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anna maurer im interview

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Interview mit Anna Maurer <strong>im</strong> Rahmen des Seminars „Methoden (Religionspsychologie): Transpersonale Psychologie“<br />

Lehrveranstaltungsleiter: Ao. Univ.-Prof. Dr. Karl Baier | Wien <strong>im</strong> Mai 2012<br />

Könnten Sie sich vorstellen und Ihren Beruf beschreiben?<br />

Ich bin Pädagogin in meiner Grundausbildung<br />

und war zwölf Jahre lang Direktorin einer Schule. Die<br />

Psychotherapie-Ausbildung habe ich mit 37 Jahren begonnen,<br />

unter anderem in Gestalttherapie be<strong>im</strong> ÖAGG (Österreichischer<br />

Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik<br />

www.oeagg.at). Die Gestalttherapie gehört zu<br />

den humanistischen Richtungen, die aussagen, dass jeder<br />

Mensch Potenziale in sich trägt und den tiefen Wunsch<br />

verspürt, diese in seinem Leben zu verwirklichen. Lebt<br />

ein Mensch das, was in ihm angelegt ist, hat er das Gefühl,<br />

ein erfülltes Leben zu leben. Dieses positive Menschenbild<br />

hatte mich berührt. Es ist der Ansatz, wofür ich in der<br />

Psychotherapie Voraussetzungen schaffen möchte. Denn<br />

zur Entfaltung unseres Potenzials ist die Überwindung<br />

der individuellen Angst notwendig, damit man Anteile<br />

in sich wiederentdecken und weiterentwickeln kann, die<br />

verdrängt, unterdrückt oder abgespalten waren. Das Vertrauen<br />

und die Sicherheit in die therapeutische Beziehung<br />

muss geschaffen werden. Auf diesem Fundament kann<br />

Entwicklung stattfinden, damit man anderen Menschen<br />

begegnen und schwierige Situationen meistern kann. Wie<br />

die moderne Hirnforschung inzwischen an vielen Beispielen<br />

zeigen konnte, wird unser Leben von den Erfahrungen,<br />

die wir in Beziehung mit unserer Mitwelt machen, ständig<br />

neu kreiert. „Muster des Erlebens und Verhaltens, die wir unter<br />

emotionaler Beteiligung aktivieren, werden verstärkt und<br />

als neuronale Verschaltungsmuster strukturell verankert“, sagt<br />

der Neurobiologe Gerald Hüther, „das heißt, sie werden <strong>im</strong><br />

Gehirn ‚verkörpert‘.“ Wir beginnen dann, die Welt anders zu<br />

betrachten, anders zu deuten, auch wenn wir mit dem gleichen<br />

Gefühl auf dieselben Auslöser reagieren. Das Leben<br />

ist wie es ist und die Menschen sind wie sie sind, welche<br />

Antwort wir jedoch auf die Bedingungen des Lebens geben,<br />

das ist unsere Verantwortung. Wenn wir Schwierigkeiten<br />

begegnen, dann reagieren unterschiedliche Menschen unterschiedlich<br />

darauf. Wie wir darauf reagieren, hat eine<br />

Auswirkung auf die Situation und auf die betreffenden<br />

Menschen. Deswegen ist es unsere Ver-antwort-ung, wie<br />

wir darauf antworten. Das Ziel wäre, Antworten zu finden,<br />

<strong>anna</strong> <strong>maurer</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>interview</strong><br />

1<br />

die nicht aus Angst und Enge passieren, sondern aus Liebe<br />

und Mitgefühl. Übernehmen wir diese Verantwortung,<br />

dann erleben wir uns weniger als Opfer der Umstände, sondern<br />

mehr als Mitwirkende. Nicht, dass wir alles best<strong>im</strong>men<br />

können, aber dass wir mitwirken daran, wie sich etwas<br />

entwickelt und dass wir uns mit unserer Gestaltungskraft<br />

und unserer Lebendigkeit einbringen.<br />

Gibt es eine Verbindung von der Gestalttherapie zur<br />

Transpersonalen Psychotherapie?<br />

Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie,<br />

sagt: „Der Sinn des Lebens ist, es zu leben.“ Wie man es jedoch<br />

lebt, ist die Frage. Mein Weg hat mir gezeigt, dass das Leben<br />

seinen eigenen Sinn hat und keine Notwendigkeit besteht,<br />

außerhalb oder jenseits des Lebens eine Bedeutung<br />

zu finden. Diese Einfachheit von dem, was ist und wie es<br />

ist, und dass es keine hinzugefügte Bedeutung braucht,<br />

schien mir früher oft nicht genug zu sein. Wenn man erlebt<br />

hat, dass alles mit allem auf einer tieferen Ebene verbunden<br />

ist, dass jeder Mensch seinen Teil zum Ganzen beiträgt und<br />

wir aneinander wachsen können, dann fällt das Gefühl des<br />

„Getrenntseins“ weg – „Trans-personal“ bedeutet ja „das<br />

Persönliche überschreitend“. Das Wissen um die Verbundenheit<br />

und das Reden darüber hilft jedoch nicht – es kann nur<br />

durch die Erfahrung der eigenen Eingebundenheit wieder<br />

wachgerufen werden. Wenn man erlebt hat, dass man als<br />

individuelles Wesen in einem größeren Ganzen eingebettet<br />

ist, fühlt man sich auf der Erde begrüßt und merkt, dass<br />

man auf dieser Welt mit seiner Mentalität und seinem Hintergrund<br />

gebraucht wird. Meine Aufgabe sehe ich darin,<br />

schützend und begleitend für andere Menschen da zu sein,<br />

ihnen zu helfen, sich mit ihren Problemen und Ängsten zu<br />

konfrontieren, um mutig ihren persönlichen Lebensweg<br />

gehen zu können – da kann ich selbst auf einen reichen Erfahrungsschatz<br />

zurückgreifen.<br />

Die Transpersonale Psychotherapie verbindet das Wissen<br />

der Psychotherapie mit der Weisheit spiritueller Wege. Es<br />

gibt einfache Grundsätze, die in der Gestalttherapie verankert<br />

sind und die ebenfalls für die Transpersonale Psycho-


Interview mit Anna Maurer <strong>im</strong> Rahmen des Seminars „Methoden (Religionspsychologie): Transpersonale Psychologie“<br />

