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<strong>Die</strong> <strong>East</strong>-<strong>Wind</strong>-<strong>Story</strong><br />
Ausführliche Version vom 13.10.2004<br />
<strong>Die</strong> Geschichte eines modernen Abenteuers zu Lande und in der Luft<br />
Wir, die Motorschirm-Piloten Till Middelhauve, Erik Behr und Michael Werner hatten uns<br />
das ehrgeizige Ziel gesetzt, mit "fliegenden Fahrrädern", sogenannten "Flykes" des<br />
Gleitschirm-Antrieb-Herstellers Fresh Breeze, den "neuen Osten" Europas, zu Lande und zu<br />
Luft kennen zu lernen. Unser Ziel war es, ohne Bodenteam von Hannover bis an die<br />
Schwarzmeerküste Rumäniens zu fliegen, uns allen Herausforderungen und Abenteuern zu<br />
stellen und einen Eindruck von Land und Leuten zu gewinnen. Unsere Reise führte uns durch<br />
Ostdeutschland, Süd-Polen, die Slowakei, Ungarn und schließlich Rumänien.<br />
<strong>Die</strong> Reise wurde von mir mit mehreren Kameras aufgezeichnet, mit dem Ziel, einen<br />
Dokumentarfilm zu produzieren.<br />
Einwurf: Was ist ein Flyke? Wie funktioniert es? Warum wurde es gebaut?<br />
Ein Flyke ist, wie der Name eigentlich schon passend sagt, ein „flying bike“. Im Prinzip<br />
handelt es sich um ein vollwertiges, dreirädriges Liegerad mit Verwindungs-Lenkung und<br />
Gangschaltung, auf das man hinten mit wenigen Handgriffen einen Gleitschirm-Rucksack-<br />
Motor mit Propeller aufsetzen kann. An der zentralen Aufhängung lässt sich nun noch ein<br />
Gleitschirm einhängen, der das ganze Gerät mit dem Piloten in der Luft trägt. Es ist eines der<br />
wenigen in der Praxis verwendbaren Fahrzeuge weltweit, mit dem man heute auf der Strasse<br />
fahren und zusätzlich auch fliegen kann.<br />
Für den Flugbetrieb, für den man eine größere Wiese zum Starten benötigt, legt man den<br />
Gleitschirm hinter dem Flyke auf dem Boden aus. Hat sich der Pilot im Sitz festgeschnallt<br />
und den Motor gestartet, wird der Schirm zunächst mit dem Luftstrahl des Propellers<br />
angeblasen und vorbereitend gefüllt. Mit Vollgas fährt das Flyke dann los, zieht den<br />
Gleitschirm über sich, beschleunigt und hebt schließlich ab.<br />
In der Luft fliegt das Flyke mit Geschwindigkeiten zwischen 30 km/h und 60 km/h, steigt, je<br />
nach Grad der Beladung, mit bis zu 2,5 Metern pro Sekunde und kann (bei hypothetischem<br />
Nullwind) mit einer Tankfüllung von 11 Litern knapp 100 km weit fliegen. Sollte der Motor<br />
ausfallen, ist das nicht weiter tragisch. Wie ein normaler Gleitschirm geht das Flyke dann in<br />
einen Sinkflug über und kann problemlos gelandet werden.<br />
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Nach der Landung wird der Gleitschirm zusammengerollt und hinter dem Sitz verstaut. In der<br />
Fahrt weg vom Landeplatz liegt auch die Idee des Flyke begründet. <strong>Die</strong> Entwickler der Firma<br />
Fresh Breeze flogen nämlich in der Frühzeit des motorisierten Gleitschirmfliegens übers Land<br />
und landeten an Plätzen, wo es ihnen gefiel. Wollten sie aber an einer Tankstelle Benzin holen<br />
oder in den Ort gehen um beispielsweise ein Eis zu essen, mussten sie das Gerät immer<br />
zurücklassen, da es zu schwer war, um es weit tragen zu können. Man behalf sich zuerst mit<br />
Rollen, die man unter den Schutzkäfig des Motors schraubte und überlegte dann, ein Faltrad<br />
auf dem Schoß des Piloten mitzuführen. Schließlich war die Idee geboren, einfach auf einem<br />
Fahrrad sitzend zu starten!<br />
Für den Fahrbetrieb gibt es zwei Varianten: Ohne Schubkraft des Propellerantriebs per<br />
Muskelkraft und mit Motorbetrieb als luftschraubengetriebenes Fahrzeug. Als Fahrrad ist das<br />
Flyke in Deutschland nicht zulassungspflichtig und damit legal auf der Straße zu fahren. Der<br />
abgeschaltete Motor wird als Gepäck gewertet (ähnlich einer Motorsäge im Fahrradkorb eines<br />
Kleingärtners) da er mit einem Handgriff auf dem Boden abzustellen ist.<br />
Da das Gesamtgewicht des Gerätes mit knapp 60 kg im Vergleich zu einem normalen Fahrrad<br />
immens ist, liegt die Versuchung nahe, mittels des komfortablen E-Starters den Motor<br />
einzuschalten und sich schieben zu lassen. <strong>Die</strong>s ist allerdings auf öffentlichen Straßen in<br />
Deutschland verboten. In den osteuropäischen Ländern gibt es wohl hierzu keine Regelung.<br />
Niemand hat sich auf unserer Reise am Fahren mit Motorkraft gestört. Der rumänische<br />
Verkehrsminister ließ uns sogar noch ein Empfehlungsschreiben mit auf den Weg geben.<br />
Beim Motorbetrieb liegt die Geschwindigkeit in flachem Gelände schon im Standgas bei ca.<br />
40 km/h. Da Fahrgeschwindigkeiten über 45 km/h zu Instabilität im Lenkverhalten des<br />
Gefährts führen, muss man in der Praxis sehr häufig bremsen und nur selten Gas geben.<br />
Aller Anfang ist schwer<br />
Nach mehrmonatigen Vorbereitungen soll es am 17. Juli 2004 endlich losgehen! Schon tags<br />
zuvor sind Erik und ich mit einem voll beladenen Auto von Darmstadt angereist, um noch<br />
etwas Zeit für einen letzten Material-Check zu haben und die Beladung zu verteilen.<br />
Das Wetter zeigte sich von einer sehr gnädigen Seite, denn seit vielen Wochen regnete und<br />
stürmte es, sommerliche Stimmung – für unsere Unternehmung ein fest eingeplanter und<br />
essentieller Bestandteil – war bisher wenig aufgekommen. Aber nun schien morgens die<br />
Sonne, es blies ein schwacher Südost-<strong>Wind</strong> und die Stimmung war entsprechend gut. Nach<br />
dem Frühstück rollten wir die Fluggeräte auf den hauseigenen Flugplatz der Firma Fresh<br />
Breeze und trafen die letzten Vorbereitungen. Ich war schon in der Luft, um den<br />
dramaturgisch wichtigen Beginn der Reise filmerisch einzufangen, als Erik sich bei seinem<br />
ersten Start bei Seitenwind zu spät zu einem Abbruch entschied, auf die Halle zurollend kurz<br />
abhob und, die Böschung hinab, nur wenige Meter vor dem Gebäude wieder einschlug.<br />
Entsetzt rannten alle Anwesenden zur Halle. Erik hatte keinerlei Blessuren davongetragen,<br />
leicht verstört stand er allerdings vor seinem ordentlich beschädigten Fluggerät – sein blauer<br />
Gleitschirm hing über ihm in der Regenrinne der Halle fest.<br />
Aus war der Traum vom idyllischen Start im Morgengrauen. Es blieb nichts anderes, als mit<br />
der Reparatur des verbogenen Alu-Gefährtes zu beginnen! Es gab keinen idealeren Ort auf der<br />
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Welt, an dem uns dieser Vorfall hätte passieren können. Glück im Unglück: Das Flyke war<br />
vor dem Tor der Halle verunfallt, in dem es hergestellt wurde. Alle Ersatzteile und nötigen<br />
Spezialwerkzeuge waren griffbereit. Innerhalb von drei Stunden war der Rahmen<br />
geradegebogen, neue Propeller aufgeschraubt und das Gerät wieder instandgesetzt. Glück<br />
gehabt!<br />
Zerfetzte Propellerspitze Schaden an Erik’s Flyke<br />
Mittlerweile hatte sich allerdings der herbstliche Charakter des Wetters wieder durchgesetzt<br />
und ein Gewittersturm kündigte sich am Horizont an. Der <strong>Wind</strong> hatte auch schon eine Stärke<br />
gewonnen, die Fliegen unmöglich machte. <strong>Die</strong> Piloten starteten auf dem "Landweg" und<br />
radelten Richtung Südosten. Ein denkbar schlechter Start für ein Projekt, dessen Ausmaß<br />
selbst die Akteure nur schwer einschätzen konnten.<br />
Nach 20 km Fahrt auf kleinen Seitenwegen suchten wir uns in der Dämmerung einen<br />
Campingplatz an einem Baggersee, von dem uns ein aufgebrachter Aufpasser noch vertreiben<br />
wollte, da er glaubte, ein wochenendliches Party-Gelage mit Müllschlacht verhindern zu<br />
können. Dank unserer außergewöhnlichen Fahrgeräte ließ er uns aber schließlich gewähren.<br />
Wenigstens der Nachtschlaf war gerettet!<br />
Easy Riding bis nach Polen<br />
Der nächste Morgen sah wettermäßig erneut vielversprechend aus. Von einem kleinen<br />
Modell-Flugplatz wollten wir starten. Erik, mental noch etwas von seinem gestrigen Patzer<br />
verunsichert, hatte allerdings wegen vorherrschendem Seitenwind erneut Startprobleme. Als<br />
wir endlich „airborne“ waren, folgten wir dem Kompasskurs 120° - Südost,<br />
Schwarzmeerküste!<br />
Nach einem ersten Frühstücks-Tankstopp in einem kleinen Ort ging es weiter, hinweg über<br />
die ehemalige deutsch-deutsche Grenze bis zum Flugplatz Aschersleben. Dort machten wir<br />
eine Mittagspause und sorgten für eine skurrile Durchfahrt bei McDrive!<br />
Aus einem Mittagsschlaf erwachten wir leicht erschreckt: Schon wieder braute sich, diesmal<br />
über den Bergrücken des Harzes am westlichen Horizont, ein unheilvolles Gewitter<br />
zusammen. Da wir Aschersleben für eine Übernachtung nicht sonderlich attraktiv hielten,<br />
eilten wir uns sehr, in die Luft zu kommen und vor diesem „Monster“ zu fliehen. Im Tiefflug<br />
ging es weiter Richtung Bitterfeld. <strong>Die</strong> Wolkenwand hinter uns wurde dunkler und dunkler,<br />
der Himmel über uns war mittlerweile auch schon zugezogen und man merkte anhand des<br />
auffrischenden Gegenwindes, dass das Unwetter hinter uns die Luft ansaugte.<br />
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Wichtig ist es in diesem Zusammenhang zu wissen, dass ein Gewitter den GAU des<br />
Gleitschirmfliegers in der Luft darstellt. Gerät man erst mal in die Fänge eines solchen<br />
überdimensionalen „Staubsaugers“, blühen einem, durch das Hinaufsaugen in unvorstellbare,<br />
unwirtliche Höhen von bis zu 13 km, viele verschiedene Todesarten: Ersticken, Erfrieren,<br />
Erschlagen (Eis) und Verbrennen (Blitze).<br />
Da wir stetig nach vorn schauten und den Blick ins Schwarze nach hinten mieden, merkten<br />
wir erst im Landeanflug auf einen Wiesenstreifen an einem See vor Bitterfeld, wie dunkel die<br />
Wetterwand hinter uns wirklich war. Wir begannen schnell mit dem Packen, da Unheil in<br />
Form von Starkregen und Sturm nahte. Nur acht Minuten nach der letzten Landung begannen<br />
die Urgewalten zu toben. Der See, eben noch eine idyllische Bademöglichkeit, verwandelte<br />
sich von einem Moment auf den anderen in ein schäumendes Meer!<br />
Kurz vor der Landung am See Gewittersturm 30 Minuten später<br />
Um möglichst schnell Schutz für uns und unser Gerät zu finden, starteten wir entgegen dem<br />
deutschen Gesetz unsere Motoren und ließen uns hastig durch die einsamen Straßen des<br />
angrenzenden Ortes schieben. Kurz vor Beginn sintflutartiger Regenfälle fanden wir Schutz in<br />
einer Schützenvereinskneipe, in der die Hausdame von den bereits grölenden Gästen mit dem<br />
Ausruf "Conny! Da ist gerade 'ne Hubschrauberbesatzung gelandet!" auf den<br />
außergewöhnlichen Besuch aufmerksam gemacht wurde. Neben einem schützenden Vordach<br />
