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Zukunftswerkstatt - Arbeit hat Zukunft

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AL-P2/L273 <strong>Zukunft</strong> der <strong>Arbeit</strong> in der Informationsgesellschaft<br />

Reader WS 2012/2013<br />

Dipl.-Pol. Jochen Reibeling<br />

Wintersemester 2012/2013<br />

Kontaktmailadresse: tuberlin@jochenreibeling.de<br />

Bitte in die Betreffzeile der Email „TU WS 2012/13 und Ihren Vor- und Zunamen“<br />

Danke!!!<br />

Stand: 13. Oktober 2012 v 4.1-jr


Dipl.-Pol. Jochen Reibeling Wintersemester 2012/13<br />

AL-P2/L273 Die <strong>Zukunft</strong> der <strong>Arbeit</strong> in der Informationsgesellschaft<br />

Zeit: donnerstags, 14-16 Uhr c.t., (Beginn: 18.10.2012)<br />

Raum: FR 7528<br />

18. Oktober 2012 Organisation und Einführung<br />

25.Oktober 2012 Was ist des Menschen <strong>Arbeit</strong>? Versuch der Klärung<br />

eines Begriffs<br />

01. November 2012 Aktuelle Auseinandersetzungen mit dem Thema <strong>Arbeit</strong><br />

8. November 2012 Erwerbsarbeit im gesellschaftlichen Wandel<br />

15. November 2012 Von der Dienstleistungs- zur Informationsgesellschaft<br />

22. November 2012 Leben ohne Erwerbsarbeit – ALG II versus BGE<br />

29. November 2012 (Aus)Bildung für den (<strong>Arbeit</strong>s-)Markt<br />

6. Dezember 2012 (Um-)Wege in <strong>Arbeit</strong> – das duale System<br />

13. Dezember 2012 (Um-)Wege in <strong>Arbeit</strong> II – das Übergangssystem<br />

10. Januar 2013 Ausbilden für den Markt? Wie wichtig ist Bildung für die<br />

<strong>Arbeit</strong>swelt?<br />

17. Januar 2013 “Brain Waste“ – zur Situation von MigrantenInnen auf dem<br />

deutschen <strong>Arbeit</strong>smarkt<br />

24. Januar 2013 “Hier schaff ich selber, was ich einmal werde“<br />

Entwicklung einer <strong>Arbeit</strong>swelt für übermorgen I<br />

31. Januar 2013 “Hier schaff ich selber, was ich einmal werde“<br />

Entwicklung einer <strong>Arbeit</strong>swelt für übermorgen II<br />

07. Februar 2013 “Hier schaff ich selber, was ich einmal werde“<br />

Entwicklung einer <strong>Arbeit</strong>swelt für übermorgen III<br />

14. Februar 2013 Seminarresümee und –kritik<br />

Klärung von Fragen vorab via tuberlin@jochenreibeling.de


Scheinanforderungen<br />

1.Teilnahmeschein<br />

Aktive Teilnahme am Seminar ist ausdrücklich erwünscht. Das beinhaltet das Lesen<br />

der Texte genauso wie die Teilnahme an der Diskussion bzw. den weiteren<br />

Aktivitäten im Seminar. Auch wenn es wohl ab und an in der Sauna oder auf dem<br />

Weihnachtsmarkt schöner sein dürfte. Nutzen Sie die Zeit für Ihren Kopf und<br />

erweitern Sie gemeinsam mit der Seminargruppe Ihre Sichtweise.<br />

2. Leistungsschein<br />

Sie können sich auf zwei unterschiedlichen Wegen den begehrten<br />

Leistungsnachweis sichern.<br />

Weg a) 8-seitiges Essay, Kurzreferat (max. 8 Min.) und Kurzprotokoll (max. 2 Seiten)<br />

Weg b) 12-15-seitige „klassische“ Hausarbeit und Kurzprotokoll (max. 2 Seiten).<br />

Bevor Sie nun gedanklich die Messer wetzen, Ihre Nachtgebete künftig ohne meinen<br />

Namen beenden oder den Topf auf´s Feuer setzen – gemach, gemach.<br />

Ist nicht so schlimm. Sie bekommen das hin und kommen auch ins Freibad!<br />

Nun die knallharten Fakten für Weg a)<br />

Wie bereits erwähnt, 8 Seiten in max. Schriftgröße 12. Font beliebig, ohne Deckblatt<br />

gezählt. Literaturangaben fallen selbstverständlich auch raus. Zitationsregeln bitte<br />

nach Harvard.<br />

Inhaltlich stellen Sie bitte ein Buch oder einen Aufsatz vor und zeigen den<br />

Zusammenhang zum Seminarinhalt bzw. die Relevanz zu behandelten Themen auf.<br />

Sie erkennen dabei knallhart den Leitgedanken bzw. inhaltlichen Schwerpunkt des<br />

Autors/der Autorin und stellen diesen in unserer Alltagssprache dar.


Bitte stellen Sie im Anschluss daran Ihren eigenen Standpunkt dazu dar und<br />

begründen Sie diesen. Sollten Sie dabei irgendwo her eine „nette Idee“ finden, die Ihr<br />

Vorgehen unterstützt bzw. Ihnen die Denkleistung erleichtert- seien Sie so fair und<br />

gehen Sie würdigend darauf ein und nennen den/die wahren geistigen Urheber.<br />

Plagiate finde ich reizend- für meine Halsschlagader.<br />

Glaube nämlich, dass in diesem Seminar intelligente Menschen, die eine eigene<br />

Sicht auf die Themen des Seminars entwickeln können und auch wollen. Punkt<br />

Ideen für Ihr persönliches Essay können Sie anhand der Literaturliste des Seminars<br />

selbst entwickeln oder sich ganz eigenständig eine Quelle erschließen.<br />

Die einzusendende Datei benennen Sie bitte wie folgt:<br />

Angabe des Datums beginnend mit dem Jahr, dann Titel mit Unterstrich getrennt und<br />

anschließend Ihre um das @xyz.xx eingekürzte Emailadresse. Idealerweise<br />

verwandeln Sie das ganze dann noch in ein pdf-Dokument. MS-Office bzw.<br />

OpenOffice-Dateien nehme ich aber auch an.<br />

Es sollte dann so aussehen:<br />

„20090310_Meineschöneverschneite<strong>Zukunft</strong>_gisbertschenk.pdf/doc/odt“<br />

Macformate bekomme ich leider nicht ausgelesen.<br />

Es folgt der steinige Weg b)<br />

Wie bereits erwähnt, 12-15 Seiten in max. Schriftgröße 12. Font beliebig, ohne<br />

Deckblatt gezählt. Literaturangaben bzw. Gliederung fallen selbstverständlich auch<br />

raus. Zitationsregeln bitte nach Harvard.<br />

Inhaltlich setzen Sie sich mit dem Thema eines Seminartermins auseinander.<br />

D.h. mit dem Impulsreferat, der anschließenden Diskussion bzw. mit dem „Problem“<br />

an sich. Gern können Sie auch ein Thema nach Absprache in eigener Sichtweise<br />

bearbeiten.<br />

Meine Ausführungen zum Umgang mit „fremder Denkleistung“ gelten auch hier.<br />

Ebenso die Verfahrensweise zur Benennung der Datei.


Hinweis zur Abfassung der Kurzprotokolle<br />

Diese geben einen kurzen Überblick für die Fehlenden der protokollierten Sitzung<br />

bzw. erleichtern die Vorbereitung auf die kommende Sitzung.<br />

Sie nennen die Kernaussagen der Diskussion und ziehen –entgegen gängiger<br />

protokollarischer Praxis- ein eigenes Fazit. Wieso? Sie konnten schließlich nur in<br />

Teilen am Diskussionsprozess teilhaben- Ihre Meinung ist aber auch von Interesse!<br />

Die Nennung von Uhrzeiten der Begrüßung bzw. Verabschiedung ist nicht<br />

notwendig.<br />

Die einzusendende Datei benennen Sie bitte wie folgt:<br />

Angabe des Datums beginnend mit dem Jahr, dann Seminarthema(verständlich<br />

gekürzt!) mit Unterstrich getrennt und anschließend Ihre um das @xyz.xx<br />

eingekürzte Emailadresse. Idealerweise verwandeln Sie das ganze dann noch in ein<br />

pdf-Dokument. MS-Office bzw. OpenOffice-Dateien nehme ich aber auch an.<br />

Es sollte dann so aussehen:<br />

„20090310_Meineschöneverschneite<strong>Zukunft</strong>_gisbertschenk.pdf/doc/odt“<br />

Macformate bekomme ich leider nicht ausgelesen.<br />

Das Protokoll senden Sie mir bitte an die Seminaremailadresse bis Mittwoch 22:00<br />

Uhr (vor dem jeweiligen Seminarfolgetermin). Ich werde dieses dann für die<br />

Seminargruppe per Mail verteilen.<br />

Und? Immer noch so schlimm?<br />

:


Bewertungskriterien<br />

Fragestellung<br />

- Ist die Fragestellung klar formuliert?<br />

- Wurde die Relevanz der Fragestellung aufgezeigt?<br />

- Wurde die Fragestellung folgerichtig umgesetzt?<br />

- Handelte es sich um eine Fragestellung, die auch im Rahmen der Möglichen<br />

blieb?<br />

Struktur der <strong>Arbeit</strong><br />

- Ist die Gliederung angemessen tief und breit?<br />

- Ist die Anordnung von Kapiteln und Unterkapitel sinnvoll erfolgt?<br />

- Ist ein roter Faden erkennbar?<br />

Argumentation<br />

- Ist die Argumentation logisch?<br />

- sind „bewiesene“ Tatsachen und Meinungen klar gekennzeichnet?<br />

Literatur<br />

- Wurde genug Literatur verwendet?<br />

- Wurde zentrale Literatur verwendet?<br />

- Wurden unterschiedliche Literaturquellen verwendet (Monographien,<br />

Fachzeitschriften, …)<br />

- Welcher Grad der Verarbeitung von Literatur ist erkennbar?<br />

Form<br />

- Druckbild<br />

- Rechtschreibung<br />

- Satzbau und Formulierungen<br />

- Umgang mit Fachbegriffen<br />

Belegverfahren<br />

- Ist die Zitierweise formal richtig?<br />

- Ist das Literaturverzeichnis formal richtig und einheitlich?<br />

- Wurden alle Aussagen belegt? Stichwort Vollständigkeit?<br />

Quellenkritik<br />

- Wurden Fakten und Urteile unterschieden?


1. Vorbemerkungen<br />

Kurz-Leitfaden zum wissenschaftlichen <strong>Arbeit</strong>en<br />

im Fachgebiet <strong>Arbeit</strong>slehre Wirtschaft / Haushalt<br />

• Der vorliegende Leitfaden ist eine Zusammenfassung zu Formalitäten und Grundlagen<br />

des wissenschaftlichen <strong>Arbeit</strong>ens im Bereich <strong>Arbeit</strong>slehre Wirtschaft / Haushalt.<br />

• Die Vorgaben beziehen sich grundsätzlich auf verschiedene Typen der wissenschaftl. <strong>Arbeit</strong>en,<br />

d.h. Seminar- und Bachelorarbeiten aber auch Artikel für das <strong>Arbeit</strong>slehre-Wiki.<br />

• Zur Verdeutlichung der gewünschten praktischen Umsetzung des Leitfadens dient eine<br />

mit „sehr gut“ bewertete Seminararbeit, die ebenfalls als Download auf der Homepage<br />

des Fachgebiets zur Verfügung steht.<br />

• Die hier gegebenen Hinweise zur formalen Gestaltung haben – mit Ausnahme des Umfangs<br />

und der Formatierung – empfehlenden Charakter. So sind andere Zitierweisen<br />

und Formen der Literaturangaben möglich, sofern diese in der Wissenschaft anerkannt<br />

sind und in der <strong>Arbeit</strong> einheitlich Anwendung finden. Mangelnde Einheitlichkeit war in<br />

der Vergangenheit der häufigste formale Fehler in wissenschaftlichen <strong>Arbeit</strong>en.<br />

2. Umfang und Formatierung<br />

• Die maximale Textlänge für eine Bachelorarbeit beträgt 50 Seiten (+/- 5), für eine Seminararbeit<br />

10 Seiten pro Person (+/- 1), inklusive aller Abbildungen und Tabellen.<br />

• Zu verwenden ist einseitig beschriebenes DIN A 4 Papier (weiß bzw. Recycling-Papier).<br />

• Die Seitenränder betragen oben 2,5 cm, unten 2 cm, links 3,5 cm, rechts 1,5 cm.<br />

• Zu verwenden sind gängige Schriften (z.B. Times New Roman, Garamond, Calibri, Arial)<br />

• für den normalen Text in Schriftgröße 12 pt und Zeilenabstand 1,5 Zeilen, für den<br />

Fußnotentext in Schriftgröße 10 pt und Zeilenabstand einzeilig. Wörtliche Zitate, die<br />

sich über mehr als drei Zeilen erstrecken sind einzeilig niederzuschreiben.<br />

• Die Überschriften sind durch Fettdruck hervorzuheben. Ansonsten sind Hervorhebungen<br />

(fett oder kursiv) auf wenige sinnvolle Anwendungen zu begrenzen.<br />

• Silbentrennung und Blocksatz sind zu nutzen.<br />

• Bachelorarbeiten sind in doppelter, gebundener Ausführung abzugeben, Seminararbeiten<br />

als geheftetes und gelochtes Einzelexemplar (bitte keine Mappen o.ä. nutzen, da<br />

die <strong>Arbeit</strong>en als Prüfungsdokumente in Ordnern inventarisiert werden). Zusätzlich muss<br />

den <strong>Arbeit</strong>en eine digitalisierte Version der <strong>Arbeit</strong> (= pdf-Format) beigefügt werden.<br />

3. Aufbau der <strong>Arbeit</strong>, Seitennummerierung und Gliederung<br />

• Der Aufbau der <strong>Arbeit</strong> beinhaltet das Deckblatt, das Inhaltsverzeichnis (= Gliederung<br />

mit Seitenangaben), den eigentlichen Text und das Literaturverzeichnis sowie ggf. einen<br />

Anhang für ergänzendes Material. Abkürzungs- und Tabellenverzeichnis sind bei Seminararbeiten<br />

entbehrlich.<br />

• Die übliche Seitennummerierung bei Hauarbeiten beginnt auf dem Inhaltsverzeichnis<br />

mit römisch II (Seite I ist das Deckblatt, auf dem jedoch keine Nummer steht). Die erste<br />

Textseite ist mit arabisch 1 zu nummerieren, danach erfolgt die Nummerierung fortlaufend.


• Beispiel für ein Deckblatt<br />

4 Literatur und Literaturverzeichnis<br />

• Beispiel für eine Gliederung<br />

(gemäß dekadischem System):<br />

1 Einleitung ( -> Relevanz,<br />

Problemstellung, Gang der <strong>Arbeit</strong>)<br />

2 Überschrift Grundlagenkapitel<br />

2.1 ...<br />

2.2 ...<br />

3 Überschrift Hauptteil I<br />

3.1 ...<br />

3.2 ...<br />

3.2.1 ...<br />

3.2.2 ...<br />

4 Schlussteil<br />

• Wichtig ist, dass jede Gliederungsebene mindestens<br />

zwei Gliederungspunkte aufweist (also<br />

kein Kapitel 2.1 ohne Kapitel 2.2).<br />

• Nach jeder Überschrift sollte mindestens eine<br />

halbe Seite Text folgen. Daher ist vor der Gefahr<br />

einer zu starken Untergliederung der <strong>Arbeit</strong>en<br />

zu warnen.<br />

• Die Formulierung einer Überschrift darf nicht<br />

deckungsgleich mit dem Thema <strong>Arbeit</strong> sein.<br />

• Eine gute Literaturbasis ist Grundvoraussetzung einer guten wissenschaftlichen <strong>Arbeit</strong>.<br />

Von besonderer Bedeutung sind dabei Artikel aus anerkannten wissenschaftlichen<br />

Zeitschriften (deutsche und auch internationale).<br />

• Als Recherchehilfe wird die Nutzung des Datenbank-Informationssystems (DBIS) der<br />

TU Berlin, speziell die entsprechende Fächerübersicht, empfohlen (http://rzblx10.uniregensburg.de/dbinfo/fachliste.php?bib_id=tubb&colors=63&ocolors=40&lett=l).<br />

Auch das Suchen mit Google Scholar (http://scholar.google.de) kann sinnvoll sein. Zudem<br />

sollte jeder Studierende in aktuellen Ausgaben relevanter Zeitschriften recherchieren.<br />

• Das Literaturverzeichnis ist eine alphabetische Auflistung sämtlicher in der <strong>Arbeit</strong> zitierter<br />

Quellen (und nur dieser!). Generell sind im Literaturverzeichnis alle Autoren einer<br />

Quelle anzugeben (keine Abkürzung mit et al.) wobei statt der Vornamen auch Initialen<br />

angegeben werden können. Ebenfalls aufzuführen sind der Untertitel und bei Büchern<br />

die Auflagenzahl, wenn es sich nicht um eine Erstauflage handelt. Die Besonderheiten<br />

der möglichen Varianten werden im Folgenden verdeutlicht:<br />

a) Bücher<br />

Niederhauser, J. (2000): Die schriftliche <strong>Arbeit</strong>. 3., völlig neu erarb. Aufl., Mannheim u.a.:<br />

Dudenverlag.<br />

b) Artikel aus Zeitschriften<br />

Oberliesen, R.; Zöllner, H. (2007): Kerncurriculum für den Lernbereich Beruf - Haushalt<br />

- Technik - Wirtschaft/<strong>Arbeit</strong>slehre: ein lernbereichsspezifisches Referenzmodell, in: Unterricht<br />

<strong>Arbeit</strong> + Technik, 9. Jg., H. 33, S. 49-52.


c) Artikel aus Sammelbänden<br />

Rausch, H. (2001): Informationen beschaffen. In: Schweizer, G.; Selzer, H. M. (Hrsg.):<br />

Methodenkompetenz lehren und lernen. Beiträge zur Methodendidaktik in <strong>Arbeit</strong>slehre, Wirtschaftslehre,<br />

Wirtschaftsgeographie. Dettelbach: Röll-Verlag.<br />

d) Internetquellen<br />

Fachbereich Wirtschaft/Haushalt (2008): Kriterien eines guten Wiki-Artikels,<br />

http://www.arbeitslehre.de/wiki/<strong>Arbeit</strong>slehreWiki:F%C3%BCr_Lehrende#Qualit.C3.A4<br />

tskriterien, abgerufen am 27.10.2008.<br />

5 Zitierweisen<br />

• Innerhalb der Geisteswissenschaften <strong>hat</strong> sich die amerikanische Zitierweise, d.h. Literaturangabe<br />

direkt im Fließtext durchgesetzt.<br />

• Die Literaturangabe wird in der Form (Autor Jahr, Seitenzahl) angegeben.<br />

• Zitate sowie weiterführende ggf. kritische Ergänzungen können auch als Fußnote erscheinen.<br />

Sie sind gegenüber dem Haupttext optisch abzugrenzen (d.h. Trennlinie,<br />

Schriftgröße 10 und einfacher Zeilenabstand).<br />

• Bei direkten Zitaten, die nicht länger als drei Zeilen sind, ist die übernommene Textpassage<br />

in Anführungsstriche zu setzen. Bei längeren Zitaten, die sich über mehr als drei Zeilen<br />

erstrecken, wird zur besseren Übersichtlichkeit ein deutliches Abheben vom übrigen<br />

Text empfohlen, d.h. einfacher Zeilenabstand und eingerückter Abschnitt. In diesem Fall<br />

können Anführungszeichen entfallen.<br />

• Direkte Zitate sind sehr sparsam zu verwenden!<br />

• Grundsätzlich <strong>hat</strong> jeder Studierende die Aufgabe, sich die Originalquellen der zitierten<br />

Aussagen zu besorgen (rechtzeitig an Fernleihen denken!). Wird das Zitat von einem anderen<br />

Autoren übernommen, so handelt es sich um ein Sekundärzitat. Dies ist nur zulässig,<br />

wenn die Originalquelle nicht beschafft werden kann. Im Literaturverzeichnis und<br />

beim Zitat selbst sind dann sowohl die Originalquelle als auch die genutzte Sekundärquelle<br />

aufzuführen.<br />

Bsp.:<br />

Schon Chamberlin wies hin auf die besondere Bedeutung produktpolitischer Überlegungen<br />

für die volkswirtschaftliche Theorie des Qualitätswettbewerbs (vgl. Chamberlin<br />

1948, zitiert nach Hansen/Hennig-Thurau/Schrader 2001, S. 8.)<br />

6 Abbildungen und Tabellen<br />

• Abbildungen und Tabellen sind zur Verbesserung des Textverständnisses ausdrücklich<br />

erwünscht. Sie sind jeweils zu nummerieren, so dass im Text darauf verwiesen werden<br />

kann:<br />

Bsp.:<br />

Grundlegend lassen sich zwei Formen der Zufriedenheitsmessung unterscheiden (Vgl.<br />

Abbildung 1).<br />

• Unter den Abbildungen und Tabellen ist der Titel sowie ggf. ein Quellenverweis anzugeben:<br />

Bsp.:<br />

Abbildung 1: Das System von Rahmenfaktoren der Produktpolitik (Quelle: Hansen/Hennig-Thurau/Schrader<br />

2001, S. 48)


7 Gender<br />

• Verstärkte Beachtung soll in wissenschaftlichen Texten eine geschlechtergerechte<br />

Schreibweise im Sinne des Gender Mainstreaming finden. Informationen dazu erhalten<br />

Sie z.B. unter: http://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-frauen/sprache.pdf<br />

8 Eidesstattliche Erklärung<br />

• Am Ende der <strong>Arbeit</strong> muss folgende Erklärung auf der letzten Seite angegeben werden:<br />

„Ich versichere hiermit, dass ich die vorliegende <strong>Arbeit</strong> selbstständig und ohne fremde<br />

Hilfe angefertigt und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel und Quellen verwendet<br />

habe.“<br />

9 Beurteilungskriterien<br />

Ort, Datum, Unterschrift<br />

• Der Bewertung von wissenschaftlichen <strong>Arbeit</strong>en am Fachbereich Wirtschaft/Haushalt<br />

berücksichtigt folgende Kriterien:<br />

a) Gliederung: formale Logik; sachadäquater Aufbau<br />

b) Inhalt: Logik der Gedankenführung, Zielstrebigkeit und Ausgewogenheit der<br />

Darstellung, Themenbezogenheit, Themenabdeckung, Entsprechung zwischen<br />

Darstellung und Gliederung, Eigenständigkeit der Gedanken, Kritikfähigkeit,<br />

Qualität von Schlussfolgerungen, Objektivität der Argumentation, ggf. Ausweis<br />

von Interessenstandpunkten<br />

c) Sprache und formale Gestaltung: Verständlichkeit, Klarheit, Präzision, Übersichtlichkeit,<br />

Korrektheit<br />

d) Angemessenheit der Literaturerfassung: Problembezug, Relevanz, Aktualität,<br />

Internationalität, Umfang, Korrektheit des Literaturverzeichnisses<br />

e) Zitierweise: Aussagen sind mit Quellen belegt, Benutzung von Originalliteratur,<br />

angemessene Anwendung direkter Zitate, formale Korrektheit<br />

• Bei Bachelorarbeiten wird die Bewertung in schriftlichen Gutachten dokumentiert, die jeder<br />

Studierende erhält. Bei Seminararbeiten erfolgt die Offenlegung der Bewertung im<br />

Rahmen eines persönlichen Gesprächs.


Textgrundlage 25.10.2012 – <strong>Arbeit</strong>


01.11.2012 ‐ Die <strong>Zukunft</strong> der <strong>Arbeit</strong>


08.11.2012 Strukturwandel der <strong>Arbeit</strong>


15.11.2012 ‐ Die <strong>Arbeit</strong> in der Dienstleistungsgesellschaft


Einleitung:SozialeDienste–ArenenundImpulsgebersozialenWandels 35<br />

MartinBaethge<br />

Die<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsgesellschaft<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

1 DersektoraleWandelzurDienstleistungsökonomie<br />

DenAusgangspunktfürdieDebatteüberdieDienstleistungsgesellschaftalsneuerGesell<br />

schaftsformation,inderdienegativenErscheinungenderIndustriegesellschaftineiner„ter<br />

tiärenZivilisation“(Fourastie1949)überwundenwerdenkönnten,bildetdieTheoriesekt<br />

oralen Wandels (vgl. Häussermann/Siebel in diesem Band; Fourastie 1949; Bell 1973;<br />

Gershuny 1981). Fourastie sieht die Diensleistungstätigkeiten zum dominanten Beschäfti<br />

gungssektor aufsteigen, in dem am Ende des 20. Jahrhunderts 80 bis 90 Prozent aller Er<br />

werbstätigenarbeitenwerden.DieTheoriesektoralenWandelslässtsichalsEvolutionstheo<br />

riemenschlicher<strong>Arbeit</strong>undÖkonomievonihrenAnfängenherverstehen,inderdiegroßen<br />

EntwicklungsphasennachdemjeweilsdominierendenWertschöpfungssektorinderGesell<br />

schaft bezeichnet werden: Jahrtausende lang dominierte landwirtschaftliche Produktion<br />

(primärerSektor)dieWirtschaftallerGesellschaften.VoretwadreihundertJahrenentstand<br />

inEuropadas,wasseitdemalsindustrielleProduktion(sekundärerSektor)bezeichnetund<br />

im 20. Jahrhundert zum dominanten Wirtschaftssektor in den meisten westlichen und ei<br />

nemTeilderöstlichenLändernwerdensollte:diemaschinelleHerstellungvonGütern.Ab<br />

Mitte des 20. Jahrhunderts verliert in immer mehr westlichen Ländern die Industrie ihr<br />

ÜbergewichtinderWirtschaftandenDienstleistungsbereich(tertiärerSektor),denmanzu<br />

nächstnuralsSammelbegrifffüralleErwerbsarbeitenbegreifenkann,diewederunmittel<br />

barelandwirtschaftlichenochindustrielleHerstellungstätigkeitenbeinhalten.Fürdieweite<br />

re Argumentation ist es wichtig im Auge zu behalten, dass das Definitionskriterium das<br />

quantitativeGewichtdesjeweiligenSektorsist,sodassheuteinallenfrühindustrialisierten<br />

GesellschaftenalledreiSektorengleichzeitignebeneinanderexistieren.DasNebeneinander<br />

geradevonIndustrieundDienstleistungssektoristfürdieGestaltungder<strong>Arbeit</strong>sverhält<br />

nissefolgenreich.<br />

Am Beispiel Deutschland lässt sich die Entwicklung zur Dienstleistungsökonomie<br />

(Tertiarisierungsprozess) veranschaulichen. Aufgrund seines spezifischen Industrialisie<br />

rungspfades(vgl.Abelshauser2004;Streeck1997)indemeinehochgradigexportorientierte<br />

industrielleQualitätsproduktiondenTonangabunddenLeitsektorderWirtschaftbistief<br />

ins20.Jahrhundert(eventuellinqualitativerHinsichtbisheute)stellt,giltDeutschlandeher<br />

als Nachzügler denn als Vorreiter der Tertiarisierung. Insofern stellen die im Folgenden<br />

präsentiertenErwerbstätigendatenauchkeineswegsdiehöchsteDienstleistungsausprägung<br />

derangloamerikanischenundeuropäischenGesellschaftendar.<br />

A. Evers et al. (Hrsg.), Handbuch Soziale Dienste, DOI 10.1007/978-3-531-92091-7_2,<br />

© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011


36 MartinBaethge<br />

Bis1880,demZeitpunkt,andemdieeigentlicheTakeoffPhasederIndustrialisierung<br />

in Deutschland einsetzt, war die Erwerbsstruktur noch eindeutig von der Landwirtschaft<br />

bestimmt,indernochdieHälftederErwerbstätigenbeschäftigtwar(vgl.Abb.1).Erstum<br />

dieWendezum20.JahrhundertschneidensichdieErwerbstätigenkurvenundgewinntdie<br />

industrielle Produktion das Übergewicht. In der Zeit bis zum ersten Weltkrieg bleibt der<br />

Anteil der Dienstleistungsbeschäftigung deutlich hinter den beiden anderen Sektoren zu<br />

rückundverharrtzwischeneinemFünftelundeinemViertel.AberbereitsseitderWende<br />

zum20.JahrhundertlässtsichbisindiesechzigerJahreeinparallelerAnstiegvonsekundä<br />

remundtertiäremBeschäftigungssektorbeobachten,undzwarsowohlrelativalsauchabso<br />

lut. Diese Parallelität verweist darauf, dass die Expansion der Industrie eine Ausweitung<br />

auchderDienstleistungsbeschäftigungundeineErhöhungderErwerbstätigkeitinsgesamt<br />

durchEinbezugvonvorhernichterwerbstätigenBevölkerungsteilen(z.B.Frauen)nachsich<br />

zog(vgl.Baethge1999).<br />

<br />

Abbildung1: ErwerbstätigenachWirtschaftsbereichen1870bis2006inDeutschland.<br />

(AnteileanErwerbstätigeninsgesamtinProzent)<br />

in %<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

1870 1913 1950 1960 1970 1980 1991* 1996 2001 2006<br />

Primärer Sektor Sekundärer Sektor (inkl. Baugewerbe) Tertiärer Sektor<br />

*Bis1991früheresBundesgebiet,ab1991Deutschland.<br />

Quellen:Destatis/gesiszuma/WZB2008;fürDatenvor1950:Maddison1995;eigeneBerechnungen.<br />

<br />

Nach dem zweiten Weltkrieg kommt eine starke Beschleunigung in den Wandel der sek<br />

toralen Erwerbstätigkeitsstruktur. Bereits in den 1950erahren, in der Wiederaufbauphase,<br />

verliertderprimäreSektorfastdieHälfteseinesErwerbstätigenbestands,umdannkontinu<br />

ierlich weiter bis auf 2,4Prozent um die Jahrtausendwende abzunehmen. Der industrielle<br />

Sektor erfährt bis Mitte der 1960erJahre noch einen leichten Anstieg auf annähernd<br />

48Prozent,gehtabdaaberrapidezurückundverliertbis2006fast50ProzentseinesAnteils


Die<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsgesellschaft 37<br />

andenErwerbstätigen(noch25,5Prozent).DierasantesteEntwicklungnimmtdieErwerbs<br />

tätigkeitimDienstleistungssektor.Von1950(33ProzentAnteil)bis2006erhöhtderSektor<br />

seinen Erwerbstätigenanteil kontinuierlich und ziemlich geradlinig auf 72Prozent, also<br />

knappdreiViertelallerErwerbstätigen.<br />

GegenüberderIndustriegewinntderSektorseitAnfangder1970erJahreeinÜberge<br />

wicht,dasnachderJahrtausendwendesichinfastdemdreifachenAnteilanderErwerbstä<br />

tigkeitsstruktur ausdrückt. 1 Ob sich sie Entwicklung linear abgeschwächt fortsetzen wird,<br />

kannimAugenblickoffenbleiben,eineTrendumkehrerscheintausgeschlossen. 2 <br />

LangeEntwicklungsreihensindgutdazu,langfristigeTrendsaufzuzeigen,imvorlie<br />

gendenFalldiedersektoralenBeschäftigung.UmdenGründenfürihreDynamikaufdie<br />

Spurzukommen,bedarfesdesBlicksaufdieEntwicklungderfunktionalenTätigkeitsbe<br />

reicheimDienstleistungssektor,dieannäherungsweisedurchdieBranchendifferenzierung<br />

abgebildetwerden.Daranwirdsichzeigen,dassFourasties„ungeheurerHungernachTer<br />

tiärem“wenigerinderVerschiebungdermenschlichenBedürfnisstrukturvonmateriellen<br />

GüternaufimmaterielleDienstebegründetistalsvielmehrauchstarkstrukturellenErfor<br />

dernissen einer hochentwickelten Industriegesellschaft folgt, etwa in der öffentlichen Bil<br />

dungsundKommunikationsinfrastruktur,ForschungundEntwicklungunddemGesund<br />

heitswesen.<br />

<br />

<br />

1Manmussbeachten,dasshiereinersektoralenZuordnungderErwerbstätigengefolgtwird,d.h.die<br />

Erwerbstätigen,dieinLandwirtschaftundIndustrieDienstleistungstätigkeitenwahrnehmen,sinddem<br />

primärenundsekundärenSektorzugerechnet(vgl.HaiskenDeNewetal.1997).Würdemansie(als<br />

z.B. Warenkaufleute der Landwirtschaft, Industriekaufleute, Konstruktionsingenieure u.a.) statistisch<br />

zum Dienstleistungssektor zählen, so dürfte der Erwerbstätigenanteil der Dienstleistungsbereiche bei<br />

gut80Prozentliegen.<br />

2ZweigroßePrognosenderErwerbstätigenentwicklunggehenvoneinerabgeschwächtenFortsetzung<br />

des Trends und einerweiteren Anteilsabnahme der Industriebeschäftigtenaus(vgl.Boninetal.2007<br />

undWolteretal.2010;sieheauchAbb.2).


38 MartinBaethge<br />

Abbildung2: ProzentualeAnteileeinzelnerWirtschaftsbereicheander<br />

Erwerbstätigenzahlinsgesamt1991–2020<br />

<br />

Datenab2010geschätzt<br />

Quelle:Drosdowski/Wolter2010,Kap.11;eigenePräsentation.<br />

<br />

100%<br />

90%<br />

80%<br />

70%<br />

60%<br />

50%<br />

40%<br />

30%<br />

20%<br />

10%<br />

0%<br />

1991 1995 2000 2005 2010 2015 2020<br />

Sonstige öff. u. priv. Dienstleister<br />

Gesundheits-, Veterinär-, Sozialw esen<br />

Erziehung und Unterricht<br />

Öff. Verw ., Verteidigung, Sozialversich.<br />

Grundstücksw esen, Verm., Untern.DL<br />

Kredit- und Versicherungsgew erbe<br />

Verkehr und Nachrichtenübermittlung<br />

Gastgew erbe<br />

Handel;Instandh.u.Rep.<br />

Baugew erbe<br />

Energie- und Wasserversorgung<br />

Verarbeitendes Gew erbe<br />

Bergbau, Steine u. Erden<br />

Land- und Forstw irtschaft, Fischerei<br />

% Anteil 2006<br />

Blickt man auf die Entwicklung der Dienstleistung in ihrer Hauptexpansionsphase in<br />

Deutschland seit den 1960erJahren so entdeckt man, dass sie in den verschiedenen Bran<br />

chen oder Berufsfeldern keineswegs einem einheitlichen und gleichmäßigen Muster über<br />

dieZeitfolgte.Truginden1960erundfrühen1970erJahrenderöffentlicheDienstvoral<br />

lem mit dem starken Ausbau des Bildungssektors und anderer Infrastrukturbereiche das<br />

HauptgewichtderExpansion,sowareninden1980erJahrendieunternehmensbezogenen<br />

DienstleistungendieLokomotivederDienstleistungsexpansion,undseitden1990erJahren<br />

lässtsichdiestärksteAusweitungderErwerbstätigkeitindenBerufsfeldernInformatikund<br />

Datenverarbeitung,MedienundKommunikationsowieimFeldOrganisation,Verwaltung<br />

undübrigeWissenschaften(außertechnischeundnaturwissenschaftlicheBerufe)beobach<br />

ten(vgl.Boninetal.2007:83).<br />

Abbildung2bestätigtfürdieletztenbeidenJahrzehntediegroßeUnterschiedlichkeit<br />

der Erwerbsentwicklung nach Wirtschaftsbereichen. 3 Der größte Dienstleistungsbereich<br />

<br />

3EinProblemderunterschiedlichenDatenquellenliegtdarin,dasssienichtdieErwerbstätigkeitnach<br />

einheitlichen Klassifikationen aggregieren, zum Teil nach Branchen, zum Teil nach Wirtschaftsberei<br />

<br />

7,2 %<br />

10,3 %<br />

5,8 %<br />

6,7 %<br />

13,5 %<br />

3,2 %<br />

5,4 %<br />

4,6 %<br />

15,1 %<br />

5,7 %<br />

0,7 %<br />

19,3 %<br />

0,2 %<br />

2,1 %


Die<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsgesellschaft 39<br />

(Handel, Instandhaltung, Reparatur), bleibt zwischen 1991 und 2010 in etwa stabil, jeder<br />

sechste bis siebte Erwerbstätige in der Bundesrepublik arbeitet in diesem Wirtschaftsbe<br />

reich.DiestärksteExpansionerfahrendieWirtschaftsbereiche„Grundstückswesen,Vermie<br />

tung,unternehmensbezogeneDienstleistungen“und„Gesundheits,VeterinärundSozial<br />

wesen“,diebeideihrenAnteilanderGesamtheitderErwerbstätigeninnerhalbderzwanzig<br />

Jahre in etwa verdoppelten. Zugewinne verzeichnen auch das Gastgewerbe sowie Erzie<br />

hungundUnterrichtunddie„sonstigenöffentlichenundprivatenDienstleistungen“(vgl.<br />

Abb.2).<br />

DieHeterogenitätderDienstleistungenlässtsichinviergroßenFunktionsclusterbün<br />

deln:<br />

<br />

1. Personenbezogene Dienstleistungen: Gesundheits und Sozialwesen, Erziehung und<br />

UnterrichtsowieGastgewerbe.Siestellen2006guteinFünftelderErwerbstätigenins<br />

gesamt(20,7Prozent–Abb.2);<br />

2. Unternehmensbezogene Dienstleistungen: Grundstückswesen, Vermietungen, unter<br />

nehmensbezogeneDienstleistungen(13,5ProzentderErwerbstätigen2006)und<br />

3. MarktundKommunikationsvermittelndeDienstleistungen:Handel,KreditundVer<br />

sicherungsgewerbe, Verkehr und Nachrichtenübermittlung (fast ein Viertel aller Er<br />

werbstätigen2006–vgl.Abb.2);<br />

4. SicherungöffentlicherInfrastrukturundVerwaltung:ÖffentlicheVerwaltung,Vertei<br />

digung, Sozialversicherung,Sonstige öffentliche und private Dienstleister (14Prozent<br />

derErwerbstätigen2006).<br />

<br />

Mankanndavonausgehen,dassdiegroßenDienstleistungsfunktionsbereichejeweilseige<br />

nen institutionellen Regulationen folgen, die sowohl etwas mit ihren Funktionen als auch<br />

mit ihren Institutionalisierungspfaden zu tun haben. Am deutlichsten wird das an dem<br />

Sachverhalt,obeinDienstleistungsbereichvordringlichöffentlichoderprivatorganisiertist.<br />

Das4.Cluster(öffentlicheVerwaltungu.a.)undgroßeTeiledeserstenClusters(personen<br />

bezogeneDienste)sindöffentlichorganisiertundunterliegenehereinerpolitischenalseiner<br />

Marktsteuerung,auchwennindenletztenbeidenJahrzehntenindieseDienstleistungsbe<br />

reiche Marktelemente und Privatisierungsaktivitäten eingedrungen sind. Demgegenüber<br />

folgendieCluster2und3derinstitutionellenLogikeinerMarktsteuerung.<br />

Die funktionale Differenzierung der Dienstleistungsbranchen macht auch sichtbar,<br />

dassgroßeDienstleistungsfelderengmitderindustriellenProduktionverknüpftsind.Dies<br />

giltbesondersfürdieunternehmensbezogenenDienstleistungen,dieteilsalsAusgründun<br />

gen aus Industrie und anderen Dienstleistungsunternehmen entstanden sind (z.B. große<br />

TeilevonInformatikundDatenverarbeitung,Consulting),teilsalsZuliefererfürIndustrie<br />

unternehmenfungieren(beispielsweiseIngenieurbürosundanderewissenschaftlicheBera<br />

tungsundEntwicklungsagenturen)(vgl.insgesamtBaethge1999).<br />

AuchdieDienstleistungsarbeitsmärkteunterscheidensichrechtgrundlegendvonde<br />

nen der industriellen Produktion. Waren letztere die Domäne von Männern, so verbindet<br />

<br />

chen,zumTeilnachBerufsfeldern,jenachdem,welchesErkenntnisinteressebeiderDatenpräsentation<br />

imVordergrundsteht.


40 MartinBaethge<br />

sich die Expansion des Dienstleistungssektors mit der kontinuierlichen Ausweitung der<br />

Frauenerwerbstätigkeit.AndennachErwerbstätigenzahlgrößtenWirtschaftszweigenlässt<br />

sichanaktuellenZahlendieGegenläufigkeitdergeschlechtertypischen<strong>Arbeit</strong>smärktevon<br />

IndustrieundDienstleistungenzeigen(vgl.Abb.3).<br />

<br />

Abbildung3: FrauenanteilanErwerbstätigenindengrößtenIndustrieund<br />

DienstleistungsWirtschaftszweigen2008<br />

<br />

<br />

*ohneHandelmitKraftfahrzeugenundohneTankstellen<br />

Quelle:StatistischesBundesamt;Mikrozensus2008;eigeneDarstellung.<br />

<br />

DieTatsache,dassdiegrößtenDienstleistungsbranchenüberwiegendaufFrauenerwerbstä<br />

tigkeitbasieren,<strong>hat</strong>AuswirkungensowohlaufRegulationsformenderBeschäftigungsver<br />

hältnissealsauchaufdieZeitstrukturen.InBezugaufbeideAspektewirktsichbisheute<br />

aus,dassweibliche<strong>Arbeit</strong>skräfteinderVergangenheitwenigeralsmännlichegewerkschaft<br />

lich organisierbar waren. Die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familienperspektive<br />

gewinntzunehmendalsarbeitsmarktpolitischesRegulationserfordernisanBedeutungund<br />

<strong>hat</strong>bereitsindenletztenJahreneineReihesozial,familienundbildungspolitischerAktivi<br />

täten freigesetzt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010, Kap. A, C und H). Bei<br />

Vorherrschenindustrieller<strong>Arbeit</strong>smärktewardasunmöglich(vgl.Abschnitt3).<br />

FunktionelleundinstitutionelleHeterogenitätsowievielfältigeengeKopplungenmit<br />

derindustriellenProduktionverbietensowohldieAnnahme,dassDienstleistungstätigkei


Die<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsgesellschaft 41<br />

teneineEinheitbildeten,alsauchdieintheoretischenKonzeptenzurDienstleistungsgesell<br />

schaft postulierten Vorstellungen einer substantiellen Entgegensetzung ihrer Regulations<br />

formenzurIndustriegesellschaft.WennimFolgendenvon<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsge<br />

sellschaft gesprochen wird, so meint das die <strong>Arbeit</strong> in einer Gesellschaft, in der die über<br />

wiegendeMehrheitderErwerbstätigennichtmehrinlandwirtschaftlicheroderindustrieller<br />

Produktion tätig ist. In diesem Sinne ist es weniger missverständlich, von <strong>Arbeit</strong> in einer<br />

nachindustriellenGesellschaftzusprechen.<br />

2 TheoretischeAnsätzezurAnalysevonDienstleistungsarbeit<br />

Es liegt nahe,zunächst einen Blick auf theoretische Konzepte zu werfen, diesich auf den<br />

sektoralenWandelzurDienstleistungsgesellschaftbeziehen.ZurErklärungdessektoralen<br />

StrukturwandelsinderNeuzeithabenvorallemzweitheoretischeAnsätzeindersozialwis<br />

senschaftlichenDiskussionimZusammenhangderVeränderungvon<strong>Arbeit</strong>eineRollege<br />

spielt:zumeinendieAnnahmenderKlassikerder„Dienstleistungsgesellschaft“Fourastie<br />

(1949)undClark(1940),zumandereninderanMarxorientiertenSoziologiedasTheorem<br />

derkapitalistischen„Landnahme“.<br />

FourastiesTheorieverstehtsichalsökonomischeEvolutionstheorieundbasiertaufei<br />

nerkonstitutivenKopplungvonzweiAnnahmen:zumeinenzurProduktivitätsentwicklung<br />

der<strong>Arbeit</strong>,zumanderenzumWandelderBedürfnisstrukturderMenschen.Aufgrundzu<br />

nehmender Technisierung und Verwissenschaftlichung der Produktionsmethoden in der<br />

Industrie,steigtdie<strong>Arbeit</strong>sproduktivitätindermateriellenGüterproduktionimmerweiter<br />

an,undeskommtzueinemimmergrößerenWarenangebot.Diesesführt–hierkommtdie<br />

zweiteAnnahmeinsSpiel–zuSättigungseffektenbeidenKonsumenten,dienunihreBe<br />

dürfnisseauf(immaterielle)Diensterichten.AndersalsinderindustriellenProduktion,wo<br />

HerstellungundKonsumvonGüterningetrenntengesellschaftlichenSphärenstattfinden,<br />

ist Erstellung und Verzehr von Dienstleistungen räumlich eng gekoppelt („uno actu“<br />

Prinzip),wassowohlderTechnisierungalsauchderRationalisierungvonDienstleistungen<br />

Grenzen setzt. Diese Annahme weitgehender Technisierungs und Rationalisierungsresis<br />

tenzbedeuteteingeschränkteProduktivitätindenDienstleistungsbereichenundführt zur<br />

UmschichtungderBeschäftigtenausder hochproduktivenIndustrieindenniedrigerpro<br />

duktivenDienstleistungssektor.<br />

Gegen die Annahme Fourasties sind verschiedenartige Einwände ins Feld geführt<br />

worden: Selbst wenn die <strong>Arbeit</strong>sproduktivität in den meisten Dienstleistungen weniger<br />

großistalsinLandwirtschaftundIndustrie,wardieVorstellungweitgehenderTechnisie<br />

rungsundRationalisierungsresistenzvonDienstleistungstätigkeitschonzuFourastiesZei<br />

ten obsolet, wenn man etwa an die große Bürorationalisierung im ersten Drittel des 20.<br />

Jahrhundertsdenkt(vgl.Baethge/Wilkens2001:9f.).EinanderesgrundlegendesArgument<br />

gegen die Vorstellung, dass der „ungeheure Hunger nach Tertiärem“ (Fourastié) durch<br />

kommerzielle Dienstleistungen unbegrenzt befriedigt werden und zur beliebigen Auswei<br />

tungvonDienstleistungsbeschäftigungführenkönnte,bestehtimVerweisaufdenPreisfür<br />

DienstleistungenunddiebegrenzteKaufkraftderKonsumenten,dieeinenMassenkonsum<br />

vonkommerziellenDienstleistungsangebotenimWegestünden.Implizithabenmitunter


42 MartinBaethge<br />

schiedlichenBegründungenBaumol(1967)undGershuny(1981)diesesArgumententfaltet<br />

(vgl.zurArgumentationsweiseHäusermann/SiebelindiesemBand)–dererstemitVerweis<br />

aufdieKostenklemme,dieentstehenmuss,wennimmerwenigerhochproduktiveundhoch<br />

bezahlte Industriebeschäftigte immer mehr niedrig produktiven und gering bezahlten<br />

Dienstleisterngegenüberstehen(wersolldanndieDienstleistungenbezahlen?);derzweite<br />

mit dem Hinweis auf den Ersatz von kommerziellen Diensten durch Eigenarbeit in einer<br />

„Selbstbedienungswirtschaft“. Mit beiden Einwänden sind modelltheoretisch Grenzen für<br />

dieExpansionvonDienstleistungenbezeichnet,vondenenallerdingsunklarbleibt,welche<br />

tatsächlich bremsenden Wirkungen sie entfalten. Bis heute haben sie zumindest keine<br />

TrendumkehrinderBeschäftigungsstrukturentwicklungbewirkt(vgl.Abb.2).<br />

TrotzderFragwürdigkeitseinerzentralenPrämissen<strong>hat</strong>Fourastievieleaufdenersten<br />

Blick treffende langfristige Entwicklungstendenzen für die frühindustrialisierten Gesell<br />

schaften des Westens vorhergesagt: die Dominanz der Dienstleistungsbeschäftigung, die<br />

Verlängerung von Bildungs und Ausbildungszeiten, die Verwissenschaftlichung und<br />

IntellektualisierungvonErwerbsarbeitunddaszunehmendeGewichtvonDienstleistungen<br />

imprivatenKonsum;nachBerufstätigkeitenklassifiziert,habenheuteeineganzeReihevon<br />

westlichenGesellschaftendievonFourastieprognostizierten80ProzentandenErwerbstä<br />

tigenerreicht(s.Abschnitt1).<br />

DiesallesabersindrelativallgemeineundquantitativeKategorienaufderMakroebe<br />

ne,dieseitherdenbegrifflichenGrundbestandvonTheoriennachindustriellerGesellschaft<br />

abgeben(z.B.Bell1975).DenKernvonFourastiesTheorieaberbildetdieVorstellungeines<br />

qualitativhöherenStadiumsderGesellschaft,einer„tertiärenZivilisation“,indersichdie<br />

Erwerbsarbeit verbessert und zu höheren Formen qualifizierter intellektueller Tätigkeiten<br />

geführthabenwirdundnachDeckungmateriellerhöhereimmaterielleBedürfnissebefrie<br />

digtwerden. 4 Diequalitativen<strong>Zukunft</strong>sannahmen,dieHoffnungeneinertertiärenZivilisa<br />

tion,stehenausheutigerSichtaufschwachenBeinen.VoneinemgoldenenZeitaltertertiärer<br />

ZivilisationsinddiemeistenGesellschaftenweiterentferntalsvor30oder40Jahren:Weder<br />

isteszujenerAngleichungderEinkommenaufhohemNiveaugekommen,dieVorausset<br />

zung für die Befriedigung der höheren Bedürfnisse nach Diensten ist, noch ist Sicherung<br />

materiellerBedürfnisseunddieBeseitigung vonNoterreicht.ImGegenteilnimmtinden<br />

meistenwestlichenGesellschaftendieEinkommensungleichheitzu.Massenarbeitslosigkeit,<br />

prekäreBeschäftigungsverhältnisseundunqualifizierte<strong>Arbeit</strong>auchimDienstleistungssek<br />

torhaltenseitlangemanundbedrohengrößerwerdendeGruppenderBevölkerung(SOFI<br />

u.a.2005;Bosch/Weinkopf2007;Castel/Dörre2009).<br />

<br />

4Andenfrühen<strong>Arbeit</strong>enVeblens(1953,zuerst1899)undBaudrillardswirddeutlich,dassesnichtder<br />

Wandel einer allgemeinen Bedürfnisstruktur des Menschen ist, der die Konsumumschichtungen in<br />

RichtungDienstleistungenhervorgebracht<strong>hat</strong>,sonderndassdieKonsumstileundgewohnheitensich<br />

entlang„einersymbolischenLogiksozialerDistinktion“(Deutschmann2002:30)verändernundeinem<br />

ständigen Zirkel von sozialer Distinktion und Egalisierung unterliegen. Gegen Baudrillards<br />

AutomatismusvorstellungderBedürfnisentwicklungwendetDeutschmannmitGalbraithein,dassdie<br />

SchaffungvonBedürfnissendurchdieHerstellerdietreibendeKraftseinkönne.Unabhängigvondie<br />

serKontroversebleibtandieserStellefestzuhalten,dassdieVeränderungvonBedürfnisstrukturenbe<br />

nennbarensozialenundökonomischenWirkfaktorenfolgtundnichteinemallgemeinenEvolutionsge<br />

setz.


Die<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsgesellschaft 43<br />

Sieht man geringfügige Beschäftigung, die oft unter der Sozialversicherungsschwelle<br />

liegt, als Ausdruck für prekäre <strong>Arbeit</strong>sverhältnisse 5 an, so verteilte sich die Mehrheit der<br />

2008andievierMillionengeringfügigBeschäftigterzumüberwiegendenTeilaufDienstleis<br />

tungsbereiche:abgesehenvonprivatenHaushalten,derenAngestelltezu60Prozentgering<br />

fügigbeschäftigtsind,weisenimJahr2008derEinzelhandel(16Prozent),dasGastgewerbe<br />

(19Prozent),GrundstückundWohnungswesen(15Prozent)undsonstigeDienstleistungen<br />

(16Prozent)weitüberproportionaleAnteilegeringfügigBeschäftigterunterihrenErwerbs<br />

tätigen auf; demgegenüber ist die geringfügige Beschäftigung in fast allen Industriebran<br />

chenweitunterdurchschnittlich 6 .EineFüllequalitativerStudienbestätigt–auchiminterna<br />

tionalenMaßstab–wiesehrgeringqualifizierte,unsichereundkaumdasExistenzminimum<br />

einbringende Beschäftigung in bestimmten Dienstleistungsbranchen (Einzelhandel, Hotel<br />

undGaststättengewerbe,Pflegetätigkeiten,Reinigungsgewerbe)kumuliert(vgl.Ehrenreich<br />

2001).<br />

DenGrundfürdieSchwächederqualitativenPrognosenmagmandarinsehen,dass<br />

dieVäterderDienstleistungsgesellschaftsTheoriediebeschriebenenTendenzengleichsam<br />

alsnaturgesetzlicheEntwicklungdermenschlichen<strong>Arbeit</strong>undihrerProduktivitätverstan<br />

denhaben.FürseineVoraussageneinerbesserenQualitätder<strong>Arbeit</strong>hätteFourastiealler<br />

dingsauftheoretischenAnnahmenfußenmüssen,diedieMikroprozesseder<strong>Arbeit</strong>erklä<br />

renkönnen,wieVorstellungenübergesellschaftlicheOrganisationsformenvon<strong>Arbeit</strong>.Ge<br />

sellschaftliche Produktionsweise und Eigentumsverhältnisse spielen jedoch in der Theorie<br />

keineRolle.<br />

Bei ihnen setzen Erklärungen an, die auf Marx’ Analyse der kapitalistischen Gesell<br />

schaftBezugnehmen.InderanMarxorientiertenTheorietraditionlässtsichdieExpansion<br />

der Dienstleistungen mit dem Theorem der „Landnahme“ erklären, obwohl die marxsche<br />

Theorie allenfalls im Zusammenhang der „ursprünglichen Akkumulation“ im Übergang<br />

vonFeudalismuszumKapitalismussoetwaswieeinensektoralenWechselvonLandwirt<br />

schaftzuindustriellerProduktionthematisiert(Marx,DasKapital,Bd.1,S.741ff.).Dasauf<br />

RosaLuxemburg(1913)zurückgehendeTheoremderLandnahmebesagt–fürunserenZu<br />

sammenhangvereinfachtausgedrückt–,dassdemKapitaleineTendenzimmanentist,seine<br />

AnlagesphärenaufandereRegionenundFelderalsdieindustrielleProduktionauszudeh<br />

nen,wenndieGrenzenderinnerenExpansioninder(nationalen)Produktionerreichtsind<br />

und eine Überakkumulationskrise droht. Lutz (1984) und Dörre (2009) zeigen, dass sich<br />

LandnahmenichtaufdieErschließungexternerMärktebeschränkt,sondernauchdienicht<br />

industriellenWirtschaftsbereicheinnerhalbderGesellschaftenanzielenkann.Hierauslässt<br />

sich vielleicht weniger die historische Expansion des Dienstleistungssektors erklären, als<br />

vielmehrderaktuelleKampfumdieRegulationsformenvonDienstleistungsarbeitwiedie<br />

Privatisierung traditionell öffentlich organisierter Dienste wie das Gesundheits und Sozi<br />

alwesen,Bildung,bishinzuobrigkeitlichenOrdnungsfunktionenwieStrafvollzug,polizei<br />

licheundmilitärischeFunktionen(zuletzteremvgl.Knöbl2006).OhnedassdeminderFor<br />

schungbishersystematischnachgegangenwäre,kannmandavonausgehen,dassdieRegu<br />

<br />

5SiesinddiesnichtinjedemFall,dasieinEinzelfällenauchindividuellemInteresse(z.B.anZuver<br />

dienstoder„Übergangsjobinteresse“beiStudierenden)geschuldetseinkönnen.<br />

6ZahlennachMikrozensus2008;vgl.AutorengruppeBildungsberichterstattung2010,Tab.H34web.