Lehrveranstaltungsleiter: Ao. Univ.-Prof. Dr. Karl Baier | Wien <strong>im</strong> Mai 2012<br />

therapie gelten. Es geht darum, dass wir Verantwortung für<br />

unser Leben übernehmen und uns vertrauensvoll auf das<br />

Hier und Jetzt einlassen. Das klingt einfach, der Weg dorthin<br />

ist jedoch meist ein langer und schwieriger. Mein spiritueller<br />

Weg half mir zu erkennen, dass das, was die Welt<br />

<strong>im</strong> Innersten zusammenhält, Liebe ist. Es ist jedoch nicht<br />

einfach, diese Liebe <strong>im</strong> Leben zu verwirklichen. Ich habe<br />

mir <strong>im</strong>mer gedacht, bei meinen Kindern müsste es mir am<br />

leichtesten gelingen, diese Liebe, die nicht an Bedingungen<br />

und Erwartungen geknüpft ist, zu leben.<br />

Und war das der Fall?<br />

Auch da ist und war es nicht <strong>im</strong>mer ganz einfach.<br />

Jetzt probier‘ ich es halt noch einmal bei meinen Enkelkindern<br />

(lacht). Wenn ich allerdings mit dieser Liebe und<br />

Herzenswärme verbunden bin, dann führt mich das auch<br />

<strong>im</strong>mer über mich selbst hinaus. Dann schließt diese Verbundenheit<br />

mehr ein als meine Familie, meine Freunde<br />

und Freundinnen. Dann kann ich mich in dieser He<strong>im</strong>eligkeit<br />

nicht einrichten und das andere draußen lassen und<br />

ausgrenzen. Das setzt jedoch Offenheit für Menschen und<br />

Situationen voraus. Wenn ich denke: „Wieso passiert mir das<br />

jetzt und wie kann ich mich schützen, wie kann ich Situationen<br />

kontrollieren und Dinge so richten, wie ich sie mir vorstelle“,<br />

dann bin ich mit dem, was passiert, nicht mehr in Verbindung.<br />

Sage ich hingegen: „Ok, ich nehme die Situation so<br />

an, wie sie ist, und lasse mich darauf ein“, dann kann ich mit<br />

größtmöglicher Offenheit reagieren. Es ist allerdings nicht<br />

<strong>im</strong>mer einfach, mit dieser Perspektive zu leben.<br />

Wenn das Vertrauen in das, was von innen und außen<br />

kommt, zun<strong>im</strong>mt, dann merke ich, dass Situationen ihre<br />

eigene Organisation und Weisheit entfalten. Dinge nicht so<br />

richten wollen, wie ich es glaube – ist <strong>im</strong>mer wieder herausfordernd–<br />

bereit zu sein, „Ja“ zu sagen zu dem, was das<br />

Leben von mir will. Wenn ich aus dieser Einstellung heraus<br />

Entscheidungen treffe, sind sie jedenfalls generell besser<br />

als die, die ich aus einem Gefühl der Angst oder aus meinem<br />

Wollen heraus treffe – sowohl für mich als auch für<br />

meine Umgebung.<br />

Das eigennützige Wollen aufzugeben ist eine wirklich große<br />

Herausforderung, denn einerseits sollen wir aufmerksam,<br />

diszipliniert und kraftvoll für das eintreten, was uns am Herzen<br />

liegt, und andererseits das Wollen aufgeben. Es ist wichtig<br />

zu unterscheiden, wo mich das Wollen verhärtet und wo<br />

es mir hilft, mich zu konzentrieren und meine Aufmerksamkeit<br />

auf eine Aufgabe zu lenken.<br />

Ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit für das Leben und<br />

vielleicht hat es auch etwas mit dem Älterwerden zu tun,<br />

dass das Dasein nicht mehr so etwas Selbstverständliches<br />

ist und wenn ich zurückblicke und schaue, wie sich mein<br />

2<br />

Leben entfaltet hat, dann kann ich die Sinnhaftigkeit darin<br />

erkennen. Dadurch fällt es mir jetzt leichter, mich mit<br />

allem anzuerkennen, so wie ich bin und mich dem Lauf des<br />

Lebens zu überlassen.<br />

Ich wache in der Früh mit einem Gefühl von Dankbarkeit<br />

auf und gehe am Abend mit demselben wieder ins Bett.<br />

Manchmal befürchte ich, es könnte irgendwann wieder<br />

vergehen - aber es ist nun schon sehr lange so, dass ich diese<br />

Grundgest<strong>im</strong>mtheit habe und mich mit den Wechselfällen<br />

des Lebens anfreunde.<br />

War das schon <strong>im</strong>mer der Fall oder erst seit der Beschäftigung<br />

mit Transpersonaler Psychotherapie?<br />

Ich hatte schon <strong>im</strong>mer eine Tendenz dazu, die Beschäftigung<br />

