Gute Stimmung dank Mathe - Justus-Liebig-Universität Gießen
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<strong>Gute</strong> <strong>Stimmung</strong> <strong>dank</strong> <strong>Mathe</strong><br />
Tomas Sauer<br />
<strong>Justus</strong>–<strong>Liebig</strong>–<strong>Universität</strong> <strong>Gießen</strong><br />
<strong>Mathe</strong>matisches Institut, Wissenschaftliches Rechnen<br />
Heinrich–Buff–Ring 44<br />
D–35392 <strong>Gießen</strong><br />
11.1.08<br />
1 Eine Warnung am Anfang<br />
Dies ist ein mathematischer Zugang zu <strong>Stimmung</strong>en, Harmonien und Tonleitern und<br />
da all das mit ganzzahligen Verhältnissen, also Brüchen, zu tun hat, werde ich auch<br />
nur Brüche verwenden - außer natürlich da, wo es sich nicht vermeiden lässt, nämlich<br />
bei der temperierten <strong>Stimmung</strong>. Daher werden hier auch keine der so beliebten Objekte<br />
aus der Musikterminologie wie ” Cent“ auftauchen und auch (fast) keine taschenrechnermäßigen<br />
Dezimalbruchentwicklungen. Harmonie ist etwas exaktes und nicht<br />
näherungsweises, und das beschreibt man durch Brüche und nicht durch Nachkommastellen.<br />
Um das Ganze hier zu verstehen braucht man eigentlich nur ein klein wenig guten<br />
Willen, sich darauf einzulassen, die mathematischen Vorkenntnisse sind nicht so<br />
dramatisch. Das meiste ist Bruchrechnen und wenn man Logarithmen und trigonometrische<br />
Funktionen nicht versteht, dann muss man halt einfach glauben, daß Oktav und<br />
Quinte die konsonanten Intervalle sind und daß es kein Zufall ist, daß unsere Tonleiter<br />
12 Halbtonschritte enthält. Aber es macht natürlich viel mehr Spaß, zu verstehen,<br />
warum . . .<br />
2 Partialtöne<br />
Die mathematischen Grundlagen der <strong>Stimmung</strong> von Musikinstrumenten kann man<br />
nicht verstehen, ohne sich zuerst einnal ein paar Ge<strong>dank</strong>en über die Natur der musikalischen<br />
Töne gemacht zu haben. Einen Ton kann man durch seine Amplitude zum<br />
jeweiligen Zeitpunkt beschreiben – das ist das, was man sieht, wenn man beispielsweise<br />
eine WAV–Datei plotten lässt. Selbst wenn nur ein konstanter Ton gespielt wird, ist<br />
das normalerweise eine ziemlich gezackte Linie.<br />
1
Alternativ kann man einen Ton durch Überlagerung von Sinusschwingungen mit<br />
verschiedenen Frequenzen 1 darstellen, also irgendwie in der Form 2<br />
a(t) = f1 sin 2πω1t + f2 sin 2πω2t + · · · + fn sin 2πωnt,<br />
wobei f1, . . . , fn die Amplituden 3 zu den Partialtönen mit den Frequenzen ω1, . . . , ωn<br />
sind. Wenn wir die Frequenzauflösung unendlich fein treiben würden, dann würde aus<br />
der Summe da oben ein Integral werden, die sogenannte inverse Fouriertransformation,<br />
die den Ton aus seinem Frequenzspektrum rekonstruiert. Aber das brauchen wir<br />
noch nicht einmal!<br />
In akustischen Instrumenten werden die “hörbaren” Töne normalerweise durch Resonanzphänome<br />
erzeugt, der eigentliche Tonerzeuger, im Fall von Sackpfeifen das<br />
Rohrblatt, ist ja viel leiser 4 , siehe beispielsweise [5] oder [1]. Aus physikalischen<br />
Gründen sind solche Resonanzfrequenzen aber an die Länge der stehenden Welle gekoppelt<br />
und daher sind die Frequenzen der Partialtöne ganzzahlige Vielfache der Frequenzen<br />
des Grundtons:<br />
ωj = j ω1 = jω, j = 1, 2, . . .<br />
und wir haben jetzt wirklich eine diskrete Partialtonreihe:<br />
