrors, Rabb<strong>in</strong>er Dr.<br />

Andreas Nachama äußerte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview dazu folgendes:<br />

(...)<br />

„Die Gr<strong>und</strong>lagen, auf denen die B<strong>und</strong>esrepublik nach 1945 mit den Lehren aus der<br />

Vergangenheit errichtet wurde, auch e<strong>in</strong>e soziale Gesellschaft se<strong>in</strong> zu wollen, <strong>in</strong> der es soziale<br />

Verankerung <strong>und</strong> Sicherheit gibt, werden im Rahmen e<strong>in</strong>er gigantischen Umverteilung<br />

plötzlich <strong>in</strong> Frage gestellt. Das ist die Kehrseite der Medaille, auf der diese Gesellschaft<br />

errichtet wurde. Es sollte e<strong>in</strong>e Gesellschaft werden, die nicht mehr rassistisch, nicht<br />

antisemitisch, nicht militaristisch ist.<br />

(...)<br />

Ja, wir erleben e<strong>in</strong>en gesamtgesellschaftlichen Paradigmenwechsel. Wir werden sehen, woh<strong>in</strong><br />

das führt. Ich befürchte, daß die Herausforderungen, vor denen wir stehen, noch viel größer<br />

werden, wenn es nicht gel<strong>in</strong>gt, diese Indifferenz der Gesellschaft zu überw<strong>in</strong>den. Wobei es<br />

ungerecht wäre nicht zu sagen, daß es gerade vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> eben auch andere gibt,<br />

die sich verstärkt dagegen engagieren.“ 18<br />

Übrigens sei nur h<strong>in</strong>zugefügt, daß Andreas Nachama <strong>in</strong> diesem Gespräch die Ansicht des<br />

bekannten Widerstandskämpfers Peter G<strong>in</strong>gold teilte, daß <strong>Antisemitismus</strong> ke<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung,<br />

sondern e<strong>in</strong> Verbrechen ist.<br />

Folgender gr<strong>und</strong>sätzliche Bef<strong>und</strong> von Prof. Ra<strong>in</strong>er Rillig, nachzulesen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Artikel 19 zu<br />

den Landtagswahlen <strong>in</strong> Sachsen <strong>und</strong> Brandenburg gilt auch für den Teilaspekt<br />

<strong>Antisemitismus</strong>:<br />

„Faschismus, Rechtsextremismus <strong>und</strong> die völkischen Richtungen s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e rasch<br />

vorübergehende Ersche<strong>in</strong>ungen, sondern e<strong>in</strong> Jahrh<strong>und</strong>ertphänomen. Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e große <strong>und</strong><br />

mächtige Gr<strong>und</strong>strömung des entwickelten Kapitalismus – überall auf der Welt <strong>und</strong><br />

geme<strong>in</strong>sam mit den drei anderen bedeutsamen politischen Richtungen des Liberalismus,<br />

Sozialismus <strong>und</strong> Konservatismus. Und ebenso wie diese verändert sich die Rechte – <strong>und</strong><br />

bleibt sich aber auch gleich.<br />

17<br />

Siehe Roland Bach: Ke<strong>in</strong> Spuk, der schnell verschw<strong>in</strong>det. Zu jüngsten Entwicklungen des Rechtsextremismus.<br />

In: Disput 10/2004, S. 30.<br />

18<br />

Siehe „antifa“Gespräch: Die Indifferenz überw<strong>in</strong>den. In Antifa Oktober/November 04, S. 15.<br />

19<br />

Ra<strong>in</strong>er Rill<strong>in</strong>g: Die Rechte ist auch nicht mehr, was sie e<strong>in</strong>mal war. Standpunkte 15/2004 der Rosa-<br />

Luxemburgstiftung Berl<strong>in</strong>.<br />

10


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

Diese Rechte ist nicht mehr, was sie e<strong>in</strong>st war. Im professionellen Politikgeschäft der<br />

Republik kann sie noch wenig mitmischen. Noch ist sie ke<strong>in</strong>e stabile Bewegung im nationalen<br />

Maßstab – aber sie ist national attraktiv geworden <strong>und</strong> hat ganz neue Möglichkeiten. Das ist<br />

nun ganz neu auf jede Tagesordnung zu setzen.“<br />

Hier ist die Grauzone zwischen der so genannten „Mitte der Gesellschaft“ <strong>und</strong> dem so<br />

genannten „rechten Rand der Gesellschaft angesprochen.<br />

Geschichtliche Parallelen zum Ende der Weimarer Republik drängen sich auf: Kommunisten<br />

beschimpfen Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“, konservative Staats- <strong>und</strong> Justizbeamte<br />

drücken alle Augen zu, wenn es um die Bekämpfung der NSDAP geht, Carl von Ossietzkys<br />