mit der Transpersonalen Psychotherapie hat es<br />

verstärkt. Es waren schon weite Wege bis dorthin. Darüber<br />

habe ich auch meine Bücher geschrieben. Nach 17 Jahren<br />

Schule und 14 Jahren Ehe bekam ich große Sehnsucht nach<br />

Veränderung. Ich wollte mich neu orientieren und stellte<br />

die Rollen in Frage, die ich übernommen hatte. Ich sehnte<br />

mich danach, andere Arten des Lebens kennenzulernen,<br />

neue Beziehungsformen auszuprobieren und herauszufinden,<br />

was für mich persönlich st<strong>im</strong>mt. Ich wollte gerne eine<br />

Psychotherapie-Ausbildung machen – in Gestalttherapie.<br />

Das erforderte, alle Sicherheiten aufzugeben und mein bisheriges<br />

Umfeld zu verlassen, meine Ehe, meinen Beruf,<br />

und durch diese Entscheidung hatte ich auch <strong>im</strong>mer wieder<br />

große existenzielle Schwierigkeiten. Ich bin durch viele<br />

Höhen und Tiefen gegangen.<br />

Die Transpersonale Psychotherapie hat sich also nicht<br />

nur auf Ihre Arbeit, sondern auch auf Ihr eigenes Leben<br />

ausgewirkt?<br />

Ja, in erster Linie hat es sich zunächst auf mein<br />

Leben ausgewirkt und dadurch später auch auf die Art und<br />

Weise, wie ich mit Menschen arbeite. Im ersten Teil meines<br />

Lebens ist es darum gegangen, dass ich mich <strong>im</strong> Leben<br />

durchsetze, dass ich meine Ziele erreiche, dass ich mein<br />

Leben nach meinen Vorstellungen gestalte. So bin ich mit<br />

25 Jahren Direktorin einer Schule geworden, bekam zwei<br />

Kinder, gründete eine Familie. Irgendwann mit Mitte 30<br />

hatte ich meine beruflichen und privaten Vorstellungen<br />

verwirklicht und trotzdem das Gefühl, dass irgendetwas<br />

noch fehlt. Ich fragte mich, ob das alles in meinem Leben<br />

sei oder ob es noch mehr gäbe, als das, was ich bis dahin<br />

erreicht hatte, und begann, vieles zu relativieren.<br />

Die Suche <strong>im</strong> Außen war schon wichtig und dass ich mein<br />

Leben komplett verändert habe. Durch die Ausbildung zur<br />

Gestalttherapeutin lernte ich, meine Einstellungen, die ich<br />

mir durch Erziehung und soziale Selbstverständlichkeiten


Interview mit Anna Maurer <strong>im</strong> Rahmen des Seminars „Methoden (Religionspsychologie): Transpersonale Psychologie“<br />

Lehrveranstaltungsleiter: Ao. Univ.-Prof. Dr. Karl Baier | Wien <strong>im</strong> Mai 2012<br />

angeeignet hatte, zu überprüfen. Das hieß, Verantwortung<br />

für meine Lebensgestaltung zu übernehmen, meine Wünsche<br />

und Bedürfnisse zu äußern und in Bezug auf andere<br />

Menschen zu verwirklichen.<br />

Trotzdem ist eine lang verschüttete Sehnsucht in mir geblieben<br />

nach dieser Instanz in mir, die tiefer, weiter und offener<br />

ist, als die Begrenzungen meiner Person. Sylvester Walch<br />

war mein Trainer in den ersten zwei Jahren meiner Gestaltausbildung.<br />

Ich ahnte, dass er ein wichtiger Lehrer für mich<br />

sein würde. So meldete ich mich kurz danach für die Weiterbildung<br />

in Transpersonaler Psychotherapie und Holotropen<br />

Atmen bei ihm an. Ich hatte zwar keine Ahnung davon, was<br />

das genau sein würde, hatte jedoch viel Vertrauen zu Sylvester<br />

und ließ mich daher auf das Wagnis dieses neuen Fachgebietes<br />

ein.<br />

Bei meiner ersten Atemerfahrung erlebte ich, dass unter<br />

einer dünnen Schicht der Realität weitere Wirklichkeitsd<strong>im</strong>ensionen<br />

liegen, von deren Existenz ich bis dahin nichts<br />

geahnt hatte. Dieses Atemerlebnis war der Aufbruch zu einem<br />

intensiven inneren Weg, auf dem meine persönlichen<br />

Erfahrungen <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Mittelpunkt standen. Erfahrungen,<br />