a(t) = f1 sin 2πωt + f2 sin 2π 2ωt + · · · + fn sin 2π nωt;<br />
irgendwann kann man getrost abbrechen, denn dann sind die Anteile der ganz hochfrequenten<br />
Partialtöne weder wahrnehmbar noch messbar. Die Größen f1, . . . , fn bestimmen<br />
übrigens ganz massiv die Klangfarbe, bei zylindrisch gebohrten Holzblasinstrumenten<br />
ist sogar f2 = f4 = f6 = · · · = 0, was für den wahlweise “dumpferen”<br />
oder “lieblicheren” Klang derartiger Instrumente zuständig ist.<br />
Wir halten fest: Ein einzelner Ton hat die Eigenschaft, daß seine Partialtöne einen<br />
gleichmäßigen Abstand voneinander haben und die zugehörigen Frequenzen sogar<br />
Vielfache der Grundfrequenz ω sind. Dies ist die perfekteste Form der Konsonanz!<br />
Und damit wird auch klar, warum die Oktave, also ein Ton mit der Frequenz ω ′ = 2ω.<br />
Schreiben wir diesen mit seinen Partialtönen hin, dann haben wir<br />
a ′ (t) = f ′ 1 sin 2πω ′ t + f ′ 2 sin 2π2ω ′ t + · · · + f ′ n sin 2πnω ′ t<br />
= f ′ 1 sin 2π2ωt + f ′ 2 sin 2π4ωt + · · · + f ′ n sin 2π2nωt,<br />
1Eigentlich ist der Begriff “Frequenz”, also “Schwingungen pro Sekunde” auch nur für Sinusschwingungen<br />
vernünftig, der gezackte Kammerton a, den eine Sackpfeifenschalmei liefert, hat keine wirkliche<br />
Frquenz von 440Hz, was so nun auch wieder nicht stimmt, weil er sich idealerweise genau 440 Mal pro<br />
Sekunde wiederholen würde. Nein, diese Fußnote muss man nicht wirklich verstehen.<br />
2Hier nehmen wir an, daß die einzelnen Schwingungen wenigstens phasengleich sind, man kann die<br />
Allgemeinheit ja auch übertreiben.<br />
3Also eigentlich eher Fourierkoeffizienten, aber wen interessiert das schon?<br />
4Wer das nicht glaubt, soll mal das Blatt aus seiner Spielpfeife nehmen und versuchen, damit einen<br />
Markt zu beschallen. Was in manchen Fällen vielleicht gar keine schlechte Idee wäre . . .<br />
2
und spielen wir die beiden Oktavtöne simultan, dann steht da<br />
a(t) + a ′ (t)<br />
= f1 sin 2πωt + (f2 + f ′ 1) sin 2π2ωt + f3 sin 2π3ωt + (f4 + f ′ 2) sin 2π4ωt + · · ·<br />
= g1 sin 2πωt + g1 sin 2π2ωt + g3 sin 2π3ωt + g4 sin 2π4ωt + · · ·<br />
= b(t).<br />
Diese Formel zeigt, was bei der Oktave wirklich passiert: Die Partialtöne verschmelzen<br />
und werden zu einem Ton mit derselben Frequenz ω, allerdings einer anderen<br />
Partialtonverteilung, also einer anderen Klangfarbe.<br />
Der nächstkonsonantere Ton, die Quinte, hat ω ′ = 3ω<br />
und erzeugt nun wirklich<br />
2<br />
einen “neuen” Ton, da neben den Überlagerungen bei ω, 2ω, . . . nun auch Partialtöne<br />
mit den Frequenzen 3 9 15 ω, ω, ω, . . . auftauchen. Trotzdem liefert auch die Quinte<br />
2 2 2<br />
noch ein relativ gleichmäßiges Bild, und der Abstand zwischen den Partialtonfrequenzen<br />
ist, obgleich nur halb so groß wie bei der Oktave, immer noch recht erträglich.<br />
Auch die Quarte, ω ′ = 4ω,<br />
ist noch konsonant, auch wenn Quartbordune schon ein<br />
3<br />
wenig zu nerven beginnen und nicht mehr uneingeschränkt gut klingen. Naja, hier sind<br />
die Partialtöne ja auch noch ein Stückchen näher beisammen, nämlich 1 des Abstands<br />
3<br />
bei der Oktave. Und das ist das Wesen5 der Dissonanz: Partialtöne mit eng beisammenliegenden<br />
Frequenzen, denn die erzeugen seltsame Effekte wie Schwebungen und<br />
ärgern ganz allgemein unser Wahrnehmungssystem, wie schon Helmholtz feststellte.<br />
In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich daran zu erinnern, daß bei den guten<br />