44 MartinBaethge<br />

lationsformen auch Auswirkungen auf die quantitative Dynamik der Dienstleistungsbe<br />

schäftigunghaben.<br />

InseinerNeuinterpretationdesLandnahmeTheoremsbetontDörredessenqualitative<br />

Seite,diesichaufdieinhaltlicheGestaltungjenes„Außen“kapitalistischerProduktionbe<br />

zieht,dasindengesellschaftlichenInstitutionenvonz.B.InfrastrukturundBildungdieVo<br />

raussetzungenüberhauptfürkapitalistischeProduktionschafft(vgl.Dörre2009:41ff.).Wie<br />

sehr die qualitative Erweiterung des LandnahmeTheorems für die Analyse gerade jener<br />

Dienstleistungsfelder, die sich nicht auf den unmittelbaren Kreislauf von Produktion und<br />

Konsum wie der Großteil der personenbezogenen und der öffentlichen Infrastruktur<br />

Dienstleistungen(Cluster1und4)beziehen,<strong>hat</strong>jüngstRichardMünchamBeispielderneu<br />

erenEntwicklungenimBildungswesensichtbargemacht(Münch2009).<br />

DasTheoremderkapitalistischenLandnahmekanndenBlickfürPerspektiveninder<br />

AnalysevonDienstleistungsarbeitöffnen,diedieinderklassischenDienstleistungstheorie<br />

ausgeblendetenqualitativenEntwicklungeninder<strong>Arbeit</strong>erschließenhelfen.DieengeKopp<br />

lung von unternehmensbezogenen und marktvermittelnden Dienstleistungen mit der industriellen<br />

ProduktionimKreislaufvonProduktionundKonsumsowiedievielfältigeninnerenVerflechtungen<br />

auchvonstaatlichenInfrastrukturwievonvielenpersonenbezogenenDienstenmitdemBedarfdes<br />

privatwirtschaftlichenSektorsmachtdieEinbeziehungdergesellschaftlichenOrganisationder<strong>Arbeit</strong><br />

und der Eigentumsverhältnisse unabweisbar für die Analyse von Dienstleistungsarbeit: Was pas<br />

siertmitDienstleistungstätigkeiten,wennsiedemPrinzipderKapitalverwertungundden<br />

Wettbewerbsregeln des Marktes unterworfen werden? Wie werden unter der Herrschaft<br />

einzelwirtschaftlicherundreinmonetärerOutputundProduktivitätsmessungQualitätund<br />

ProduktivitätvonDienstleistungsarbeitenbestimmt?DasdieseFragenimBereichvonEr<br />

ziehung,GesundheitsundanderensozialenDienstendramatischeZuspitzungenerfahren<br />

könnten,warinwissenschaftlichenundberufspolitischenDiskursenseitlangemklar(Badu<br />

ra/Gross 1976). Dass sie heute in der großen weltweiten Wirtschaftskrise im Zentrum des<br />

Kapitalsselbst, in der Finanzwirtschaft,thematisiert werden, kann man als Zeichen dafür<br />

werten, wie sehr der Widerspruch zwischen Profit und Wettbewerbslogik auf der einen<br />

undgesellschaftlichenNutzendimensionenvonDienstleistungenaufderanderenSeitees<br />

kaliertist.<br />

3 WidersprüchezwischenNutzenfunktionenund(industrialistischen)<br />

RegulationsformenalsAnalyseperspektivevon<br />

Dienstleistungsarbeit<br />

UnterderPrämisse,dassdieaktuelleWeltwirtschaftskrisenichtnureinertemporärenEnt<br />

gleisung der finanzmarktpolitischen Steuerungsinstrumente zuzuschreiben, sondern in ei<br />

nem konstitutiven Systemwiderspruch wurzelt, der auch in anderen Dienstleistungsberei<br />

chenzugravierendenVerwerfungenführenkann,erscheinteineErörterungdesVerhältnis<br />

sesvonNutzenfunktionenundVerwertungslogikinDienstleistungenangesagt.DiesesVer<br />

hältnisistfürdieRegulationsformenvonDienstleistungsarbeitgrundlegend,dadavonaus


Die<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsgesellschaft 45<br />

zugehenist,dassdieNutzenfunktionendemVerwertungsinteresseGrenzensetzen 7 ,deren<br />

MissachtungbeiderRegulationvonDienstleistungsarbeitKrisensymptomeaufdemMarkt<br />

zeitigenundsichletztlichauchgegendieVerwertungsinteressenderDienstleistungsunter<br />

nehmenselbstrichtenmüssten.DieFinanzmarktkrisedemonstriertdaseindrucksvoll.<br />

DieRegulationsformender<strong>Arbeit</strong>sindnichtnurinDeutschlandbisindieGegenwart<br />

hineinwesentlichamModellindustriellkapitalistischerProduktionsarbeitausgerichtet,die<br />

sichvonvielenDienstleistungsarbeitsfeldernunterscheidet.<br />

TrotzallerHeterogenitätderDienstleistungsarbeitenlassensichindenTätigkeitsstruk<br />

turenUnterschiedezurindustriellen<strong>Arbeit</strong>finden,diefürdieOrganisationundGestaltung<br />

der<strong>Arbeit</strong>sverhältnissefolgenreichsind:SolassensichdiemeistenindustriellenProdukti<br />

onsarbeiteninderTätigkeitstypologieKohns(1977)demTypus„UmgangmitSachen“,die<br />

meistenDienstleistungstätigkeitendenTypen„UmgangmitMenschen“und/oder„Umgang<br />

mitSymbolen“zuordnen. 8 <br />

<br />

DerTermius„UmgangmitSachen“bezeichnetalleTätigkeiten,diedurchdieBearbei<br />

tungvonnatürlichenodervonMenschengeschaffenenGegenständennützlicheDinge<br />

herstellenoder–imFallevonMaschinenwiederherstellenunderhalten;<br />

dieKategorie„Umgangmit Personen“umfasstdieTätigkeiten,diesichaufProzesse<br />

desHeilens,Pflegens,BeratensundUnterrichtensvonPersonenbeziehen,und<br />

derTätigkeitstyp„UmgangmitSymbolen“beinhaltetTätigkeiten,derenInhaltimWe<br />

sentlicheninOperationendesRechnens,Schreibens,InformationenAnalysierenund<br />

Verarbeitensbesteht.<br />

<br />

DernaheliegendeEinwand,dasssichinderRealitätdiedreiTätigkeitstypenineinzelnen<br />

<strong>Arbeit</strong>sprozessenüberlappen,istaufdenerstenBlicksorichtigwietrivialundverfehltden<br />

SinnderbegrifflichenUnterscheidung.DieserzieltaufdenSachverhalt,dassjenachdem,<br />

welcherTätigkeitstypimZentrumeines<strong>Arbeit</strong>sprozessessteht,dieLogikdes<strong>Arbeit</strong>ens,die<br />

Formder<strong>Arbeit</strong>sorganisationsowiedie<strong>Arbeit</strong>UmweltInteraktion,dementsprechendauch<br />

dieAnforderungenandas<strong>Arbeit</strong>sverhaltenderIndividuenundanihreKompetenzenande<br />

resindbzw.mitBlickauffunktionaleImperativeseinmüssten.BeimTypus„Umgangmit<br />

Sachen“folgtdie<strong>Arbeit</strong>slogikdenetabliertenMethodender(manuellenodermaschinellen)<br />

Bearbeitung von Gegenständen, beim „Umgang mit Personen“ steht die Interaktionslogik<br />

fürdieGestaltungkommunikativerSituationenimZentrumundbeim„UmgangmitSym<br />

bolen“ sind es die Regeln des Analysierens und Kombinierens von Zeichen, die das Ar<br />

beitshandelnleiten.AmBeispielillustriert:Esleuchtetvermutlichschnellein,dasssowohl<br />

die<strong>Arbeit</strong>slogikalsauchdieInteraktionzwischen<strong>Arbeit</strong>endemundseinersächlichenund<br />

<br />

7IndermarxschenTheorietraditionkönntemanformulieren:derSubsumtionderkonkretenunterdie<br />

abstrakte<strong>Arbeit</strong>oderdesGebrauchswertder<strong>Arbeit</strong>unterihrenTauschwertsindGrenzenindenTätig<br />

keitsinhaltengesetzt.<br />

8MitfortschreitenderInformatisierungdringtallerdingsderTypusUmgangmitSymbolenauchimmer<br />

mehrindieindustriellenProduktionstätigkeitenein.UmgangmitSachenverschmilztebensosehrim<br />

mermehrmit„UmgangmitSymbolen“,wieesauchderTypus„UmgangmitMenschen“tut.ZumEr<br />

scheinungszeitpunktvonKohns„ClassandConformity“.


46 MartinBaethge<br />

personellenUmweltbeiderBearbeitungeinesWerkstücksanderssindalsbeiderPflegeei<br />

nesKrankenundwiederumbeideandersalsbeimLöseneinerMathematikaufgabe.<br />

In der eingangs angesprochenen langen Entwicklungsperspektive sektoralen Struk<br />

turwandels <strong>hat</strong> der Typus „Umgang mit Sachen“ die Geschichte der <strong>Arbeit</strong> bis in die in<br />

dustrielleGesellschaftdeszwanzigstenJahrhundertshineindominiert.Diebeidenanderen<br />

Tätigkeitstypen spielten in der Erwerbsstruktur eine untergeordnete Rolle und gewannen<br />

erst im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmendes und schließlich dominantes<br />

quantitativesGewicht(vgl.Abschnitt1,Abb.1).IhreExpansionverdankensieimFalleper<br />

sonenbezogenerDienstleistungen,diemanhierinetwamitdemTypus„UmgangmitPer<br />

sonen“gleichsetzenkann,derExternalisierunghäuslicherFunktionenausdemFamilienzu<br />

sammenhang(Bildung,Betreuung,Pflege)unddemAusbauwohlfahrtsstaatlicherInstituti<br />

onen (Gesundheits und Bildungswesen). Im Falle des Typus „Umgang mit Symbolen“<br />

spielten Prozesse der Separierung kaufmännischer, informatorischer und verwaltender<br />

Funktionen von den Produktionsprozessen und die zunehmende Verwissenschaftlichung<br />

undInformatisierungallerLebensbereichedieentscheidendeRolle(vgl.Dostal2001:54f.).<br />

AufgrundderüberragendenBedeutungderindustriellenProduktionfürWirtschafts<br />

wachstumundWohlfahrtsproduktion<strong>hat</strong>dasindustrialistischeRegulationsmodellvonAr<br />

beitim20.JahrhundertinDeutschlandweitgehendalleErwerbssphärendominiert.Eslässt<br />

sichdurchfolgendeMerkmaledefinieren:<br />

<br />

einestarkvomhierarchischorganisiertenGroßundMittelunternehmengeprägteBe<br />

triebsund<strong>Arbeit</strong>sorganisation,mitklarenKompetenzabgrenzungenzwischenFunk<br />

tionsbereichenundAbteilungen;<br />

einProduktionskonzeptderStandardisierungvonProduktenundProzessen(vgl.Co<br />

hen 2001) mit entsprechenden Formen der Leistungsmessung und Entlohnung sowie<br />

AnforderungenanDisziplinundOrdnung,umdieeconomiesofscalenutzenzukön<br />

nen(deutlichsterAusdruckdiesesKonzepts:tayloristische<strong>Arbeit</strong>sorganisation);<br />

ein bestimmtes, sehr striktes <strong>Arbeit</strong>szeitRegime mit betrieblich gebundenen 8<br />

StundenTag bzw. 40StundenWoche, das als Normalarbeitsverhältnis zur beschäfti<br />

gungsstrukturellenundgesellschaftlichenNormgewordenist;<br />

einandas(Normal)<strong>Arbeit</strong>sverhältnisgebundenesSozialversicherungssystem,dasdie<br />

HöhederAltersversorgungandiegeleistete<strong>Arbeit</strong>szeitbindetundVollzeitarbeitbe<br />

günstigt;<br />

einespezifische,amFacharbeiterprofilausgerichteteBerufsausbildung,diewesentlich<br />

durchihreunmittelbareEinbindunginbetriebliche<strong>Arbeit</strong>sprozessebestimmtist,und<br />

einefrüheSozialisationindas<strong>Arbeit</strong>s,OrganisationsundNormengefügeindustriel<br />

lerProduktionbewirkt;<br />

ein auf Beruflichkeit und interne <strong>Arbeit</strong>smärkte ausgerichtetes Modell der sozialen<br />

Mobilität,daseherSicherheitundBetriebstreuealsRisikobereitschaftundMobilitäts<br />

aspirationenprämiert;<br />

ein sozialpartnerschaftliches Aushandlungsmodell von Interessen auf Betriebs und<br />

Branchenebene,dasstarkeOrganisationenvonSozialpartnernvoraussetzt.


Die<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsgesellschaft 47<br />

Mit dieser idealtypischen Skizze der industriegesellschaftlichen Ordnung der <strong>Arbeit</strong> wird<br />

nicht behauptet, dass die <strong>Arbeit</strong>srealität in den industriellen Produktionsbetrieben deren<br />

MaximenimmerbuschstabengetreugefolgtoderauchheutenochinallenBetriebstypenan<br />

ihrausgerichtetwäre.DieindustrialistischeOrdnungder<strong>Arbeit</strong>stelltwiealleinstitutionel<br />

len Ordnungen einen normativen Orientierungsrahmen für organisationales Handeln dar,<br />

dessenVerbindlichkeitundBefolgungnachdenstofflichenBedingungender<strong>Arbeit</strong>sprozes<br />

seundihrerkonkretenEinbettunginMarktkonstellationenvariierenkann.Alsbetriebliches<br />

Organisationskonzept<strong>hat</strong>dieseOrdnungder<strong>Arbeit</strong>inDeutschlandihreeindeutigsteAus<br />

prägung und Blütezeit in der langen Phase fordistischer Produktion (Massenproduktion<br />

undMassenkonsum)gehabt.HeutehabenzunehmendeKundenorientierung,dieinvielen<br />

Bereichen eine Individualisierung der Produktion nach sich zieht (vgl. Reichwald et al.<br />

2000),undinterneTertiarisierungderProduktiondurchAusbauderindirektenBereichein<br />

derIndustriedieindustrialistischeOrdnungder<strong>Arbeit</strong>gelockert(vgl.Kern/Schumann1984;<br />

Piore/Sabel1985;Sauer/Döhl1997),ohnesieaufzuheben,inanderenBereichen<strong>hat</strong>sieihre<br />

Stabilitätbehaltenbzw.sogareineRenaissanceerfahren(Schumann2004).<br />

DieAufweichungderindustrialistischenOrdnungder<strong>Arbeit</strong>inderIndustrieproduk<br />

tion selbst <strong>hat</strong> nicht verhindert, dass sie nicht auch im Dienstleistungsbereich normative<br />

Verbindlichkeit erreicht hätte, und zwar schon längst bevor sie im industriellen Sektor in<br />

Frage gestellt wurde (vgl. Baethge/Oberbeck 1986): vor allem in den Bürobereichen kauf<br />

männischer und verwaltender Tätigkeiten durch dequalifizierende <strong>Arbeit</strong>steilung, imEin<br />

zelhandeldurchServicereduktion,TechnisierungundstarkeFunktionsdifferenzierung;aber<br />

auchinkundenoderklientennahenBereichenimVersicherungsundKreditgewerbedurch<br />

StandardisierungvonAngebotenund(technischgestützte)Kommunikationsformen;selbst<br />

imBereichderPflegetätigkeitendurchkleinteiligfragmentierteLeistungsmessung.<br />

Das industrialistische Regulationsmodell von <strong>Arbeit</strong> kollidiert in vielen Punkten so<br />

wohlmitanderenTraditionenderRegulierungimDienstleistungssektoralsauchmitaktu<br />

ellenFunktionsbedingungenvonDienstleistungsarbeit.<br />

Historischgesehenerscheintesnichtalszufällig,dassdiegrößtenBereichesowohlder<br />

personenbezogenenDienstleistungenwiedasGesundheits,BetreuungsundPflegewesen<br />

als auch der Wissensdienste (Schulen, Universitäten, Forschungseinrichtungen, selbst der<br />

Informationsübermittlung) der privatwirtschaftlichen Organisation von <strong>Arbeit</strong> entzogen<br />

warenundineinemöffentlichrechtlichenRahmeninstitutionalisiertwurden.Diesesinden<br />

letztenJahrhundertennebenderMarktregulationentstandenealternativeNormierungssys<br />

temvon<strong>Arbeit</strong>musswederpersealsdiefürdieFunktionslogikvonDienstleistungenop<br />

timale Organisationsform noch als historisch invariant und von Marktregulationsformen<br />

unbeeinflusst angesehen werden. Die Debatten, die beispielsweise zur Privatisierung der<br />

Telekommunikationsdienstegeführthaben,undähnlicheinjüngererZeitüberdieDeregu<br />

lierung personenbezogener Dienstleistungen stimulieren in der nachindustriellen Gesell<br />

schaft die Frage nach neuen institutionellen Regulierungsformen von <strong>Arbeit</strong> zwischen<br />

MarktundpolitischerSteuerung.<br />

DaDienstleistungsarbeitundarbeitsmärktestarkvonFrauenerwerbstätigkeitgeprägt<br />

sind(vgl.Abb.3),stehenvorallemdieammännlichenNormalarbeitsverhältnisorientierten<br />

Formender<strong>Arbeit</strong>smarktundInteressenregulationseitlangeminderKritik,dasssiedie<br />

spezifischen Bedürfnislagen weiblicher <strong>Arbeit</strong>kräfte verfehlten. Wie sehr das industriali


48 MartinBaethge<br />

stische Regulationsmodell auf der Betriebsebene funktionale Erfordernisse von Dienstleis<br />

tungsarbeitverfehlt,seianzweiBeispielen–BetriebsorganisationundZeitregime–sichtbar<br />

gemacht.<br />

<br />

3.1.1 ZurBetriebsorganisation<br />

Angesichts der ausgreifenden internen Tertiarisierung der Industrie (Ausbau von For<br />

schungundEntwicklungunddasMarktundKundenbereichs)sindDezentralisierungvon<br />

Verantwortlichkeit, organisatorische Verselbständigung oder Auslagerung von Dienstleis<br />

tungen,derWegzukleinerenEinheiten,sindAntwortenderUnternehmenaufdieseSitua<br />

tion,dieauchundnichtzuletztdurchdieneuenInformationsundKommunikationstechni<br />

kenbefördertwerden.Die„grenzenlosenUnternehmungen“(Picotetal.1998)der<strong>Zukunft</strong><br />

sindkeinegroßenTankermehr,sondernNetzwerkevoneigenständigoperierendenkleinen<br />

Einheiten(vgl.Reichwaldetal.2000).<br />

Eine Tendenz zu Großbetrieben beschränkte sich im Dienstleistungssektor lange Zeit<br />

auf die Zentralverwaltungen von Dienstleistungsunternehmen (z.B. Banken, Versicherun<br />

gen),Einzelhandel,Industrieverwaltungen).Sie<strong>hat</strong>seit1960erJahrendesletztenJahrhun<br />

dertsauchEinzugimGesundheitswesengefunden,bildetaberbisheutenichtdenPrototyp<br />

betrieblicherOrganisationindenDienstleistungsfelderninsgesamt.Entsprechenddemuno<br />

actuPrinzipvonErstellungundKonsumvonDienstleistungenistderGroßteilvonDienst<br />

leistungen,vorallemdiepersonenbezogenen,lokalgebunden.DieserSachverhaltsetztdem<br />

GrößenwachstumvonDienstleistungsbetriebeneineGrenze:Einzelhandelsgeschäfte,Hotels<br />

und Gaststätten oder Banken und Sparkassen, auch Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen,<br />

Schulen und Kindergärten sind typischerweisein Klein,allenfalls Mittelbetrieben organi<br />

siert. Sowohl auf der Ebene des Produkts als auch der Organisation entstehen dadurch<br />

„quasinatürliche“BegrenzungenfürdieindustrialistischeOrdnung:aufderProduktions<br />

ebeneinRichtungStandardisierungundSkalenerträge,aufderEbeneder<strong>Arbeit</strong>sorganisa<br />

tioninRichtungHierarchisierungundTiefeder<strong>Arbeit</strong>steilung.<br />

BeideBegrenzungenhabenaufderSteuerungsebenederkommerziellenUnternehmen<br />

ReaktionenzurÜberwindungderGrenzenhervorgerufen.ZuihnengehörendieBündelung<br />

aller wichtigen Entscheidungen in der Unternehmenszentrale und detaillierte Steuerungs<br />

vorgaben für die Prozessorganisation auf der operativen <strong>Arbeit</strong>sebene der Betriebe, Stan<br />

dardisierung von Funktionen (z.B. in telekommunikativen Diensten wie Callcenter) oder<br />

vonProduktenundSortimenten(z.B.imEinzelhandel),verstärkteFunktionsdifferenzierung<br />

undTechnisierungder<strong>Arbeit</strong>sabläufe(vgl.dieBeiträgeinBaethge/Wilkens2001).Aufdie<br />

semWegkönnenauchbeiKleinbetriebensowohlSkalenerträgealsaucharbeitsorganisato<br />

rischeRationalisierungseffekteerzieltwerden–oftallerdingsumdenPreisvonQualitäts<br />

undServicereduktionundDequalifizierungdesPersonals.<br />

<br />

3.1.2 ZumZeitregime<br />

Auch das Zeitregime des Industrialismus folgt der Logik einer bestimmten Entwicklungs<br />

phasestarkmechanisierterundautomatisierterProduktion.Dassdierigide,fremdbestimm<br />

teZeitorganisationdesindustriellenFabrikregimeseinbesondererStimulusfürKreativität<br />

und innovative Ideen wäre, die bei einer immer stärker informations, forschungs und<br />

wissensbasierten Ökonomie zunehmend wichtiger werden, widerlegtein Blick aufdie In


Die<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsgesellschaft 49<br />

novationszentren. Wer sich die Zeitorganisation in Forschungslabors (vgl. Kalkowski/<br />

Mickler2009)oderSoftwarebetrieben(Reichwaldetal.2004)anschaut,wirdindenerfolg<br />

reichsten gerade nicht die industriellen Muster von Zeit und <strong>Arbeit</strong>sorganisation vorfin<br />

den.Folglichhabensichlängstandere,stärkerindividualisierteFormenderLeistungssteue<br />

rungundkontrolledurchgesetztalsdieStechuhr.<br />

FürmoderneDienstleistungenfastjedwedenTypstreffendieBedingungendesindust<br />

riellenZeitregimes 9 nichtnurnichtzu,dieÜbertragungderZeitordnungerweistsichinvie<br />

lenFällensogaralsdysfunktional.Diesnichtallein,weilindenmeistenDienstleistungsbe<br />

reichenkeineMaschinenlaufzeitenden<strong>Arbeit</strong>srhythmusbestimmen,sondernweilmoderne<br />

TechnikundDienstleistungsfunktioneneffizientereundflexiblere<strong>Arbeit</strong>szeitensowohler<br />

fordernalsauchermöglichen.StelltedieindustrielleProduktionstechnikeinerelativstarre<br />

Technologie dar, welche Raumgebundenheit der <strong>Arbeit</strong>skräfte verlangt, so zeichnet sich<br />

moderneInformationsundKommunikationstechnikalsdieBasistechnologieindenDienst<br />

leistungengeradedadurchaus,dasssiedieRaumundZeitbindungder<strong>Arbeit</strong>aufzulösen<br />

gestattetunddamitvielfältigeMöglichkeitenderZeitorganisationeröffnet–vondiversen<br />

FormenderTeilzeitarbeitbishinzuräumlichzwischenBetriebundWohnungverteilterAr<br />

beit(vgl.Reichwaldetal.2001).<br />

Auchvonder BeschäftigtenseiteerscheintdastraditionelleZeitregimewenigbedürf<br />

nisangemessen.VielleichtwardiesauchfrüherinderHochzeitderIndustriegesellschaftder<br />

Fall – zumindest soweit es Schicht und Nachtarbeit betraf. Heute aber, nachdem mit<br />

Durchsetzung der Dienstleistungsökonomie auch die Frauenerwerbstätigkeit angestiegen<br />

ist,stelltsichdasProblemeinerZeitorganisation,dieeinebessereVereinbarkeitvon<strong>Arbeit</strong><br />

und Privatleben gestattet, mit einem höheren gesellschaftlichen Druck, und das nicht nur<br />

für weibliche <strong>Arbeit</strong>skräfte. Flexiblere Zeitstrukturen könnten beiden Seiten, den Kunden<br />

oderKlientenunddenBeschäftigten,zugutekommen.AllerdingsbestehtdieKehrseiteder<br />

FlexibilisierungderZeitstrukturenoftindemAusbauauchunfreiwilligerTeilzeitarbeitund<br />

geringfügiger Beschäftigung, die heute in den Dienstleistungsbranchen stärker vertreten<br />

sindalsinderIndustrie.AndemNiedriglohnanteilandenBeschäftigtenderWirtschafts<br />

zweigelässtsichdieKehrseitederFlexibilisierungveranschaulichen.DieNiedriglohnantei<br />

le,diesichnachKalina/Weinkopf(2008)nichtalleinaufunqualifizierteodergeringqualifi<br />

zierteBeschäftigtebeziehenundübereinFünftelderBeschäftigteninDeutschlandausma<br />

chen,konzentrierensichüberproportionalaufdieDienstleistungsberufsfelder(vgl.Abb.4).<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

9ZudenBedingungensindzurechnen:hochgradigstandardisierteProduktionsabläufe,maschinenge<br />

bundene<strong>Arbeit</strong>,großbetrieblicheKooperationvonBelegschaften(vgl.Baethge2001).


50 MartinBaethge<br />

Abbildung4: NiedriglohnanteilnachausgewähltenWirtschaftsgruppen2006(inProzent)<br />

Produzierendes Gewerbe<br />

Bauwirtschaft<br />

Infrastruktur- und<br />

Transportdienstleistungen<br />

Unternehmensnahe<br />

Dienstleistungen<br />

Marktvermittelnde<br />

Dienstleistungen<br />

Haushalts- und<br />

personenbezogene<br />

Dienstleistungen<br />

Gesamt (Deutschland)<br />

in %<br />

Quelle:Kalina/Weinkopf2008:453.<br />

14,7<br />

19,7<br />

15,4<br />

4 Qualifikationsanforderungsprofilevon<br />

Dienstleistungsbeschäftigung<br />

29<br />

27,1<br />

25,3<br />

22,2<br />

0 5 10 15 20 25 30<br />

BeiallerHeterogenitätvonDienstleistungstätigkeitenlassensichinderQualifikationsstruk<br />

turdochUnterschiedezurindustriellen<strong>Arbeit</strong>erkennen.Sieberuhenaufzweiqualifikatori<br />

schen Basisdimensionen, die gegenüber früheren Zeiten zwar für Erwerbsarbeit nicht<br />

grundsätzlichneu,aberinihremGewichtundihrerAusgestaltungfürdiealltägliche<strong>Arbeit</strong><br />

docheineneueStufedarstellen:KommunikationundWissen.<br />

<br />

WarKommunikationimBereichderErwerbsarbeitinfrüherenPhaseneineFormder<br />

<strong>Arbeit</strong>zurHerstellungvonProdukten,sowirdsiebeiDienstleistungendarüberhinaus<br />

zumInhaltderTätigkeitselbst.SiebeziehtsichdamitnichtvorrangigaufdieKoopera<br />

tionmitMitarbeitern,VorgesetztenundKollegenindergemeinsamenBearbeitungei<br />

nesGegenstandsodereinerAufgabe,sondernaufKundenundKlientenalsInteressen<br />

tenanundAdressatenvonDienstleistungen.InvielenFeldernistdieKommunikation<br />

dieDienstleistungselbst,fälltErstellungundKonsumtionderLeistungineinemAkt<br />

zusammen.DiesgiltbeispielsweisefüralleBeratungs,Lehr,Lern,undTherapieleis<br />

tungen.InderPerspektiveaufKunden/KlientenwandeltKommunikationihrenCha<br />

rakter,siewirdinhaltlichvielfältigerdimensioniertundumfassteinbreitesSpektrum<br />

vonPersonen,derenBedürfnisseundEigentümlichkeitenzuerfassenundzuberück<br />

sichtigensind.


Die<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsgesellschaft 51<br />

Wissen: Industrie und nachindustrielle Gesellschaft unterscheiden sich nicht darin,<br />

dassletzterewissensbasiertist,erstereabernicht.DerUnterschiedliegtindemWandel<br />

derWissensformenundderDynamikderWissensveränderung.DerWandelderWis<br />

sensformenistoftalseinsolchervonErfahrungswissenzutheoretischemoderanalyti<br />

schenWissenodervonimplizitemzuexplizitemWissen(Nonaka/Takeuchi1997)cha<br />

rakterisiertworden.EinesolcheKlassifizierungtrifftdenSachverhaltnichtgenau,weil<br />

essichnichtumdieErsetzungvonErfahrungdurchschulischgelerntesWissenhan<br />

delt, sondern um ein neues Mischungsverhältnis von arbeitsintegrierten und erfah<br />

rungsbasierten Aneignungsprozessen von Wissen und Handlungskompetenzen auf<br />

dereinenundsystematischundaußerhalbvon<strong>Arbeit</strong>sprozessenerworbenemWissen<br />

und theoretischem Reflexionsvermögen auf der anderen Seite. Letzteres bildet heute<br />

mehr und mehr die Voraussetzung dafür, überhaupt Erfahrungen im <strong>Arbeit</strong>sprozess<br />

machen zu können. Deswegen kann man das explizite Wissen, gesellschaftlich gese<br />

hen,alsdiedominanteWissensformbezeichnen(vgl.Bell1975).<br />

<br />

Untersuchungen über die Qualifikationsanforderungen an Erwerbstätige in den unter<br />

schiedlichen Beschäftigungssektoren scheinen die theoretischen Annahmen zur Verschie<br />

bungderQualifikationenzubestätigen.Tabelle1zeigt,dassdieAnforderungenansoziale<br />

Kompetenzen deutlich nach den drei Hauptsektoren der Beschäftigung gestaffelt sind. In<br />

allen vier geprüften Dimensionen der Sozialkompetenz weisen die Produktionsberufe die<br />

niedrigsten,diesekundärenDienstleistungsberufediedurchgängigmehralsdoppeltsoho<br />

henhöchstenBesetzungenauf,währenddieprimärenDienstleistungeninderMitteliegen.<br />

Die Differenzen reflektieren den Sachverhalt, dass es sich bei den sekundären Dienstleis<br />

tungenüberwiegendumTätigkeitendesTypus„UmgangmitMenschen“handelt(Gesund<br />

heitsundSozialberufe,ErziehungsundWissenschaftsberufstätigkeiten).<br />

<br />

Tabelle1: AnforderungenanSozialkompetenzen<br />

Andere über-zeugen<br />

und Kompromisse<br />

aushandeln<br />

Quelle:Hall2007:180;eigenePräsentation.<br />

Freie Reden oder<br />

Vorträge halten<br />

Kontakt zu Kunden,<br />

Klienten oder<br />

Patienten<br />

Besondere<br />

Verantwortung für<br />

andere Menschen<br />

Produktionsberufe<br />

Primäre<br />

21,9 4,8 29,6 24,6<br />

Dienstleistungsberufe<br />

Sekundäre<br />

30,4 9,8 63,5 33,3<br />

Dienstleistungsberufe 55,8 29,5 70,5 57,7<br />

Gesamt 38,3 16,4 57,9 40,8<br />

<br />

Ähnlich,wennauchmitwenigerstarkenDifferenzenzwischendendreiSektoren,verhältes<br />

sichmitdenAnforderungenanMethodenkompetenzen,diemanalseinenKernbereichsys<br />

tematischen Wissens betrachten kann. Auch bei ihnen weisen die Produktionsberufe im<br />

Durchschnitt die niedrigsten, die sekundären Dienstleistungsberufe die höchsten Anteile<br />

auf (vgl. Tab. 2). Man kann die Verteilungen der Tabelle 2 als Beleg dafür nehmen, dass<br />

DienstleistungsberufeinderRegelhöhereWissenskompetenzenalsProduktionstätigkeiten


52 MartinBaethge<br />

verlangen,dasssichaberauchindiesendiezunehmendeWissensbasierungder<strong>Arbeit</strong>sab<br />

läufedurchsetzt.<br />

<br />

Tabelle2: Anforderungen an Methodenkompetenzen<br />

Quelle:Hall2007:180;eigenePräsentation.<br />

<br />

DieQualifikationsanforderungender<strong>Arbeit</strong>splätzelassensichineinemzweitenSchrittzu<br />

komplexeren Qualifikationsniveaus, die ein Erwerbstätiger für den von ihm wahrgenom<br />

menen <strong>Arbeit</strong>splatz mitbringen muss, verdichten. Die Betrachtung des qualifikatorischen<br />

AnforderungsniveausinsgesamtgibtAufschlussüberdieDifferenzenimQualifikationsni<br />

veausowohlzwischendenindustriellgewerblichenunddenDienstleistungsberufsfeldern<br />

alsauchinnerhalbderDienstleistungstätigkeiten.NachHall(2007)lässtsichdasNiveauder<br />

QualifikationsanforderungenderTätigkeitenindreiStufenunterteilen 10 :(1)Tätigkeiten,die<br />

keine abgeschlossene Ausbildung voraussetzen und auf Basis kurzer Einarbeitungszeiten<br />

ausgeübtwerdenkönnen;(2)Tätigkeiten,fürdieeineabgeschlossenedualeoderschulische<br />

Berufsausbildungerforderlichist(inklusiveMeister,TechnikerodergleichwertigerFach<br />

schulabschluss) 11 ;(3)Tätigkeiten,fürdieeinHochoderFachhochschulabschlussinderRe<br />

gelnötigist.<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Schwierige<br />

Sachverhalte<br />

vermitteln<br />

UnvorhergeseheneProbleme<br />

lösen<br />

Schwierige<br />

Entschei-dungen<br />

treffen<br />

Wissens-lücken<br />

er-kennen und<br />

schließen<br />

Sehr viele<br />

versch. Aufgaben<br />

zu<br />

erledigen<br />

Produktionsberufe<br />

Primäre<br />

18,7 44,1 34,0 20,8 63,2<br />

Dienstleistungsberufe<br />

Sekundäre<br />

25,5 40,8 32,0 21,7 65,2<br />

Dienstleistungsberufe 60,6 67,7 55,6 39,0 81,4<br />

Gesamt 37,7 52,2 41,8 28,3 71,1<br />

<br />

10 Zur Differenzierung wurde ein komplexer subjektiver Ansatz verwendet, d.h. die Erwerbstätigen<br />

wurdengefragt,welcheArtvonAusbildungfürdievonihnenausgeübteTätigkeitinderRegelerfor<br />

derlich ist (abgeschlossene Ausbildung, Fachhochschul oder Universitätsabschluss, Fortbildungsab<br />

schlussoderkeinAusbildungsabschluss);ergänzendwurdedieStellunginBetrieb,dieDauerderEi<br />

narbeitungszeitundderBereichbesondererKurseherangezogen(vgl.Hall2007:165).<br />

11HallführtdenFortbildungsabschlusszunächstalsseparateQualifikationsstufe.


Die<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsgesellschaft 53<br />

Tabelle3: BerufsfeldernachQualifikationsanforderungsniveauder<strong>Arbeit</strong>splätze<br />

Qualifikationsniveau 2004<br />

Berufsfelder<br />

Kein Berufs-<br />

Berufs- Akademischer<br />

abschluss ausbildung1) Abschluss<br />

1 Land-, Tier-, Forstwirtschaft, Gartenbau 12,7 81,1 6,1<br />

2 Bergleute, Mineralgewinner 11,8 88,2<br />

3 Steinbearbeitung, Baustoffherstellung, Keramik-, Glasberufe 29,7 70,3<br />

4 Chemie-, Kunststoffberufe 35,2 64,8<br />

5 Papierherstellung, -verarbeitung, Druck 22,8 74,3 3,0<br />

6 Metallerzeugung, -bearbeitung 15,3 84,7<br />

7 Metall-, Anlagenbau, Blechkonstruktion, Installation, Montierer/-innen 19,8 80,1 0,2<br />

8 Industrie-, Werkzeugmechaniker/-innen 8,1 91,7 0,2<br />

9 Fahr-, Flugzeugbau, Wartungsberufe 7,7 91,8 0,5<br />

10 Feinwerktechnische, verwandte Berufe 5,6 92,2 2,2<br />

11 Elektroberufe 4,8 94,7 0,5<br />

12 Spinnberufe, Textilhersteller/-innen, Textilveredler/-innen 41,7 58,3<br />

13 Textilverarbeitung, Lederherstellung 27,8 72,2<br />

14 Back- Konditor-, Süßwarenherstellung 17,6 81,3 1,1<br />

15 Fleischer/innen 20,9 79,1<br />

16 Köche und Köchinnen 38,3 61,7<br />

17 Getränke, Genussmittelherstellung, übrige Ernährungsberufe 32,7 67,3<br />

18 Bauberufe, Holz-, Kunststoffbe- und -verarbeitung 11,8 88,0 0,2<br />

19 Warenprüfer/-innen, Versandfertigmacher/innen 50,0 49,1 0,9<br />

20 Hilfsarbeiter/-innen o.n.T. 71,7 28,3 0,0<br />

21 Ingenieure und Ingenieurinnen 0,5 9,3 90,3<br />

22 Chemiker/-innen, Physiker/-innen, Naturwissenschaftler/-innen 2,4 9,6 88,0<br />

23 Techniker/-innen 1,6 89,8 8,6<br />

24 Technische Zeichner/innen, verwandte Berufe 100,0<br />

25 Vermessungswesen 5,7 74,3 20,0<br />

26 Technische Sonderkräfte 5,5 90,4 4,1<br />

27 Verkaufsberufe (Einzelhandel) 31,8 67,8 0,4<br />

28 Groß-, Einzelhandelskaufleute 6,5 85,0 8,5<br />

29 Bank-, Versicherungsfachleute 1,1 84,3 14,6<br />

30 Sonstige kaufmänn. Berufe (ohne Groß-, Einzelh., Kreditgewerbe) 8,0 78,6 13,4<br />

31 Werbefachleute 5,8 48,4 45,8<br />

32 Verkehrsberufe 36,7 62,9 0,5<br />

33 Luft-, Schifffahrtsberufe 12,9 67,7 19,4<br />

34 Packer/-innen, Lager-, Transportarbeiter/-innen 48,5 50,6 0,9<br />

35 Geschäftsführung, Wirtschaftsprüfung, Unternehmensberatung 1,1 44,1 54,8<br />

36 Verwaltungsberufe im ÖD 2,2 62,1 35,7<br />

37 Finanz-, Rechnungswesen, Buchhaltung 4,8 70,6 24,6<br />

38 IT-Kernberufe 1,2 47,8 51,0<br />

39 Kaufmännische Büroberufe 9,3 85,0 5,7<br />

40 Bürohilfsberufe, Telefonisten und Telefonistinnen 37,3 56,2 6,4<br />

41 Personenschutz-, Wachberufe 33,3 65,8 0,9<br />

42 Hausmeister/-innen 25,0 75,0<br />

43 Sicherheitsberufe 2,5 61,5 36,0<br />

44 Rechtsberufe 20,3 79,7<br />

45 Künstler/-innen, Musiker/-innen 14,5 47,4 38,2<br />

46 Designer/-innen, Fotografen und Fotografinnen,Reklamehersteller/-innen 7,2 54,2 38,6<br />

47 Gesundheitsberufe mit Approbation 0,5 9,0 90,5<br />

48 Gesundheitsberufe ohne Approbation 5,2 92,5 2,4<br />

49 Soziale Berufe 6,5 53,8 39,7<br />

50 Lehrer/-innen 1,7 13,1 85,2<br />

51 Publ., Bibliotheks-, Übersetzungs-, verw. Wissenschaftsberufe 10,3 28,6 61,1<br />

52 Berufe in der Körperpflege 1,8 98,2<br />

53 Hotel-, Gaststättenberufe, Hauswirtschaft 39,3 59,4 1,3<br />

54 Reinigungs-, Entsorgungsberufe 72,9 27,1 0,0<br />

Gesamt 14,8 65,4 19,8<br />

Quelle:Tiemannetal.2008:23f.<br />

<br />

NachdieserDreierstufungderQualifikationsniveauszeigtsich,dassfürdieüberwiegende<br />

Zahl der landwirtschaftlichen und gewerblichtechnischen Berufsfelder (in Tab. 3 die Be<br />

rufsgruppen118und20)einmittlererAbschluss schulischeroderdualerAusbildungdie<br />

Regelvoraussetzung für die Wahrnehmung einer Tätigkeit bildet, nur selten ein akademi<br />

scherAbschlussgefordertwird,aberinfünfBerufsfeldern(4,12,16,17,20)einDritteloder<br />

mehrBeschäftigtekeinerAusbildungbedürfen(vgl.Tab.1).<br />

ImGegensatzzudengewerblichtechnischenBerufsfeldernweisendiederDienstleis<br />

tungstätigkeiten (Berufsfelder 19 sowie 2154) ein weniger einheitliches Qualifikationsni<br />

veauauf.Zwardominierenauchhierin23von35Berufsfeldernmitjeweilsüber50Prozent<br />

der Erwerbstätigen der mittlere Abschluss, aber gleichzeitig finden sich acht Berufsfelder<br />

mit überwiegend akademischem Qualifikationsniveau und kommt es insgesamt zu einer<br />

doppelten Polarisierung: zum einen zwischen Berufsfeldern mit hohen Anteilen mittlerer


54 MartinBaethge<br />

und niedriger Qualifikationsanforderungen, zum anderen zwischen solchen mit mittleren<br />

undhohenAnforderungen(vgl.Tab.3).<br />

InterpretiertmandasQuerschnittsbildalsErgebniseinerlängerfristigenEntwicklung,<br />

so lässt sich der Strukturwandel zur Dienstleistungsbeschäftigung ziemlich eindeutig als<br />

TrendzurErhöhungdesdurchschnittlichenQualifikationsniveausklassifizieren.Dassdie<br />

ser Trend aber nicht als geradliniger Weg zur Höherqualifizierung gedeutet werden darf,<br />

davonzeugendiequantitativbedeutsamenArealegeringqualifizierter<strong>Arbeit</strong>indenReini<br />

gungs und Entsorgungsberufen, bei den Bürohilfs, den Lager und Transporttätigkeiten,<br />

den Verkaufs, Verkehrsberufen und den Tätigkeiten im Hotel und Gaststättengewerbe<br />

sowiederHauswirtschaft,selbstbeieinigenSozialundPflegeberufen(vgl.Tab.3). 12 Bezo<br />

gen auf die Berufsfeldsystematik die zwar nicht mit einer Sektoren und Branchengliede<br />

rungderErwerbstätigkeitgleichzusetzen,wohlaberaufsiebeziehbarist 13 ,lässtsichfürden<br />

Dienstleistungssektor festhalten, dass bei Dominanz des mittleren Qualifikationssegments<br />

in der Erwerbsstruktur Tätigkeiten auf akademischem Niveau zunehmen, zugleich aber<br />

auch ein nicht unbeträchtlicher Sockel geringqualifizierter <strong>Arbeit</strong> bleibt. Die Polarisierung<br />

derQualifikationsstrukturimDienstleistungssektorerweistsichmehralseinezwischenden<br />

BerufsfeldernalsinnerhalbeinesBerufsbereichs.<br />

5 Fazit–Dienstleistungstätigkeitenalsinteraktive<strong>Arbeit</strong>:<br />

EntfremdungundProfessionalisierung<br />

Woimmersieauchausgeübtwerden:fastüberallsindDienstleistungstätigkeiteninteraktive<br />

<strong>Arbeit</strong>. 14 Dasheißteine<strong>Arbeit</strong>,dieunmittelbarbedürfnisbezogenaufeinkonkretesGegen<br />

übergerichtetist,dessenWilledieRichtschnurfürdas<strong>Arbeit</strong>shandelnabgibt,selbstwenn<br />

derWillenichtinpräzisen<strong>Arbeit</strong>sanweisungenartikuliertwerdenkann.DasBedürfnisdes<br />

<br />

12DasAusmaßderTätigkeitenmitniedrigerQualifikationistinsgesamtuntergewichtet,daPersonen<br />

miteiner<strong>Arbeit</strong>szeitvonunterzehnWochenstundennichtindiezugrundeliegendeStichprobeeinbe<br />

zogenwordensind.DieAutorenschätzenaufBasisdesMikrozensus,dasssichderAnteilderGering<br />

qualifizierten an allen Erwerbstätigen bei Einbeziehung der Gruppe mit unter zehn Wochenstunden<br />

<strong>Arbeit</strong>szeitumzweiProzentpunkteaufinsgesamt17Prozenterhöhenwürde(vgl.Tiemannetal.2008:<br />

23).<br />

13 Die Abweichungen betreffen vor allen die Tätigkeiten auf dem Niveauvon Hochschulabschlüssen,<br />

vondenenvieleausdenBerufsfeldern21(Ingenieure),22(Naturwissenschaftlerinnen),35(Geschäfts<br />

führungu.a.)und38(ITKernberufedemsekundärenSektorbzw.denIndustriebranchen),zuzuordnen<br />

sind,aberinderüberwiegendenZahlalsDienstleistungstätigkeiten.<br />

14Mankönnteargumentieren,dassdieInteraktivitätfürdieFüllevonHintergrundsoderbackoffice<br />

TätigkeitenbeistarkarbeitsteiligenDienstleistungsorganisationenz.B.imEinzelhandeloderinBanken<br />

und Versicherungsinnendiensten keine Bedeutung <strong>hat</strong>, weil ihnen der unmittelbare Kundenkontakt<br />

fehlt.BiszueinemgewissenGradistdasArgumentstichhaltig,aberebennurbiszueinemgewissen<br />

Grad.IndemMaße,indembeistarkarbeitsteiligorganisiertenDienstleistungsprozessenderKunden<br />

kontakt auf Vorleistungen aus dem „Hintergrund“ angewiesen ist, gilt auch für die entsprechenden<br />

UnterstützungstätigkeiteneineindirekteInteraktivität.Unmittelbareinsichtiglässtsichdasschonseit<br />

langem im Verhältnis von Innen und Außendienst bei Versicherungen zeigen (vgl. relativ früh<br />

Baethge/Oberbeck1986:237ff.).


Die<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsgesellschaft 55<br />

Gegenüber–handeleessichumeinenKundenimWarenaustausch,umeinenKlientenim<br />

BeratungsundBetreuungsgeschäftodereinenPatientenimPflegeundGesundheitswesen<br />

– zu präzisieren und gemeinsam Wege zu seiner Befriedigung zu erarbeiten, macht den<br />

KernderInteraktivitätvonDienstleistungsarbeitaus.DementsprechendistdieArenavon<br />

Dienstleistungsarbeit auch nicht ein anonymer Markt wie für den Großteil von Industrie<br />

produkten15 ,sonderndiepersönlicheKommunikation,wieimmerdieseauchgestaltetist–<br />

obalsfacetofaceoderdurchtechnischeMedienvermittelteKommunikation.<br />

DiebesondereQualitätderInteraktivitätfürdieBeziehungzwischen<strong>Arbeit</strong>skraftund<br />

Dienstleistungskonsumenten haben früh Badura/Gross (1977) mit der Figur des Kun<br />

den/Patienten als KoProduzent der Dienstleistung herausgearbeitet: Am ArztPatienten<br />

VerhältniswirdjenerGrundsachverhaltinteraktiverDienstleistungsarbeitdeutlich,dassalle<br />

Kompetenz und Einsatzintensität des Dienstleistungsarbeiters ins Leere zu laufen droht,<br />

wenn der Patient/Klient nicht seinen Teil zum Gelingen beiträgt. Das Theorem des<br />

KoproduzententumslässtsichauffastallepersonenbezogenenDienstleistungenanwenden<br />

–vonderKindergartenarbeit(imVerhältniszuKindundEltern)überdieSchulezujedwe<br />

der Form therapeutischen Handelns bis hin zur Betreuung alter Menschen. Das Theorem<br />

<strong>hat</strong> aber auch Bedeutung für alle anderen Spielarten von Beratung. Nicht zuletzt an der<br />

Interaktivität der Dienstleistungsarbeit haben sich Hoffnungen auf soziale Emanzipation<br />

orientiert,dieGrossdieFragestellenließ,obdieVerheißungderDienstleistungsgesellschaft<br />

„sozialeBefreiungoderSozialherrschaft“sei(soderTitelseinesBuchesvon1983).<br />

Eswärezukurzgegriffen,sozialemanzipativeEffekteoderauchnureinenachhaltige<br />

VerbesserungdersozialenSituationderMehrheitinderGesellschaftalsSelbstläuferdessä<br />

kularenWandelszuinteraktiver(Dienstleistungs)<strong>Arbeit</strong>zuerwarten.Esbedarfdazupoli<br />

tischerundsozialerGestaltungderDienstleistungsmärkteundarbeitsverhältnisse16 ,umdie<br />

zweitePerspektivederaltenFragevonGross,sozialeAbhängigkeitundökonomischeÜber<br />

fremdungdesPrivaten,zuverhindern.<br />

InjüngsterZeit<strong>hat</strong>dieDebatteüberdieRollevonKundenundKlientenininterakti<br />

ven <strong>Arbeit</strong>sprozessen im Zusammenhang von Internetnutzung und Internetdiensten eine<br />

Neuauflage in der Kategorie des „Prosumenten“ (prosumer) erfahren (vgl. Blättel<br />

Mink/Hellmann2010).AusgehendvondemBegriffdes„prosumer“vonToffler(1980)wird<br />

auchhiernichtswenigerbehauptetalsdasHeraufkommeneinerneuenKulturundZivilisa<br />

tion,diedurcheinhohesMaßan„productionforselfuse“,durchselbstbestimmte<strong>Arbeit</strong><br />

undPartizipationandenHerbzw.Erstellungsprozessengeprägtist–nichtnur,abervor<br />

allemdurchdieneuenelektronischenMedien(vgl.Hellmann2010:14ff.).IndieserDebatte<br />

verwischen die Grenzen zwischen Industriearbeit und Dienstleistungen, da in beiden Ar<br />

beitssphärendiemedialenKommunikationsweisensichangeglichenhaben.Gegeneineall<br />

zuüberschwänglicheEuphorieüberneuePartizipationsundSelbstbestimmungsgradedes<br />

<br />

15SelbstinderindustriellenProduktionistimZusammenhangderInternetNutzungfüreinekunden<br />

nahe, eventuell sogar individualisierte Produktion die Interaktivität als Wertschöpfungsmodus ent<br />

deckt(Reichwald/Piller2006).Allerdingsbeziehtsichdiesewenigeraufdie<strong>Arbeit</strong>sebenealsvielmehr<br />

aufdiezwischenKundenundUnternehmen.<br />

16HierscheintnurderwesentlicheUnterschiedzudemaufdieMikroprozesseabhebendeninterakti<br />

onstheoretischenKonzeptvon„interaktiver<strong>Arbeit</strong>“vonDunkel/Weihrich(2010)zuliegen,dasdiesys<br />

temischenMakroaspekteausblendet.


56 MartinBaethge<br />

ProsumentengebenHanekop/WittkemiteinerReihevonBeispielenzubedenken,dassauch<br />

inderInternetökonomiedieSelbstbedienung„marktvermittelt“seiundofteineneueStufe<br />

derRationalisierungderKundenschnittstelledarstelle(Hanekop/Wittke2010:102).AmBei<br />

spiel„kollaborativerProduktion“vonnichtkommerziellorientierteninternetcommunities<br />

wie Wikipedia und OpenSourceSoftware (OSS) Nutzergemeinschaften skizzieren sie die<br />

BedingungeneinergleichberechtigtenProduktionundKonsumtionvonInternetangeboten.<br />

GegenüberdenMöglichkeiten,dieseBedingungeninkommerziellenundkommodifizierten<br />

Prozessenzurealisieren,bleibensieeherskeptisch.<br />

MitderEntwicklungzurDienstleistungsökonomiekönntedieKategoriederEntfrem<br />

dunginder<strong>Arbeit</strong>eineneueDimensiongewinnen.Marx<strong>hat</strong>tesieausdenMomentender<br />

VergegenständlichungunddesPrivateigentums vor dem Hintergrund frühindustrieller Ar<br />

beitsformenbegründet:Entfremdete<strong>Arbeit</strong>entstehtausderEntäußerungdes<strong>Arbeit</strong>enden<br />

ineinenGegenstand,derihmselbstnichtgehörtundihmfremdgegenübertritt(vgl.MEW<br />

Ergänzungsband1844/1968,S.512ff.).Marx<strong>hat</strong>teEntfremdungalsobjektivenStrukturtatbe<br />

standdeskapitalistischen<strong>Arbeit</strong>sverhältnissesgefasst,obwohlerihninBegriffensubjekti<br />

verWahrnehmungundBefindlichkeitbeschreibt. 17 Inderkritischen<strong>Arbeit</strong>sundIndustrie<br />

soziologieistimmerwieder versuchtworden,dieprozessualeSeiteundsubjektiveErfah<br />

rungsdimension von Entfremdung zu operationalisieren und empirischer Erfassung zu<br />

gänglich zu machen. Im Zentrum standen dabei die extremen, tayloristischen <strong>Arbeit</strong>stei<br />

lungsformen,diezuDequalifizierung,Reduktionkomplexer<strong>Arbeit</strong>svollzügeaufeinfachste<br />

Handgriffe,EinschränkungvonHandlungsspielräumeninder<strong>Arbeit</strong>,Minimierungderin<br />

dividuellenVerantwortungzugunstenexterner(auchtechnischer)SteuerungderProzesse<br />

unddamitauchzuMotivationszerstörungführte(vgl.u.a.Bravermann).DassmitdenFor<br />

menrestriktiver<strong>Arbeit</strong>dieSubjektivitätdes<strong>Arbeit</strong>ersundeineIdentifikationmitderTätig<br />

keitinjenervonderEntfremdungskategoriedesfrühenMarxhypostasiertenWeisetatsäch<br />

lichausgelöschtwordenwäre,<strong>hat</strong>sichinderRadikalitätempirischnichtbestätigt.Zudem<br />

zeigtdieneuereIndustriesoziologie,dassdietayloristische<strong>Arbeit</strong>szerlegungnichtdasnon<br />

plusultrader<strong>Arbeit</strong>steilungintechnischhochentwickeltenProduktionsprozessenist.Viel<br />

faltundpartielleRücknahmerestriktiver<strong>Arbeit</strong>enprägendiecomputerbasierteIndustrie<br />

produktion (Kern/Schumann 1970, 1984; Piore/Sabel 1985; Schumann et al. 1994). Da aber<br />

auchdieskeineindeutigindie<strong>Zukunft</strong>verlängerbarerTrendistundrestriktiveFormender<br />

<strong>Arbeit</strong>immerwiederneuentstehen(Schumann2000,2004),bleibtdasMenetekelderEnt<br />

fremdungaufderAgenda.<br />

AufgrunddesinteraktivenCharaktersvonDienstleistungsarbeitgewinntdasEntfrem<br />

dungsMenetekeleineneueQualitätderBedrohlichkeit,weilhierentfremdete<strong>Arbeit</strong>nicht<br />

die<strong>Arbeit</strong>endenalleinbetrifft,sondernebensodieKonsumentenihrer<strong>Arbeit</strong>.DemKäufer<br />

materiellerProduktekannesletztendlichgleichgültigsein,inwiestarkentfremdetenFor<br />

menvonIndustriearbeiteinAutoodereinComputerproduziertwordensind,sofernihre<br />

<br />

17Die„Entäußerungder<strong>Arbeit</strong>“bestehtdarin,„dassdie<strong>Arbeit</strong>dem<strong>Arbeit</strong>eräußerlichist,d.h.nichtzu<br />

seinem Wesen gehört, dass er sich daher in seiner <strong>Arbeit</strong> nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl,<br />

sondernunglücklichfühlt,keinefreiephysischeundgeistigeEnergieentwickelt,sondernseinePhysis<br />

abkasteitundseinenGeistruiniert.Der<strong>Arbeit</strong>erfühltsichdahererstaußerder<strong>Arbeit</strong>beisichundin<br />

der<strong>Arbeit</strong>außersich.ZuHauseister,wennernichtarbeitet,undwennerarbeitet,isternichtzuHau<br />

se“(MEWErgänzungsband,Schriftenbis1844,ErsterTeil,Berlin1968,S.514).