bei denen ich intuitiv das Wesen der Dinge erfasste – erst<br />

danach begann ich, Literatur dazu zu suchen, sodass ich<br />

die Erfahrungen einordnen konnte. Das ermöglichte mir<br />

ein lebendiges Verständnis. Denn nur eigene Erfahrungen<br />

sind die Grundlage unseres Vertrauens. Wenn uns<br />

best<strong>im</strong>mte Ideen nur vom Verstand her überzeugen, können<br />

wir nicht vertrauen. Einsicht können wir nur erleben,<br />

Erkenntnis nur in uns selbst finden, mit unserem ganzen<br />

Wesen unmittelbar erfahren.<br />

Die Auswirkung der Transpersonalen Psychotherapie<br />

auf die eigene Spiritualität ist also sehr umfassend?<br />

Für mich ist Spiritualität ein Weg jenseits von<br />

Religionen, der sie verbindet und darüber hinausführt. In<br />

der Transpersonalen Psychotherapie begleiten wir die Entwicklung<br />

der Seele auf einer persönlichen und einer universellen<br />

Ebene. Beide Ebenen werden bearbeitet, damit sie<br />

sich gegenseitig befruchten können. Psychische und spirituelle<br />

Aspekte sollen sich so ineinander verweben, dass wir<br />

uns einerseits unseren Gefühlen stellen, und sich andererseits<br />

das Vertrauen in das Größere Ganze in uns entfalten<br />

kann - das Wissen, dass unsere getrennte Individualität in<br />

einer Einheitswirklichkeit aufgehoben ist.<br />

„Ich vertraue mich deiner Kraft und Weisheit an und will in Verbundenheit<br />

mit dir leben“, das war damals mein Versprechen,<br />

als ich erkannte, dass es unter den Schwankungen des Lebens<br />

eine verlässliche und sichere Seite gibt. Diese hat mir<br />

Halt in Situationen gegeben, in denen mir äußerlich nichts<br />

mehr Halt geben konnte. Es ist eine Kraft, der ich uneinge-<br />

3<br />

schränkt mein Vertrauen schenken kann, mit der ich mich<br />

auf liebevolle Art verbunden fühle. Etwas <strong>im</strong>mer Vorhandenes,<br />

in dessen Dienst ich mich mehr und mehr stelle.<br />

Wenn ich mich dieser Kraft anvertraue und bewusst öffne,<br />

kann sie durch mich wirken und sich durch mich ausdrücken.<br />

Stehen meine eigenen Wünsche und Vorstellungen<br />

nicht mehr so sehr <strong>im</strong> Vordergrund, dann bietet mir jede<br />

Situation die Chance sie für meine Entwicklung zu nützen.<br />

Das schafft einerseits Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten,<br />

in den eigenen Weg, und andererseits Vertrauen in die<br />

Sinnhaftigkeit dieser Welt, das Geborgen- und Gehaltensein.<br />

Dann können wir uns entfalten und in der Welt einbringen,<br />

so wie es unseren Fähigkeiten entspricht, und das<br />

ist für mich gelebte Spiritualität.<br />

Wie ist das bei Patient/innen? Wissen Sie, welche spirituelle<br />

Richtung für sie jeweils gut geeignet wäre?<br />

Nein, die Menschen spüren oft selbst, dass sie<br />

jetzt spirituelle Begleitung brauchen, dass das Feld der<br />

Therapie verlassen wird. Transpersonale Psychotherapeut/<br />

innen sind Begleiter/innen auf der Suche, bis sie von spirituellen<br />

Lehrer/innen abgelöst werden. Der Weg, der in der<br />

Therapie begonnen wurde, führt letztendlich zum Meister,<br />

zur Meisterin in uns. Und wenn es so weit ist, dann findet<br />

einen der Weg. Plötzlich n<strong>im</strong>mt einen jemand mit und man<br />

merkt: Dort berührt mich etwas ganz besonders tief. Oder<br />

man kommt in einen Zustand von Liebe, von Freiheit, den<br />

man alleine nicht schafft. Die spirituelle Richtung ist dann<br />

wie ein Floß, mit dem man den Fluss überquert. Auf der<br />

Ebene der Spiritualität schließen sich religiöse Traditionen<br />

nicht gegenseitig aus. Man kann in Yoga gehen und gleichzeitig<br />

Zen-Meditationen oder ein Sufi-Ritual machen. Und<br />

trotzdem glaube ich, dass es ab einem gewissen Punkt<br />

wichtig ist, sich wirklich voll auf einen einzigen Weg einzulassen,<br />

wie auch <strong>im</strong>mer dieser Weg aussieht.<br />

Wie deutet man die Sehnsucht nach Gott, also nach etwas<br />

Transzendentem? Ist das eine falsche Suche?<br />

Nicht die Suche ist falsch, sondern die damit<br />

verknüpften Erwartungen, wie etwa: nicht mehr an seine<br />

Schicksalshaftigkeit gebunden zu sein, ein Leben ohne Probleme<br />

oder ohne Schwierigkeiten und Krankheiten. Denn<br />

oft sehen wir das Leben als Chance, wenn es unseren Erwartungen<br />

entspricht. Wenn das nicht der Fall ist, dann denken<br />

wir, dass die Welt uns enttäuscht hat, aber nicht, dass<br />

unsere Erwartungen uns getäuscht haben.<br />

Wenn jemand beispielsweise in der oralen Phase nach der<br />

Geburt zu wenig Aufmerksamkeit, zu wenig Zeit, zu wenig<br />

körperliche Berührung bekommen hat, dann können<br />

daraus Defizite entstehen. Der Mensch bleibt in seinem Leben<br />

oft in einem Gefühl hängen, zu wenig zu bekommen,


Interview mit Anna Maurer <strong>im</strong> Rahmen des Seminars „Methoden (Religionspsychologie): Transpersonale Psychologie“<br />

Lehrveranstaltungsleiter: Ao. Univ.-Prof. Dr. Karl Baier | Wien <strong>im</strong> Mai 2012<br />

unabhängig davon, was das Leben ihm bietet. In diesem<br />

Menschen bleibt eine unglaublich große Sehnsucht und<br />

ein Gefühl: „Zuerst sind meine Eltern mir noch etwas schuldig,<br />

dann ist es die Welt, die mir etwas schuldet.“ Wo der Mensch<br />

auch hinkommt, meint er: „Meine Freunde und Freundinnen<br />

müssen für mich da sein“, und die können noch so viel da sein,<br />

es wird <strong>im</strong>mer zu wenig sein. Auch <strong>im</strong> Beruf wird sich dieser<br />