alten Griechen, insbesondere den Pythagoräern, Harmonie als kleine ganzzahlige<br />
Verhältnisse verstanden wurde, siehe [8] – intuitiv sehr gut, oder?<br />
3 Reine Quinten sind quintenrein<br />
Die Idee der pythagoräischen Skala besteht nun darin, sich eine Tonleiter aus möglichst<br />
konsonanten Intervallen aufzubauen, indem man möglichst viele Quinten und Oktaven<br />
verwendet. Fangen wir einfach mal mit dem Grundton und seiner Oktave an:<br />
ω 2ω<br />
Bleiben wir konsonant und bauen auch noch die Quinte zum Grundton ein und den<br />
Ton, zu dem 2ω die Quinte ist, dessen Frequenz also 3<br />
2ω′ = 2ω, also ω ′ = 4<br />
3ω erfüllen muss6 :<br />
ω 4 3<br />
ω ω 2ω<br />
3 2<br />
Dann nehmen wir doch – weil’s so schön konsonant ist – zum größeren der beiden<br />
ω, was aber leider nicht mehr von dieser<br />
neuen Töne 7 , und erhalten nun plötzlich 9<br />
4<br />
5 Oder Unwesen?<br />
6 Mehr als einen Dreisatz brauchen wir hier nicht mal!<br />
7 Übung: Was kommt raus, wenn wir die Quinte zum kleineren der beiden nehmen? Richtig – nix<br />
neues!<br />
3
Welt, Entschuldigung, von dieser Oktave ist. Moment! Was haben wir doch gleich<br />
wieder gelernt? Richtig: Oktave ist eigentlich nichts anderes als Grundton mit etwas<br />
ausgedünnter Partialtonreihe, also derselbe Ton, nur mit anderem Klang, so daß wir uns<br />
um Oktaven nicht zu scheren brauchen und einfach den Ton mit Frequenz 9ω<br />
verwen-<br />
8<br />
den und in unsere Tonfolge einreihen können – das ist die Sekunde, unser universeller<br />
pythagoräischer Ganztonschritt. Dasselbe Spiel mit der Unterquint zur Quarte landet<br />
bei 8<br />
19<br />
, also eine Oktave zu tief und wird daher auf 9 9 getuned8 und die neue Skala hat<br />
somit die Form<br />
ω 9 4 3 16<br />
ω ω ω ω 2ω.<br />
8 3 2 9<br />
Quinte und Unterquinte zu 9<br />
27<br />
3 3<br />
ω sind nun ω sowie ω = ω, nur der erste Ton ist<br />
8 16 4 2<br />
neu. Analog bekommen wir als Quinte und Unterquinte zu 16<br />
8 4<br />
ω die Töne ω = 9 3 3ω ω, womit wir unsere quintenreine (pythagoräische) diatonische Skala9<br />
und 32<br />
27<br />
ω 9<br />
8<br />
ω 32<br />
27<br />
ω 4<br />
3<br />
ω 3<br />
2<br />
ω 27<br />
16<br />
16<br />
ω ω 2ω (1)<br />
9<br />
konstruiert hätten. Dieser Prozess lässt sich nun beliebig fortsetzen und liefert eine<br />
beliebig feine Skala, in der alle Töne entweder von der Form <br />
3 a <br />
b 2 a b<br />
÷2 oder ×2 2<br />
3<br />
sind10 und in der alle Quinten absolut sauber sind - so haben wir die Töne ja schließlich<br />
konstruiert . . .<br />
So, nun holen wir nochmal tief Luft und erinnern uns, was wir hier eigentlich gemacht<br />
haben. Wir haben mit dem Grundton angefangen und zu diesem die Ober- und<br />
Unterquint gebildet und diese Töne - wenn nötig - um eine Oktave erhöht oder erniedrigt,<br />
damit sie wieder in die Ausgangsoktave passen. Das führte zu einem oberen“<br />
”<br />
und einem unteren“ Ton und nun können wir immer weiter so fortfahren, indem wir<br />
”<br />
zum oberen“ Ton die Oberquinte und zum unteren“ Ton die Unterquinte bilden, und<br />
” ”<br />
so immer ein neues Pärchen von Tönen in unsere Skala einfügen. Jede Wiederholung<br />
dieses Prozesses liefert zwei neue Töne11 und wir erhalten so eine beliebig feine Skala<br />
mit einer schönen Eigenschaft:<br />
8 Dieses Wortspiel klappt leider nur im Englischen. Apropos: What is the difference between a bagpipe<br />