Die<strong>Arbeit</strong>inderDienstleistungsgesellschaft 57<br />

technische Qualität und Funktionstüchtigkeit gesichert sind. Bei interaktiver Dienstleis<br />

tungsarbeit ist das anders. Hier gefährdet Standardisierung der Leistungsangebote und<br />

hochgradige<strong>Arbeit</strong>steilungimDienstleistungsprozessunterUmständenschnelldieQuali<br />

tätderBetreuungoderBeratungunduntergräbtdasVertraueninKompetenzundKommu<br />

nikation.ImAlltag<strong>hat</strong>dieseErfahrungjederschoneinmalgemacht,derbeistationärerBe<br />

handlungimKrankenhausOpferarbeitsteiligerKompetenzenundschlecht(weilzudetail<br />

liert)koordinierterDienstplänegewordenist,oderdenmaninÄmternvonPontiuszuPila<br />

tusgeschickt<strong>hat</strong>.DieBeispielesindbeliebiginanderenDienstleistungsbereichenfortsetzbar<br />

– etwa bei Informationsvermittlung in CallCenter oder bei Strukturvertrieben von Versi<br />

cherungen.<br />

DergemeinsameNennermehroderwenigeralleranführbarerBeispielebestehtdarin,<br />

dassDienstleistungsarbeitausihreminteraktivenCharakterherausGrenzenfür<strong>Arbeit</strong>stei<br />

lung, Standardisierung und Dequalifizierung gesetzt sind. Diese Grenzen variieren von<br />

DienstleistungsbereichzuDienstleistungsbereichundsindschwerzubestimmen.Siehaben<br />

in der Regel etwas zu tun mit der Komplexität des Problems, das in der Interaktion zwi<br />

schen Dienstleister und Kunden/Klienten gelöst werden soll. In jedem Fall aber steht bei<br />

Entscheidungenüber<strong>Arbeit</strong>steiligkeit,StandardisierungundTechnisierungvonDienstleis<br />

tungendieQualitätderBedürfnisbefriedigungundKommunikationsformeninderGesell<br />

schaftmitaufdemSpiel.DiesgiltinsbesonderefürpersonenbezogeneDienstleistungen,die<br />

zumgrößtenTeilausgelagerteundkommodifizierteFunktionenvonPrivathaushaltenbe<br />

treffen(z.B.Erziehung,Pflege,Betreuung,Verköstigung).<br />

DienstleistungsarbeitvollziehtsichaufdereinenSeite–umaufdiemarxscheEntfrem<br />

dungskategorie zurückzukommen – nicht in der „Entäußerung an den Gegenstand“, son<br />

dern<strong>hat</strong>einkonkretesGegenüber,dasimmerwiederspontaneInteraktionenherausfordert,<br />

was ein anderes Verhältnis zur <strong>Arbeit</strong> konstituiert als die Bearbeitung toter Gegenstände.<br />

Ähnlichlässtsichargumentieren,dassauchdaszweitekonstitutiveMerkmalderEntfrem<br />

dungskategorie, das Privateigentum, auf viele, zumal personenbezogene Dienstleistungen<br />

nichtzutreffe.DiesfreilichsetztdasEntfremdungsproblemnichtautomatischaußerKraft,<br />

daimZugejenervonDörreartikulierten„qualitativen“Landnahmedieprivatwirtschaftli<br />

chen<strong>Arbeit</strong>steilungsundOrganisationsmusterlängstinvielenöffentlichenundhalböffent<br />

lichen Beschäftigungsfeldern Eingang gefunden haben und die <strong>Arbeit</strong>sverhältnisse dort<br />

ähnlichprägenwieinderPrivatwirtschaft(vgl.Datheetal.2009).<br />

Lässt sich also das Entfremdungsproblem nicht einfach nominalistisch überspielen,<br />

stelltsichdieFrage,wieesaufderEbenederOrganisationvonDienstleistungsarbeitzuent<br />

schärfenist.<br />

HierzugehörenzumeinenpolitischdefinierteNormen,dieeinbestimmtesQualitäts<br />

undSicherheitsniveaufürdieDienstleistungsnutzergewährleisten. 18 AberpolitischeRegu<br />

lationen,sounverzichtbarsiesind,reichennichtaus.SowenigsichinteraktiveLeistungsers<br />

tellungsprozesse von betrieblichen Herrschaftspositionen her wirksam steuern lassen, so<br />

wenig ist ihre Alltagsrealität von politischen Regulationen her gestaltbar. Es bedarf dazu<br />

einer<strong>Arbeit</strong>sorganisation,diebeidenDienstleistungsbeschäftigtenKompetenzundMotiva<br />

<br />

18IndenletztenJahrensindAnsätzedazuimSinnevonKundenschutzrechtenbeispielsweisefürPfle<br />

geheime,selbstfürdenSektorderFinanzdienstleistungeninderBundesrepublikzubeobachten.


58 MartinBaethge<br />

tionimmerwiederfreisetztunderhält.ZuihrgehörenklareVerantwortungszuweisungen,<br />

die den Dienstleistungstätigen Selbstständigkeit in den Organisationen bei der Durchfüh<br />

rung ihrer <strong>Arbeit</strong> und Handlungsspielräume ebenso sichern wie eine eigene Position ge<br />

genüberVorgesetzten,fernersichselbstorganisierendeGruppenarbeitundFormenderAn<br />

erkennung.<br />

Neben der <strong>Arbeit</strong>sorganisation spielt die Professionalisierung von Dienstleistungsar<br />

beit für deren Dauerhaftigkeit als Beruf eine wichtige Rolle. Die Mehrheit der Dienstleis<br />

tungstätigkeitenauchaufdermittlerenEbensetzenhohefachliche,methodischeundsoziale<br />

Kompetenzenvoraus(Abschnitt4).ÜberdieseKompetenzenhinausgehörtzumKernder<br />

ProfessionalitätvorallemderBeschäftigtenindensozialenDienstleistungsberufeneinBe<br />

rufsethos, das sich vorrangig gegenüber dem Wohl des Patienten/Klienten und nicht des<br />

BetriebsoderderOrganisationverpflichtetweiß.FürdiefreienakademischenProfessionen<br />

der Ärzte und Rechtsanwälte ist ein solches Berufsethos seit langem selbstverständlich.<br />

DienstleistungstätigkeitennähernsichnichtzuletztwegenderVerbindungvonKompetenz<br />

undfunktionalerDefinitioneherdentraditionellenProfessionenanalsdenFacharbeiterbe<br />

rufen.AuchhierzuliegteinzentralerUnterschiedzumgewerblichtechnischenBereichin<br />

dustrieller Produktion, dessen berufliches Selbstverständnis in technischer Exzellenz, Si<br />

cherheit und Zuverlässigkeit der Produkte als Basis für betriebliche Verwertungsprozesse<br />

wurzelte.<br />

ProfessionellesEthosistnichtalsindividuellemoralischeBringschuldzudefinieren,es<br />

musseingebettetseinineinengesellschaftlichenKonsens,derininstitutionalisiertenAus<br />

bildungsgängenundberuflichenAnerkennungsformenseinenNiederschlagfindet.<br />

<br />

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Walden,G.(2007):QualifikationsentwicklungimDienstleistungsbereich,Bonn.


22.11.2012 ‐ Mythen der <strong>Arbeit</strong>/ <strong>Arbeit</strong> als Integration


Mythen der <strong>Arbeit</strong><br />

Die <strong>Arbeit</strong>slosenstatistik ist gefälscht - stimmt's?<br />

Um Erfolge in der <strong>Arbeit</strong>smarktpolitik vorzugaukeln, fälschen Politiker die<br />

Erwerbslosenzahlen. Oder? <strong>Arbeit</strong>sforscher Joachim Möller hält die positiven<br />

Beschäftigtenzahlen keineswegs für eine Statistik-Lüge. Im Gegenteil: Die<br />

deutsche Zählung sei sogar vergleichsweise transparent.<br />

Der Vorwurf, Politiker fälschten die <strong>Arbeit</strong>slosenzahlen, ist wohl so alt wie die<br />

Statistiken selbst. "Schlechte Meldungen kann die Bundesregierung nicht<br />

gebrauchen. Deshalb bleibt sie dabei, die <strong>Arbeit</strong>slosenzahlen schön zu rechnen",<br />

sagte Linke-Chef Klaus Ernst kürzlich. Ähnliche Schlussfolgerungen werden nicht nur<br />

1


von den Oppositionsparteien immer wieder nahegelegt. Was ist von den<br />

<strong>Arbeit</strong>smarktzahlen denn nun wirklich zu halten?<br />

Tatsächlich bestimmt die Politik, wer offiziell als arbeitslos gezählt wird. Diese Regeln<br />

sind im Laufe der Jahre mehrfach geändert worden. Ein Schuft, wer denkt, dass<br />

dabei bisweilen auch das Motiv eine gewisse Rolle gespielt <strong>hat</strong>, die Statistik etwas<br />

aufzuhübschen. Zumindest dürfte dies der Grund dafür sein, dass in der<br />

Öffentlichkeit eine tiefe Skepsis verbreitet ist.<br />

Man sollte dabei aber nicht vergessen, dass es auch ein schlagendes Gegenbeispiel<br />

gibt: Durch das Hartz-IV-Gesetz wurden unter der Regierung Schröder<br />

Hunderttausende erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger erstmals überhaupt in der<br />

<strong>Arbeit</strong>slosenstatistik sichtbar. Seitdem ist die deutsche <strong>Arbeit</strong>slosenstatistik<br />

transparenter als in den meisten anderen Ländern. Gerade in den als<br />

arbeitsmarktpolitisch erfolgreich geltenden Ländern Dänemark, Großbritannien oder<br />

den Niederlanden wird die offizielle <strong>Arbeit</strong>slosigkeit wesentlich enger abgegrenzt und<br />

folglich kleiner gerechnet als hierzulande.<br />

Deutsche Zählung vergleichsweise streng<br />

Ein guter Maßstab ist die Statistik der internationalen <strong>Arbeit</strong>sorganisation (ILO), die<br />

auf einem für alle Länder identischen Erhebungsverfahren beruht. Aufschlussreich ist<br />

die Tatsache, dass die Statistik der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> mehr <strong>Arbeit</strong>slose<br />

ausweist als die ILO. In Schweden, Großbritannien und den Niederlanden liegen die<br />

offiziellen Zahlen dagegen deutlich unter den ILO-Zahlen für das jeweilige Land. Die<br />

deutsche Zählung ist also vergleichsweise streng.<br />

Dennoch bilden die <strong>Arbeit</strong>slosenzahlen das Problem der sogenannten<br />

Unterbeschäftigung nur teilweise ab. Hinzuzurechnen ist die Stille Reserve. Zur<br />

"Stillen Reserve im engeren Sinne" gehören alle, die eigentlich gerne arbeiten<br />

würden, sich jedoch aus den verschiedensten Gründen nicht arbeitslos melden.<br />

Manche haben nach langer Jobsuche die Hoffnung aufgegeben, überhaupt noch mal<br />

eine Anstellung zu finden, andere wollen nach Jahren der Kindererziehung zwar<br />

wieder zurück in den Beruf, haben aber ohnehin keinen Anspruch auf<br />

<strong>Arbeit</strong>slosengeld und erwarten sich auch keine Vorteile vom Kontakt zur<br />

2


<strong>Arbeit</strong>sagentur. Diese "Stille Reserve im engeren Sinne" umfasst derzeit knapp eine<br />

halbe Million Menschen.<br />

1,4 Millionen <strong>Arbeit</strong>slose als Stille Reserve<br />

Außerdem gibt es noch die "Stille Reserve in Maßnahmen": Teilnehmer an<br />

Weiterbildungen oder anderen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen werden per<br />

Gesetz nicht als arbeitslos gezählt. Die Zahl liegt bei einer knappen Million.<br />

Insgesamt beläuft sich die "Stille Reserve" so auf rund 1,4 Millionen. Noch nicht<br />

mitgezählt sind Teilnehmer an <strong>Arbeit</strong>sbeschaffungsmaßnahmen, Ein-Euro-Jobber<br />

und einige andere, die nach statistischer Definition als Beschäftigte zählen. Dabei<br />

handelt es sich um rund 200.000 Menschen.<br />

Bei großzügiger Berechnung beträgt das Defizit an regulärer Beschäftigung unter<br />

dem Strich zurzeit also rund 4,5 Millionen. Man kann darüber diskutieren, ob man mit<br />

der Zahl zu hoch liegt, weil es vielleicht unter den als arbeitslos registrierten<br />

Personen einige geben mag, die dem <strong>Arbeit</strong>smarkt nicht wirklich zur Verfügung<br />

stehen - an dieser Stelle wird es aber schnell spekulativ.<br />

Wichtig ist mir Folgendes: Die Stille Reserve ist kein Beleg für die Behauptung von<br />

der Statistik-Lüge. Die Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> weist in ihren Statistikberichten<br />

explizit darauf hin, dass sich das Problem der Unterbeschäftigung nicht auf die Zahl<br />

der registrierten <strong>Arbeit</strong>slosen beschränkt. Diese Berichte sind für jedermann online<br />

zugänglich. Die Zahl der Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen wird<br />

darin detailliert aufgeschlüsselt.<br />

Ältere und Maßnahmenteilnehmer nicht sauber erfasst<br />

Auch das Institut für <strong>Arbeit</strong>smarkt- und Berufsforschung veröffentlicht in seinen<br />

halbjährlichen <strong>Arbeit</strong>smarktprojektionen nicht nur eine Prognose für die Zahl der<br />

<strong>Arbeit</strong>slosen - das Ausmaß der Stillen Reserve wird hier ebenfalls benannt. Der<br />

zentrale Punkt ist dabei: Wenn heute der niedrigste Stand der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit seit<br />

der Wiedervereinigung registriert wird, dann ist dies auch zugleich ein<br />

Rekordniedrigstand der Unterbeschäftigung. Die in den letzten fünf Jahren insgesamt<br />

erfreuliche Entwicklung ist kein Statistik-Fake, sondern sehr wohl aussagekräftig.<br />

3


Ist dann also alles gut im Bereich der <strong>Arbeit</strong>slosenstatistik? Nicht ganz. Bei zwei<br />

Statistikfragen hätte ich mir gewünscht, dass die Politik anders entschieden hätte.<br />

Der eine Punkt ist, dass Hartz-IV-Empfänger über 58, denen ein Jahr lang kein<br />

konkretes Jobangebot gemacht wurde, nicht mehr als arbeitslos zählen. Dabei<br />

handelt es sich um knapp 100.000 Fälle. In den Zahlen zur Unterbeschäftigung sind<br />

sie enthalten, aber sie sollten zur Zahl der registrierten <strong>Arbeit</strong>slosen gehören.<br />

Wenn man Ältere, die eigentlich arbeiten wollen und sich arbeitslos melden, nicht<br />

mehr in der <strong>Arbeit</strong>slosenstatistik mitzählt, entsteht zwangsläufig der Eindruck, dass<br />

an der Statistikschraube gedreht wird. Übrigens <strong>hat</strong> auch die Bundesagentur für<br />

<strong>Arbeit</strong> vor dieser Regelung gewarnt - eben weil ihr daran gelegen ist, dass ihre<br />

Zahlen ein möglichst präzises Bild zeichnen.<br />

Kritisch sehe ich zudem eine weitere Regelung bei der <strong>Arbeit</strong>slosenstatistik.<br />

<strong>Arbeit</strong>slose, mit deren Vermittlung Dritte durch die <strong>Arbeit</strong>sagenturen beauftragt<br />

werden - bei den Hartz-IV-Empfängern durch die Jobcenter oder Optionskommunen -<br />

, zählen automatisch als Maßnahmenteilnehmer und werden damit ebenfalls nicht in<br />

der Zahl der registrierten <strong>Arbeit</strong>slosen erfasst. Dabei liegt ihre Zahl bei deutlich mehr<br />

als 100.000. Auch wenn diese Personen in den Zahlen der Unterbeschäftigung<br />

auftauchen: Der sauberen Erfassung der <strong>Arbeit</strong>slosenzahlen dient das sicherlich<br />

nicht.<br />

IAB<br />

Der Volkswirt Joachim Möller (Jahrgang 1953) ist seit 2007 Direktor des Instituts für <strong>Arbeit</strong>smarkt- und<br />

Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Die Forschungsstelle gehört zur Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong>. In<br />

seiner regelmäßigen Kolumne auf KarriereSPIEGEL rückt er falsche Gewissheiten über die<br />

<strong>Arbeit</strong>swelt zurecht.<br />

Quelle: www.spiegel.de vom 12.07.2011<br />

4


29.11.2012 ‐ wird noch bekanntgegeben


06.12.2012 ‐ wird noch bekanntgegeben


13.12.2012 ‐ Übergänge zwischen Schule und Berufsausbildung


Übergänge zwischen Schule und Berufsausbildung<br />

Verena Eberhard und Joachim Gerd Ulrich<br />

1 Einleitende Bemerkungen zu den institutionellen Rahmenbedingungen<br />

des Übergangs von der Schule in Berufsausbildung<br />

Wer die individuellen Übergänge der Jugendlichen zwischen allgemeinbildender<br />

Schule und Berufsausbildung und ihre Entwicklung seit der Wiedervereinigung<br />

verstehen möchte, darf die Institutionen bzw. Regeln nicht außer Acht lassen,<br />

nach denen in Deutschland der Zutritt in eine voll qualifizierende Berufsausbildung<br />

unterhalb der akademischen Ausbildung eröffnet wird. 16 Denn aus diesen<br />

Regeln bzw. „Institutionen ergeben sich ja oft gerade erst die Strukturen der<br />

Möglichkeiten und der primären Ziele der Akteure sowie die ganz spezielle ‚Logik‘<br />

des sozialen Sinns in einer Situation, der dann den alles bestimmenden Bezugsrahmen<br />

des Handelns bildet“ (Esser 2000, 45).<br />

Was sind nun die spezifischen Merkmale der Zugangsregeln in eine nichtakademische<br />

berufliche Ausbildung? Hervorstechendstes Merkmal ist sicherlich,<br />

dass der Eintritt in die berufliche Ausbildung im Gegensatz zum Hochschulzugang<br />

zu großen Teilen über den <strong>Arbeit</strong>smarkt gesteuert wird. Denn trotz tendenzieller<br />

Bedeutungsverluste in den Jahren zwischen 1992 und 2005 dominiert das<br />

duale System in Deutschland weiterhin die nichtakademische Berufsausbildung<br />

(Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008).<br />

Verantwortlich für die Übergangsregeln ist somit nicht allein der Staat, sondern<br />

ein „korporatistisch-staatliches Steuerungssystem“ (Baethge 2006, Baethge<br />

2008, 546), in dem der Staat der Wirtschaft die Rolle des Eingangswächters in<br />

die Berufsausbildung übertragen <strong>hat</strong>. Zwar verzichtet der Staat damit weitgehend<br />

auf die Steuerungshoheit beim Ausbildungszugang, doch bringt dieser Verzicht<br />

ihm zugleich beträchtliche Vorteile ein (Kath 2005, 229 f.). So spart er durch die<br />

Beteiligung der Privatwirtschaft an der Finanzierung der beruflichen Bildung<br />

enorme Kosten ein (Klemm 2008, 260). Zudem ist die Einbindung der Wirtschaft<br />

mit unverkennbaren Vorteilen für die Jugendlichen verbunden: Eine betriebliche<br />

Berufsausbildung sichert den unmittelbaren Kontakt des Lernortes mit<br />

den aktuellen organisatorischen und technischen Entwicklungen bei der Erzeu-<br />

16 Wir folgen an dieser Stelle der soziologischen Definition, nach der es sich bei Institutionen um<br />

allgemeinverbindliche Regeln handelt (Esser 2000, 303) und nicht etwa, wie im umgangssprachlichen<br />

Sinne, um Organisationen. Unter Organisationen verstehen wir hier wiederum alle nichtstaatlichen<br />

und staatlichen Gruppierungen und Gebilde, die bestimmte Zwecke verfolgen.<br />

133


gung von Gütern und Dienstleistungen (Küppers/Leuthold/Pütz 2001, 72 f.). Des<br />

Weiteren werden die Gefahren einer am Bedarf der Wirtschaft vorbeigehenden<br />

Berufsausbildung gelindert, und die Einbettung in das Beschäftigungssystem<br />

eröffnet den Auszubildenden relativ gute Chancen, unmittelbar nach Abschluss<br />

der Ausbildung in ein <strong>Arbeit</strong>sverhältnis wechseln zu können (Gangl 2003,<br />

Konietzka 2007, Müller/Shavit 1998). Dies sind gewichtige Gründe, warum die<br />

staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen mit ihren gemeinsam verantworteten<br />

Zugangsregelungen in die berufliche Ausbildung öffentlich weitgehend<br />

Akzeptanz finden und eine Beteiligung der privaten Wirtschaft an der Berufsausbildung<br />

in Deutschland grundsätzlich nicht in Frage gestellt wird.<br />

Allerdings gibt es in Deutschland auch einen breiten bildungspolitischen<br />

Konsens, dass der überwiegend marktgesteuerte Zugang zur beruflichen Ausbildung<br />

grundsätzlich keine Jugendlichen von der Möglichkeit ausschließen darf,<br />

sich beruflich zu qualifizieren und darüber ihre gesellschaftliche Teilhabe zu<br />

sichern. Die Rechtmäßigkeit dieses Anspruchs wurde 1980 vom Bundesverfassungsgericht<br />

dadurch unterstrichen, dass es eine gesetzlich geregelte, zeitlich<br />

befristete betriebliche Umlage zur Überwindung von temporären Angebotsdefiziten<br />

auf dem Ausbildungsstellenmarkt für verfassungskonform erklärte (Kath<br />

1999, 102 f.).<br />

Eine Garantie auf einen betrieblich finanzierten Ausbildungsplatz steht jedoch<br />

in einem Spannungsverhältnis mit der von der Wirtschaft eingeforderten<br />

Regel, die Beteiligung der Betriebe an der Berufsausbildung könne und dürfe in<br />

einem marktgesteuerten System nur freiwillig erfolgen. Andernfalls seien massive<br />

negative Auswirkungen auf die Ausbildungsmotivation und –qualität zu befürchten<br />

– mit der wenig attraktiven Aussicht, dass der Staat letztlich doch den<br />

Bereich der Berufsausbildung weitgehend in die eigene Hand überführen muss<br />

(Kath 1999, 103). Die Ordnung der beruflichen Bildung ist somit von institutionellen<br />

Widersprüchen gekennzeichnet – einerseits ist sie von der „Leitidee“<br />

(Lepsius 1995, 395) der Freiwilligkeit der betrieblichen Ausbildungsbeteiligung<br />

geprägt, anderseits vom Anspruch auf ein ausreichendes Berufsbildungsangebot.<br />

Denn zwischen „dem Ausbildungsangebot der Betriebe und der Ausbildungsplatznachfrage<br />

von Schulabgängern besteht grundsätzlich keine Deckungsgleichheit.<br />

Die Betriebe orientieren das Volumen ihres Qualifikationsbedarfs<br />

unter Berücksichtigung von allgemeiner und Branchenkonjunkturlage überwiegend<br />

an einer Prognose des zukünftig benötigten Beschäftigungspotenzials, während<br />

sich der Umfang der Nachfrage nach beruflicher Qualifizierung als Ergebnis<br />

von demographischer Entwicklung und Bildungsverhalten der Schulabgänger<br />

einstellt“ (Kath 1999, 100; vgl. auch Weil/Lauterbach 2009, 327).<br />

134


Diese Widersprüche bleiben solange latent, wie Ausbildungsstellenangebot<br />

und Ausbildungsnachfrage in einem ausgeglichenen Verhältnis stehen, so dass<br />

Reflexionen über eine Umlagefinanzierung in der Büchse der Pandora verschlossen<br />

bleiben können. Virulent werden sie erst in Zeiten eines Nachfrageüberhangs,<br />

sei dieser durch die demografische Entwicklung und/oder durch wirtschaftskonjunkturelle<br />

Krisen ausgelöst. In diesem Fall droht die Legitimation des<br />

letztlich widersprüchlichen Institutionengefüges, über das der Zugang in Berufsausbildung<br />

erfolgt, beschädigt zu werden (Baethge 2008, 582 ff.), und damit<br />

drohen auch jene Organisationen in die Kritik zu geraten, die diese Institutionen<br />

in ihrer aktuellen Form vertreten und belassen wollen (Meyer/Rowan 2009, 43<br />

f.).<br />

Eine solche Legitimationskrise der bestehenden Zugangsregelungen in Berufsausbildung<br />

ist in Deutschland allerdings durch zwei entscheidende Merkmale<br />

geprägt:<br />

Auf der einen Seite führt sie innerhalb des korporatistischen Systems nur<br />

bedingt zu einer Interessenkollision von Staat und Wirtschaft: Der Staat ist<br />

zwar allein schon aus Kostengründen daran interessiert, über das duale Berufsbildungssystem<br />

möglichst viele Jugendliche eines Jahrgangs qualifizieren<br />

zu lassen, doch scheut er andererseits davor zurück, Zwangsmaßnahmen<br />

zu vollstrecken, die auf den Widerstand der Wirtschaft stoßen und somit die<br />

grundsätzliche Akzeptanz des Systems gefährden könnten. Denn die damit<br />

verbundenen langfristigen Kosten könnten deutlich höher ausfallen als der<br />

kurzfristige Nutzen einer umlagefinanzierten Befriedigung der Ausbildungsplatznachfrage.<br />

Auf der anderen Seite ist die Legitimationskrise stets durch ihren temporären<br />

Charakter gekennzeichnet: Die konjunkturellen und demografischen<br />

Verhältnisse sind nicht stabil, und ihre Dynamik lässt somit auch in Krisenzeiten<br />

stets Raum für die Aussicht auf ein erneutes Gleichgewicht von Angebot<br />

und Nachfrage. Dies nährt die Hoffnung, Krisenzeiten überbrücken<br />

zu können, ohne größere, kostenintensive institutionelle Änderungen vornehmen<br />

zu müssen.<br />

Entsprechende Überbrückungsmaßnahmen werden dabei umso wahrscheinlicher<br />

der Öffentlichkeit zu vermitteln sein, je weniger bedeutsam die Krise erscheint<br />

und je stärker die Ungleichgewichte auf dem Ausbildungsmarkt mit Ursachen in<br />

Verbindung gebracht werden können, die nicht unmittelbar den Institutionen<br />

selbst angelastet werden können. Über die „Definition der Situation“ (wie ist die<br />

Lage auf dem Ausbildungsmarkt einzuschätzen?) bestimmt sich somit letztlich<br />

auch die Legitimation der Institutionen. Aus diesem Grunde besteht bei den an<br />

135


der Gestaltung der beruflichen Ausbildung beteiligten Organisationen ein großes<br />

Interesse, für legitimationserhaltende Situationsdefinitionen und Deutungen zum<br />

Geschehen auf dem Ausbildungsstellenmarkt zu werben und diesen Deutungen<br />

in der Öffentlichkeit eine hohe Akzeptanz zu verschaffen. Dies gelingt wiederum<br />

umso eher, je plausibler und gerechter die Verhältnisse im Lichte der Situationsdefinitionen<br />

und Deutungen erscheinen (Esser 2000, 97 ff.).<br />

Dabei stellen allerdings jene Jugendlichen eine besondere Herausforderung<br />

dar, die bei der Ausbildungsplatzsuche erfolglos bleiben. Legitimierende, die<br />

bestehenden Institutionen nicht gefährdende Situationsbeschreibungen und Deutungen<br />

sind in diesem Fall nur dann möglich, wenn deren Bewerbungsmisserfolg<br />

vor allem auf personenbezogene Ursachen (z.B. mangelnde Ausbildungsreife der<br />

Bewerber) anstatt auf institutionelle Mängel (z.B. fehlendes Angebot) zurückgeführt<br />

werden kann und wenn der quantitative Umfang der tatsächlich ausbildungsreifen,<br />

aber erfolglosen Bewerber relativ marginal erscheint. Tatsächlich<br />

wurde vom Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in<br />

Deutschland stets an der These festgehalten, jedem ausbildungswilligen und<br />

ausbildungsfähigen Jugendlichen ein Angebot auf Ausbildung zu unterbreiten,<br />

und zugleich wurden stets massive Zweifel an der Ausbildungsfähigkeit der<br />

Schulabgänger geäußert. 17 Deshalb schien es in den vergangenen Jahren auch<br />

nicht erforderlich zu sein, für die zahlreichen erfolglosen Ausbildungsstellenbewerber<br />

im entsprechenden Umfang vollqualifizierende Ersatzangebote in außerbetrieblicher<br />

oder schulischer Form bereitzustellen, und damit erübrigte sich<br />

auch eine Debatte darüber, wie und durch wen dieses kompensatorische Angebot<br />

zu finanzieren sei (Bosch 2008, 242).<br />

Damit erweist sich die bildungsbiografische Situation für diejenigen Jugendlichen<br />

allerdings als besonders schwierig, denen der Zutritt in einer Berufsausbildung<br />

nicht gelingt. Zum einen müssen sie sich mit in der Öffentlichkeit<br />

kursierenden „Identitätszumutungen“ (Gildemeister/Robert 1987, 73) auseinandersetzen,<br />

die Zweifel an ihrer Qualifikation und Motivation aufkommen lassen<br />

(Eberhard/Krewerth/Ulrich 2005; vgl. auch Hupka-Brunner u.a. 2009). Und auf<br />

der anderen Seite gibt es keine bundesweit einheitlichen, eindeutigen und verlässlichen<br />

Regeln, wie mit erfolglosen Ausbildungsstellenbewerbern zu verfahren<br />

ist – obwohl angesichts der Konjunkturanfälligkeit des dualen Systems und<br />

der bisherigen demografischen Entwicklung damit gerechnet werden musste,<br />

dass größere Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage auftreten. Die<br />

diffusen Verhältnisse im Umgang mit erfolglosen Ausbildungsbewerbern an der<br />

17 Mitglieder des Ausbildungspaktes sind neben den drei für berufliche Bildung zuständigen Bundesministerien<br />

(Wirtschaft, <strong>Arbeit</strong> und Soziales, Bildung) der Deutsche Industrie- und Handelskammertag,<br />

der Bundesverband der Deutschen Industrie, der Zentralverband des Deutschen Handwerks,<br />

die Bundesvereinigung der Deutschen <strong>Arbeit</strong>geberverbände und die Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong>.<br />

136


genannten „Ersten Schwelle“ führten in den vergangenen Jahren vielmehr dazu,<br />

dass vielen Ausbildungsplatzbewerbern der Eintritt in eine vollqualifizierende<br />

Berufsausbildung verwehrt blieb und sie auf teilqualifizierende Bildungsgänge<br />

des Übergangssystems ausweichen mussten (Bosch 2008, 243). Dies gilt insbesondere<br />

für Westdeutschland.<br />

2 Aktuelle Deutungen zum Übergangsgeschehen, welche die bestehenden<br />

Institutionen legitimieren<br />

Deutungen zum Übergangsgeschehen sind stets von hoher (interessens-)politischer<br />

Relevanz, da sie die Grundlage für bildungspolitische Problemlösungsstrategien<br />

bilden. 18 Deshalb wird die Ausbildungsmarkt- und Übergangsforschung<br />

stets auch unabhängig von ihren eigenen <strong>Arbeit</strong>sergebnissen mit Deutungen<br />

Dritter zu den Entwicklungen auf dem Ausbildungsmarkt und zum Übergangsgeschehen<br />

konfrontiert (Ulrich 2004b). Viele dieser Erklärungsversuche zielen<br />

auf eine Individualisierung der Ursachen von Ausbildungslosigkeit hin (unzureichende<br />

Eignung der Jugendlichen, fehlender Ausbildungswille). Sie tragen somit<br />

dazu bei, die bestehenden Institutionen zu legitimieren (vgl. auch Solga 2005a,<br />

28 f.). Die Forschung kann diese Deutungen jedoch, was die Entwicklung in den<br />

vergangenen Jahren betrifft, nicht oder nur zum Teil bestätigen. Denn selbst<br />

wenn die Markt- und Übergangsanalysen auf „ausbildungsreife“ Ausbildungsbewerber<br />

beschränkt werden, fielen die Eintrittschancen in eine Berufsausbildung<br />

in den vergangenen Jahren relativ gering aus. Zugleich ließen sich sowohl<br />

im zeitlichen Längs- als auch im regionalen Querschnitt starke Angebotseffekte<br />

auf die Wahrscheinlichkeit identifizieren, ob Jugendliche eine vollqualifizierende<br />

Berufsausbildung aufnahmen oder nicht (Ulrich/Eberhard 2008).<br />

In den bislang geübten Deutungsmustern zu den Ursachen der Ausbildungslosigkeit<br />

spiegeln sich somit beträchtliche, institutionell bedingte Benachteiligungen<br />

von Jugendlichen wider, die eine Berufsausbildung unterhalb der akademischen<br />

Ebene anstreben. Wir wollen dies im Folgenden an zwei Beispielen<br />

nachzeichnen: zum einen am Argument der fehlenden „Ausbildungsreife“, das<br />

auf die mangelnde Qualifikation der Ausbildungsstellenbewerber zielt, und zum<br />

anderen am Argument der beschränkten Ausbildungsplatznachfrage, welches das<br />

Interesse und die Motivation der Jugendlichen an einer vollqualifizierenden<br />

Berufsausbildung in Zweifel zieht. Anschließend wollen wir anhand einer Grup-<br />

18 Wir definieren „Deutungen“ als subjektive Hypothesen/Theorien darüber, welche Ursachen beobachteten<br />

Phänomenen zugrundeliegen. Deutungen finden für die Vorhersage künftiger Geschehnisse<br />

und somit auch für die Entwicklung von Problemlösungsstrategien Verwendung. Aus diesem Grunde<br />

sind sie stets auch von (interessens)-politischer Relevanz.<br />

137


pe von Ausbildungsstellenbewerbern, denen von offizieller Seite die Befähigung<br />

zur Aufnahme einer Ausbildung und damit eine ausreichende Ausbildungsreife<br />

attestiert wurde, analysieren, wie hoch die Chancen dieser Jugendlichen auf eine<br />

vollqualifizierende Berufsausbildungsstelle im Jahr 2008 tatsächlich waren, von<br />

welchen Determinanten ihre Ausbildungschancen abhingen und wie groß letztlich<br />

die Widersprüche zwischen ihrer bildungsbiografischen Situation und den<br />

institutionellen Interpretationen ausfielen.<br />

2.1 Erstes Beispiel: Das Argument der „fehlenden Ausbildungsreife“<br />

und seine Funktion für die Rechtfertigung des Selektionsprozesses<br />

beim Übergang in Berufsausbildung<br />

Am 26. April 2007 erschien in der Bild-Zeitung ein Artikel, der mit der Überschrift<br />

„Ein Handwerksmeister klagt in BILD: So doof sind unsere Schulabgänger“<br />

tituliert wurde. Berichtet wurde von den Erfahrungen eines Betriebsinhabers,<br />

der seine Ausbildungsstellenbewerber einem Einstellungstest unterzogen<br />

<strong>hat</strong>te. Darin wurden die Bewerber u.a. mit einer Dreisatz-Rechenaufgabe konfrontiert.<br />

Sie lautete: „Acht <strong>Arbeit</strong>er vollenden eine <strong>Arbeit</strong> in zwölf <strong>Arbeit</strong>stagen.<br />

Wie lange brauchen fünf <strong>Arbeit</strong>er?“. Wie aus dem Bericht weiter hervorging,<br />

waren die meisten Bewerber offenbar nicht in der Lage, diese Aufgabe zu lösen.<br />

Der Artikel ist typisch für eine Vielzahl von weiteren Presseberichten, die<br />

sich mit der Eignung der Schulabgänger auseinandersetzten (Eberhard 2006, 5).<br />

Die Argumentation ist dabei in der Regel wie folgt aufgebaut:<br />

Prämisse 1: Die Beherrschung der Dreisatzrechnung (oder ähnlicher Fertigkeiten)<br />

stellt eine Mindestvoraussetzung dar, ohne die ein Zugang in Berufsausbildung<br />

nicht erfolgen kann.<br />

Prämisse 2: Ein großer Anteil der heutigen Ausbildungsstellenbewerber ist<br />

nicht in der Lage, den Dreisatz (bzw. ähnliche Fertigkeiten) zu beherrschen.<br />

Schlussfolgerung: Also kann diesen Jugendlichen der Zugang in eine duale<br />

Berufsausbildung nicht gewährt werden.<br />

Tatsächlich scheint die inhaltliche und logische Validität dieses Arguments so<br />

hoch zu sein, dass es in der Öffentlichkeit kaum in Frage gestellt wird:<br />

Hinweise, die das Argument stützen:<br />

So wird Prämisse 1 zum Beispiel durch den Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife<br />

gestützt, der vom Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs<br />

in Deutschland (2006) publiziert wurde. Darin wurden jene Qualifikationen defi-<br />

138


niert, welche die unverzichtbaren Kriterien der allgemeinen, für alle dualen Ausbildungsgänge<br />

relevanten Ausbildungsreife bilden. 19 Zu den schulischen Basiskenntnissen<br />

zählen demnach unter anderem „Mathematische Grundkenntnisse“<br />

(ebd., 28f.) und hierunter wiederum die Fähigkeit, „Dreisatzrechnung“ zu beherrschen.<br />

Die Tatsache, dass dem Ausbildungspakt mit Ausnahme der Gewerkschaften<br />

alle gewichtigen Organisationen angehören, die für die Durchführung<br />

und für die Gestaltung der Berufsausbildung verantwortlich zeichnen, scheint<br />

dabei die Forderung nach der Beherrschung rechnerischer Grundkenntnisse<br />

ebenso zu legitimieren wie die Feststellung, dass die im Kriterienkatalog definierten<br />

Anforderungen lediglich als Mindeststandards definiert wurden und insgesamt<br />

deutlich unter den Anforderungen eines Hauptschulabschlusses liegen.<br />

Prämisse 2 wird nicht nur durch die Erfahrungen gestützt, die Betriebe im<br />

Rahmen von Einstellungstests machen (z.B. Klein 2007, Lehner/Neumann/Rolff<br />

2009), sondern auch durch repräsentative Untersuchungen. Spätestens seit der<br />

ersten PISA-Untersuchung ist es unstrittig, dass viele Schulabgänger die Mindeststandards<br />

in den Kulturtechniken (Lesen, Rechnen, Schreiben) nicht beherrschen<br />

(Deutsches PISA-Konsortium 2001).<br />

Dementsprechend scheint auch die Schlussfolgerung richtig und zwingend<br />

zu sein, Schulabgänger ohne Ausbildungsplatz zunächst auf einen teilqualifizierenden<br />

Bildungsgang des so genannten „Übergangssystems“ zu verweisen<br />

(Beicht 2009, Münk/Rützel/Schmidt 2008).<br />

Hinweise, die das Argument in Frage stellen:<br />

Gleichwohl gibt es bislang keinen Beleg dafür, dass Ausbildungsstellenbewerber,<br />

die in Testsituationen den Dreisatz nicht beherrschen, in einer Berufsausbildung<br />

mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern und deshalb vom Zugang in eine<br />

vollqualifizierende Berufsausbildung ausgeschlossen werden müssen (vgl. auch<br />

Dietrich u.a. 2009, 332). Zudem werden bei Abiturienten zum Teil ähnliche<br />

Rechendefizite beobachtet und öffentlich diskutiert, ohne dass dies jedoch ihre<br />

Zugangschancen in eine vollqualifizierende hochschulische Berufsausbildung<br />

substanziell mindert. So erschien z.B. am 11. Oktober 2009 in der „Welt am<br />

Sonntag“ unter dem Titel „Das Leid mit den Zahlen“ ein Artikel, in dem beklagt<br />

wurde, dass Abiturienten unter massiven Defiziten bei der Beherrschung grundlegender<br />

mathematischer Techniken leiden (hierzu zählen z.B. einfache geometrische<br />

Aufgaben, Potenz- und Bruchrechnen). Hochschulprofessoren machen<br />

demnach ähnliche Erfahrungen wie Ausbildungsbetriebe (vgl. Lehn 2009).<br />

19 Analytisch unterschieden wurden schulische Basiskenntnisse, psychologischen Leistungsmerkmale,<br />

physische Merkmale, psychologische Merkmale des <strong>Arbeit</strong>sverhaltens und der Persönlichkeit<br />

sowie Aspekte der Berufswahlreife.<br />

139


140<br />

Selbst mit der Dreisatzrechnung scheinen sich viele Studierende schwer zu tun, wie<br />

die Autoren dieses Beitrages im Rahmen einer eigenen kleinen Fallstudie feststellen<br />

mussten. Wir baten Studierende, die in der Bild-Zeitung genannte Dreisatzaufgabe<br />

für Ausbildungsstellenbewerber zu lösen („Acht <strong>Arbeit</strong>er vollenden eine <strong>Arbeit</strong> in<br />

zwölf <strong>Arbeit</strong>stagen. Wie lange brauchen fünf <strong>Arbeit</strong>er?“), und räumten ihnen hierfür<br />

jeweils drei Minuten Zeit ein. Geplant war ursprünglich, mindestens 30 Probanden<br />

einzeln zu befragen, und anschließend die Varianz richtiger und falscher Lösungen<br />

mit weiteren Merkmalen (Abiturnote, Studienfach, Geschlecht) in Verbindung zu<br />

bringen. Allerdings musste das Vorhaben bereits nach der Befragung von 18 Personen<br />

abgebrochen werden. Denn es gab bis dahin keine korrelationsstatistisch verwertbare<br />

Lösungsvarianz, da keinem der 18 Probanden gelungen war, die richtige<br />

Lösung (19,2 Tage = 8 x 12/5) zu benennen. Immerhin 13 Probanden <strong>hat</strong>ten einen<br />

Abiturnotendurchschnitt von unter 2,0 erreicht, acht sogar einen Schnitt von unter<br />

1,5. Gleichwohl bezeichneten acht Studierende die Aufgabe als schwierig oder sehr<br />

schwierig; weitere sieben gingen von einem zumindest mittleren Schwierigkeitsgrad<br />

aus. Zu den von den Probanden gewählten Fächern zählten unter anderem Psychologie,<br />

Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.<br />

Auch wenn es sich bei der von uns befragten Gruppe lediglich um eine „Auswahl<br />

‚aufs Geratewohl‘“ (Hellmund/Klitzsch/Schumann 1992) handelte, stellt<br />

sich doch die Frage, warum Hauptschüler, welche den Dreisatz nicht beherrschen,<br />

auf das „Übergangssystem“ verwiesen werden, während Abiturienten mit<br />

ähnlichen Rechendefiziten offenbar kaum Probleme beim Zugang in eine hochschulische<br />

Berufsausbildung haben (und in ihrem jeweiligen Studium, so schien<br />

es uns, durchaus erfolgreich waren).<br />

Die Antwort ist in einer institutionellen Privilegierung der Abiturienten<br />

beim Zugang in Berufsausbildung zu suchen. Mit dem Abiturzeugnis wird ihnen<br />

einerseits die Hochschulreife per Deklaration und andererseits das Recht auf<br />

einen Hochschulzugang zugeteilt. Eine solche institutionelle Setzung kommt<br />

faktisch einer staatlichen Ausbildungsplatzgarantie gleich, sofern sich die Abiturienten<br />

bei der Fächer- und Studienortwahl flexibel zeigen (vgl. Übersicht 1).<br />

Dagegen werden die Übergangsbedingungen für Nichtstudienberechtigte<br />

durch den Marktcharakter des dualen Ausbildungssystems geprägt. Deshalb ist<br />

das Hauptschul- oder Realschulabschlusszeugnis faktisch auch kein „Ausbildungsreife-Zeugnis“<br />

(so wie das Abitur als Zeugnis der Hochschulreife gilt),<br />

obwohl es in einigen Regionen zumindest als „Berufsschulreife“-Zertifikat bezeichnet<br />

wird. Vielmehr müssen die Jugendlichen ihre Ausbildungsreife für eine<br />

betriebliche Berufsausbildung noch einmal gesondert nachweisen, wenn sie sich<br />

bei der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> als Ausbildungsstellenbewerber registrieren<br />

lassen und deren beraterische und vermittelnde Unterstützung in Anspruch nehmen<br />

wollen. Bescheinigt ihnen aber nun die Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> die „Aus-


ildungsreife“ und verleiht ihnen den offiziellen Status eines Ausbildungsstellenbewerbers,<br />

wird damit nicht der Anspruch auf eine vollqualifizierende Berufsausbildung<br />

zugewiesen. Vielmehr müssen sie sich nun auf dem Ausbildungsmarkt<br />

bewähren. Und bleiben sie bei ihren Bewerbungen erfolglos, haben<br />

sie keine Garantie auf ein vollqualifizierendes Ersatzangebot.<br />

Abbildung 1: Regelung der Zugänge in die hochschulische und in die nichtakademische<br />

Berufsausbildung<br />

Abiturienten,<br />

Absolventen<br />

von Fachoberschulen<br />

(FOS),<br />

höheren<br />

Handelsschulen <br />

Nichtstudienberechtigte<br />

Absolventen<br />

(Real- und<br />

Hauptschulabsolventen)<br />

Quelle: eigene Grafik<br />

Abiturzeugnis,<br />

FOS-Zeugnis<br />

Haupt-/<br />

Realschulzeugnis<br />

(Fach-)<br />

Hochschulreife<br />

ja<br />

„Ausbildungsreife?“<br />

nein<br />

(Fach)-<br />

Hochschulzugangsberechtigung<br />

Anerkennung<br />

als „Ausbildungsstellenbewerber“<br />

Verweis<br />

auf das<br />

„Übergangssystem“ <br />

erfolgreich<br />

Verweis auf<br />

den Ausbildungsmarkt<br />

nicht<br />

erfolgreich<br />

Faktische<br />

Ausbildungsgarantie <br />

Ausbildungsbeginn<br />

In diesem Sinne zeichnen sich beträchtliche institutionell bedingte Ungleichheiten<br />

beim Zugang in eine vollqualifizierende Berufsausbildung zwischen Jugendlichen<br />

mit und ohne Studienberechtigung ab.<br />

Die Fragwürdigkeit der Zugangsregelungen wird noch einmal durch die<br />

Tatsache unterstrichen, dass die anspruchsvollste Aufgabe beim Zugang in Berufsausbildung<br />

ausgerechnet an diejenigen Jugendlichen gerichtet wird, die dafür<br />

die ungünstigsten individuellen und sozialen Voraussetzungen mitbringen: Sich<br />

möglicherweise über mehrere Jahre auf einem Ausbildungsstellenmarkt zu be-<br />

?<br />

141


wegen, der nur relativ geringe Erfolgsaussichten bietet und deshalb ein hohes<br />

Maß an individuellem Beharrungsvermögen, Frustrationstoleranz und Flexibilität<br />

(bis hin zum Verzicht auf den Wunschberuf und dem Wegzug aus der Heimatregion)<br />

erfordert: eine solche Aufgabe wird insbesondere Hauptschulabsolventen<br />

mit nur mittelmäßigen Schulleistungen abverlangt, die mit 16 Jahren noch minderjährig<br />

sind und oft aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammen<br />

(Krekel/Ulrich 2009, 27). Die ungleich einfachere Aufgabe (bei faktischer Erfolgsgarantie),<br />

über das Internet und den Postweg die bürokratischen Formalitäten<br />

zur Platzierung am gewünschten Ausbildungsort und in der gewünschten<br />

Disziplin abzuwickeln, geht dagegen an die leistungsstarken Abiturienten, die<br />

bei dieser „Suche“ nach einem (hochschulischen) Berufsausbildungsplatz zudem<br />

bereits längst volljährig sind und überdurchschnittlich oft aus privilegierten sozialen<br />

Verhältnissen stammen.<br />

Angesichts der demotivierenden Wirkungen, die langwierige Suchzeiten auf<br />

die individuelle Stabilität des Ausbildungswunsches haben (Bosch 2008, 243;<br />

Krekel/Ulrich 2009), sind solche institutionell bedingten Benachteiligungen der<br />

„ohnehin Benachteiligten“ (Hauptschulabsolventen aus wenig privilegierten<br />

Verhältnissen und mit nur mittelmäßigen schulischen Leistungen) als dysfunktional<br />

in Hinblick auf das bildungspolitische Ziel zu werten, den Anteil der jungen<br />

Erwachsenen ohne Berufsabschluss zu senken (vgl. auch Solga 2005b).<br />

Gleichwohl bleiben die Zugangsregelungen weitgehend unhinterfragt und sind<br />

damit ein gutes Beispiel dafür, wie Institutionen auch durch Tradition Legitimation<br />

erfahren. Sie erscheinen so selbstverständlich, dass ihre innere Logik und<br />

Alternativen nicht mehr reflektiert werden (Esser 2000).<br />

Zudem setzt sich die institutionelle Benachteiligung erfolgloser Ausbildungsbewerber<br />

insofern fort, als deren Ausbildungsnachfrage in der offiziellen<br />

Ausbildungsmarktbilanzierung zu großen Teilen nicht abgebildet wird und somit<br />

auch kein unmittelbarer Handlungsbedarf sichtbar ist, für vollqualifizierende<br />

Ersatzangebote zu sorgen. Damit wenden wir uns dem zweiten Beispiel zu.<br />

2.2 Zweites Beispiel: Das Argument der „eingeschränkten Ausbildungsnachfrage“<br />

und seine Auswirkungen auf die Bereitstellung von vollqualifizierenden<br />

Ausbildungsplatzangeboten<br />

Nach § 86 des Berufsbildungsgesetzes (BBIG) soll der Berufsbildungsbericht im<br />

Rahmen seiner Ausbildungsmarktbilanzierung für das vorangegangene Jahr<br />

Angaben enthalten über<br />

142


„die Zahl der am 30. September (…) nicht besetzten, der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong><br />

zur Vermittlung angebotenen Ausbildungsplätze und die Zahl der zu diesem Zeitpunkt<br />

bei der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> gemeldeten Ausbildungsplätze suchenden<br />

Personen“ (Lakies/Nehls 2007).<br />

Durch die jeweilige Addition dieser beiden Größen mit der Zahl der bis zum 30.<br />

September neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge, die das Bundesinstitut für<br />

Berufsbildung jährlich erhebt, ergeben sich die beiden Bilanzierungsgrößen<br />

„Ausbildungsplatzangebot“ und „Ausbildungsplatznachfrage“.<br />

Während die Zahl der am 30. September nicht besetzten, der Bundesagentur<br />

für <strong>Arbeit</strong> zur Vermittlung angebotenen Ausbildungsplätze in der Ausbildungsmarktstatistik<br />

der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> als „erfolgloses Ausbildungsplatzangebot“<br />

leicht zu identifizieren ist, wirft die Identifikation „der zu diesem Zeitpunkt<br />

bei der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> gemeldeten Ausbildungsplätze suchenden<br />

Personen“ Fragen auf. Die Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> (2008) unterscheidet<br />

vier Vermittlungsformen (vgl. Abbildung 2):<br />

a. Unter „einmündende Bewerber“ werden Personen subsummiert, die eine<br />

Berufsausbildungsstelle antreten.<br />

b. „Andere ehemalige Bewerber“ umfassen Personen, die nicht in eine Berufsausbildungsstelle<br />

einmündeten, sondern etwas anderes begannen oder unbekannt<br />

verblieben und deren Vermittlungsauftrag zum 30. September nicht<br />

mehr bestand.<br />

c. Bei den „Bewerber mit bekannter Alternative zum 30.9.“ handelt es sich um<br />

Personen, die zwar in Alternativen (z.B. berufsvorbereitende Maßnahmen,<br />

Jobben, Praktikum) einmündeten, für die die Vermittlungsbemühungen aber<br />

auf deren Wunsch hin weiter laufen.<br />

d. „Unversorgte/unvermittelte Bewerber“ sind schließlich jene Personen, für<br />

die die Vermittlungsbemühungen ebenfalls weiterlaufen, ohne dass eine Alternative<br />

zum 30. September bekannt ist.<br />

Da der Gesetzestext von den zum 30. September „Ausbildungsplätze suchenden<br />

Personen“ und dabei die aktuelle Verbleibsform unberücksichtigt lässt, müssten<br />

die beiden unter c) und d) genannten Bewerbergruppen zu den erfolglosen Ausbildungsplatzbewerbern<br />

gerechnet werden. Die langjährige Praxis der Berufsbildungsberichterstattung<br />

und die weiterhin geübte Praxis der Ausbildungsmarktbilanzierung<br />

im Rahmen des Nationalen Paktes für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs<br />

in Deutschland wich bzw. weicht davon jedoch ab:<br />

143


Als erfolglose, unversorgte Ausbildungsstellenbewerber werden nur die unter<br />

d) subsumierten Personen betrachtet, während die unter c) genannten Personen<br />

als „versorgt“ gelten, obwohl die Vermittlungsbemühungen unverändert<br />

weiter laufen. 2008 zählten zur zuletzt genannten Gruppe c) 81.246 und damit<br />

rund fünfeinhalb mal mehr Personen, als in der Gruppe d) der 14.479 offiziell<br />

Unversorgten zu finden waren (Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> 2008). Da nun die Zahl<br />

der „Unversorgten“ so niedrig ausfiel, entstand der Eindruck, „als sei es für junge<br />

Menschen mit Ausbildungswunsch kein großes Problem mehr, eine Lehrstelle<br />

zu finden“ (Ebner 2009). Der Begriff des „Versorgt-Seins“ eines Ausbildungsstellenbewerbers<br />

schließt also auch alternative Verbleibe außerhalb einer vollqualifizierenden<br />

Berufsausbildung ein und dies selbst in jenen Fällen, in denen<br />

sich die alternativ verbliebenen Ausbildungsstellenbewerber in Hinblick auf<br />

ihren Wunsch nach einer vollqualifizierenden Berufsausbildung offenbar nicht<br />

als „versorgt“ sehen, sondern auch noch am 30. September in eine vollqualifizierende<br />

Berufsausbildung einmünden möchten.<br />

144


Abbildung 2: Größen der Ausbildungsmarktbilanzierung zum Stichtag<br />

30. September (mit Angaben zu den Ergebnissen im Jahr 2008)<br />

4<br />

Ausbildungsplatzangebot<br />

3<br />

2 1<br />

1 2 3 4 5 6<br />

Bilanzierung<br />

bei der BA gemeldete<br />

Ausbildungsstellen<br />

Bilanzierungsgrößen der früheren Berufsbildungsberichterstattung<br />

und Ausbildungspaktes<br />

Legende:<br />

Angebotsseite 2008 Nachfragerseite 2008<br />

1,2,3 = Offizielles Ausbildungs- 635.766 1,2,3 = Offizielle Ausbildungsplatz- 630.738<br />

platzangebotnachfrage<br />

1,2 = Erfolgreich besetztes Aus- 616.259 1,2 = Erfolgreiche Ausbildungsplatz- 616.259<br />

bildungsplatzangebotnachfrage<br />

1 = Besetzte Ausbildungsplätze, 124.184 1 = Erfolgreiche Ausbildungsplatz- 334.129<br />

die der BA nicht bekannt<br />

nachfrager, die der BA nicht be-<br />

waren (rechnerische Zahl)<br />

kannt waren (rechnerische Zahl)<br />

2,3 = Bei der BA gemeldete Aus- 511.582 2,3,4,5 = Bei der BA gemeldete Ausbil- 620.209<br />

bildungsstellendungsstellenbewerber<br />

2 = Mit Mitwirkung der BA 492.075 2 = Mit Mitwirkung der BA erfolg- 282.130<br />

erfolgreich besetzte Plätze<br />

reiche Ausbildungsnachfrager<br />

(rechnerische Zahl)<br />

(rechnerische Zahl)<br />

3 = Offiziell unbesetztes betrieb- 19.507 3 = Offiziell erfolglose Ausbil- 14.479<br />

liches Ausbildungsangebot<br />

dungsplatznachfrager(„unversorgte Bewerber“)<br />

4 = Weiter suchende Bewerber mit<br />

Alternative zum 30.09.<br />

81.846<br />

5 = Andere ehemalige Bewerber<br />

(mit Alternative oder unbekannt<br />

verblieben)<br />

241.754<br />

4 = Erfolglose Ausbildungsplatz- bis zu 6 = Erfolglose Ausbildungsinteres- rund<br />

angebote, die nicht bei der 42.400 sierte, die nicht bei der BA 80.000<br />

BA gemeldet waren<br />

gemeldet waren<br />

Die Größenverhältnisse der Balken entsprechen den tatsächlichen Relationen. Die Angaben zu den<br />

Posten 4 (links) und 6 (rechts) basieren auf Schätzungen von BIBB-Untersuchungen.<br />

Quelle: Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong>, Bundesinstitut für Berufsbildung<br />

Ausbildungsplatznachfrage<br />

Bei der BA gemeldete<br />

Ausbildungsstellenbewerber<br />

145


Der institutionelle Umgang mit den Wünschen der erfolglosen Ausbildungsstellenbewerber<br />

nach einer vollqualifizierenden Berufsausbildung wirkt somit eher<br />

defensiv als offensiv; und ein solcher Umgang wird selbst dann praktiziert, wenn<br />

es sich um Bewerber handelt, „deren Eignungen dafür geklärt ist bzw. deren<br />

Voraussetzungen dafür gegeben sind“ (Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> 2008, 5). Die<br />

defensive Haltung spiegelt sich dabei allerdings nicht nur in der restriktiven<br />

Berechnung wider, wer am 30. September zu den „unversorgten Bewerbern“ zu<br />

zählen ist, sondern auch in der Festlegung des Bilanzierungsstichtages selbst.<br />

Am 30. September sind bereits mehrere Wochen seit dem Beginn des neuen<br />

Ausbildungsjahres vergangen; zu diesem Zeitpunkt dürften viele erfolglose Bewerber<br />

resigniert und ihren Ausbildungswunsch auf das nächste Jahr verschoben<br />

haben. Dieses Problem wurde bereits in den 70er-Jahren zu Beginn der Berufsbildungsberichterstattung<br />

offen erörtert:<br />

146<br />

„... ergibt sich eine Nachfragegröße, die gemessen an den eigentlichen Ausbildungswünschen<br />

der Betroffenen eher zu niedrig – da unter den Ausbildungsplatzsuchenden<br />

bei den <strong>Arbeit</strong>sämtern diejenigen nicht mehr enthalten sind, die ihren Ausbildungswunsch<br />

wegen mangelnden Angebots schon aufgegeben haben – als zu<br />

hoch ist“ (Bundesminister für Bildung und Wissenschaft 1977, 24).<br />

Deshalb lässt sich eine weitgehend ausreichende „Versorgung“ ausbildungsreifer<br />

Ausbildungsbewerber rechnerisch auch dann sicherstellen, wenn das vollqualifizierende<br />

Ausbildungsangebot weit unter der Zahl der ausbildungsinteressierten<br />

Schulabgänger liegt. Voraussetzung hierfür ist lediglich, dass die Bilanzierung<br />

spät, also ein bis zwei Monate nach Beginn des neuen Ausbildungsjahres, erfolgt<br />

und dass erfolglose Ausbildungsbewerber bis dahin in teilqualifizierende Maßnahmen<br />

oder sonstige Alternativen (z.B. Jobben, Praktika) einmündeten.<br />

So stellte der „Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland“<br />

selbst im Jahr 2005 eine „leichte Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt<br />

fest“, da mehr Bewerber in berufsvorbereitenden Maßnahmen und sonstigen Alternativen<br />

eingemündet waren und die Zahl der „Unversorgten“ auf diese Weise gegenüber<br />

dem Vorjahr verringert werden konnte (Ulrich 2006). 2005 war das Jahr, in<br />

dem die Zahl der Ausbildungsplatzangebote im dualen System mit einem Umfang<br />

von nur noch 562.816 auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung sank;<br />

gegenüber 1992 betrug der Rückgang 159.009 Plätze (vgl. Spalte 4 in Tabelle 1).<br />

Die Zahl der Einmündungen in das Duale System lag um 19.940 niedriger als 1992<br />

(Sp. 5). Dabei fiel die Zahl der nichtstudienberechtigten Abgänger und Absolventen<br />

aus allgemeinbildenden Schulen um 125.382 höher aus (Sp. 2), die der Abgänger<br />

aus teilqualifizierenden beruflichen Schulen um 146.015 (Sp. 3). Beide Gruppen,<br />

welche die Hauptklientel der dualen Berufsausbildung bilden, summierten sich 2005<br />

auf einen Gesamtumfang von 1.007.229 Personen (1992: 735.108).