für die Flykes und rustikalen deutschen Köstlichkeiten, hatte die Dame auch komfortable<br />
Übernachtungsmöglichkeiten im Programm!<br />
Am folgenden Tag, dem 19. Juli, wurden wir nach einer durchregneten Nacht von schönem<br />
"Rückseitenwetter", also heiterem Wetter mit tiefen Cumulus-Wolken, positiv überrascht.<br />
Nach dem Tanken im nahen Bitterfeld erlebten wir einen der beeindruckendsten Flüge<br />
unserer Reise: Da in der Höhe ein lebhafter Westwind für Unterstützung sorgte, stiegen wir<br />
mit unseren filigranen Fluggeräten auf 1500m über die Wolken und genossen ein gewaltiges<br />
Panorama. Wir flogen um freundliche Wolkenberge, blickten durch „Wolkenfenster“ auf die<br />
Elbe und wurden von der schneeweißen Wolkendecke unter uns geblendet. Mit einer<br />
Tankfüllung erreichten wir, dank des Rückenwindes, der uns Geschwindigkeiten von fast 100<br />
km/h über Grund bescherte, nach ca. 2 Stunden die ostdeutsche Stadt Senftenberg, in der wir<br />
Erik’s Funkgerät reparieren konnten und den Nachmittag an einem See verbrachten.<br />
Aus der Luft boten sich Perspektiven, die das ganze Ausmaß industrieller Ausbeutung von<br />
Bodenschätzen dokumentieren: Landschaften, über dutzende von Quadratkilometern<br />
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zerfurcht, auf- und umgehäuft, von jeglichem Grün befreit. Inmitten dieses naturfeindlichen<br />
Eingriffs, der Versuch, der Natur mit einem großen <strong>Wind</strong>energie-Park gerecht zu werden.<br />
Abends starteten wir erneut und flogen bei mittlerweile wolkenlosem Himmel, vorbei an dem<br />
Industrie-Denkmal „Schwarze Pumpe“ bis zum Flugplatz Görlitz an der polnischen Grenze.<br />
Auf dem Flugplatz trafen wir zunächst niemanden an. Also bauten wir neben ein paar anderen<br />
Campern auch unsere Zelte auf, nahmen die Motoren von den Flykes und fuhren zum Essen<br />
ins Stadtzentrum. Dort waren wir sehr überrascht, eine reizvolle Altstadt vorzufinden. <strong>Die</strong><br />
meisten Häuser waren saniert und erglänzten in alter Pracht, so dass es sich auf dem<br />
Marktplatz stimmungsvoll dinieren ließ.<br />
"Werner", der Flugplatzboss, kämpfte am nächsten Morgen auf dem Flugplatz mit den<br />
Worten und rang um seine Stimme. Seine Mission war ihm selbst am unangenehmsten, er<br />
musste uns drei Bösewichte als ordentlicher deutscher Beamter aber auf eine anzuzeigende<br />
Ordnungswidrigkeit hinweisen, da wir den Platz gestern abend um 19:45h, also nach der<br />
offiziellen Betriebszeit, angeflogen hatten. Er sprang letztlich über seinen eigenen Schatten<br />
und zeigte uns drei Uneinsichtigen nicht an! <strong>Die</strong> Standpauke dauerte so lang, dass ich mich<br />
zwischenzeitlich positiven Dingen zuwandte und draußen einer Kindergarten-Gruppe die<br />
Vorzüge des Flyke-Fliegens näher brachte. Eine Lehre, die wir daraus zogen, war, dass man<br />
Flugplätze in Zukunft besser meiden sollte, da hier mit Paragrafen bewaffnete Papiertiger<br />
lauern. Eine Landung zwei Kilometer vor dem Flugplatz auf einem x-beliebigen Acker hätte,<br />
sogar laut Aussage des Fluplatz-Bosses, niemanden interessiert. Lande nicht auf einem<br />
Flugplatz und du wirst keinen Ärger haben!<br />
Da „Werner“ auch einen Einflug nach Polen für hochproblematisch hielt, radelten wir mittags<br />
durch Görlitz, um dort die zentrale Grenzbrücke in der Stadt zu überqueren. Bei einem kurzen<br />
Stopp in einer Bäckerei kam es noch zu einer sehr heiteren Begegnung mit einer 83-jährigen<br />
Dame. Sie lief aufgeregt herein und rief laut: „Sie kommen wohl vom Mond, wa?“<br />
Unser erster Grenzübertritt, hinein nach Polen, verlief sehr unproblematisch. Entgegen<br />
unseren Erwartungen wurden wir nicht etwa gefilzt und misstrauisch behandelt, nein, die<br />
Beamten beider Nationen waren ausnehmend freundlich, amüsierten sich über unsere<br />
Fahrräder und erlaubten uns sogar ausdrücklich, sie ein bisschen zu filmen!<br />
Ab nun hieß es für uns: Motoren an! Auch auf der Strasse verzichteten wir von nun an<br />
konsequent nicht mehr auf die schöne Hilfe der Propellerkraft. Waren wir in Deutschland, wo<br />
der Betrieb propellergetriebener Fahrzeuge auf öffentlichen Straßen explizit verboten ist, noch<br />
sehr vorsichtig und nutzten die Motoren nur auf abgelegenen Nebenwegen, so hatten wir ab<br />
sofort kein schlechtes Gewissen mehr, mit ordentlicher Geräuschkulisse ausgestattet auch<br />
mitten durch eine Stadt zu fahren! Sollte sich tatsächlich jemand an diesem Antrieb und<br />
einem fehlenden Nummernschild stören, vertrauten wir auf unsere Überzeugungskraft und<br />
notfalls ein paar Euro Bargeld.<br />
In diesem Zusammenhang ist es interessant, zu wissen, dass ein Flyke auf gerader Strecke<br />
schon im Standgas eine Geschwindigkeit von ca. 40 km/h erreicht. <strong>Die</strong>s birgt das Problem,<br />
dass man fast ständig bremsen muss, da, in der Struktur des Flyke bedingt ab, 45 km/h<br />
Schwingungen auftreten, die das Fahrzeug so sehr aufschaukeln, dass es sich sogar<br />
überschlagen kann.<br />
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Leider hatte sich mittags ein kräftiger Ostwind entwickelt, der so stark war, dass an Fliegen<br />
nicht zu denken war. Schnell ist bei einem spürbaren <strong>Wind</strong> nämlich schon die<br />
Geschwindigkeit erreicht, die einen Motorgleitschirm in der Luft schnell „stehen“ lässt. <strong>Die</strong><br />
Grundgeschwindigekeit von ca. 45 km/h ist recht gering. Kaum ein anderes Fluggerät fliegt so<br />
langsam.<br />
Wir verbrachten den Tag also an einem idyllischen Badesee, räkelten uns in der Sonne, trafen<br />
Polen, die ihr Glück in Holland gefunden hatten und nur zum Urlaub nach Görlitz kamen und<br />
warteten auf ein Abflauen des <strong>Wind</strong>es. Abends schließlich unternahmen wir auf einer<br />
größeren Wiese oberhalb des Sees noch einen Flugversuch, der jedoch wegen des immer noch<br />
immensen Gegenwindes, nach 2 km an einem Campingplatz mit See wieder endete. Nachts<br />
gingen erneut schwere gewittrige Regengüsse nieder.<br />
Am 21.07. fuhren wir morgens erst mal in einen hübschen kleinen Ort und frühstückten auf<br />
dem Kirchplatz. Dabei wurden wir aufmerksam und interessiert vom Dorfpolizisten<br />
beobachtet! Der <strong>Wind</strong> hatte nachts auf West gedreht und ließ nun dank Rückenwind einen<br />
guten Flugtag erwarten. Unweit der örtlichen Tankstelle fand sich eine zwar leicht<br />
ansteigende, aber dennoch startbare Wiese. Alle Piloten kamen dort mit einiger Mühe in die<br />
Luft.<br />
<strong>Die</strong> erste Pferdekutsche, die unseren Weg kreuzte Interessierter Dorfpolizist<br />
Das Wetter war mit blauem Himmel und etlichen freundlichen Thermikwolken wieder auf<br />
Sommerniveau und gut gelaunt flogen wir mit guter Fahrt entlang der tschechischen Grenze<br />
durch eine Mittelgebirgs-Region vorbei an Jelenia Gora und Walbrzych. Wir saßen<br />
mittlerweile fliegerisch schon fester im Sattel, so dass uns eine schwierige Landung mit<br />
starkem <strong>Wind</strong> auf einem 600 Meter hohen Bergrücken nur noch wenig ausmachte. Fast in der<br />
Luft stehend kamen wir auf dem hübschen Berg dem Boden näher. Michael hielt mich und<br />
mein Flyke am Boden fest, damit es beim Herunterfallen des Schirmes nicht rückwärts über<br />
die Wiese geschleift würde. Durchs tiefe Gras fuhren wir hinab ins Tal.<br />
Erwähnenswert war, dass wir uns bei diesem Flug total verflogen hatten. Verzweifelt suchten<br />
wir beim Überfliegen eines höheren Berges dahinter im Tal einen großen See. Zu unserem<br />
Erstaunen war das Tal dort aber sehr trocken! Auch die große Strasse mit Tankstelle fehlte<br />
natürlich. Erst beim eingehenden Kartenstudium am Boden klärte sich unsere Position: Wir<br />
waren einen zu südlichen Kurs geflogen und an der tschechischen Grenze „entlang gekratzt“.<br />
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Unten im Tal angekommen, erkundigten wir uns nun nach einer Tankstelle. Leider, so gab<br />
man uns zu verstehen, war die nächste 30 km entfernt. Mein Flyke, dass sich schon zuvor als<br />
das sprithungrigste unserer Geräte erwiesen hatte, fuhr noch genau bis zu einem Restaurant in<br />
einem verwaisten Skigebiet. Nach dem Mittagessen fuhren wir weiter, um endlich unsere<br />
durstigen Tanks befüllen zu können. Mein Sprit war zur Neige gegangen. Glücklicherweise<br />
befanden wir uns zu diesem Zeitpunkt genau auf einem Pass. Ohne einen Tropfen Benzin zu<br />
benötigen, konnten wir herrlich lautlos bergab durch einen stillen Wald rollen. Unten im Tal<br />
fanden wir schließlich das kostbare Nass, eine geeignete Startwiese wollte sich jedoch so<br />
schnell nicht zeigen. Nach einiger Sucherei wurde ein Acker auf einem Sattel ausgewählt.<br />
Bevor wir dort jedoch starten konnten, mussten wir noch provisorisch einen von Erik’s<br />
Propellern reparieren: Ein vom unbefestigten Weg aufgewirbelter kleiner Stein hatte ein Loch<br />
in die „Nase“ des Kunststoff-Flügels geschlagen. Damit der Propeller, der sich außen mit<br />
einer Bahngeschwindigkeit von 400 km/h dreht, nicht „aufbläst“ und vom großen Druck von<br />
innen her platzt, mussten wir einen Klebstreifen über dem Schaden platzieren.<br />
<strong>Die</strong> Starts von dem hoch bewachsenen, leicht abfallenden Acker waren abenteuerlich.<br />
Besonders schwer hatten es Erik und ich, da wir unsere Gepäcktaschen unterhalb des Flyke-<br />
Rahmens montiert hatten. Dadurch wurde die ohnehin schon stark bremsende Wirkung der<br />
Gewächse noch verstärkt, d.h. das Flyke rollte nur unwillig. Hinzu kam, dass wegen der<br />
fortgeschrittenen Stunde auch noch der unterstützende <strong>Wind</strong> eingeschlafen war. All das<br />
verlängerte die Startstrecke derart, dass wir mutig mit Vollgas den Abhang hinabdonnern und<br />
kurz vor einem querenden Feldweg mit nachfolgender Böschung abheben mussten. Alle Drei<br />
bewiesen Nerven und kamen letztlich in die Luft.<br />
<strong>Die</strong> Mühe lohnte: Als wir aus den Bergen hinaus ins Flachland flogen, boten sich uns<br />
wunderbare Aussichten auf Seen, meandernde Flussläufe und großartige Schlossanlagen. In<br />
butterweicher Luft flogen wir gemütlich und fröhlich weiter Richtung Osten und landeten<br />
schließlich in der Nähe eines Campingplatzes am Seeufer bei der Stadt Nysa.<br />
„Zap-Zarap“ – Polen wird seinem Ruf gerecht<br />
Am nächsten Morgen entdeckte ich nach dem Aufstehen Unheilvolles: Beim abendlichen<br />
Restaurantbesuch und einer 30-sekündigen Abwesenheit, um im Innenraum die Karte zu<br />
lesen, wurde das Land seinem Ruf gerecht, "zapzarap", die Kamera war weg! <strong>Die</strong><br />
