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Traumatisierte Kinder - sitt

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Jacqueline Schmid, lic. phil. Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Traumapsychotherapeutin, DeGPT<br />

<strong>Traumatisierte</strong> <strong>Kinder</strong><br />

– erkennen, verstehen und helfen<br />

Viele <strong>Kinder</strong> sind traumatisiert und haben unsichere und chaotische Bindungen erlebt. Sie<br />

brauchen gezielte und verständnisvolle Unterstützung durch ihr Umfeld und die Fachpersonen.<br />

Die Sicherheit der <strong>Kinder</strong> ist immer das Wichtigste.<br />

was <strong>Kinder</strong> traumatisieren Kann<br />

Erfahrungen, die <strong>Kinder</strong> und Erwachsene<br />

traumatisieren, sind überwältigend,<br />

unfassbar und so erschreckend, dass<br />

sie nicht eingeordnet und verarbeitet<br />

werden können. Sie lösen Stresszustände<br />

aus und können zu einer Posttraumatischen<br />

Belastungsstörung führen.<br />

Traumatisierungen können jederzeit<br />

passieren, auch schon vor der Geburt.<br />

Ungeborene <strong>Kinder</strong> können traumatisiert<br />

werden, wenn die Mutter übermässigen<br />

Stress erlebt. Auch Aborte von<br />

Zwillingen oder Drillingen kann das ungeborene<br />

Kind als traumatisch erleben.<br />

Wie kann das sein? Nun, belastende Erlebnisse,<br />

welcher Art auch immer, aktivieren<br />

bei der Mutter Stresshormone, die<br />

sich auf das ungeborene Kind auswirken<br />

und bereits im Mutterleib zu einer Belastungsreaktion<br />

führen können. Wenn<br />

wir das verstehen, ist es auch naheliegend,<br />

dass häufig schwierige Geburtsverläufe,<br />

die oft lebensbedrohlich sind,<br />

von Mutter und Kind nicht verarbeitet<br />

werden. Und einmal auf der Welt – wie<br />

viele Erfahrungen können für den heranwachsenden<br />

jungen Menschen zu extremen<br />

Belastungen führen, die er nicht<br />

verarbeiten kann? Hier eine Auflistung<br />

möglicher Traumatisierungen für <strong>Kinder</strong>:<br />

was <strong>Kinder</strong> traumatisieren Kann<br />

• Verwahrlosung<br />

• Misshandlung (physische, emotionale und<br />

sexuelle)<br />

• Organisierte und/oder rituelle Ausbeutung<br />

und Misshandlung<br />

• Forcierte Trennung von Vertrauenspersonen<br />

und sonstige Verluste von nächsten<br />

Angehörigen<br />

• Krankheit, chronische Schmerzen<br />

• Suizid oder Morde in der näheren Umgebung<br />

• Mobbing<br />

• Unfälle<br />

• Naturkatastrophen, Terroranschläge<br />

• Krieg, u. a.<br />

bindung, trauma und häusliche<br />

gewalt<br />

<strong>Kinder</strong> brauchen verlässliche und konstante<br />

Bindungen, die ihnen Halt und<br />

Geborgenheit bieten. Sichere Bindungsstrukturen<br />

sind der beste Schutz gegen<br />

Traumatisierungen. Das bedeutet, dass<br />

<strong>Kinder</strong>, die körperlich und seelisch verwahrlost<br />

sind und wenig Fürsorge, Wärme<br />

und Sicherheit erlebt haben, meistens<br />

auch unter Traumafolgestörungen<br />

leiden.<br />

Dabei ist häusliche Gewalt nicht selten:<br />

Die <strong>Kinder</strong> leben in Parallelwelten. Sie haben<br />

zwei Hauptbotschaften gelernt:<br />

1. Innerhalb des Familiengefüges geschieht<br />

Ungeheuerliches, für das es<br />

keine Worte gibt. Niemand darf es erfahren,<br />

sonst geschieht etwas Furchtbares.<br />

Wenn ich nicht tue, was verlangt<br />

wird, wird es noch schrecklicher.<br />

2. Alles sieht nach aussen ganz normal<br />

aus. Niemand weiss davon, niemand<br />

tut etwas dagegen. Eltern dürfen das<br />

machen mit ihrem Kind.<br />

Dinosaurier<br />

wie erKennen wir traumatisierte<br />

<strong>Kinder</strong>?<br />

Nach einem traumatischen Erlebnis ist für<br />

das Kind nichts mehr, wie es war. Das Kind<br />

wirkt verstört und reagiert «komisch» und<br />

scheinbar unpassend im Alltag.<br />

In den ersten Monaten nach dem Ereignis<br />

nennen wir diese Stressreaktion die Posttraumatische<br />

Belastungsreaktion. Werden<br />

die Symptome ungefähr ein halbes<br />