Mahnungen <strong>in</strong> der „Weltbühne“ an die beiden großen Arbeiterparteien, das Geme<strong>in</strong>same im<br />

politischen Kampf gegen Rechts <strong>in</strong> den Vordergr<strong>und</strong> zu stellen, f<strong>in</strong>den wenig Gehör.<br />

Auch heute sollten die „natürlichen“ Wurzeln <strong>und</strong> Verb<strong>in</strong>dungen rechter Auffassungen zu<br />

anderen Gr<strong>und</strong>richtungen der Gesellschaft gründlicher untersucht werden, damit geeignete<br />

Gegenstrategien gef<strong>und</strong>en werden können. Das Themenfeld <strong>Antisemitismus</strong> kann dabei e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Rolle spielen.<br />

Schließlich: Stichwort <strong>Antisemitismus</strong> <strong>und</strong> Jugendkultur.<br />

Dies ist e<strong>in</strong> umfassendes Thema. Attraktiv gestaltete rechtsextremistisch ausgerichtete WEB-<br />

Seiten im Internet mit oft offen antisemitischen Aussagen, Judenwitze <strong>in</strong> der Fernsehsendung<br />

„Big Brother“ oder der Gebrauch des Wortes“ Jude“ als beliebtes Schimpfwort auf<br />

Schulhöfen <strong>und</strong> die Texte e<strong>in</strong>schlägiger Musik verweisen auf e<strong>in</strong> weites Feld für geduldige<br />

politische Bildungsarbeit mit <strong>und</strong> unter der Jugend. Leider tragen auch mit viel Aufwand<br />

hergestellte Film- <strong>und</strong> Fernsehdokumentationen oft nur <strong>in</strong> verzerrter Weise oder e<strong>in</strong>fach zu<br />

wenig zu mehr Wissen <strong>und</strong> Erhellung der wesentlich gesellschaftlicher Zusammenhänge <strong>und</strong><br />

H<strong>in</strong>tergründe des Geschehens <strong>in</strong> der Zeit von 1933 bis 1945 bei.<br />

Beispielhaft soll wenigstens e<strong>in</strong> Bereich engagierter Jugendarbeit genannt werden:<br />

Fußballfans gegen <strong>Antisemitismus</strong><br />

Das Bündnis Aktiver Fußballfans (BAFF) hat mit Unterstützung des DGB e<strong>in</strong>e<br />

Wanderausstellung erarbeitet, die seit April 2003 <strong>in</strong> vielen Orten Deutschlands zu sehen war.<br />

tatort stadion. Rassismus <strong>und</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierung im Fußball. Im Begleitheft zur Ausstellung<br />

wird auch auf antisemitische Sprüche e<strong>in</strong>gegangen: „Schwarz-weiß-blau – Juden-HSV“.<br />

In e<strong>in</strong>em Lied der Band „KC“ heißt es:<br />

Hoch auf dem gelben Wagen sitz ich beim Führer vorn.<br />

Vorwärts die (Juden )traben,<br />

lustig schmettert das MG.<br />

Über Wiesen <strong>und</strong> Wäldern leuchtet das (Hakenkreuz).<br />

Ich tät ja so gerne noch bleiben, aber der Führer, der ruft.“<br />

[Die e<strong>in</strong>geklammerten Worte, die jeder Kennt, werden <strong>in</strong> Selbstzensur nur als Piep-Ton<br />

abgespielt.]<br />

besonders Schmähung von Vere<strong>in</strong>en, die <strong>in</strong> ihrer Geschichte tatsächlich viele jüdische<br />

Mitglieder hatten: Tennis Borussia Berl<strong>in</strong>, E<strong>in</strong>tracht Frankfurt, Bayern München, Stuttgarter<br />

Kicker.<br />

Im Jugendbereich, <strong>in</strong> denen auch jüdische Fußballvere<strong>in</strong>e (Makkabi) antreten, kommt es auch<br />

zu tätlichen Angriffen auf Spieler dieser Mannschaften.<br />

Besonders schlimme Beispiele: Verhalten von Deutschen bei Länderspielen:<br />

4.9.1996 Polen-Deutschland <strong>in</strong> Zabrze („Wir fahren nach Polen, um Juden zu versohlen.“;<br />

„Sch<strong>in</strong>dler-Juden – wir grüßen euch.“; alte Nazi-Lieder wie Horst-Wessel-Lied gesungen.)<br />

