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Allgemeine Menschenkunde - Rudolf Steiner Online Archiv

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RUDOLF STEINER<br />

<strong>Allgemeine</strong> <strong>Menschenkunde</strong> als Grundlage<br />

der Pädagogik<br />

14 Vorträge und eine einführende Ansprache<br />

20. August – 5 September 1919 in Stuttgart<br />

Schulungskurs für die Lehrer der ersten Waldorfschule<br />

RUDOLF STEINER ONLINE ARCHIV<br />

http://anthroposophie.byu.edu<br />

4. Auflage 2010


INHALT<br />

Ansprache am Vorabend des Kurses<br />

ERSTER VORTRAG<br />

ZWEITER VORTRAG<br />

DRITTER VORTRAG<br />

VIERTER VORTRAG<br />

FÜNFTER VORTRAG<br />

SECHSTER VORTRAG<br />

SIEBENTER VORTRAG<br />

ACHTER VORTRAG<br />

NEUNTER VORTRAG<br />

ZEHNTER VORTRAG<br />

ELFTER VORTRAG<br />

ZWÖLFTER VORTRAG<br />

DREIZEHNTER VORTRAG<br />

VIERZEHNTER VORTRAG


ANSPRACHE AM VORABEND DES KURSES<br />

STUTTGART, 20. AUGUST 1919<br />

Heute Abend soll nur etwas Präliminarisches gesagt werden.<br />

Die Waldorfschule muss eine wirkliche Kulturtat sein, um eine<br />

Erneuerung unseres Geisteslebens der Gegenwart zu erreichen.<br />

Wir müssen mit Umwandlung in allen Dingen rechnen; die<br />

ganze soziale Bewegung geht ja zuletzt auf Geistiges zurück (die<br />

soziale Bewegung ist zuletzt aufs Geistige zurückgeworfen), und<br />

die Schulfrage ist ein Unterglied der großen geistigen brennenden<br />

Fragen der Gegenwart. Die Möglichkeit der Waldorfschule<br />

muss dabei ausgenützt werden, um reformierend, revolutionierend<br />

im Schulwesen zu wirken.<br />

Das Gelingen dieser Kulturtat ist in Ihre Hand gegeben. Viel ist<br />

damit in Ihre Hand gegeben, um, ein Muster aufstellend, mitzuwirken.<br />

Viel hängt davon ab, dass diese Tat gelingt. Die Waldorfschule<br />

wird ein praktischer Beweis sein für die Durchschlagskraft<br />

der anthroposophischen Weltorientierung. Sie wird<br />

eine Einheitsschule sein in dem Sinne, dass sie lediglich darauf<br />

Rücksicht nimmt, so zu erziehen und zu unterrichten, wie es<br />

der Mensch, wie es die menschliche Gesamtwesenheit erfordert.<br />

Alles müssen wir in den Dienst dieses Zieles stellen.<br />

Aber wir haben es nötig, Kompromisse zu schließen. Kompromisse<br />

sind notwendig, denn wir sind noch nicht so weit, um eine<br />

wirklich freie Tat zu vollbringen. Schlechte Lehrziele,<br />

schlechte Abschlussziele werden uns vom Staat vorgeschrieben.<br />

Diese Ziele sind die denkbar schlechtesten, und man wird sich<br />

das denkbar Höchste auf sie einbilden. Die Politik, die politische<br />

Tätigkeit von jetzt wird sich dadurch äußern, dass sie den Menschen<br />

schablonenhaft behandeln wird, dass sie viel weitergehend<br />

als jemals versuchen wird, den Menschen in Schablonen<br />

einzuspannen. Man wird den Menschen behandeln wie einen<br />

Gegenstand, der an Drähten gezogen werden muss und wird


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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sich einbilden, dass das einen denkbar größten Fortschritt bedeutet.<br />