Tabelle 1: Statistische Entwicklungen im Bereich der beruflichen Bildung von 1992 – 2009<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong>, Bundesinstitut für Berufsbildung<br />

147


148<br />

Trotz der beträchtlichen Lücke zwischen Angebot und Nachfrage betrug die offizielle<br />

Differenz zwischen der Zahl der Ausbildungsplatzangebote (Sp. 4) und Ausbildungsplatznachfrage<br />

(Sp. 8) nur 27.852; denn lediglich 40.115 Personen galten letztlich<br />

als unversorgt.<br />

Von den 740.688 bei der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> gemeldeten und geeignet befundenen<br />

Ausbildungsstellenbewerbern (Sp. 9) waren allerdings nur 360.383 bzw.<br />

48,7 % in eine Berufsausbildungsstelle eingemündet (Sp. 10); der Anteil alternativ<br />

verbliebener Bewerber (Sp. 11 und Sp. 12) bezifferte sich auf insgesamt 340.190<br />

bzw. 45,9 %. Insgesamt begannen 2005 mehr als eine halbe Millionen Personen<br />

teilqualifizierende Bildungsgänge des Übergangssystems (Sp. 7), mit 516.988 <strong>hat</strong>te<br />

sich die Zahl gegenüber dem Wert von 1992 (249.133) mehr als verdoppelt. Zwar<br />

wurden auch mehr Eintritte in vollqualifizierende schulische Berufsausbildungen<br />

gezählt (+83.157; vgl. Sp. 6), doch reichte dieser Zuwachs bei Weitem nicht aus, um<br />

den Bedarf an vollqualifizierenden Berufsausbildungsplätzen zu decken.<br />

Die Funktion des „Übergangssystems“ bestand insofern in den letzten Jahren<br />

insbesondere darin, die Ausbildungsplatznachfrage, die durch das duale Berufsausbildungssystem<br />

nicht befriedigt werden konnte, umzulenken und damit den<br />

Legimitationsdruck auf das duale Berufsausbildungssystem, von dem grundsätzlich<br />

eine ausreichende Versorgung der ausbildungsinteressierten Schulabgänger<br />

erwartet wird, zu lindern (Beicht 2009, Bosch 2008, Krekel/Ulrich 2009, Ulrich<br />

2008). Zugleich wurde damit aber der tatsächliche Versorgungsbedarf von ausbildungsreifen<br />

Jugendlichen mit vollqualifizierender Berufsausbildung nicht<br />

mehr sichtbar (vgl. Abbildung 3). Da die hohen Teilnehmerzahlen im Übergangssystem<br />

die Zweifel an der „Ausbildungsreife“ der Jugendlichen weiter<br />

nährten, stabilisierten und legitimierten sich die Übergangsinstitutionen in vollqualifizierende<br />

und lediglich teilqualifizierende Berufsausbildung gegenseitig.<br />

Für die Übergangsforschung im Bereich der beruflichen Ausbildung ist in<br />

Folge dieser Regelungen eine besondere Vorsicht bei der Interpretation statistischer<br />

Einflussgrößen erforderlich. Sie darf die „Sortierlogiken“, wer unter den<br />

gegebenen Umständen einen vollqualifizierenden Berufsausbildungsplatz erhält<br />

und wer nicht, nicht mit Kausalinterpretationen verwechseln, welche individuellen<br />

schulischen Voraussetzungen und Qualifikationen heute erforderlich sind,<br />

um eine Ausbildung bewältigen zu können und um den Ausbildungserfolg sicherzustellen<br />

(vgl. dazu auch Dellenbach/Hupka/Stalder 2004, 53 ff.). Dies gilt<br />

insbesondere für jene Jugendlichen, denen die Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> die für<br />

den angestrebten Ausbildungsberuf erforderliche Eignung zuerkannt <strong>hat</strong>. Wir<br />

wollen im Folgenden anhand einer zum Jahreswechsel 2008/2009 durchgeführten<br />

Untersuchung von Ausbildungsstellenbewerbern die zurzeit wirksamen Sortierlogiken<br />

beim Übergang in eine vollqualifizierende Berufsausbildung analysieren<br />

und zugleich überprüfen, inwieweit sich die in den vorangegangenen Ab-


schnitten geäußerte Kritik an den bisherigen Übergangsinstitutionen durch die<br />

Untersuchungsergebnisse bestätigen lassen.<br />

Abbildung 3: Entwicklung der Zahl der Schulentlassenen, des offiziellen<br />

Umfangs von Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage (linke<br />

Hälfte) sowie der Eintritte in teilqualifizierende Bildungsgänge<br />

des so genannten „Übergangssystems“ und in vollqualifizierende<br />

Schulberufsausbildungen (rechte Hälfte)<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong>, Bundesinstitut für Berufsbildung und<br />

eigene Berechnungen<br />

3 Gegenwärtige „Sortierlogiken“ bei der Versorgung von Ausbildungsstellenbewerbern<br />

3.1 Untersuchungsaufbau der BA/BIBB-Bewerberbefragung 2008<br />

Bei der BA/BIBB-Bewerberbefragung 2008 handelt es sich um eine schriftlichpostalische<br />

Repräsentativerhebung von rund 5.000 Personen. Grundgesamtheit<br />

waren die 620.002 gemeldeten Ausbildungsstellenbewerber des Berichtsjahres<br />

2007/08, die ihren Wohnsitz im Inland <strong>hat</strong>ten. Die Stichprobe wurde von der<br />

Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> (BA) gezogen. Die anonym durchgeführte Befragung<br />

fand von Ende Dezember 2008 bis März 2009 statt. Insgesamt wurden 13.000<br />

Personen angeschrieben. Die Auswahl erfolgte per Zufall. Der Rücklauf betrug<br />

5.197 (40 %). In die Auswertung gelangten 5.087 Fragebögen; ausgeschlossen<br />

149


wurden verspätet eingegangene, sehr unvollständig ausgefüllte Fragebögen und<br />

Bögen, die regional nicht eindeutig zugeordnet werden konnten. Die Ergebnisse<br />

wurden über eine Soll-Ist-Anpassung gewichtet und konnten auf die Grundgesamtheit<br />

hochgerechnet werden. Gewichtungsmerkmale waren die Herkunftsregion,<br />

das Geschlecht und die offizielle Verbleibseinstufung der Bewerber. Damit<br />

ließen sich auch weitere Merkmalsverteilungen der Grundgesamtheit, die nicht<br />

in das Gewichtungs- und Hochrechnungsmodell einbezogen waren (z. B. Schulabschluss<br />

und Nationalität), sehr gut reproduzieren.<br />

3.2 Ergebnisse<br />

Bewertung der verschiedenen Verbleibsformen durch die Jugendlichen:<br />

Von den 620.002 bei der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> gemeldeten, im Inland wohnenden<br />

Ausbildungsstellenbewerbern des Jahres 2008 galten zum Stichtag<br />

30. September 605.526 als „versorgt“, obwohl sich darunter 323.483 Personen<br />

befanden, für die keine Einmündung in eine Berufsausbildungsstelle festgestellt<br />

werden konnte. Dass auch diese Bewerber als „versorgt“ betrachtet werden, wird<br />

im Wesentlichen damit begründet, dass das Motiv für den alternativen Verbleib<br />

über die Geschäftsstatistik nicht feststellbar ist (Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> 2008,<br />

5). Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass alternative Verbleibe außerhalb<br />

einer Berufsausbildung selbstbestimmt und freiwillig erfolgten. Dieses<br />

Argument ist grundsätzlich korrekt, denn bei der Berufsfindung handelt es sich<br />

um einen komplexen Prozess, in dem verschiedene Bildungsalternativen durchgespielt,<br />

in Betracht gezogen und zum Teil auch wieder verworfen werden<br />

(Fobe/Minx 1996, 7 ff.).<br />

Im Rahmen der BA/BIBB-Bewerberbefragung ist allerdings eine Motiverkundung<br />

für die jeweilige Verbleibsform möglich. Wir wollen dabei zunächst<br />

untersuchen, wie die Ausbildungsstellenbewerber ihren aktuellen Verbleib bewerten.<br />

Es zeigt sich, dass hochgerechnet nur 332.000 bzw. knapp 54 % diesen<br />

Verbleib als erste („war immer mein Wunsch“) oder zumindest als zweite Wahl<br />

(„eine Alternative, die ich von vornherein in Betracht gezogen habe“) empfinden.<br />

158.800 (26 %) sprechen dagegen allenfalls von einer dritten Wahl („nicht<br />

unbedingt gewollte, inzwischen aber akzeptierte Alternative“ bzw. „sinnvolle<br />

Überbrückung“) und 100.500 (16 %) sogar von einer „Notlösung“ oder „Sackgasse“<br />

(vgl. die untere Zeile in Tabelle 2).<br />

150


Tabelle 2: Subjektive Bewertung ihres Verbleibs durch die Ausbildungsstellenbewerber<br />

Quelle: BA/BIBB-Bewerberbefragung 2008<br />

151


Bei diesen Bewertungen lässt sich des Weiteren eine starke Varianz der Bewertung<br />

abhängig vom aktuellen Verbleib erkennen: Der Verbleib in Bildungsangeboten,<br />

die zu einem vollqualifizierenden Bildungsabschluss führen, werden wesentlich<br />

positiver eingeschätzt als Maßnahmen des „Übergangssystems“ oder der<br />

Verbleib außerhalb des Bildungssystems (z.B. Jobben, <strong>Arbeit</strong>, arbeitslos). Deutlich<br />

wird zudem, dass die Bewerber zwar eine betriebliche Ausbildung präferieren,<br />

durchaus aber auch mit einem außerbetrieblichen Ersatzangebot zufrieden<br />

sind bzw. den Beginn einer vollqualifizierenden schulischen Berufsausbildung<br />

dem Verbleib im Übergangssystem vorziehen Dabei variieren die Einschätzungen<br />

kaum mit den individuellen Merkmalen der Befragten: Ob ein Bewerber mit<br />

seiner gegenwärtigen Lage zufrieden ist, hängt damit nicht so sehr von personenspezifischen<br />

Merkmalen, sondern vor allem von der Verbleibsform ab.<br />

Die Aussagen der Jugendlichen verweisen darauf, dass viele alternative<br />

Verbleibe außerhalb einer betrieblichen Berufsausbildung nicht unmittelbar und<br />

primär angestrebt wurden, sondern im Wesentlichen als Ausweichreaktion erfolgten<br />

(vgl. auch Hupka/Sacchi/Stalder 2006, 6). Dies ergibt sich auch aus einem<br />

anderen Ergebnis: Unter den 323.483 Bewerbern, die offiziell als „versorgt“<br />

galten, obwohl sie nicht in eine Berufsausbildungsstelle eingemündet waren,<br />

befanden sich 134.200 (41 %), die zum Untersuchungszeitpunkt Ende 2008 –<br />

und damit nach dem Nachvermittlungsgeschäft – noch immer keine Berufsausbildung<br />

absolvierten und die ihren alternativen Verbleib zugleich darauf zurückführten,<br />

dass ihre Bewerbungen erfolglos geblieben waren. 76.400 (24 %) zeigten<br />

sich daran interessiert, selbst zu diesem späten Zeitpunkt in das bereits seit<br />

mehreren Monaten laufende Ausbildungsjahr einzusteigen, weitere 108.300 (33<br />

%) wollten zumindest in den kommenden Jahren mit einer Berufsausbildung<br />

anfangen. 20 All diese Jugendlichen wurden in der Marktbilanzierung des Nationalen<br />

Paktes für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland nicht als<br />

erfolglose Ausbildungsplatznachfrager geführt, so dass mit rechnerisch 100,8<br />

Angeboten auf 100 Ausbildungsplatznachfrager das offizielle Verhältnis von<br />

Angebot und Nachfrage (sog. „Angebots-Nachfrage-Relation“) wieder einmal<br />

ausgeglichen erschien (vgl. Ulrich/Flemming/Granath 2009, 27 ff.).<br />

Die Regel, sämtliche alternativ verbliebene Bewerber nicht als erfolglose<br />

Ausbildungsnachfrager zu behandeln, stützt somit den Mythos eines ausgeglichenen<br />

Ausbildungsmarktes. Sie benachteiligt aber all diejenigen ausbildungsreifen<br />

Bewerber, die sich bei fehlendem Bewerbungserfolg flexibel zeigen und<br />

notgedrungen auf teilqualifizierende Bildungsgänge oder (zum Teil geringfügige)<br />

Beschäftigungen ausweichen und damit als „versorgt“ gelten.<br />

20 Bewerber, die eine Ausbildung bereits einmal begonnen, aber bis zum Untersuchungszeitpunkt<br />

abgebrochen <strong>hat</strong>ten, wurden bei diesen Berechnungen ausgeschlossen.<br />

152


Determinanten des Verbleibs in vollqualifizierender Berufsausbildung<br />

Nach welcher Logik verbleiben nun Ausbildungsstellenbewerber, deren Eignung<br />

für den Beginn einer vollqualifizierenden Berufsausbildung „geklärt ist bzw.<br />

deren Voraussetzungen dafür gegeben sind“, innerhalb und außerhalb einer Berufsausbildung?<br />

In Tabelle 3 werden im Rahmen dreier binärer logistischer Regressionsmodelle<br />

drei unterschiedliche, schrittweise erweiterte Zielzustände unterschieden:<br />

Modell 1: Einmündung in eine betriebliche Ausbildungsstelle in Ausbildungsberufen<br />

des Dualen Systems gemäß BBiG/HwO;<br />

Modell 2: Einmündung in eine betriebliche oder nichtbetriebliche (außerbetriebliche,<br />

schulische) Ausbildungsstelle in Ausbildungsberufen gemäß<br />

BBiG/HwO;<br />

Modell 3: Einmündung in irgendeine Form vollqualifizierender Berufsausbildung<br />

(betrieblich oder nichtbetrieblich in BBiG/HwO-Berufen), in sog.<br />

Schulberufe oder in eine Hochschulausbildung).<br />

Wie nun die Ergebnisse zeigen, gilt für alle drei Modelle, dass die Verbleibs-<br />

und Sortierlogiken einer komplexen Kombination von a) individuellen Leistungs-<br />

und Motivationsmerkmalen, b) regionale und sonstige Gelegenheiten<br />

sowie c) weiteren personenbezogenen Merkmalen folgen, welche nicht unmittelbar<br />

leistungsbezogen sind, aber dennoch mit der Ausbildungschance korrelieren<br />

(z.B. Geschlecht, Herkunft).<br />

Individuelle Leistungs- und Motivationsmerkmale<br />

Als Leistungsmerkmale zählen hierzu der erreichte Schulabschluss, die letzten<br />

Schulnoten (in der BBA/BIBB-Bewerberbefragung wurden die Noten in Deutsch<br />

und Mathematik abgefragt) sowie als motivationale Determinanten der gezeigte<br />

Einsatz bei der Lehrstellensuche und die Bereitschaft, sich in mehreren unterschiedlichen<br />

Berufen zu bewerben. All diese Merkmale haben sich auch in sonstigen<br />

Übergangsstudien als erklärungsträchtig erwiesen (Diehl/Friedrich/Hall<br />

2009, Eberhard/Krewerth/Ulrich 2006).<br />

Regionale und sonstige Gelegenheiten<br />

Von besonderer Bedeutung ist hier vor allem die regionale Ausbildungsmarktsituation<br />

vor Ort, wie sie sich in der rechnerischen Zahl der betrieblichen Ausbil-<br />

153


dungsplatzangebote 21 je 100 Ausbildungsinteressierte 22 im jeweiligen <strong>Arbeit</strong>sagenturbezirk<br />

spiegelt. Je mehr Angebote es in der Region gibt, desto größer ist<br />

die Einmündungschance in eine betriebliche, aber eben auch in irgendeine Form<br />

vollqualifizierender Berufsausbildung.<br />

Dabei erweist es sich allerdings als auffällig, dass losgelöst von der Marktlage<br />

vor Ort die Tatsache, ob ein Bewerber in West- oder Ostdeutschland wohnt,<br />

mit einer unterschiedlich hohen Übergangschance verbunden ist: Ostdeutsche<br />

Ausbildungsstellenbewerber <strong>hat</strong>ten 2008 zwar keine (signifikant) größere Chance,<br />

in eine betriebliche Ausbildungsstelle einzumünden (sofern die entsprechenden<br />

Marktverhältnisse kontrolliert werden), wohl aber eine deutlich größere<br />

Chance, in irgendeine Form einer vollqualifizierenden Berufsausbildungsstelle<br />

einzumünden. Die Ursache ist hier ebenfalls institutioneller Natur 23 : In Ostdeutschland<br />

ist das „Übergangssystem“ weniger bedeutsam, während das kompensatorische<br />

Ausbildungsangebot in Form von vollqualifizierenden nichtbetrieblichen<br />

Ausbildungsplätzen als Folge des wiedervereinigungsbedingten Umbruchs<br />

eine weitaus größere Bedeutung erlangte und bis heute beibehalten <strong>hat</strong>.<br />

Dementsprechend mündete 2008 (wie auch in den Jahren zuvor) in Ostdeutschland<br />

ein höherer Anteil der Bewerber in eine Berufsausbildung ein, als dies in<br />

Westdeutschland der Fall war – obwohl das betriebliche Angebot in den vergangenen<br />

Jahren im Osten wesentlich niedriger ausfiel als in den alten Ländern. 24<br />

Dass darüber hinaus auch der Verstädterungsgrad der Wohnregion (Einwohnerdichte)<br />

von Bedeutung ist und Bewerber, die in Großstädten wohnen,<br />

grundsätzlich schlechtere Ausbildungschancen haben, ist insbesondere Folge<br />

einer starken Einpendelbereitschaft von Ausbildungsstellenbewerbern, die im<br />

ländlichen Umland von Ballungsgebieten wohnen. Die großstädtischen Ausbildungsplätze<br />

sind deshalb stark umworben, und sie werden von den Unternehmen<br />

oft auch an Bewerber aus dem Umland vergeben.<br />

21 Geschätzt über die Differenz zwischen der Zahl der in der Region registrierten Ausbildungsplatzangebote<br />

abzüglich der Zahl der gemeldeten außerbetrieblichen Ausbildungsstellen.<br />

22 Definiert als die Summe aus der Zahl aller gemeldeten Ausbildungsstellenbewerber in der Region<br />

zuzüglich der rechnerischen Zahl der erfolgreichen Ausbildungsplatznachfrager, die nicht bei der<br />

Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> als Ausbildungsstellenbewerber registriert worden waren. Die zuletzt<br />

genannte Größe wurde ermittelt, indem von der Gesamtzahl aller in der Region neu abgeschlossenen<br />

Ausbildungsverträge die Zahl der gemeldeten Ausbildungsstellenbewerber abgezogen wurde, die in<br />

eine Berufsausbildungsstelle mündeten.<br />

23 Vgl. dazu auch Imdorf/Seibert/Hupka (2009) mit Ergebnissen für die Schweiz.<br />

24 Vgl. zu den „historischen“ Gründen auch Eberhard/Ulrich (2009).<br />

154


Tabelle 3: Determinanten des Verbleibs in vollqualifizierender Berufsausbildung<br />

Quelle: BA/BIBB-Bewerberbefragung 2008<br />

Modell 3: betrieblich,<br />

Modell 2: betriebliche oder nicht-<br />

nichtbetrieblich, schulisch,<br />

betriebliche BBIG-Ausbildung<br />

hochschulisch<br />

e ß Std.f Z p e ß Std.f Z p e ß Std.f Z p<br />

Modell 1: betriebliche<br />

Berufsausbildung nach BBiG<br />

Individuelle Leistungs- und Motivationsmerkmale<br />

mittlerer Abschluss (Referenz: maximal Hauptschule) 1,990 0,158 8,66 0,000 1,204 0,088 2,55 0,006 1,294 0,094 3,55 0,000<br />

Studienberechtigung (Referenz: maximal Hauptschule) 4,130 0,498 11,75 0,000 1,791 0,202 5,18 0,000 2,960 0,346 9,30 0,000<br />

(schlechtere) Deutschnote 0,854 0,042 -3,24 0,001 0,859 0,039 -3,32 0,001 0,817 0,037 -4,42 0,000<br />

(schlechtere) Mathematiknote 0,747 0,028 -7,81 0,000 0,795 0,028 -6,54 0,000 0,834 0,029 -5,19 0,000<br />

in mehreren Berufen beworben 1,388 0,104 4,37 0,000 1,267 0,089 3,37 0,001 1,171 0,082 2,24 0,013<br />

keine rechte Mühe gemacht 0,517 0,060 -5,65 0,000 0,527 0,055 -6,11 0,000 0,545 0,055 -6,01 0,000<br />

Regionale und sonstige Gelegenheiten<br />

(günstigere) Ausbildungsmarktrelation 1,016 0,004 4,16 0,000 1,013 0,004 3,58 0,000 1,016 0,004 4,36 0,000<br />

Wohnort in Ostdeutschland 1,177 0,131 1,47 0,071 1,879 0,195 6,07 0,000 2,137 0,233 6,95 0,000<br />

(höhere) Einwohnerdichte 0,988 0,005 -2,54 0,006 0,990 0,004 -2,40 0,008 0,992 0,004 -1,82 0,035<br />

Praktika absolviert 1,208 0,090 2,52 0,006 1,247 0,088 3,14 0,001 1,199 0,085 2,57 0,005<br />

Einstiegsqualifizierung absolviert 1,928 0,286 4,42 0,000 1,990 0,288 4,76 0,000 1,730 0,253 3,74 0,000<br />

Weitere personenbezogene Merkmale<br />

männliches Geschlecht 1,350 0,097 4,16 0,000 1,389 0,094 4,84 0,000 1,268 0,086 3,50 0,000<br />

18 bis 20 Jahre (Referenz: nicht volljährig) 0,737 0,063 -3,58 0,000 1,025 0,083 0,30 0,380 0,915 0,074 -1,10 0,137<br />

21 bis 22 Jahre (Referenz: nicht volljährig) 0,553 0,059 -5,54 0,000 0,855 0,085 -1,57 0,058 0,732 0,073 -3,12 0,001<br />

22 Jahre und älter (Referenz: nicht volljährig) 0,364 0,049 -7,58 0,000 0,658 0,079 -3,50 0,000 0,554 0,066 -4,94 0,000<br />

ohne Migrationshintergrund (Referenz: Aussiedler) 1,304 0,159 2,18 0,015 1,242 0,141 1,91 0,028 1,053 0,118 0,46 0,322<br />

türkisch-arabischer Herkunft (Referenz: Aussiedler) 0,646 0,124 -2,27 0,012 0,762 0,130 -1,60 0,055 0,710 0,117 -2,08 0,019<br />

ehemalige Anwerbestaaten (Referenz: Aussiedler) 0,671 0,151 -1,77 0,038 0,630 0,130 -2,24 0,013 0,542 0,108 -3,07 0,001<br />

sonstige Herkunft (Referenz: Aussiedler) 0,691 0,156 -1,64 0,050 0,745 0,151 -1,45 0,073 0,688 0,136 -1,90 0,029<br />

Zufallseffekt Ebene 2<br />

Varianz der Regressionskonstante 0,007 0,021 0,000 0,000 0,008 0,020<br />

N der Ebene 1 (Probanden) 4.134 4.134 4.134<br />

N der Ebene 2 (Regionen) 176 176 176<br />

Logistische Zwei-Ebenen-Modelle (mit zufälligen Effekten). Std.f. = Standardfehler.<br />

155


Neben den regionalen Gelegenheiten 25 werden die Übergangschancen auch<br />

durch jene Gelegenheiten positiv beeinflusst, die sich durch bereits bestehende<br />

Kontakte zu Betrieben eröffnen: Hierzu zählen vor allem vorab geleistete Praktika<br />

oder eine vorab absolvierte Einstiegsqualifizierung. In vielen Betrieben ist es<br />

üblich geworden, Jugendliche zunächst im Rahmen von Probearbeiten zu beobachten,<br />

bevor sie einen Ausbildungsvertrag erhalten.<br />

Weitere personenbezogene Merkmale, die nicht unmittelbar leistungsbezogen<br />

sind, aber dennoch mit der Ausbildungschance korrelieren<br />

Zu diesen Merkmalen zählen das Geschlecht, das Alter und die ethnische Herkunft<br />

der Ausbildungsstellenbewerber. Die bloße Tatsache, dass diese Merkmale<br />

selbst unter Kontrolle der individuellen Leistungsvoraussetzungen statistisch<br />

signifikant mit der Ausbildungschance verbunden sind, muss nicht zwingend auf<br />

eine Diskriminierung bestimmter Gruppen hinweisen (vgl. auch Kalter 2006).<br />

So sind die geringeren Ausbildungschancen der jungen Frauen Folge ihrer<br />

weiterhin sehr starken Ausrichtung ihrer Ausbildungswünsche auf die Dienstleistungsberufe<br />

(vgl. Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> 2008). Diese Berufe werden zudem<br />

auch von jenen jungen Männern präferiert, die im Schnitt schulische bessere<br />

Leistungen erzielen als ihre Geschlechtsgenossen. Dies führt dazu, dass die<br />

Dienstleistungsberufe stärker umworben werden und dass selbst überdurchschnittliche<br />

Noten bisweilen nicht ausreichen, um eine betriebliche Ausbildungsstelle<br />

zu finden.<br />

Wie zuletzt Studien aus der Schweiz zeigten, sind die schlechteren Chancen<br />

von älteren Bewerbern und von Bewerbern mit Migrationshintergrund aber zum<br />

Teil spezifischen betrieblichen Logiken bei ihrer Lehrlingsselektion zuzuschreiben<br />

(Imdorf 2007a, Imdorf 2009). So sind die Unternehmen z.B. an Bewerbern<br />

interessiert, die einerseits keine Kinder mehr sind, andererseits auch noch keine<br />

Erwachsene, sondern noch „formbare“ Jugendliche. Damit erscheinen ihnen<br />

Ausbildungsstellenbewerber mit 16 Jahren zwar oft noch als zu jung, Bewerber<br />

mit 19 Jahren dagegen aber bisweilen bereits als zu alt. Tatsächlich zeigt sich<br />

auch in der BA/BIBB-Bewerberbefragung, dass bereits die Gruppe der 18- bis<br />

20-jährigen Bewerber signifikant geringere Chancen auf eine betriebliche Ausbildungsstelle<br />

<strong>hat</strong> als die Gruppe der nichtvolljährigen Bewerber.<br />

25 Der hier verwendete regionale Ausbildungsmarktindikator kann die Nachfrage auswärtiger Ausbildungsstellenbewerber<br />

nicht vollständig abbilden. Dies trägt zum signifikanten Effekt des Verstädterungsgrades<br />

bei, allerdings auch das Phänomen, dass die Auspendelbereitschaft großstädtischer<br />

Bewerber niedriger ausfällt als die Einpendelbereitschaft der Bewerber aus dem Umland (vgl. dazu<br />

auch Ulrich/Ehrenthal/Häfner 2006)<br />

156


In dieser Schweizer Studie wurde zudem deutlich, dass Betriebe an einem<br />

möglichst reibungs- und störungsfreien Ablauf ihrer Berufsausbildung interessiert<br />

sind und bei der Lehrlingsauswahl jenen Bewerbern den Vorzug geben, von<br />

denen sie annehmen, dass diese als spätere Lehrlinge den Produktionsprozess der<br />

Waren und Dienstleistungen ebenso wenig stören wie die Sozialbeziehungen im<br />

Betrieb und die Beziehungen zu den Kunden. Dies führt oft dazu, dass sich die<br />

Betriebe bei der Einstellung von Migranten zögerlich zeigen, da sie befürchten,<br />

dass diese bei der Integration in die Belegschaft mehr Probleme bereiten oder<br />

auch den Kontakt zur Kundschaft in irgendeiner Form belasten könnten (Imdorf<br />

2007b). Und auch in der BA/BIBB-Bewerberbefragung lassen sich signifikant<br />

schlechtere Ausbildungschancen für Aussiedler gegenüber Jugendlichen ohne<br />

Migrationshintergrund feststellen, während aber die Aussiedler zugleich signifikant<br />

bessere Chancen als Bewerber mit sonstigem Migrationshintergrund aufweisen.<br />

26<br />

4 Diskussion<br />

Auch wenn die Hintergründe für die jeweiligen Sortierlogiken beim Verbleib<br />

von Ausbildungsstellenbewerbern nicht bis in die letzten Details aufgeklärt sind,<br />

so ist im Ganzen doch eine institutionell bedingte Benachteiligung dieser Jugendlichen<br />

unübersehbar. Während die Sicherung der Zugangschancen von studierwilligen<br />

Abiturienten in die Hochschulen weitgehend sozialisiert ist (vgl.<br />

auch Kruip 2003a), müssen sich die Ausbildungsstellenbewerber über einen<br />

Markt Zugang in eine Berufsausbildung verschaffen.<br />

Die dabei wirksamen Selektionsmechanismen folgen nur zum Teil<br />

meritokratischen Prinzipien, nach denen die jeweils leistungsstärksten Personen<br />

mit den besten individuellen Voraussetzungen die höchste Eintrittschance in eine<br />

Berufsausbildungsstelle haben (vgl. auch Solga 2005a). So spielen nicht nur die<br />

Schulabschlüsse und Schulnoten eine Rolle, sondern z.B. auch die ethnische<br />

Herkunft und der Wohnort der Jugendlichen. Doch ist die partielle Verletzung<br />

meritokratischer Verteilungsprinzipien innerhalb der Gruppe der Ausbildungsstellenbewerber<br />

noch nicht einmal der kritischste Punkt in der Ungleichbehand-<br />

26 Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Eltern der Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />

häufig selbst nicht auf ein entsprechendes Erfahrungswissen beim Eintritt in das deutsche Berufsbildungssystem<br />

zurückgreifen können und in den Migrantenfamilien entsprechende Gespräche über die<br />

Zugangsprobleme und möglichen Erfolgsstrategien signifikant seltener stattfinden. Zudem fehlen den<br />

Eltern häufiger die sozialen Netzwerke, um ihren Kindern über Beziehungen den Zugang zu einer<br />

Berufsausbildungsstelle zu eröffnen (Beicht/Friedrich/Ulrich 2008). Eine sehr differenzierte Analyse<br />

des Einflusses der Herkunftsfamilie auf die Übergangschance in Berufsausbildung findet sich bei<br />

Hupka/Sacchi/Stalder (2006), welche die Schweizerischen Verhältnisse untersuchten.<br />

157


lung zwischen den Ausbildungsstellenbewerbern und Abiturienten mit Interesse<br />

an einer Hochschulausbildung. Vielmehr ist es die Tatsache, dass die Zahl der<br />

nichtakademischen Ausbildungsangebote insgesamt deutlich niedriger ausfällt<br />

als die Zahl der Ausbildungsinteressierten, obwohl diese Personen die Voraussetzungen<br />

für eine Berufsausbildung auch offiziell mitbringen. Das nicht ausreichende<br />

Angebot an Ausbildungsplätzen ist dabei vor allem den institutionellen<br />

Rahmenbedingungen zuzuschreiben: Der klassische marktwirtschaftlich geregelte<br />

Eintritt in eine betriebliche Berufsausbildung wird nicht in einem ausreichenden<br />

Maße durch einen konjunkturunabhängigen Zugang in vollqualifizierende<br />

Berufsausbildung (außerbetriebliche Ausbildung, schulische Ausbildung nach<br />

BBiG/HwO) ergänzt, um der tatsächlichen Nachfrage gerecht zu werden (vgl.<br />

dazu auch Kruip 2003b, 250 f.). Dies traf in den letzten Jahren für Westdeutschland<br />

noch stärker zu als für die neuen Bundesländer, in denen die außerbetriebliche<br />

Berufsausbildung stets eine deutlich stärkere Bedeutung <strong>hat</strong>te (Ulrich/Eberhard<br />

2008). 27 Neben dem Problem, dass das vollqualifizierende Berufsausbildungsangebot<br />

in den vergangenen Jahren grundsätzlich nicht ausreichte,<br />

ließen sich also auch regionale Unterschiede in den institutionellen Rahmenbedingungen<br />

des Übergangsgeschehens beobachten und damit auch regionale Ungleichheiten<br />

beim Zugang in Berufsausbildung.<br />

Somit gibt es keine bundesweit einheitliche und zugleich ausreichende institutionelle<br />

Absicherung für ausbildungsreife Jugendliche, die eine vollqualifizierende<br />

Berufsausbildung absolvieren möchten, am ausbildungsmarktgeregelten<br />

Zugang aber scheitern. Die „Alternativen“ für „ausbildungsreife“ Schulabgänger,<br />

denen kein vollqualifizierendes Ausbildungsangebot eröffnet wird, bestehen<br />

zunächst im Beginn eines teilqualifizierenden Bildungsgangs des so genannten<br />

„Übergangssystems“. Tatsächlich sind die Jugendlichen durchaus bereit, ihre<br />

Ausbildungswünsche stets auch an den begrenzten Optionsrahmen anzupassen<br />

(vgl. dazu auch Heinz u.a. 1987) und die entsprechenden Verbleibe zumindest<br />

als eine sinnvolle Überbrückung zu akzeptieren (vgl. auch Straßer/Ratschinski<br />

2008, 35). Dies ist insofern auch zweckmäßig, als sich solche Verbleibe gegenüber<br />

Verbleiben in <strong>Arbeit</strong>slosigkeit oder Beschäftigung als die bessere Alternative<br />

in Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit eines nachfolgenden Berufsausbildungsbeginns<br />

erwiesen haben (Beicht 2009, Beicht/Ulrich 2008, Hofmann-<br />

Lun/Gaupp 2008).<br />

27 Allerdings erfolgte die Finanzierung der zeitweise besonders zahlreichen außerbetrieblichen Ausbildungsplatzangebote<br />

in Ostdeutschland u.a. über die Ausbildungsprogramme für sozial benachteiligte<br />

und lernbeeinträchtigte Jugendliche nach dem Sozialgesetzbuch III und somit zum Teil unter<br />

Inkaufnahme einer Stigmatisierung der Jugendlichen. Zwar gab es auch ein gemeinsam vom Bund<br />

und den Ländern finanziertes Programm für offiziell „Marktbenachteiligte“, doch reichte dieses<br />

Programm nicht aus, das betriebliche Angebotsdefizit zu kompensieren (vgl. dazu ausführlich Ulrich<br />

2003).<br />

158


Doch sind mit diesem Verbleib Stigmatisierungsgefahren und Identitätszumutungen<br />

für die Jugendlichen verbunden (z.B. „nicht ausbildungsreif“), und<br />

zudem dürfte nur relativ wenigen Jugendlichen bewusst sein, dass sie mit einem<br />

solchen Schritt just jene Institutionen „unterstützen“, die ihnen zunächst den<br />

Eintritt in eine vollqualifizierende Berufsausbildung verwehrten. Denn ihre<br />

Nachfrage nach dualer Ausbildung wird mit der Einmündung in das Übergangssystem<br />

latent, und damit tragen diese „versorgten“ Jugendlichen selbst dann zu<br />

einem rechnerischen Ausgleich von Angebot und Nachfrage bei, wenn sie sich<br />

intensiv, aber erfolglos um eine Berufsausbildungsstelle bemüht <strong>hat</strong>ten.<br />

Die Funktion des Übergangssystems bestand in den letzten Jahren also auch<br />

darin, die bestehenden Institutionen des Übergangs in vollqualifizierende Berufsausbildung<br />

abzusichern und Deutungen zum Geschehen auf dem Ausbildungsstellenmarkt<br />

zu ermöglichen, welche diese Institutionen legitimieren. Solche<br />

Deutungen können allerdings nur dann der Öffentlichkeit erfolgreich vermittelt<br />

werden, wenn sie plausibel erscheinen (Solga 2005a). Individualisierende<br />

Erklärungsansätze zur Ausbildungslosigkeit von Jugendlichen haben aus mindestens<br />

drei Gründen stets eine große Chance auf Akzeptanz. Erstens knüpfen sie an<br />

dem in jeder Zeit zu beobachtenden Bedürfnis einer Gesellschaft an, über den<br />

Reifezustand der Jugend kritisch nachdenken zu wollen (Eberhard 2006, 48 ff.).<br />

Zweitens entsprechen sie der bei Außenbeobachtern grundsätzlich zu beobachtenden<br />

Neigung, personenbezogene Gründe als Ursache für die Lage Dritter<br />

stärker in Betracht zu ziehen als situationsbezogene Einflussgrößen (Ulrich<br />

2004a). Und drittens wirken sie nachvollziehbar, weil Begriffe wie „ausbildungsreife<br />

Ausbildungsplatznachfrager“ und „versorgte Ausbildungsstellenbewerber“<br />

auch für Laien verständlich erscheinen.<br />

Dabei <strong>hat</strong> sich allerdings in der bildungspolitischen Analyse des Übergangsgeschehens<br />

längst eine Fachsprache etabliert, die von Laien nicht mehr<br />

valide in die Alltagssprache umgesetzt werden kann. So bezeichnen z.B. „Ausbildungsplatznachfrager“<br />

und „Ausbildungsstellenbewerber“ zwei unterschiedliche,<br />

sich nur partiell überschneidende Gruppen, und Begriffe wie „versorgte<br />

Ausbildungsstellenbewerber“ oder „vermittelte Ausbildungsstellenbewerber“<br />

entsprechen nicht dem Verständnis der Alltagssprache (Krekel/Ulrich 2009, 35-<br />

41). Für die Legitimation der bestehenden Institutionen zum Übergang von der<br />

Schule in die Berufsausbildung stellen solche Abweichungen allerdings so lange<br />

kein Problem dar, wie die durch sie ausgelösten Assoziationen keine Zweifel an<br />

der Funktionstüchtigkeit der beruflichen Ausbildung aufkommen lassen.<br />

Tatsächlich haben die bestehenden Institutionen beim Zugang in das duale<br />

Ausbildungssystem die vergangenen schwierigen Jahre, bedingt durch die bis<br />

2005 anhaltende massive Beschäftigungskrise und eine stetig steigende Zahl von<br />

Schulabgängern, erfolgreich überlebt. Zudem nutzten Wirtschaft und Staat die<br />

159


Krisensymptome des dualen Systems erfolgreich dazu, die Ausbildungsberufe in<br />

beschleunigtem Tempo zu modernisieren und rascher an den wirtschaftsstrukturellen<br />

Wandel anzupassen (vgl. dazu Bosch 2008). Durch den 2006 einsetzenden<br />

Aufschwung, durch die 2007 einsetzende Wende in der demografischen Entwicklung<br />

(große Deters/Ulmer/Ulrich 2008) und durch den zu erwartenden<br />

Wechsel von einem Anbieter- zu einem Nachfragermarkt dürfte zudem der Widerspruch<br />

zwischen den beiden Regeln einer freiwilligen Ausbildungsbeteiligung<br />

der Betriebe und einer ausreichenden Versorgung aller ausbildungsreifen und<br />

ausbildungsinteressierten Jugendlichen in den kommenden Jahren sukzessive in<br />

Vergessenheit geraten.<br />

Es wird spannend zu beobachten sein, wie sich im Zuge dessen die Deutungen<br />

und Deutungsformen in Hinblick auf das Übergangsgeschehen ändern werden.<br />

Schon jetzt ist erkennbar, dass die Jugendlichen verstärkt als unverzichtbare<br />

„Ressource“ bei der Gewinnung von Humankapital und weniger als in der Vergangenheit<br />

als „Versorgungsfall“ betrachtet werden. Die aktuell diskutierten und<br />

zum Teil bereits umgesetzten Ideen, gerade auch benachteiligte Jugendliche über<br />

eine kontinuierliche persönliche Begleitung den Einstieg in die Berufsausbildung<br />

zu ermöglichen, deuten ebenso daraufhin wie sich vielerorts etablierende regionale<br />

Übergangsmanagement-Systeme (Krekel/Ulrich 2009, 27 ff.). Da die Betriebe<br />

bei einem Wechsel von einem Anbieter- hin zu einem Nachfragermarkt<br />

verstärkt untereinander um die immer weniger werdenden Schulabsolventen<br />

konkurrieren, werden viele von ihnen versuchen, sich durch eine frühzeitige<br />

Einbindung in die Berufsorientierung der allgemeinbildenden Schulen relative<br />

Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Zugleich werden sie darauf hinwirken, die<br />

Dauer bis zum Eintritt der Schulabgänger in eine vollqualifizierende Berufsausbildung<br />

„nicht unnötig zu verlängern“. Somit wird die Wirtschaft zum einen auf<br />

eine „Dualisierung“ der Berufsorientierung in den allgemeinbildenden Schulen<br />

drängen, und zum anderen wird der Druck auf das „Übergangssystem“ zunehmen,<br />

das Angebot zu „verschlanken“ und die Abwerbung von Schulabgängern<br />

auf jene Fälle der Jugendlichen zu beschränken, die tatsächlich zunächst einer<br />

spezifischen individuellen Vorbereitung bedürfen, bevor sie für eine vollqualifizierende<br />

betriebliche Berufsausbildung gewonnen werden können.<br />

Sollte es tatsächlich zu einer grundlegenden Umkehrung der Verhältnisse<br />

auf dem Ausbildungsmarkt kommen, dürften das Schulberufssystem und das<br />

Übergangssystem quantitativ an Bedeutung verlieren. Und auch der alljährlich<br />

wiederkehrende „Statistikstreit“ darüber, wer nun zu den erfolglosen Ausbildungsplatznachfragern<br />

zu zählen ist und wer nicht (Bosch 2008, 242), dürfte in<br />

Folge der veränderten Verhältnisse an Schärfe verlieren. Entsprechende Entwicklungen<br />

sind bereits jetzt in Ostdeutschland beobachtbar, wo die Auswirkun-<br />

160


gen des demografischen Einbruchs auf die berufliche Bildungsbeteiligung schon<br />

heute massiv zu spüren sind (große Deters/Ulmer/Ulrich 2008).<br />

Literatur<br />

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161


Eberhard, V.; Krewerth, A.; Ulrich, J. G. (Hrsg.) (2006): Mangelware Lehrstelle. Zur<br />

aktuellen Lage der Ausbildungsplatzbewerber in Deutschland. Bielefeld.<br />

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2009 in Bonn). Bonn.<br />

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164


10.01.2013 ‐ Aktuelle Problemfelder der Berufsbildung in Deutschland


Aktuelle Problemfelder der Berufsbildung in<br />

Deutschland<br />

Sirikit Krone<br />

Das Berufsbildungssystem in Deutschland befindet sich in einem umfassenden<br />

Wandel; neue Entwicklungen und Anforderungen kennzeichnen die aktuelle<br />

Lage. Die zentralen Problemfelder der beruflichen Bildung sollen in diesem<br />

Beitrag dargelegt werden.<br />

1 Mangelnde Versorgung mit Ausbildungsplätzen<br />

Allen voran und in der tagespolitischen Debatte immer wieder thematisiert ist<br />

das seit Jahren bestehende Defizit an Ausbildungsplätzen zur Versorgung aller<br />

Jugendlichen, die eine Ausbildung im dualen System anstreben. Auch wenn sich<br />

die Lage im Jahr 2008 etwas entspannt <strong>hat</strong>, bleibt eine Unterversorgung bestehen.<br />

Zudem ist davon auszugehen, dass diese Erholung lediglich temporär ist<br />

und die aktuelle Wirtschaftskrise sich ähnlich negativ wie im Beschäftigungssystem<br />

insgesamt, zeitverzögert ebenfalls auf den Ausbildungsmarkt auswirken<br />

wird und mit einem Rückgang des Ausbildungsplatzangebots ab 2009 zu rechnen<br />

ist (vgl. BMBF 2009; Seibert/Kleinert 2009).<br />

Im Ausbildungsjahr 2008 wurden bis zum 30. September bundesweit<br />

616.259 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen (vgl. diese und die folgenden<br />

Zahlen aus: BMBF 2009). Dies bedeutet zwar im Vergleich zum Vorjahr einen<br />

Rückgang von 1,5 %, allerdings setzt sich damit trotzdem der seit 2006 anhaltende<br />

positive Trend bei der Versorgung der ausbildungsinteressierten Jugendlichen<br />

fort. Grund dafür ist der im vergangenen Jahr erstmals deutliche Rückgang<br />

der Anzahl junger Menschen, die einen Ausbildungsplatz nachfragten. Demografie<br />

bedingt ist die Gruppe der Schulabgängerinnen/Schulabgänger kleiner geworden<br />

und damit der rein rechnerische Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage<br />

zum ersten Mal seit Jahren hergestellt (vgl. Abb. 1).<br />

19


Abbildung 1: Gemeldete Bewerberinnen/Bewerber und neu abgeschlossene<br />

Ausbildungsverträge<br />

Quelle: BIBB 2009<br />

Trotz dieses positiven Trends kann noch lange keine Entwarnung am Ausbildungsmarkt<br />

gegeben werden. Zunächst geben die Daten insofern ein verzerrtes<br />

Bild der Realität wieder, als bei den Ausbildungsplatznachfragern nur diejenigen<br />

gezählt werden, die sich bei der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> suchend gemeldet<br />

haben und von dieser auch als ausbildungsreif eingestuft wurden. Insofern ist<br />

davon auszugehen, dass die Gruppe der Jugendlichen, die eine Ausbildung im<br />

dualen System beginnen möchten, deutlich größer ist. Nicht alle Schulabgängerinnen/Schulabgänger<br />

versuchen den Einstieg in die Ausbildung mit Einschaltung<br />

der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong>. Hinzu kommen die Jugendlichen, die zunächst<br />

in Maßnahmen eingegliedert werden, um eine mangelhaft erscheinende<br />

Ausbildungsreife nachträglich herzustellen. Rechnet man diese Jugendlichen,<br />

deren Einstieg in eine Ausbildung gescheitert ist, die jedoch ihren Wunsch aufrechterhalten,<br />

obwohl sie zunächst in die angebotene Maßnahme der Bundesagentur<br />

für <strong>Arbeit</strong> einsteigen, so zeigt sich ein Ausbildungsplatzdefizit zwischen<br />

20


2005 und 2007 von konstant etwa 13 % (Autorengruppe Bildungsberichterstattung<br />

2008; 101) Vergleicht man die beruflichen Pläne der Schulabgängerinnen/Schulabgänger<br />

im Frühling eines Jahres mit den im Herbst desselben Jahres<br />

realisierten Bildungs- und Berufswegen, so wird auch hier der signifikante Mangel<br />

an Ausbildungsplätzen im dualen Ausbildungssystem deutlich.<br />

Abbildung 2: Geplante versus realisierte Ausbildungen im dualen System<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Quelle: BIBB 2009<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Betrachten wir das Jahr 2008, in welchem der Ausbildungsmarkt als rechnerisch<br />

ausgeglichen galt, zeigt sich, dass mit 56 % mehr als die Hälfte der Schulabgängerinnen/Schulabgänger<br />

im Frühjahr eine betriebliche Ausbildung im dualen<br />

System favorisierte. Realisieren konnten diese Pläne lediglich 30 % aller Schulabgängerinnen/Schulabgänger,<br />

d.h. nur gut die Hälfte derjenigen, deren Ziel es<br />

ursprünglich war. Die anderen sind gezwungen, (zunächst) in Alternativen, wie<br />

z.B. Maßnahmen der beruflichen Grundbildung, auszuweichen. Befragungsergebnisse<br />

unter Vollzeitschülerinnen/Vollzeitschülern an Berufskollegs zeigen,<br />

dass insbesondere Teilnehmerinnen/Teilnehmer der ein- und zweijährigen Ausbildungen<br />

an Berufsfachschulen sowie des Berufsgrundschuljahres vor ihrem<br />

Bildungsgangbeginn erfolglos auf Ausbildungsplatzsuche waren. (Harney/ Hartkopf<br />

2008; 16 f.)<br />

21


Die (ausreichende) Versorgung mit Ausbildungsplätzen ist regional höchst<br />

ungleich verteilt. Ein ausgeglichenes Nachfrage-Angebots-Verhältnis ist am<br />

ehesten in großstädtischen Zentren Westdeutschlands mit günstiger <strong>Arbeit</strong>smarktlage<br />

und hoher Dynamik anzutreffen. Am anderen Ende der Skala finden<br />

sich ebenfalls großstädtisch geprägte Regionen in Westdeutschland, allerdings<br />

solche mit einer hohen <strong>Arbeit</strong>slosigkeit, sowie alle Regionen Ostdeutschlands.<br />

Gerade in den neuen Ländern ist die Situation für die Jugendlichen eher kritisch,<br />

was zu vielen Abwanderungen insbesondere der jungen Menschen mit einem<br />

qualifizierten Schulabschluss führt.<br />

Profitieren von der oben skizzierten positiven Entwicklung des Ausbildungsstellenmarktes<br />

können insbesondere Mädchen, die verstärkt im prosperierenden<br />

tertiären Sektor suchen, Jugendliche ohne Migrationshintergrund sowie<br />

solche mit einem qualifizierten Schulabschluss. Daraus folgt umgekehrt, dass<br />

hier der größte Handlungsbedarf liegt: Die Anzahl derjenigen Jugendlichen,<br />

welche die Schule ohne Abschluss verlassen, muss dringend gesenkt werden, um<br />

ihnen eine realistische Chance am Ausbildungsmarkt zu eröffnen. Der Übergang<br />

in ein Ausbildungsverhältnis gelingt immerhin 30 % derjenigen, die mindestens<br />

einen Hauptschulabschluss haben, mit einem mittleren bzw. höheren Abschluss<br />

liegt die Übergangsquote bei 50 % (BIBB 2009, 91). Inwiefern der Demografie<br />

bedingte zukünftige Mangel an Fachkräften sich zugunsten der benachteiligten<br />

Gruppen bei der Ausbildungsplatzsuche auswirken wird, ist offen und von einer<br />

Reihe an Faktoren abhängig, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird.<br />

Das jahrelange Missverhältnis von Angebot und Nachfrage am Ausbildungsmarkt<br />

zu Ungunsten der ausbildungsplatzsuchenden Jugendlichen <strong>hat</strong> dazu<br />

geführt, dass die Zahl der so genannten Altbewerberinnen/Altbewerber kontinuierlich<br />

angewachsen ist. Im Jahr 2008 stellte diese Gruppe bereits 52,4 % aller<br />

registrierten Bewerberinnen/Bewerber (BMBF 2009, 19). Diese jungen Menschen<br />

werden zunächst in alternativen Ausbildungs- und Qualifizierungswegen<br />

versorgt, halten jedoch an ihrem eigentlichen Wunsch einer betrieblichen Ausbildung<br />

fest und bewerben sich immer wieder.<br />

Damit reicht es nicht, die Zahl der Schulabgängerinnen/Schulabgänger zu<br />

errechnen, wenn es darum geht, den zukünftigen Bedarf an Ausbildungsplätzen<br />

zu prognostizieren. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass es noch<br />

einige Jahre dauern wird, bis die „Bugwelle“ der Altbewerberinnen/Altbewerber<br />

abgearbeitet sein wird. Hierzu bedarf es, neben den Maßnahmen, die staatlicherseits<br />

ergriffen wurden 1 , auch einer deutlichen Zunahme der zur Verfügung gestellten<br />

Ausbildungsplätze.<br />

1<br />

Vgl. z.B. die Einführung des Ausbildungsbonus zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze für<br />

Altbewerberinnen und Altbewerber.<br />

22


Inwieweit die Unternehmen angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise diesem<br />

Bedarf gerecht werden, ist schwierig zu prognostizieren. Schätzungen des<br />

Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) gingen für das Ausbildungsjahr<br />

2009/10 davon aus, dass das Angebot an Ausbildungsstellen zwischen 580.000<br />

und 600.000 liegen würde. Diese Prognosen haben sich jedoch nicht bestätigt:<br />

Bis August 2009 wurden 436.200 Ausbildungsplätze gemeldet, das sind 6,5 %<br />

weniger als im Vorjahr. Von den bis zum gleichen Zeitpunkt ca. 515.000 Bewerberinnen/Bewerbern<br />

waren noch knapp 100.000 nicht versorgt. Sicher ist das<br />

Ausbildungsverhalten der Betriebe auch davon abhängig, inwieweit sich der<br />

Fachkräftemangel für die Unternehmen bereits abzeichnet und entscheidungsrelevant<br />

wird. Dieser Zusammenhang wird weiter unten noch ausgeführt.<br />

2 Das Übergangssystem<br />

Wie bereits oben angesprochen, stellt bei den Bewerberinnen/Bewerbern um<br />

einen Ausbildungsplatz die Gruppe der so genannten Altbewerberinnen/Altbewerber<br />

bereits gut die Hälfte. Es gelingt vielen der Übergang in ein Ausbildungsverhältnis<br />

nicht beim ersten Anlauf und so tauchen sie mindestens ein<br />

zweites Mal, oft sogar mehrere Jahre hintereinander wieder in der Gruppe derjenigen<br />

auf, die zum neuen Ausbildungsjahr einen Ausbildungsplatz nachfragen.<br />

Da es der erklärte politische Wille ist, allen Jugendlichen trotzdem ein Angebot<br />

zu machen und sie zunächst anderweitig zu versorgen, <strong>hat</strong> sich in den vergangenen<br />

Jahren ein auf hohem quantitativen Niveau stetig wachsendes, so genanntes<br />

„Übergangssystem“ entwickelt.<br />

Was der Name zunächst vermuten lässt, nämlich dass es sich um ein System<br />

mit strukturierten Wegen für Schulabgängerinnen/Schulabgänger in den Ausbildungsmarkt<br />

handelt, ist nicht der Fall. Vielmehr sammeln sich hier eine Vielzahl<br />

an schulischen Bildungswegen und Maßnahmen, die bezüglich der Voraussetzungen,<br />

der Inhalte sowie der Abschlüsse sehr unterschiedlich angelegt sind.<br />

Gemeinsam ist ihnen eigentlich nur der Tatbestand, dass sie alle nicht zu einem<br />

anerkannten beruflichen Abschluss führen. Neben berufsfachschulischen Bildungsgängen<br />

gibt es eine Vielzahl an kompensatorischen ganztägigen berufsvorbereitenden<br />

Bildungsangeboten, und Berufsschulen erhalten damit immer mehr<br />

an der Schnittstelle des Übergangs von der allgemeinbildenden Schule in die<br />

Berufsbildung eine „Weichen- und Orientierungsfunktion“.<br />

Allerdings nutzt ein großer Anteil der Schülerinnen/Schüler, die das Schulberufssystem<br />

als Übergang besuchen, das für sie häufig intransparente Bildungsangebot<br />

dort nicht für eine gezielte Berufs- und Karriereplanung. Im Vordergrund<br />

stehen vielmehr die allgemeinen Erwartungen der Jugendlichen und ihrer<br />

23


Familien, durch denn<br />

Besuch der unterschiedlichen Bildungsgänge grundsätzlich<br />

die eigenen Ausbilduungs-<br />

bzw. Studienchancen zu verbessern.<br />

Die Zahl der Schulabgänger,<br />

die ein schulisches Berufsvorbereitunggs-<br />

oder<br />

Berufsgrundbildungsjahr<br />

beginnen, sich zum Besuch einer teilqualifizieerenden<br />

Berufsfachschule enntschließen<br />

oder in berufsvorbereitende Maßnahmeen<br />

bzw.<br />

eine Einstiegsqualifi fizierung einmünden, <strong>hat</strong> sich in den vergangenen 155<br />