and a lawnmower? A lawnmower can be tuned.<br />
9 Allerdings mit einer sehr kleinen Terz von 32<br />
27 , die sogar noch knapp (etwa 1,2%) unter der ” norma-<br />
len“ kleinen Terz, 6<br />
5 liegt; eine ”<br />
große“ Terz wie in einer Dur-Skala bekommen wir erst, wenn wir noch<br />
einen Konstruktionsschritt nachschieben, der uns dann die handelsüblichen Halbtöne 81<br />
64<br />
liefert, das wären bei einem Grundton von G die Töne Fis (= sehr große Terz) und Es (= kleine Sexte)<br />
und einen von den beiden brauchen wir für die Dur-Skala, den anderen für die Moll-Skala.<br />
10Dabei durchläuft a die Werte 1, 2, 3, . . . und b muss so gewählt werden, daß der resultierende Wert<br />
zwischen 1 und 2 liegt.<br />
11 Denn sonst wäre ja entweder<br />
a 3<br />
÷ 2<br />
2<br />
b =<br />
c 3<br />
÷ 2<br />
2<br />
d<br />
oder<br />
a 3<br />
÷ 2<br />
2<br />
b =<br />
c 2<br />
× 2<br />
3<br />
d<br />
und in beiden beiden Fällen führt das zu einer unerfüllbaren Gleichung der Form 2 x = 3 y . . .<br />
4<br />
ω und 128<br />
81 ω,
Mit jedem Ton, der nicht gerade im letzten Schritt konstruiert wurde, liegt auch<br />
seine Quinte in der Skala.<br />
Und nachdem die Sekunde ja bekanntlich sehr früh gebastelt wurde, erlaubt diese<br />
<strong>Stimmung</strong> eine Mollskala“ mit Umstimmung des Borduns, so wir nur unsere große<br />
”<br />
Terz und kleine Septime eingebaut haben. Die passende diatonische Skala, die das<br />
” Mollen“ durch Hochstimmen des Borduns ermöglicht, ist dann, auf einen None aufgebohrt,<br />
ω 9 81 4 3 27 16 9<br />
ω ω ω ω ω ω 2ω ω. (2)<br />
8 64 3 2 16 9 4<br />
Diese Terz hier, der Ditonus ist nun ein klein wenig zu hoch, aber das macht ja nichts,<br />
dafür hat die Mollstimmung“ mit dem höheren Bordun eine perfekte Sekunde und mit<br />
4 9 32 ”<br />
÷ = eine etwas zu kleine Terz, aber ebenfalls eine perfekte Quart, Quinte und<br />
3 8 27<br />
Oktave. Allerings zahlt man bei (2) auch einen Preis für die eierlegende Wollmilchsaustimmung,<br />
und das ist die Quinte“ zwischen der eingefügten großen Terz und der<br />
”<br />
Septime, die jetzt eben<br />
16 81 1024<br />
ω ÷ = 1.4047<br />
9 64 729<br />
beträgt und weit von den 3 einer richtigen Quinte entfernt ist. Das ist die sogenannte<br />
2<br />
pythagoräische Wolfsquinte - ein Intervall, das man besser vermeidet.<br />
4 Pythagoras und seine Spiralen<br />
Wenn wir unsere quintenreine <strong>Stimmung</strong> noch dreimal erweitern, dann erhalten wir neben<br />
den bereits bekannten 81 128<br />
243 256<br />
ω und ω auch noch die beiden Töne ω und 64 81 128 243ω, sowie 729 1024 ω und ω, die zum einen relativ nahe beisammenliegen und andererseits<br />
512 729<br />
ziemlich genau in der Mitte zwischen Quart und Quinte, also bei 3<br />
17<br />
12ω liegen12 . Tatsächlich ist<br />
2<br />
ω + 4<br />
3 ω /2 =<br />
729 1024 312<br />
ω ÷ ω = 1.0136<br />
512 729 219 schon wirklich recht nahe bei Eins und hätte um ein Haar den Quintenzirkel geschlossen,<br />
der so aber leider13 zur pythagoräischen Spirale, siehe [4], wird. Häh? Zur was<br />
bitte? Um das nun wieder zu verstehen, verwenden wir eine etwas andere Konstruktion<br />
einer Tonleiter, indem wir einfach nur um Quinten nach oben gehen und gegebenenfalls<br />
das Ergebnis um eine Oktave erniedrigen. Die Tonfolge, die wir so erhalten,<br />
besteht erst einmal aus lauter alten Bekannten:<br />