Erschütterung war groß, aber es half alles nichts, eine Neue musste her. Ein Rückkauf-<br />
Versuch an Ort und Stelle scheiterte, weil der einzige vielversprechende Augenzeuge sich bis<br />
10:00h morgens schon gehörig den Schädel weggesoffen hatte. Der junge Mann hatte den<br />
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Abend zuvor mit der Gruppe zusammengesessen, die wir für den <strong>Die</strong>bstahl verantwortlich<br />
machten, weil sie nach unserem kurzen Besuch im Innenraum plötzlich verschwunden waren.<br />
Bei einer Erkundungsfahrt in die Stadt Nysa erfuhr ich, daß die Großstadt Opole (Oppeln) in<br />
ca. 60km Entfernung einen MediaMarkt und damit eine vernünftige Kamera-Auswahl zu<br />
bieten hatte.<br />
Mittags auf dem abgemähten Kornfeld, dass wir für den Start ausgewählt hatten, überließ der<br />
beruflich gestresste Michael die Entscheidung, ob er heimkehren oder weiter mit uns nach<br />
Osten fliegen solle, dem <strong>Wind</strong>. Würde in der Höhe Ostwind herrschen, so wollte er<br />
heimfliegen, bei Westwind würde er uns weiter begleiten.<br />
Seine Firma, die zweitgrößte der Welt, wenn es um Motorgleitschirme geht, hat volle<br />
Auftragsbücher für die bestehenden Produkte. Aber das reicht Michael nicht. Er entwickelt,<br />
nach dem Flyke als „fliegendem Fahrrad“, nun konsequenter Weise auch noch ein fliegendes<br />
Auto. Bei dem schneidigen Zweisitzer ist die Kraft des 100-PS-BMW-Motors wahlweise auf<br />
den Propeller oder die Räder zu übertragen. Mit 160 km/h Straßengeschwindigkeit wird es ein<br />
echter Flitzer. In der Luft soll das Gerät immerhin bis zu 70 km/h fliegen können. Da ihm das<br />
Projekt persönlich sehr wichtig ist und es allerlei Termine wahrzunehmen galt, musste er uns<br />
leider verlassen. Der <strong>Wind</strong> blies aus Osten!<br />
Während Erik und ich ohne größere Probleme Opole an der Oder erreichten, erlebte Michael,<br />
der wenigstens die ersten Kilometer des Rückwegs in der Luft zurücklegen wollte, einen<br />
Horror-Flug: Er kam einem Gewitter zu nahe, wurde mit einer Gewalt nach oben katapultiert,<br />
die die Seilverspannung seines Flyke-Sitzes fast reißen ließ (ca. 20m/s) und drehte sich nach<br />
dem "Ausspucken" aus dieser Turbulenz 20 Sekunden um alle Achsen. Selbst dem Bauern,<br />
der Michael nach seiner Landung einsammelte, war noch den ganzen Abend von den<br />
Beobachtungen über seinem Acker schwindelig! Er musste bei der Landung auch noch mit<br />
anschauen, wie Michael und sein Flyke, ohnehin wegen des Sturms rückwärts fliegend, fast<br />
100 Meter rückwärts über den Acker fuhren. Weiter hinten fiel das Gespann in einen Graben,<br />
durch die Bremsung und den dadurch erhöhten <strong>Wind</strong>druck im Gleitschirm wurde es<br />
allerdings gleich wieder herauskatapultiert und blieb dann schließlich in einem Kornfeld<br />
liegen. Michael blieb unverletzt, nur sein Flyke hatte ein Hinterrad eingebüßt.<br />
Zufall oder Schicksal? Jedenfalls fuhr der Schwager des Bauern zufällig zwei Stunden später<br />
nach Hannover und lud Michael und sein beschädigtes Flyke ein.<br />
Wir, die zwei verbliebenen Piloten, teilten uns über Opole auf und versuchten den<br />
MediaMarkt aus der Luft zu finden. Der Prospekt mit der Wegbeschreibung, den man uns in<br />
Nysa in die Hand gedrückt hatte, war aus der Luft nicht zu gebrauchen gewesen. Schließlich<br />
landeten wir am Ufer der Oder. Nach kurzer Zeit fanden wir aber einen Jungen, der für ein<br />
paar Zloty den Weg durch den Stadt-Dschungel wies. Während ich mich im Kamera-<br />
Wirrwarr orientierte und für Ersatz sorgte, machte sich Erik draußen Freunde. Das war nicht<br />
so schwer, denn ein Menschenauflauf ist einem immer sicher, wenn man mit einem Flyke<br />
durch eine Stadt fährt!<br />
Auch wegen des eben schon erwähnten Unwetters, das mittlerweile auch Opole erreicht hatte,<br />
wurden wir von dem netten Schlesien-Deutschen Waldemar eingeladen, in seinem Hause zu<br />
übernachten. Dankend nahmen wir an, denn Duschen und Schlaf auf einer Matratze sind auf<br />
einer „Flyke-Tour“ schließlich echter Luxus!<br />
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Bei ihm angekommen, fanden wir eine schützende Scheune vor, die, nachdem wir noch ein<br />
paar Zentner Brennholz beiseite geräumt hatten, als Unterschlupf diente und den nächtlichen<br />
<strong>Die</strong>bstahl unserer kostbaren Flykes verhindern sollte! Leicht paranoid sicherten wir den Bau<br />
noch mit unseren mitgebrachten Bewegungsmeldern ab. Man kann in diesem Land nie<br />
wissen! Später, beim abendlichen Bier, untermauerten Waldemars Zustandsberichte der<br />
polnischen Nation unsere Sicherungsmaßnahmen. Er erzählte uns unglaubliche Geschichten,<br />
zu welcher Perfektion es polnische Bösewichte in der Kunst der Entwendung schon gebracht<br />
haben. So ist es beispielsweise schon vorgekommen, dass nächtliche, mit schwerem Gerät<br />
ausgestattete <strong>Die</strong>beskommandos Hunderte von Metern Eisenbahnschienen klauten, um diese<br />
als Alteisen abzusetzen. Einmalig war der Fall, bei dem nachts eine ganze Brücke entwendet<br />
wurde!<br />
Einwurf: Unser Gastgeber Waldemar in Opole (Oppeln)<br />
Waldemar, ein sehr zuvorkommender und belesener Mensch, lud uns ein, in seinem einfachen<br />
Haus zu übernachten. <strong>Die</strong>s kam uns wegen des durchgehenden Unwetters sehr gelegen, hatten<br />
wir doch wenig Lust, uns in der Großstadt Opole einen geeigneten Campingplatz zu suchen<br />
und dann im Nassen unsere Zelte aufzuschlagen.<br />
Waldemar war einerseits jung, hochgebildet und machte einen innovativen Eindruck, schien<br />
letztlich aber doch der eher konservativen Schicht anzugehören. Seine Frau und sein Kind<br />
lernten wir nur am Rande kennen, die Rollenverteilung war in seinem Hause sehr klassisch.<br />
Von Beruf amtlicher Übersetzer, arbeitete er in einem wie eine Bibliothek anmutenden<br />
kleinen Büro, die Bücherregale zweireihig belegt mit den Klassikern deutscher Literatur, auf<br />
dem Schreibtisch ein hochmoderner Flachbildschirm. Seine Begeisterung für Deutsches<br />
rührte, wie wir im abendlichen Gespräch lernten, schlicht von seinen familiären Wurzeln her.<br />
Sein beiden Großväter waren im Zweiten Weltkrieg beide in Kriegsgefangenschaft geraten.<br />
Als der Krieg 1946 vorbei war, kehrten beide zurück an die Oder, obwohl die Russen den<br />
Großteil der deutschen Bevölkerung dort nach Westen vertrieben hatten. Der Landstrich<br />
wurde schnell nach dem Kriege in polnische Verwaltung übergeben, welche dann Polen aus<br />
dem ganzen Land in den leerstehenden Häuser ansiedelten. In dieser schrecklichen Zeit gab es<br />
ein polnisches Gesetz, das das Töten eines Deutschen straffrei stellte. Waldemar äußerte die<br />
Vermutung, das die in Besitz genommenen Häuser von Opole wohl auch deshalb heute in<br />
einem so schlechten Zustand sind, weil die alten Menschen, die seit dieser Zeit in ihnen leben,<br />
sie nicht für ihren persönlichen Besitz halten und deshalb verkommen lassen.<br />
Waldemars Großmutter konnte früh genug aus der Vertreibung zurückkehren, um das Haus,<br />
in dem Waldemar – und für diese Nacht auch wir – wohnten, noch leer wieder in Besitz zu<br />
nehmen. Sie war zuvor, noch gegen Ende des Krieges, in einem Zug nach Dresden<br />
transportiert worden, wo sie just in der Nacht ankam, als dieses von Alliierten Bombern dem<br />
Erdboden gleich gemacht wurde. Sie überlebte. An dieser Stelle klagte Waldemar aber über<br />
den Umstand, dass die Bomber in Dresden einzig zivile Ziele angriffen, was ein<br />
Kriegsverbrechen darstellt, welches bis heute in der öffentlichen Diskussion ausgeklammert<br />
wird. Fabriken blieben intakt, mit Flüchtlingen gefüllte Bahnhöfe wurden geebnet.<br />
Waldemar renovierte das Haus gerade und sparte auf ein neues Dach. Nebenbei schien er<br />
auch in Verbänden aktiv zu sein, die die Interessen der verbliebenen „Schlesien-Deutschen“<br />
vertreten. Unter anderem erwähnte er, an einer monatlichen Fernsehsendung „Von Deutsche<br />
für Deutsche“ beteiligt zu sein.<br />
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Mit der neuen Kamera im Anschlag starteten wir frohgemut in den nebligen nächsten Tag.<br />
Um sieben Uhr ging es los. Zwei Reporter, die Erik ebenfalls am MediaMarkt aufgespürt<br />
hatten, waren zur Stelle, einer fotografierte, ein Zweiter machte ein Interview für’s Radio,<br />
obwohl er nur polnisch sprach, dessen wir ja nicht mächtig waren! <strong>Die</strong> Bilder wurden später<br />
sogar in einem in Deutschland erscheinenden Magazin für schlesische Spätaussiedler<br />
gesichtet!<br />
Erik dankt Waldemar für die Gastfreundschaft Fahrt durch Opole<br />
Der Flug nach Südosten Richtung Katowice gestaltete sich sehr bald als schwierig. <strong>Die</strong><br />
neblige, schon beim Start sehr begrenzte Sicht wurde schon nach einigen Kilometern immer<br />
schlechter. Im Tiefflug kämpften wir uns weiter durchs Flachland. Nur unsere GPS-Geräte<br />
verrieten noch, wohin die Reise gehen sollte. Als sich die Wolkendecke schließlich auf<br />
Baumwipfelniveau absenkte, mussten wir landen. Zufällig war die große Klosteranlage<br />
Swieta Anny (St. Annabell), auf einem malerischen Hügel gelegen, nur wenige Kilometer<br />
entfernt. Dort wurde erst mal gefrühstückt und auf bessere Bedingungen gewartet. Ein alter<br />
Mann gesellte sich dazu, erzählte in gebrochenem Deutsch von alten Zeiten und trank schon<br />
früh viel Bier.<br />
Mittags wurde die Sicht leicht besser und die Reise konnte in der Luft weitergehen. Der <strong>Wind</strong><br />
schob von hinten und es ging gut voran. Wir flogen vorbei am mit Schwerindustrie<br />
durchsetzen Katowice, das mit seinen rauchenden Schloten, aufgetürmten Abraumhalden und<br />
linear aufgereihten Wohnsilos echte „Ost-Stimmung“ bei uns aufkommen ließ. Es hatte etwas<br />
Gespenstisches, halb im Nebel durch diese doch etwas apokalyptisch anmutende Industrie-<br />
Landschaft zu fliegen!<br />
Zum Tanken mussten wir ein paar Kilometer später noch mal in dem ebenfalls nicht durch<br />
Schönheit glänzenden und unangenehmen Ort Kety niedergehen. Einzig erwähnenswert war<br />
das Auffinden einer einladenden, wie auf einem Golfplatz kurz gemähten Modellflug-<br />
Landebahn zu diesem Zweck. Beim Start zerriss ich mir allerdings eine Leine, die an dem<br />
liebevoll platzierten <strong>Wind</strong>sack hängen geblieben war. Mittels mitgebrachter Ersatzleinen und<br />
ein paar Knoten war der Faux-Pas aber schnell behoben.<br />
Tatra, Slowakien und der Nordwestwind<br />
Wie als Entschädigung für den wolkenverhangenden Tag folgte ein wunderschöner Flug<br />