11


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

Lens <strong>in</strong> Frankreich 1998, WM-Spiel Deutschland Jugoslawien (Reichskriegsflagge; „Wir s<strong>in</strong>d<br />

wieder e<strong>in</strong>marschiert.“; schwerverletztes Opfer: Polizist Daniel Nevil.)<br />

<strong>Antisemitismus</strong> <strong>und</strong> Rechtsextremismus<br />

Bei der Untersuchung neuerer antisemitischer Aktivitäten <strong>und</strong> Äußerungen von<br />

Rechtsextremisten lassen sich u. a. folgende Beobachtungen machen:<br />

Erstens wirken, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> den Kameradschaften, aber auch <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>schlägigen<br />

Parteien wie DVU, Republikaner <strong>und</strong> NPD, die alten Argumentationsmuster des<br />

Nationalsozialismus fort. Wenn der Vorsitzende der NPD, Udo Voigt, nach den<br />

Landtagswahlen <strong>in</strong> Sachsen <strong>und</strong> Brandenburg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitungs<strong>in</strong>terview <strong>und</strong> auch vor<br />

laufender Fernsehkamera mehrfach Hitler e<strong>in</strong>en großen Staatsmann nennt, so ist dies nur<br />

e<strong>in</strong>es von vielen selbstentlarvenden Beispielen. Bemerkenswert ist, daß sich Voigt mit dieser<br />

<strong>und</strong> anderen Äußerungen offen e<strong>in</strong>er möglichen Strafverfolgung aussetzt. 20<br />

Zweitens werden, <strong>in</strong>sbesondere im Zusammenhang mit antiamerikanischen <strong>und</strong><br />

antiisraelischen Aussagen alte Denkmuster (die Kapitalisten der USA-„Ostküste“ als<br />

Metapher für „die Juden“ als Geldgeber <strong>und</strong> Kriegstreiber im Nahen Osten) auch heute häufig<br />

wiederholt. E<strong>in</strong> besonders perfides Beispiel s<strong>in</strong>d antisemitische Verschwörungstheorien,<br />

wonach „die Juden“ rechtzeitig gewarnt wurden, am 11. September nicht zur Arbeit zu gehen<br />

<strong>und</strong> es deshalb vergleichsweise wenige jüdische Todesopfer gegeben habe..<br />

Drittens nutzten <strong>und</strong> nutzen Rechtsextremisten jede sich bietende außerparlamentarische<br />

Bühne, um sche<strong>in</strong>bar demokratisch <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe mit anderen politischen Kräften gegen<br />

bestimmte politische Ersche<strong>in</strong>ungen ihre Stimme zu erheben. Mit bei Demonstrationen gegen<br />

den Irak-Krieg geäußerten Losungen wie: „Geme<strong>in</strong>sam gegen Bush <strong>und</strong> Scharon!“ stießen sie<br />

nicht nur auf Widerspruch. Das Auftreten von Udo Voigt im April diesen Jahres auf e<strong>in</strong>er<br />

Anti-Irakkrieg-K<strong>und</strong>gebung <strong>in</strong> Fürstenwalde rief zwar e<strong>in</strong> lebhaftes Echo <strong>in</strong> den Medien <strong>und</strong><br />

entschiedenen Widerspruch demokratischer Kräfte hervor. Es war aber ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>zelfall, sondern dah<strong>in</strong>ter stand e<strong>in</strong>e strategische Orientierung. Die zahlreichen Nazi-<br />

Demonstrationen der letzten Zeit belegen dies.<br />

Viertens. Wo immer sie können, <strong>in</strong> Parlamenten, bei politischen Veranstaltungen <strong>und</strong> auf der<br />

Straße treten Rechtsextremisten offen gegen die Unterstützung jüdischer Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong><br />

Deutschland auf.<br />

Als der stellvertretende NPD-Vorsitzende Holger Apfel vor kurzem <strong>in</strong> das Stadtparlament von<br />

Dresden e<strong>in</strong>zog, stellte er u.a. folgende Forderungen: Abschaffung des Ausländerrates,<br />

Streichen der Mittel für den Unterhalt der neu errichteten Synagoge. 21<br />

Die Erlaubnis e<strong>in</strong>er NPD-Demonstration gegen den Neubau e<strong>in</strong>er Synagoge <strong>in</strong> Bochum<br />

betrachten Rechtsextremisten mit e<strong>in</strong>igem Recht als e<strong>in</strong>en Durchbruch, e<strong>in</strong>e teilweise<br />