ω → 3 9 9 27 81 243<br />
ω → ω = ω → ω → ω → ω → · · ·<br />
2 2 4 16 64 128<br />
12 Daß 17<br />
12 auch noch eine (sehr) gute Näherung für die irrationale Zahle √ 2, siehe [10], also die<br />
Intervallmitte ist, wird bei der temperierten <strong>Stimmung</strong> hilfreich sein.<br />
13 Oder glücklicherweise, denn sonst wäre alles ja viel zu einfach und damit langweilig.<br />
5
nämlich genau aus der ” oberen Hälfte“ unserer quintenreinen Konstruktion. Alle Töne<br />
sind jetzt von der Form<br />
3a ω,<br />
2b , a = 0, 1, 2, . . ., und b ist so gewählt, daß 1 ≤ 3a<br />
2 b < 2 oder 0 ≤ log 2 3 a − b < 1<br />
bzw. log 2 3 a − 1 < b ≤ log 2 3 a ist. Keine Angst - der Logarithmus wird uns gleich<br />
nochmal verfolgen.<br />
Unsere Tonleiter wäre vollkommen, wenn die Konstruktion irgendwann bei einem<br />
bereits konstruierten Ton landen würde, also wenn wir irgendwann bei einem Pärchen<br />
a, b ankämen, zur dem es ein weiteres, ” früheres“ Pärchen c, d gibt, so daß<br />
3a 3c<br />
=<br />
2b 2d also 1 = 3a−c<br />
2<br />
b−d =: 3x<br />
, (3)<br />
2y wobei x = a − c und y = b − d lediglich Abkürzungen sind. Da 3 x = 2 y aber leider<br />
nur im Trivialfall 14 x = y = 0 möglich ist, also können wir nur versuchen, Paare x, y<br />
zu finden, für die wir in (3) möglichst nahe bei Eins landen. Da (3) nichts anderes als<br />
3 x = 2 y<br />
⇔ x log 2 3 = y ⇔<br />
y<br />
x = log2 3 (4)<br />
bedeutet, ist das gleichbedeutend dazu, die irrationale Zahl log 2 3 mögichst gut durch<br />
einen Bruch anzunähern, dessen Nenner x uns dann sagt, wie viele Quinten wir brauchen<br />
um näherunsgweise y Oktaven zu bekommen.<br />
Nun lernt man im ersten Semester des <strong>Mathe</strong>matikstudiums [6], daß die rationalen<br />
Zahlen 15 dicht in den rellen Zahlen 16 liegen, daß wir also (4) beliebig genau ” erfüllen“<br />
können, wenn wir nur den Nenner x groß genug machen - mit ausreichendem Aufwand<br />
lässt sich hier also fast alles machen. Das ist aber natürlich in der Praxis Schwachsinn,<br />
wir wollen ja mit möglichst wenigen Quinten eine möglichst gute Näherungsoktave<br />
erreichen oder, noch besser, unser x so wählen, daß sich der Aufwand wenigstens<br />
lohnt, daß also die erreichte Näherung im Verhältnis zu x besonders gut ist.<br />
Nun ist die Frage ” Wie können wir für vorgegenenes x unser y am besten wählen?“<br />
recht leicht beantworten: Man nimmt einfach log 2 3x und rundet diese Zahl einfach wie<br />
man’s mal in der Schule gelernt hat17 auf die nächstgelegene ganze Zahl und nimmt<br />
das als y. Der Fehler, den man hierbei macht, ist im allerschlimmsten Fall 1 und damit<br />
2<br />
ist die Abweichung zwischen Bruch und Logarithmus höchstens<br />
<br />
<br />
y<br />
x − log2 3<br />
<br />
<br />
≤ 1<br />
2x .<br />
14 Per definitionem ist a 0 = 1 wenn a = 0 ist - von 0 0 lässt man besser die Finger, das ist in bester<br />
quantenphysikalischer Tradition gleichzeitig Null oder Eins.<br />
15 Also die Brüche<br />
16 Und zu denen gehört auch unser Freund log2 3 - eine taschenrechnerkompatible Dezimalnäherung<br />
spare ich mir hier, denn die hilft ja sowieso nichts; falls es jemandem noch nicht aufgefallen ist: Wir<br />
rechnen hier nur mit richtigen Brüchen, die schon für den guten alten Pythagoras die einzig wahren<br />
Träger der Harmonie waren.<br />
17 Es wird auch gerne als ” kaufmännische Rundung“ bezeichnet.<br />
6