hinein in die ersten Ausläufer des Tatra-Gebirges. Der Himmel riss zusehends auf und die<br />
Sonne blinzelte gegen Abend durch die letzten Nebelreste. Als Ziel hatten wir den auf 650m<br />
Höhe gelegenen Flugplatz von Nowy Targ in unsere GPS-Geräte eingegeben. Entlang eines<br />
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Flusstales, das hinauf in eine idyllische Landschaft führte, flogen wir so noch etwa 80 km und<br />
erreichten ohne Probleme den sympathischen Flugplatz, der in Polen unter Fallschirm-<br />
Springern wegen seiner Berg-Szenerie berühmt ist. Von den anwesenden, durchaus<br />
verrückten Springern wurden wir gleich herzlich aufgenommen. Wir konnten als Gäste<br />
kostenlos übernachten und verbrachten einen lustigen Abend im angeschlossenen Restaurant.<br />
<strong>Die</strong> nette weibliche Bedienung sprach nach dem fünften Bier sogar Englisch!<br />
Einwurf: Das Flyke, seine Zuschauer und die Polizei<br />
Unsere Fahrzeugkolonne sorgte verständlicherweise überall für großes Aufsehen. <strong>Die</strong><br />
Menschen am Wegesrand winkten, bekamen den Mund nicht mehr zu und bauten, zu unserem<br />
Bedauern, sogar Verkehrsunfälle, da sie dem Straßenverkehr nicht mehr genügend<br />
Aufmerksamkeit schenkten. Sobald wir anhielten, bildeten sich Menschentrauben, Kinder<br />
kamen auf fast jede Landewiese gerannt und ständige Fragen begannen letztendlich uns zu<br />
nerven. Interessant war, welche Fragen in welchem Land gestellt wurden:<br />
„Braucht man dafür einen Führerschein?“ (Deutschland, erste Frage)<br />
„Was kostet das? (Polen, einzige Frage)<br />
„Wie schnell und wie hoch fliegt das?“ (Slowakei und Ungarn, viele Fragen)<br />
„Wie schnell fährt das? Nein ich glaube nicht, dass das fliegt!“ (rumänische Männer)<br />
Nur eine rumänische Frau fragte: „Wie fühlt es sich an, zu fliegen?“<br />
Man weiß nach einer Flyke-Reise, wie es sein muss, berühmt zu sein!<br />
<strong>Die</strong> einzigen Menschen, deren Interesse an uns weit hinter den Erwartungen zurückblieb,<br />
waren die Polizisten. Hatten wir doch zuhause mit allerlei dummen Fragen und Schikanen<br />
gerechnet, waren die einzigen erwartungskonformen Polizisten die Deutschen, die uns am<br />
ersten Tag radelnd aus ihrem fahrenden Wagen fragten, wo wir mit unseren<br />
„Schlachtschiffen“ wohl hinwollten. Auf die Antwort „geradeaus“ von Michael fiel ihnen<br />
nach längerem Überlegen nur ein, uns nach einer gesetzlichen Beleuchtungsanlage zu fragen.<br />
Da einiges am Flyke elektrisch blinken kann, mussten sie unverrichteter Dinge weiterziehen.<br />
Am Morgen des 24.07.2004, es war ein Samstag, erklärten die zahlreich umherwieselnden<br />
Flugleiter auf dem mittlerweile geschäftigen Flugplatz, ähnlich wie schon in Görlitz, dass ein<br />
Einflug ins nahegelegene Slowakien ein bürokratisches Abenteuer darstellt, weshalb wir<br />
wieder zu Radwanderern wurden. Auf der vierspurigen Stadtautobahn von Nowy Targ kam es<br />
dabei auf dem Weg zur Grenze zu einer kritischen Situation: Bedingt durch einen<br />
schleichenden Platten am Hinterreifen von Erik’s Flyke, schaukelte sich dieses bei hoher<br />
Geschwindigkeit plötzlich stark auf und geriet außer Kontrolle! Nach mehreren S-Schlägen<br />
endete die Fahrt, nach einer steilen Abfahrt die Böschung hinab, auf einer hindernisfreien<br />
Wiese. Glück gehabt! Wenige Kilometer weiter fand ich einen „Wulkanizator“ – einen<br />
Reifen-Reparatur-<strong>Die</strong>nst in einer Scheune, der schnell Abhilfe schaffen konnte.<br />
Nach der problemlosen Grenzüberfahrt nach Slowakien, die den anwesenden Grenzpolizisten<br />
erneut viel Freude bereitete, fand sich in dem schönen Tal schnell eine ideale, gemähte<br />
Startwiese. Das recht labile Wetter, es waren zuvor schon ein paar kurze Schauer auf uns<br />
niedergegangen, zeigte sich wieder von einer freundlichen Seite. Dennoch mussten wir die<br />
großen, aufstrebenden, bedrohlich dreinblickenden Cumulus-Wolken im Auge behalten.<br />
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Durch eine idyllische, sanfte, von Almen geprägte Berglandschaft flogen wir, zunächst<br />
entlang eines wilden, geschlängelten Bergflusses, hinaus aus dem Tatra-Gebirge in eine<br />
ruhigere, hügelige Landschaft. An einem letzten langen Bergrücken, der sich hinaus ins<br />
flachere Gelände zog, entdeckten wir plötzlich zwei Fliegerkollegen: Motorlose<br />
Gleitschirmflieger nutzten dort dynamische Aufwinde, um sich in die Höhe zu schrauben. Wir<br />
ließen uns die Gelegenheit nicht nehmen, die zwei einen Moment zu begleiten und stellten<br />
unsere Motoren auf minimalen Schub. Im gleichen Aufwindband gesellten wir uns dazu,<br />
nutzten einmal diesen natürlichen „Treibstoff“ <strong>Wind</strong> und verabschiedeten uns schließlich<br />
winkend gen Flachland.<br />
Auf unserer Luftfahrtkarte erkannten wir dort eine Flug-Kontrollzone, in der jeder Durchflug<br />
und Landungen mit einem Controller per Funk abgestimmt werden müssen. Beim Tower von<br />
Presov meldete Erik professionell unsere Landung an und bekam auf alle Wünsche die<br />
gelangweilte Antwort: „Continue...“ – macht doch, was ihr wollt. Ist mir egal!<br />
Landeanflug auf den Militärflugplatz Presov Ein Kind spielt auf einem alten Kampfjet<br />
Mit den letzten Tropfen Sprit landeten wir mit unseren ungewöhnlichen Fluggeräten auf dem<br />
Militärflugplatz, wo bewaffnete Soldaten vor einer Hubschrauber-Staffel patroullierten.<br />
Ebenfalls wenig begeistert erschienen uns die wochenend-aktiven Segelflieger auf dem<br />
Flugfeld, die uns nicht recht glauben wollten, dass der gute Mann vom Tower uns hier auf<br />
seinem Militärgelände landen ließ.<br />
Wegen der unangenehmen Turbulenzen, die durch die starke Sonneneinstrahlung und die<br />
damit entstehende Thermik hervorgerufen werden, fuhren wir erst mal auf ein ausgiebiges<br />
Essen in ein in der Stadt gelegenes internationales Hotel. Neben dem überdurchschnittlich<br />
leckeren Schnitzel fielen dort die handverlesenen Bedienungen in unser angestrengtes Auge.<br />
Nach dieser vielseitigen Stärkung war dank des auffrischenden Nordwestwindes die<br />
Motivation geboren, Slowakien an einem einzigen Tag zu durchqueren. Wir breiteten unsere<br />
vielen Luftfahrtkarten vor uns aus und sahen, dass das Erreichen der ungarischen Grenze mit<br />
Unterstützung des vorherrschenden <strong>Wind</strong>es eigentlich kein Problem sein sollte. Rasch<br />
brachen wir wieder auf. Zurück am Flugplatz erhielt Erik vom Tower auf die Frage, ob ein<br />
Wiederstart genehmigt würde, die gewohnt gelangweilte Antwort: „Continue...“<br />
Der <strong>Wind</strong> war zu dieser fortgeschrittenen Stunde unerwarteterweise stark aufgefrischt. Ich<br />
benötigte zum Starten die Hilfe eines anwesenden Segelfliegers, der mein Flyke vorne<br />
festhielt, damit es beim Aufziehen des Schirmes von der Gewalt des <strong>Wind</strong>es nicht gar zu weit<br />
nach hinten gezogen würde. Auf der folgenden, rasanten Reise nach Süden, mit dem Ziel der<br />
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ungarischen Grenze bei Sarospatak, erreichten die Fluggeräte Grundgeschwindigkeiten von<br />
bis zu 105 km/h, was bei einer Eigengeschwindigkeit von gut 50km/h sehr viel ist, da man im<br />
Falle eines Gegenwind-Kurses rückwärts fliegen würde.<br />
Eine weitere Kontrollzone musste durchflogen werden. Ein noch gelangweilterer Controller<br />
dort hatte zu verantworten, dass wir in der mittlerweile eintretenden Dämmerung beinahe<br />
versehentlich die ungarische Grenze überquerten, da er zu wissbegierig war: Woher kommt<br />
ihr? Wohin geht es? Was arbeitet ihr, wenn ihr nicht durch unser Land brummt? Und<br />
anderes... Plötzlich, der nette Controller hatte sich schließlich verabschiedet, fanden wir uns<br />
über der Grenzlinie wieder. Um noch legal in Slowakien landen zu können, mussten wir<br />
gegen den starken <strong>Wind</strong> seitwärts fliegen. Eine Geduldsprobe. <strong>Die</strong> Sonne war schon lange<br />
untergegangen und alle Orte hell erleuchtet, als wir schließlich nahe der Grenze wegen des<br />
starken <strong>Wind</strong>es beschlossen, in einem Kornfeld zu landen. Wir waren etwas verängstigt und<br />
rechneten uns aus, dass das hochstehende Korn die Flykes bei einer Starkwindlandung mit der<br />
nachfolgenden rasanten Rückwärtsfahrt abbremsen würde. Entgegen unseren Erwartungen<br />
sorgte eine Bodeninversion allerdings dafür, dass der starke <strong>Wind</strong> just 20m über dem Boden<br />
schlagartig abflaute. Nach der überraschend sicheren Landung fuhren wir über die Grenze<br />
nach Ungarn und schlugen einige Kilometer weiter nach einem rustikalen Abendessen unsere<br />
Zelte auf dem Flugplatz von Sarospatak auf, den uns schon vor der Reise unser ungarischer<br />
Kontaktmann als Schlafmöglichkeit angepriesen hatte.<br />
<strong>Die</strong> Weiten Ungarns<br />
Der folgende Tag brachte eine weitere Steigerung der <strong>Wind</strong>geschwindigkeit, mit dessen<br />
Auswirkungen wir schon am Vorabend unsere Erfahrungen gemacht hatten. An Fliegen war<br />
nicht zu denken – an Frühstück auch nicht! Im ganzen Ort Sarospatak gab es an diesem<br />
sonnigen Sonntagmorgen kein einziges geöffnetes Restaurant. Am zentralen Flusslauf<br />
wartend erfuhren wir, wohl unserer auffälligen Gefährte wegen, noch eine Einladung zum<br />
Wasserskifahren. Am Nachmittag brachen wir auf, die unendlichen Weiten des ungarischen<br />
Flachlands auf der Straße zu durchqueren.<br />
Schon nach 30km wurde uns die Fahrerei durch Staub und Hitze zu anstrengend. Erschöpft<br />
stoppten wir an einem großen Fluss, um ein Bad zu nehmen. Als die Sonne sich langsam<br />
senkte, keimte Hoffnung auf einen abflauenden <strong>Wind</strong> auf. Würde es möglich sein, heute noch<br />
die rumänische Grenze zu erreichen? Auf der Suche nach einem geeigneten Startplatz wurden<br />
wir von einem an „Murphy’s Law“ erinnerndes Phänomen heimgesucht: Fährt man bei<br />
Starkwind durch’s Flachland, sieht man Tausende riesiger, gemähter und zum Starten<br />
einladende Wiesen. Geht die Sonne unter und die Flugzeit wird knapp, ist allerdings nichts<br />
Startbares in Sicht! Dementsprechend mussten wir mit einem minderwertigen Acker im Lee<br />
einer Baumreihe vorlieb nehmen und dort noch eine Startbahn schaffen, indem wir riesige<br />
Heuballen umherrollten. Erik kam mit einem beherzten Vollgas-Start in die Luft, ich musste<br />
nach dem fünften misslungenen Startversuch meine windschützende Fliegerbrille einpacken,<br />
da ich vor lauter triefendem Schweiß hinter den Gläsern nichts mehr sah! Schließlich waren<br />