Man wird unsachgemäß und möglichst hochmütig solche<br />

Dinge einrichten, wie es Erziehungsanstalten sind. Ein Beispiel<br />

und Vorgeschmack davon ist die Konstruktion der russischen<br />

bolschewistischen Schulen, die eine wahre Begräbnisstätte<br />

sind für alles wirkliche Unterrichtswesen. Wir werden einem<br />

harten Kampf entgegengehen, und müssen doch diese Kulturtat<br />

tun.<br />

zwei widersprechende Kräfte sind dabei in Einklang zu bringen.<br />

Auf der einen Seite müssen wir wissen, was unsere Ideale sind,<br />

und müssen doch noch die Schmiegsamkeit haben, uns anzupassen<br />

an das, was weit abstehen wird von unseren Idealen. Wie<br />

diese zwei Kräfte in Einklang zu bringen sind, das wird schwierig<br />

sein für jeden einzelnen von Ihnen. Das wird nur zu erreichen<br />

sein, wenn jeder seine volle Persönlichkeit einsetzt. Jeder<br />

muss seine volle Persönlichkeit einsetzen von Anfang an.<br />

Deshalb werden wir die Schule nicht regierungsgemäß, sondern<br />

verwaltungsgemäß einrichten und sie republikanisch verwalten.<br />

In einer wirklichen Lehrer-Republik werden wir nicht hinter<br />

uns haben Ruhekissen, Verordnungen, die vom Rektorat kommen,<br />

sondern wir müssen hineintragen (in uns tragen) dasjenige,<br />

was uns die Möglichkeit gibt, was jedem von uns die volle<br />

Verantwortung gibt für das, was wir zu tun haben. Jeder muss<br />

selbst voll verantwortlich sein.<br />

Ersatz für eine Rektoratsleitung wird geschaffen werden können<br />

dadurch, dass wir diesen Vorbereitungskurs einrichten und hier<br />

dasjenige arbeitend aufnehmen, was die Schule zu einer Einheit<br />

macht. Wir werden uns das Einheitliche erarbeiten durch den<br />

Kurs, wenn wir recht ernstlich arbeiten.<br />

Für den Kurs ist anzukündigen, dass er enthalten wird: erstens<br />

eine fortlaufende Auseinandersetzung über allgemeinpädagogische<br />

Fragen; zweitens eine Auseinandersetzung über speziellmethodische<br />

Fragen der wichtigsten Unterrichtsgegenstände;<br />

drittens eine Art seminaristisches Arbeiten innerhalb dessen,<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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was unsere Lehraufgaben sein werden. Solche Lehraufgaben<br />

werden wir ausarbeiten und in Disputationsübungen zur Geltung<br />

bringen.<br />

An jedem Tag werden wir vormittags das mehr Theoretische<br />

haben und nachmittags dann das Seminaristische.<br />

Wir werden also morgen um 9 Uhr beginnen mit der allgemeinen<br />

Pädagogik, haben dann um 1/2 11 die speziell-methodische<br />

Unterweisung und am Nachmittag von 3 bis 6 Uhr die seminaristischen<br />

Übungen.<br />

Wir müssen uns voll bewusst sein, dass eine große Kulturtat<br />

nach jeder Richtung hin getan werden soll.<br />

Wir wollen hier in der Waldorfschule keine Weltanschauungsschule<br />

einrichten. Die Waldorfschule soll keine Weltanschauungsschule<br />

sein, in der wir die Kinder möglichst mit anthroposophischen<br />

Dogmen vollstopfen. Wir wollen keine anthroposophische<br />

Dogmatik lehren, Anthroposophie ist kein Lehrinhalt,<br />

aber wir streben hin auf praktische Handhabung der Anthroposophie.<br />

Wir wollen umsetzen dasjenige, was auf anthroposophischem<br />

Gebiet gewonnen werden kann, in wirkliche Unterrichtspraxis.<br />

Auf den Lehrinhalt der Anthroposophie wird es viel weniger<br />

ankommen als auf die praktische Handhabung dessen, was in<br />

pädagogischer Richtung im allgemeinen und im speziell-<br />

Methodischen im besonderen aus Anthroposophie werden<br />

kann, wie Anthroposophie in Handhabung des Unterrichts<br />

übergehen kann.<br />

Die religiöse Unterweisung wird in den Religionsgemein schaften<br />

erteilt werden. Die Anthroposophie werden wir nur betätigen<br />

in der Methodik des Unterrichts. Wir werden also die Kinder<br />

an die Religionslehrer nach den Konfessionen verteilen.<br />

Das ist der andere Teil des Kompromisses. Durch berechtigte<br />

Kompromisse beschleunigen wir unsere Kulturtat.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Wir müssen uns bewusst sein der großen Aufgaben. Wir dürfen<br />