Mensch oft ungerecht behandelt fühlen.<br />

Dann hört er von Esoterik, von Spiritualität oder von einer<br />

indischen Meisterin: Seine Lebenssehnsucht wird nun auf<br />

diese übertragen in der Hoffnung, nun alles zu bekommen,<br />

was ihm <strong>im</strong> Leben gefehlt hat. Ein solcher Wunsch könnte<br />

sein: „Er / sie wird mich retten und mein Leben verändern.“ So<br />

ein Mensch wird auch auf diesem Weg nicht weiterkommen,<br />

weil die Sehnsucht <strong>im</strong>mer nach außen projiziert wird,<br />

egal wohin er geht, er wird <strong>im</strong>mer mit derselben Enttäuschung<br />

wieder hinausgehen, weil jemand anderer es für<br />

ihn nicht lösen kann.<br />

Das Grundproblem kann möglicherweise in einer guten<br />

personalen Psychotherapie bearbeitet werden, in der orale<br />

Defizite nachgenährt werden. Zuerst einmal wird ein<br />

Mensch so angenommen, wie er ist. Danach werden wichtige<br />

Lebensschritte erlernt, wie etwa Bedürfnisse aufzuschieben,<br />

wenn jemand größere Ziele vorhat. Enttäuschungen<br />

auszuhalten, ohne gleich ins Bodenlose zu stürzen oder aus<br />

Rücksicht auf andere best<strong>im</strong>mte Impulse nicht gleich auszudrücken,<br />