Anerkennung der Gesellschaft, daß solche Forderungen <strong>in</strong> der Gesellschaft heute als legitime<br />

demokratische Me<strong>in</strong>ungsäußerung betrachtet werden.<br />

Fünftens nimmt bei allen Versuchen von Rechtsextremisten, ihren Ruf als Radaubrüder<br />

loszuwerden, die Gewalt gegen Juden als Personen sowie gegen ihre E<strong>in</strong>richtungen zu.<br />

Verantwortliche beobachten bei Gewalttaten gegen Juden als Personen verstärkt geme<strong>in</strong>sames<br />

Agieren von deutschen Rechtsextremisten <strong>und</strong> solchen aus anderen Herkunftsländern. Auch<br />

der vereitelte Bombenanschlag auf die Gr<strong>und</strong>ste<strong>in</strong>legung für den Neubau e<strong>in</strong>er Synagoge <strong>in</strong><br />

20 Siehe Fernsehsendung „Report“, 4.10.2004..<br />

21 Siehe: ND, 15.9.2004.<br />

12


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

München beweist, daß die Gefährlichkeit rechtsextremistischen, antisemitischen Handelns<br />

nicht unterschätzt werden darf<br />

Sechstens. In Wahlkämpfen haben Vertreter rechtsextremistischer Parteien mehrfach lauthals<br />

betont, daß sie mit ihren Forderungen auf dem Boden des Gr<strong>und</strong>gesetzes stehen. In diesem<br />

Zusammenhang wird auch der Vorwurf, Antisemiten zu se<strong>in</strong>, zurückgewiesen.<br />

E<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> die Programme von DVU <strong>und</strong> NPD zu den Landtagswahlen <strong>in</strong> Brandenburg bzw.<br />

Sachsen läßt neben deutlich ausgesprochener Ausländerfe<strong>in</strong>dlichkeit auch ihre unveränderten<br />

antisemitischen Auffassungen erkennen. Insbesondere nationalistisch gefärbten Losungen<br />

wie: „Arbeit zuerst für Deutsche“, „Deutsches Geld für deutsche Menschen!“ 22 oder Sätze<br />

wie: „Die NPD ist die e<strong>in</strong>zige konsequente Kraft gegen Globalismus <strong>und</strong> für volks- <strong>und</strong><br />

raumnahe Wirtschaft! Sie ist die Partei, die sich bewußt für das Existenzrecht der Völker<br />

e<strong>in</strong>setzt <strong>und</strong> gegen die Zerstörung der Volksidentitäten kämpft, die sowohl Ab- wie auch<br />

Zuwanderung gro0er Teile der Arbeitnehmerschaft automatisch mit sich br<strong>in</strong>gen. Haben Sie<br />

Mut zur Veränderung, damit es wieder besser wird!“ 23 me<strong>in</strong>en immer auch: „Die Juden“, ob<br />

mit oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft gehören nicht zu „uns Deutschen“, werden zu „den<br />

Fremden dazugerechnet.. Das wird man selten so direkt f<strong>in</strong>den, wenn sie sich ausführlicher<br />

erklären, schon eher.<br />

Zu e<strong>in</strong>igen soziologischen Untersuchungen.<br />

Bei den immer zahlreicher werdenden soziologischen Projekten, bei denen Menschen<br />

verschiedener sozialer Gruppen <strong>und</strong> verschiedenen Alters nach ihren politischen<br />

Auffassungen gefragt werden, wird oft auch zu deren Me<strong>in</strong>ung über „die Juden“ oder die<br />

Haltung der Probanten zum <strong>Antisemitismus</strong> gefragt.<br />

Diese Studien haben folgende Gr<strong>und</strong>schwächen:<br />

1. Die meisten s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e <strong>Langzeitstudie</strong>n, sondern nur Momentaufnahmen, so daß<br />

Entwicklungstrends von Standpunkten nicht erkennbar s<strong>in</strong>d.<br />

2. Alle Teams haben unterschiedliche Methodiken, so daß die Studien kaum mite<strong>in</strong>ander<br />

vergleichbar s<strong>in</strong>d.<br />

Dennoch soll auf drei Studien h<strong>in</strong>gewiesen werden.<br />

In e<strong>in</strong>er Studie e<strong>in</strong>es Teams der Universität Jena über politische Kultur im Freistaat<br />

Thür<strong>in</strong>gen, der für die Jahre 2001 bis 2003 immer die gleichen Fragen gestellt wurden, heißt<br />

es im Kapitel „Ablehnung der Demokratie: Rechtsextreme E<strong>in</strong>stellungen:<br />