OK, das ist einfach, das kann jeder, und das klappt mit jedem x, aber damit geben wir<br />
uns nicht zufrieden! Es gibt nämlich Werte für x, die das viel besser können und die<br />
uns <br />
y<br />
x − log2 3<br />
<br />
<br />
≤ 1<br />
x2 <br />
<br />
und sogar y<br />
x − log2 3<br />
<br />
<br />
≤ 1<br />
2x2 (5)<br />
liefern, was natürlich deutlich besser ist! Und erstaunlicherweise (oder eben auch<br />
nicht), wissen <strong>Mathe</strong>matiker schon seit langer Zeit [2, 3], wie solche magischen Nenner<br />
aussehen - es sind die sogenannten Konvergenten der Kettenbruchentwicklung der<br />
irrationalen Zahl18 . Was genau diese Kettenbrüche sind, das würde an dieser Stelle ein<br />
klein wenig zu weit führen, aber es gibt eine Menge Literatur dazu, siehe nur [7, 9],<br />
und wird außerdem sehr ausführlich in [1] erklärt. Für unsere Zwecke reicht es, daß<br />
die magischen“ Konvergenten zu den Nennern x = 5 (pentatonisch), x = 12 (unse-<br />
”<br />
re normale Skala), x = 41 (ungebräuchlich19 ) und x = 53. Letztere Skala war wohl<br />
schon den Pythagoräern bekannt20 und in [1] findet sich sogar einer Abbildung eines<br />
53-tönigen Harmoniums21 zu dieser Skala. Das war’s dann wohl aber auch schon, denn<br />
das nächste gute x findet sich bei 669 . . .<br />
Gut, was ist nun die Aussage dieses Abschnitts? Ganz einfach: Es ist prinzipiell<br />
unmöglich, eine Tonleiter nur aus konsonanten Intervallen aufzubauen, irgendwo<br />
beisst sich’s immer, und dieser Biss“ ist das pythagoräische Komma 1 −<br />
” 3x<br />
2y der Skala.<br />
Aber, und vielleicht viel wichtiger:<br />
Es ist kein Zufall und keine Konsequenz pseudoreligiöser Zahlenmystik, daß unsere<br />
westliche Skala gerade aus 12 Halbtönen aufgebaut ist.<br />
5 Dem Reinen ist alles rein<br />
Nach diesem kleinen mathematischen Picknick 22 aber jetzt zurück zu unseren Tonleitern<br />
und unserer ” perfekten“ Bordunskala (2). Die ist zwar schön und umstimmbar,<br />
aber birgt ein praktisches Problem und ein theoretisch-philosophisches Ärgernis, und<br />
zwar die Brüche mit den sehr großen Zählern und Nennern, also beispielsweise 27<br />
16ω ω für die Terz. Solche Verhältnisse sind nicht einfach zu<br />
oder auch den Ditonus 81<br />
64<br />
18 Huygens verwendete dieses Prinzip bei der Konstruktion eines mechanischen Planetenmodells,<br />
um die irrationalen Umlaufverhältnisse durch rationale Übersetzungsverhältnisse von Zahnrädern an-<br />
zunähern.<br />
19 Wohl auch, weil der Faktor 1<br />
2<br />
in (5) in diesem Fall fehlt.<br />
20 Man kann sie ja auch ” experimentell“ bestimmen, indem man einfach quintenzirkelt, bis es irgendwann<br />
passt. Man braucht nur Zeit und Beharrlichkeit.<br />
21 Das den Namen wohl zurecht trägt, bei all den vielen Quinten, die es hat.<br />
22 Also ein Exkurs mit vielen leckeren Dingen und die <strong>Mathe</strong>matik der Kettenbrüche gehört wirklich<br />
zum schönsten, was sich finden lässt.<br />
7
konstruieren23 und außerdem entsprechen sie nicht dem pythagoräischen Harmonieverständnis,<br />
in dem Harmonie als kleines ganzzahliges Zahlverhältnis angesehen wird<br />
- dieses lässt sich ja auch über die Partialtöne erklären und begründen und ist nicht<br />
nur eine pur philosophische Definition! Ein Ditonus ist auch kein wirklich konsonates<br />
Intervall und bei hinreichend kräftigen Partialtönen knirscht der ganz schön. Deswegen<br />
haben sich auch eine ganze Menge von mathematisch zumindest angehauchten<br />