weil man auch wahrn<strong>im</strong>mt, wie es dem Gegenüber<br />

gerade geht. Bei Kritik und Verunsicherung dennoch<br />

funktionstüchtig zu bleiben, um gut <strong>im</strong> Leben zu stehen<br />

und seine Ziele zu verwirklichen. Es ist wichtig, die Kraft in<br />

sich zu spüren und die Verantwortung für das eigene Leben<br />

zu übernehmen. Wer einen spirituellen Weg gehen möchte,<br />

benötigt Disziplin, um regelmäßig spirituelle Übungen<br />

zu machen. Es braucht Mut, um die Herausforderungen<br />

und Hürden dieses Weges durchzustehen und es braucht<br />

Vertrauen, um nicht in enttäuschten Erwartungen unterzugehen.<br />

Dann sehen wir in einem/einer spirituellen Lehrer/in<br />

das, was in uns selbst als Möglichkeit angelegt ist.<br />

Wir erkennen es in jemand anderem, weil es auch in uns<br />

ist. Der göttliche Funke ist in jedem Menschen. Dieses Wissen<br />

um unsere wahre Natur tragen wir intuitiv in uns und<br />

eine spirituelle Lehrerin, ein spiritueller Lehrer kann es in<br />

uns erwecken.<br />

Man hört und liest viel davon, dass veränderte Bewusstseinszustände<br />

sehr hilfreich für Erkenntnisse<br />

sind, auch in der Therapie. Wie sehen Sie das?<br />

Wenn wir unseren Alltag zu bewältigen haben,<br />

schränken wir unser Bewusstsein ein, weil wir vieles organisieren<br />

und tun müssen. Und wenn wir überlegen, dass in<br />

der Sekunde auf uns ungefähr elf Millionen Sinneseindrü-<br />

4<br />

cke zukommen und wir davon max<strong>im</strong>al zwischen 40 und<br />

80 verarbeiten können, bedeutet das, wir filtern ununterbrochen<br />

aus, sonst könnten wir nicht funktionieren. Wenn<br />

Sie auf die Straße hinausgehen und alles bewusst wahrnehmen<br />

würden, was da ist, wären Sie völlig überfordert.<br />

Es gibt einige Methoden, mit denen wir diese Filter öffnen<br />

können, um dadurch in veränderte Bewusstseinszustände<br />

zu kommen. Die von mir hierfür vorwiegend angewandte<br />

Methode ist das Holotrope Atmen, begründet von Stan<br />

Grof und <strong>im</strong> deutschsprachigen Raum weiterentwickelt<br />

von Sylvester Walch. „Holotrop“ bedeutet sich zum Ganzen<br />

hinwenden. Im Holotropen Atmen werden durch intensiveres<br />

Atmen, psychoaktivierende Musik und prozessorientierte<br />

Körperinterventionen veränderte Bewusstseinszustände<br />

induziert. Man legt sich auf eine Matte, schließt die<br />

Augen, eine Entspannungsübung wird angesagt und dann<br />

atmet man tiefer, schneller, intensiver und kräftiger. Der<br />

Atem ist dabei das Bindeglied zwischen Körper, Seele und<br />

Geist, zwischen stofflichen und spirituellen Prozessen. Die<br />

Fenster werden weiter, die Filter werden durchlässiger.<br />

Das, was wir sonst ausschalten, um die Komplexität zu reduzieren,<br />

damit wir unseren Alltag gestalten können, tritt<br />

nun in den Vordergrund, weil die Zensur geschwächt ist.<br />

Dadurch bekommen wir Zugang zu tiefliegenden Aspekten<br />

unserer Seele. Diejenigen, die wir bereits kennen, werden<br />

intensiver und emotional dichter erlebt. Es kommen jedoch<br />

auch Aspekte unserer Seele hoch, die uns fremd erscheinen.<br />

Deshalb ist es wichtig, unsere Einstellungen, Konzepte und<br />

Sichtweisen zu relativieren, sie ein Stück zur Seite zu legen,<br />

damit sie uns den Blick nicht verstellen, um dem Offensichtlichen<br />

begegnen zu können.<br />

Durch dynamischeres und schnelleres Atmen können wir<br />

unser Inneres bewusst betreten; Erinnerungen können freier,<br />

direkter und körperlicher an die Oberfläche kommen.<br />

In Atemsitzungen erinnert man sich nicht nur, sondern<br />

erlebt Details aus allen Lebensphasen mit den ursprünglichen<br />

Gefühlen und Körperempfindungen als authentische<br />

regressive Erfahrungen. Manchmal eröffnet sich auch ein<br />

szenischer Zugang zu sehr frühen Erlebnissen. Sie können<br />

atmosphärisch hochkommen, werden zunächst undifferenziert<br />

wahrgenommen und können durch plötzlich<br />

auftretende Erinnerungen konkret erlebnishaft erfasst<br />

werden. Das Spektrum reicht bis zu vorgeburtlichen Erfahrungen<br />

wie: körperliche Vorgänge während der Geburt,<br />

intrauterine Zustände oder sogar das Erleben der eigenen<br />

Zeugung. An diesem Kreuzungspunkt von personaler und<br />

transpersonaler Existenz, an dem sich unser Schicksal verdichtet,<br />

ist es uns oft möglich zu erfassen, weshalb es sinnvoll<br />

erscheint, dass wir Kinder ganz best<strong>im</strong>mter Eltern sind.<br />

Einschränkungen und Begrenzungen, die wir unseren Lebensumständen<br />

zum Vorwurf gemacht haben, können dann<br />

in einem anderen Zusammenhang gesehen werden.


Interview mit Anna Maurer <strong>im</strong> Rahmen des Seminars „Methoden (Religionspsychologie): Transpersonale Psychologie“<br />

Lehrveranstaltungsleiter: Ao. Univ.-Prof. Dr. Karl Baier | Wien <strong>im</strong> Mai 2012<br />

Durch das Holotrope Atmen werden tiefere und subtilere<br />

Schichten unseres Selbst freigelegt. Man erlebt sich in anderen<br />

Kulturkreisen zu anderen Zeiten. Menschen berichten<br />

<strong>im</strong>mer wieder von Erlebnissen, die so klar und dicht<br />

sind, dass der Eindruck entsteht, es seien Erfahrungen aus<br />

früheren Leben. Diese Erfahrungen werfen oft ein ganz<br />

neues Licht auf tief verwurzelte Persönlichkeitsstrukturen,<br />

machen Schwierigkeiten, mit denen man kämpft, begreiflich.<br />

So kann zum Beispiel vor Augen geführt werden,<br />

welche festgefahrenen Muster uns <strong>im</strong> gegenwärtigen Leben<br />

erneut zum Verhängnis werden könnten.<br />

Auch Bilder und Erfahrungen tauchen auf, die aus dem<br />

kollektiven Unbewussten stammen, weil wir in einen mythologischen<br />

Erfahrungsraum eintauchen, der die Visionen<br />

der Menschheit in sich trägt. Über Jahrtausende hinweg<br />

gelangten gleiche oder ähnliche Bilder in das Bewusstsein<br />

der Menschheit. C. G. Jung bezeichnet diese universelle<br />

psychische Struktur in jedem Individuum als Archetypus.<br />

Begegnungen mit archetypischen Wesen können Probleme<br />

erhellen, Schattenaspekte ans Licht bringen oder ein<br />

unerwartetes Potenzial offenbaren. In Atemerfahrungen<br />

können wir buchstäblich zu archaischen Wesen werden<br />

und diese Identifikationen sind mit starken körperlichen<br />

wie emotionalen Empfindungen verbunden. So kann die<br />

Auseinandersetzung mit unserer spirituellen Weiblichkeit<br />

in der Identifikation mit einer kulturspezifischen Ausformung<br />

der großen Muttergöttin stattfinden: der Jungfrau<br />

Maria, der hinduistischen Göttin Lakshmi, der ägyptischen<br />

Isis, der griechischen Hera. Hat man das Gefühl und die Bedeutung<br />

dieser mythologischen Urbilder verstanden, kann<br />

man eine Brücke zwischen dem bewussten alltäglichen Leben<br />

und der inneren Welt schaffen. Archetypische Wesen<br />

schließen freundliche und feindliche Prinzipien und Kräfte<br />

mit ein, sie sind Manifestationen des schöpferischen Ursprunges,<br />

sie stellen eine Brücke zum Göttlichen dar, sind<br />

ein Fenster zum Absoluten.<br />

Wie real sind solche Erfahrungen?<br />

Eine Atemerfahrung ist eine Mischung aus vielerlei<br />

Dingen. Eine andere Realität bricht herein, aber<br />

auch Wunschvorstellungen, Phantasien, Tagesreste sind<br />

vorhanden. Es ist ein Mosaik aus vielen Bestandteilen, aus<br />

unseren Weltbildern und Überzeugungen. Auch psychologische<br />

Abwehrmechanismen können vorhanden sein, wie<br />

Verleugnung oder Projektion. Aber selbst wenn von verschiedenen<br />

Seiten Verzerrungen hinzukommen, leuchtet<br />

hinter all dem etwas durch, das sich ganz st<strong>im</strong>mig anfühlt.<br />