„Wie im Vorjahr läßt sich für den Bereich der Ausländerfe<strong>in</strong>dlichkeit e<strong>in</strong> Zuwachs feststellen.<br />

Entscheidend dafür ist die erheblich gestiegene Zustimmung zu der Aussage ‚Die Ausländer<br />

kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen.’ Die zur Zeit diskutierten massiven<br />

E<strong>in</strong>schnitte <strong>in</strong> die sozialen Sicherungssysteme bieten offenbar e<strong>in</strong>en geeigneten Nährboden<br />

für e<strong>in</strong>e sozioökonomisch motivierte Ausländerfe<strong>in</strong>dlichkeit, Daß derartigen E<strong>in</strong>stellungen<br />

das reale E<strong>in</strong>stellungsobjekt fehlt, liegt angesichts e<strong>in</strong>es Ausländeranteils von etwa 1,8<br />

Prozent <strong>in</strong> Thür<strong>in</strong>gen auf der Hand.<br />

( ...)<br />

Ke<strong>in</strong>e nennenswerten Veränderungen lassen sich bei den Aussagen zum <strong>Antisemitismus</strong> <strong>und</strong><br />

zur Verharmlosung des Nationalsozialismus feststellen. In beiden Fällen fällt die Zustimmung<br />

eher moderat aus. Dar<strong>in</strong> kommt zum Ausdruck, daß dem ‚alten Rechtsextremismus’, der sich<br />

durch die Anknüpfung an Kernelemente der NS-Ideologie auszeichnet, <strong>in</strong>nerhalb des<br />

gesamten Rechtsextremismussyndroms nur e<strong>in</strong>e begrenzte Rolle zukommt.“ 24<br />

22 Siehe: Programm der DVU zu den Landtagswahlen <strong>in</strong> Brandenburg 2004.<br />

23 Siehe: Programm der NPD zu den Landtagswahlen <strong>in</strong> Sachsen 2004.<br />

24 Siehe: Klaus Dicke / Michael Ed<strong>in</strong>ger / Andreas Hallermann / Karl Schmitt (Hrsg.): Politische Kultur im<br />

Freistaat Thür<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>stellungen zur Demokratie. Ergebnisse des Thür<strong>in</strong>gen-Monitors 2003, S. 68-69.<br />

13


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

Auch das Team um Wilhem Heitmeyer, Institut für <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre Konflikt- <strong>und</strong><br />

Gewaltforschung der Universität Bielefeld, hat e<strong>in</strong>e neue Studie vorgestellt.<br />

In e<strong>in</strong>em Pressebeitrag heißt es:<br />

„Und auch antijüdische Ressentiments s<strong>in</strong>d trotz aller Mahnungen <strong>und</strong> Konferenzen weiterh<strong>in</strong><br />

stark verbreitet: Der Aussage „Juden haben <strong>in</strong> Deutschland zu viel E<strong>in</strong>fluß’<br />

stimmen <strong>in</strong> der Befragung 23,4 Prozent zu (2000: 21,7).“ 25 (Hier s<strong>in</strong>d Probanten aller<br />

politischen Gr<strong>und</strong>e<strong>in</strong>stellungen <strong>in</strong>sgesamt geme<strong>in</strong>t.)<br />

Das Zentrum Demokratische Kultur, das u. a. für verschiedene Berl<strong>in</strong>er Stadtbezirke Studien<br />

vor gelegt hat 26 , beschäftigte sich jüngst auch mit Berl<strong>in</strong>-Mitte<br />

Aus der im März 2004 vorgelegten Untersuchung zum Thema „Aspekte der<br />

Demokratiegefährdung im Berl<strong>in</strong>er Bezirk Mitte <strong>und</strong> Möglichkeiten demokratischer<br />

Intervention“ sollen dem Abschnitt: <strong>Antisemitismus</strong> <strong>in</strong> Mitte / Tiergarten / Wedd<strong>in</strong>g im<br />

„ersten Zugriff nur e<strong>in</strong>ige Ergebnisse vorgestellt werden.<br />

Die Autoren verweisen auf die im April 2002 von Elmar Brähler <strong>und</strong> Oskar Niedermeyer<br />

vorgelegte Untersuchung „Rechtsextreme E<strong>in</strong>stellungen <strong>in</strong> Deutschland. Ergebnisse e<strong>in</strong>er<br />

repräsentativen Erhebung“ 27 sowie auf die e<strong>in</strong>schlägigen Berl<strong>in</strong>er Verfassungsschutzberichte<br />

für die Jahre 2002 <strong>und</strong> 2003.<br />

Nach letzteren zitieren sie folgende Zahlen: 28<br />

Anzahl der Straftaten mit antisemitischer Motivation <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>:<br />