nicht bloß Pädagogen seine sondern wir werden Kulturmenschen<br />

im höchsten Grade, im höchsten Sinne des Wortes sein<br />

müssen. Wir müssen lebendiges Interesse haben für alles, was<br />

heute in der Zeit vor sich geht, sonst sind wir für diese Schule<br />

schlechte Lehrer. Wir dürfen uns nicht nur einsetzen für unsere<br />

besonderen Aufgaben. Wir werden nur dann gute Lehrer sein,<br />

wenn wir lebendiges Interesse haben für alles, was in der Welt<br />

vorgeht. Durch das Interesse für die Welt müssen wir erst den<br />

Enthusiasmus gewinnen, den wir gebrauchen für die Schule und<br />

für unsere Arbeitsaufgaben. Dazu sind nötig Elastizität des Geistigen<br />

und Hingabe an unsere Aufgabe.<br />

Nur aus dem können wir schöpfen, was heute gewonnen werden<br />

kann, wenn Interesse zugewendet wird erstens der großen<br />

Not der Zeit, zweitens den großen Aufgaben der Zeit, die man<br />

sich beide nicht groß genug vorstellen kann.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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ERSTER VORTRAG<br />

21. AUGUST 1919, STUTTGART<br />

Meine lieben Freunde, wir kommen mit unserer Aufgabe nur<br />

zurecht, wenn wir sie nicht bloß betrachten als eine intellektuell-gemütliche,<br />

sondern als eine im höchsten Sinne moralischgeistige;<br />

und daher werden sie es begreiflich finden, dass wir,<br />

indem wir heute diese Arbeit beginnen, uns zunächst besinnen<br />

auf den Zusammenhang, den wir gerade durch diese unsere Tätigkeit<br />

gleich im Anfang herstellen wollen mit den geistigen<br />

Welten. Wir müssen uns bewusst sein bei einer solchen Aufgabe,<br />

dass wir nicht arbeiten bloß als hier auf dem physischen<br />

Plan lebende Menschen; diese Art, sich Aufgaben zu stellen, hat<br />

ja gerade in den letzten Jahrhunderten besonders an Ausdehnung<br />

gewonnen, hat fast einzig und allein die Menschen erfüllt.<br />

Unter dieser Auffassung der Aufgaben ist dasjenige aus Unterricht<br />

und Erziehung geworden, was eben gerade verbessert<br />

werden soll durch die Aufgabe, die wir uns stellen. Daher wollen<br />

wir uns im Beginne dieser unserer vorbereitenden Tätigkeit<br />

zunächst darauf besinnen, wie wir im einzelnen die Verbindung<br />

mit den geistigen Mächten, in deren Auftrag und deren Mandat<br />

jeder einzelne von uns gewissermaßen wird arbeiten müssen,<br />

herstellen. Ich bitte Sie daher, diese einleitenden Worte aufzufassen<br />

als eine Art Gebet zu denjenigen Mächten, die imaginierend,<br />

inspirierend, intuitierend hinter uns stehen sollen, indem<br />

wir diese Aufgabe übernehmen.<br />

(Gebet wurde nicht mitstenographiert)<br />

Meine lieben Freunde! Es obliegt uns, die Wichtigkeit unserer<br />

Aufgabe zu empfinden. Wir werden dies, wenn wir diese Schule<br />

als mit einer besonderen Aufgabe ausgerüstet wissen. Und da<br />

wollen wir unsere Gedanken wirklich konkretisieren, wir wollen<br />

unsere Gedanken wirklich so gestalten, dass wir das Bewusstsein<br />

haben können, dass etwas Besonderes mit dieser<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Schule ausgeführt wird. Wir werden das nur, wenn wir gewissermaßen<br />