Jahren<br />

etwa verdoppelt.<br />

Abbildung 3: Eintrritte<br />

in Bildungsgänge/Maßnahmen<br />

Quelle: BIBB 2009<br />

Die Zahl der Eintrittte<br />

in Bildungsgänge, die eine berufliche Grundbilduung<br />

ver-<br />

mitteln, ist in besoonderem<br />

Maße gestiegen. So ist die Zahl der Schhülerin<br />

nen/Schüler im Beruufsvorbereitungsjahr<br />

von 1992 bis zum Jahr 2007 um nahezu<br />

70 % gestiegen. Diee<br />

Zahl der Schülerinnen/Schüler im Berufsgrundschulljahr<br />

ist<br />

im gleichen Zeitrauum<br />

um knapp 47 % angestiegen. Die Zahl der Schhülerin-<br />

nen/Schüler im ersteen<br />

Schuljahr in Bildungsgängen, die eine berufliche Grund-<br />

bildung vermitteln, h<strong>hat</strong><br />

sich zwischen 1992 und 2007 sogar um über 70 % erhöht.<br />

Ziel dieser Bildungsgänge<br />

sowie auch der Einstiegsqualifizierung, welcche<br />

seit<br />

2004 angeboten wirrd,<br />

ist die Verbesserung der individuellen Kompetenzen<br />

der<br />

Jugendlichen, um ihhre<br />

Chancen zu erweitern, eine berufliche Ausbildunng<br />

oder<br />

eine Berufstätigkeitt<br />

aufzunehmen. Hierzu zählen Elemente der Allgemmeinbil-<br />

24


dung, wie z.B. nach Nachholen von Schulabschlüssen, Maßnahmen zur Berufsvorbereitung<br />

und beruflichen Orientierung sowie allgemein zur Steigerung der<br />

Motivation.<br />

Die Vielfalt der angebotenen Maßnahmen sowie der Träger und Bildungseinrichtungen,<br />

welche diese anbieten, ist jedoch durchaus kritisch zu beurteilen.<br />

Gerade für markt- und bildungsbenachteiligte Jugendliche als zentrale Zielgruppe<br />

schafft diese Vielfalt häufig eher Verwirrung denn Orientierung. Zudem fehlen<br />

strukturierte Wege aus dem Übergangssystem wieder hinaus, was aus dem<br />

zunächst angedachten Übergang für viele Betroffene zu langen Warteschleifen<br />

führt.<br />

Daraus resultieren nicht nur Nachteile und Risiken für die individuellen Lebensläufe<br />

der Betroffenen, sondern auch hohe gesellschaftliche Kosten (vgl.<br />

Bertelsmann Stiftung 2009). Menschen ohne schulische bzw. berufliche Abschlüsse<br />

sind häufiger von <strong>Arbeit</strong>slosigkeit bedroht und erhalten demnach häufiger<br />

staatliche Transferleistungen. Spätere Interventionen in Form von Nachqualifizierungen<br />

und öffentlich geförderten Programmen, sofern sie überhaupt wahrgenommen<br />

werden, sind in der Regel teuer und relativ wirkungsarm.<br />

Das Übergangssystem ist deshalb in den vergangenen Jahren verstärkt in die<br />

Kritik geraten 2 , wobei nicht die eigentliche Existenz eines solchen Systems kritisch<br />

zu beurteilen ist, wenn es dazu dient, wirklich Übergänge zu schaffen. Das<br />

Gegenteil ist jedoch häufig der Fall, da dieses System mit der Aufnahme eines<br />

großen Teils gering qualifizierter Schulabgänger auf Dauer überfordert ist. Tatsächlich<br />

höhere Übergangsraten in eine qualifizierende Berufsausbildung, wie<br />

z.B. bei der 2004 eingeführten Einstiegsqualifizierung 3 , gehen darüber hinaus zu<br />

Lasten der neuen Schulabgänger, da das Ausbildungsangebot bereits seit Jahren<br />

unter der Nachfrage der Jugendlichen liegt und damit Teile des neuen Schulabgängerjahrgangs<br />

wiederum in das Übergangssystem abgedrängt werden.<br />

Mangelnde Transparenz und Übersichtlichkeit der Maßnahmen im Übergangssystem<br />

behindern zudem eine entsprechende Beurteilung der Lernprozesse,<br />

die in ihnen ablaufen. Insofern bleiben lediglich outputorientierte Kennzahlen<br />

zur Bewertung und eine kritische inhaltliche Analyse, die zu einer höheren Effektivität<br />

im arbeitsmarktpolitischen Interesse sowie dem der Teilnehmerinnen/Teilnehmer<br />

führen könnte, ist so kaum möglich. Diese Kennzahlen des Outputs<br />

lassen jedoch einen positiven Effekt der Maßnahmen des Übergangssystems<br />

vermuten. Befinden sich im dritten Monat nach Schulende 24 % im Übergangssystem<br />

und demgegenüber 51 % in einer voll qualifizierenden Berufsausbildung<br />

2 Vgl. z.B. Euler/Severing 2006; Baethge, M. et al. 2007<br />

3 In 2004, dem Jahr der Einführung von Einstiegsqualifizierungen, wurden 7.200 Jugendliche gefördert.<br />

Nach einem vorläufigen Höhepunkt im Jahr 2006 mit 18.924 Förderfällen, lag der aktuelle Wert<br />

in 2009 bei 16.300 (vgl. www.arbeitsagentur.de).<br />

25


(einschließlich Studium), so ist die Gruppe derjenigen in Berufsausbildung nach<br />

einem Jahr auf 69 % und nach zwei Jahren auf 73 % angestiegen. Der Anteil<br />

derjenigen, die im Übergangssystem verbleiben, sinkt im gleichen Zeitraum auf<br />

13 % bzw. 7 % (vgl. Beicht et al. 2008, 136 ff.)<br />

Abbildung 4: Verteilung der Jugendlichen nach Beendigung der<br />

allgemeinbildenden Schule (ausgewählte Bereiche)<br />

Quelle: Beicht et al. 2008: 136 ff.<br />

Diese Vermutung wird bestätigt durch Aussagen der Jugendlichen, die an Maßnahmen<br />

teilgenommen haben: Laut der in 2008 veröffentlichten BIBB-<br />

Übergangsstudie gab die überwiegende Mehrheit der befragten Jugendlichen<br />

eine positive Bewertung der Übergangsmaßnahmen bezüglich des fachlichen<br />

Nutzens, der Freude an der Teilnahme sowie des Nutzens für die persönliche<br />

Entwicklung und des weiteren beruflichen Werdegangs (vgl. Beicht et al. 2008,<br />

283). Vergleicht man den Erfolg anhand der Output-Kriterien zum weiteren<br />

Verbleib der Jugendlichen, so zeigt sich, dass etwa der Hälfte der Absolventen<br />

des Übergangssystems der Einstieg in eine betriebliche oder sonstige Berufsausbildung<br />

(inklusive Studium) gelingt, dies bereits innerhalb von drei Monaten<br />

nach Beendigung der Maßnahme. Im weiteren Verlauf steigt dieser Anteil nur<br />

minimal, das heißt,. dass der Übergang möglichst reibungslos und ohne großen<br />

26


Zeitverlust realisiert werden muss, da die Chancen kontinuierlich sinken. (vgl.<br />

Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008, 167).<br />

Um das Übergangssystem insgesamt effektiver zu gestalten, den Verbleib<br />

möglichst kurz und den Übergang in eine Berufsausbildung für alle Jugendlichen,<br />

die dies anstreben, zu realisieren, sind neben den oben bereits angesprochenen<br />

quantitativen Problemen (zu wenig Ausbildungsplätze) auch eine Reihe<br />

struktureller Probleme zu lösen. Die Vielfalt der Träger sowie die daraus resultierende<br />

Vielfalt der Inhalte sind zu reduzieren und auf die Ausbildungsinhalte<br />

der betrieblichen bzw. vollzeitschulischen Ausbildung zu beziehen.<br />

Die damit hergestellte Transparenz schafft zum einen die nötige Orientierung<br />

für die Teilnehmerinnen/Teilnehmer der Maßnahmen zur sinnvollen Planung<br />

ihrer beruflichen <strong>Zukunft</strong>. Zum anderen ermöglicht die Systematisierung<br />

des Angebots eine effektivere Gestaltung der Übergänge zwischen Maßnahmen<br />

und Ausbildung, um die vielfach geforderten Brücken zwischen den Systemen<br />

wirklich zu bauen. Zentral sind die effiziente Gestaltung der Schnittstellen sowie<br />

die Vermeidung von Warteschleifen und Verdoppelungen von Zwischenschritten<br />

auf dem Weg in das berufliche Ausbildungssystem. Inwieweit hierbei die Zertifizierung<br />

von Teilqualifikationen, ihre Anrechenbarkeit auf eine voll qualifizierende<br />

Ausbildung zielführend wäre, ist bisher empirisch nicht hinreichend geklärt.<br />

3 Fachkräftemangel<br />

Im scheinbaren Widerspruch zum oben dargelegten Mangel an Ausbildungsplätzen<br />

für junge Menschen und damit verbunden einer Vielzahl an Ausweichstrategien<br />

im Übergangssystem steht ein in Deutschland zunehmender Fachkräftemangel<br />

in einer Reihe von Branchen. Dieser drohende oder bereits manifeste<br />

Mangel an qualifiziertem Personal zeichnet sich bereits seit mehreren Jahren ab.<br />

Damit ist die Frage nach dem gesamtgesellschaftlichen sowie branchenspezifischen<br />

Fachkräftemangel immer mehr in den Fokus der aktuellen wirtschafts- und<br />

arbeitsmarktpolitischen Debatte Deutschlands gerückt. In Verbindung mit der<br />

hier relevanten Thematik der Entwicklung des Berufsbildungssystems ist von<br />

besonderem Interesse, in welchem Zusammenhang der Ausbildungsmarkt und<br />

das Fachkräftepotenzial stehen und inwiefern der Ausbau des Ausbildungssystems<br />

dazu beitragen kann, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken bzw. diesem<br />

im Vorfeld bereits zu begegnen.<br />

Eine wesentliche Ursache des Fachkräftemangels liegt sicherlich im demografischen<br />

Wandel. So ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten<br />

im Jahr 2009 nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes um 213.000<br />

27


im Vergleich zum Vorjahr gesunken (Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong>, 2010). Um das<br />

aktuelle Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Gesamtbevölkerung auch im<br />

Jahre 2050 zu halten, müsste eine Erwerbstätigenquote von 90 % erreicht werden,<br />

was sicherlich unrealistisch ist. Insofern sind vielmehr Bedingungen herzustellen,<br />

unter denen eine deutlich höhere Wertschöpfung erzielt wird mit in <strong>Zukunft</strong><br />

besser ausgebildeten Erwerbstätigen. Mittelfristige Prognosen sagen einen<br />

Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials bis zum Jahr 2020 voraus, trotz angenommener<br />

Zuwanderung aus dem Ausland von 100.000 Erwerbspersonen jährlich,<br />

um ca. 6 % innerhalb von 15 Jahren (Fuchs/Söhnlein 2007).<br />

Der aus Mangel an Fachkräften resultierende Wertschöpfungsverlust betrug<br />

nach einer Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie<br />

allein im Jahr 2006 ca. 18,5 Milliarden €; nach Berechnungen der DIHK<br />

im Jahr 2007 ca. 23 Milliarden € (vgl. BMWi Pressemitteilung vom 29.04.2008).<br />

Zunehmend mangelt es an qualifizierten <strong>Arbeit</strong>skräften insbesondere in den<br />

naturwissenschaftlichen und technischen Bereichen, nach einer aktuellen Studie<br />

im Auftrag des Vereins Deutscher Ingenieure lag der durchschnittliche Ingenieurbedarf<br />

im Jahre 2008 bei 87.500 (vgl. Verein Deutscher Ingenieure /Institut<br />

der deutschen Wirtschaft (Hrsg.) 2009). Das Institut der deutschen Wirtschaft<br />

beziffert die so genannte MINT-Fachkräftelücke (Differenz zwischen Fachkräfteangebot<br />

und -nachfrage in den vier MINT-Berufen Ingenieure, Techniker,<br />

Naturwissenschaftler und Datenverarbeitungsfachleuten) bundesweit für das Jahr<br />

2008 auf 144.000 Personen, im Juni 2009 nach Einsetzen der Wirtschaftkrise<br />

immerhin noch auf 61.000 Personen (vgl. Institut der deutschen Wirtschaft<br />

2009).<br />

Die Schwerpunkte der <strong>Arbeit</strong>skräftenachfrage sowie deren Entwicklung in<br />

den letzten Jahren zeigen die Zahlen der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> zu den bei<br />

ihnen bekannten Stellen bzw. zu den über sie gesuchten <strong>Arbeit</strong>skräften. Ein hoher<br />

Fachkräftebedarf mit zunehmender Tendenz ist insbesondere im Gesundheits-<br />

und Sozialwesen zu verzeichnen. 14 % der im August 2009 bei der Bundesagentur<br />

für <strong>Arbeit</strong> gemeldeten, ungeförderten Stellen fielen in dieses Branchensegment<br />

(TOP TEN August 2009). 4 Wie die Zahlen zeigen, droht der Fachkräftemangel<br />

nicht nur für Berufe in der IT-Branche oder in den neuen Medien.<br />

Dies gilt vielmehr für Berufsbilder in einer Vielzahl an Branchen. Die Mehrzahl<br />

der Unternehmen, insbesondere kleine und mittelständische sind nicht entsprechend<br />

darauf vorbereitet. Eine eher kurzfristige Personalplanung schiebt diese<br />

Problematik zunächst auf bzw. produziert sie teilweise selbst. So zeigt sich in<br />

einer Reihe von industriellen Berufen ein deutlicher Zusammenhang zwischen<br />

4 http://www.pub.arbeitsagentur.de/hst/services/statistik/interim/arbeitsmarktberichte/<br />

berichtebroschueren/stellenangebot/index.shtml<br />

28


einem reduzierten Angebot an Ausbildungsplätzen und einer steigenden Nachfrage<br />

an gut qualifiziertem Fachpersonal (vgl. Baethge u.a. 2007). Verbunden<br />

mit dem demografisch bedingten Rückgang des Angebots an ausgebildeten<br />

Fachkräften produzieren die Betriebe so ihren Fachkräftemangel auch selbst.<br />

Abbildung 5: Entwicklung von bei der BA gemeldeten Stellen<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

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<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Quelle: Statistik der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> 2009<br />

Allerdings ist die Problematik des drohenden Mangels an qualifiziertem Nachwuchs<br />

in vielen Betrieben durchaus präsent: So bezeichneten in einer Befragung<br />

von KMU im Jahre 2007 die Mehrzahl mit 79 % den Stellenwert des Fachkräftemangels<br />

im Bereich der KMU als ‚wichtig‘ bzw. sogar ‚sehr wichtig‘ (vgl. Huf<br />

2008). In mehreren Bereichen wurden Probleme bei Neueinstellungen benannt,<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Werbe-, Dienstleistungskaufleute<br />

Verkäufer, Warenkaufleute<br />

Elektriker<br />

Kellner, Gastwirte<br />

Bürofachkräfte<br />

Krankenschwestern, Sprechstundenhilfen, Masseure<br />

Altenpfleger, Sozialarbeiter, Erzieherinnen<br />

<br />

29


insbesondere in der Fertigung und Produktion (36 %) sowie in Forschung und<br />

Entwicklung (24 %). In derselben Befragung antworteten die Unternehmensvertreter<br />

auf die Frage nach Nichteinstellung von Bewerbern, dass diese nicht über<br />

ausreichende inhaltliche Kompetenzen verfügen (73 %) bzw. die formalen Anforderungen<br />

nicht erfüllen (64 %).<br />

Der Wandel im Beschäftigungssystem <strong>hat</strong> in den vergangenen Jahren zu einer<br />

deutlichen qualitativen Zunahme der Qualifikationsprofile geführt. Diese<br />

gestiegenen Anforderungen führen nicht nur zu Vakanzen im Beschäftigungssystem<br />

sondern bereits zu Nichtbesetzungen von Ausbildungsplätzen. Viele Unternehmen<br />

klagen über die mangelnde Qualifikation der Schulabgänger und lassen<br />

ihre Ausbildungsplätze lieber unbesetzt bzw. fahren die Ausbildungskapazitäten<br />

zurück. Der Trend zur Höherqualifizierung wird sich in den nächsten Jahren<br />

noch fortsetzen, sowohl der Bedarf an Hochschulabsolventen als auch an gut<br />

ausgebildeten Absolventen im dualen Berufsbildungssystem wird dementsprechend<br />

steigen. Veränderungen in den Branchen- und Unternehmensstrukturen<br />

mit einem steigenden Anteil wissensintensiver Dienstleistungen in den Bereichen<br />

Forschung und Innovation, Beratung und Lehre erzeugen einen zunehmenden<br />

Bedarf an gut qualifizierten Fachleuten (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung<br />

2008).<br />

Die vermeintlich mangelnden Qualifikationen der Schulabgänger stellen jedoch<br />

nicht alle relevanten Probleme dar, die eine adäquate Besetzung der Ausbildungsplätze<br />

in den Betrieben verhindern. Nach einer aktuellen Studie des<br />

Bundesinstituts für Berufsbildung zeigen sich in der Einstellungspraxis der Unternehmen<br />

einige Defizite, die ebenfalls als Ursachen für erfolglose Vermittlungsprozesse<br />

zwischen Ausbildungsplatzanbietern und Stellensuchenden wirken.<br />

Genannt werden in diesem Kontext vier systemische Ungleichgewichte:<br />

Qualifikationsmismatch, beruflicher Mismatch, Informationsmismatch und regionaler<br />

Mismatch (vgl. Gericke u.a. 2009).<br />

Laut einer Studie des Instituts für <strong>Arbeit</strong>s- und Berufsforschung (IAB) aus<br />

dem Jahre 2004 blieben insgesamt etwa 10 % der angebotenen Ausbildungsstellen<br />

unbesetzt (Bellmann u.a. 2005), insbesondere in kleineren Betrieben und<br />

Unternehmen. In einer vom BIBB durchgeführten Betriebsbefragung aus dem<br />

Jahr 2008 gaben sogar 14,7 % (2007) bzw. 14,8 % (2008) der ausbildungswilligen<br />

Betriebe an, dass sie ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen konnten (Bundesinstitut<br />

für Berufsbildung 2008), davon waren insbesondere mittlere Betriebe<br />

betroffen.<br />

Die beschriebenen Problemfelder zeigen implizit bereits die Handlungsfelder<br />

auf, zukünftigen Fachkräftebedarf zu decken und einem drohenden Mangel<br />

an qualifizierten <strong>Arbeit</strong>skräften vorzubeugen. Zentrale Handlungsträger werden<br />

hierbei sicher die Betriebe sein. Ihre Personalpolitik muss längerfristig angelegt<br />

30


sein und den Fachkräftebedarf auch in der Ausbildungspolitik berücksichtigen.<br />

Dabei reicht es nicht, die Zahl der Ausbildungsplätze zu erhöhen, auch die Besetzungspraxis<br />

muss die impliziten Matching-Probleme berücksichtigen und<br />

ihnen entgegenwirken. Öffentliche Förderprogramme wie Potenzial-, Demografie-<br />

und Ausbildungsförderungsprogramme können in diesem Kontext sehr hilfreich<br />

sein.<br />

4 Durchlässigkeit der Bildungssysteme<br />

Um dem prognostizierten Fachkräftemangel zu begegnen und sich den Anforderungen<br />

eines globalisierten Wettbewerbs erfolgreich stellen zu können, <strong>hat</strong> sich<br />

Deutschland das bildungspolitische Ziel einer Studienanfängerquote von 40 %<br />

gesetzt. Eine Reihe von Initiativen des Bundesministeriums für Bildung und<br />

Forschung (BMBF), wie zum Beispiel die Aufstiegsstipendien, das nationale<br />

Leistungspunktesystem DECVET oder der Hochschulpakt 2020 aus dem Jahr<br />

2007 unterstützen diese Entwicklung.<br />

Die Frage ist jedoch, ob Deutschland wirklich eine höhere Studierendenquote<br />

benötigt, was der direkte Vergleich mit dem Ausland durchaus nahe legt.<br />

Dieser Vergleich vernachlässigt allerdings, dass in Deutschland das System der<br />

dualen Berufsausbildung, welche den Jugendlichen eine qualifizierte Berufsausbildung<br />

auf hohem Niveau mit einer intensiven Anbindung an den <strong>Arbeit</strong>smarkt<br />

und einer hohen Betriebsnähe bietet, eine traditionelle Säule der beruflichen<br />

Bildung darstellt, in der jährlich rd. 50 % der Jugendlichen eines Altersjahrgangs<br />

nach dem Abschluss ihrer Schullaufbahn einmünden (vgl. BMBF 2009, 9). Die<br />

Dualität, welche die Kooperation der Lernorte Schule und Betrieb bzw. überbetriebliche<br />

Ausbildungsstätte umfasst, garantiert neben der fachtheoretischen<br />

Ausbildung einen berufspraktischen Schwerpunkt mit einer hohen Anwendungsnähe<br />

im Betrieb, die die Integrationskosten junger Menschen in die <strong>Arbeit</strong>s- und<br />

Berufswelt erheblich reduzieren. Hinzu kommt, dass viele der rd. 350 Berufsbilder<br />

des dualen Systems im Ausland im Rahmen eines Studiums vermittelt werden.<br />

Dieses gilt umso mehr für auf der dualen Berufsausbildung aufbauende<br />

Weiterbildungsqualifikationen zum Techniker, Meister bzw. Fach- oder Betriebswirt.<br />

Drohender Fachkräftemangel und steigender Bedarf an Hochqualifizierten<br />

sind also nicht nur eine Frage akademischer, sondern auch einer qualifizierten<br />

beruflichen Bildung. Allerdings sind die Teilsysteme der beruflichen Bildung<br />

bisher sehr stark voneinander getrennt und in der aktuellen Debatte zum Berufsbildungssystem<br />

in Deutschland wird immer wieder die Forderung nach mehr<br />

Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Säulen der Berufsbildung gestellt.<br />

31


Übergänge sollten offener und flexibler gestaltet sein, zwischen unterschiedlichen<br />

dualen Ausbildungsgängen, zwischen schulischer und dualer Berufsausbildung<br />

und vor allem zwischen dualer und Hochschulausbildung. Diese<br />

mangelnde Durchlässigkeit zeigt sich bereits in der allgemeinbildenden Schule,<br />

frühe Bildungsungleichheiten, welche das dreigliedrige Schulsystem produziert,<br />

werden selten und nur partiell nachträglich ausgeglichen. Häufiger bedeutet<br />

Durchlässigkeit zwischen den Schulformen lediglich einen Abstieg in eine niedrigere<br />

Schulform (Solga/Dombrowski 2009, 19) Zur Kompensation wenig erfolglos<br />

abgeschlossener Schullaufbahnen wurden verschiedene Maßnahmen und<br />

Bildungswege eingerichtet, in welchen der Hauptschulabschluss nachgeholt<br />

werden kann, um den Jugendlichen im Ausbildungsmarkt überhaupt eine reale<br />

Chance zu ermöglichen.<br />

Zentral ist die Frage der Durchlässigkeit zwischen den Bildungssektoren der<br />

beruflichen und akademischen Bildung. Die Anerkennung beruflicher Abschlüsse<br />

als Zugangsvoraussetzung zum Hochschulstudium ist zwar zwischenzeitlich<br />

vollzogen, allerdings wird sie wenig genutzt. Lediglich 1,9 % der Studienanfänger<br />

an Fachhochschulen kommen über die Qualifikation eines Meister- oder<br />

Technikerabschlusses an die Hochschule, ihr Anteil an Universitäten liegt sogar<br />

lediglich bei 0,6 % (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008, 194) Diese<br />

Übergänge und Bildungspfade zwischen den Sektoren des Bildungssystems sind<br />

weiter auszubauen. Anstatt berufliche Bildung zu akademisieren, gilt es, den<br />

Übergang von dualer Ausbildung über Fortbildung und Anerkennung beruflicher<br />

Qualifikationen auf ein (Fach)Hochschulstudium zu unterstützen.<br />

Hierzu sind aktuell einige Maßnahmen und Programme in der Berufsbildungspolitik<br />

auf den Weg gebracht worden. 5 Im Rahmen der Förderinitiative<br />

„Anrechnung beruflicher Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge“ (ANKOM)<br />

wird in elf regionalen Entwicklungsprojekten das Ziel verfolgt, den Hochschulzugang<br />

für erfolgreiche Absolventen des beruflichen Bildungssystems attraktiver<br />

sowie den Wechsel zwischen verschiedenen Bildungsbereichen transparenter<br />

und effektiver zu gestalten. An dem Modellvorhaben beteiligte Hochschulen<br />

haben Verfahren der Anrechnung beruflicher Kompetenzen eingeführt, wobei es<br />

sich dabei um sowohl innerhalb als auch außerhalb der Bildungsinstitutionen<br />

erworbene formale abschlussbezogene als auch nonformale, nicht zertifizierte<br />

Lernergebnisse handeln kann. Zugleich wurden in der Zusammenarbeit der beteiligten<br />

Akteure die Kommunikation und der Austausch zwischen den Teilbereichen<br />

des Bildungssystems gefördert.<br />

Einen Ausbau der Begabungsförderung in der beruflichen Bildung erfolgte<br />

mit dem Programm „Aufstiegsstipendien“. Hierdurch erhalten Menschen eine<br />

5 Vgl. ausführlich zu den Initiativen des BMBF: Berufsbildungsbericht 2009, 37 ff.<br />

32


finanzielle Förderung ihres Hochschulstudiums, die sich in Ausbildung und Beruf<br />

als besonders talentiert erwiesen haben. Zum Wintersemester 2008/09 eingeführt<br />

fand das Programm eine sehr rege Nachfrage, so dass die Förderzahlen in<br />

den nächsten Runden aufgestockt wurden. Die Aufstiegsstipendien sind für diejenigen<br />

Studierenden gedacht, welche die Möglichkeit des Hochschulzugangs<br />

ohne Abitur und stattdessen durch Ausbildung, Fortbildung und Berufspraxis<br />

nutzen. Das Studium kann in Vollzeit oder berufsbegleitend absolviert werden,<br />

eine Altersbegrenzung gibt es nicht. Damit wird eine sehr breite Gruppe erfolgreicher<br />

und bildungswilliger <strong>Arbeit</strong>nehmerinnen/<strong>Arbeit</strong>nehmer angesprochen<br />

und dabei unterstützt, ein Studium aufzunehmen.<br />

Im Kontext der Europäisierung des Bildungssystems 6 wird auch in Deutschland<br />

die Entwicklung eines nationalen Leistungspunktesystems für die berufliche<br />

Bildung (DECVET), orientiert am Europäischen Leistungspunktesystem<br />

(ECVET), diskutiert und es wurde hierzu eine Pilotinitiative im Jahre 2007 gestartet.<br />

In zehn Pilotprojekten werden Verfahren zur Erfassung, Anrechnung und<br />

Anerkennung von Lernergebnissen und Kompetenzen entwickelt. Ziel ist es, die<br />

Übergänge an den zahlreichen Schnittstellen des deutschen Berufsbildungssystems<br />

zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Damit sollen einmal erworbene Kenntnisse<br />

und Fähigkeiten in einen anderen Bildungsgang übernommen werden und<br />

die Durchlässigkeit und Mobilität an folgenden als zentral definierten vier<br />

Schnittstellen erhöht werden: zwischen Berufsausbildungsvorbereitung und dualer<br />

Ausbildung, zwischen unterschiedlichen Ausbildungsgängen, zwischen dualer<br />

und vollzeitschulischer Berufsausbildung sowie zwischen dualer Berufsausbildung<br />

und beruflicher Bildung.<br />

Die kurz skizzierten Programme und Initiativen geben Anhaltspunkte dafür,<br />

wie die Teilsysteme der beruflichen und akademischen Bildung durchlässiger<br />

gestaltet und Übergänge transparenter und effektiver gestaltet werden können.<br />

Mittelfristiges Ziel muss es jedoch sein, systematisch und flächendeckend eine<br />

Durchlässigkeit des deutschen Berufsbildungssystems zu entwickeln und in die<br />

Praxis umzusetzen.<br />

5 Europäisierung der Berufsbildung<br />

Die benannten neuen Anforderungen an eine erhöhte Durchlässigkeit verschiedener<br />

Bildungssysteme gehen maßgeblich auf Entwicklungen und neue Konzepte<br />

europäischer Bildungspolitik zurück. Es bilden sich neue Qualifizierungswege<br />

und Lernortkooperationen, welche ehemals getrennte Segmente miteinander<br />

6 Vgl. ausführlich hierzu die Ausführungen im nächsten Abschnitt.<br />

33


verbindet. Im Zuge des Kopenhagenprozesses werden u.a. die Steigerung der<br />

Humankapitalinvestitionen, die Reduzierung des Anteils junger Menschen ohne<br />

weiterführende Schul- oder Berufsausbildung sowie die Verbesserung der Mobilität<br />

und Transparenz der Befähigungsnachweise angestrebt.<br />

Von besonderer Bedeutung sind in diesem Prozess zwei der Instrumente für<br />

Zusammenarbeit und Vereinheitlichung der europäischen Berufsbildung: Das<br />

Europäische Kreditsystem für die berufliche Bildung ECVET und der Europäische<br />

Referenzrahmen für die Qualifikationsniveaus EQF, welche jeweils auf<br />

nationaler Ebene in allen Ländern konkretisiert wurden bzw. noch werden soll. 7<br />

Drei zentrale Funktionen werden mit den Instrumenten ECVET und EQF verfolgt.<br />

Erstens geht es um Transparenz der jeweils in den beteiligten Ländern<br />

produzierten Qualifikationen, um diese vergleichbar zu machen. Diese Lernergebnisse,<br />

welche auch lediglich Teile einer umfassenderen Qualifikation beinhalten<br />

können, sollen transferierbar sein. Dieser Transfer, als zweite Funktion, findet<br />

zwischen verschiedenen Bildungssegmenten statt oder entsprechend erworbene<br />

Kreditpunkte sind in einem anderen Mitgliedstaat auf dem weiteren Qualifikationsweg<br />

anrechenbar. Die Möglichkeiten, Teile der Ausbildung auch im<br />

Ausland zu absolvieren, ohne Unterbrechung oder Verluste, sollen damit optimiert<br />

werden. Drittens ist die Akkumulationsfunktion zu benennen. Ziel ist der<br />

Ausbau individualisierter Bildungsprozesse und Ausbildungswege in formellen<br />

wie informellen Lernkontexten. Das erworbene Wissen wird zeitlich und räumlich<br />

unabhängig und über einen nahezu beliebigen Zeitraum akkumuliert und zu<br />

zertifizierbaren Abschlüssen verwertet. Ausbildungs- und Weiterbildungsmodule,<br />

welche im europäischen Ausland erworben wurden, sollen so mühelos integriert<br />

werden und eine Vielzahl an unterschiedlichen Qualifikationsprofilen<br />

schrittweise erworben werden.<br />

Für deutsche Qualifikationsabschlüsse könnte die Nutzung des EQR sowie<br />

seine Umsetzung in einen Nationalen Qualifikationsrahmen zu grundlegenden<br />

Veränderungen im Berufsbildungssystem, insbesondere in Bezug auf die duale<br />

Ausbildung führen. Zur Herstellung der angestrebten Transparenz und insbesondere<br />

des Transfers von Lernergebnissen und um Qualifikationen innerhalb von<br />

individuell gestalteten Bildungsverläufen akkumulieren und auch länderübergreifend<br />

anerkennen zu können, ist eine Zergliederung der Berufsqualifikationen<br />

notwendige Voraussetzung. Diese Entwicklung wird sehr kontrovers diskutiert<br />

und von berufener Seite grundlegend kritisiert. Diese Kritiker sehen die prognostizierte<br />

Modularisierung der Ausbildung im Widerspruch zu dem in Deutschland<br />

auf dem Berufsprinzip basierenden dualen System, welches mittelfristig in Frage<br />

gestellt würde (vgl. z.B. Drexel 2008).<br />

7 Die Umsetzung in Deutschland ist bisher noch nicht abgeschlossen.<br />

34


Wie oben angesprochen, erweist sich jedoch gerade die duale Ausbildung<br />

als erfolgreicher Ausbildungspfad bezüglich der Übergänge in den <strong>Arbeit</strong>smarkt<br />

aufgrund einer hohen Betriebsnähe und Beruflichkeit. Das Potenzial des deutschen<br />

Berufsbildungssystems kann im internationalen Bildungsmarkt ausgebaut<br />

und gleichzeitig international anschlussfähig gemacht werden, wenn es sich auf<br />

seine Stärken besinnt. Die positiven Aspekte der Dualität in der Berufsbildung<br />

sollten weiter ausgebaut werden und auch auf den tertiären Bildungssektor übertragen<br />

werden. Der Ausbau des Angebots dualer Studiengänge weist da sicher in<br />

die richtige Richtung. Das in den letzten Jahren bundesweit rasant gestiegene<br />

Angebot (vgl. www.ausbildungsplus.de) stößt sowohl bei den Studienbewerberinnen/Studienbewerbern<br />

als auch bei kooperierenden Betrieben auf reges Interesse<br />

und eine hohe Nachfrage.<br />

6 Schlussbemerkung<br />

Die benannten Problemfelder zeigen den künftigen Handlungsbedarf für alle am<br />

Ausbildungsmarkt sowie in der Berufsbildung tätigen Akteure auf. Verbunden<br />

mit den Folgen des demografischen Wandels sowie den gestiegenen Anforderungen<br />

in einer Wissensgesellschaft wie der unsrigen wird der Bedarf an Unterstützungs-<br />

und Orientierungsmaßnahmen im System der Berufsbildung zunehmen.<br />

Nicht nur, dass die Zahl der Jugendlichen zukünftig abnehmen wird, auch<br />

die Voraussetzungen, welche diese aufgrund ihres sozialen, familiären und schulischen<br />

Hintergrundes mitbringen, werden sich weiter verändern und den direkten<br />

Zugang zum Ausbildungsmarkt und einer erfolgreichen Berufslaufbahn erschweren.<br />

Darauf wird sich eine zukunftsweisende Berufsbildungspolitik einzustellen<br />

haben und die Übergänge an der ersten und zweiten Schwelle entsprechend<br />

den Bedarfen der jungen Menschen zu gestalten haben.<br />

35


Literatur<br />

Bundesinstitut für Berufsbildung (2008): Ausbildungsstellenmarkt zwischen ungenutzten<br />

Ausbildungskapazitäten und steigendem Fachkräftebedarf. Kurzbericht zum BIBB-<br />

Ausbildungsmonitor I/2008 des Bundesinstituts für Berufsbildung in Kooperation<br />

mit TNS Infratest (Forschungsprojekt 2.1.202). Bonn.<br />

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2008): Bildung in Deutschland. Bielefeld.<br />

Baethge, M.; Solga, H.; Wieck, M. (2007): Berufsbildung im Umbruch. Studie im Auftrag<br />

der Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin.<br />

Beicht, U.; Friedrich, M.; Ulrich, J. G. (Hrsg.) (2008): Ausbildungschancen und Verbleib<br />

von Schulabsolventen. Bielefeld.<br />

BIBB (Hrsg.) (2009): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2009. Bonn.<br />

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2009): Berufsausbildung 2015 – Ein Leitbild. Bielefeld.<br />

Bellmann, L.; Hartung, S. (2005): Betriebliche Ausbildung – Zu wenig Stellen und doch<br />

sind nicht alle besetzt. IAB-Kurzbericht Nr. 27/2005. Nürnberg.<br />

BMBF (Hrsg.) (2009): Berufsbildungsbericht 2009. Bonn.<br />

Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> (2010): Der <strong>Arbeit</strong>s- und Ausbildungsmarkt in Deutschland –<br />

Monatsbericht Dezember und Jahr 2009. Nürnberg.<br />

Drexel, I. (2008): Berufsprinzip oder Modulprinzip? Zur künftigen Struktur beruflicher<br />

Bildung in Deutschland.. In: Verband für Lehrerinnen und Lehrer an Berufskollegs<br />

(Hrsg.): Berufskollegs stärken heißt die berufliche Bildung zu stärken. Krefeld.<br />

Euler, D.; Severing, E. (2006): Flexible Ausbildungswege in der Berufsausbildung. Bielefeld.<br />

Fuchs, J.; Söhnlein, D. (2007): Einflussfaktoren auf das Erwerbspersonenpotenzial. IAB-<br />

Discussion Paper No. 12/ 2007. Nürnberg.<br />

Gericke, N.; Krupp, T.; Troltsch, K. (2009): Unbesetzte Ausbildungsplätze – warum<br />

Betriebe erfolglos bleiben. BIBB-Report 10/2009. Bonn.<br />

Harney, K.; Hartkopf, E. (2008): Gruppierungsmerkmale und Einflussgrößen der Segmentation<br />

im beruflichen Schulsystem. FIAB-<strong>Arbeit</strong>spapier 12. Recklinghausen.<br />

Hug, M. (2008): Fachkräftemangel im Mittelstand. Haufe-Studienreihe. Freiburg.<br />

Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.) (2009): MINT-Meter – Mint-Lücke in Deutschland<br />

und Indikatoren im internationalen Vergleich. Köln.<br />

Seibert, H.; Kleinert, C. (2009): Ungelöste Probleme trotz Entspannung. IAB-Kurzbericht<br />

10/2009. Nürnberg.<br />

Solga, H.; Dombrowski, R. (2009): Soziale Ungleichheiten in schulischer und außerschulischer<br />

Bildung. HBS-<strong>Arbeit</strong>spapier 171. Düsseldorf.<br />

Statistik der Bundesagentur für <strong>Arbeit</strong> (2009): TOP TEN der gemeldeten Stellen nach<br />

Branchen und Berufen. www.arbeitsagentur.de<br />

Verein Deutscher Ingenieure; Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.) (2009): Ingenieurarbeitsmarkt<br />

2008/09 – Fachkräftelücke, Demografie und Ingenieure 50Plus. Köln.<br />

www.ausbildungplus.de<br />

36


17.01.2013 – wird noch bekanntgegeben


Textgrundlagen 24.01.-07.02.2013 gibt es nicht…<br />

Geschafft!


Ab hier ist nur noch Bonus….


Beilagezur Wochenzeitung<br />

24. Februar 2003<br />

AusPolitik<br />

und Zeitgeschichte<br />

3 Maria Thiele-Wittig<br />

Kompetent im Alltag:<br />

Bildung fçr Haushalt und Familie<br />

7 Michael-BurkhardPiorkowsky<br />

14 Lothar Krappmann<br />

Neue Hauswirtschaft fçr die postmoderne<br />

Gesellschaft<br />

Zum Wandel derÚkonomie des Alltags<br />

Kompetenzfærderung im Kindesalter<br />

20 Edda Mçller /HildegardMackert<br />

27 Dieter Korczak<br />

Bildung fçr Haushalt und Konsum<br />

als vorsorgender Verbraucherschutz<br />

Wassollen unsereKinder von uns lernen<br />

Neusser Thesen zur Bildungspolitik<br />

B9/2003


Herausgegeben von<br />

der Bundeszentrale<br />

fçr politische Bildung<br />

Berliner Freiheit 7<br />

53111 Bonn.<br />

Redaktion:<br />

Dr. Klaus W. Wippermann<br />

verantwortlich)<br />

Dr. Katharina Belwe<br />

Hans-Georg Golz<br />

Dr. Ludwig Watzal<br />

Hans G. Bauer<br />

Internet:<br />

www.das-parlament.de<br />

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Telefon 0 68 05) 61 54 39,<br />

Fax 0 68 05) 61 54 40,<br />

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Die Veræffentlichungen<br />

in der Beilage<br />

Aus Politik Politik und Zeitgeschichte<br />

stellen keine Meinungsåuûerung<br />

des Herausgebers dar;<br />

sie dienen lediglich der<br />

Unterrichtung und Urteilsbildung.<br />

Fçr Unterrichtszwecke dçrfen<br />

Kopien in Klassensatzstårke<br />

hergestellt werden.<br />

ISSN 0479-611 X<br />

Editorial<br />

n Die sozialen Sicherungssysteme,<br />

der <strong>Arbeit</strong>smarkt und die demokratischen<br />

Institutionen des<br />

politischen Systems verlieren<br />

zunehmend an Integrationskraft.<br />

Zugleich entlåsst der Sozialstaat<br />

seine Bçrgerinnen und Bçrger<br />

mehr und mehr in die Eigenverantwortung.<br />

Dabei bleibt unberçcksichtigt,<br />

dass diese nicht in<br />

ausreichendem Maûe çber die<br />

Kompetenzen verfçgen, die<br />

steigenden Anforderungen des<br />

Alltags zu bewåltigen. Die Autorinnen<br />

und Autoren dieser Ausgabe<br />

plådieren vor diesem Hintergrund<br />

fçr ¹aktivierende Gesellschaftspolitikª:<br />

Die Menschen sollen<br />

durch Bildung besser dazu befåhigt<br />

werden, nicht nur ihren eigenen<br />

Alltag selbst bestimmt zu gestalten,<br />

sondern sich konstruktiv in<br />

gesellschaftliche Verånderungsprozesse<br />

einzubringen.<br />

n Die in Haushalten und Familien ±<br />

auf der Mikroebene ± tagtåglich zu<br />

treffenden Entscheidungen haben<br />

Auswirkungen auf die gesellschaftliche<br />

Entwicklung. Die hier agierenden<br />

Menschen sollten deshalb, so<br />

Maria Thiele-Wittig, stårker als<br />

gesellschaftliche Akteure wahrgenommen<br />

werden. Die Autorin<br />

versteht die Herausbildung von<br />

Kompetenzen zur Bewåltigung der<br />

gewandelten Anforderungen ± der<br />

¹Neuen Hausarbeitª ± daher als<br />

eine wichtige gesellschaftliche<br />

Aufgabe.<br />

n Die sich wandelnde Úkonomie<br />

des Alltags ± die zunehmende<br />

ækonomische Verantwortung der<br />

Privathaushalte ± subsumiert<br />

Michael-Burkhard Piorkowsky<br />

unter den Begriff der ¹Neuen<br />

Hauswirtschaftª. Privathaushalte<br />

nåhmen durch Gçternachfrage<br />

und Haushaltsproduktion Einfluss<br />

auf die sozioækonomische Makrostruktur;<br />

jede Entscheidung fçr<br />

eine einzelne Ausgabe oder Vermægensanlage<br />

sei immer zugleich<br />

eine Entscheidung gegen eine<br />

andere Verwendung und tangiere<br />

damit das ækonomische Gesamtsystem.<br />

Die Voraussetzung dafçr,<br />

dass Privathaushalte ihre Aufgaben<br />

als Akteure in Wirtschaft und<br />

Gesellschaft kompetent erfçllen<br />

kænnen, sieht Piorkowsky in einer<br />

grundlegenden Verbesserung des<br />

dafçr notwendigen Orientierungswissens:<br />

Der Autor fordert eine<br />

angemessene Thematisierung der<br />

Hauswirtschaft in ihrer Bedeutung<br />

fçr die Einzelnen und die Gesellschaft<br />

an den Schulen.<br />

n Lothar Krappmann geht noch<br />

einen Schritt weiter und plådiert<br />

dafçr, Alltagskompetenzen bereits<br />

im Kindesalter zu færdern. Nicht<br />

mangelnde Allgemeinbildung,<br />

etwa das fehlende Abitur, sei die<br />

Ursache fçr das Versagen vieler<br />

Menschen bei der Bewåltigung<br />

ihres Alltags. Vielmehr seien diese<br />

unfåhig, auf die Anforderungen<br />

und Verånderungen ihrer Lebenswelt<br />

angemessen zu reagieren. Es<br />

komme daher darauf an, die<br />

Familien bzw. die Haushalte durch<br />

die Vermittlung entsprechender<br />

Kompetenzen zu unterstçtzen. In<br />

diese Richtung zielt auch Dieter<br />

Korczak, der Thesen einer interdisziplinåren<br />

Studiengesellschaft<br />

zur Bildungspolitik einer zukunftsfåhigen<br />

Gesellschaft pråsentiert<br />

und kommentiert.<br />

n<br />

Nur informierte Verbraucherinnen<br />

und Verbraucher sind fåhig,<br />

ihre Rolle als Konsumenten aktiv<br />

und verantwortlich wahrzunehmen<br />

und damit sich selbst und die<br />

Gesellschaft vor den negativen<br />

Auswirkungen des Konsums zu<br />

schçtzen. Edda Mçller und<br />

Hildegard Mackert setzen sich<br />

vehement dafçr ein, Wissensvermittlung<br />

besser an der Erfahrungswelt<br />

der Schçlerinnen und Schçler<br />

sowie an ihren kçnftigen Aufgaben<br />

als Konsumenten, Familiengrçnder<br />

und Verantwortliche fçr ihren<br />

privaten Haushalt und die<br />

Gestaltung ihres Lebensalltags zu<br />

orientieren.<br />

Katharina Belwe


Maria Thiele-Wittig<br />

Kompetent im Alltag: Bildung fçr Haushalt<br />

und Familie<br />

Haushalte und Familien stellen grundlegende<br />

Lebens- und Handlungsbereiche der Gesellschaft<br />

dar. Die Menschen sind auf der Ebene der privaten<br />

Haushalte zugleich Akteure und Leistungstråger<br />

der Gesellschaft in ihren vielfåltigen Wechselbeziehungen.<br />

Der Wandel der Lebensbedingungen, sowohl im<br />

Kontext der Globalisierung als auch im Hinblick<br />

auf die Informations- und Wissensgesellschaft,<br />

geht mit neuen Herausforderungen fçr die Haushalts-<br />

und Lebensfçhrung einher. Alltagsbewåltigung,<br />

Lebensgestaltung und private Daseinsvorsorge<br />

werden komplexer und differenzierter.<br />

Orientierungs-, Auswahl- und Entscheidungsprobleme<br />

sowie der Umgang mit Risiken im schnellen<br />

Wandel sind die Folge. Die Notwendigkeit von<br />

Abstimmungs- und Aushandlungsprozessen fçr<br />

das alltågliche Zusammenleben nimmt zu. Es<br />

ergibt sich die Frage, wie die Menschen ausgerçstet<br />

sind bzw. werden, um kompetent mit dem<br />

Wandel umgehen zu kænnen. Wenn etwa Ûberschuldungsprobleme,<br />

Probleme der Beziehungsfåhigkeit,<br />

Suchtanfålligkeit oder Fehlernåhrung<br />

zunehmen, gerade auch bei Jugendlichen, werden<br />

Probleme der Bewåltigung der Herausforderungen<br />

offenbar, die sowohl die Betroffenen als auch die<br />

Gesellschaft belasten.<br />

Immer stårker geforderte Eigenverantwortlichkeit<br />

fçr die eigene Lebensgestaltung und deren Folgen,<br />

in Verbindung mit hæherer Lebenserwartung, låsst<br />

die Frage der Qualifizierung fçr die Herausforderungen<br />

des Wandels der Lebensbedingungen bzw.<br />

nach den Kompetenzen fçr die erweiterten Aufgaben<br />

der privaten Daseinsgestaltung dringlicher<br />

werden. Aktivierende Gesellschaftspolitik ist gefordert.<br />

Fragen der Alltags- und Lebensbewåltigung<br />

gewinnen auch eine neue Aktualitåt angesichts der<br />

gestiegenen Teilnahme von Frauen am Erwerbsleben.<br />

Das macht die Reflexion der Zusammenhånge<br />

zwischen ¹privatª und ¹æffentlichª und der<br />

Balance von <strong>Arbeit</strong> und Leben bzw. Erwerbsarbeit<br />

und Familienarbeit erforderlich. Die stårkere Einbindung<br />

der Frauen in den Erwerbsbereich reduziert<br />

ihre <strong>Arbeit</strong>skapazitåt fçr unbezahlte <strong>Arbeit</strong><br />

in Haushalt und Familie und erhæht deren Einkommen<br />

und Kaufkraft. In der Folge nehmen die<br />

Verflechtungen mit Wirtschaft und Gesellschaft<br />

zu. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Bedeutung<br />

der Kompetenzen fçr die Gestaltung des Alltags,<br />

des Haushalt und der Familie an Bedeutung<br />

± fçr beide Geschlechter. Die Forderung nach<br />

verstårkter und fundierter Vermittlung von Alltagskompetenzen<br />

1 ± sowohl im Rahmen der schulischen<br />

Allgemeinbildung als auch çber unterschiedliche<br />

Formen auûerschulischer Bildung und<br />

Beratung ± ist vor diesem Hintergrund nur konsequent.<br />

I. Haushalte und Familien<br />

als Basiseinheiten der Gesellschaft<br />

In den Haushalten liegen essentielle Aufgaben des<br />

Lebensunterhalts und der Lebensgestaltung. 2<br />

Ûber ihre Versorgungs-, Pflege- und Erziehungsleistungen<br />

3 fungieren sie als grundlegende Leistungstråger<br />

der Gesellschaft. Gleichzeitig bzw. darçber<br />

hinaus beeinflussen sie mit der aktiven<br />

Gestaltung ihrer Lebensfçhrung die weitere Entwicklung<br />

der Gesellschaft.<br />

Der Umfang der unbezahlten <strong>Arbeit</strong> in Haushalt<br />

und Familie ist erheblich. Nach den Ergebnissen<br />

der Zeitbudgetuntersuchung von 1992 war der<br />

Umfang der unbezahlten <strong>Arbeit</strong> etwa eineinhalbmal<br />

so hoch wie derjenige der gesamten Erwerbsarbeit:<br />

95,5 Milliarden Stunden unbezahlte <strong>Arbeit</strong><br />

gegençber 60 Milliarden Stunden Erwerbsarbeit. 4<br />

1 Vgl. Deutsche Gesellschaft fçr Hauswirtschaft (Hrsg.),<br />

Kompetent im Alltag! Memorandum fçr eine haushaltsbezogene<br />

Bildung: frçhzeitig, aufbauend. Lebenslang. Wege<br />

zu einer zeitgemåûen und zukunftsorientierten Bildung,<br />

Bonn 2001.<br />

2 Vgl. Irmintraut Richarz, Bildung fçr den Haushalt in einer<br />

sich wandelnden Welt, Baltmannsweiler 1982, S. 48.<br />

3 Vgl. Rosemarie von Schweitzer, Die privaten Versorgungs-,<br />

Pflege und Erziehungsleistungen und ihre Wahrnehmung<br />

als Haushaltsproduktion, in: Hauswirtschaft und<br />

Wissenschaft, 36 (1988) 45, S. 230 ± 237.<br />

4 Vgl. D. Schåfer/N. Schwarz, Der Wert der unbezahlten<br />

<strong>Arbeit</strong> der privaten Haushalte ± Das Satellitensystem Haushaltsproduktion,<br />

in: Bundesministerium fçr Familie, Senioren,<br />

Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.), Zeit im<br />

Blickfeld, Stuttgart ± Berlin ± Kæln 1996, S. 43.<br />

3 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003


Einen der wichtigsten Beitråge fçr die <strong>Zukunft</strong> der<br />

Gesellschaft bilden die grundlegenden Leistungen<br />

von Familie und Haushalt fçr das Humanvermægen<br />

5 bzw. die Entwicklung entsprechender Ressourcen.<br />

Haushalte und Familien sind auch diejenigen<br />

¹Institutionenª, die wesentliche Weichen fçr<br />

Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung stellen.<br />

Gesundheit ist ein Bereich, in dem nicht mehr<br />

nur der ¹Patientª betrachtet wird, sondern zunehmend<br />

auch die Pråvention bzw. eine gesundheitsbezogene<br />

Lebensfçhrung in den Blick genommen<br />

wird.<br />

Die verschiedenen Rollen, die Menschen in ausdifferenzierten<br />

Gesellschaften wahrnehmen (kænnen),<br />

fçllen sie zunehmend in Personalunion aus,<br />

seien es produktive oder Verbraucherrollen, Klienten-<br />

oder Bçrgerrollen u. v. a. m.<br />

In der aktiven Gestaltung des Mikrosystems<br />

(Familien-)Haushalt liegen erhebliche Aufbauund<br />

Balanceleistungen. Sie betreffen sowohl die<br />

Alltagsorganisation als auch Ausprågungen von<br />

Alltagskultur und Haushalts- und Lebensstilen,<br />

den Aufbau von Beziehungsmustern und sozialer<br />

Netze ebenso wie nachbarschaftliche Einbindung,<br />

Teilhabe an der Zivilgesellschaft u. v. a. m.<br />

Haushalte kænnen als Schaltstellen betrachtet werden,<br />

in denen die Akteure unterschiedliche Entscheidungen<br />

treffen oder unterlassen, Strategien<br />

entwickeln bzw. ihre Mikropolitik in Abhångigkeit<br />

von ihren Kompetenzen sehr unterschiedlich<br />

gestalten. Die Wirkungen gehen in beide Richtungen:<br />

Nicht nur Wirtschaft, Gesellschaft und<br />

Umwelt beeinflussen das Handeln auf Haushaltsebene,<br />

sondern die Menschen im Haushaltskontext<br />

wirken als Akteure auf Wirtschaft, Gesellschaft<br />

und Umwelt ein. Eine Mikro-Makro-<br />

Relation im Sinne von Wechselwirkungen ist zu<br />

beobachten. In diesem Kontext wird der Begriff<br />

der Daseinskompetenzen betont. 6 Franz-Xaver<br />

Kaufmann spricht von ¹komplexitåtsverarbeitenden<br />

Daseinskompetenzenª und weist darauf hin,<br />

dass Daseinskompetenzen ¹die Qualitåt der Beteiligung<br />

an allen gesellschaftlichen Teilsystemen<br />

unter den gegenwårtigen komplexen Bedingungen<br />

maûgeblich bestimmenª. 7<br />

5 Vgl. BMFSFJ (Hrsg.), Fçnfter Familienbericht: Familien<br />

und Familienpolitik im geeinten Deutschland ± <strong>Zukunft</strong> des<br />

Humanvermægens, BT-Drucksache 12/7560, Bonn 1994.<br />

6 Vgl. ebd., S. 243 f.<br />

7 Franz-Xaver Kaufmann, Zum Konzept der Familienpolitik,<br />

in: Bernhard Jans/Andr Habisch/Erich Stutzer<br />

(Hrsg.), Familienwissenschaftliche und familienpolitische<br />

Signale: Festschrift zum 70. Geburtstag von Max Wingen,<br />

Grafschaft 2000, S. 46.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003<br />