1998: 106 1999: 59 2000: 56 2001: 106 2002: 229<br />

Die Autoren erkennen dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en „kont<strong>in</strong>uierlichen Anstieg“, der eigentlich erst für 2001 <strong>und</strong><br />

2002 zutrifft.<br />

Anzahl antisemitischer Propagandadelikte <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

1998: 12 1999: 9 2000: 7 2001: 16 2002: 63<br />

Nach Aussage des Verfassungsschutzes sei das Internet hier für den rapiden Anstieg<br />

verantwortlich.<br />

Die Autoren der Studie bündeln h<strong>in</strong>sichtlich „der bekannten antisemitischen Tätergruppen“,<br />

die ihnen von ihren Interviewpartnern bei der Beschreibung von Vorfällen geschildert wurden<br />

<strong>in</strong> folgende soziologische Typen:<br />

a) Personen, besonders Jugendliche mit paläst<strong>in</strong>ensischem oder anderem arabischen<br />

H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>, vere<strong>in</strong>zelt auch mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> Türkei<br />

b) Deutsche Rechtsextremisten<br />

c) Deutsche Durchschnittsbevölkerung, vere<strong>in</strong>zelt mit christlichem Impetus. 29<br />

Kommentierend heißt es an e<strong>in</strong>er Stelle der Studie:<br />

„Die Analyse zeigt das breite Spektrum antisemitischer Phänomene. Viele dieser Ereignisse<br />

s<strong>in</strong>d nicht unbed<strong>in</strong>gt im strafrechtlichen S<strong>in</strong>ne relevant; prägen jedoch maßgebend das<br />

politische demokratische Klima besonders für jene Personen, die von antisemitischen<br />

Klischees betroffen s<strong>in</strong>d.<br />

25<br />

Siehe: ND, 21.10.2004, S. 6.<br />

26<br />

Studien gibt es außerdem <strong>in</strong>zwischen u. a. über Hohenschönhausen/Lichtenberg, Treptow/Köpenick <strong>und</strong><br />

Marzahn/Hellersdorf.<br />

27<br />

Siehe das zur Pressekonferenz am 2.9.2002 vorgelegte Material.<br />

28 Studie Mitte, S. 71.<br />

29 Ebenda, S. 76.<br />

14


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

Auffallend ist weiterh<strong>in</strong> das breite Spektrum der Tätergruppen. <strong>Antisemitismus</strong> läßt sich<br />

somit nicht auf kle<strong>in</strong>e Personenkreise begrenzen, sondern ist offensichtlich e<strong>in</strong>e Ideologie, die<br />

sich quer durch verschiedene Bevölkerungsgruppen durchzieht. Sie kann damit als<br />

Querschnittsideologie bezeichnet werden.“ 30<br />

Bemerkenswert auch folgende Aussage zu jüdischen Opfern antisemitischer Angriffe:<br />

„E<strong>in</strong>ige Aspekte tauchen <strong>in</strong> unseren Interviews mit jüdischen Personen im Bezirk immer auf.<br />

Es wird von Angst gesprochen, <strong>in</strong> der Öffentlichkeit als Jude erkannt zu werden. Sie haben<br />

Angst vor Belästigungen verbaler Natur bis h<strong>in</strong> zum körperlichen Angriff. Dazu dient e<strong>in</strong>e<br />

Vermeidungsstrategie, die dar<strong>in</strong> besteht, auf alles irgendwie als „jüdisch“ Identifizierbare zu<br />

verzichten. Es ist e<strong>in</strong> Weg des sich bewußt Unsichtbarmachens aus Angst vor antisemitischen<br />

Phänomenen.<br />

Für den E<strong>in</strong>zelnen bedeutet dieses im Alltag e<strong>in</strong>e ungeme<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung der persönlichen<br />

Freiheitsrechte, die e<strong>in</strong>en Kern der demokratischen Kultur bilden. <strong>Antisemitismus</strong> beweist<br />

hier se<strong>in</strong>en demokratiegefährdenden Charakter bereits im Alltag. In den vorliegenden<br />

Aussagen wird das Phänomen nicht auf engere Räume wie gewisse Kieze, Plätze oder Häuser<br />

reduziert, sondern als übergeordnetes Phänomen beschrieben. Der Begriff No Go Area ist<br />

somit nicht <strong>in</strong> Gänze e<strong>in</strong>setzbar, da e<strong>in</strong>e Begrenzung des sozialen Raumes als Teil der<br />