nicht in das Alltägliche versetzen dasjenige, was mit<br />

dieser Schulbegründung getan worden ist, sondern wenn wir es<br />

als einen Festesakt der Weltenordnung betrachten. In diesem<br />

Sinne möchte ich als erstes geschehen lassen, dass ich hier im<br />

Namen des guten Geistes, der führen soll die Menschheit aus<br />

der Not und dem Elend heraus, im Namen dieses guten Geistes,<br />

der die Menschheit führen soll zu der höheren Stufe der Entwickelung<br />

in Unterricht und Erziehung, den allerherzlichsten<br />

Dank ausspreche denjenigen guten Geistern gegenüber, die unserem<br />

lieben Herrn Molt den guten Gedanken eingegeben haben,<br />

in dieser Richtung und an diesem Platze für die Weiterentwickelung<br />

der Menschheit dasjenige zu tun, was er mit der<br />

Waldorfschule getan hat. Ich weiß, er ist sich bewusst, dass man<br />

dasjenige, was man für diese Aufgabe tun kann, heute doch nur<br />

mit schwachen Kräften tun kann. Er sieht die Sache so an; aber<br />

er wird gerade dadurch, dass wir mit ihm vereint die Größe der<br />

Aufgabe und den Moment, in dem sie begonnen wird, als einen<br />

feierlichen in die Weltenordnung hineingestellt empfinden, er<br />

wird gerade dadurch mit der rechten Kraft innerhalb unserer<br />

Mitte wirken können. Von diesem Gesichtspunkte aus, meine<br />

lieben Freunde, wollen wir unsere Tätigkeit beginnen. Wir wollen<br />

uns selbst alle betrachten als Menschenwesenheiten, welche<br />

das Karma an den Platz gestellt hat, von dem aus nicht etwas<br />

Gewöhnliches, sondern etwas geschehen soll, was bei den Mittuenden<br />

die Empfindung eines feierlichen Weltenaugenblickes<br />

in sich schließt.<br />

(Kurze Ansprache von Emil Molt.)<br />

Meine lieben Freunde, das erste, womit wir beginnen wollen,<br />

müssen Auseinandersetzungen sein über unsere pädagogische<br />

Aufgabe, Auseinandersetzungen, zu denen ich heute eine Art<br />

von Einleitung zu Ihnen sprechen möchte. Unsere pädagogische<br />

Aufgabe wird sich ja unterscheiden müssen von den pädagogischen<br />

Aufgaben, die sich die Menschheit bisher gestellt hat.<br />

Nicht aus dem Grunde wird sie sich unterscheiden sollen, weil<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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wir in eitlem Hochmut glauben, dass wir gerade von uns aus<br />

gewissermaßen eine neue pädagogische Weltenordnung beginnen<br />

sollen, sondern weil wir aus anthroposophisch orientierter<br />

Geisteswissenschaft heraus uns klar darüber sind, dass die aufeinanderfolgenden<br />

Entwickelungsepochen der Menschheit dieser<br />

Menschheit immer andere Aufgaben stellen werden. Eine andere<br />

Aufgabe hatte die Menschheit in der ersten, eine andere in<br />

der zweiten bis herein in unsere fünfte nachatlantische Entwickelungsepoche.<br />