Naturphilosophen, unter ihnen Newton und Galilei24 , mit diesem Thema befasst und<br />
Lösungsansätze geliefert. Am populärsten ist hierbei die reine <strong>Stimmung</strong>25 , bei der<br />
Sekunde, Quarte, Quinte und Oktave beibehalten werden und nur die unschönen“<br />
”<br />
Töne mit den großen Nennern durch kleinere Zahlenverhältnisse ersetzt werden. Die<br />
Verhältnisse sind nun<br />
ω 9 6 5 4 3 8 5 9<br />
ω ω / ω ω ω ω / ω ω /15ω<br />
2 (6)<br />
8 5 4 3 2 5 3 5 8<br />
wobei für Terz, Sexte und Septime immer die große und kleine Version aufgelistet ist,<br />
die restlichen Halbtöne sind erst mal weggelassen. Vorteil dieser <strong>Stimmung</strong> ist, daß<br />
nun die Terzen besser klingen, was bei Akkordbegleitung durchaus vorteilhaft ist.<br />
Die diatonische reine Dur-Skala“ mit großer Terz, Sexte und Septime besteht dann<br />
”<br />
aus den Tönen<br />
ω 9 5 4 3 5 15<br />
ω ω ω ω ω ω 2, (7)<br />
8 4 3 2 3 8<br />
die entsprechende Moll-Skala aus<br />
ω 9 6 4 3 8 9<br />
ω ω ω ω ω ω 2, (8)<br />
8 5 3 2 5 5<br />
und hier tut man gut daran, die Skala durch zusätzliche Daumenlöcher und/oder Gabelgriffe<br />
zu realisieren, denn der Trick, einen Ton hochzugehen und dann bei einer<br />
” Moll“skala zu landen, funktioniert zwar bei der quintenreinen pythagoräischen, nicht<br />
aber bei der reinen <strong>Stimmung</strong>. Dazu vergleichen wir einfach mal die reinen Molltöne<br />
zur Sekunde26 mit dem, was uns die Skala liefert, und um wieviel die Skala von den<br />
reinen Molltönen absolut abweicht:<br />
Rein Moll 9<br />
8<br />
Skala 9<br />
8<br />
ω 81<br />
64<br />
ω 5<br />
4<br />
Fehler 0 − 1<br />
64<br />
ω 54<br />
40<br />
ω 4<br />
3<br />
ω 3<br />
2<br />
ω 3<br />
2<br />
ω 27<br />
16<br />
ω 9<br />
5<br />
81 9 ω ω 40 4<br />
5 15<br />
ω ω 3 8 ω 2 9<br />
4<br />
1 − 0 − 60 1<br />
48<br />
3<br />
40<br />
1 − 40<br />
Die relativ große Abweichung bei der Sexte löst man meistens durch einen Gabelgriff<br />
27 , aber der Fluch der reinen <strong>Stimmung</strong> mit ihren schönen Terzen besteht eben<br />
23 Auch wenn es sehr komplexe und clevere Konstruktionswerkzeuge, die sogenannten Propostional-<br />
zikel, gab.<br />
24 Siehe [4], dort wird das beschrieben.<br />
25 Im Englischen als just intonation bezeichnet.<br />
26 Also alle Töne der Mollskala mit dem Sekundenfaktor 9<br />
8 multipliziert.<br />
27 Auf ” C-Hümmelchen“ mit einem h ist meistens ein Gabelgriff möglich, mit dem man ein b = h ♭<br />
bekommt, um so C-Dur und d-Moll spielen zu können.<br />
8<br />
0
darin, daß die Quinte in der Mollskala nicht mehr passt und damit das schönste Intervall<br />
nach der Oktave futsch ist. Und der Fehler ist mit 1 schon relativ groß, das<br />
48<br />
Verhältnis der Töne ist ja 81,<br />
der Fehler in der Frequenz liegt also bei 1.25%. Dann<br />
80<br />
kann man auch gleich temperiert stimmen.<br />
6 Alle sind gleich - und wohl temperiert<br />
Die temperierte <strong>Stimmung</strong> ist der Holzhammer unter den <strong>Stimmung</strong>en - man wählt<br />
einfach alle 12 Intervalle gleichlang, allerdins im logarithmischen Sinne. Anders gesagt:<br />
Das Verhältnis zwischen zwei aufeinanderfolgenden Halbtönen ist ein fester<br />
Wert, sagen wir λ, und die Skala besteht aus den Tönen<br />
ω λ ω λ 2 ω λ 3 ω · · · λ 11 ω λ 12 ω = 2ω,<br />
und somit ist λ 12 = 2 oder eben λ = 2 1/12 = 12√ 2. Das schöne an der temperierten<br />