Def<strong>in</strong>ition fehlt. Trotzdem s<strong>in</strong>d diverse Elemente, die e<strong>in</strong>e No Go Area bestimmen, im<br />

Bewußtse<strong>in</strong> von Juden vorhanden. Besonders das Faktum der Angst zieht sich durch das<br />

Datenmaterial h<strong>in</strong>durch. Juden <strong>und</strong> Jüd<strong>in</strong>nen fühlen sich hier <strong>in</strong> der Öffentlichkeit<br />

ungeschützt <strong>und</strong> gezielt angreifbar. Dieses zentrale Merkmal von No Go Areas konnte <strong>und</strong><br />

mußte mehrfach bestimmt werden.“ 31<br />

Hier die Wahrnehmung e<strong>in</strong>er Jüd<strong>in</strong> über ihre alltäglichen Erfahrungen mit <strong>Antisemitismus</strong>:<br />

„Wenn ich mich dann mal klagend geäußert habe, me<strong>in</strong>en deutschen Mitbewohnern<br />

gegenüber, wie schwer es für mich ist dort zu wohnen. In dem Zusammenhang alle<strong>in</strong>stehende<br />

Frau sozusagen. (...) Weil man als besonders schwach erlebt wird, wurde mir dann gesagt,<br />

dann soll ich doch nach Israel gehen. Da kommt man ja wieder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en doppelten Konflikt,<br />

der e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fach begleitet als jüdischer Mensch <strong>in</strong> diesem Land, sicherlich auch woanders,<br />

das Gefühl, man wird nicht gerne gehabt. Sobald man Schwierigkeiten hat, wird man auf der<br />

e<strong>in</strong>en Seite darauf verwiesen, dieses Land zu verlassen. Und auf der anderen Seite wird e<strong>in</strong>em<br />

die politische Situation <strong>in</strong> Israel, woh<strong>in</strong> man auswandern soll, gleichzeitig zum Vorwurf<br />

gemacht, wo man für das politische Geschehen e<strong>in</strong>es Staates dort verantwortlich sei. Ich b<strong>in</strong><br />

hier geboren <strong>und</strong> groß geworden, auch die ganze Familie ist deutsch wie nur irgendwas. Nicht<br />

um das herauszustellen, daß für mich auswandern genauso fremd vorkommt, wo ich mich<br />

natürlich an geschichtlichvergangene Zeiten er<strong>in</strong>nere, wo Menschen, die den gleichen<br />

Glauben hatten, wie ich eben auch, denen e<strong>in</strong>e Rasse zugesprochen wurde, denen die<br />

Staatsangehörigkeit abgesprochen wurde. Und für mich ist diese Aufforderung, auszuwandern<br />

nach Israel, ist schon auch e<strong>in</strong> Stück abschwächen me<strong>in</strong>er deutschen Staatsbürgerschaft. Als<br />

sei die für mich weniger wert. Ich möchte dazu betonen, daß das nicht unbed<strong>in</strong>gt Leute waren,<br />

die das böse me<strong>in</strong>ten. Das empf<strong>in</strong>de ich schon als e<strong>in</strong>e, sagen wir mal, latente antisemitische<br />

Haltung.“ 32<br />

30 Ebenda, S. 79.<br />

31 Ebenda, S. 84.<br />

32 Siehe: Klaus Dicke / Michael Ed<strong>in</strong>ger / Andreas Hallermann / Karl Schmitt (Hrsg.): Politische Kultur im<br />

Freistaat Thür<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>stellungen zur Demokratie. Ergebnisse des Thür<strong>in</strong>gen-Monitors 2003, S. 77-78.<br />

15


Rosa-Luxemburg-Stiftung –Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> Politische Bildung - Sem<strong>in</strong>armaterialien<br />

Die Autoren heben <strong>in</strong> ihrer Studie mit Nachdruck hervor: „Wir weisen ausdrücklich darauf<br />

h<strong>in</strong>, daß Stereotype von Juden nichts, aber auch gar nichts über Juden, sondern nur viel<br />

über den aussagen, der sie verwendet.“ 33<br />

<strong>Antisemitismus</strong> bei deutschen „L<strong>in</strong>ken“<br />

„L<strong>in</strong>ke s<strong>in</strong>d Menschen wie Du <strong>und</strong> Ich. Antisemitische Äußerungen oder zumeist verborgen<br />

gehaltene Ansichten solcher Art kommen auch bei ihnen vor. Zum Beispiel wenn es um ganz<br />

persönliche Belange geht. Wenn Rückübertragungsansprüche für jüdisches Eigentum das<br />

eigene Gr<strong>und</strong>stück betreffen oder das Mietshaus, <strong>in</strong> dem man schon so lange wohnt. Dr<strong>in</strong>gen<br />

dann vielleicht unbedachte, aber e<strong>in</strong>deutige Bemerkungen <strong>in</strong> die Öffentlichkeit, ist das<br />