Und es ist nun einmal so, dass dasjenige, was in<br />

einer Entwickelungsepoche der Menschheit getan werden soll,<br />

dieser Menschheit erst zum Bewusstsein kommt, einige Zeit<br />

nachdem diese Entwickelungsepoche begonnen hat.<br />

Die Entwickelungsepoche, in der wir heute stehen, hat in der<br />

Mitte des 15. Jahrhunderts begonnen. Heute kommt gewissermaßen<br />

aus den geistigen Untergründen heraus erst die Erkenntnis,<br />

was gerade in bezug auf die Erziehungsaufgabe innerhalb<br />

dieser unserer Epoche getan werden soll. Die Menschen<br />

haben bisher, selbst wenn sie mit dem allerbesten Willen pädagogisch<br />

gearbeitet haben, noch im Sinne der alten Erziehung<br />

gearbeitet, noch im Sinne derjenigen der vierten nachatlantischen<br />

Entwickelungsepoche. Vieles wird davon abhängen, dass<br />

wir von vornherein uns einzustellen wissen für unsere Aufgabe,<br />

dass wir verstehen lernen, dass wir uns für unsere zeit eine ganz<br />

bestimmte Richtung zu geben haben; eine Richtung, die nicht<br />

deshalb wichtig ist, weil sie absolut für die ganze Menschheit in<br />

ihrer Entwickelung gelten soll, sondern weil sie gelten soll gerade<br />

für unsere zeit. Der Materialismus hat außer dem anderen<br />

noch das hervorgebracht, dass die Menschen kein Bewusstsein<br />

haben von den besonderen Aufgaben einer besonderen zeit. Als<br />

allererstes aber, bitte, nehmen Sie das in sich auf, dass besondere<br />

Zeiten ihre besonderen Aufgaben haben.<br />

Sie werden zur Erziehung und zum Unterricht Kinder zu übernehmen<br />

haben, allerdings Kinder schon eines bestimmten Alters,<br />

und Sie werden ja dabei bedenken müssen, dass Sie diese<br />

Kinder übernehmen, nachdem sie schon in der allerersten Epo-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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che ihres Lebens die Erziehung, vielleicht oftmals die<br />

Misserziehung der Eltern durchgemacht haben. Vollständig erfüllt<br />

wird dasjenige, was wir wollen, doch erst werden, wenn<br />

wir einmal so weit sind als Menschheit, dass auch die Eltern<br />

verstehen werden, dass schon in der ersten Epoche der Erziehung<br />

besondere Aufgaben der heutigen Menschheit gestellt<br />

sind. Wir werden manches, was verfehlt worden ist in der ersten<br />

Lebensepoche doch noch ausbessern können, wenn wir die<br />

Kinder zur Schule bekommen.<br />

Wir müssen uns aber ganz stark durchdringen von dem Bewusstsein,<br />

aus dem heraus wir, jeder einzelne, unseren Unterricht<br />

und unsere Erziehung auffassen.<br />

Vergessen Sie nicht, indem Sie sich Ihrer Aufgabe widmen, dass<br />

die ganze heutige Kultur, bis in die Sphäre des Geistigen hinein,<br />

gestellt ist auf den Egoismus der Menschheit. Betrachten Sie<br />

unbefangen das geistigste Gebiet, dem sich der Mensch heute<br />

hingibt, betrachten Sie das religiöse Gebiet und fragen Sie sich,<br />

ob nicht unsere heutige Kultur gerade auf dem religiösen Gebiet<br />

hingeordnet ist auf den Egoismus der Menschen. Typisch ist es<br />

gerade für das Predigtwesen in unserer zeit, dass der Prediger<br />

den Menschen angreifen will im Egoismus. Nehmen Sie gleich<br />

dasjenige, was den Menschen am tiefsten erfassen soll: die Unsterblichkeitsfrage,<br />

und bedenken Sie, dass heute fast alles,<br />

selbst im Predigtwesen, darauf hingeordnet ist, den Menschen<br />

so zu erfassen, dass sein Egoismus für das Übersinnliche ins Auge<br />

gefasst wird. Durch den Egoismus hat der Mensch den Trieb,<br />

nicht wesenlos durch die Pforte des Todes hindurchzugehen,<br />

sondern sein Ich zu erhalten. Dies ist ein, wenn auch noch so<br />

verfeinerter, Egoismus. An diesen Egoismus appelliert heute in<br />

weitestem Umfange auch jedes religiöse Bekenntnis, wenn es<br />

sich um die Unsterblichkeitsfrage handelt. Daher spricht vor<br />

allen Dingen das religiöse Bekenntnis so zu den Menschen, dass<br />

es meistens das eine Ende unseres irdischen Daseins vergisst und<br />

nur Rücksicht nimmt auf das andere Ende dieses Daseins, dass<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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der Tod vor allen Dingen ins Auge gefasst wird, dass die Geburt<br />