<strong>Stimmung</strong> ist, daß sie mit jeder beliebigen Anzahl von ” Halbtönen“ funktioniert 28 , aber<br />
man sollte schon darauf achten, daß die Skala näherungsweise Quarten und Quinten<br />
enthalten. Das tut die temperierte mit den 12 Halbtönen 29 , denn<br />
2 5/12 1.3348 4<br />
3<br />
und 2 7/12 1.4983 3<br />
2 ,<br />
aber halt eben nur näherungsweise. Diese Skala klingt also immer ein bisschen rein und<br />
ein bisschen unrein - aber hat halt keine wirklich schön konsonanten Quinten. Dafür<br />
ermöglicht sie es aber, mit anderen temperiert gestimmten Instrumenten zu spielen und<br />
beliebig durch die Tonarten zu wandern 30 . Aber letzteres ist bei Borduninstrumenten<br />
ja ohnehin eher lästig mit der ständigen Umstimmerei des Borduns, vor allem während<br />
des Spielens.<br />
7 Was bleibt . . .<br />
Fazit: <strong>Stimmung</strong> gibt’s jede Menge in der Musik, nicht nur in der sogenannten Stim-<br />
”<br />
mungsmusik“ und die Finessen der <strong>Stimmung</strong>en und Skalen sind zahlreich31 . Welche<br />
” richtig“ oder falsch“ ist, welche wo wie gut klingt und welchen der vielen mögli-<br />
”<br />
chen Kompromisse man eingehen sollte, das ist Geschmackssache und darüber lässt<br />
28 So gibt es beispielsweise ” Vierteltonstimmungen“, die natürlich rein temperiert motiviert sind und<br />
die eben zwischen je zwei Halbtönen noch ein Vierteltönchen einfügen. Rein ist das natürlich überhaupt<br />
nichts mehr.<br />
29 Und damit natürlich auch ihre Verfeinerung, die Vierteltonskala.<br />
30 In [1] ist eine sehr schöne Erklärung, warum sich gerade die Klangfarbe eines Orchesters durch<br />
Tonartwechsel ändern kann: Eine frei schwingende Saite klingt anders als eine gegriffene (das Dämpfungsverhalten<br />
ist ein anderes); deswegen gibt es Stücke, bei denen ganz gezielt eine Verstimmung,<br />
Scordatura des Instruments gefordert wird<br />
31 Es gibt noch unzählige andere <strong>Stimmung</strong>ssysteme<br />
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sich diskutieren, was Konsonanz ist und ob sie sich in einer bestimmten Skala finden<br />
lässt, das hingegen ist <strong>Mathe</strong>matik und als solche jenseits der Diskussion.<br />
Literatur<br />
[1] D. J. Benson, Music. A mathematical offering, Cambridge University Press, 2007.<br />
[2] D. Bernoulli, Adversaria analytica miscellanes de fractionibus continuis,<br />
N. C. Pet. 20 (1775).<br />
[3] , Disquisitiones ulteriores de idole fractionum continuarum, N. C. Pet.<br />
20 (1775).<br />
[4] J. Fauvel, R. Flood, and R. Wilson (eds.), Music and mathematics. from pythagoras<br />
to fractals, Oxford University Press, 2003.<br />
[5] H. Helmholtz, On the sensations of tone, Longmans & Co, 1885, Translated by<br />
A. J. Ellis, Dover reprint 1954.<br />
[6] H. Heuser, Lehrbuch der Analysis. Teil 1, 3. ed., B. G. Teubner, 1984.<br />
[7] A. Ya. Khinchin, Continued fractions, 3rd ed., University of Chicago Press, 1964,<br />
Reprinted by Dover 1997.<br />
[8] M. Mersenne, Traité de l’harmonie universelle, Corpus des œvres de philosophie<br />
in langue française, Arthème Fayard, 2003, Reprint, original Paris, 1627.<br />
[9] O. Perron, Die Lehre von den Kettenbrüchen I, 3rd ed., B. G. Teubner, 1954.<br />
[10] C. Sagan, Unser Kosmos, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., 1989,<br />
Deutsche Taschenbuchausgabe.<br />
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