II. Herausforderungen durch<br />

steigende Komplexitåt<br />

der Lebensbedingungen<br />

Die gesellschaftlichen Transformationsprozesse<br />

werfen Fragen danach auf, wie sich die vielen Verånderungen<br />

auf der Ebene des Haushalts auswirken<br />

und wie Haushalte selbst Akteure des Wandels<br />

werden, etwa çber neue Haushalts- und<br />

Lebensformen und Lebensstile, çber Umsetzungen<br />

ækologischen Bewusstseins oder als Transformatoren<br />

kultureller Werte.<br />

Mit hæherem Lebensniveau gewinnen die Vernetzungen<br />

und Verflechtungen der Haushalte mit<br />

marktlichen und nichtmarktlichen Institutionen an<br />

Bedeutung. Interaktion und Austausch nehmen<br />

zu, die Lebens- und Aktionsråume expandieren.<br />

Entsprechend steht die Haushalts- und Lebensfçhrung<br />

der Menschen vor Aufgaben, die sich auffåchern<br />

und ausdifferenzieren.<br />

In diesem Kontext wurde der Begriff der ¹Neuen<br />

Hausarbeitª eingefçhrt. 8 Wåhrend durch Auslagerungsprozesse<br />

aus den Haushalten ein Teil der traditionellen<br />

Hausarbeit abgenommen <strong>hat</strong>, werden<br />

die Haushalte durch Zunahme der Auûenbeziehungen<br />

und Verflechtungen vor zahlreiche neue<br />

Aufgaben gestellt, deren <strong>Arbeit</strong>scharakter zunåchst<br />

kaum beachtet wurde. Im engeren Sinne<br />

sind es <strong>Arbeit</strong>seinsåtze an den Schnittstellen zu<br />

den verschiedenen Institutionen, von denen Haushalte<br />

Gçter und Dienstleistungen beziehen<br />

(Mårkte, Banken, Versicherungen, Verkehrseinrichtungen,<br />

Gesundheits- und Bildungseinrichtungen).<br />

Vorgelagert sind vermehrte Anforderungen<br />

an Orientierungs- und Abstimmungsfåhigkeit der<br />

Menschen; nachgelagert sind Anforderungen an<br />

ihre Integrationsfåhigkeit angesichts der Auffåcherung<br />

und Ausdifferenzierung der Aufgaben der<br />

Haushalte. Die fçr die ¹Neue Hausarbeitª erforderlichen<br />

Kompetenzen unterscheiden sich von<br />

denen fçr traditionelle Hausarbeit, da sie sich auf<br />

die Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen<br />

und auf zunehmende Vermittlungsleistungen<br />

gegençber verschiedenen Institutionen beziehen. 9<br />

8 Maria Thiele-Wittig, . . . der Haushalt ist fast immer betroffen<br />

± ¹Neue Hausarbeitª als Folge des Wandels der Lebensbedingungen,<br />

in: Hauswirtschaft und Wissenschaft,<br />

(1987) 35, S. 119 ± 127.<br />

9 Maria Thiele-Wittig, Schnittstellen der privaten Haushalte<br />

zu Institutionen. Zunehmende Auûenbeziehungen der<br />

Haushalte im Wandel der Daseinsbewåltigung, in: Sylvia<br />

Gråbe (Hrsg.), Der private Haushalt im wissenschaftlichen<br />

Diskurs, Frankfurt/M. ± New York 1993, S. 371±388, hier insbes.<br />

S. 382 f.<br />

4


Haushalte sehen sich expandierenden Mårkten<br />

gegençber. Marketing und Werbung durchdringen<br />

mehr und mehr den Alltag. Jugendliche sind dabei<br />

eine besondere Zielgruppe, nicht nur als gegenwårtige,<br />

vielmehr auch als kçnftige Kunden sowie<br />

als ¹Markendurchsetzerª gegençber Eltern. Auf<br />

dem Dienstleistungsmarkt gibt es eine Expansion<br />

bei Versicherungen, Finanzdienstleistungen, Reiseund<br />

Urlaubsangeboten, haushaltsnahen Dienstleistungen<br />

etc. Konsum ist nicht nur Genuss, sondern<br />

auf Seiten der Haushalte auch mit <strong>Arbeit</strong> verbunden.<br />

Bedarfsreflexion ist gefordert hinsichtlich der<br />

Wirkungen des Konsums auf Gesundheit und<br />

Umwelt, aber auch hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit,<br />

bspw. im Nord-Sçd-Konflikt. Auch Erwerbsarbeit<br />

ist aus Haushaltssicht mit hæheren<br />

Anforderungen verbunden. Die Risiken eines<br />

<strong>Arbeit</strong>splatzverlustes oder -wechsels nehmen zu.<br />

Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie<br />

gewinnen an Bedeutung, ebenso die schon angesprochenen<br />

Balancen von Erwerbs- und Familienarbeit.<br />

Die Anforderungen der Erwerbsarbeit<br />

an Flexibilitåt und Mobilitåt stehen vielfach in<br />

Konkurrenz zu den Anforderungen der Familie<br />

nach Stabilitåt, Kontinuitåt und Verlåsslichkeit<br />

bzw. belasten Partnerschaften und wirken sich<br />

negativ auf die Verwirklichung von Kinderwçnschen<br />

aus.<br />

Zeit ist zur knappen Ressource geworden, angesichts<br />

der vielen Optionen und Anforderungen.<br />

Das Zusammenleben der Familienmitglieder muss<br />

zunehmend aktiv organisiert werden; die Zeit<br />

dafçr wird immer knapper. Neue Kommunikationssysteme<br />

haben unterschiedliche Auswirkungen.<br />

Diese erweiterten Aufgabenstellungen, um Balancen<br />

bzw. gleitende Balancen fçr das Spektrum der<br />

Lebensbedçrfnisse zu finden, lassen wachsende<br />

Bildungserfordernisse fçr Haushalt und Familie<br />

erkennen.<br />

III. Anforderungen durch<br />

zunehmend geforderte<br />

Eigenverantwortlichkeit<br />

Von Haushalten und Familien wird immer mehr<br />

Eigenverantwortung gefordert. Die Gestaltung des<br />

eigenen Alltags und der Lebensfçhrung wird zu<br />

einer immer komplexeren Aufgabe. Wahlmæglichkeiten<br />

und Wahlzwånge nehmen zu. Traditionell<br />

vorgezeichnete Lebenslåufe gelten immer weniger<br />

als Orientierung. Die Menschen in Haushalt und<br />

Familie mçssen permanent çber ihre Lebensfçhrung<br />

und Daseinssicherung entscheiden. Sie sind<br />

gezwungen, ihre private Daseinsvorsorge in diffe-<br />

renzierterer Form mit der staatlichen Daseinsvorsorge<br />

zu vernetzen (z. B. Alterssicherung, Gesundheit,<br />

Erwerbssicherung). Ihnen wird immer mehr<br />

Verantwortung fçr die Folgen dieser Entscheidungen<br />

aufgebçrdet.<br />

Um fundierte Entscheidungen treffen zu kænnen,<br />

brauchen die Menschen zweierlei: mehr Wissen<br />

und die Fåhigkeit zur Orientierung in einer sich<br />

schneller wandelnden Umwelt, um die Auswirkungen<br />

von Entscheidungen abschåtzen zu kænnen. 10<br />

IV. Neuer Fokus auf Alltag<br />

und Alltagskompetenzen:<br />

Bildung fçr Haushalt und Familie<br />

Haushalte sind in der Vergangenheit håufig ausgeblendet,<br />

vernachlåssigt oder als Restgræûe und<br />

Puffer angesehen worden. Ohne die in den Haushalten<br />

und Familien geleistete ¹Lebensarbeitª ±<br />

die Ausbalancierung des gesamten Spektrums der<br />

Lebensbedçrfnisse unter den Bedingungen der<br />

mobilisierbaren Ressourcen ± kann eine Gesellschaft<br />

jedoch nicht bestehen. Die hier getroffenen<br />

Lebensentscheidungen bleiben nicht ohne Auswirkungen<br />

auf die gesellschaftliche Entwicklung. In<br />

diesem Sinne sind die Menschen auf der Ebene<br />

von Haushalt und Familie stårker als Akteure<br />

wahrzunehmen, und der Blick ist auf ihre Handlungs-<br />

und Entscheidungsbasis fçr den Kontext<br />

von Haushalt und Familie zu richten.<br />

Læsungen von Alltagsproblemen nur durch Versuch<br />

und Irrtum erzielen zu wollen oder sich auf<br />

die begrenzten Erfahrungswerte zu verlassen, die<br />

zudem immer schneller veralten, ist riskant und<br />

verlustreich. Es gilt daher, neue Verhaltensmuster<br />

zu entwickeln und Handlungshilfen zu vermitteln.<br />

Die Bedeutung der Alltagsbewåltigung und<br />

Lebensgestaltung mit ihren komplexen Zusammenhången<br />

und Wechselwirkungen macht eine<br />

stårkere systematische Berçcksichtigung im Bildungssystem<br />

erforderlich, gerade auch mit Blick<br />

auf ihre pråventive Funktion. 11<br />

10 Es gilt, Zusammenhånge gesundheitsbezogener Lebensfçhrung,<br />

vorsorgenden Wirtschaftens bzw. nachhaltiger Lebensfçhrung,<br />

der Gestaltung einer Kultur des Aufwachsens,<br />

des Zusammenlebens und der Sorge fçr Nahestehende oder<br />

Abhångige zu beachten. Vgl. Siegfried Keil, Fçr eine Kultur<br />

des Aufwachsens in Familie und Gesellschaft, in: B. Jans u. a.<br />

(Anm. 7), S. 486.<br />

11 Vgl. Maria Thiele-Wittig, Neue Hausarbeit im Kontext<br />

der Bildung fçr Haushalts- und Lebensfçhrung, in: Ulrich<br />

Oltersdorf/Thomas Preuû (Hrsg.), Haushalte an der Schwelle<br />

zum nåchsten Jahrtausend. Aspekte haushaltswissenschaftlicher<br />

Forschung ± gestern, heute, morgen, Frankfurt/M. ±<br />

New York 1996, S. 342 ±362.<br />

5 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003


Eine haushaltsorientierte Bildung kann prinzipiell<br />

das Potenzial fçr eine entsprechende Kompetenzvermittlung<br />

entwickeln, soweit sie vom Alltag und<br />

vom Spektrum der Lebensbedçrfnisse ausgeht. Sie<br />

ist geeignet, Handlungs- und Entscheidungsfåhigkeit<br />

sowie Eigenverantwortlichkeit zu stårken.<br />

Håufig werden einzelne Bereiche identifiziert, in<br />

denen fehlende Kompetenzen Probleme hervorrufen.<br />

Das fçhrt zu Forderungen nach entsprechender<br />

Bildung etwa in den Bereichen Ernåhrung,<br />

Gesundheit, Wohnen, Konsum, aber auch ± allgemeiner<br />

± in den Bereichen Wirtschaft, Umwelt,<br />

Finanzen sowie Ehe und Familie. Jeder dieser<br />

Bereiche kann aufgrund der jeweils spezifischen<br />

Ausrichtung Profil gewinnen. Die Betrachtung<br />

einzelner Bereiche birgt jedoch die Gefahr der<br />

Vernachlåssigung der Zusammenhånge und Wechselwirkungen.<br />

Ein Spezifikum des Alltags ist seine Vieldimensionalitåt,<br />

sind die vielen Wechselwirkungen, da der<br />

Alltag einen wesentlichen Teil der Lebenswirklichkeit<br />

darstellt. Die haushaltsorientierte Bildung <strong>hat</strong><br />

in besonderem Maûe diese Ganzheitlichkeit zum<br />

Ziel. Integrative Betrachtung ist ihre Stårke. Haushaltsorientierte<br />

Bildung rçckt das gesamte Spektrum<br />

der Lebensbedçrfnisse in den Blick und hilft,<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003<br />

Bedçrfnisse und Bedarfe zu analysieren und zu<br />

reflektieren, abzuklåren und zu konkretisieren.<br />

Fçr die vielfåltigen alltagspraktischen Fragestellungen<br />

sind mehrere Ebenen von Bedeutung,<br />

sowohl die Ebene der konkreten <strong>Arbeit</strong> und entsprechender<br />

Fertigkeiten als auch die Ebene der<br />

Orientierung, der Reflexion und des verantwortlichen<br />

Entscheidens im Zusammenhang mit Analyse-<br />

und Kritikfåhigkeit und kultureller Kompetenz.<br />

Diese Tatsache macht diese Bildungsinhalte<br />

gerade auch fçr den Wandel zu ganztågigen Schulen<br />

interessant.<br />

Angesichts der gesellschaftlichen Transformationsprozesse<br />

mit erweiterten Aufgabenstellungen fçr<br />

die Alltagsbewåltigung und Daseinssicherung und<br />

ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen wird die<br />

Vermittlung entsprechender Qualifikationen zu<br />

einer immer dringenderen Aufgabe. Das gilt sowohl<br />

fçr eine grundlegende, systematische Vermittlung<br />

in der Schule, und zwar in den verschiedenen<br />

Schulformen und Schulstufen, als auch fçr<br />

die auûerschulische Bildung und Beratung. Entsprechende<br />

Vermittlung von Daseinskompetenzen<br />

ist als ein grundlegender Beitrag sowohl zur Allgemeinbildung<br />

als auch fçr spezifische Bildungs- und<br />

Beratungsangebote zu betrachten, im Sinne einer<br />

aktivierenden Gesellschaftspolitik.<br />

6


Michael-Burkhard Piorkowsky<br />

Neue Hauswirtschaft<br />

fçr die postmoderne Gesellschaft<br />

I. Problemstellung<br />

Das Konzept der Neuen Hauswirtschaft verfolgt<br />

zweierlei: die Begrçndung eines neuen Verståndnisses<br />

von Privathaushalten und Familien als den<br />

Basiseinheiten von Wirtschaft und Gesellschaft<br />

sowie die Etablierung entsprechender Inhalte im<br />

Bildungssystem. Die Motivation fçr dieses Anliegen<br />

resultiert vor allem aus Erkenntnissen çber<br />

einen erschreckend lçckenhaften Wissensstand<br />

von Jugendlichen und Erwachsenen çber die Úkonomie<br />

des Alltags sowie gravierende Folgen dieses<br />

Mangels. Eine entscheidende Ursache dafçr ist das<br />

defizitåre Bildungsangebot, das weit hinter dem<br />

rasanten gesellschaftlichen Wandel zurçckbleibt.<br />

Das Plådoyer zum Gegensteuern grçndet auf der<br />

Ûberzeugung, dass der gesellschaftliche Modernisierungsprozess<br />

nur gelingen kann, wenn bereits<br />

Kinder und Jugendliche in den allgemein bildenden<br />

Schulen systematisch mit den sozioækonomischen<br />

Grundlagen fçr eine erfolgreiche Lebensbewåltigung<br />

vertraut gemacht werden und damit<br />

auch anschlussfåhig sind fçr ein diesbezçgliches<br />

lebenslanges Lernen. 1<br />

Aktuelle Anstæûe fçr die Forderung nach einer<br />

grundlegenden sozioækonomischen Allgemeinbildung<br />

stehen im Zusammenhang mit der neueren<br />

Armutsforschung und der Umsetzung in konkrete<br />

Maûnahmen zur Armutspråvention. Empirische<br />

Studien zur Sozialhilfeabhångigkeit sowie zur<br />

Ûberschuldung privater Haushalte belegen, dass<br />

Verarmungsprozesse håufig nicht nur mit Problemen<br />

am <strong>Arbeit</strong>smarkt, sondern auch mit<br />

fehlenden Kompetenzen fçr die Gestaltung des<br />

Familienlebens und der Haushaltsfçhrung zusammenhången<br />

± angefangen von der Bedçrfnisreflexion<br />

und der Bedarfsabstimmung im Haushalt<br />

çber die Mobilisierung und den Einsatz von Ressourcen<br />

fçr die Familienarbeit und Haushaltspro-<br />

Ûberarbeitete Fassung eines Vortrags auf der Bildungskonferenz<br />

der Deutschen Gesellschaft fçr Hauswirtschaft in<br />

Mçnster am 18. Juni 2002.<br />

1 Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag<br />

von Lothar Krappmann in dieser Ausgabe.<br />

Zum Wandel der Úkonomie des Alltags<br />

duktion bis zur Kontrolle des Ausgabenverhaltens.<br />

2<br />

Das zuletzt genannte Ursachenbçndel fçr defizitåre<br />

Versorgungslagen bis hin zu Armut kann<br />

durch entsprechende nachsorgende Bildung von<br />

jçngeren und ålteren Erwachsenen weitgehend<br />

aufgelæst werden, wie die Projekte der Konzertierten<br />

Aktion der Hauswirtschafts- und Wohlfahrtsverbånde<br />

zur Armutspråvention zeigen. 3 Dass z. B.<br />

ungeplante, kumulierende Verschuldung eher in<br />

eine Ûberschuldung fçhrt als eine kontrollierte<br />

Kreditaufnahme, ist evident. Erwiesen ist, dass<br />

Ver- und Ûberschuldung privater Haushalte seit<br />

Jahren zunehmen. Die Zahl der çberschuldeten<br />

Privathaushalte, die ihre Verbindlichkeiten weder<br />

aus Vermægen noch aus laufendem Einkommen<br />

abtragen kænnen, stieg qualifizierten Schåtzungen<br />

zufolge von 1994 bis 1999 in Westdeutschland von<br />

1,5 Millionen auf 1,9 Millionen und in Ostdeutschland<br />

von 0,5 Millionen auf 0,8 Millionen. 4 Schåtzungsweise<br />

rund 850 000 Jugendliche haben<br />

Schulden, vor allem bei Freunden, Verwandten,<br />

Geldinstituten, Mobiltelefonanbietern und Netzbetreibern;<br />

und rund 250 000 Jugendliche sind<br />

vermutlich çberschuldet. 5<br />

2 Vgl. Michael-Burkhard Piorkowsky, Verarmungsgrçnde<br />

und Ansåtze der Armutspråvention bei Privathaushalten, in:<br />

Bundesministerium fçr Familie, Senioren, Frauen und Jugend<br />

(Hrsg.), Lebenslagen von Familien und Kindern. Dokumentation<br />

von Expertisen und Berichten, die im Auftrag<br />

des Bundesministeriums fçr Familie, Senioren, Frauen und<br />

Jugend im Rahmen der Erstellung des Ersten Armuts- und<br />

Reichtumsberichts der Bundesregierung erarbeitet wurden,<br />

Materialien zur Familienpolitik, Nr. 11, Berlin 2001.<br />

3 Vgl. ders., Armutspråvention durch Bildung fçr Haushalt<br />

und Familie, in: Haushalt & Bildung, 77 (2000) 3, S. 129±132;<br />

ders., Das Armutsprophylaxeprogramm der deutschen Bundesregierung.<br />

Ein Beispiel fçr den aktivierenden Sozialstaat,<br />

in: Reinbert Schauer/Robert Purtschert/Dieter Witt (Hrsg.),<br />

Nonprofit-Organisationen und gesellschaftliche Entwicklung:<br />

Spannungsfeld zwischen Mission und Úkonomie, Linz<br />

2002.<br />

4 Vgl. Bundesministerium fçr <strong>Arbeit</strong> und Sozialordnung<br />

(Hrsg.), Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und<br />

Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin, April 2002,<br />

S. 69.<br />

5 Vgl. Evelyn Binder, Kinder werden mit Schulden groû.<br />

Immer mehr Jugendliche leben auf Pump. Wenig Sinn fçr<br />

Wert des Geldes, in: Kælner Stadt-Anzeiger vom 11. Juni<br />

2002, S. 29.<br />

7 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003


Weitere Anstæûe liefert die seit Jahren laufende<br />

Diskussion çber ækonomischen, insbesondere<br />

finanzwirtschaftlichen ¹Analphabetismusª. 6 Verschiedene<br />

Erhebungen und Einschåtzungen von<br />

Experten deuten darauf hin, dass die meisten<br />

Bçrgerinnen und Bçrger z. B. nicht genau wissen,<br />

wie die Banken arbeiten, wie die Bærse funktioniert<br />

und wie das Rentensystem aufgebaut ist.<br />

Viele kænnen nicht zwischen einer Kapitallebensversicherung<br />

und einer Risikolebensversicherung<br />

unterscheiden. Etliche kænnen nicht erklåren, was<br />

der Effektivzins eines Kredits ist. Und manche<br />

junge Menschen, die erstmals ein Girokonto eræffnen,<br />

glauben sogar, der Dispositionskredit, der auf<br />

dem Kontoauszug ausgewiesen wird, gehære<br />

ihnen. Tatsåchlich sind wir fast alle finanzwirtschaftliche<br />

Analphabeten. Denn es gibt kein Fach<br />

oder Lernfeld ¹Finanzenª in den allgemein bildenden<br />

Schulen. Doch die Bildungslçcke låsst sich<br />

nicht allein durch finanzielle Allgemeinbildung<br />

schlieûen. Das Problem liegt tiefer, und seine<br />

Læsung bedarf deshalb eines gut durchdachten<br />

Konzeptes. Finanzentscheidungen sind eingebettet<br />

in die Úkonomie des Alltags. Und dieser Alltag<br />

stellt zunehmend neue, radikale Anforderungen,<br />

die mit den herkæmmlichen Kompetenzen und Bildungskonzepten<br />

kaum zu bewåltigen sind.<br />

II. Das Konzept der<br />

Neuen Hauswirtschaft<br />

Individuelle Lebensgestaltung und gesellschaftliche<br />

Wohlfahrtsproduktion sind untrennbar miteinander<br />

verbunden. Das war schon immer so. Aber<br />

im Zuge des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses<br />

gewinnen die Entscheidungen der Individuen<br />

bzw. der Haushalte und Familien, in denen<br />

sich die Einzelnen grundlegend organisieren und<br />

entwickeln, zunehmend an Bedeutung fçr die<br />

sozioækonomische Makrostruktur. Diese Einsicht<br />

basiert auf einer empirisch fundierten Theorie des<br />

Privathaushalts, die den Wandlungen von der<br />

modernen zur postmodernen Gesellschaft nachspçrt,<br />

sowie auf dem erkenntnistheoretischen<br />

Konzept des methodologischen Individualismus,<br />

der von einer strukturgebenden Funktion der Indi-<br />

6 Vgl. Rçdiger von Rosen, Wir brauchen ein Schulfach<br />

Wirtschaft, in: Frankfurter Rundschau vom 25. Mårz 1998,<br />

S. 24; Udo Reifner, Finanzielle Allgemeinbildung. Bildung<br />

als Mittel der Armutspråvention in der Kreditgesellschaft.<br />

Projektabschlussbericht zur ersten Phase des vom Bundesministerium<br />

fçr Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstçtzten<br />

Projekts, Institut fçr Finanzdienstleistungen e. V.,<br />

Hamburg, 22. 10. 2001; Marc Brost/Marcus Rohwetter, Wir<br />

alle ± finanzielle Analphabeten, in: Die Zeit vom 31. Oktober<br />

2002, S. 19 ± 20.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003<br />

viduen und Kleingruppen fçr die Gesellschaft ausgeht.<br />

7<br />

Der Begriff der Postmoderne ist schillernd. Er soll<br />

hier nicht ausfçhrlich erærtert werden. 8 Dass sich<br />

Wandlungen in zentralen gesellschaftlichen Bereichen<br />

vollziehen, ist unçbersehbar. Klar ist aber<br />

auch, dass es gegenwårtig keine vollståndige Ablæsung<br />

der Moderne durch die Postmoderne gibt,<br />

sondern neue Elemente, Systeme, Strukturen und<br />

Funktionen zunehmend an prågender Kraft gewinnen.<br />

Haushalte und Familien sind grundlegende<br />

und universelle Organisationsformen der Menschen<br />

fçr die unmittelbare Lebensgestaltung; und<br />

es sind die åltesten Institutionen çberhaupt. Aber<br />

die Formen und Funktionen der Haushalts- und<br />

Familiensysteme variieren historisch und kulturell<br />

erheblich. In einem agrarisch oder auch industriell<br />

geprågten Obrigkeitsstaat kommt ihnen eine<br />

andere Rolle zu als in einem modernen Sozialstaat.<br />

Gegenwårtig finden wir zur Kennzeichnung<br />

der Makroebene von Wirtschaft und Gesellschaft<br />

¹postmoderneª Zuschreibungen, wie Bçrgergesellschaft,<br />

Multioptionsgesellschaft und Wissensgesellschaft.<br />

Die Haushalts- und Familienforschung konstatiert<br />

eine Pluralisierung der Lebensformen und eine<br />

Individualisierung der Lebensverlåufe, verbunden<br />

mit einer Håufung aufeinander folgender Lebensabschnittsgemeinschaften<br />

und einem Rçckgang<br />

der Geburtenrate. 9 Institute und Kommissionen<br />

fçr <strong>Zukunft</strong>sfragen sehen uns bereits auf dem Weg<br />

von der ¹arbeitnehmerzentrierten Industriegesellschaft<br />

zur unternehmerischen Wissensgesellschaftª<br />

und propagieren ein ækonomisches Leitbild des<br />

Menschen als ¹Unternehmer seiner <strong>Arbeit</strong>skraft<br />

und Daseinsvorsorgeª. 10 Úffentlich gefordert und<br />

gefærdert wird seit Jahren eine ¹Neue Kultur der<br />

Selbstståndigkeitª, also die wachsende Bereitschaft<br />

zur Unternehmensgrçndung, z. B. mit der<br />

Initiative ¹Go!ª in Nordrhein-Westfalen. Und tatsåchlich<br />

entlåsst der Sozialstaat zunehmend seine<br />

Bçrgerinnen und Bçrger aus Versorgungs- und<br />

7 Vgl. Gçnter Bçschges, Methodologischer Individualismus<br />

und empirische Soziologie, in: ders./Werner Raub (Hrsg.),<br />

Soziale Bedingungen ± Individuelles Handeln ± Soziale Konsequenzen,<br />

Frankfurt/M. 1985.<br />

8 Vgl. dazu Michael-Burkhard Piorkowsky, Strukturwandel<br />

und gesellschaftliche Leistungspotentiale von Haushalten<br />

und Familien, in: Irmhild Kettschau/Barbara Methfessel/Michael-Burkhard<br />

Piorkowsky (Hrsg.), Familie 2000. Bildung<br />

fçr Familien und Haushalte zwischen Alltagskompetenz und<br />

Professionalitåt. Europåische Perspektiven, Baltmannsweiler<br />

2000.<br />

9 Vgl. ebd., S. 20 ± 24.<br />

10 Vgl. Kommission fçr <strong>Zukunft</strong>sfragen der Freistaaten<br />

Bayern und Sachsen (Hrsg.), Erwerbståtigkeit und <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />

in Deutschland. Entwicklung, Ursachen, Maûnahmen.<br />

Teil III. Maûnahmen zur Verbesserung der Beschåftigungslage,<br />

Bonn, November 1997, S. 7.<br />

8


Versicherungssystemen und mahnt mehr Eigenverantwortung<br />

an.<br />

Beispielhaft seien aktuelle Maûnahmen und Ûberlegungen<br />

in den Bereichen Alterssicherung,<br />

<strong>Arbeit</strong>smarkt und Gesundheitswesen angesprochen:<br />

± In einer Informationsschrift zur Riester-Rente,<br />

die vor wenigen Monaten in zahlreichen Publikumszeitschriften<br />

eingeklebt war, heiût es:<br />

¹Prçfen Sie, ob und wie viel Sie fçr die neue<br />

Eigenvorsorge anlegen wollen. Klåren Sie, wie<br />

lange Sie noch ansparen kænnen und welche<br />

Anlagerisiken Sie in Kauf nehmen wollen.ª 11<br />

± Der neue Vorsitzende der Bundesanstalt fçr<br />

<strong>Arbeit</strong>, Florian Gerster, wird in einem Interview<br />

mit den Worten zitiert: ¹Wir brauchen ein<br />

biûchen Deregulierung.ª 12 Parallel dazu liefert<br />

die Hartz-Kommission mit den Konzepten der<br />

¹Ich-AGª und der ¹Familien-AGª den Rahmen<br />

fçr die Grçndung und Entwicklung von<br />

Miniunternehmen aus der <strong>Arbeit</strong>slosigkeit. 13<br />

± Und die Bundesgesundheitsministerin Ulla<br />

Schmidt will mçndige Patientinnen und Patienten,<br />

die nicht nur vorsorgend etwas fçr ihre<br />

Gesundheit tun, sondern auch im Krankheitsfall<br />

den Behandlungsprozess ¹mitsteuern und<br />

nachfragen, was eigentlich berechnet wurdeª. 14<br />

Die sich damit wandelnde Úkonomie des Alltags<br />

wird hier als ¹Neue Hauswirtschaftª verstanden.<br />

Das bedeutet faktisch eine Zunahme an ækonomischer<br />

Funktionszuschreibung und Verantwortung<br />

der Individuen, Paarhaushalte und Familien ±<br />

unabhångig davon, ob sie es wollen oder nicht:<br />

zunåchst und unmittelbar mit ihren selbst organisierten<br />

Privathaushalten fçr die eigene Versorgung<br />

und sodann in der strukturgebenden Funktion fçr<br />

das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Dabei<br />

handelt es sich um eine ± ganz çberwiegend unbeabsichtigte<br />

± Folge der individuellen Entscheidungen<br />

fçr bzw. gegen bestimmte Lebensstile und<br />

Lebensformen, Bildungswege und Erwerbsbeteiligungen,<br />

Konsummuster und Freizeitaktivitåten<br />

sowie Vermægensdispositionen und sonstige Engagements.<br />

11 Bundesministerium fçr <strong>Arbeit</strong> und Sozialordnung<br />

(Hrsg.), Rund um die neue Rente. Ihre Fragen ± unsere Antworten,<br />

Berlin 2002, S. 20.<br />

12 Florian Gerster, ¹Wir brauchen ein biûchen Deregulierungª,<br />

in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom<br />

31. Mårz 2002, S. 5.<br />

13 Vgl. Peter Hartz u. a., Moderne Dienstleistungen am<br />

<strong>Arbeit</strong>smarkt. Bericht der Kommission, Berlin 2002, S. 161 ±<br />

172.<br />

14 Vgl. Ulla Schmidt, ¹Kranksein ist keine Privatsacheª, in:<br />

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24. Februar<br />

2002, S. 37.<br />

Der Begriff ¹Hauswirtschaftª ist mit Bedacht<br />

gewåhlt worden. Der traditionelle Begriff der<br />

Hauswirtschaft entspricht den åquivalenten<br />

Grundbegriffen Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft<br />

in den ækonomischen Schwesterdisziplinen.<br />

Dass sich die so bezeichneten Realphånomene seit<br />

der Einfçhrung der Begriffe vor etwa 100 Jahren<br />

veråndert haben, ist wohl selbstverståndlich. Aber<br />

keine der drei Wirtschaftsdisziplinen <strong>hat</strong> ihren<br />

spezifischen Begriff aufgegeben. Die Betonung<br />

des Neuen schlieût an vergleichbare Kennzeichnungen<br />

wie New Economy, New Public Management<br />

und Neue Selbstståndigkeit an. Mit dem<br />

Begriff der Neuen Hauswirtschaft sollen folglich<br />

± wie im Begriff der Postmoderne ± alte und neue<br />

Strukturen und Funktionen repråsentiert werden.<br />

Das Konzept der Neuen Hauswirtschaft wird im<br />

Folgenden durch zwei Kernaussagen konkretisiert:<br />

1. Die Privathaushalte çben durch Gçternachfrage,<br />

Haushaltsproduktion und Faktorangebot<br />

einen prågenden Einfluss auf die sozioækonomische<br />

Makrostruktur aus.<br />

2. Die Privathaushalte sind die Hauptproduzenten<br />

von Humanvermægen und damit die wichtigsten<br />

sozioækonomischen Institutionen çberhaupt.<br />

III. Gçternachfrage, Produktion<br />

und Faktorangebot der Haushalte<br />

prågen die sozioækonomische<br />

Makrostruktur<br />

Zunåchst sei die Funktion der Haushalte als Nachfrager<br />

nach privaten und æffentlichen Gçtern<br />

nåher betrachtet. Die Haushalte treffen zum einen<br />

± gemåû ihren Pråferenzen und Finanzierungsmæglichkeiten<br />

und selbstverståndlich nicht ohne<br />

Einflçsse aus den sozialen Bezugsfeldern einschlieûlich<br />

der Werbung ± Entscheidungen çber<br />

die Gestaltung ihres privaten Konsums und<br />

beschaffen die von den Unternehmen angebotenen<br />

Waren und Dienste sowie Immobilien. In der<br />

Verwendungsrechnung des Sozialprodukts, in der<br />

± im Gegensatz zur Entstehungsrechnung (!) ± die<br />

Aktivitåten der Haushalte verbucht werden, entfallen<br />

knapp 60 Prozent auf den privaten Konsum,<br />

also auf solche Gçter, die von den Haushalten<br />

selbst bezahlt werden. Sie steuern damit zum<br />

einen in gewisser Weise die Produktion sowie<br />

± zumindest teilweise ± die Beschåftigung und Investition,<br />

und zwar auch in den vorgelagerten<br />

Wirtschaftsbereichen, und erzeugen ¹Konsumwellenª,<br />

wenn sich das Verbraucherverhalten kollek-<br />

9 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003


tiv åndert. Zum anderen treten die Haushalte bzw.<br />

die erwachsenen Haushaltsmitglieder als Wahlbçrger<br />

im politischen Prozess auf und steuern durch<br />

ihre Wahlentscheidungen, wenn auch nur indirekt,<br />

die Produktion und Bereitstellung spezifisch<br />

æffentlicher Gçter und damit zusammenhångender<br />

Dienste, z. B. die kommunale Infrastruktur und<br />

æffentliche Sicherheit.<br />

Die Ausgaben fçr langlebige Konsumgçter einschlieûlich<br />

Immobilien sowie die Ersparnisse bzw.<br />

Finanzanlagen fçhren zu einem entsprechenden<br />

Vermægensaufbau. Je nach den berçcksichtigten<br />

Vermægenskomponenten und den Wertansåtzen<br />

lassen sich unterschiedliche Græûenordnungen<br />

ermitteln, die fçr den Haushaltssektor insgesamt<br />

bis zu rund 7,7 Billionen Euro betragen. 15 Als Indikator<br />

der Finanzierungsfunktion der Privathaushalte<br />

fçr die Unternehmen wird ihr Anteil an der<br />

gesamtwirtschaftlichen Ersparnis betrachtet, der<br />

etwa vier Fçnftel betrågt. 16 Damit sind die Privathaushalte<br />

indirekt der græûte Kapitalgeber der<br />

Unternehmen.<br />

Private Haushalte investieren aber nicht nur indirekt<br />

çber den Bankensektor in fremde Unternehmen,<br />

sondern auch unmittelbar in eigene, selbst<br />

gegrçndete Unternehmen. Die meisten Unternehmensgrçndungen<br />

finden nåmlich nicht an der<br />

Bærse, sondern im Haushalts- und Familienkontext<br />

statt. 17 Es kann davon ausgegangen werden,<br />

dass die jåhrlich etwa 300 000 Ûbergånge in selbstståndige<br />

Erwerbståtigkeit in rund 50 Prozent der<br />

Fålle als Kleinstunternehmen ohne weitere Beschåftigte<br />

vollzogen werden; in rund 40 Prozent<br />

der Fålle mit weniger als fçnf Mitarbeitern und in<br />

rund 10 Prozent der Fålle mit fçnf und mehr Mitarbeitern.<br />

Damit stellen die Grçnder und Grçnderinnen<br />

fçr sich und andere Erwerbsarbeitsplåtze<br />

bereit und tragen folglich zur gesamtwirtschaftlichen<br />

Beschåftigung bei. Zwar werden Unternehmen<br />

auch von abgeleiteten Betrieben, also von<br />

Unternehmen und Verbånden, gegrçndet, aber die<br />

zahlenmåûig bei weitem wichtigsten Unternehmensgrçnder<br />

sind die Privathaushalte. Gemessen<br />

an der Zahl der Unternehmen sind ebenfalls<br />

Privathaushalte bzw. die jeweiligen Haushaltsmitglieder<br />

die mit Abstand græûte Gruppe der Eigentçmer<br />

von Unternehmen. Nach Ergebnissen des<br />

Mikrozensus 2000 waren rund 3,6 Millionen Erwerbståtige<br />

± das waren rund zehn Prozent der<br />

15 Vgl. Jærg Sieweck, Unterschåtzter Wirtschaftsfaktor privater<br />

Haushalt, in: Sparkasse. Zeitschrift des Deutschen<br />

Sparkassen- und Giroverbandes, 116 (1999) 10, S. 465 ± 469.<br />

16 Vgl. ebd., S. 465.<br />

17 Vgl. Michael-Burkhard Piorkowsky, Die Evolution von<br />

Unternehmen im Haushalts- und Familienkontext, in:<br />

Zeitschrift fçr Betriebswirtschaft, Ergånzungsheft, (2002) 5,<br />

S. 1±19.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003<br />

Erwerbståtigen ± selbstståndig, und zwar çberwiegend<br />

in Miniunternehmen, die mit den privaten<br />

Haushalten der Unternehmer bzw. Unternehmerinnen<br />

eine sozioækonomische Einheit bilden und<br />

deshalb nicht losgelæst von den Hauswirtschaften<br />

betrachtet werden kænnen.<br />

Auch im Vereins- und Verbandssektor çberwiegen<br />

zahlenmåûig nicht die groûen, sondern die kleinen<br />

Einheiten. Und etliche groûe Organisationen<br />

haben sich aus kleinen, nicht selten informellen<br />

Zusammenschlçssen entwickelt. Privathaushalte<br />

bzw. Haushaltsmitglieder sind hier als Vereinsgrçnder<br />

und Tråger informeller Netzwerke von<br />

Bedeutung. Allein die Zahl der Bçrgerinitiativen<br />

und Selbsthilfeprojekte kann mit mindestens<br />

40 000 bis 60 000 beziffert werden; der durchschnittliche<br />

Mitgliederbestand betrågt zwischen 15<br />

und 35 Personen. In solchen Projekten sind prinzipiell<br />

¹Menschen wie du und ichª die ¹Macherinnenª<br />

und ¹Macherª. Durch das Engagement in<br />

Vereinen und Verbånden tragen die Privathaushalte<br />

folglich auch zur Bereitstellung kollektiver,<br />

gruppenbezogener Gçter bei. 18<br />

Schlieûlich sei hier der Beitrag der Privathaushalte<br />

zur Produktion personaler Gçter fçr den unmittelbaren<br />

Konsum hervorgehoben. Die Haushaltsproduktion<br />

ist auch in modernen und postmodernen<br />

Gesellschaften nicht marginal, sondern<br />

± gemessen am Zeitinput ± sogar dominant. Wird<br />

die gesamte gesellschaftliche <strong>Arbeit</strong>szeit betrachtet,<br />

also Erwerbs- und Haushaltsarbeitszeit einschlieûlich<br />

Ehrenamt, ergibt sich ein Volumen von<br />

etwa 124 Milliarden Stunden (1991/92); davon<br />

entfallen rund 60 Prozent auf Haushaltsarbeit und<br />

rund 40 Prozent auf Erwerbsarbeit. 19<br />

IV. Prokreation, Haushaltsproduktion<br />

und Konsum dienen<br />

der Humanvermægensbildung<br />

Private Konsumgçter, æffentliche Gçter und Haushaltsarbeit<br />

dienen nach herkæmmlicher Vorstellung<br />

dem Konsum im Sinne eines letzten Verbrauchs.<br />

Aber tatsåchlich handelt es sich nicht um<br />

18 Vgl. Adalbert Evers, Part of the welfare mix: the third<br />

sector as an intermediate area, in: Voluntas, 6 (1995) 2,<br />

S. 159±182; Burkhard von Velsen-Zerweck, Dynamisches<br />

Verbandsmanagement. Phasen- und krisengerechte Fçhrung<br />

von Verbånden. Mit einem Geleitwort von Dieter Witt und<br />

Ernst-Bernd Blçmle, Wiesbaden 1998, S. 71 ± 72.<br />

19 Vgl. Bundesministerium fçr Familie und Senioren/Statistisches<br />

Bundesamt (Hrsg.), Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung<br />

der Bevælkerung in Deutschland, Wiesbaden<br />

1994, S. 1.<br />

10


endgçltigen Gçterverbrauch, sondern um Input in<br />

die Bildung von Humanvermægen. Zu den traditionellen<br />

Familienfunktionen zåhlen die auf<br />

Nachwuchssicherung gerichtete prokreative oder<br />

generative Funktion (Zeugung), die Sozialisationsfunktion<br />

(Erziehung) und die ækonomische Funktion<br />

(Versorgung). Es gehært zu den biologischen<br />

Gegebenheiten, dass die Menschen ihren Nachwuchs<br />

selber produzieren. Die Aufgabe der Sicherung<br />

und Pflege des Nachwuchses besteht aber<br />

keineswegs allein darin, schiere <strong>Arbeit</strong>skraft in der<br />

Generationenfolge zu reproduzieren, sondern in<br />

der ¹Produktionª von Humanvermægen, also von<br />

Wissen, Fåhigkeiten und Fertigkeiten, die das<br />

ækonomische, soziale und kulturelle Vermægen<br />

menschlicher Gesellschaften ausmachen. Da die<br />

Sicherung und der Ausbau des Wissens das kritische<br />

Problem jeder Gesellschaft ist, erfçllen die<br />

Haushalte damit die wichtigste Aufgabe im gesellschaftlichen<br />

Gefçge çberhaupt.<br />

In modernen und postmodernen Gesellschaften<br />

werden die Funktionen der Prokreation und Sozialisation<br />

nicht mehr nur von den Kernfamilienhaushalten<br />

erfçllt. Die Vernetzung mit einer Vielzahl<br />

externer Institutionen ist unçbersehbar und auch<br />

unverzichtbar, angefangen von der Geburtsmedizin<br />

çber allgemein bildende und berufsbildende<br />

Schulen bis hin zu Unternehmen und Universitåten.<br />

Aber dennoch werden auch weiterhin die<br />

Haushalte in einem sehr grundlegenden und<br />

umfassenden Sinn die ¹Hauptproduzenten von<br />

Menschenª als soziale Wesen bleiben. Denn ohne<br />

primåre Sozialisation in den auf Intimitåt und permanente<br />

Kommunikation çber viele Jahre angelegten<br />

Kontexten der Binnensysteme der Haushalte<br />

und Familien kænnen die Fåhigkeiten zu<br />

Wissenserwerb und Wissensanwendung in den<br />

ståndig komplexer werdenden Bereichen von<br />

Wirtschaft und Gesellschaft nicht hinreichend<br />

erlernt werden. 20<br />

Um eine Vorstellung von der Bedeutung des<br />

Humanvermægens in ækonomischen Græûen zu<br />

gewinnen, ist von der Familienberichtskommission<br />

der Bundesregierung eine Modellrechnung durchgefçhrt<br />

worden. Bezugsgræûe war der Geburtsjahrgang<br />

1984, der im Jahr 1990 rund 633 000 Personen<br />

umfasste. Berçcksichtigt wurden die jåhrlichen<br />

Ausgaben fçr Konsumgçterkåufe und anteilig<br />

bewertete Leistungen der Haushaltsproduktion,<br />

die fçr die nachwachsende Generation bis zum<br />

19. Lebensjahr aufgewendet werden. Der so ermittelte<br />

Beitrag der Familien zur Humanvermægensbildung<br />

betrågt rund 7,7 Billionen Euro. Demgegençber<br />

betrågt der geschåtzte Wert des repro-<br />

20 Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu den Beitrag von<br />

Lothar Krappmann in dieser Ausgabe.<br />

duzierbaren Sachvermægens zu Wiederbeschaffungspreisen<br />

lediglich rund 3,6 Billionen Euro. 21<br />

Humanvermægensbildung ist aber nicht nur das<br />

Ergebnis von Prokreation und Sozialisation, sondern<br />

generell das Resultat von Haushaltsproduktion<br />

und Konsum ± oder sollte dies zumindest sein.<br />

Gçterkonsum ist keine Gçtervernichtung, sondern<br />

dient der Erhaltung und Entwicklung der<br />

Vitalfunktionen der Haushaltsmitglieder, d. h. der<br />

Kompensation des permanenten Energieabflusses<br />

und dem Wachstum sowie der Gewinnung von<br />

Lebenszufriedenheit. Es kænnte zwar in Zweifel<br />

gezogen werden, dass jede Art konsumtiver Tåtigkeit<br />

zur Bildung von Humanvermægen fçhrt, z. B.<br />

bestimmte Arten von Medienkonsum, aber dieser<br />

Einwand gilt gleichermaûen fçr (vermeintlich)<br />

produktive Aktivitåten, z. B. bestimmte Verwaltungsarbeiten,<br />

und ist nur schwer zu prçfen. Tatsåchlich<br />

wird prinzipiell auch durch <strong>Arbeit</strong>, insbesondere<br />

Erwerbsarbeit, Humanvermægen gebildet,<br />

aber ohne Konsum ist <strong>Arbeit</strong> unmæglich.<br />

Aus einer nicht der ækonomischen Modelltradition<br />

folgenden Sicht ist sowohl die Differenzierung zwischen<br />

produzierenden Unternehmen und konsumierenden<br />

Haushalten als auch die Vorstellung,<br />

Produktion sei Gçtererzeugung und Konsum sei<br />

Gçtervernichtung, als zumindest einseitig zu beurteilen<br />

und zurçckzuweisen. Denn jeder Produktionsprozess<br />

ist ein Transformationsprozess, in dem<br />

die Einsatzgçter untergehen, um neue, andersartige<br />

Produkte hervorzubringen. Dass dies nur fçr<br />

Unternehmen und andere abgeleitete Betriebe,<br />

aber nicht fçr Privathaushalte gelten soll, ist Ausdruck<br />

eines veralteten Theorieverståndnisses. Hier<br />

wird der entgegengesetzte Standpunkt vertreten,<br />

dass sich nåmlich die Privathaushalte von vorgelagerten<br />

Betrieben lediglich mit Vorleistungen fçr<br />

ihren Haushaltsprozess versorgen, die Endkombination<br />

in einem arteigenen Haushaltsproduktionsprozess<br />

vornehmen und den Konsum organisieren,<br />

um Humanvermægen und Lebenszufriedenheit zu<br />

produzieren. Konsum ist demnach ± in Abwandlung<br />

einer von Josef Alois Schumpeter zur Charakterisierung<br />

von Kapitalvernichtung im Wettbewerb<br />

geprågten Metapher ± ein ¹Prozess der<br />

schæpferischen Zerstærungª bzw. sollte in diesem<br />

Sinne gestaltet werden kænnen. 22 Dazu bedarf es<br />

21 Vgl. Deutscher Bundestag, Familien und Familienpolitik<br />

im geeinten Deutschland. <strong>Zukunft</strong> des Humanvermægens.<br />

Fçnfter Familienbericht, Bundestags-Drucksache 12/7560,<br />

Bonn 1994, S. 144 ± 145.<br />

22 Vgl. Josef A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und<br />

Demokratie. Einleitung von Edgar Salin, zweite, erw. Aufl.,<br />

Mçnchen 1950, S. 134±142; vgl. dazu Michael-Burkhard<br />

Piorkowsky, Konsum aus Sicht der Haushaltsækonomik, in:<br />

Doris Rosenkranz/Norbert F. Schneider (Hrsg.), Konsum.<br />

Soziologische, ækonomische und psychologische Perspektiven,<br />

Opladen 2000.<br />

11 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003


einer entsprechenden Bildung und håufig auch<br />

einer ergånzenden Beratung.<br />

V. Private Haushalte in der<br />

schulischen Allgemeinbildung<br />

In der auf Haushalt und Wirtschaft bezogenen<br />

schulischen Allgemeinbildung wird dies alles vællig<br />

unzureichend reflektiert, denn die Lehrplåne und<br />

Schulbçcher sind defizitår. 23 In der Primarstufe<br />

kænnen wirtschaftliche Themen lediglich aspekthaft<br />

im Sachunterricht behandelt werden. In den<br />

Sekundarstufen I und II gibt es in den Bundeslåndern<br />

nach Inhalt und Verpflichtungsgrad unterschiedliche<br />

Angebote von Fåchern mit wirtschaftlichem<br />

Inhalt. Das Fach Hauswirtschaft<br />

beschrånkt sich weitgehend auf die Betrachtung<br />

des Binnensystems des Privathaushalts und die<br />

Beschaffung von Marktgçtern. Ein Fach oder<br />

Lernfeld ¹Wirtschaftª ist eher die Ausnahme als<br />

die Regel. Was gegebenenfalls diesbezçglich an<br />

Gymnasien angeboten wird, zeigt eine Analyse<br />

der Lehrplåne fçr Gymnasien der 16 Bundeslånder.<br />

Die paradigmatische Ausrichtung und inhaltliche<br />

Konzeption der ækonomischen Bildung in den<br />

Wirtschaftsfåchern wird dort wie folgt zusammengefasst:<br />

1. Konsum und Markt, 2. (Erwerbs-)<br />

<strong>Arbeit</strong> und Produktion, 3. Gesamtwirtschaftliche<br />

Ungleichgewichte und Wirtschaftspolitik, 4.<br />

Soziale und ækologische Probleme, 5. Internationale<br />

Wirtschaftsbeziehungen. 24<br />

Das gegenwårtig dominierende Bild von Haushalt<br />

und Familie in den Wirtschaftsfåchern und den<br />

wirtschaftsnahen Fåchern ist an der Normalfamilie<br />

und dem Normalarbeitsverhåltnis mit sozialstaatlicher<br />

Absicherung der Risiken bei <strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />

und Krankheit sowie im Alter orientiert.<br />

23 Vgl. Hildegard Rapin (Hrsg.), Der private Haushalt im<br />

Unterricht. Eine Schulbuchanalyse aus haushaltswissenschaftlicher<br />

und didaktischer Sicht, Frankfurt/M. ± New York<br />

1990; Deutsche Gesellschaft fçr Hauswirtschaft e. V., <strong>Arbeit</strong>smaterialien<br />

zur Bildung fçr den Haushalt. Ûbersicht<br />

çber Wochenstundenzahlen sowie Themen und Inhalte des<br />

auf den Haushalt bezogenen Unterrichts in Richtlinien und<br />

Lehrplånen fçr die Sekundarstufe I in den Låndern der Bundesrepublik<br />

Deutschland, dritte, çberarb. und erw. Aufl.,<br />

Aachen, Oktober 1992; Sekretariat der Ståndigen Konferenz<br />

der Kultusminister der Lånder in der Bundesrepublik<br />

Deutschland, Wirtschaftliche Bildung an allgemein bildenden<br />

Schulen. Bericht der Kultusministerkonferenz vom 19. 10.<br />

2002, Berlin o. J.<br />

24 Vgl. Hans Jçrgen Schlæsser/Birgit Weber, Wirtschaft in<br />

der Schule. Eine umfassende Analyse der Lehrplåne fçr<br />

Gymnasien, entstanden im Rahmen des Pilotprojekts<br />

¹Wirtschaft in die Schule!ª, mit einem Beitrag von Hans Kaminski,<br />

Bertelsmann Stiftung/Heinz Nixdorf Stiftung/Ludwig-Erhard-Stiftung<br />

(Hrsg.), Gçtersloh 1999.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003<br />

Betrachtet wird somit die Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft<br />

von Eltern mit Kindern,<br />

abhångig vollzeitbeschåftigtem Hauptverdiener<br />

mit hauptverantwortlich haushaltsfçhrender Partnerin<br />

und ± hinsichtlich der Konsum- und Finanzwirtschaft<br />

± die Ausgabenseite des Geldbudgets.<br />

Idealerweise sind die Haushaltsmitglieder folglich<br />

Nachfrager von Konsumgçtern und Erwerbsarbeitsplåtzen,<br />

sie erfçllen ihre Rollen im Beruf<br />

sowie im hauswirtschaftlichen Bereich und in der<br />

Familie und stçtzen sich dabei auf die materielle<br />

Infrastruktur und die monetåren Transfers des<br />

Sozialstaats.<br />

Auch in Reformvorschlågen von Wirtschaftsverbånden<br />

bleiben die oben angesprochenen Wandlungen<br />

von der modernen ¹Vollkasko-Gesellschaftª<br />

(Kurt H. Biedenkopf) zur postmodernen<br />

Gesellschaft mit eigenverantwortlichen Hauswirtschaften<br />

ganz weitgehend unberçcksichtigt. 25 Private<br />

Haushalte, auch Familienhaushalte, werden<br />

lediglich als ¹Elementeª eines Wirtschaftskreislaufs<br />

in ihren Funktionen als <strong>Arbeit</strong>nehmer und<br />

Konsumenten betrachtet. In dem zu Grunde gelegten<br />

traditionellen Modell des Gçter- und Geldkreislaufs<br />

zwischen Haushalten und Unternehmen<br />

werden ausschlieûlich ækonomische Transaktionen<br />

betrachtet, die mit Geldstræmen verbunden sind.<br />

Haushalte und Unternehmen sind immer schon<br />

vorhanden. Getauscht werden <strong>Arbeit</strong> gegen Geld<br />

und Geld gegen Konsumgçter. Haushaltsproduktion<br />

und Bildung von Humanvermægen werden<br />

nicht berçcksichtigt. Vereine, Verbånde, Selbsthilfegruppen<br />

und nachbarschaftliche soziale Netze<br />

kommen nicht vor. Dies entspricht einem nicht<br />

mehr zeitgemåûen Bild der Wirtschaft: Mehr als<br />

die Hålfte der ækonomischen Ressourcen und<br />

Transaktionen bleibt unberçcksichtigt, und dies<br />

betrifft sogar den wichtigeren Teil.<br />

Damit aber die Schçlerinnen und Schçler zunehmend<br />

ihren individuellen Lebensweg gestalten und<br />

die damit zusammenhångenden gesellschaftlichen<br />

Funktionen erkennen und erfçllen kænnen, benætigen<br />

sie nicht nur partielles Instrumentalwissen,<br />

sondern ± zunåchst und grundlegend ± Orientierungswissen.<br />

Die Orientierung muss in der Aufklårung<br />

çber die Voraussetzungen und Folgen der<br />

25 Vgl. Rçdiger von Rosen/Deutsches Aktieninstitut e. V.<br />

(Hrsg.), Memorandum zur ækonomischen Bildung. Ein Ansatz<br />

zur Einfçhrung des Schulfachs Úkonomie an allgemeinbildenden<br />

Schulen, Frankfurt/M. 1999; Bundesvereinigung<br />

der Deutschen <strong>Arbeit</strong>geberverbånde (BDA)/<br />

Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) (Hrsg.), Wirtschaft ±<br />

notwendig fçr schulische Allgemeinbildung. Gemeinsame<br />

Initiative von Eltern, Lehrern, Wissenschaft, <strong>Arbeit</strong>gebern<br />

und Gewerkschaften, Berlin 2000; Hans Kaminski, Die Bedeutung<br />

der ækonomischen Bildung in allgemeinbildenden<br />

Schulen, in: Sparkasse. Zeitschrift des Deutschen Sparkassenund<br />

Giroverbandes, 117 (2000) 9, S. 389 ± 393.<br />

12


strukturgebenden Funktion der Individuen, Haushalte<br />

und Familien bestehen. Weil die Wirtschaft<br />

ein Zentralbereich in modernen und postmodernen<br />

Gesellschaften ist und die Privathaushalte die<br />

basalen Akteure sein mçssen, ist es notwendig,<br />

entweder ein eigenståndiges Fach oder Lernfeld<br />

¹Sozioækonomie/Wirtschaftª in allen Schulstufen<br />

und Schulformen zu etablieren, das eine angemessene<br />

Thematisierung der Hauswirtschaft in ihrer<br />

Bedeutung fçr die Einzelnen und die Gesellschaft<br />

bietet, oder ± falls eine Konsenslæsung im Fåcherverbund<br />

nicht gelingt ± ein solches eigenståndiges<br />

Fach oder Lernfeld ¹Haushalt/Hauswirtschaft/<br />

Familieª einzufçhren. 26 Die anstehende Revision<br />

26 Vgl. dazu Deutsche Gesellschaft fçr Hauswirtschaft e. V.<br />

(Hrsg.), Kompetent im Alltag. Memorandum fçr eine haushaltsbezogene<br />

Bildung: frçhzeitig, aufbauend, lebenslang.<br />

Wege zu einer zeitgemåûen und zukunftsorientierten Bildung,<br />

Aachen 2001; Michael-Burkhard Piorkowsky, Wirtschaftliche<br />

Allgemeinbildung in den Schulen, in: Dieter<br />

von Lehrplånen sowie die in Aussicht genommene<br />

Einfçhrung der Ganztagsschule bietet gute Mæglichkeiten,<br />

çber die Verankerung im Unterricht<br />

und die Ausbildung von Lehrkråften zu beraten.<br />

Internetverweise des Autors:<br />

Ûber ein Konzept fçr<br />

die Erwachsenenbildung informiert:<br />

www.neuehauswirtschaft.de<br />

Das Konzept wird umgesetzt ab Februar 2003:<br />

www.lernerfolg.vzbv.de<br />

Die Deutsche Gesellschaft fçr Hauswirtschaft e.V.<br />

ist unter folgender Adresse zu erreichen:<br />

www.dghev.de<br />

Korczak (Hrsg.), Bildungs- und Erziehungskatastrophe. Was<br />

unsere Kinder von uns lernen sollen, Interdisziplinåre Studien,<br />

Bd. 25, Opladen 2003 (i. E.).<br />

13 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003


Lothar Krappmann<br />

Kompetenzfærderung im Kindesalter<br />

I. Prekåre Balancen im Alltagsleben<br />

Der Alltag der çberwiegenden Mehrheit der Menschen<br />

in der Bundesrepublik Deutschland ± das<br />

sind fçnf Sechstel der Menschen ± wird vom<br />

Zusammenleben mit anderen Menschen in einem<br />

privaten Haushalt geformt. 1 Die Art und Weise<br />

der Absprachen, die in diesem Haushalt çber alltågliche<br />

Ziele, Aufgaben und <strong>Arbeit</strong>sverteilungen<br />

getroffen werden, entscheidet weitgehend darçber,<br />

ob diese Menschen gemeinsam ¹gutes Lebenª verwirklichen<br />

kænnen. Aus der Perspektive dieses<br />

sozialwissenschaftlichen Zugangs soll in diesem<br />

Beitrag untersucht werden, welche Kompetenzen<br />

Menschen benætigen und wann und unter welchen<br />

Bedingungen sie diese ausbilden, um mit anderen<br />

gemeinsam zufriedenstellend leben zu kænnen.<br />

Es gibt Zweifel daran, dass alle Menschen voraussetzungslos<br />

in der Lage sind, ihren Alltag befriedigend<br />

zu gestalten. Wie berechtigt diese sind,<br />

zeigen Ûberschuldungen von Haushalten, Zerwçrfnisse<br />

mit Nachbarn, die bis vors Gericht getragen<br />

werden, Taschengeldstreitereien mit Kindern oder<br />

auch die schwierigen Probleme, die nach einem<br />

<strong>Arbeit</strong>splatzverlust oder bei Krankheit auftreten.<br />

Manche Ehe und Familie zerfållt aufgrund der<br />

Unfåhigkeit, landlåufig als trivial bewertete Alltagsprobleme<br />

bewåltigen zu kænnen, und nicht<br />

etwa deshalb, weil auûergewæhnliche Konflikte<br />

nicht gelæst werden. Zahlreiche Beobachtungen<br />

beståtigen, dass Menschen nicht nur bei extremer<br />

Beanspruchung, sondern generell in ihrem Alltag<br />

± ¹alltåglichª ± in kleinere und græûere Pannen,<br />

aber auch in schwer wiegende Krisen und Katastrophen<br />

geraten. Die Ursache dafçr liegt nicht in fehlender<br />

Bildung, etwa dem fehlenden Abitur. Vielmehr<br />

verfçgen diese Menschen nicht oder zu wenig<br />

çber Fåhigkeiten, die unter dem Begriff Alltagskompetenzen<br />

zusammengefasst werden kænnen. 2<br />

1 Zwar waren im Jahr 2000 mehr als ein Drittel der Haushalte<br />

Einpersonenhaushalte. Wenn jedoch Personen die Basis<br />

der Berechnung bilden, leben nur 17 Prozent der Bevælkerung<br />

in Einpersonenhaushalten und 83 Prozent in Mehrpersonenhaushalten,<br />

siehe Statistisches Bundesamt (Hrsg.),<br />

Datenreport 2002. Zahlen und Fakten çber die Bundesrepublik<br />

Deutschland, Bonn 2002.<br />

2 Unter verschiedenen Rçcksichten analysieren solche<br />

Alltagsprobleme Peter Bçchner/Burkhard Fuhs, Der Lebensort<br />

Familie. Alltagsprobleme und Beziehungsmuster, in:<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2002<br />