Jahr nach der traumatischen Erfahrung<br />

nicht schwächer, sondern verstärken sich,<br />

müssen wir davon ausgehen, dass eine<br />

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)<br />

entstanden ist. Diese soll mit einer spezifischen<br />

traumaorientierten Therapie behandelt<br />

werden.<br />

Welche symptomatischen Reaktionen und<br />

Verhaltensweisen können wir also beobachten,<br />

wenn <strong>Kinder</strong> traumatisiert sind?<br />

1. überflutung durch teile des traumatischen<br />

erlebnisses/wiedererleben<br />

Das Kind reagiert ohne äusseren Grund mit<br />

Angst, Panik und Verzweiflung. Nachts treten<br />

heftige Albträume auf. Es wird auch tagsüber<br />

von Erinnerungsfetzen (Flashbacks) geplagt.<br />

2. vermeidung von allem, was an das<br />

trauma erinnert<br />

Das Kind vermeidet Dinge und Orte, die mit dem<br />

Trauma in Zusammenhang gebracht werden<br />

(Vermeidung von Triggern). Es isoliert sich<br />

sozial immer mehr. Dissoziative Phänomene<br />

treten auf: Das Kind spürt keine Gefühle oder<br />

Teile des Körpers vorübergehend nicht mehr.<br />

Die Erinnerung ist evtl. teilweise weg (dissoziative<br />

Amnesie oder Teilamnesie).<br />

3. übererregung<br />

Das Kind leidet unter einem ständigen<br />

«Getriebensein», das zu Hyperaktivität bis zur<br />

Erschöpfung und ohnmachtsähnlichen Zuständen<br />

führen kann. Übermässige Wachsamkeit<br />

(Hypervigilanz), Konzentrationsstörungen,<br />

Schlaflosigkeit und ständige Unruhe sind weitere<br />

Folgen traumabedingter Übererregung.<br />

Um zu verstehen, was das traumatisierte<br />

Kind «erzählt», müssen wir uns in seine<br />

Ausdrucksart hineindenken und -fühlen.<br />

Es drückt sich mit seinen jeweiligen, dem<br />

Entwicklungsstand entsprechenden Möglichkeiten<br />

aus. Ein Baby kann schreien<br />

oder in Apathie verfallen. Sein kleiner Körper<br />

kann erstarren oder übermässig zappeln,<br />

sich hin- und herwerfen und mit<br />

dem Kopf gegen die Wand schlagen. Je<br />

älter das Kind ist, umso breiter und vielfältiger<br />

werden seine Ausdrucksmöglichkeiten.<br />

Bereits das Kleinkind kann sich im<br />

Spiel mit Malen und mit Sprache ausdrücken.<br />

Im Schulalter kommt das Schreiben<br />

als weitere Ausdrucksmöglichkeit hinzu.<br />

Traumabedingte Symptome, deren Ursachen<br />

sehr früh im Leben oder vor der<br />

Geburt liegen, manifestieren sich vor allem<br />

als körperliche Spannung, Schmerz<br />

und Angst. Sie können als Traumafolgestörungen<br />

erkannt werden, wenn der Zusammenhang<br />

mit dem Ursprungstrauma<br />

gemacht wird. Hier ein Beispiel:<br />

Ein 7-jähriger Junge, nennen wir ihn Robin,<br />

wird von heftigen Angst- und Ekelgefühlen<br />

überrollt, wenn er feste Speisen<br />

schlucken soll. Er kann sich nur mit flüssiger<br />

oder halbflüssiger Nahrung ernähren.<br />

Verschiedene medizinische und neurologische<br />

Untersuchungen wurden durchgeführt,<br />

die keine Befunde ergaben.<br />

Robin hat erlebt, dass sein Umfeld im<br />

Laufe der Zeit nicht mehr mit Verständnis<br />

reagiert, sondern davon ausgeht, dass er<br />

mit Willenskraft sein Problem in den Griff<br />

bekommen könnte. Das Kind hört appellierende<br />

Mahnungen wie «Stell dich nicht<br />

so an!».<br />

So sehr sich Robin auch bemüht, er kann<br />

seine Schluckblockierung nicht überwinden.<br />

So entwickelt er nach und nach ein<br />

negatives Bild von sich selbst: «Ich bin<br />

nicht in Ordnung, anders als die andern,<br />

nicht richtig.» Der Junge reagiert auf seine<br />

Ohnmacht und den steigenden Erwartungsdruck<br />

des Umfelds mit Trotz und<br />

Wutausbrüchen. Seine Toleranzschwelle<br />

für alltägliche Enttäuschungen, Herausforderungen<br />

und Veränderungen in den<br />

Abläufen ist sehr niedrig. Schnell reagiert<br />

er mit Angst, wenn sich etwas nicht so<br />

abspielt «wie immer», das heisst, auch<br />

wenn er an neue Orte kommt. Sein Be-<br />

12 CASTAGNA THEMENHEFT 2011<br />

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