wir meist in volle Montur gepackt, um in der Luft eine möglichst komfortable Zeit zu haben.<br />
Am Boden ist bei sommerlichen Temperaturen in diesem Aufzug von jeglicher sportlicher<br />
Ertüchtigung stark abzuraten!<br />
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Nächtliche Landung an der ungarischen Grenze Übernachtung in einem Pflaumenhain<br />
Nach dieser eher schwierigen Startpartie ging es wegen des immer noch sehr markanten<br />
<strong>Wind</strong>es nur mäßig voran. Dennoch erreichten wir in der fortgeschrittenen Dämmerung einen<br />
Ort ca. 10km vor der Grenze. Auf der Suche nach Essbarem wurden wir erneut herbe<br />
enttäuscht! Entlang kilometerlanger Häuserketten fuhren wir hungrig im Dunkel Richtung<br />
Grenze. Essen? Fehlanzeige! Schließlich erreichten wir verzweifelt eine ländliche Bierstube,<br />
in der raue Sitten, niedrige Bierpreise und große Verwunderung über die „außerirdischen“<br />
Gäste herrschte. Nach zwei Bier, keinem Essen, dem Tauschversuch „Eselskarren gegen<br />
Flykes“ und einer militanten Einladung, bei einem der anwesenden Säufer zu nächtigen,<br />
traten wir die Flucht an. Als der versetzte Gastgeber S-Kurven fahrend mit seinem<br />
Transporter folgte, entschieden wir uns, alle Lichter abzuschalten und Schutz in der<br />
Dunkelheit der Felder zu suchen. Der Plan glückte und eine Zeltnacht in einer<br />
Pflaumenplantage sorgte für rudimentäre Erholung vom Erlebten.<br />
Welcome to Romania<br />
Am Morgen des 26.07. weckte die Sonne uns mit unerträglicher Hitze im Zelt. Etwas<br />
zerknittert und hungrig packten wir unseren Hausrat zusammen und legten die letzten<br />
Kilometer bis zur Grenze zurück. Endlich, seit langem, bekamen wir dort wieder etwas<br />
Essbares zwischen die Zähne: <strong>Die</strong> Wahl fiel nicht schwer: „Rakete“ oder „Hamburger“?<br />
Letzteres drohte beim Zubeißen zu stauben! Der Grenzübertritt nach Rumänien anschließend<br />
war dagegen eine reine Formalität.<br />
Wie schon an anderen Grenzen zuvor forderten die Beamten uns „Flugradler“ auf, bitteschön<br />
den Motor anzuwerfen, damit sie mal sehen, wie so was auf der Straße fährt! Als gute<br />
Deutsche lehnten wir aber dankend ab und radelten von dannen. Unweit fand sich ein Acker<br />
und gegen einen steifen Ostwind kämpften wir uns im Tiefflug bis in die nächste größere<br />
Stadt Baia Mare vor. Am Ortseingang landend, wurden wir gleich von einem Bauern umarmt<br />
und geküsst, der sich ständig bekreuzigte und nach oben deutete. Er konnte nicht fassen , was<br />
dort vom Himmel auf seine Wiese gefallen war!<br />
An einer Tankstelle trafen wir bald den rumänischen Gleitschirmflieger und Unternehmer<br />
Gheorghe. Er hatte sich schon während der Reiseplanung bereiterklärt, die Formalitäten des<br />
Fliegens in Rumänien für uns „Flugtouristen“ zu regeln, und quartierte uns netterweise am<br />
„Aeroclubul“ – dem lokalen Fliegerclub - auf dem Flugplatz ein. Dort wurden wir auch mit<br />
einer sehr eigenwilligen Luftfahrtkarte ausgestattet, die nicht ansatzweise internationalen<br />
Standards entsprach, was in der Folge noch zu Problemen führen sollte. Sie enthielt weder<br />
aussagekräftige Lufträume noch Funkfrequenzen, auf denen man sich hätte anmelden können.<br />
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Der einzige Motorgleitschirmflieger der Gegend lud uns abends noch in sein großes Haus ein.<br />
Er verdient sein Geld mit einer Firma im lokalen Bergbaugeschäft und verfügte über einen<br />
Computer mit Internetanschluss, der nichts Gutes vorhersagte: Der zu diesem Zeitpunkt<br />
niedergehende Platzregen sollte sich in den nächsten Tagen zu einer Sintflut ausweiten,<br />
gepaart mit einem starken Südostwind. Das war eine Hiobsbotschaft, denn weder Dauerregen<br />
noch starker Gegenwind würden das Erreichen der Schwarzmeer-Küste innerhalb der zur<br />
Verfügung stehenden Zeit möglich machen.<br />
Leicht deprimiert gingen wir ins Bett. Doch mein kaum zu brechender Optimismus, der am<br />
Ende der Reise von Erik schließlich doch noch in „Realismus“ umgetauft wurde, siegte am<br />
nächsten Morgen mal wieder. Es war windstill und die Wolken behielten ihr Wasser bei sich.<br />
Das einzige Problem, das einem frühen Start um 7:00h entgegenstand, war einer der<br />
„Werners“ (eine von uns auf der Reise eingeführte Art Menschen - siehe Flugplatz Görlitz<br />
weiter oben), die zukünftig noch vermehrt auf den Plan treten sollten. Ein vom staatlichen<br />
„Aeroclubul“ angestellter Fluglehrer, der natürlich nur das Allerbeste wollte, riet uns<br />
mittlerweile in Eile verfallenen Piloten, doch noch mal ins Bett zu gehen und es vielleicht<br />
einfach morgen wieder zu versuchen! Er habe unseren Flug zwar pflichtgemäß (das gibt es in<br />
keinem anderen mir bekannten Land) in Bukarest angemeldet, aber eben leider erst für<br />
morgen und überhaupt wäre das Wetter ohnehin viel zu gefährlich. Ein Flug sei also illegal.<br />
Ich musste mir, um diesen von Menschenhand herbeigeführten Unfug zu beenden, den Herrn<br />
zur Seite nehmen und ihm erklären, dass wir Zwei nicht vor ihm stehen würden, wenn wir<br />
nicht erstens vorsichtig und zweitens mit rechtlichen Grauzonen vertraut seien.<br />
Kopfschüttelnd sprang auch er über seinen wetterbedingt nicht vorhandenen Schatten und<br />
stieg in sein polnisches, mit Milchkannen betanktes Schleppflugzeug aus einer längst<br />
vergangenen Zeit.<br />
Der folgende Flug zählte zu der Kategorie, die Erik nun immer häufiger zum Kopfschütteln<br />
animierte: „Wir beißen uns durch, egal was kommen mag!“. Im Tiefflug mussten wir durch<br />
die Täler einer den Weg versperrenden Bergkette fliegen, da just über den Bergkämmen ein<br />
derart strenger Gegenwind blies, dass an ein Vorwärtskommen nicht zu denken war. Dank der<br />
morgendlichen Bodeninversion herrschte dort unten <strong>Wind</strong>stille. Nach zwei Stunden harter<br />
Arbeit und langen Flugabschnitten ohne besonders einladende Notlandefelder durch tief<br />
eingeschnittene, enge Täler, landeten wir in der Stadt Dej um unsere Tanks und Mägen zu<br />
befüllen. Wie schon so oft, waren wir in aller Herrgottsfrühe ohne Frühstück gestartet, um die<br />
ruhigste Tageszeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.<br />
Es fand sich gleich eine Tankstelle, nur Geld war noch nicht ausreichend gewechselt – denn<br />
der Rumäne nimmt nur Bares, und zwar in rauen Mengen! Ein Euro entsprach derzeit ca.<br />
40.000 Lei und ein Liter Sprit war mit 22.000 Lei für die Zentraleuropäer ein Schnäppchen.<br />
Vor der Wechselstube hatte sich zwischenzeitlich ein Menschenauflauf von ca. 80<br />
Zuschauern gebildet. Mit unseren Flugoveralls und den schwer in die rumänische Welt<br />
einzuordnenden Flug- und Fahrgeräten erschienen wir in der Tat wie aus einer anderen Welt.<br />
Nach ein paar warnenden Regentropfen schauten wir aber, dass wir wieder in die Luft kamen,<br />
um unser, für die katastrophale Wettervorhersage sehr ehrgeiziges Ziel, die Großstadt Tirgu<br />
Mures, noch zu erreichen.<br />
Auf dem Weg zurück zu unserer Landewiese wurde die große Aufmerksamkeit, die man uns,<br />
aber vor allem unseren fahrbaren Untersätzen entgegenbrachte, einem Pferd zum Verhängnis.<br />
An einer Kreuzung war ein Autofahrer beim Abbiegen derart von dem ungewohnten Anblick<br />
erfasst, dass er in ein vor den Flykes fahrendes Pferdegespann raste. Das Pferd kam kurz auf<br />
dem Dacia zu liegen, rutschte dann auf die Fahrbahn und blieb dort liegen. <strong>Die</strong> kutschierende<br />
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Bäuerin brach in großes Geschrei aus. Um den schon zusammenlaufenden „Mob“ nicht auf<br />
die Idee kommen zu lassen, die fremden Flieger seien Schuld, gaben wir Gas und verließen<br />
den Ort des Geschehens auf schnellstem Wege.<br />
Der folgende Flug über idyllisches Mittelgebirgsland verlief ohne größere Zwischenfälle. Wir<br />
flogen über tiefstes rumänisches „Outback“. Wir sahen viele Dörfer, die einzig per Feldweg<br />
und Pferdewagen an die Welt angeschlossen waren. Zerfallene Höfe, Brunnen, langsame<br />
Pferdewagen mit schwerer Last vom Felde. Würden wir hier landen müssen – es würde<br />
wahrhaft lange dauern, bis wir an Benzin oder andere zivilisierte Hilfe gelangen würden.<br />
Impressionen vom rumänischen Landleben<br />
Wegen Benzinmangels endete der Flug ein paar Kilometer vor unserem Ziel Tirgu Mures.<br />
Durch ein paar Dörfer mit Lehmwegen fuhren wir zum örtlichen Flugplatz, wo wir recht<br />
freundlich empfangen wurden. Wir durften unsere Flykes in einer Gartenlaube unterstellen<br />
und wegen des nun tatsächlich einsetzenden Dauerregens im Flugschul-Raum auf dem Boden<br />
zwischen den Tischen unser Isomatten-Nachtlager aufschlagen. Beim abendlichen Restaurant-<br />
Besuch waren wir von der Modernität und Schönheit des Stadtzentrums überrascht:<br />
Renovierte Häuserzüge, Kinos, Theater, McDonald’s, Internetcafes ...<br />
Was auch kommt, wir fliegen!<br />
Der nächste Tag brachte zunächst die vorhergesagte Sintflut. Ein trister Tag. In der Stadt war<br />
nun endlich Zeit, Spider Man 2 mit rumänischen Untertiteln anzusehen und per E-Mail Erik’s<br />
diverse Beziehungsprobleme zu beheben. Es blieb beim Versuch.<br />
Als man uns gegen Abend gerade in ein gemütliches Zimmer mit Bad umquartiert und Erik<br />
vor einer netten Essens-Einladung eines rumänischen Fliegers gerade noch ein kurzes<br />
Nickerchen gemacht hatte, stoppte der Regen und in Flugrichtung Südost hellte sich der<br />
Himmel auf. In äußerster Eile sorgte ich dafür, dass Erik und die Flykes startbereit gemacht<br />
wurden. Nur 20 Minuten nach dem alarmartigen Startruf hoben wir doch noch ab. Ein erster<br />
Tag ohne Flug war abgewendet!<br />
Durch eine wunderbar ruhige Luft ging die Reise in Richtung Brasov und Zentralkarpaten bis<br />
zu dem kleinen Ort Rupea, gelegen inmitten einer sympathischen Hügellandschaft. Kritisch<br />
beobachteten wir während des Fluges die wassergeschwängerte Bewölkung hinter und neben<br />
uns. Es blieb aber bis zuletzt trocken. Unser größter Feind, neben starkem <strong>Wind</strong>, war<br />
schließlich der Regen – mit ihm zu fliegen macht keinen Spaß und kann obendrein gefährlich<br />
sein, da sich die Flugeigenschaften des Gleitschirms durch Nässe signifikant verändern.<br />
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Wir konnten den Flug, bei dem wir entgegen aller düsteren Vorhersagen sogar leichten<br />
Rückenwind hatten, also genießen und gegen Sonnenuntergang auf einer recht holprigen<br />
Wiese bei Rupea landen. Nachdem wir uns und unsere Flykes auf einem schlammigen<br />