Im Alltagsleben sehen sich Menschen mit Problemen<br />

konfrontiert, weil hier eine Situation falsch<br />

eingeschåtzt, dort ein Termin versåumt wird, weil<br />

die rechtliche Relevanz einer Handlung nicht<br />

erkannt oder der erforderliche Aufwand falsch<br />

kalkuliert wird. Derartige Probleme verweisen<br />

bereits darauf, dass die Bewåltigung des alltåglichen<br />

Lebens Anforderungen an die Menschen<br />

stellt, etwa die, aufmerksam und umsichtig zu sein,<br />

auch fçr scheinbar Banales; und sie signalisieren,<br />

dass dazu Wissen erforderlich ist: Man sollte sich<br />

im tagtåglichen Leben auskennen. Aber es ist<br />

noch komplizierter: Menschen kænnen auch vor<br />

lauter Umsicht und Absicherung handlungsunfåhig<br />

werden. So kann etwa der Schnåppchenjåger<br />

bei seinen tåglichen Kontrollgången durch die<br />

Låden die Erledigung wichtigerer Aufgaben versåumen.<br />

Zu aller Wachsamkeit muss noch ein<br />

Moment von Klugheit kommen; es gilt, die notwendigen<br />

Abwågungen zu steuern, um sich nicht<br />

in den Fallen des Alltags zu verfangen.<br />

Die beschriebenen Probleme kænnen auch zu<br />

kompletten Zusammenbrçchen fçhren, was auf<br />

tiefer liegende Unfåhigkeiten hinweist, etwa darauf,<br />

dass jemand in einer angespannten Situation<br />

nicht die richtigen Worte findet, dass Menschen<br />

nicht merken, was ein Problem, ein Fehler, eine<br />

mitmenschliche Beziehung im Augenblick von<br />

ihnen verlangt, oder dass sie die Hilfsbereitschaft<br />

anderer çberstrapazieren. Es geht also um soziokognitive<br />

Fåhigkeiten, eine soziale Situation richtig<br />

einzuschåtzen. Um im Alltag nicht anzuecken<br />

und Handlungsmæglichkeiten nicht falsch zu interpretieren,<br />

ist es wichtig, die Interessenlage anderer<br />

wahrnehmen zu kænnen, sich in ihre Lage einzufçhlen<br />

und dann gegebenenfalls Rçcksicht nehmen<br />

zu kænnen. Aber auch hier gibt es ein Zuviel des<br />

Perspektivenwechsels. Es gilt, einen Ausgleich<br />

unter verschiedenen Zielsetzungen zu erreichen,<br />

und dazu bedarf es auch, aber nicht nur soziokognitiver<br />

Kompetenz. Das erfordert zugleich die<br />

dies./Heinz-Hermann Krçger (Hrsg.), Vom Teddybår zum<br />

ersten Kuss, Opladen 1996; Gçnter Voû/Margit Weihrich,<br />

Tagaus ± tagein. Neue Beitråge zur Soziologie der alltåglichen<br />

Lebensfçhrung, Mçnchen 2001; Margit Weihrich/Gçnter<br />

Voû (Hrsg.), Tag fçr Tag. Alltag als Problem ± Lebensfçhrung<br />

als Læsung, Mçnchen 2002; Rosemarie von<br />

Schweitzer, Heilendes und krank machendes familiales Alltagsleben,<br />

in: Franz-Michael Konrad (Hrsg.), Kindheit und<br />

Familie, Mçnster 2001; Gunter E. Zimmermann, Ûberschuldung<br />

privater Haushalte, Freiburg i. Br. 1999.<br />

14


Fåhigkeiten, auszuhandeln, zu kompensieren,<br />

langfristig zu denken. In der einen Situation muss<br />

man groûzçgig sein kænnen, in einer anderen ist<br />

Beharrlichkeit erforderlich.<br />

Auch die Unfåhigkeit, Prioritåten zu setzen, kann<br />

zu Problemen fçhren: wenn man nicht weiû, was<br />

das Wichtigste ist, vor allem, was jetzt das Wichtigste<br />

ist, denn eine starre Rangordnung kann auch<br />

hinderlich sein. Aber welches Verhalten ist im<br />

guten Sinne flexibel, und wo beginnen Unzuverlåssigkeit,<br />

Wankelmut und Leichtsinn?<br />

Auûer Kontrolle geraten kann der Alltag ferner<br />

durch Verhalten, das, solange es wohldosiert angewandt<br />

wird, das Alltagsleben ungemein erleichtert,<br />

das aber, sofern nicht auf Grenzen geachtet wird,<br />

oft in erhebliche Schwierigkeiten fçhrt: Freundlichkeit<br />

ist so gut wie immer hilfreich, aber sie<br />

kann ± wenn sie die Form von Gutmçtigkeit<br />

annimmt ± auch dazu fçhren, dass Menschen von<br />

anderen ausgenutzt werden und ihr eigenes Leben<br />

aus den Augen verlieren. Oder: Ohne ein gewisses<br />

Maû an Vertrauen, das Menschen einander entgegenbringen,<br />

wçrde der Alltag nicht laufen, aber<br />

Gutglåubigkeit, etwa sich entgegen widersprechenden<br />

Zeichen immer weiter auf eine zugesagte<br />

Hilfe zu verlassen, kann in groûe Bedrångnis<br />

stçrzen.<br />

So erfordert der Alltag oft ein Verhalten, das<br />

nicht nur an den hæchsten Stufen soziokognitiver<br />

oder moralischer Kompetenz orientiert ist, sondern<br />

heftige, gelegentlich sogar fragwçrdige Mittel<br />

nicht meidet, um einerseits Ansprçchen<br />

Respekt zu verschaffen, andererseits nicht von<br />

einem Regelwerk zerrieben zu werden. Der kompetente<br />

Partner einer Aushandlung muss auch<br />

einmal ¹fçnf gerade seinª lassen kænnen, um den<br />

Alltag nicht an Prinzipien scheitern zu lassen, die<br />

in manchen Situationen mehr schaden als nçtzen.<br />

Diese Balanceakte, mit denen Menschen sich<br />

durch ihren Alltag lavieren, gehæren zum pragmatischen<br />

Handeln, das Menschen beherrschen mçssen,<br />

das aber nicht verantwortungslos ausgeçbt<br />

werden darf, denn hilfreiche Strategien sind willkommen,<br />

gewissenlose Vorgehensweisen jedoch<br />

nicht.<br />

Schlieûlich besteht der Alltag noch aus vielen<br />

Zufållen; da gibt es Glçck und Pech, Verlorenes<br />

und Verlegtes, Unfålle und Krankheiten, çberraschende<br />

Chancen und den seltenen Lottogewinn.<br />

Das alltågliche Leben besteht aus einer<br />

Abfolge solcher unvorhergesehener Widerfahrnisse,<br />

und sowohl die negativen als auch die positiven<br />

sind schwer in die eingespielten Ablåufe zu<br />

integrieren; sie verlangen nach Bewåltigungsstrategien,<br />

um von ihnen nicht aus der Bahn<br />

geworfen zu werden. Auch am glçcklichen Zufall<br />

kann der Alltag scheitern, wenn Menschen mit<br />

plætzlichen Wendungen der Dinge nicht umzugehen<br />

wissen. Die Unabsehbarkeit kleinerer und<br />

græûerer Geschehnisse verlangt Offenheit und<br />

Mut, sich auf Neues einzulassen sowie Chancen zu<br />

nutzen. Zugleich gilt es, Ressourcen zu bedenken<br />

und långerfristige Folgen nicht aus den Augen zu<br />

verlieren.<br />

Kompetentes Alltagshandeln setzt voraus,<br />

± aufmerksam zu sein und Bescheid zu wissen,<br />

aber sich im Streben nach Absicherung nicht zu<br />

låhmen;<br />

± Empfindlichkeiten miteinander kooperierender<br />

Menschen zu berçcksichtigen, aber doch auch<br />

eigene Interessen verfolgen zu kænnen;<br />

± Prioritåten richtig zu setzen und dennoch flexibel<br />

zu bleiben;<br />

± pragmatisch, aber nicht unmoralisch mit Problemen<br />

umgehen zu kænnen; und<br />

± sich auf Unerwartetes einlassen zu kænnen,<br />

aber doch die Ûbersicht nicht zu verlieren.<br />

Auch wenn sie çber diese Kompetenzen verfçgen,<br />

erreichen Menschen oft nicht mehr, als sich ¹halbwegsª<br />

erfolgreich durch den Alltag zu bewegen.<br />

Die richtigen Schwerpunkte zu setzen, klug mit<br />

unlæsbaren Problemen umzugehen, wohldosiert zu<br />

reagieren, ist eine Lebenskunst. 3<br />

Diese Herausforderungen kumulieren in den<br />

¹Einheiten eng verbundenen Lebensª: Jede Person<br />

dieses Alltags- und Lebensverbunds bringt<br />

ihre besondere selektive Aufmerksamkeit, ihre<br />

Sensibilitåt fçr andere, ihre Flexibilitåt und die<br />

Grenzen ihrer Anpassungsfåhigkeit, ihre Art, Probleme<br />

pragmatisch zu læsen, und die glçcklichen<br />

und unglçcklichen Widerfahrnisse, die ihr zustoûen,<br />

mit und macht diese zur gemeinsamen<br />

Angelegenheit.<br />

II. Der unbeachtete Alltag<br />

der Familie<br />

Was ist unter dem Begriff ¹Einheiten eng verbundenen<br />

Lebensª zu subsumieren? Typischerweise<br />

verstehen die Sozialwissenschaftler darunter die<br />

Familie. Sie konzentrieren sich in ihren Forschungen<br />

auf Themen wie die frçhen Bindungserfahrungen,<br />

die Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung,<br />

3 Vgl. Charles Lindblom, The science of ¹muddling<br />

throughª, in: Public Administration Review, 19 (1959), S. 79±<br />

88; Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine<br />

Grundlegung, Frankfurt/M. 2001 8 .<br />

15 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2002


die Konkurrenz des Ehepartner-Subsystems mit<br />

dem Eltern-Kind-System, auf Ablæsung und Beziehungstransformationen<br />

in der Adoleszenz, auf<br />

Rollendefinitionen und Konflikte der Eltern ±<br />

Themen, deren Bedeutung keineswegs geschmålert<br />

werden soll. Sie werden jedoch in einer Weise<br />

behandelt, in der die Alltagsebene der Auseinandersetzungen<br />

nicht oder zu wenig sichtbar wird.<br />

Fåhigkeiten, die erforderlich sind, um diesen Alltag<br />

und seine Probleme gemeinsam gut zu meistern,<br />

werden im Allgemeinen nicht analysiert. Der<br />

triviale, aber entscheidende Alltag wird çbergangen<br />

und damit ein wesentlicher Herd, Rahmen<br />

und Resonanzboden fçr Konflikte ebenso wie fçr<br />

Kooperation und Zuneigung.<br />

Diese Wahrnehmungslçcke hångt nicht zuletzt mit<br />

methodischen Vorgehensweisen zusammen. Vielfach<br />

werden vor allem jeweilige Zustånde gemessen<br />

oder Einstellungen mit standardisierten Fragebægen<br />

abgefragt, nicht aber Prozesse analysiert,<br />

wie es sich aufdrången wçrde, wenn das Alltagsleben<br />

Gegenstand der Forschung wåre. Dann stieûe<br />

man auf das Beziehungssystem Familie, auf den<br />

Haushalt und auf die alltåglichen Probleme, die<br />

Familien læsen mçssen, um gemeinsames ¹gutes<br />

Lebenª zu verwirklichen.<br />

Der Alltag wird ± wider bessere persænliche Erfahrung<br />

± fçr gesichertes Terrain gehalten. Es wird<br />

unterstellt, dass Menschen wissen, wie man das<br />

Leben meistert; es wird angenommen, dass sie<br />

Routinen ausbilden, Mustern folgen, mit denen<br />

allfållige Probleme bewåltigt werden kænnen.<br />

III. Kompetenzen fçr den Alltag<br />

Diejenigen, die sich mit der Entwicklung von<br />

kognitiven, sozialen und moralischen Kompetenzen<br />

wissenschaftlich auseinander setzen, neigen<br />

dazu, das, was man im Alltagsleben kænnen muss,<br />

fçr mitgelernt und mitvermittelt zu halten, wenn<br />

Menschen diese Kompetenzen çber alle Zwischenstufen<br />

bis zur hæchsten erworben haben. Wird man<br />

dadurch ¹kompetent im Alltagª, dass man Fåhigkeiten<br />

wie die zum Perspektivenwechsel oder zur<br />

prinzipienorientierten Urteilsbildung ins tågliche<br />

Leben çbertragen kann? 4<br />

4 Solche Modelle pråsentieren Fritz Oser/Wolfgang Althof,<br />

Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und<br />

Erziehung im Wertebereich, Stuttgart 1992; Robert L. Selman,<br />

Die Entwicklung des sozialen Verstehens, Frankfurt/M.<br />

1984; oder ± nåher an den Problemen des alltåglichen Wirtschaftens<br />

± Annette Claar, Die Entwicklung ækonomischer<br />

Begriffe im Jugendalter. Eine strukturgenetische Perspektive,<br />

Berlin 1990.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2002<br />

Kompetenz wird in dieser Sichtweise definiert als<br />

Potenz, çber die ein Mensch verfçgt, um ein<br />

kognitives, soziales oder moralisches Problem in<br />

Abwågung aller Argumente pro und kontra zu<br />

læsen. Untersucht wird dies unter idealen Bedingungen<br />

und ohne die Restriktionen zu berçcksichtigen,<br />

denen Probanden im Alltag ausgesetzt sind:<br />

knappe Zeit, eingegangene Verpflichtungen, fehlende<br />

Erfahrung, Rçcksicht auf Beziehungen, vorhandene<br />

und nicht vorhandene finanzielle und<br />

andere Mittel. Gleichsam im gemçtlichen Sessel<br />

sitzend wird abgewogen, ob Heinz, um das bekannte<br />

Moraldilemma Lawrence Kohlbergs zu<br />

zitieren, 5 fçr seine todkranke Frau das einzig hilfreiche,<br />

aber unbezahlbare Medikament aus der<br />

Apotheke stehlen oder sich an Gesetz und Krankenkassenvorschriften<br />

halten soll.<br />

Diese Geschichte ist hervorragend dazu geeignet<br />

herauszufinden, welche Gedanken und Begrçndungen<br />

einem Menschen zu Gerechtigkeit und<br />

mitmenschlicher Fçrsorge im Kopf herumgehen,<br />

und das ist wahrhaftig nicht irrelevant. Aber fast<br />

jeder reale Heinz wçrde bei der Aktion, das Medikament<br />

beim nåchtlichen Einbruch aus einer gut<br />

gesicherten Apotheke zur Rettung seiner Frau zu<br />

entwenden, im Gefångnis landen und die Ehefrau<br />

nicht einmal mehr am Krankenbett træsten kænnen.<br />

Vor diesem Hintergrund drångt sich die Frage<br />

auf, ob die Kompetenzen, die in den entwicklungspsychologischen<br />

Modellen im Mittelpunkt stehen<br />

und deren Bedeutung fçr die Ausbildung menschlichen<br />

Denk- und Urteilsvermægens nicht<br />

bezweifelt werden soll, uns tatsåchlich helfen, den<br />

Alltag zu meistern?<br />

Die soziale Welt, in der mittels dieser Kompetenzen<br />

Probleme gelæst werden sollen, wird als rational<br />

und durch eindeutige Abhångigkeiten verflochten,<br />

çbersichtlich und durchschaubar, nicht<br />

unter dem Druck von Engpåssen, Versåumnissen<br />

und unerwarteten Ereignissen stehend und frei<br />

von Øngsten und Sehnsçchten, Zuneigungen und<br />

Vorurteilen, die in geringerem oder stårkerem<br />

Maûe das Handeln von Menschen beeinflussen,<br />

angesehen.<br />

In diesen Modellen ist der Alltag kein Fluss von<br />

Ereignissen, in dem man um des sozialen Ûberlebens<br />

willen mitschwimmen muss und in dem man<br />

nie an einen Punkt gelangt, an dem alles noch einmal<br />

von null auf çberlegt, entworfen und in den<br />

Griff genommen werden kann.<br />

5 Zuerst bekannt geworden durch den Aufsatz von Lawrence<br />

Kohlberg, Stufe und Sequenz, in: ders., Zur kognitiven<br />

Entwicklung des Kindes, Frankfurt/M. 1974.<br />

16


IV. Daseinskompetenz<br />

als Bildungsziel<br />

Derartige Ûberlegungen haben die Autoren des<br />

Fçnften Familienberichts veranlasst vorzuschlagen,<br />

als fundamentales Ziel der Bildung eine Fåhigkeit<br />

der Lebensbewåltigung einzufçhren, die sie Daseinskompetenz<br />

nennen. 6 Sie wollten unterstreichen,<br />

dass Leben, Wirtschaften und Es-sich-gutgehen-Lassen<br />

im gemeinsamen Haushalt noch eine<br />

andere Art und Weise erforderlich macht, sich<br />

Problemen zu nåhern und sie zu læsen, eine, die<br />

nicht auf dem mathematisch korrekten Umgang<br />

mit Informationen und Relationen beruht, sondern<br />

die sich bei Unvollståndigkeit der Informationen,<br />

Knappheit der Mittel, Ungewissheit der Entwicklung<br />

der Prozesse und Widersprçchlichkeit mæglicher<br />

Ziele, die sich also in typischen Alltagssituationen<br />

von Familien bewåhrt.<br />

Haushalte waren schon immer Orte, an denen<br />

Entscheidungen nicht nur nach Modellen von<br />

¹rational choiceª gefållt wurden bzw. werden<br />

konnten, weil die Voraussetzungen dafçr nicht<br />

gegeben waren. In der (Post-)Moderne ± unter<br />

dem Druck von Innovation und Wandlung, von<br />

Flexibilitåt und Mobilitåt ± ist dies erst recht der<br />

Fall. Die in einem Haushalt gemeinsam Lebenden<br />

und Wirtschaftenden mçssen heute unter kaum<br />

mehr durchschaubaren Bedingungen, angesichts<br />

angepriesener Chancen und eher verschwiegener<br />

Risiken, in Auseinandersetzung mit Sehnsçchten<br />

und Øngsten Plåne fçr gutes Leben entwerfen und<br />

Entscheidungen treffen. Die nicht mehr unbedingt<br />

an einem Ort lebende Mehrgenerationenfamilie<br />

kann nicht mehr auf die Traditionen zurçckgreifen,<br />

die einst einen Haushalt stçtzten; sie muss die<br />

Muster ihres gemeinsamen Lebens mit Daseinskompetenz<br />

anpassen, modifizieren und zum Teil<br />

neu erfinden. Diese Ûberlegungen beziehen sich<br />

nicht nur auf zersplitternde Patchwork-Familien,<br />

sondern auch auf tagtågliche Probleme in den vorherrschenden<br />

Zwei-Eltern-zwei-Kinder-Familien,<br />

die sich den Verånderungen von Bildung, Beruf,<br />

Technik, Medien, Freizeit und Moral nicht entziehen<br />

kænnen und immer wieder neu um tragfåhige<br />

Arrangements ihres Zusammenlebens ringen. 7<br />

Diese Verånderungen stellen keineswegs nur eine<br />

6 Siehe Sachverståndigenkommission fçr den Fçnften Familienbericht,<br />

Fçnfter Familienbericht: Familien und Familienpolitik<br />

im geeinten Deutschland ± <strong>Zukunft</strong> des Humanvermægens,<br />

hrsg. vom Bundesministerium fçr Familie und<br />

Senioren, Bonn 1994.<br />

7 Vgl. Ulrich Beck/Wilhelm Vossenkuhl/Ulf E. Ziegler, Eigenes<br />

Leben. Ausflçge in die unbekannte Gesellschaft, in der<br />

wir leben, Mçnchen 1995; Manuela du Bois-Reymond, Die<br />

moderne Familie als Verhandlungshaushalt. Eltern-Kind-Be-<br />

Bedrohung dar, sind nicht nur mit Verlust verbunden,<br />

sondern bieten auch Chancen, mehr aus dem<br />

Leben zu machen ± vorausgesetzt, das Zusammenleben<br />

kann so organisiert werden, dass es ¹gutes<br />

Lebenª erzeugt.<br />

Es liegt nahe, vom ¹normalen Chaosª des Familienalltags<br />

zu sprechen, das sich in die Vorstellungen<br />

von Handlungstheorien kaum einfçgen låsst,<br />

die aufgeklårte Voraussetzungen und wohlçberlegte<br />

Grçnde fçr Planung und Entscheidung verlangen.<br />

Das Bild des Chaos ist verfçhrerisch, suggeriert<br />

aber eine Situation, durch die Haushalte im<br />

Allgemeinen nicht charakterisiert sind. Der<br />

Gegensatz von rational ist nicht nur irrational, sondern<br />

auch lebensklug. 8 Der (post)moderne Haushalt<br />

ist nicht durch Chaos gekennzeichnet, er ist<br />

vielmehr ein Ort, an dem die dort Lebenden auf<br />

der ståndigen Suche nach Regeln und Verfahrensweisen,<br />

nach Routinen und Erlebnissen sind, die<br />

Entlastung bringen, Unsicherheit abbauen und<br />

Zufriedenheit stiften. Viele Haushaltsmitglieder<br />

nehmen wahr, dass ihnen bei ihren Bemçhungen<br />

immer wieder Fehler unterlaufen. Sie sind durchaus<br />

gewillt zu lernen; sie lesen Zeitschriften wie<br />

¹Finanztestª und ¹Psychologie heuteª, Ratgeberseiten<br />

und Buchserien. Aber die Bewåltigung des<br />

Alltags setzt mehr voraus als kognitives, gesichertes<br />

Wissen: Es kommt darauf an, Zusammenhånge<br />

zu erspçren, langfristige Entwicklungen einschåtzen<br />

zu lernen; Aufwand und Ertrag in ein Verhåltnis<br />

zu bringen; auf den richtigen Zeitpunkt fçr<br />

Læsungen warten zu kænnen und zu ertragen,<br />

wenn trotz aller Bemçhungen am Ende unbefriedigende<br />

Ergebnisse stehen. Es gilt, mit solchen<br />

Erfahrungen umgehen zu lernen, sich dadurch<br />

nicht frustrieren, sondern zu weiteren Anstrengungen<br />

motivieren zu lassen. Es ist wichtig, Sensibilitåt<br />

zu entwickeln fçr Unterschiede, Eigenheiten<br />

und Vorlieben, zu lernen, sich nicht nur an messbarer<br />

Effizienz zu orientieren, sondern auch<br />

Stimmungen und Gefçhle einzubeziehen. Kompetenzen<br />

des ¹guten gemeinsamen Lebensª ± Daseinskompetenzen<br />

± sind nicht allein anhand solcher<br />

Kriterien wie richtig oder falsch, mehr oder<br />

weniger, gerecht oder ungerecht zu messen. Eine<br />

wichtigere Rolle spielen Kriterien wie ¹lebbarª<br />

oder ¹gutes Lebenª, ¹belastendª, Entwicklungen<br />

¹færderndª oder ¹einschrånkendª.<br />

Es wird deutlich, dass diese Kompetenzen auch<br />

in weitgehend durchrationalisierten Produktions-<br />

ziehungen in West- und Ostdeutschland und in den Niederlanden,<br />

in: dies. u. a. (Hrsg.), Kinderleben. Modernisierung<br />

von Kindheit im interkulturellen Vergleich, Opladen 1994.<br />

8 Vgl. Gerd Gigerenzer, Decision making: Nonrational<br />

theories, in: Neil J. Smelser/Paul B. Baltes (Hrsg.), International<br />

encyclopedia of the social and behavioral sciences.<br />

Band 5, Amsterdam 2001.<br />

17 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2002


und Verwaltungsståtten von groûer Bedeutung<br />

sind, geht es doch auch in diesen um die Auseinandersetzung<br />

mit Ungewissheit, Differenz und Wandel.<br />

Diese produktiv fçhren zu kænnen, ist die Basis<br />

menschlicher Lern- und Entwicklungspotenziale.<br />

V. Færderung von Alltagskompetenzen<br />

schon im Kindesalter?<br />

Sollten diese Daseinskompetenzen bereits im Kindesalter<br />

herausgebildet werden? Zweifellos sind<br />

Kinder direkt und indirekt dem Druck, sich Handlungszwången<br />

anzupassen und sich flexibel zu verhalten,<br />

ausgesetzt. 9 Wo und wie lernen sie, Leben<br />

mit anderen in vernçnftigem Umgang mit vorhandenen<br />

Mitteln gemeinsam zu gestalten? Ein Teil<br />

dieser Kompetenzen kænnte sicher in einem problem-<br />

und projektorientierten Unterricht vermittelt<br />

werden. Die Forderung, dass unsere Schulen<br />

ihre Curricula grundlegend revidieren sollten, um<br />

den Heranwachsenden nicht nur die Wissenschaftsund<br />

Sinntraditionen des Denkens zu erschlieûen,<br />

sondern neben vielem anderen auch Wissen, Fåhigkeiten<br />

und Orientierungen fçr die Lebenspraxis<br />

anzubieten, ist nicht neu. Wirtschaft, Recht, Haushalt,<br />

Umwelt, Ernåhrung, Gesundheit gehæren in<br />

die Schule. Man mag es kaum wiederholen.<br />

Leider gibt es die Erfahrung, dass Schule Themen<br />

nicht nur erschlieûen, sondern auch verderben<br />

kann, wenn sie daraus Unterrichtsstoff macht. Um<br />

dem vorzubeugen, werden solche Angebote,<br />

sofern es sie gibt, mæglichst nah an die Zeit herangeschoben,<br />

in der man dieses Wissen wirklich<br />

braucht: in die hæheren Klassen. Aber kann die<br />

Schule in der sich so schnell veråndernden Welt<br />

wirklich Heranwachsenden ein Wissen bieten, das<br />

sie in ein paar Jahren sinnvoll einsetzen kænnen?<br />

Greift die Vermittlung von Wissen nach dem Ausgefçhrten<br />

nicht zu kurz? Es geht um grundlegende<br />

Kompetenzen, und diese werden in frçhen<br />

Lebensjahren angelegt, in der Kindheit. Sollten<br />

aber die Kompetenzen des ¹guten gemeinsamen<br />

Lebensª, die Daseinskompetenzen, tatsåchlich bereits<br />

in der frçhen Kindheit vermittelt werden?<br />

Die Zweifel, ob dies ein sinnvolles, erreichbares<br />

Ziel ist, entstehen vermutlich aus der Vorstellung,<br />

Kinder mçssten in diesem Kænnen unterrichtet<br />

9 Vgl. Georg Breidenstein/Helga Kelle, Alltagspraktiken<br />

von Kindern in ethnomethodologischer Sicht, in: Michael-<br />

Sebastian Honig/Andreas Lange/Hans Rudolf Leu (Hrsg.),<br />

Aus der Perspektive von Kindern?, Weinheim 1999; Gerd<br />

Harms/Christa Preissing (Hrsg.), Kinderalltag, Berlin 1988;<br />

Helga Zeiher/Hartmut J. Zeiher, Wie Kinderalltage zustande<br />

kommen, in: Christa Berg (Hrsg.), Kinderwelten, Frankfurt/<br />

M. 1991.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2002<br />

werden. Im Kern sind jedoch diese Kompetenzen<br />

± Aufmerksamkeit und Rçcksichtnahme, Prioritåten<br />

gepaart mit Flexibilitåt, Grundsåtze vereint<br />

mit Lebensklugheit, Bemçhung um Wissen nicht<br />

ohne den ¹Mut zur Lçckeª, der Blick fçr das<br />

Gegenwårtige und die <strong>Zukunft</strong> ± gar nicht lehrbar.<br />

Sie sind ¹ablesbarª von Vorbildern; sie sind ¹aufsaugbarª<br />

aus Handlungszusammenhången, an<br />

denen Kinder und Jugendliche beteiligt sind. In<br />

dieser Hinsicht gibt es fast keine Grenze hinsichtlich<br />

des Lebensalters ¹nach untenª. Immer dann,<br />

wenn ein Kindergarten, eine Spielgruppe von Kindern<br />

nicht ein Kindergarten oder eine Spielgruppe<br />

fçr Kinder, sondern mit Kindern ist, also die Beteiligung<br />

der Kinder færdert, entstehen Situationen,<br />

in denen Kompetenzen ablesbar und aufsaugbar<br />

sind. Dasselbe gilt im Ûbrigen auch fçr die Familie:<br />

Der (post)moderne, nach befriedigenden Formen<br />

des Zusammenlebens suchende Familienhaushalt<br />

ist ein wichtiger Ort des Lernens, an dem<br />

Kompetenzen ebenfalls nicht in erster Linie durch<br />

Belehrung, sondern vor allem durch Vorbild und<br />

Mitmachen vermittelt werden. 10<br />

VI. Kompetenzfærderung in<br />

Kindergarten, Schule und Familie<br />

Kann also alles so bleiben, wie es ist? Nein, denn<br />

die Færderung einer Bildung fçr die Bewåltigung<br />

des Alltags durch die Herausforderung von Initiative,<br />

von selbstregulierenden, Vorgehen und Erfolg<br />

kontrollierenden und Interessen koordinierenden<br />

Strategien der Kinder befindet sich noch långst<br />

nicht auf einem gutem Stand.<br />

Zum einen fehlt es in den Kindereinrichtungen an<br />

entwicklungspsychologischen Kenntnissen: çber<br />

wachsende Selbstwirksamkeitserfahrungen, çber<br />

sich langsam bildende Ûberzeugungen, Ziele erreichen<br />

zu kænnen, çber sich entwickelnde Einsichten<br />

in Zusammenhånge zwischen Mitteln und Erfolg<br />

und çber das sich erweiternde Repertoire von<br />

Aushandlungsfåhigkeiten. Unsere Erzieherinnen<br />

und Erzieher benætigen eine qualifiziertere Ausbildung.<br />

Zum anderen gibt es in der Pådagogik der Kindereinrichtungen<br />

kaum Modelle, um diese fçr praktisches<br />

Handeln grundlegenden Entwicklungen<br />

10 Vgl. Lothar Krappmann, Bildung als Ressource der<br />

Lebensbewåltigung. Der Beitrag von Familie, Schule und<br />

Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zum Bildungsprozess<br />

in Zeiten der Pluralisierung und Flexibilisierung<br />

der Lebensverhåltnisse, in: Richard Mçnchmeier/Hans-Uwe<br />

Otto/Ursula Rabe-Kleberg (Hrsg.), Bildung und Lebenskompetenz,<br />

Opladen 2002.<br />

18


gezielt zu færdern. 11 Viel ist çber die Rolle der<br />

erlebten Selbstwirksamkeit in Lernprozessen und<br />

in der Persænlichkeitsentwicklung bekannt, aber<br />

dieses Wissen wurde bislang nicht in didaktische<br />

Arrangements umgesetzt. Auf dieselben pådagogischen<br />

Umsetzungsmångel stoûen wir, wenn wir<br />

die Schulen betrachten, auch die Ganztagsschule,<br />

die nun die Antwort auf die PISA-Misere sein soll.<br />

Es bæten sich zweifellos gute Chancen, durch die<br />

zeitliche Ausdehnung des gemeinsam gestalteten<br />

Schullebens die Kompetenzen zur Bewåltigung<br />

des Alltags zu erhæhen. Aber dazu reicht es nicht,<br />

das Vormittagslernen am Nachmittag fortzusetzen.<br />

Ohne pådagogisch konzipierte Projekte, die<br />

Selbstwirksamkeit, Aushandlung, Handlungskontrolle<br />

und Planungsfåhigkeit durch gemeinsames<br />

Leben, Verwalten und Haushalten in Schule,<br />

Klasse und <strong>Arbeit</strong>sgemeinschaft herausfordern,<br />

dçrfte der Fortschritt eher gering sein.<br />

Wenn Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen<br />

und Lehrern vermehrt Grundlagenwissen vermittelt<br />

wird, kann auch Reflexion einsetzen, um die<br />

aufgenommenen Handlungsmuster zu sichern.<br />

Dann kænnen sie die Erfahrungen der Kinder mit<br />

diesen zusammen verbalisieren und dadurch bewusst<br />

machen, was und wie man etwas gemeinsam<br />

getan <strong>hat</strong>. Irving E. Sigel spricht von der notwendigen<br />

Distanzierung vom unmittelbar Erlebten, die<br />

in Gespråchen und gemeinsamem Nachdenken<br />

erfolgt und durch die Erfahrenes zu Gelerntem<br />

wird. 12<br />

Die Erfahrung, dass sich gemeinsames Leben<br />

angesichts knapper Mittel und unterschiedlicher<br />

Erwartungen aushandeln und gestalten låsst, kann<br />

dann zum Fundament fçr systematische Lernprozesse<br />

werden, denn åltere Kinder und Jugendliche<br />

benætigen umfangreichere Kenntnisse çber ækonomische,<br />

rechtliche, ækologische und Wohlbefinden<br />

færdernde Zusammenhånge, als ihnen heute vermittelt<br />

wird. Ein spiralfærmiges Curriculum wçrde<br />

die Herausforderungen an die Kompetenzentwicklung<br />

mehrmals aufgreifen und sie zunåchst<br />

in çberschaubare gemeinsame Handlungsvollzçge<br />

im Kindesalter wie das gemeinsame Frçhstçck<br />

im Kindergarten einbetten, dann in zunehmend<br />

reflektierteren Projekten in der Grundschule hervorlocken<br />

und einçben und schlieûlich in kritischer<br />

Auseinandersetzung in hæheren Schulstufen<br />

bewusst verfçgbar und kritisch beurteilbar machen.<br />

11 Schritte dazu sind zu finden in Wassilios E. Fthenakis/<br />

Martin R. Textor (Hrsg.), Pådagogische Ansåtze im Kindergarten,<br />

Weinheim 2000.<br />

12 Vgl. Irving E. Sigel, The distancing hypothesis, in: Marshall<br />

R. Jones (Hrsg.), Miami Symposium on the Prediction of<br />

Behavior. Effects of Early Experience, Coral Gables, FL<br />

1970.<br />

Nicht vergessen werden sollte, dass die Familie<br />

selbst die erste Bildungsståtte fçr den Erwerb von<br />

Kompetenzen zur Bewåltigung des Alltags ist.<br />

Dass so oft vorgeschlagen wird, in Schulen oder<br />

Familienbildungsståtten junge Månner und Frauen<br />

auf gelingendes Familienleben vorzubereiten, ist<br />

darauf zurçckzufçhren, dass nicht wenige Familien<br />

sich schwer tun, ein befriedigendes Familienleben<br />

zu verwirklichen. Nicht nur Unvermægen, sondern<br />

auch die schwierigen Rahmenbedingungen sind<br />

dafçr verantwortlich: Mçtter und Våter, Frauen<br />

und Månner reiben sich an zahlreichen Problemen<br />

auf, mit jedem zusåtzlichen Kind sinkt das Pro-<br />

Kopf-Einkommen der Familie, es gibt zu wenig<br />

auûerfamiliale Betreuungsmæglichkeiten fçr die<br />

Kinder, Familien- und Berufståtigkeit lassen sich<br />

nur schwer vereinbaren, die Zeit ist fçr alles zu<br />

knapp, die Mæglichkeiten der sozialen und kulturellen<br />

Partizipation sind eingeschrånkt.<br />

Die Familie ist die erste Bildungsståtte der Kinder,<br />

gerade auch im Hinblick auf Daseinskompetenzen.<br />

Dass es einer gewissen Anstrengung bedarf, familiåres<br />

Zusammenleben zu gestalten, wirkt durchaus<br />

stimulierend auf die Herausbildung von Kompetenzen.<br />

Die Fçlle der oben genannten Probleme<br />

vermindert jedoch die Chance, konstruktive<br />

Erfahrungen zu vermitteln, erheblich. Versuche,<br />

Eltern und Kindern zu helfen, entsprechende<br />

Kompetenzen an anderer Stelle, etwa in den Schulen,<br />

zu entwickeln, werden dann wenig fruchten,<br />

wenn die Handlungs- und Gestaltungsspielråume<br />

in der Familie durch Belastungen zu stark eingeengt<br />

werden, vorhandenes Potenzial somit erdrçckt<br />

wird. 13<br />

Unter Bedingungen, unter denen die Familie in<br />

der Lage ist, ihren Alltag konstruktiv zu gestalten,<br />

kann sie von der Bewusstmachung und Reflexion<br />

der Alltagsgestaltung profitieren, lernen, wie man<br />

den Alltag kompetent gestaltet. Dann gewinnt<br />

nicht nur die Familie, sondern auch die Schule.<br />

Wenn ± umgekehrt ± das gemeinsame Leben nicht<br />

gut funktioniert, dann werden die Forderungen<br />

der Schule bald zu Belastungen des Haushalts.<br />

Gelingt jedoch gutes Leben, dann sind auch Energien<br />

fçr das Lernen in der Schule und fçr bçrgerliches<br />

Engagement da bzw. kænnen aktiviert werden.<br />

Die Schlussfolgerung daraus kann nur lauten,<br />

den Ort, an dem Menschen miteinander leben, den<br />

Haushalt, zu unterstçtzen: durch die Vermittlung<br />

von Kompetenzen, denn diese Einheit gemeinsam<br />

wirtschaftender Menschen ist ein entscheidender<br />

Schnittpunkt unserer Sozialwelt.<br />

13 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat fçr Familienfragen, Die<br />

bildungspolitische Bedeutung der Familie ± Folgerungen aus<br />

der PISA-Studie, hrsg. vom Bundesministerium fçr Familie,<br />

Senioren, Frauen und Jugend, Stuttgart 2002.<br />

19 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2002


Edda Mçller /Hildegard Mackert<br />

Bildung fçr Haushalt und Konsum<br />

als vorsorgender Verbraucherschutz<br />

¹Kluge Verbraucherpolitik sucht die Balance zwischen<br />

staatlichen Regulierungen zum Schutz der<br />

Verbraucher und der Aktivierung der Konsumenten.<br />

In einer Wirtschaftsordnung, die neben eigener<br />

Wachstumsdynamik auch den Zwången gemeinsamer<br />

Standards im Binnenmarkt sowie eines Welthandelsabkommens<br />

ausgesetzt ist, haben staatliche<br />

Allmachtsvorstellungen keinen Platz.ª 1 Dieses<br />

Zitat der Bundesverbraucherministerin bringt den<br />

Zusammenhang zwischen Verbraucherpolitik und<br />

Verbraucherbildung auf den Punkt, ohne Bildung<br />

auch nur erwåhnen zu mçssen.<br />

Wåhrend Verbraucherpolitik es sich u. a. durch die<br />

Instrumente der Gesetzgebung, durch behærdliche<br />

Kontrolle und Ûberwachung zur Aufgabe machen<br />

muss, fçr den Schutz der Verbraucherinnen und<br />

Verbraucher 2 zu sorgen, zielt Verbraucherbildung<br />

auf deren Aktivierung zu eigenverantwortlichem<br />

Handeln. Die Aktivitåt der Verbraucher und<br />

damit das Ziel der Verbraucherbildung besteht vor<br />

allem in der Ûbernahme von Verantwortung fçr<br />

Konsumentscheidungen und in der Ausbildung<br />

der Fåhigkeit zur Gegenwehr, d. h. der Entwicklung<br />

von psychischem Widerstand gegen Beeinflussungsversuche,<br />

um auf Marketingstrategien<br />

angemessen reagieren zu kænnen.<br />

In einer Gesellschaft, die zunehmend von Marktprozessen<br />

gesteuert wird und in der sich technologischer<br />

und soziologischer Wandel beschleunigen,<br />

ist das Management des privaten Haushalts und<br />

des tåglichen Lebens keineswegs so einfach und<br />

banal, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.<br />

Verbraucher sind durch die vielen Facetten der<br />

Alltagsgestaltung sowie des allmåhlichen Rçckzugs<br />

des Staates aus der Daseinsfçrsorge mit den<br />

unterschiedlichsten Anforderungen konfrontiert.<br />

Fçr deren Bewåltigung vermittelt ihnen heute die<br />

Schule bei weitem nicht alle erforderlichen Fåhigkeiten<br />

und Kompetenzen. 3 Darunter fallen insbe-<br />

1 Renate Kçnast, Die Chance in der Krise: Qualitåt verlangen,<br />

in: Jçrgen Lackmann (Hrsg.), Verbraucherpolitik und<br />

Verbraucherbildung: Beitråge fçr einen nachhaltigen Verbraucherschutz,<br />

Weingarten 2002, S. 61.<br />

2 Aus Grçnden der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden<br />

nur die maskuline grammatische Form verwendet. Selbstverståndlich<br />

ist die feminine Form immer mitgemeint.<br />

3 ¹Sehr einfach gesprochen, ist mit alltåglicher Lebensfçhrung<br />

das gemeint, was Menschen den ganzen Tag und jeden<br />

Tag aufs neue alles tun. Dabei . . . geht (es) um die Art<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003<br />

sondere Konsumkompetenzen. Sie wollen gelernt<br />

und eingeçbt sein. Ziel der Bildung ist die Befåhigung<br />

zum mçndigen Konsumenten, der in der Lage<br />

ist, auf der Basis von Werten und Sachinformationen<br />

seine Entscheidungen zu treffen. Auftrag der<br />

Schule sollte es sein, ethische Werthaltungen wie<br />

soziale und ækologische Verantwortung auch in<br />

Bezug zu setzen zu dem Handeln als Konsument.<br />

Darçber hinaus muss die Fåhigkeit entwickelt werden,<br />

Sachinformationen einzuordnen, zu bewerten,<br />

zu gewichten und in Alltagshandeln umzusetzen.<br />

Hier setzt Bildung fçr Verbraucher an.<br />

Viele Regelungen, wie zum Beispiel das im Bundesrat<br />

abgewiesene Verbraucherinformationsgesetz<br />

(das allerdings wieder auf den Weg gebracht<br />

werden soll), das Bio-Siegel oder die Rentenreform,<br />

die so genannte ¹Riester-Renteª, kænnen<br />

nicht richtig greifen, wenn sie nicht genutzt werden.<br />

Nur der gebildete, entscheidungs- und handlungsbereite<br />

Verbraucher ist dazu in der Lage. Darçber<br />

hinaus ist Bildung die Voraussetzung fçr einen vorsorgenden<br />

Verbraucherschutz. Nur der informierte<br />

Verbraucher ist fåhig, seine Konsumentenrolle<br />

aktiv und verantwortlich wahrzunehmen und somit<br />

sich selbst und die Gesellschaft vor den negativen<br />

Auswirkungen des Konsums zu schçtzen.<br />

In den folgenden Kapiteln werden wir Ûberlegungen<br />

anstellen, wie Bildung fçr Verbraucher<br />

verknçpft ist mit dem Ziel eines vorsorgenden Verbraucherschutzes<br />

und dem Konzept des Nachhaltigen<br />

Konsums und welche Vorstellungen çber Bildungspolitik<br />

und Curriculumentwicklung daraus<br />

abzuleiten sind.<br />

und Weise, wie man die vielfåltigen Dinge des Alltags praktisch<br />

regelt und miteinander vereinbart.ª Karin Jurczyk, ¹Die<br />

<strong>Arbeit</strong> des Alltagsª ± Unterschiedliche Anforderungen in der<br />

alltåglichen Lebensfçhrung von Frauen und Månnern, in:<br />

Stiftung Verbraucherinstitut, Deutsches Institut fçr Erwachsenenbildung<br />

(Hrsg.), Focus Alltag, Frankfurt/M. 1995.<br />

Damit wird in den Blick gerçckt, dass die alltågliche Lebensfçhrung<br />

keineswegs aus automatisierten Ablåufen besteht,<br />

sondern sie ist ein mit <strong>Arbeit</strong> und Zeitaufwand verbundener<br />

aktiver Prozess, die einzelnen Bereiche des Alltags, die jeweils<br />

einer eigenen Logik folgen, miteinander in Einklang zu<br />

bringen. Um Aktivitåt und Gestaltungsmæglichkeit stårker zu<br />

betonen, wird auch von Alltagsgestaltung gesprochen. Vgl.<br />

Claudia Empacher, Zielgruppenspezifische Potenziale und<br />

Barrieren fçr nachhaltigen Konsum, Vortrag bei der Tagung<br />

¹Nachhaltiger Konsum? Auf dem Wege zur gesellschaftlichen<br />

Verankerungª, 29./30. 11. 2001, zitiert nach www.isoe.<br />

de, ohne Seitennummerierung.<br />

20


I. Vorsorgender Verbraucherschutz<br />

Eines der Leitbilder moderner Verbraucherpolitik<br />

ist die Vorsorge, d. h. die Vermeidung von Nachteilen<br />

des Konsums fçr die Verbraucher und hinsichtlich<br />

der Erreichung akzeptierter kollektiver<br />

gesellschaftlicher Ziele. 4 Vorsorgender Verbraucherschutz<br />

setzt nicht erst bei Produkten und<br />

Dienstleistungen am Markt an, sondern umfasst<br />

die der Vermarktung vorgelagerten Produktionsprozesse.<br />

Beim vorsorgenden Verbraucherschutz<br />

geht es z. B. um die Vermeidung gesundheitlicher<br />

individueller Risiken ebenso wie um die Vermeidung<br />

von Kosten fçr das Solidarsystem des<br />

Gesundheitswesens. Es geht auch um die Verhçtung<br />

nachteiliger Auswirkungen der Warenproduktion<br />

auf die Umwelt und auf soziale Belange<br />

wie den <strong>Arbeit</strong>sschutz und den Erhalt von<br />

<strong>Arbeit</strong>splåtzen. Dies betrifft nicht nur den tåglichen<br />

Warenkonsum. Vorsorgender Verbraucherschutz<br />

umfasst auch Fragen der Verschuldungspråvention<br />

sowie z. B. Regelungen und Informationen<br />

zu den besten Mæglichkeiten der privaten<br />

Altersvorsorge.<br />

Der Auftrag zu einem vorsorgenden Verbraucherschutz<br />

richtet sich an alle beteiligten Akteure: die<br />

Politik, die anbietende Wirtschaft, die Verbraucherorganisationen<br />

und die einzelnen Verbraucher:<br />

± Die Politik muss die Rahmenbedingungen fçr<br />

einen vorsorgenden Verbraucherschutz gestalten.<br />

Zu den Rahmenbedingungen gehæren u. a.<br />

wirksame Instrumente zur Garantie eines fairen<br />

Wettbewerbs sowie zur Sicherung der<br />

Transparenz des Anbieterverhaltens etwa in<br />

Form eines Verbraucherinformationsgesetzes.<br />

Es gehært hierzu insbesondere die Gestaltung<br />

einer Bildungspolitik, die es den Verbrauchern<br />

ermæglicht, als mçndige Konsumenten im<br />

Marktprozess zu agieren.<br />

± Die Rolle der Wirtschaft ist es, Entscheidungen<br />

çber Investitionen, Produktwahl und Produktionsstandorte<br />

in einer langfristigen unternehmerischen<br />

Perspektive zu treffen, wirksame<br />

Eigenkontrollen durchzufçhren sowie die<br />

Glaubwçrdigkeit und Verlåsslichkeit von<br />

Kennzeichnungen und Informationen sowie die<br />

Wahrhaftigkeit in der Werbung sicherzustellen.<br />

± Verbraucherorganisationen haben eine doppelte<br />

Aufgabe: Sie wirken auf den politischen<br />

Prozess ein und kontrollieren die Wirtschafts-<br />

4 Vgl. Edda Mçller, Grundlinien einer modernen Verbraucherpolitik,<br />

in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage<br />

zur Wochenzeitung Das Parlament, B 24/2001, S. 6±15.<br />

akteure z. B. durch die Wahrnehmung kollektiver<br />

Klagerechte. Sie helfen den Verbrauchern<br />

durch Beratung und die Vermittlung von Information,<br />

sich gegen unseriæse Anbieter zu<br />

wehren und als souveråne Marktteilnehmer<br />

aufzutreten.<br />

± Die Verbraucher schlieûlich mçssen erkennen,<br />

dass sich aus ihren Rechten auch Pflichten<br />

ergeben. Sie sind gefordert, die Folgen ihrer<br />

Konsumentscheidungen zu bedenken. Dies<br />

sind ± auf der Makroebene ± ækologische und<br />

soziale Folgen, die sich aus den Produktionsbedingungen<br />

von Gçtern ergeben, aber auch ±<br />

auf der Mikroebene ± Folgen fçr das private<br />

Budget und die eigene Gesundheit.<br />

Vorsorgender Verbraucherschutz bedeutet also fçr<br />

alle Akteure die Ûbernahme von Verantwortung<br />

fçr die Bewahrung bzw. Wiederherstellung einer<br />

intakten Um- und Mitwelt im unmittelbar privaten<br />

und im gesellschaftlichen Sinne. Dabei ist das<br />

Handeln der privaten Haushalte immer auch<br />

beeinflusst durch politische und wirtschaftliche<br />

Rahmenbedingungen, die færdernd oder einschrånkend<br />

wirken kænnen, umgekehrt kann das<br />

Verhalten der Verbraucher rçckwirken auf Politik<br />

und anbietende Wirtschaft.<br />

II. Nachhaltige Entwicklung und<br />

Nachhaltiger Konsum<br />

Bereits 1987 forderte der Brundtland-Bericht 5 der<br />

Weltkommission fçr Umwelt und Entwicklung:<br />

Wir benætigen ein Konzept globaler Entwicklung,<br />

¹das die Bedçrfnisse der Gegenwart befriedigt,<br />

ohne zu riskieren, dass kçnftige Generationen ihre<br />

eigenen Bedçrfnisse nicht befriedigen kænnenª.<br />

Auf diese Definition Nachhaltiger Entwicklung<br />

<strong>hat</strong> sich die UN-Konferenz ¹Umwelt und Entwicklungª<br />

1992 in Rio de Janeiro verståndigt. In der<br />

dort verabschiedeten Agenda 21 wird die Herbeifçhrung<br />

¹nachhaltiger Produktions- und Konsum-<br />

5 1983 grçndeten die Vereinten Nationen die Internationale<br />

Kommission fçr Umwelt und Entwicklung (WCED) als unabhångige<br />

Sachverståndigenkommission mit dem Auftrag,<br />

einen Perspektivbericht zur langfristigen, tragfåhigen und<br />

umweltschonenden Entwicklung im Weltmaûstab bis zum<br />

Jahre 2000 und darçber hinaus zu erarbeiten. Dieser Bericht<br />

wurde 1987 unter dem Titel ¹Our Common Futureª veræffentlicht<br />

und ist auch bekannt als ¹Brundtland-Berichtª,<br />

benannt nach der Vorsitzenden der Kommission, Gro Harlem<br />

Brundtland, der damaligen Ministerpråsidentin von Norwegen.<br />

Der Brundtland-Report und weitere Berichte lieferten<br />

die Grundlage fçr die weltweite Konferenz fçr Umwelt und<br />

Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro.<br />

21 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003


musterª als zentrales Handlungsfeld benannt, um<br />

eine Nachhaltige Entwicklung zu erreichen. 6<br />

Nachhaltige Entwicklung steht fçr eine Verbindung<br />

von ækonomischer Beståndigkeit, dem Erhalt<br />

der Funktionsfåhigkeit des Naturhaushalts und der<br />

Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. Diese drei<br />

Aspekte kænnen nicht voneinander getrennt oder<br />

gar gegeneinander ausgespielt werden. 7 Es geht<br />

also darum, tragfåhige Entwicklungsszenarien zu<br />

entwickeln, die den Wechselwirkungen zwischen<br />

Sozialem, Úkologie und Úkonomie Rechnung<br />

tragen.<br />

Die Úkonomie muss sich z. B. durch die Entwicklung<br />

und den Einsatz neuer Technologien und<br />

effizienterer Produktionsverfahren dem Globalisierungs-<br />

und internationalen Konkurrenzdruck<br />

stellen und Alternativen entwickeln, die ækologisch<br />

und sozial vertråglich sind. Im Interesse des<br />

Erhalts der natçrlichen Lebensgrundlagen mçssen<br />

Schadstoffeintråge und Ressourcenverbrauch so<br />

reduziert werden, dass weder die ækonomische<br />

Handlungsfåhigkeit leidet noch soziale Hårten<br />

± z. B. mehr <strong>Arbeit</strong>slosigkeit ± entstehen. Bei dem<br />

sozialen Auftrag geht es um die Bewahrung der<br />

gesellschaftlichen und politischen Stabilitåt in den<br />

Industrielåndern und darum, eine globale soziale<br />

Gerechtigkeit so zu erreichen, dass auch bei<br />

zunehmender Weltbevælkerung und Verstådterung<br />

die Umweltbelastungen sinken und sich die Lånder<br />

der ¹Dritten Weltª entwickeln kænnen.<br />

Diese drei Dimensionen der Nachhaltigkeit<br />

sichern zugleich die Grundlagen fçr eine gedeihliche<br />

Volkswirtschaft. Sie sichern den langfristigen<br />

Erhalt der Basis fçr jede Produktion und jeden<br />

Konsum. Sie sorgen fçr gesellschaftliche Stabilitåt,<br />

etwa durch gerechte Læhne und humane <strong>Arbeit</strong>splåtze,<br />

fçr Gerechtigkeit zwischen den Generationen<br />

und zwischen Industrie- und Entwicklungslåndern.<br />

Sie regen Innovationen in der<br />

Produktentwicklung und beim Angebot neuer<br />

Dienstleistungen an und ermæglichen damit Vorteile<br />

im internationalen Wettbewerb. Sie erhalten<br />

die Umwelt und schonen die natçrlichen Ressourcen.<br />

8<br />

Die Verantwortung, das Konzept Nachhaltiger<br />

Entwicklung mit zu tragen und mit zu gestalten,<br />

darf nicht allein an Politik und Wirtschaft adressiert<br />

werden. Vielmehr ist dies ein Leitbild, welches<br />

das Zusammenwirken aller gesellschaftlichen<br />

6 Der gesamte Text der Agenda 21 im Internet unter: http://<br />

www.oneworldweb.de/agenda21/welcome.html, zu bestellen<br />

bei: Bundesministerium fçr Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit,<br />

Postfach 12 06 29, 53048 Bonn.<br />

7 Siehe auch: Inforundgang bei: www.blk21.de<br />

8 Vgl. Edda Mçller, Der Nachhaltige Warenkorb, in: Unternehmen<br />

und Umwelt, 15 (2002) 2, S. 12.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003<br />

Akteure erfordert, um mit Erfolg realisiert werden<br />

zu kænnen. Mithin sind auch die Verbraucher in<br />

der Pflicht, ihr Konsumverhalten an Nachhaltigkeitskriterien<br />

auszurichten. Konsum ist nicht nur<br />

individuelle Bedçrfnisbefriedigung, sondern <strong>hat</strong><br />

vielfåltige ækologische und soziale Folgewirkungen.<br />

Damit kommt allen Konsumenten hinsichtlich<br />

ihres Nachfrageverhaltens und Lebensstils eine<br />

zentrale Rolle fçr die Nachhaltige Entwicklung zu.<br />

III. Anforderungen an<br />

die Alltagsgestaltung<br />

Die angemessene Bewåltigung und Gestaltung des<br />

Alltags in Haushalt und Familie erfordert eine<br />

Fçlle unterschiedlichster Kompetenzen, die aktiv<br />

eingesetzt werden mçssen und eng mit den verånderten<br />

gesellschaftlichen und wirtschaftlichen<br />

Gegebenheiten verknçpft sind:<br />

± Die Pluralisierung der Lebens- und Erwerbsformen<br />

erfordert ein hohes Maû an Flexibilitåt<br />

und Bereitschaft, sich immer wieder neu in<br />

Haushalt und Beruf zu positionieren.<br />

± Die Verånderung der Familienstrukturen <strong>hat</strong><br />

Auswirkungen auf grundlegende Fragen der<br />

Existenzsicherung wie die Art der Ernåhrung<br />

und die Sorge fçr die Gesundheit.<br />

± Die Wandlung der Mårkte durch Globalisierung,<br />

Virtualisierung und Deregulierung sowie<br />

der Rçckzug des Sozialstaats haben ebenfalls<br />

erhebliche Auswirkungen auf die Haushalte.<br />

Nicht nur ist Mobilitåt am und fçr den <strong>Arbeit</strong>splatz<br />

erforderlich, sondern auch die Beherrschung<br />

des Internets, sei es um einzukaufen,<br />

Reisen zu buchen oder zur Informationsbeschaffung.<br />

± Privates Finanzmanagement ist ebenso notwendig<br />

wie kompliziert, ob es um die beste Anlageform<br />

der Ersparnisse geht oder um die private<br />

Altersvorsorge.<br />

± Normenkonflikte und damit verånderte Verhaltensforderungen<br />

erwachsen aus sich çberlagernden<br />

Werten. So kann etwa der Wunsch<br />

nach Individualitåt und Selbstverwirklichung<br />

mit sozial-ethischen und ækologischen Werten<br />

bei Produktion und Konsum kollidieren. Eine<br />

Fernreise z. B. dient mæglicherweise der Persænlichkeitsentwicklung,<br />

kann jedoch den<br />

Erfordernissen eines sozial und ækologisch vertråglichen<br />

Tourismus zuwiderlaufen. Wichtig<br />

bei solchen Wertekonflikten ist, dass der einzelne<br />

Verbraucher sie zu seiner Sache macht.<br />

22


Er kann die Bejahung von Werten, die kollektiven<br />

Zielen dienen, nicht anderen Akteuren<br />

çberlassen. Vielmehr kann er çber seinen Beitrag<br />

durch Reflexion seines individuellen<br />

Lebensstils, seiner ækonomischen Ressourcen<br />

und der Gestaltung des Alltags selbst entscheiden.<br />

± Schlieûlich generieren die neuen Informationsund<br />

Kommunikationstechnologien neue Verhaltensweisen<br />

bei der Beschaffung von Informationen,<br />

aber auch im Sozialverhalten und in<br />

der Kontaktaufnahme. Der Trend ± wenn auch<br />

im Moment ein wenig verlangsamt ± geht hin<br />

zur verstårkten Nutzung des Internets, ob bei<br />

E-Commerce und Onlinebanking, bei der<br />

Beschaffung von Gçtern oder bei den neuen<br />

Formen von virtueller Kommunikation. Hier<br />

muss durch die Vermittlung entsprechenden<br />

Grundwissens çber Handhabung, Chancen und<br />

Risiken die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen<br />

gesichert werden.<br />

Kurz ± und mit Ernst Bloch gesprochen ±: ¹Das<br />

Leben ist interdisziplinårª, und damit natçrlich<br />

auch der Alltag.<br />

Haushalte mçssen in der Lage sein, auf die Verånderungen<br />

und Anforderungen ihrer Lebenswelt<br />

selbstbestimmt zu reagieren, und sollten durch Bildungsangebote<br />

dabei unterstçtzt werden. Das Verhaltens-<br />

und Kenntnisrepertoire zur Bewåltigung<br />

der Alltagsanforderungen hinsichtlich des persænlichen<br />

Haushalts- und Finanzmanagements ist<br />

defizitår: Viele Menschen sind z. B. nicht in der<br />

Lage, fundiert die Haushaltseinnahmen und -ausgaben<br />

aufeinander abzustimmen oder Versicherungsvertråge<br />

zu durchschauen und sich angemessen<br />

zu versichern. Die Anzahl der verschuldeten<br />

Haushalte nimmt zu. Die Zahl der zurzeit çberschuldeten<br />

Haushalte wird auf ca. 2,7 Millionen<br />

geschåtzt. 9 Ernåhrungsverantwortung wird håufig<br />

nicht mehr selbst wahrgenommen, sondern an<br />

Fast-Food-Ketten oder an die Hersteller von Convenience-Produkten<br />

delegiert. Die Zahl der Menschen<br />

mit krankhaften Essstærungen und Fehlernåhrung<br />

steigt. So sind z. B. 51 Prozent der<br />

Erwachsenen und 23 Prozent der Kinder çbergewichtig.<br />

Insgesamt verursachen ernåhrungsbedingte<br />

Krankheiten dem Gesundheitswesen in<br />

Deutschland derzeit jåhrlich ca. 75 Milliarden<br />

Euro an Kosten, das ist ein Drittel der Gesamtkosten<br />

des Gesundheitswesens. 10<br />

9 Vgl. Gutachten der GP-Forschungsgruppe ¹Ûberschuldung<br />

in Deutschland zwischen 1988 und 1999ª, Mçnchen<br />

2000 (zitiert nach www.iff-hamburg.de).<br />

10 Vgl. Gerhard Rechtkemmer, Bundesforschungs-Anstalt<br />

fçr Ernåhrung, Karlsruhe (zitiert nach http://rcswww.urz.tudresden.de/~ak180634/4_2.html).<br />