Atemerfahrungen haben auch D<strong>im</strong>ensionen, die nicht so<br />

einfach in die dreid<strong>im</strong>ensionale Welt zu übersetzen sind.<br />

Deshalb ist es für Teilnehmer/innen manchmal schwierig,<br />

über ihre Erfahrungen zu erzählen. Wenn von ihnen berichtet<br />

wird, wird natürlich <strong>im</strong>mer wieder gefragt: Was ist real,<br />

5<br />

was ist Phantasie? Die Frage nach dem Realitätsgehalt von<br />

Erinnerungen und Vorstellungen ist so alt wie die Psychotherapie.<br />

Jede Erfahrung besitzt eine psychische Realität,<br />

das heißt, sie ist für diesen Menschen bedeutsam, wenn<br />

eine tiefe innere Berührung damit verbunden ist. Solche<br />

Erfahrungen, die mit allen Sinnen verknüpft sind, sind für<br />

unsere Entwicklung unterstützend und förderlich. „Bewerte<br />

es in dem Augenblick nicht.“ – Das ist ein wichtiger Grundsatz.<br />

Oft müssen solche Erfahrungen erst reifen, damit sich<br />

ihr Sinn erschließen kann. Erfahrungen aus veränderten<br />

Bewusstseinszuständen sind lebendig und entwickeln sich<br />

kontinuierlich weiter. Wir können nur das verstehen, was<br />

uns <strong>im</strong> Augenblick zugänglich ist und das hängt auch von<br />

unserer inneren St<strong>im</strong>mung ab.<br />

Wie begleitet man diese intensiven Prozesse?<br />

Es ist wichtig, dass Psychotherapeut/innen die<br />

seelischen Inhalte und psychologischen Phänomene kennen,<br />

die während eines transpersonalen Entwicklungsprozesses<br />

auftreten können, um Klient/innen professionell<br />

und unterstützend zu begleiten. Die Erfahrungsbereiche,<br />

die über das Persönliche hinausgehen, werden <strong>im</strong>mer subtiler.<br />

Das erfordert eine neue Qualität therapeutischer Intervention.<br />

Aus Achtung und Respekt dem gegenüber, was<br />

sich auf einem spirituellen Weg zeigen und entfalten will,<br />

ist die Arbeit der Psychotherapeut/innen weniger aktiv und<br />

eingreifend, als vielmehr beobachtend, akzeptierend und<br />

zulassend: „Ich begleite dich als Zeuge deines inneren Prozesses.“<br />

Ein Festlegen auf Ziele und auf best<strong>im</strong>mte Inhalte würde<br />

die Weisheit einer solchen Erfahrung zerstören; es gilt, nur<br />

die Absicht des Prozesses zu erkennen.<br />

Transpersonale Psychotherapeut/innen müssen selbst auf<br />

dem Weg sein, ein tiefes Vertrauen in überpersönliche Prozesse<br />

entwickelt haben. Das heißt nicht, dass sie inaktiv sind:<br />

Sie geben Anweisungen, sie machen auf Texte aufmerksam,<br />

beziehen meditative Methoden mit ein. All das hilft den Suchenden,<br />

die Erfahrung zu verstehen, sie einzuordnen und<br />

sich neuen Inhalten vertrauensvoll zu öffnen. Denn auch,<br />

wenn man in einer Atemerfahrung erkannt hat, dass man in<br />

diesem Leben willkommen ist, weil man sich verbunden mit<br />

allem erlebt und auch körperlich von einer tiefen Liebe erfüllt<br />

ist, treten oft nach öffnenden, verändernden Erfahrungen<br />

wieder die alten Muster auf und lassen uns Neues <strong>im</strong>mer<br />

wieder mit den alten Augen sehen. Diese alten, festgefahrenen<br />

Denkmuster sind Menschen vertrauter und geben ihnen<br />

scheinbar mehr Sicherheit - vor allem deswegen, weil die<br />

meisten anderen Menschen in der Umgebung ebenso denken<br />

und mit ähnlichen Einstellungen und Überzeugungen<br />

unterwegs sind. Um neu denken zu können, muss man diese<br />

Ängste erst einmal überwinden. Dies erfordert Vertrauen in<br />

seine Erfahrungen und in sein eigenes Wissen. Damit neue<br />

Erkenntnisse umgesetzt werden können, benötigt es Un-


Interview mit Anna Maurer <strong>im</strong> Rahmen des Seminars „Methoden (Religionspsychologie): Transpersonale Psychologie“<br />

Lehrveranstaltungsleiter: Ao. Univ.-Prof. Dr. Karl Baier | Wien <strong>im</strong> Mai 2012<br />

terstützung, denn durch die Zuversicht eines begleitenden<br />

Menschen wird das Durchhaltevermögen gestärkt.<br />

Das heißt es gibt es auch eine starke Auswirkung auf<br />

das Alltägliche?<br />

In der Aufarbeitung bemühen wir uns um ein<br />

Stück Verständnis für die Erfahrung und wir achten dabei<br />

auf die verschiedenen Erfahrungsebenen, bewerten diese<br />

jedoch nicht. So ist die innere Auseinandersetzung mit<br />

dem Partner, der Partnerin genauso wichtig, wie das Erleben<br />

des Einheitsbewusstseins oder das Einströmen kosmischer<br />

Energien.<br />

In einem nächsten Schritt schauen wir, wo es einen Zusammenhang<br />

zum Alltäglichen gibt. An welcher Stelle des Alltags,<br />

beruflich oder privat, könnte die Essenz der Atemerfahrung<br />

Unterstützung geben? Welche Schritte möchte<br />

man in seinem Alltag setzen und was möchte man anders<br />

anschauen oder anderes angehen. Spirituelle Öffnungen<br />

sind erlebt worden und <strong>im</strong> Inneren behe<strong>im</strong>atet. Jetzt geht<br />

es darum, solche Erfahrungen dauerhafter <strong>im</strong> Fokus der<br />

Aufmerksamkeit zu halten, damit sie einen festen Platz in<br />

uns gewinnen können. Denn dieses neue Erleben ist noch<br />

fragil, daher brauchen diese Prozesse Geduld, spirituelle<br />

Praxis, gegenseitige Unterstützung, um miteinander und<br />

aneinander zu wachsen. Es ist wichtig, diese Bemühungen<br />

auch <strong>im</strong>mer mit Anerkennung zu würdigen, denn sie abzuwerten<br />