Lehmweg zur Hauptstraße völlig eingesaut hatten, fand sich unweit ein Motel uns beide zu<br />
beherbergen. Der äußerst nette Kellner Radu, der fließend Deutsch sprach, erklärte sich dort<br />
für ein Trinkgeld bereit, die auf dem Vorplatz stehenden Fluggeräte nächtens zu bewachen.<br />
Bis zu später Stunde saßen wir noch beisammen und konnten Dank seiner Erzählungen einen<br />
weiteren Einblick in die aktuelle politische und soziale Situation Rumäniens bekommen.<br />
Der 29.07. begann symptomatisch für die folgenden, aufreibenden 48 Stunden. Wie immer<br />
brachen wir sehr früh auf. Doch zunächst musste Erik, wie er schon am Vorabend bemerkt<br />
hatte, die Riemenspannung seines Antriebs nachstellen. <strong>Die</strong> Kraft des Motors erreichte den<br />
Propeller bei hoher Last nicht mehr. Das Durchrutschen des Riemens würde innerhalb<br />
kürzester Zeit zum Reißen führen. Das Gerät wurde sehr stark beansprucht, weshalb diese<br />
Wartungsmaßnahme eigentlich Routine war – allerdings riss die Spannschraube, und dass<br />
mitten im Gewinde. Alle noch so verrückten alternativen Holzkonstruktionen mit mehreren<br />
Passanten als Gewichten konnten nicht genug Spannung erzeugen. Ein Mechaniker musste<br />
her!<br />
Im Ort nebenan fand sich eine Art Werkstatt und wir zwei Hobbymechaniker bekamen vollen<br />
Zugriff auf das vorhandene Werkzeug. Nachdem die Schraube in ca. einer Stunde Arbeit<br />
ausgebohrt und ersetzt war, konnte die Reise weitergehen. Eine recht kurze Etappe nach<br />
Brasov, am Fuße des Fagaras-Bergmassivs gelegen, lag vor uns. Das Wetter hatte sich zum<br />
Guten gewendet. Friedliche Cumulus-Wolken zierten den Himmel. Nach dem Sprung über<br />
eine Bergkette glitten unsere Fluggeräte zum Flugplatz Brasov, der uns wegen seiner großen<br />
Freundlichkeit und Gastfreundschaft empfohlen worden war. Noch ahnten wir nicht, welche<br />
bürokratischen und von Verhinderungsfreude getriebenen Menschen dort vom Staat für ihre<br />
<strong>Die</strong>nste bezahlt werden.<br />
Crash Boom Bang<br />
Auf dem Funk meldete sich unter der auf unserem handschriftlichen Zettel notierten Frequenz<br />
niemand. Da der Platz winzig und bloß mit einer schlichten Grasbahn ausgestattet war,<br />
wunderten wir uns darüber nicht.<br />
Doch plötzlich ging alles ganz schnell: Eine unglückliche Turbulenz hinter einer Baumreihe<br />
bescherte Erik im Landeanflug einen starken Pendler in Bodennähe, der in einem Überschlag<br />
seines Flykes bei Bodenberührung resultierte. Unverletzt aber verwirrt kroch er unter seinem<br />
zerstörten Gerät hervor und blickte in die Augen von „Mirca“, dem Flugplatz-Herrscher von<br />
Brasov, der augenblicklich sein Handy zückte und in Bukarest einen Flugunfall meldete! Er<br />
war so froh, dass auf seinem Flugplatz endlich mal was los war, dass er richtig in Rage geriet.<br />
Diverse ungünstige Umstände ließen ihn vermuten, die zwei Reisenden vor ihm seien<br />
moderne Verbrecher der Luftfahrt:<br />
- Da die aktuelle rumänische Luftfahrtkarte mindestens 10 Jahre alt ist und weder<br />
Lufträume noch Frequenzen zeigt (wie es überall sonst auf der Welt üblich ist), hatten<br />
wir in Baia Mare netterweise einen handschriftlichen Zettel mit falschen Frequenzen<br />
bekommen. Tatbestand: Anflug ohne Funk-Anmeldung.<br />
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- Ein Motorgleitschirm-Pilot muss in Rumänien vor jedem Start in Bukarest anrufen<br />
und sich eine Flugnummer erteilen lassen. Ein Start ohne diese ist illegal. Weder in<br />
Baia Mare noch bei „Mirca’s“ Fliegerkollegen vom Flugplatz in Tirgu Mures hatte<br />
man diese Information in Gänze weitergegeben. Tatbestand: Illegaler Flug.<br />
- Überschlag auf Flugplatz: Tatbestände „Landung auf riesiger Wiese neben der<br />
eigentlichen Bahn“ und angebliches „Unvermögen des Piloten“ inkl. diverser<br />
Beschimpfungen.<br />
Nachdem die ersten Wallungen abgeflaut waren und ein Inspektor aus dem drei Autostunden<br />
entfernten Bukarest zur Untersuchung des Flugunfalls bestellt war, verschwand Mirca<br />
glücklicherweise zum Mittagessen. Ich nutzte diese außerordentliche Gelegenheit, um mit<br />
einem freundlichen Mechaniker einen uralten Pickup in einer Scheune nebenan auszugraben,<br />
diesen in Betrieb zu nehmen, das defekte Flyke unauffällig aufzuladen und damit in dessen<br />
abenteuerliche Hühnerstall-Werkstatt zu entrinnen. Innerhalb von zwei Stunden waren dort<br />
die ärgsten Deformationen behoben und ein neuer provisorischer Propeller-Schutzkäfig<br />
konstruiert, dessen obere Hälfte beim Überschlag gänzlich abrasiert worden war. Einzig<br />
verbliebene ernste Probleme waren die zwei zerbrochenen GFK-Propeller und die knapp<br />
werdende Zeit, die uns blieb, um die Schwarzmeerküste zu erreichen.<br />
Erik erklärt, wie es zu seinem Überschlag kam Findige Rumänien bei der Reparatur von Erik’s Flyke<br />
Zurück aus der Mittagspause traf den armen Mirca der Schlag! Da hatten diese widerwärtigen<br />
Deutschen es doch tatsächlich gewagt, seine Beweismittel zu zerstören! Dem bestellten<br />
Inspektor blieben also noch ein nicht vollständig lackiertes, aber heiles Flyke und eine große<br />
grüne Wiese zur Untersuchung. Leider entmutigten den Retter rumänischer Bürokratie diese<br />
Umstände nur kurz. Der Inspektor musste auf jeden Fall her, auch wenn er noch nicht einmal<br />
losgefahren war. Alles Betteln und Diskutieren half nichts. Den beiden Fliegern lief die Zeit<br />
davon.<br />
Mittlerweile im stolzen Dachbüro des Papiertigers angelangt, warfen wir Drei<br />
Freundlichkeiten an den Kopf. Selbst das Rütteln am Nationalstolz führte nur zu einer<br />
gewissen Nachdenklichkeit. Ich erklärte Mirca, dass ich einen Film über die „neuen Länder“<br />
im Osten Europas produzieren werde und dass seine Rolle als Bremser und bürokratischer<br />
Verhinderer sicher Erwähnung finden werde. Daraufhin erbat er sich das Abschalten der<br />
Kamera.<br />
Da Mirca uns nach seiner Darstellung nicht helfen konnte, durfte Erik den Inspektor<br />
schließlich selber anrufen. Es dauerte 30 Sekunden, da war klar, dass dieser heilfroh war,<br />
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nicht nach Brasov fahren zu müssen! Erik könne den nötigen Unfallbericht gerne auch in<br />
seiner Amtsstube in Bukarest ausfüllen! Dadurch ergab sich eine Synergie: Wir mussten<br />
ohnehin nach Bukarest, da sich meine Freundin Silke spontan bereit erklärt hatte, am nächsten<br />
Mittag zwei neue Propeller dort einzufliegen.<br />
Schnell war einer der beiden verbliebenen Propeller von meinem Flyke auf Erik’s Gerät<br />
ummontiert, so dass zumindest ein problemloser Antrieb auf der Straße sichergestellt war.<br />
Zum Fliegen würde der Schub nicht ausreichen – das hatte der mittlerweile wieder fest in<br />
Arbeit eingespannte Michael auf unsere telefonische Anweisung hin in Deutschland mit<br />
seinem eigenen Flyke schnell ausprobiert. „Ihr könnt mit einem Propeller über einen Zaun<br />
springen, aber nach 10 Minuten brennt euch der Motor ab!“ hatte er geantwortet.<br />
Wehmütig nahm Mirca bei unserem abendlichen Aufbruch Abschied – den Witz „Every<br />
landing that you can walk away from is a good landing“ verstand er nicht.<br />
Das Unglück hatte aber noch lange kein Ende gefunden! Beim Start der Motoren riss ich das<br />
Starterseil heraus – zum Radeln war Bukarest aber zu weit entfernt. Der Akku für den<br />
Elektro-Starter war schon lange leer, aber Erik’s Akku gab noch etwas her, die Teile waren<br />
schnell getauscht. Nach ca. 20km durch Brasov und auf der Landstraße Richtung Bukarest<br />
hauchte aber auch dieser an einer Tankstelle sein Leben aus. In der einsetzenden Dämmerung<br />
bastelten wir mit bescheidenem Werkzeug, bis das Problem behoben war. Da die nächtliche<br />
Fahrt auf einer rumänischen Fernstraße sicherlich zu den gefährlichsten Extremsportarten<br />
zählt, die man betreiben kann, mieteten wir uns völlig erschöpft in ein Motel-Restaurant ein,<br />
das als einzige kulinarische <strong>Die</strong>nstleistung den Bierausschank im Leistungskatalog hatte.<br />
Hungrig aber geduscht fielen wir ins Bett.<br />
Einwurf: Rumänische Bekanntschaften<br />
Wir lernten in Rumänien einige Menschen kennen. Aufgrund unserer Eile in den letzten<br />
Tagen waren die Bekanntschaften zwar eher flüchtig, aber dennoch sehr interessant und<br />
wertvoll.<br />
Gheorghe Muresan<br />
Ich kannte Gheorghe schon ein bisschen von zwei früheren Autoreisen durch Rumänien. Ich<br />
hatte seine E-Mail-Adresse damals irgendwo im Internet ausgegraben und er hatte mich<br />
damals eingeladen, bei ihm in Baia Mare, direkt an der ungarischen Grenze, Station zu<br />
machen um gemeinsam zum Gleitschirmfliegen zu gehen. Schon damals war er ein große<br />
Hilfe und auch diesmal half er uns mit Informationen und Telefonaten, so gut er konnte!<br />
Gheorghe ist Geschäftsmann in der Textilbranche. Als ich ihn zuletzt traf, hatte er eine eigene<br />
Produktion von Outdoor-Bekleidung für renommierte westliche Marken und beschäftigte 400<br />
Mitarbeiter. Erstaunt war ich diesmal, als ich ihn fragte, wie seine Geschäfte gingen: In<br />
Rumänien habe er nun noch etwa 15 Mitarbeiter in der Entwicklungsabteilung. <strong>Die</strong><br />
Produktion habe er outgesourced – nach China! Ein Phänomen, dass in Deutschland sehr<br />
geläufig ist, Rumänien aber schneller erreicht hat, als ich es für möglich gehalten hatte: <strong>Die</strong><br />
Löhne sind mit 150,- EUR im Monat nun auch dort schon zu hoch. Nur die geistige Arbeit<br />
wird noch vor Ort geleistet, nähen müssen andere!<br />
„Doru“<br />
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Doru ist ein Flieger-Kollege von Gheorghe. Ich kannte ihn noch nicht. Er war sehr begeistert<br />
von unserem Kommen und hatte uns schon erwartet, da er einer der ganz wenigen<br />
Motorgleitschirm-Flieger Rumäniens ist und keine Gleichgesinnten in seiner Umgebung<br />
kennt. Seinen Motor hat er irgendwo im Westen besorgt, das Fliegen damit hat er sich in einer<br />
schmerzhaften Lernkurve selber beigebracht. Da es niemanden gab, der sich damit auskannte,<br />
schickte ihm der rumänische Flugverband irgendwann einen passenden Flugschein zu! Am<br />
liebsten fliegt er mit seinem Motorschirm sehr tief durch die Landschaft und erschreckt<br />
unschuldige Hasen, die bei seinem Anblick nicht wissen, in welche Richtung eine adäquate<br />
Flucht stattfinden könnte...<br />
Fasziniert waren wir von Dorus Englisch-Kenntnissen. Allein und ohne jeden Lehrer hatte er<br />
sich einen Sprachschatz angeeignet, der eine flüssige und interessante Diskussion zuließ! Als<br />