Hinsichtlich einer wirksamen Problemlæsung<br />

bewegen wir uns in einer Art gesellschaftlichen<br />

Vakuums: Der Umgang mit Geld, Haushaltsfçhrung<br />

und Konsumverhalten sind keine Themen,<br />

çber die ¹manª als zentrale Handlungsansåtze<br />

spricht, und auch in der schulischen Allgemeinbildung<br />

stehen sie nicht im Mittelpunkt des Bildungsauftrags.<br />

Es ist ein erklårtes Ziel des Bildungssystems, nicht<br />

nur den bekannten Fåcherkanon zu bearbeiten,<br />

sondern ebenso Fåhigkeiten wie Informationsbeschaffung<br />

und -bewertung, Lernbereitschaft und<br />

Flexibilitåt zu vermitteln, die ihrerseits wieder die<br />

Alltagsbewåltigung erleichtern. Diese im Kontext<br />

allgemeiner Bildungsbemçhungen stehenden Ziele<br />

gilt es aufzunehmen und mit verbraucherrelevanten<br />

Inhalten zu fçllen. Dazu sollte die Leitidee<br />

der aktuellen bildungswissenschaftlichen und bildungspolitischen<br />

Diskussion, das Konzept der<br />

¹fåcherçbergreifenden Problemlæsekompetenzenª,<br />

aufgegriffen werden. Zielfçhrend ist hier die Definition<br />

der PISA-Studie von Problemlæsen als ¹zielorientiertes<br />

Denken und Handeln in Situationen,<br />

fçr deren Bewåltigung keine Routinen verfçgbar<br />

sindª. 11<br />

IV. Bildung fçr Haushalt<br />

und Konsum<br />

Im Folgenden werden wir nåher erlåutern, was<br />

unter Bildung fçr Haushalt und Konsum zu verstehen<br />

und mit welchen Zielen sie zu verknçpfen ist.<br />

Spåtestens seit Herbert Spencer, dem englischen<br />

Philosophen und Sozialwissenschaftler, wissen wir:<br />

¹Das groûe Ziel der Bildung ist nicht Wissen, sondern<br />

Handeln.ª Wie jede Form von Bildung ist<br />

auch Verbraucherbildung zum Teil Reflex auf<br />

gesellschaftliche Verånderungen und verånderte<br />

gesellschaftliche Werte. So stellte z. B. der zunehmende<br />

Stellenwert der Úkologie in der æffentlichen<br />

Diskussion in den siebziger und achtziger<br />

Jahren einen tief greifenden Paradigmenwechsel<br />

in der Verbraucherbildung dar und verschob ihren<br />

Schwerpunkt von ækonomischen Fragestellungen<br />

hin zu mehr ækologischer und sozialer Verantwortlichkeit.<br />

Dem ging in den siebziger Jahren eine<br />

intensiv gefçhrte verbraucherpolitische Diskussion<br />

voraus, deren Ergebnis eine politisch und rechtlich<br />

gestårkte Position der Verbraucher und der Ver-<br />

11 Vgl. Erfassung fåcherçbergreifender Problemlæsekompetenzen<br />

in PISA, OECD/PISA Deutschland, S. 3, siehe auch<br />

S. 13 (OECD, Lernen fçr das Leben: Erste Ergebnisse der<br />

internationalen Schçlerstudie PISA 2000, Paris 2001).<br />

23 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003


aucherorganisationen war und die ihrerseits<br />

positiv auf die Bildungsbemçhungen fçr Konsumenten<br />

zurçckwirkte. Als ein Ergebnis dieser<br />

Debatte veræffentlichten die Stiftung Verbraucherinstitut<br />

und die Verbraucherzentrale Nordrhein-<br />

Westfalen bereits 1984 einen Lernzielkatalog zur<br />

schulischen Verbraucherbildung, der die generellen<br />

Lernziele ¹kritisches Bewusstsein, soziale Verantwortlichkeit,<br />

ækologische Verantwortlichkeitª<br />

verbunden mit der ¹Bereitschaft zum Handelnª<br />

formulierte. Ein an diesen Kriterien ausgerichtetes<br />

Konsumverhalten wurde als ¹qualitativer Konsumª<br />

bezeichnet und deckt sich in vielen Punkten<br />

mit dem heute so genannten Nachhaltigen Konsum.<br />

12 Damit æffnete sich erstmals der Blick fçr<br />

die Vermittlung von Zielen und Werten in der Verbraucherbildung,<br />

die çber die alleinige Nutzenmaximierung<br />

hinaus weisen.<br />

Durch die abnehmende Handlungsautonomie des<br />

Staates und seine begrenzte Fåhigkeit, fçr die Verfolgung<br />

kollektiver Ziele und Werte zu sorgen,<br />

durch die Auswirkungen der Globalisierung auf<br />

den individuellen Konsum, die vermehrte Wahlfreiheit<br />

der Konsumenten aufgrund der Deregulierung<br />

der Mårkte und durch die Notwendigkeit zu<br />

mehr Eigenverantwortung z. B. in der Alters- und<br />

Gesundheitsvorsorge erhålt die Konsumentensouverånitåt<br />

heute einen noch hæheren Stellenwert,<br />

als dies in der Vergangenheit der Fall war. Aber<br />

diese Verånderungen mit ihren vielfåltigen Auswirkungen<br />

auf das persænliche Leben bleiben fçr<br />

den Einzelnen eher abstrakt, und der eigene<br />

Beitrag bleibt unklar. Die Folge ist nicht selten ein<br />

subjektives Unsicherheits- und Ohnmachtgefçhl.<br />

Um von der Unsicherheit und Ohnmacht zur<br />

¹Bereitschaft zum Handelnª zu kommen, ist Bildung<br />

notwendig. Sie muss helfen, eine Brçcke<br />

zu schlagen zwischen globalen Herausforderungen,<br />

gesellschaftlichen Aufgaben im eigenen Land<br />

und der persænlichen Lebenssituation der Einzelnen.<br />

Bildungsangebote sollten nicht nur gesellschaftliche<br />

Verånderungen verståndlich machen, sie mçssen<br />

auch Erkenntnisse çber den eigenen Beitrag<br />

an solchen Prozessen vermitteln. Schçler mçssen<br />

darçber hinaus darauf vorbereitet werden, mit<br />

plætzlich auftauchenden Risiken umzugehen, um<br />

diese mæglichst eigenverantwortlich bewåltigen zu<br />

kænnen. Als Leitbild steht hier der ethisch verantwortlich<br />

handelnde Verbraucher, der zwar als<br />

Einzelner ein Recht auf Schutz <strong>hat</strong> und die Mæglichkeit<br />

zur Gegenwehr haben muss, sich aber<br />

der Konsequenzen seiner Konsumentscheidungen<br />

12 Vgl. Verbraucherzentrale NRW/Stiftung Verbraucherinstitut<br />

(Hrsg.), Verbrauchererziehung in der Schule. Ein<br />

Zielkatalog, Dçsseldorf ± Berlin 1984.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003<br />

bewusst ist und damit auch Mitverantwortung<br />

çbernimmt fçr kçnftige soziale und ækologische<br />

Entwicklungen, ob sie nun globaler oder lokaler<br />

Natur sind. 13<br />

Daraus ergeben sich Verånderungen im Konsumverhalten<br />

und in der Alltagsgestaltung, die alte<br />

Gewohnheiten der Beschaffung, Nutzung, des Verbrauchs<br />

und der Entsorgung von Waren auûer<br />

Kraft setzen; diese mçssen durch neue, nachhaltige<br />

Verhaltensweisen ersetzt werden. 14 Gleiches gilt<br />

fçr den Bereich der Dienstleistungen, insbesondere<br />

die persænliche Finanzplanung, fçr einen<br />

reflektierten Umgang mit den Medien und fçr die<br />

Entwicklung einer eigenen Familien- bzw. Haushaltskultur.<br />

Es ist ein hoher Anspruch, der hier an die Verbraucher<br />

gerichtet wird. Er zeichnet ± wie alle<br />

Leitbilder ± das ideale Ergebnis eines Lernprozesses,<br />

das nicht eben realitåtsnah erscheint, genauso<br />

wenig wie ehemals das Leitbild des ¹homo oeconomicusª,<br />

der seine Konsumhandlungen allein<br />

nach der individuellen Nutzenmaximierung ausrichten<br />

sollte. Bei der Gestaltung des Lernprozesses,<br />

der zu einer Annåherung an das Leitbild fçhren<br />

soll, ist zu berçcksichtigen, dass Konsum- und<br />

andere Alltagsentscheidungen immer auch soziale<br />

und psychische Implikationen haben. Håufig sind<br />

es nicht reflektierte Routinen oder auch Verhaltensweisen<br />

aufgrund von Familientraditionen.<br />

Dieser persænliche Hintergrund muss in der Bildung<br />

fçr Verbraucher berçcksichtigt werden, um<br />

den Schritten in Richtung Verantwortlichkeit eine<br />

solide Basis zu geben.<br />

Die in der Verbraucherbildung zu vermittelnden<br />

Voraussetzungen fçr verantwortliche Konsumentscheidungen<br />

lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:<br />

± Konsumenten verfçgen çber problembezogenes<br />

Wissen und kennen mægliche Verhaltensalternativen;<br />

sie sind in der Lage, sich<br />

Informationen zu beschaffen und diese auszuwerten.<br />

± Sie haben entsprechende Werte, Einstellungen<br />

und Haltungen fçr sich akzeptiert.<br />

± Sie reagieren angemessen auf materielle oder<br />

immaterielle Verhaltensanreize, d. h., sie sind<br />

sich des individuellen Zusatznutzens einer Entscheidung<br />

bewusst.<br />

± Schlieûlich haben sie die Mæglichkeit, Auswirkungen<br />

ihres neuen Verhaltens zu erproben<br />

und wahrzunehmen.<br />

13 Vgl. E. Mçller (Anm. 4).<br />

14 Vgl. auch C. Empacher (Anm. 3).<br />

24


V. Der Beitrag der Schulen<br />

Es muss im Interesse einer Gesellschaft liegen, die<br />

Menschen zur individuell und gesellschaftlich verantwortlichen<br />

Gestaltung des Alltags zu befåhigen,<br />

und damit ist es Sache der Schulen, dies zu unterstçtzen.<br />

Bildungsangebote fçr Haushalt und Konsum<br />

sind in den Bundeslåndern und dort wieder in<br />

den verschiedenen Schultypen unterschiedlich<br />

verortet und repråsentiert. Sie finden sich z. B.<br />

wieder in den Fåchern <strong>Arbeit</strong>slehre, Sozialkunde,<br />

Hauswirtschaft. Diese wiederum variieren nach<br />

Stundenzahl und in ihren Curricula.<br />

Ebenso wie Verbraucherpolitik eine Querschnittsaufgabe<br />

ist, umfasst die Bildung fçr Verbraucher<br />

ein breites Themenspektrum. Deshalb låge es<br />

nahe, diese in die Curricula der bereits etablierten<br />

Schulfåcher zu integrieren. Fçr diese Læsung sprechen<br />

gewichtige Argumente: Der Fåcherkanon<br />

bliebe unveråndert, jedes Schulfach kænnte aus<br />

der Verbraucherperspektive betrachtet werden,<br />

und eine interdisziplinåre Bearbeitung trçge der<br />

Tatsache Rechnung, dass das Thema Konsum<br />

nicht eindimensional betrachtet werden kann, sondern<br />

Auswirkungen auf viele Bereiche <strong>hat</strong>.<br />

Obwohl Verbraucherthemen in den Curricula der<br />

oben genannten Fåcher enthalten sind, ist in der<br />

Praxis ihre ausreichende Bearbeitung håufig nicht<br />

gewåhrleistet. Verbraucherthemen werden bei der<br />

Integration in verschiedene Fåcher nicht selten<br />

zugunsten von fçr wichtiger gehaltenen Inhalten<br />

beim Lernpensum vernachlåssigt.<br />

Der andere Weg ist die Schaffung eines eigenen<br />

Schulfachs oder Lernfeldes. Von verschiedenen<br />

Seiten wird derzeit vorgeschlagen, ein Fach ¹Wirtschaftª<br />

an den Schulen einzufçhren. 15 Lehr- und<br />

Lernziele dieses Fachs werden begrçndet mit der<br />

Notwendigkeit, junge Menschen besser auf die<br />

Erfordernisse der <strong>Arbeit</strong>s- und Konsumgçtermårkte<br />

und die Wahrnehmung von Aufgaben in<br />

Unternehmen und der Unternehmensfçhrung vorzubereiten.<br />

Ihnen sollen Kenntnisse çber die Rolle<br />

des Staates im Verhåltnis zur Selbstregulierung des<br />

Marktsystems sowie die Mechanismen der internationalen<br />

Wirtschaftspolitik vermittelt werden.<br />

15 Vgl. z. B. das gemeinsame Projekt der Bertelsmann Stiftung,<br />

der Heinz Nixdorf Stiftung, der Ludwig-Erhard-Stiftung<br />

und der Stiftung der Deutschen Wirtschaft ¹Wirtschaft in die<br />

Schule!ª, das in Zusammenarbeit mit den Bundeslåndern<br />

Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Baden-Wçrttemberg<br />

u. a. çber den Weg der Lehrerfortbildung den Wirtschaftsunterricht<br />

stårken will (siehe auch www.bertelsmann-stiftung.de).<br />

Eine weitere Initiative kommt von der BDA und<br />

dem DGB in Zusammenarbeit mit Lehrerverbånden und<br />

dem Bundeselternrat, siehe auch: www.sowi-online.de<br />

Eine entsprechende Initiative der Bertelsmann<br />

Stiftung wendet sich z. B. als Weiterbildungsangebot<br />

an Lehrende der Sekundarstufe II und wird<br />

auf einer Lernplattform im Internet bereitgestellt.<br />

16<br />

Zu kurz kommen bei diesen Initiativen Inhalte,<br />

die sich auf die Anforderungen an die Alltagsbewåltigung<br />

sowie die Beschreibung der Rolle privater<br />

Haushalte und ihrer Leistungen fçr die Gestaltung<br />

von Wirtschaft und Gesellschaft beziehen.<br />

Dies gilt neben den Anforderungen an das Konsumverhalten<br />

beispielsweise fçr Fragen der Kindererziehung<br />

oder des Engagements in Vereinen<br />

und Verbånden. Zu wenig im Blick der Bildung ist<br />

hier generell der private Haushalt als Produzent<br />

von Humankapital und kollektiven Gçtern.<br />

Wir wollen hier ebenfalls fçr die Einfçhrung eines<br />

Schulfaches ¹Wirtschaftª plådieren, dabei jedoch<br />

Lehrinhalte, welche die Fåhigkeit zur Alltagsbewåltigung<br />

betreffen, stårker berçcksichtigt wissen.<br />

Generell deckt ein solches Fach ¹Wirtschaftª ein<br />

breites Themenspektrum ab. Es muss interdisziplinår<br />

angelegt sein und Themen aus Wirtschaft und<br />

Gesellschaft primår aus einer Haushalts- und Verbraucherperspektive<br />

bearbeiten. Neben den oben<br />

erwåhnten Inhalten sollte ein Fach ¹Wirtschaftª<br />

folgende Schwerpunktthemen behandeln:<br />

± Rolle und Bedeutung der Haushalte und Familien<br />

als verantwortliche Akteure in Wirtschaft<br />

und Gesellschaft; 17<br />

± Fragen der ækonomischen, ækologischen und<br />

sozialen Dimensionen des tåglichen Konsums<br />

von Gçtern und Dienstleistungen;<br />

± Grundlagen çber die Funktionsweisen globaler<br />

Finanz- und Konsumgçtermårkte;<br />

± Wissen çber das Verhåltnis von Kosten und<br />

Preisen, d. h. çber das Problem der Externalisierung<br />

sozialer und ækologischer Kosten des<br />

Konsums;<br />

± finanzielle Allgemeinbildung, die çber Finanzdienstleistungen<br />

informiert, an der eigenen<br />

Lebenswelt ansetzt und situationsbezogen vorgeht;<br />

18<br />

16 Vgl. www.oekonomische-bildung-online.de<br />

17 Vgl. auch Michael-Burkhard Piorkowsky, Wirtschaftliche<br />

Allgemeinbildung in den Schulen, in: Dieter Korczak<br />

(Hrsg): Bildungs- und Erziehungskatastrophe? Was unsere<br />

Kinder von uns lernen sollen, Interdisziplinåre Schriftenreihe,<br />

Bd. 25, Opladen 2003 (i. E.). Anmerkung der Redaktion:<br />

Siehe auch den Beitrag des Autors in dieser Ausgabe.<br />

18 Vgl. Udo Reifner, Der lernende Kapitalismus. Finanzielle<br />

Allgemeinbildung als Schuldenpråvention, Institut<br />

fçr Finanzdienstleistungen e. V. Hamburg, Website: www.iffhamburg.de;<br />

Version vom 24. Juli 2002.<br />

25 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003


± Bildung fçr eine Nachhaltige Entwicklung als<br />

çbergreifende regulative Idee, die eine Klammer<br />

darstellt, um die Notwendigkeit und den<br />

Beitrag individueller Konsumentscheidungen<br />

zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in<br />

einer langfristigen Perspektive zu verdeutlichen.<br />

Ein solches Fach ¹Wirtschaftª sollte in allen Schultypen<br />

der Sekundarstufen I und II eingefçhrt werden.<br />

In der Grundschule wåren im Rahmen des<br />

Sachunterrichts erste Grundkenntnisse zu vermitteln.<br />

Um zu verhindern, dass das Fach ¹Wirtschaftª<br />

zu einem wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Propådeutikum ohne konkreten Bezug zum tåglichen<br />

Leben wird, sollten die Inhalte sich immer an<br />

den Erfahrungen und an der Lebenswirklichkeit<br />

der Schçler orientieren.<br />

Gerhard de Haan <strong>hat</strong> in seinem Aufsatz ¹Die<br />

Kernthemen der Bildung fçr eine nachhaltige Entwicklungª<br />

19 den Begriff der ¹Gestaltungskompetenzª<br />

geprågt. Dabei geht es ihm nicht allein um<br />

Wissenserwerb, vielmehr soll die Bereitschaft zu<br />

aktiven Verånderungen gefærdert werden. Gestaltungskompetenz<br />

umfasst neben den oben dargestellten<br />

Inhalten eine Reihe von Teilkompetenzen<br />

wie u. a. vorausschauendes Denken, weltoffene<br />

Wahrnehmung, interdisziplinåres <strong>Arbeit</strong>en, Partizipationskompetenz,<br />

Planungs- und Umsetzungskompetenz<br />

und die Fåhigkeit zur distanzierten<br />

Reflexion çber individuelle und kulturelle Leitbilder.<br />

So wie wir junge Menschen im Rahmen der politischen<br />

Bildung zu Staatsbçrgern erziehen wollen,<br />

19 Vgl. Gerhard de Haan, in: Zeitschrift fçr Entwicklungspådagogik,<br />

(2002) 1.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003<br />

mçssen wir sie heute auch schulen, damit sie in<br />

einem von der Politik nur noch eingeschrånkt zu<br />

steuernden Markt zu verantwortlich handelnden<br />

Marktteilnehmern werden. Sie mçssen durch Bildung<br />

befåhigt werden, sowohl ihren eigenen Alltag<br />

selbstbestimmt und ihrer spezifischen Situation<br />

angepasst zu gestalten als auch sich produktiv und<br />

konstruktiv in gesellschaftliche Verånderungsprozesse<br />

einzubringen.<br />

VI. Fazit<br />

Um vorsorgenden Verbraucherschutz zu verwirklichen,<br />

der ohne verantwortliche Konsumenten<br />

nicht erreichbar sein wird, brauchen wir ein Schulfach<br />

¹Wirtschaftª. Es sollte die Leistungen aller<br />

am Marktprozess beteiligten Akteure sowie die<br />

weltweiten Zusammenhånge erklåren. Ausgangsund<br />

Mittelpunkt eines Curriculums und Bildungskanons<br />

sollte der private Haushalt und das Individuum<br />

im Sinne von Verbraucherbildung sein. Notwendig<br />

ist hierfçr eine pådagogische Konzeption,<br />

die es ermæglicht, Wissensvermittlung mit der<br />

Erfahrungswelt der Schçler und ihren kçnftigen<br />

Aufgaben als Konsumenten, Grçnder von Familien<br />

und Verantwortliche fçr das Management<br />

eines privaten Haushalts und die Gestaltung ihres<br />

Lebensalltags zu verknçpfen.<br />

Internetverweise der Autorinnen:<br />

www.vzbv.de<br />

http://lernerfolg.vzbv.de<br />

www.nachhaltigkeitsrat.de<br />

www.neuehauswirtschaft.de<br />

26


Dieter Korczak<br />

Was sollen unsere Kinder von uns lernen<br />

Die veræffentlichten Ergebnisse der PISA-Studie<br />

haben ein publizistisches Erdbeben in den Medien<br />

ausgelæst. Zum allgemeinen Schrecken befinden<br />

sich Deutschlands Schçlerinnen und Schçler<br />

bestenfalls im Mittelfeld. Selbst die Kulturtechnik<br />

des Lesens wird von zahlreichen Schçlern im Alter<br />

von 15, 16 Jahren schlecht beherrscht. Eifrig werden<br />

in Feuilletons und Leserbriefen Ursachenanalysen<br />

betrieben und Læsungsvorschlåge unterbreitet.<br />

Die Schwåchen unseres Bildungssystems sind<br />

jedoch schon långer bekannt. Strapazierte Lehrerinnen<br />

und Lehrer, çberfçllte Klassen, vollgestopfte<br />

Lehrplåne, hyperaktive, motivations- und<br />

lernschwache Schçler, schlechte Integration auslåndischer<br />

Schçler und leistungsorientierte, çberforderte<br />

Eltern sind seit einigen Jahren Alarmsignale.<br />

Klagen çber Bildungssysteme sind nicht neu. Im<br />

16. Jahrhundert rçgte der franzæsische Philosoph<br />

und Essayist Michel Eyquem de Montaigne bereits,<br />

dass Sorge und Aufwand der Eltern und<br />

Erzieher auf nichts anderes abzielen, ¹als uns den<br />

Kopf mit Wissen anzufçllen; von Urteil und Charakter<br />

ist nicht viel die Rede . . . Wir mçhen uns<br />

nur, das Gedåchtnis vollzupfropfen und lassen Verstand<br />

und Gewissen leerª 1 .<br />

Selbst von einem vollgestopften Gedåchtnis kann<br />

bei deutschen Schçlern im von UNESCO, Europåischer<br />

Union und deutscher Politik und Wissenschaft<br />

unisono verkçndeten neuen Zeitalter des<br />

¹lebenslangen Lernensª nicht die Rede sein. Die<br />

¹Informations- und Wissensgesellschaftª baut auf<br />

dieses Konzept. Betrachtet man jedoch die Leistungen<br />

der Schçlerinnen und Schçler von heute,<br />

kann man fçr die Gesellschaft von morgen, jedenfalls<br />

was Deutschland angeht, nur skeptisch sein.<br />

Auf der Suche nach Verantwortlichen fçr diese<br />

Misere bieten sich ¹die çblichen Verdåchtigenª an:<br />

die Eltern, Erzieher und Lehrer in Kindergarten<br />

und Schule, die Institution Schule als solche, die<br />

Bildungspolitik im Speziellen, die Medien und die<br />

Der Beitrag stçtzt sich auf Dieter Korczak (Hrsg.), Bildungsund<br />

Erziehungskatastrophe? Was unsere Kinder von uns lernen<br />

sollten, Wiesbaden 2003 (i. E.)<br />

1 Michel de Montaigne, Essais, Stuttgart 1953.<br />

Neusser Thesen zur Bildungspolitik<br />

Wirtschaft im Besonderen und die Modernisierung<br />

der Gesellschaft im Allgemeinen.<br />

Fçr die einen ist es die Krise der Våter, die als Identifikationsfiguren<br />

in der Erziehung der Jungen fast<br />

vællig ausfallen. Fçr die anderen bleibt echte Erziehung<br />

im Elternhaus auf der Strecke, da der Nachwuchs<br />

vor dem Fernseher oder dem Computer<br />

geparkt wird. In Deutschland sitzen beispielsweise<br />

Kinder zwischen vier und vierzehn Jahren tåglich<br />

eine Stunde und 41 Minuten vor dem Fernseher,<br />

miteinander geredet wird in den Familien jedoch<br />

nur fçr 25 Minuten am Tag. 2 Schlieûlich wird als<br />

Argument ins Feld gefçhrt, dass Mçtter und Våter<br />

in ihrer verbissenen Juvenilitåt keine Reibungsflåche<br />

mehr fçr die Kinder bæten, den Eltern fehle es<br />

an Erfahrens- und Wissensvorsprung.<br />

Nach den Erkenntnissen der Hirnforschung ist<br />

unbestritten, dass das Gehirn in der Jugendphase<br />

durch die Art seiner Nutzung gewissermaûen<br />

¹programmiertª wird. Emotionale Zuwendung<br />

und Bindung liefern danach die Grundvoraussetzung<br />

fçr Sicherheit und Selbstwertgefçhl im<br />

gesamten spåteren Leben. ¹Das Ausmaû und die<br />

Art der Vernetzung neuronaler Verschaltungen,<br />

insbesondere im frontalen Kortex, hångt also ganz<br />

entscheidend davon ab, womit sich Kinder und<br />

Jugendliche besonders intensiv beschåftigen, zu<br />

welcher Art der Benutzung ihres Gehirn sie im<br />

Verlauf des Erziehungs- und Sozialisationsprozesses<br />

angeregt werden.ª 3<br />

Eine Richtschnur fçr das eigene Lernen, um sich<br />

anzustrengen, mæglichst viel Wissen, Fåhigkeiten<br />

und Fertigkeiten zu erwerben, muss vorhanden<br />

sein. Sie wird entweder durch das elterliche Vorbild<br />

oder durch die schulische Erziehung geliefert.<br />

In der Anwendung von und im Umgang mit dem<br />

Wissen unterscheidet sich der gebildete Mensch<br />

vom halb- und ungebildeten. Bildung ist Formung<br />

der Existenz, ist der leichte Umgang mit Wissen,<br />

ist die an Kenntnis vieler Dinge reiche Seele, ist<br />

kultivierter Geschmack und am Objekt geschulte<br />

Urteilskraft. Jçrgen Oelkers weist mit Recht darauf<br />

hin, dass Bildung aber auch mit der Akzep-<br />

2 Die Ergebnisse der Studie der European Psychoanalytic<br />

and Psychodynamic Association sind zitiert nach einer Pressemeldung<br />

von dpa vom 4. 9. 2002.<br />

3 Gerald Hçther in seinem Vortrag auf dem Bildungskongress<br />

in Ulm am 29. 4. 2002.<br />

27 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003


tanz von Schwierigkeiten, mit Erfahrungen des<br />

Nichtkænnens und mit herausfordernden Krånkungen<br />

des eigenen Ungençgens zu tun <strong>hat</strong>. 4<br />

Wenn John Irving seine Protagonistin in dem<br />

Roman ¹Witwe fçr ein Jahrª erklåren låsst: ¹Zwar<br />

håtte sie sich mehr Bildung fçr einen græûeren<br />

Teil der Bevælkerung gewçnscht, aber zugleich<br />

war sie davon çberzeugt, dass Bildung etwas war,<br />

womit die wenigsten Menschen, die ihr begegneten,<br />

etwas anfangen konntenª, 5 wird uns bewusst,<br />

worin die eigentliche Bildungskatastrophe liegt.<br />

Eltern wie Schule mçssen deshalb fçr sich selbst<br />

verbindliche Antworten dafçr finden, wie sie ihre<br />

Erziehungsziele eingebettet sehen wollen. Geschichte,<br />

Philosophie und Literatur liefern fçr<br />

diese notwendige Orientierung Wegweiser, denn<br />

keiner bricht als vællig leere Hçlse in die <strong>Zukunft</strong><br />

auf. Die kulturellen Traditionen der Antike und<br />

Europas, die gemeinsame Geschichte sind Fundamente,<br />

auf die Gegenwart und <strong>Zukunft</strong> aufbauen.<br />

Zeichen wie ¹Tschernobylª, ¹BSEª, ¹Klimaerwårmungª,<br />

¹Prestigeª 6 oder ¹11. Septemberª stehen<br />

nicht im luftleeren Raum, sondern kænnen durch<br />

die Rçckbesinnung auf vorausgegangene wirtschaftliche<br />

und politische Entwicklungen in ihrer<br />

Bedeutung erfasst und eingeordnet werden. Offensichtlich<br />

haben die Erwachsenen die Welt nicht<br />

mehr im Griff. Ungeachtet dessen erwarten die<br />

Heranwachsenden aber Antworten auf Fragen:<br />

Wie kommt man ohne Sicherheit zurecht und<br />

çbernimmt gleichwohl Verantwortung? Wie kann<br />

man in einer sich veråndernden Welt Prinzipien<br />

treu bleiben? Wie entwickelt man eigenståndige<br />

Ansichten und Auffassungen, durch welche die<br />

Informationsflut hinterfragt werden kann?<br />

Wenn wir die Kinder unserer Gesellschaft<br />

zukunftsfåhig erziehen und unterrichten wollen,<br />

dann mçssten wir uns das 21. Jahrhundert vorstellen<br />

kænnen, die Lebensspanne von çber drei<br />

Generationen. Das Problematische an der <strong>Zukunft</strong><br />

ist jedoch, dass sie einerseits ungewiss, aber dennoch<br />

nicht gånzlich offen, andererseits von uns vor<br />

den nachfolgenden Generationen zu verantworten<br />

ist. 7 Wir wissen jedoch ± trotz aller wissenschaftlichen<br />

und wirtschaftlichen Vorhersagen und Prognosen<br />

± nicht einmal, wie die ersten Jahrzehnte<br />

des 21. Jahrhunderts aussehen werden. Die Ungewissheit<br />

darçber reduziert sich insofern, als wir<br />

4 Vgl. Jçrgen Oelkers, Und wo, bitte, bleibt Humboldt?, in:<br />

Die Zeit vom 27. 6. 2002.<br />

5 John Irving, Witwe fçr ein Jahr, Zçrich 1999, S. 319.<br />

6 ¹Prestigeª ist der Name eines unter bahamaischer Flagge<br />

fahrenden Tankers, der mit 60 000 Tonnen Rohæl vor der<br />

Kçste Galiziens im November 2002 auseinanderbrach.<br />

7 Darauf weist eindringlich Hartmut von Hentig hin: Ach,<br />

die Werte! Ûber eine Erziehung fçr das 21. Jahrhundert,<br />

Mçnchen ± Wien 1999.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003<br />

nach wie vor die Vorstellungen çber Menschenwçrde<br />

und Demokratie, çber Gewaltenteilung<br />

und den contrat social teilen. Die Mechanik der<br />

Machtpolitik und die Natur bleiben weitgehend<br />

gleich, die elektronische Revolution <strong>hat</strong> gerade<br />

erst begonnen, zumindest die nahe <strong>Zukunft</strong> wird<br />

deshalb deutliche Zçge der Gegenwart tragen. Fçr<br />

alles Weitere tragen die gegenwårtigen Akteure in<br />

Gesellschaft, Wirtschaft und Politik die Verantwortung.<br />

Sie haben sich weltweit 1992 in Rio de<br />

Janeiro dazu verpflichtet, dem Prinzip der sustainable<br />

development zu folgen. Wie die Nachfolgekonferenz<br />

in Johannesburg 2002 gezeigt <strong>hat</strong>, ist<br />

das Prinzip der Nachhaltigen Entwicklung jedoch<br />

(leider) immer noch mehr ein Schlagwort als<br />

Anleitung zum praktischen Handeln. Kinder und<br />

Schçler zukunftsfåhig zu erziehen und zu unterrichten,<br />

erfordert deshalb ein gesellschaftlich formuliertes<br />

Wollen und eine gemeinsame Anstrengung<br />

von Staat, Gesellschaft, Eltern und Schulen.<br />

Der Auftrag der Schulen ist in Abhångigkeit von<br />

den Schçlerzahlen, dem Leistungsniveau, den<br />

Lerngeschwindigkeiten, dem zu vermittelnden<br />

Stoff und der dafçr zur Verfçgung stehenden<br />

Zeit zwangslåufig begrenzt. Aber: Ein Wandel der<br />

Schulen und der Lernkultur ist nicht erst seit PISA<br />

dringend notwendig. Es wird seit Jahrzehnten an<br />

Schulen weitgehend frontal unterrichtet; Expression,<br />

Stil, Selbstdarstellung und die Verarbeitung<br />

des Wissens spielen kaum eine Rolle, das heiût,<br />

sowohl Kreativitåt wie Verstehen, Umsetzen,<br />

Bewerten und Anwenden kommen zu kurz. Es<br />

geht aber auch um die Art und Weise, wie alle<br />

Beteiligten dem Phånomen des Lernens begegnen.<br />

Wie håufig ist Schule primår eine Pflichtveranstaltung<br />

fçr Lehrer und Schçler, in der reglementiert<br />

Zeit totgeschlagen wird? Wie viele Lehrerinnen<br />

und Lehrer, Schçlerinnen und Schçler gehen mit<br />

Lust in die Schule, weil sie dort sinnvolles Wissen<br />

vermitteln bzw. fçr das Leben lernen kænnen? Wir<br />

wissen es nicht. Fest steht: Das Interesse am<br />

Potenzial des einzelnen Lehrers und des einzelnen<br />

Schçlers muss wachsen, so dass individuelle Færderungen<br />

bei beiden mæglich sind. Fçr Schçler ist<br />

dies in kleinen Klassen leichter gegeben als in<br />

groûen. Unverståndlicherweise sind in allen Bundeslåndern<br />

die Klassen zu Beginn der ¹Lern- und<br />

Schulkarriereª am græûten. Kindern, die mit sechs<br />

Jahren in die Schule eintreten und hoch motiviert<br />

sind zu lernen, ist håufig nach den Zåhmungs- und<br />

Båndigungsritualen der ersten beiden Jahre die<br />

Lust am Lernen vergangen. Nicht nur William<br />

Philipps, sondern auch Douglas Osherhoff ± beide<br />

selbst Nobelpreistråger 8 ± sind der Ansicht, dass<br />

8 Aussagen auf dem Nobelpreistrågertreffen in Lindau laut<br />

Die Woche vom 7. 9. 2001.<br />

28


der kindliche Kern, der Kreativitåt speist, die<br />

Neugier, den Kindern systematisch ¹ausgetriebenª<br />

wird. Klassengræûen von 15 bis 20 Schçlern sollten<br />

daher von der ersten Klasse an in <strong>Zukunft</strong> die<br />

Norm sein. Dies ist eine Investition in die <strong>Zukunft</strong><br />

der deutschen Gesellschaft, fçr die das notwendige<br />

Geld zur Verfçgung gestellt werden muss. Es<br />

reicht keineswegs, hier auf ¹public-private-partnershipª<br />

zu hoffen und zu vertrauen. ¹Wenn Fastfood-Ketten,<br />

Sportartikelhersteller und Computerkonzerne<br />

einspringen, um Finanzlçcken zu<br />

schlieûen, bringen sie ihr eigenes Bildungsprogramm<br />

mit . . . Sie kåmpfen darum, dass ihre Marken<br />

nicht mehr Zusatz, sondern Gegenstand der<br />

Ausbildung werden, nicht mehr Wahlfach, sondern<br />

Kernfach.ª 9<br />

9 Naomi Klein, NO LOGO !, Mçnchen 2001, S. 105 f.<br />

Neusser Thesen zur Bildungspolitik<br />

Auf der 59. Jahrestagung der Interdisziplinåren<br />

Studiengesellschaft e. V. in Neuss 2002 wurde versucht,<br />

eine Brçcke zwischen Elternhaus, Schule<br />

und Gesellschaft zu schlagen mit dem Ziel, einen<br />

sachgerechten Katalog fçr Bildungs- und Erziehungsziele<br />

sowie adåquate Unterrichtsformen zu<br />

erarbeiten. 10 Die Bewertung, ob wir uns in einer<br />

Bildungs- und Erziehungskatastrophe befinden<br />

oder nur in einer kritischen Mangelbewirtschaftung,<br />

hångt sicher vom Standpunkt des Betrachters<br />

ab. Es wåre jedoch zu wçnschen, dass die in Neuss<br />

formulierten Thesen zur Bildungspolitik nicht nur<br />

Gehær finden, sondern auch umsetzungsorientiert<br />

in der Bildungspolitik aufgegriffen werden.<br />

10 Vortråge und Empfehlungen dieser Tagung vgl. Dieter<br />

Korczak (Hrsg.), Bildungs- und Erziehungskatastrophe? Was<br />

unsere Kinder von uns lernen sollten, Wiesbaden 2003 (i. E.).<br />

1. Fçr eine zukunftsfåhige Gesellschaft benætigen wir die Erziehung zu Toleranz, Verantwortungsbereitschaft,<br />

Soziabilitåt und historischem Bewusstsein, die Færderung der Kreativitåt und der Fåhigkeit, vernetzt<br />

zu denken. Bildung ist die immaterielle Ausstattung, die uns befåhigt, uns und unsere Welt zu verstehen,<br />

die notwendigen Fertigkeiten zur Daseinsbewåltigung und -gestaltung zu erwerben, Chancen zu<br />

nutzen und Gefahren abzuwehren.<br />

2. Die Bildung und Stårkung unserer Persænlichkeit geschieht zuerst innerhalb frçhkindlicher Bindungsbeziehungen,<br />

die wiederum die Bçhne bereiten fçr unverzichtbare Erfahrungen in der Gleichaltrigenwelt.<br />

Das Recht des Kindes auf Achtung existiert von der ersten Minute seines Lebens an und muss<br />

sowohl von Eltern wie Lehrern respektiert werden. Denn: Erziehungskompetenz ist vor allem Beziehungskompetenz.<br />

3. Die Vorbildfunktion auf allen gesellschaftlichen Ebenen muss wieder Wirklichkeit werden: Eltern, Lehrer,<br />

Politiker, Unternehmer sollten die Werte vorbildhaft vorleben, die sie predigen. Gerade die elterliche<br />

Erziehungskompetenz und Vorbildfunktion sollte unbedingt gestårkt werden (z. B. durch frçhe Hilfen,<br />

Beratung, Begleitung, Entlastung).<br />

4. Kindergarten und Grundschule mçssen gleichwertige Systeme sein und eine hæhere gesellschaftliche<br />

Akzeptanz erfahren.<br />

5. Viele Kinder wollen mehr lernen, als dies gegenwårtig in Kindertageseinrichtungen der Fall ist. Die Ausbildung<br />

der Erzieher/innen muss deshalb verbessert werden, es mçssen stårker vorschulische Lernangebote<br />

eingefçhrt werden und Lern- und Erfahrungswelten fçr Kinder aller Milieus zur Verfçgung stehen.<br />

Die (Mutter-)Sprache sollte gefærdert, die Wahrnehmung sozialer Konfliktsituationen trainiert, motorisch-sensorische<br />

Fåhigkeiten unterstçtzt werden.<br />

6. Schulbildung ist mehr denn je Faktor des gesellschaftlichen Wandels und sollte die verånderte gesellschaftliche<br />

Wirklichkeit reflektieren. Interkulturelles Denken und Handeln ist ein Bestandteil des alltåglichen<br />

Lebens. Die Lebens- und Berufslaufbahnen sind entstandardisiert worden. Im Prozess des Wissenserwerbs<br />

mçssen deshalb eigene Erfahrungen und Kompetenzen eingebracht werden kænnen.<br />

7. Die Ausbildung der Lehrer muss professionalisiert werden. Pådagogisch-psychologische Kenntnisse<br />

sowie Kenntnisse çber Lernstærungen, Ûbungen zur Selbstreflexion und der didaktische Umgang mit<br />

Gruppen mçssen ebenso Bestandteile der Ausbildung werden wie Berufserfahrungen in Form von<br />

Praktika in unterschiedlichen Berufen.<br />

29 Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003


8. Die Schule muss wieder ihre Mitte zwischen Ideal und Realitåt finden.<br />

a) Vor allem in der Primarstufe sollten die Schçlerzahlen klein sein (max. 15 Schçler), die Schulzeit<br />

sollte maximal 12 Jahre betragen.<br />

b) Die Lernarbeit der Kinder muss im gesellschaftlichen Bewusstsein gleichwertig zur Berufsarbeit der<br />

Erwachsenen werden.<br />

c) Lesen, Erzåhlen und das freie Sprechen mçssen vom ersten Schuljahr an geçbt werden.<br />

d) Mæglichst viele Lehrinhalte sollten mit einer Anwendungsmæglichkeit verbunden, Projektarbeit<br />

sollte Bestandteil jeder schulischen <strong>Arbeit</strong> werden.<br />

e) Das pådagogische Gespråch çber die Schçler (und mit ihnen) muss institutionalisiert werden: Lehrer<br />

brauchen grundsåtzlich Supervision und Raum fçr die Selbstreflexion.<br />

f) Die festen, verbindlichen Lernfelder sollten sein: Deutsch, Mathematik, Geschichte/Erdkunde,<br />

Fremdsprachen, Naturwissenschaft, Sport, Kunst/Musik, Philosophie.<br />

g) Es sollte eine umfassende ¹Allgemeine Wirtschaftslehreª fçr den Schulunterricht entwickelt und an<br />

allen Schulformen und -stufen eingefçhrt werden.<br />

h) Es sollten Foren fçr jçngere, mittlere und åltere Schçler geschaffen werden, in denen sie ihre Fertigkeit<br />

pråsentieren kænnen. Deshalb sollten gezielt Talente çber die Grundfertigkeiten hinaus gefærdert<br />

werden.<br />

i) Regelmåûige Leistungsvergleiche zwischen Lehrern, zwischen Schulen gehæren zukçnftig zum Standard.<br />

Die selbstståndige Schule soll im Wettbewerb eine Chance zum Vergleich und zur Entwicklung<br />

eines eigenståndigen Profils bekommen.<br />

j) Bei der Entwicklung der Schulkonzepte mçssen die verschiedenen Ressourcen und sozialstrukturellen<br />

Bedingungen vor Ort unbedingt berçcksichtigt werden.<br />

10. Neue Institutionen der Zusammenarbeit zwischen Schulen und Elternhaus, zwischen Gesundheitswesen,<br />

Jugendåmtern, Schulpsychologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Schulen sind notwendig.<br />

11. Kein Schulsystem kann mehr leisten, als es der Gesellschaft wert ist.<br />

12. Die Schule muss sich vom Niederlagensystem zum Erfolgssystem wandeln, um die Humanressource<br />

Bildung entfalten zu kænnen und fçr Schçler wie Lehrer motivierend und stimulierend zu sein.<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte B 9/2003<br />

30


Maria Thiele-Wittig<br />

Dr. sc. agr., M. Sc., geb. 1938; Professorin fçr Hauswirtschaft<br />

an der Universitåt Mçnster; Vorsitzende der Deutschen<br />

Gesellschaft fçr Hauswirtschaft e.V.<br />

Anschrift: Institut fçr Haushaltswissenschaft und Didaktik der<br />

Haushaltslehre, Westfålische Wilhelms-Universitåt Mçnster,<br />

Philippistraûe 2, 48149 Mçnster.<br />

E-Mail: thielwit@uni-muenster.de<br />

Veræffentlichungen u. a.: Zur Frage der innovativen Kraft<br />

neuer Haushalts- und Lebensformen, in: Hauswirtschaft<br />

und Wissenschaft, 40 1992) 1; Schnittstellen der privaten<br />

Haushalte zu Institutionen. Zunehmende Auûenbeziehungen<br />

der Haushalte im Wandel der Daseinsbewåltigung, in:<br />

Sylvia Gråbe Hrsg.), Der private Haushalt im wissenschaftlichen<br />

Diskurs, Frankfurt am Main ± New York 1993; Hrsg.)<br />

Internationale Perspektiven in Hauswirtschaft und Haushaltswissenschaft,<br />

Baltmannsweiler 1999.<br />

Michael-Burkhard Piorkowsky<br />

Dr. rer. pol., geb. 1947; Professor fçr Haushalts- und Konsumækonomik<br />

an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-<br />

Universitåt Bonn; Mitglied des Wissenschaftlichen Gutachtergremiums<br />

fçr die Erstellung des Armuts- und Reichtumsberichts<br />

der Bundesregierung.<br />

Anschrift: Universitåt Bonn, Meckenheimer Allee 174,<br />

53115 Bonn.<br />

E-Mail: piorkowsky@uni-bonn.de<br />

Veræffentlichungen u. a.: Hrsg. zus. mit Irmhild Kettschau/<br />

Barbara Methfessel) Familie 2000. Bildung fçr Familien und<br />

Haushalte zwischen Alltagskompetenz und Professionalitåt.<br />

Europåische Perspektiven, Baltmannsweiler 2000; zus. mit<br />

Stefanie Mçndner) Kursbuch zur Armutspråvention und<br />

Milderung defizitårer Lebenslagen durch Stårkung von<br />

Haushalts- und Familienkompetenzen, Deutsche Gesellschaft<br />

fçr Hauswirtschaft, Aachen±Bonn 2002.<br />

Lothar Krappmann<br />

Dr. phil., geb. 1936; bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

des Max-Planck-Instituts fçr Bildungsforschung, Berlin;<br />

Honorarprofessor fçr Soziologie der Erziehung an der Freien<br />

Universitåt Berlin.<br />

Anschrift: Lçtzelsteiner Weg 43, 14195 Berlin.<br />

E-Mail: krappmann@mpib-berlin.mpg.de.<br />

Veræffentlichungen u. a.: Untersuchungen zum sozialen<br />

Lernen, in: Hanns Petillon Hrsg.), Individuelles und soziales<br />

Lernen in der Grundschule, Opladen 2002; Bildung als Ressource<br />

der Lebensbewåltigung, in: Richard Mçnchmeier<br />

u. a. Hrsg.), Bildung und Lebenskompetenz, Opladen 2002.<br />

Edda Mçller<br />

Dr. rer. publ., geb. 1942; Vorstand des Verbraucherzentrale<br />

Bundesverbandes e. V. vzbv); Honorarprofessorin an der<br />

Hochschule fçr Verwaltungswissenschaften in Speyer; Stellvertretende<br />

Vorsitzende des von Bundeskanzler Schræder<br />

einberufenen Rats fçr nachhaltige Entwicklung; Vizepråsidentin<br />

von EUROSOLAR Deutschland; Mitglied im Verwal-<br />

tungsrat der Stiftung Warentest; seit November 2002<br />

Mitglied der Kommission fçr die Nachhaltigkeit in der Finanzierung<br />

der Sozialen Sicherungssysteme Rçrup-Kommission).<br />

Anschrift: vzbv, Markgrafenstr. 66, 10969 Berlin.<br />

Veræffentlichungen vor allem zu Fragen der Umweltpolitik<br />

und zum politischen Interessenausgleich in modernen<br />

Demokratien sowie zu Fragen des Verbraucherschutzes.<br />

Hildegard Mackert<br />

Germanistin/Slawistin, geb. 1953; Referentin fçr Fortbildung<br />

beim vzbv Berlin.<br />

Anschrift: vzbv, Markgrafenstr. 66, 10969 Berlin.<br />

E-Mail: mackert@vzbv.de<br />

Veræffentlichungen u. a.: Haushaltsbezogene Verbraucherbildung,<br />

in: Hauswirtschaftliche Bildung, 1998) 2 und 3;<br />

How can the internet be used constructively for consumer<br />

education?, in: NICEmail, 2001) 1.<br />

Dieter Korczak<br />

Dr. rer. pol., Diplomvolkswirt, geb. 1948; Leiter des Instituts<br />

fçr Grundlagen- und Programmforschung in Mçnchen.<br />

Anschrift: Institut fçr Grundlagen- und Programmforschung,<br />

Goethestr. 40, 80336 Mçnchen.<br />

E-Mail: info@gp-f.com; www.gp-f.com<br />

Veræffentlichungen u. a.: zus. Mit Joachim Hecker) Gehirn<br />

± Geist ± Gefçhl, Hagen 2000; Wissenschaftspolitik im<br />

Medienzeitalter, in: Theo Hug Hrsg.), Einfçhrung in die Wissenschaftstheorie<br />

und Wissenschaftsforschung, Hohengehren<br />

2001; Das schæne, neue Leben, Hagen 2001; Illegal<br />

drug use in Europe. In search of a hidden population, in:<br />

Research World, 11 Januar 2003) 1.<br />

Nåchste Ausgabe<br />

Holm Sundhaussen<br />

Staatsbildung und ethnisch-nationale Gegensåtze<br />

in Sçdosteuropa<br />

Anton Sterbling<br />

Eliten in Sçdosteuropa<br />

Rolle, Kontinuitåten, Brçche<br />

Heinz-Jçrgen Axt<br />

Vom Wiederaufbauhelfer zum Modernisierungsagenten<br />

Die EU auf dem Balkan<br />

Franz-Lothar Altmann<br />

Regionale Kooperation in Sçdosteuropa<br />

Wim van Meurs<br />

Den Balkan integrieren<br />

Die europåische Perspektive der Region nach 2004<br />

Andrea K. Riemer<br />

Die Tçrkei und die Europåische Union<br />

Eine unendliche Geschichte?<br />

n


Maria Thiele-Wittig<br />

Kompetent im Alltag: Bildung fçr Haushalt<br />

und Familie<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/2003, S. 3±6<br />

n Familien und Haushalte sind in immerkomplexerwerdende<br />

gesellschaftliche Zusammenhånge<br />

eingebunden. Die ihren Mitgliedern zunehmend<br />

abgeforderten Lebens- und Alltagsentscheidungen<br />

haben Rçckwirkungen auf die Gesellschaft.<br />

Aus dieser Perspektive ist eine Stårkung der Alltags-<br />

bzw. Daseinskompetenzen, ist Bildung fçr<br />

Haushalt und Familie ein Bereich aktivierender<br />

Gesellschaftspolitik.<br />

Michael-Burkhard Piorkowsky<br />

Neue Hauswirtschaft fçr die postmoderne<br />

Gesellschaft<br />

Zum Wandel der Úkonomie des Alltags<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/2003, S. 7±13<br />

n Dergesellschaftliche Modernisierungsprozess<br />

geht mit einem radikalen Wandel der Úkonomie<br />

des Alltags einher. Die Entscheidungen der Privathaushalte<br />

bzw. Individuen gewinnen an Bedeutung<br />

fçrdie sozioækonomische Makrostruktureinschlieûlich<br />

derBildung von Humanvermægen.<br />

Strukturgebend sind insbesondere Entscheidungen<br />

fçrbzw. gegen bestimmte Lebensstile und<br />

Lebensformen, Bildungswege und Erwerbsbeteiligungen,<br />

Konsummusterund Freizeitaktivitåten<br />

sowie Vermægensdispositionen. Eine erfolgreiche<br />

Haushaltsfçhrung setzt voraus, dass kçnftig entsprechende<br />

Grundlagen im allgemein bildenden<br />

Schulwesen vermittelt werden.<br />

Lothar Krappmann<br />

Kompetenzfærderung im Kindesalter<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/2003, S. 14±19<br />

n Um gemeinsam gutes Leben gestalten zu kænnen,<br />

benætigen Menschen Kompetenzen, die<br />

ihnen helfen, mit knappen Mitteln und unterZeitdruck<br />

Ziele auszuhandeln und zu verfolgen. Diese<br />

¹Daseinskompetenzenª erwerben Kinder durch<br />

Beteiligung an Kooperation und ± wenn sie ålter<br />

werden ± durch Reflexion und kritische Auseinandersetzung<br />

in schulischen Lernprozessen. Der<br />

wichtigste Ort, an dem Kinder diese Kompetenzen<br />

herausbilden und fçr Mitwirkung im Haushalt, fçr<br />

Lernen und andere soziale Tåtigkeiten nutzen<br />

kænnen, ist jedoch die Familie. Das Familienleben<br />

profitiert auch von der Færderung dieser Kompetenzen<br />

in anderen Bildungsbereichen.<br />

Edda Mçller/Hildegard Mackert<br />

Bildung fçr Haushalt und Konsum als<br />

vorsorgender Verbraucherschutz<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/2003, S. 20±26<br />

n Vor dem Hintergrund der in jçngster Zeit verstårkt<br />

gefçhrten Diskussion um vorsorgenden Verbraucherschutz<br />

und Nachhaltige Entwicklung auf<br />

dereinen und derPISA-Debatte auf deranderen<br />

Seite wird die Position des Verbraucherzentrale<br />

Bundesverbandes vorgestellt in Bezug auf Bildung<br />

fçr Verbraucherinnen und Verbraucher. Es wird<br />

dargelegt, dass es grundlegend neuer Kompetenzen<br />

bedarf, um die individuelle Alltagsgestaltung<br />

mit den Herausforderungen eines globalen Marktes<br />

sowie gesellschaftlicherZiele wie Umwelterhaltung<br />

und soziale Gerechtigkeit zu verbinden. Vor<br />

diesem Hintergrund wird fçr die Einfçhrung eines<br />

Faches ¹Wirtschaftª in den Sekundarstufen I und<br />

II an den allgemein bildenden Schulen plådiert.<br />

Neben derVermittlung entsprechenden Fachwissens<br />

sollte das Fach die Lebens- und Erfahrungswelt<br />

derSchçlerinnen und Schçlerim Blick haben<br />

und hieraus eine entsprechende pådagogische<br />

Konzeption entwickeln.<br />

Dieter Korczak<br />

Was sollen unsere Kinder von uns lernen<br />

Neusser Thesen zur Bildungspolitik<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/2003, S. 27±30<br />

n Kinderund Schçlerzukunftsfåhig zu erziehen<br />

und zu unterrichten erfordert ein gesellschaftlich<br />

formuliertes Wollen und eine gemeinsame Anstrengung<br />

von Staat, Gesellschaft, Eltern und<br />

Schulen. Die NeusserThesen stellen einen Versuch<br />

dar, eine Brçcke zwischen Elternhaus, Schule und<br />

Gesellschaft zu schlagen mit dem Ziel, einen sachgerechten<br />

Katalog fçr Bildungs- und Erziehungsziele<br />

sowie adåquate Unterrichtsformen zu erarbeiten.<br />

n

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