hilft uns auf dem Weg der Genesung nicht weiter, es<br />

verstärkt nur den neurotischen Druck.<br />

Wo könnte sich die Transpersonale Psychotherapie hin<br />

entwickeln? Wie wird sie sich entwickeln?<br />

Sie hat sich in den letzten Jahren bereits stark entwickelt.<br />

Gerade letztes Wochenende habe ich mit Sylvester<br />

Walch gemeinsam ein Holotropes Atemseminar an der Sigmund-Freud-Universität<br />

in Wien gehalten. Ich unterrichte<br />

dort Integrative Gestalttherapie und wenn ich mich vorstelle<br />

mit: „Ich bin auch Transpersonale Psychotherapeutin“, fragen<br />

mich die Studierenden häufig: „Und was ist das?“ Wenn<br />

ich ihnen dann erkläre, dass es die Verbindung der Psychotherapie<br />

mit spirituellen Traditionen ist, erzählen mir<br />

die jungen Menschen zum Beispiel: „Ich mache Yoga“ oder<br />

„Ich gehe zum Zen-Meditieren“. Ich bemerke, dass Studierende<br />

heutzutage eine große Offenheit dafür haben und der<br />

Wunsch besteht die Synergie-Effekte zu nützen, denn keine<br />

Methode kann für sich alleine stehen. Es gibt außerhalb der<br />

Psychotherapie noch andere Formen von wachstumsfördernden<br />

Wegen. In der Transpersonalen Psychotherapie<br />

fließen Erfahrungen und Weisheiten spiritueller Traditionen<br />

genauso mit ein wie die neuesten Erkenntnisse der Gehirnforschung.<br />

Je tiefer und umfassender wir durch eigene<br />

Erfahrungen in diese Wissensbereiche eintauchen, umso<br />

voller können wir unsere Potenziale ausschöpfen. Wenn ich<br />

überlege, als ich vor über 20 Jahren mit der Weiterbildung<br />

begonnen habe, wäre es noch unvorstellbar gewesen, dass<br />

eine Vorlesung über Transpersonale Psychotherapie und<br />

ein Holotroper Atem Workshop in einem universitären<br />

Kontext stattfinden. Dank der Bücher und des Engagements<br />

von Sylvester Walch und des ÖATPs* sind diese Fachgebiete<br />

etabliert und als Weiterbildung für Psychotherapeut/innen<br />

vom Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie<br />

und vom Bundesministerium für Gesundheit anerkannt.<br />

Außerdem bin ich überzeugt davon, dass es mehr und mehr<br />

zu einem Dialog zwischen der modernen Wissenschaft und<br />

spirituellen Traditionen kommen wird. Obwohl sie unterschiedliche<br />

historische, kulturelle und intellektuelle Ursprünge<br />

beinhalten, können sie sich gegenseitig befruchten.<br />

Beide haben gemeinsam, dass sie auf Heilung und<br />

Wohlergehen des Menschen ausgerichtet sind. Spirituelle<br />

Traditionen sagen, dass der menschliche Geist das Potenzial<br />

zur Transformation in sich trägt und dass spirituelle<br />

Übungen zur Transformation führen können. Neu ist, dass<br />

nun in der funktionalen Neurobiologie nachgewiesen werden<br />

konnte, dass geistiges Training das Gehirn verändern<br />

kann. Dies hat Auswirkungen auf unser alltägliches Leben,<br />

weil es die Konsequenz von Disziplin und spiritueller Praxis<br />

aufzeigt. Das Gehirn hat eine erstaunliche Veränderbarkeit<br />

(Neuroplastizität = die Fähigkeit des Gehirns, sich ständig<br />

neu zu organisieren). Es ist sehr ermutigend zu wissen,<br />

dass therapeutische Methoden Menschen unterstützen<br />

können, die aufgrund von Defiziten, Traumata oder chronischen<br />

Konflikten wenig Wärme und Mitgefühl für andere<br />

Menschen empfinden können, und dass diese Fähigkeiten<br />

wiederhergestellt werden können. Denn das, was Menschen<br />

erfahren, ihre Gedanken, Emotionen und Bewusstseinszustände<br />

formen das Nervensystem und das Gehirn. Kontemplative,<br />

mitfühlende Methoden mit exper<strong>im</strong>enteller<br />

empirischer Wissenschaft zu verbinden hat Einfluss auf<br />

Medizin, Neurowissenschaft, Psychologie, Bildungswesen<br />

und menschliche Entwicklung. Es hat Einfluss darauf, wie<br />

wir unsere Zukunft gestalten und wohin die Menschheit<br />

sich entwickeln wird.<br />

Vielen Dank für das Gespräch!<br />

* Österreichischer Arbeitskreis für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie | www.transpersonal.at<br />

6<br />

<strong>anna</strong> <strong>maurer</strong><br />

Psychotherapeutin (Gestalttherapie, Bioenergetik), Supervisorin<br />

und Persönlichkeitscoach, Ausbildnerin für Integrative Gestalttherapie<br />

(IGWien und SFU), Begründerin der IGM-Körpertherapie, Trainerin für<br />

Transpersonale Psychotherapie und Holotropes Atmen (ÖATP), Lektorin an<br />

der Sigmund Freud Privatuniversität Wien (SFU), Buchautorin, Vortragsund<br />

Workshoptätigkeit.<br />

www.<strong>anna</strong><strong>maurer</strong>.at

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