Motivation gab er an, russisch zu hassen und Englisch zu lieben.<br />
Auch Doru ist Unternehmer. Mit einem sehr eleganten Toyota holte er uns abends am<br />
Flugplatz ab und nahm uns mit in sein kurz vor der Fertigstellung befindliches, riesiges Haus.<br />
Seit einem Jahr baute er an dieser mit drei Stockwerken à 140 Quadratmeter viel zu großen<br />
Immobilie. Mit seiner Frau und einer kleinen Tochter wird es ihm schwer fallen, den vielen<br />
Raum mit Leben zu füllen. Allein die drei Bäder wären groß genug, in ihnen zu wohnen!<br />
Dorus Unternehmen produziert Bohrmaschinen für den schweren Einsatz in der Bergwerks-<br />
Industrie Rumäniens. Sprenglöcher sind ihre Spezialität. <strong>Die</strong> Frage von Erik, wieso Doru<br />
gerade eine Bohrmaschinen-Firma gründete, beantwortete er damit, dass er schon immer von<br />
diesen Geräten fasziniert war, was uns ein Rätsel blieb. Dennoch schien er gutes Geld zu<br />
verdienen, denn er überlegte, über die österreichische Botschaft nach Wegen zu suchen, in<br />
seinem „Lieblingsland“ Geld zu investieren. Ein ernstes Problem hatte er dennoch: <strong>Die</strong><br />
staatliche Bergbau-Gesellschaft schuldet ihm seit langer Zeit 150.000,- EUR. Er sucht diese<br />
deshalb oft auf, viel von seinem Geld gesehen hat er bisher dennoch nicht.<br />
Wir wollten von ihm wissen, ob er in Rumänien seit der Befreiung von der Diktatur 1989 eine<br />
Verbesserung der wirtschaftlichen Lage festgestellt habe. Zu unserem Erstaunen verneinte er.<br />
Allenfalls in den Städten. Auf dem Land herrschten sehr enttäuschende, arme Verhältnisse.<br />
<strong>Die</strong> positiven Entwicklungen in seiner Stadt habe er wohl wegen ihrer großen Langsamkeit<br />
nicht bemerkt, gab er zu bedenken.<br />
„Radu“<br />
Der Kellner Radu in einem Motel nahe des Örtchens Rupea unweit Brasov blieb uns sehr<br />
sympathisch und hilfreich in Erinnerung. Er hatte sich bald nach unserer Ankunft in gutem<br />
Deutsch bereit erklärt, für ein paar Euro die gesamte Nacht auf unsere Flykes aufzupassen, die<br />
wir direkt vor dem Haus abgestellt hatten.<br />
Bei mehreren Bier und einem guten, rustikalen Abendessen hatten wir Gelegenheit, einen<br />
Menschen kennen zu lernen, der sehr optimistisch in die Zukunft schaut. Obwohl er als<br />
Kellner keine riesigen Verdienstmöglichkeiten hatte, war er sehr zufrieden, einen Job zu<br />
haben und beurteilte die Entwicklung Rumäniens als aufstrebend. Er pflegt den Austausch mit<br />
vielen Ausländern, die in dem Motel halten und meinte, dass auch diese sein Bild bestätigen<br />
würden. Vieles hat sich sehr verbessert und mit 8% Wirtschaftswachstum und guten<br />
Prognosen scheint ein Großteil der Rumänen einen entscheidenden Vorteil zu den Deutschen<br />
zu haben: Zuversicht!<br />
20
„Mirca“<br />
Der Flugplatzboss von Brasov, „Mister Mirca“, der im Text schon ausgiebig beschrieben<br />
wurde, ist in meinen Augen als linientreuer „verlängerter Arm“ des ineffizienten,<br />
durchbürokratisierten Staatsapparates zu sehen. Ich musste mir sehr die Frage verdrücken,<br />
was er eigentlich vor der Revolution 1989 so gemacht hat. Ich konnte mir schwerlich<br />
vorstellen, dass es etwas war, das er mir gerne erzählen würde. Ohne Menschen wie ihn, die<br />
wenig denken und viel auf Paragrafen und Stempel schauen, könnte es dem Land besser<br />
gehen. <strong>Die</strong> Beamtenschaft, auf die wir an Grenzen, Zollstellen und eben in Brasov trafen,<br />
schienen von großer Verhinderungsfreude getrieben. Vielleicht habe ich aber auch in<br />
Deutschland zu wenig mit Beamten zu tun – es könnte sicher auch in unserem Land gute<br />
Beispiele in ähnlicher Richtung geben.<br />
Schon um fünf Uhr morgens musste es weitergehen, denn Mirca hatte als letzte Tat noch<br />
durchsetzen können, dass Erik bereits um 11:00h am nächsten Morgen im<br />
Verkehrsministerium sein musste – denn er wusste, wie weit es mit einem defekten „Flyke-<br />
Liegerad“ sein würde! Da um 5:15h mein Starter erneut den <strong>Die</strong>nst versagte, da wir ihn im<br />
Halbdunkel falsch zusammengebaut hatten, verlagerte Erik sich auf’s Trampen ohne<br />
Fluggerät, um pünktlich zu kommen. Unschwer fand er einen Lift mit einem klapprigen<br />
Dacia. Später wollten wir uns wiedertreffen. Nachdem ich den Starter im Morgengrauen<br />
erneut notdürftig instandgesetzt hatte (den mittlerweile fehlenden Splint ersetzte ich mit<br />
einem Stück Kabelbinder), konnte auch ich einen kurz anhaltenden Milchlieferanten<br />
überreden, gegen kleines Geld die Flykes aufzuladen und uns so die bevorstehende kurze,<br />
aber heftige Bergetappe der Zentralkarpaten zu ersparen.<br />
Trampen mit Flyke Richtung Bukarest Erik montiert die Ersatz-Propeller aus Deutschland<br />
Erik wurde im Ministerium recht freundlich empfangen, schrieb einen kurzen Bericht und<br />
wurde über die luftrechtlichen Gepflogenheiten aufgeklärt. Ein persönlicher Amtsschimmel<br />
würde alle zukünftigen Flüge mit einer regelkonformen Flugnummer ausstatten! Später kam<br />
selbst der Verkehrsminister persönlich vorbei, der schon von den zwei skurilen<br />
Eindringlingen in den geordneten rumänischen Luftraum gehört hatte. Er war cool, stattete<br />
Erik noch mit einem offiziellen Empfehlungsschreiben aus und wünschte viel Glück! Seine<br />
Frage, wie das eigentlich rechtlich mit Propeller-Antrieb auf der Straße so sei, wurde mit<br />
allgemeinem Gelächter quittiert, womit dieser Punkt auch geklärt war!<br />
<strong>Die</strong> hauptamtliche Lufthansa-Flugbegleiterin Silke schwebte pünktlich um 14:00h am Airport<br />
ein und übergab, ähnlich einem Staffellauf, im Rennen die Propeller an den erstaunten Erik.<br />
21
Um die gleiche Maschine zum Rückflug zu erwischen, war Eile angesagt. Nach dem eigens<br />
wiedereröffneten Checkin-Schalter sorgte ihre Antwort auf die Frage des Ausreise-Beamten,<br />
wie lange sie in Rumänien gewesen sei, für ungläubiges Staunen: „Five minutes!“ sagte Silke.<br />
Der Mann entgegnete trocken: „Well, but it’s a beautiful country!”<br />
Zurück auf der Raststätte nahe Ploiest, 50 km nördlich von Bukarest – ich hatte, so gut es<br />
ging, unsere Geräte gepflegt – montierten wir schnell die zwei neuen Propeller. Frohen Mutes<br />
fuhren wir los, um eine Startwiese zu suchen. Da erneut mein Starter versagte, legten wir<br />
noch einen Stopp am benachbarten Praktiker-Baumarkt ein. Vergeblich versuchte ich dort,<br />
den polnischen Begriff für „Splint“ herauszufinden. Als ich eine Angestellten des Marktes<br />
ansprach, eilte dieser schnell mit mir nach draußen und nahm sich selber meines Problems an.<br />
Entgegen jeder Erfahrung in deutschen Baumärkten engagierte sich der Mann eine ganze<br />
Weile und löste unser Problem schließlich mit einer großen Büroklammer, die er sich von<br />
seiner Sekretärin durchs Bürofenster reichen ließ. Bezahlen sollten wir für die Hilfe aber<br />
nichts!<br />
<strong>Die</strong> Pechsträhne hatte allerdings noch immer kein Ende. Noch am selben Nachmittag, wir<br />
hatten ein großes Startfeld gefunden, wurden wir beim Motorenstart durch ein Klingeln an<br />
Eriks Motor sensibilisiert. Nach einigem Suchen und Prüfen fand sich das Problem: Ein<br />
vibrationshemmendes Gummilager, an dem der Endschalldämpfer befestigt ist, war<br />
vollständig gerissen. Quasi wie bei einem alten, rostigen Auto hing der Auspuff herunter.<br />
<strong>Die</strong>se Aneinanderreihung von Unglücken ließ Erik schier verzweifeln. Spontan warf er allen<br />
Realismus über Bord und begann an Geister zu glauben. Dennoch, mittlerweile mit allen<br />
Wassern gewaschen, wurde das unnötige Bauteil abgeschraubt und hinter den Sitz geklebt.<br />
Von nun an tauchte Erik seine Umwelt in eine ohrenbetäubende Lärmwelt. Kilometerweit war<br />
klar, dass etwas Außergewöhnliches im Anmarsch ist! <strong>Die</strong> Geistertheorie wurde allerdings<br />
mit Fakten unterfüttert, als sich nach Fertigstellung der mechanischen Arbeiten just in<br />
Flugrichtung ein großes Gewitter aufbaute. Wir hatten genug von diesem historischen ersten<br />
Tag der Reise ohne Flug und suchten uns ein Gasthaus, in dem das Unverständnis<br />
rumänischer Sprache zu einem Abendmahl mit Kuttelsuppe führte...<br />
Das große Finale<br />
Das GPS zeigte am nächsten Morgen noch 241 km zum rumänischen Ferien-Mekka<br />
Costinesti am Schwarzen Meer südlich von Constantia. Der Himmel war blau, ein leichter,<br />
unterstützender Westwind blies und die Fluggeräte waren technisch in einem mehr oder<br />
weniger betriebsfähigen Zustand. Unter unseren Gesichtspunkten ideale Voraussetzungen für<br />
einen erfolgreichen Flugtag! Bald war eine gute Startwiese gefunden – vor den Piloten lagen<br />
die Weiten des rumänischen Flachlands, eingehüllt in idyllischen Bodennebel. Felder,<br />
Wälder, Wiesen bis zum Horizont, nur sehr vereinzelte Siedlungen. <strong>Die</strong> Luft war so zart, dass<br />
ich ein Frühstück zu mir nahm, während Erik nötige Kurskorrekturen nur noch durch den<br />
Widerstand seiner ausgestreckten Handflächen vornahm. Mit 85 km/h Grundgeschwindigkeit<br />
wurden wir dem lange ersehnten und von Anfang an für fast unerreichbar gehaltenen Ziel<br />
entgegengetrieben. Ein einziger Stop war noch nötig, um ein letztes Mal zu tanken. <strong>Die</strong><br />
einzige größere Stadt auf dem Weg war Fetesti. Ein kurzes Mittagessen dort und weiter ging<br />
die Reise über die Donau hinweg dem Meer entgegen.<br />
Ankunft am Schwarzen Meer<br />
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Wann würde das übliche Seewind-System, das tagsüber durch die Aufheizung der<br />
Landmassen <strong>Wind</strong> landeinwärts blasen lässt, auf den markanten, entgegengesetzten Westwind<br />
treffen? <strong>Die</strong> Frage wurde uns genau über dem Strand von Costinesti beantwortet. <strong>Die</strong><br />
Freudenschreie waren beim Anblick des weiten Meeres kaum verhallt, da packten<br />
unangenehme Turbulenzen unsere leichten Fluggeräte und rissen sie viele hundert Meter in<br />
die Höhe. <strong>Die</strong> aufeinandertreffenden Luftmassen mussten nach oben ausweichen und nahmen<br />
die zwei landewilligen Piloten einfach mit! Nach einem längeren Kampf schafften wir es<br />
schließlich, weit über dem Meer spiralend Höhe zu vernichten. Direkt am Steilufer fand sich<br />
ein weites Landefeld, doch der wilde <strong>Wind</strong> drehte ständig. Am Ende konnten wir bei dieser<br />
letzten Landung beide, um ein paar meterhohe Betonmasten herumfliegend, sicher die Räder<br />
auf den Boden setzen.<br />
Ankunft an der Küste bei Costinesti Erik ist zu Tränen gerührt<br />
Noch etwas aufgeregt von dieser schwierigen Landung lief ich zu Erik hinüber, der ca. 50<br />