vergessen wird.<br />

Wenn auch die Dinge nicht so deutlich ausgesprochen werden,<br />

so liegen sie doch zugrunde. Wir leben in der Zeit, in der dieser<br />

Appell an den menschlichen Egoismus in allen Sphären bekämpft<br />

werden muss, wenn die Menschen nicht auf dem absteigenden<br />

Wege der Kultur, auf dem sie heute gehen, immer mehr<br />

und mehr abwärts gehen sollen. Wir werden uns immer mehr<br />

und mehr bewusst werden müssen des anderen Endes der<br />

menschlichen Entwickelung innerhalb des Erdendaseins: der<br />

Geburt. Wir werden in unser Bewusstsein die Tatsache aufnehmen<br />

müssen, dass der Mensch sich entwickelt eine lange zeit<br />

zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, dass er innerhalb<br />

dieser Entwickelung an einen Punkt gelangt ist, wo er für die<br />

geistige Welt gewissermaßen stirbt, wo er unter solchen Bedingungen<br />

in der geistigen Welt lebt, dass er dort nicht mehr weiterleben<br />

kann, ohne in eine andere Daseinsform überzugehen.<br />

Diese andere Daseinsform bekommt er dadurch, dass er sich<br />

umkleiden lässt mit dem physischen und Ätherleib. Dasjenige,<br />

was er bekommen soll durch die Umkleidung des physischen<br />

und Ätherleibes, könnte er nicht bekommen, wenn er sich in<br />

gerader Linie in der geistigen Welt nur weiterentwickeln würde.<br />

Indem wir daher das Kind von seiner Geburt an nur mit<br />

physischen Augen anblicken dürfen, wollen wir uns dabei bewusst<br />

sein: auch das ist eine Fortsetzung. Und wir wollen nicht<br />

nur sehen auf das, was das Menschendasein erfährt nach dem<br />

Tode, also auf die geistige Fortsetzung des Physischen; wir wollen<br />

uns bewusst werden, dass das physische Dasein hier eine<br />

Fortsetzung des Geistigen ist, dass wir durch Erziehung fortzusetzen<br />

haben dasjenige, was ohne unser zutun besorgt worden<br />

ist von höheren Wesen. Das wird unserem Erziehungs- und Unterrichtswesen<br />

allein die richtige Stimmung geben, wenn wir<br />

uns bewusst werden: Hier in diesem Menschenwesen hast du<br />

mit deinem Tun eine Fortsetzung zu leisten für dasjenige, was<br />

höhere Wesen vor der Geburt getan haben.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Man wird heute, wo die Menschen in ihren Gedanken und<br />