Geschrei groß <strong>und</strong> zumeist e<strong>in</strong> Medienecho sicher. Dabei regt sich ke<strong>in</strong>er auf, wenn solche<br />

Äußerungen von politisch nicht als „l<strong>in</strong>ks“ zu verortenden Menschen kommen.<br />

Hier Beispiele aus me<strong>in</strong>em eigenen Erlebnisbereich:<br />

- Frage e<strong>in</strong>es Ehepaares aus Süddeutschland bei e<strong>in</strong>er Stadtführung auf den Spuren<br />

früheren jüdischen Lebens <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte: Kennen sie nicht e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eres Haus hier,<br />

das Juden zurück bekommen <strong>und</strong> das wir ihnen abkaufen könnten? Unser Sohn<br />

studiert jetzt <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, da wäre das günstig.<br />

- Frage e<strong>in</strong>es Journalisten: Befürchten Sie ke<strong>in</strong>e Zunahme des <strong>Antisemitismus</strong>, wenn<br />

Juden jetzt hier <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Mitte so sehr viele Häuser wiederbekommen?<br />

- Me<strong>in</strong>ung e<strong>in</strong>es Gesprächspartners bei e<strong>in</strong>em Straßenfest: Es ist ja gut, daß seit 1989<br />

altes Unrecht auch im Osten Deutschlands beseitigt wird. Aber muß man denn bei der<br />

Rückübertragung bis 1938 zurückgehen? Ich hielte es für ausreichend, nur das seit<br />

1945 <strong>in</strong> der DDR begangene Unrecht aufzuheben.<br />

Vere<strong>in</strong>zelte antisemitische Äußerungen von so genannten „L<strong>in</strong>ken“ gibt es jedoch auch auf<br />

anderen Ebenen:<br />

Erstens s<strong>in</strong>d „L<strong>in</strong>ke“ objektiv immer <strong>in</strong> Gefahr, mit antisemitischen Ansichten <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung<br />

gebracht zu werden, weil ihre konsequent vorgetragene generelle Kritik an den bestehenden<br />

gesellschaftlichen Verhältnissen vor der Kritik an politischen Aktivitäten etwa der USA oder<br />

Israels nicht Halt macht. Das wurde schon erörtert.<br />

Zweitens sei auf folgende, nur selten geäußerte Haltung h<strong>in</strong>gewiesen: „L<strong>in</strong>ke“, die sich weit<br />

l<strong>in</strong>ks von der PDS e<strong>in</strong>ordnen, gefallen sich mitunter auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Deutschland-Haß, weil sie<br />

die Gesellschaft, <strong>in</strong> der sie leben müssen, absolut ablehnen. Das äußert sich dann<br />

beispielsweise <strong>in</strong> Losungen <strong>und</strong> Flugblättern, mit denen sie sich an Gedenkveranstaltungen <strong>in</strong><br />

Dresden zu den Bombenopfern des alliierten Großangriffs <strong>vom</strong> Februar 1945 beteiligen.<br />

Kaum e<strong>in</strong>er der Anwesenden versteht <strong>und</strong> billigt, was im Februar 2004 auf e<strong>in</strong>em Transparent<br />

zu lesen war: „Harris, do it aga<strong>in</strong>!“ 34<br />

Nicht auszudenken, was als nächstes folgen könnte: „Hitler, do it aga<strong>in</strong>!“<br />

Auch dagegen gilt es mit politischen Mitteln anzukämpfen.<br />

Die PDS hat jüngst auf ihrem Potsdamer Parteitag der PDS bekräftigt, daß alle<br />

demokratischen Kräfte <strong>in</strong> ihr – wie bisher – e<strong>in</strong>en verläßlichen Partner hat, wenn es um den<br />

konsequenten Kampf gegen den Rechtsextremismus, Rassismus <strong>und</strong> <strong>Antisemitismus</strong> geht. 35<br />

33 Siehe: Ebenda, S. 79.<br />

34 Nach Informationen von Carsten Hiller.<br />

35 Siehe: Leitantrag, verabschiedet von der 1. Tagung des 9. Parteitages der PDS <strong>in</strong> Potsdam (30./31.102004).<br />

16

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!