Meter entfernt von mir gelandet war. Mit ein paar echten Tränen in den Augen fand ich ihn<br />
vor. Erik konnte, nach allen Widrigkeiten durch die wir, und insbesondere auch er, gegangen<br />
waren, nicht fassen, hier am Schwarzen Meer zu stehen! Er schüttelte kräftig an seinem Flyke<br />
und rief, es sei unglaublich, das man mit einem solchen, bloß noch von Gaffa-Tape<br />
zusammengehaltenen Gerät ein derart weit entferntes Ziel erreichen kann!<br />
Als wir uns, nach einem kurzen Freudentanz, etwas gesammelt und die Schirme verstaut<br />
hatten, fuhren wir die wenigen Meter an den Strand. Ein Sprung in die Fluten des Schwarzen<br />
Meeres war der krönende Abschluss und nach den großen Anstrengungen der letzten Tage<br />
Belohnung für diesen erfolgreichen Rekordflug!<br />
<strong>Die</strong> Rückreise<br />
Nur der Vollständigkeit halber soll kurz noch unsere, ebenfalls nicht ganz einfache, Heimreise<br />
erwähnt werden.<br />
Nachdem wir uns in dem überfüllten Touristenort Costinesti für eine Nacht ein komfortables<br />
Zimmer genommen hatten, fuhren wir am nächsten Tag auf einer sehr belebten Straße 40 km<br />
bis nach Constantia, suchten uns den Beginn der Fernstraße nach Bukarest und malten ein<br />
Schild mit dem Vermerk „Bukarest 30,- EUR“. Unser Budget schien attraktiv genug, um<br />
einen leeren Transportfahrer zum Halten zu bewegen. Wir verzurrten die Flykes auf der<br />
leeren Fläche des Kleinlasters und waren innerhalb von 4 Stunden in ? ukarest.<br />
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Netterweise lud der Fahrer uns direkt an einer Adresse aus, die uns Gheorghe aus Baia Mare<br />
organisiert hatte. Der Vater eines seiner Arbeitskollegen empfing uns dort. Er hatte uns schon<br />
erwartet. Dank der großen Gastfreundschaft des alten Herren, dessen Sohn zum<br />
Gleitschirmfliegen in den Karpaten unterwegs war, bescherte uns eine sehr komfortable<br />
Bleibe.<br />
Am nächsten Morgen machten wir uns schon früh auf den Weg zum Flughafen, um Zeit<br />
genug zu haben, die Flykes bei Lufthansa-Cargo abzugeben und anschließend mittags den<br />
Flieger nach Frankfurt zu erwischen. Wir hatten die Rechnung aber ohne den Zoll gemacht!<br />
Ein Einreise-Stempel auf unseren ohnehin schon sehr nützlichen „Proforma-Rechnungen“<br />
hatte man uns an der Grenze bei Satu Mare trotz mehrfachem Nachfragen verwehrt. Nun<br />
sollte ohne diesen aber gar nichts mehr gehen! Wir konnten schließlich die Einfuhr des<br />
Gerätes nicht belegen! Dank dem persönlichen Einsatz des Leiters der Lufthansa-Cargo-<br />
Abteilung, der einen persönlichen Termin mit dem lokalen Zoll-Chef vereinbarte, ging es am<br />
Ende doch. Nachdem wir ihm unsere Filmaufnahmen vom Grenzübertritt gezeigt hatten,<br />
erklärte der Mann sich bereit, ausnahmsweise versteht sich, seinen Otto unter die<br />
Ausfuhrpapiere zu machen.<br />
Gerade noch rechtzeitig schafften wir es, völlig verschwitzt, in die Maschine nach Frankfurt<br />
zu springen, wo wir freudig mit einer Flasche Sekt empfangen wurden!<br />
<strong>Die</strong> Länder auf der Route<br />
Einer der Anlässe unserer Reise gen Osten war, die „neuen Länder“ Osteuropas zu Lande und<br />
aus der Luft kennen zu lernen. Klar war dabei von Anfang an, dass es unterwegs zu eher<br />
flüchtigen Bekanntschaften und Erlebnissen kommen würde. Aufwändige soziale oder<br />
geschichtliche Recherchen und Interviews, das lag in der Natur unseres Projekts, würde es<br />
nicht geben können, da unser Weg zum Teil von Zufällen gelenkt, unmöglich genau planbar<br />
und zudem natürlich zeitlich beschränkt war. Daher stellen unsere Eindrücke der Länder, die<br />
wir durchreisten, nur einen sehr kleinen Ausschnitt dar.<br />
Trotz der wenigen Zeit, die an den einzelnen Orten blieb, waren wir froh, einige sehr<br />
interessante Bekanntschaften gemacht zu haben. <strong>Die</strong> wichtigsten wurden ja bereits weiter<br />
oben geschildert. Sie waren eine wesentliche Quelle für Hintergrundinformationen zur<br />
aktuellen Situation vor Ort.<br />
Naturgemäß können wir relativ wenig über die Länder Slowakei und Ungarn berichten, da wir<br />
ersteres innerhalb von nur zehn Stunden durchquerten und letzteres innerhalb von zwei<br />
Tagen. <strong>Die</strong> längste Zeit zur Durchquerung eines Landes benötigten wir mit einer Woche in<br />
Rumänien.<br />
Hier nun Anmerkungen und Eindrücke zu einzelnen Ländern / Landstrichen:<br />
Ostdeutschland:<br />
Nach unserem Start in Hannover querten wir bald den ehemaligen Todesstreifen und<br />
durchflogen bis Görlitz die neuen Bundesländer. Erstaunlich war hier der Gegensatz zwischen<br />
Realität und erwecktem Eindruck: Am Boden fanden wir sanierte Städte, hervorragende<br />
Straßen und eine gewohnt gute Infrastruktur vor, was, nach allgemeinen Maßstäben eigentlich<br />
auf eine intakte Wirtschaft schließen lässt. Tatsächlich sind diese Errungenschaften ja aber<br />
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nicht durch lokale Wirtschaftsleistung erreicht sondern, zu einem großen Teil, mit westlichen<br />
Geldern finanziert worden. Der Eindruck trügt auch aus der Vogelperspektive (was auch für<br />
alle folgenden Länder ebenfalls gilt): Wir überflogen viele Gebiete mit ausgedehnten,<br />
aufragenden Industrieanlagen und zerfurchte Landstriche, die dem Tagebau von Kohle zum<br />
Opfer gefallen waren. Wüsste man nicht um die großen Probleme, so müsste man vermuten,<br />
dass Arbeitsplätze und Wohlstand dort gesichert sein müssten.<br />
Menschen, die wir trafen, hinterließen (ohne hier zu wertend sein zu wollen) tendenziell den<br />
Eindruck, der momentan in den Medien transportiert wird: Von Zuversicht keine Spur!<br />
Polen:<br />
Nur für den wirtschaftlichen Überblick, hier ein paar wenige aktuelle Zahlen:<br />
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 4739 EUR<br />
Wirtschaftswachstum: 3,7%<br />
Arbeitslosenquote: 18,1%<br />
Inflationsrate: 0,8%<br />
Polen, an sich ein sympathisches Land, hatte es bei uns wegen des anfänglichen<br />
Kameradiebstahls naturgemäß etwas schwer... Im Vergleich zu früheren Autoreisen in das<br />
Land ist aber auf jeden Fall eine enorme Veränderung spürbar: Allein die Existenz eines<br />
MediaMarktes mit einer von zuhause gewohnten Auswahl an Kameras war für uns sehr<br />
beeindruckend! Auch das Straßenbild mit immer mehr schicken Autos zeigt eine deutliche<br />
Wandlung. All das darf natürlich nicht zu sehr von der weiterhin schwierigen Situation der<br />
großen Masse der Menschen ablenken. <strong>Die</strong>se kämpft mit einer in Europa beispiellosen<br />
Arbeitslosenquote von über 18%. Es ist also anzunehmen, dass die berühmte „Schere<br />
zwischen Arm und Reich“ sich hier schon weit geöffnet hat.<br />
Slowakei:<br />
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 5350 EUR<br />
Wirtschaftswachstum: 4,1%<br />
Arbeitslosenquote: 17,4%<br />
Inflationsrate: 8,6%<br />
<strong>Die</strong> Slowakei konnte bei uns in der kurzen Zeit unserer Durchquerung natürlich nur einen<br />
sehr kurzen und ausschnitthaften, aber dennoch sehr angenehmen Eindruck hinterlassen. Man<br />
war uns und unserem Anliegen immer positiv gesinnt, ließ uns auch auf kontrollierten<br />
Militärflugplätzen landen, befragte uns aus persönlichem Interesse sehr intensiv auf dem<br />
Flugfunk und servierte hervorragendes Essen! Das Stadtbild der einzigen Stadt (Presov), die<br />
wir besuchten, war aber doch recht trist und von grauen, heruntergekommenen Wohnblocks<br />
geprägt. Skurril und vielsagend erschien uns die Szene eines Jungen, der am Straßenrand auf<br />
mehreren abgewrackten Kampfjets spielte.<br />
Ungarn:<br />
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 6876 EUR<br />
Wirtschaftswachstum: 3,3%<br />
Arbeitslosenquote: 6%<br />
Inflationsrate: 5,3%<br />
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Ungarn war wirtschaftlich betrachtet nach der Querung der Slowakei sicherlich wieder ein<br />
Aufstieg, was sich nicht nur am Stadtbild, sondern auch an den obigen Wirtschaftskennzahlen<br />
ablesen ließ. Renovierte Häuser, schöne Autos und gute Straßen ließen erkennen, dass auch<br />
hier schon große Fortschritte in der Entwicklung des Landes gemacht wurden. Etwas<br />
erschrocken waren wir über unseren letzten Abend, den wir hungrig verbringen mussten, da<br />
Ungarn in ländlichen Gebieten, selbst mit größeren Siedlungen, keine Gaststätten betreiben,<br />
die in der Lage wären, essen zu servieren.<br />
Rumänien:<br />
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 2100 EUR<br />
Wirtschaftswachstum: 4,9%<br />
Arbeitslosenquote: 8,3%<br />
Inflationsrate: 14,1%<br />
Rumänien, eindeutig das ärmste Land auf der Reise, hatte viel von dem, was uns Deutschen<br />
zur Zeit fehlt: Zuversicht und Optimismus. Obwohl weiterhin viel Armut herrscht und die<br />
Entwicklung gerade der ländlichen Gebiete nur langsam vorankommen mag, hatten wir den<br />
Eindruck, dass im Vergleich zu früheren Autoreisen dorthin, schon sehr viel erreicht wurde.<br />
Erik hatte kurz nach der Revolution 1990 während seines Zivildienstes einen Transporter mit<br />
Hilfsgütern nach Brasov gefahren und kam auf unserer Reise aus dem Staunen kaum heraus.<br />
Vor zehn Jahren gab es nur sehr vereinzelt Autos und an Tankstellen, wenn vorhanden,<br />
konnte man nur mit der Hilfe der Polizei etwas Benzin ergattern. Rumänen schossen noch auf<br />
Zigeuner, wenn diese sich nur aus dem Wald trauten und die Anweisung des Hilfswerks für<br />
den Fall eines Fahrzeugdefektes war: In den Wald schieben und mit dem zweiten Fahrzeug<br />
schnell gemeinsam weiterfahren!<br />
Eine beeindruckender Anzeiger des Wirtschaftswachstums war unser Zielort Costinesti am<br />
Schwarzen Meer. Noch vor fünf Jahren, als ich auf einer Osteuropa-Reise zufällig eine Nacht<br />
in dem Ort verbrachte, bestand dieser aus kaum mehr als ein paar Häuserzeilen und drei<br />
Diskotheken. <strong>Die</strong>smal erkannte ich den Ort aus der Luft nicht mehr wieder und meldete Erik<br />
auf dem Funk, dass ich mir nicht sicher sei, ob wir hier richtig sind: Eine Kleinstadt mit<br />
riesigen Hotelanlagen und einem menschenbepackten Strand lag unter uns! So waren auch die<br />
meisten Menschen, die wir trafen, mit der Entwicklung, so sie denn auch langsam aber<br />
kontinuierlich stattgefunden hat, zufrieden.<br />
<strong>Die</strong> Gastfreundschaft war hervorragend. An vielen Orten waren wir willkommene Gäste und<br />
die Hilfe der Rumänen war uns, bis auf den Flugplatz Brasov, wo wohl noch eine „alte<br />
Garde“ residierte, gewiss.<br />
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