Empfindungen den Zusammenhang verloren haben mit den<br />

geistigen Welten, oftmals in abstrakter Art um etwas gefragt,<br />

was eigentlich als Frage einer geistigen Weltauffassung gegenüber<br />

keinen rechten Sinn hat. Man wird gefragt, wie man die<br />

sogenannte vorgeburtliche Erziehung leiten soll. Es gibt viele<br />

Menschen, die nehmen heute die Dinge abstrakt; wenn man die<br />

Dinge konkret nimmt, kann man das Fragen in gewissen Gebieten<br />

nicht in beliebiger Weise weitertreiben. Ich habe einmal das<br />

Beispiel erwähnt: Man sieht auf einer Straße Furchen. Da kann<br />

man fragen: Woher sind sie? - Weil ein Wagen gefahren ist. -<br />

Warum ist der Wagen gefahren? - Weil die, die darin sitzen,<br />

einen bestimmten Ort erreichen wollten. - Warum wollten sie<br />

einen bestimmten Ort erreichen? - Einmal hört in der Wirklichkeit<br />

die Fragestellung auf. Bleibt man im Abstrakten, so<br />

kann man immer weiter fragen: warum? Man kann das Rad des<br />

Fragens immerfort weiter drehen. Das konkrete Denken findet<br />

immer ein Ende, das abstrakte Denken läuft mit dem Gedanken<br />

immer endlos wie ein Rad herum. So ist es auch mit den Fragen,<br />

die über nicht so naheliegende Gebiete gestellt werden. Die<br />

Menschen denken über Erziehung nach und fragen über die<br />

vorgeburtliche Erziehung. Aber, meine lieben Freunde, vor der<br />

Geburt ist das Menschenwesen noch in der Hut über dem Physischen<br />

stehender Wesenheiten. Denen müssen wir die unmittelbare<br />

einzelne Beziehung überlassen zwischen der Welt und<br />

dem einzelnen Wesen. Daher hat die vorgeburtliche Erziehung<br />

noch keine Aufgabe für das Kind selbst. Die vorgeburtliche Erziehung<br />

kann nur eine unbewusste Folge desjenigen sein, was<br />

die Eltern, insbesondere die Mutter, leisten. Verhält sich die<br />

Mutter bis zu der Geburt so, dass sie in sich selbst zum Ausdruck<br />

bringt dasjenige, was im rechten Sinn moralisch und intellektuell<br />

das Richtige ist, so wird ganz von selbst das, was sie<br />

in fortgesetzter Selbsterziehung vollbringt übergehen auf das<br />

Kind. Je weniger man daran denkt, das Kind, schon bevor es das<br />

Licht der Welt erblickt, zu erziehen, und je mehr man daran<br />

denkt, selbst ein entsprechend rechtes Leben zu führen, desto<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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besser wird es für das Kind sein. Die Erziehung kann erst angehen,<br />

wenn das Kind wirklich eingegliedert-ist in die Weltenordnung<br />

des physischen Planes, und das ist dann, wenn das<br />

Kind beginnt die äußere Luft zu atmen.<br />

Wenn nun das Kind auf den physischen Plan herausgetreten ist,<br />

dann müssen wir uns bewusst sein, was eigentlich für das Kind<br />

geschehen ist im Übergang von einem geistigen zu einem physischen<br />

Plan. Sehen Sie, da müssen wir vor allen Dingen uns bewusst<br />

werden, dass sich das Menschenwesen wirklich aus zwei<br />

Gliedern zusammensetzt. Bevor das Menschenwesen die physische<br />

Erde betritt, wird eine Verbindung eingegangen zwischen<br />

dem Geist und der Seele; dem Geist, insofern wir darunter verstehen<br />

dasjenige, was in der physischen Welt heute noch ganz<br />

verborgen ist und was wir anthroposophischgeisteswissenschaftlich<br />

nennen: der Geistesmensch, der Lebensgeist,<br />

das Geistselbst. Mit diesen drei Wesensgliedern des Menschen<br />

ist es ja so, dass sie gewissermaßen in der übersinnlichen<br />

Sphäre vorhanden sind, zu der wir uns nun hindurcharbeiten<br />

müssen, und wir stehen zwischen dem Tod und einer neuen<br />

Geburt schon in einer gewissen Beziehung zu Geistesmensch,<br />

Lebensgeist und Geistselbst. Die Kraft, die von dieser Dreiheit<br />

ausgeht, die durchdringt das Seelische des Menschen: Bewusstseinsseele,<br />

Verstandes- oder Gemütsseele und Empfindungsseele.<br />

Und wenn Sie betrachten würden das Menschenwesen, das sich<br />

anschickt, nachdem es durchgegangen ist durch das Dasein zwischen<br />

Tod und neuer Geburt, in die physische Welt hinunterzusteigen,<br />

dann würden Sie das eben charakterisierte Geistige zusammengebunden<br />

finden mit dem Seelischen. Der Mensch<br />

steigt gewissermaßen als Geistseele oder Seelengeist aus einer<br />

höheren Sphäre in das irdische Dasein. Mit dem irdischen Dasein<br />

umkleidet er sich. Wir können ebenso dieses andere Wesensglied,<br />

das sich mit dem eben gekennzeichneten verbindet,<br />

charakterisieren, wir können sagen: Da unten auf der Erde wird<br />

der Geistseele entgegengebracht dasjenige, was entsteht durch<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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die Vorgänge der physischen Vererbung. Nun wird an den Seelengeist<br />

oder die Geistseele der Körperleib oder der Leibeskörper<br />

so herangebracht, dass wiederum zwei Dreiheiten verbunden<br />

sind. Bei der Geistseele sind verbunden Geistesmensch, Lebensgeist<br />

und Geistselbst mit dem Seelischen, das besteht aus<br />

Bewusstseinsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Empfindungsseele.<br />

Die sind miteinander verbunden und sollen sich<br />

verbinden beim Herabsteigen in die physische Welt mit Empfindungsleib<br />

oder Astralleib, Ätherleib, physischen Leib. Aber<br />

diese sind ihrerseits wiederum verbunden zuerst im Leibe der<br />

Mutter, dann in der physischen Welt mit den drei Reichen der<br />

physischen Welt, dem mineralischen, dem Pflanzen- und dem<br />

Tierreich, so dass auch hier zwei Dreiheiten miteinander verbunden<br />

sind.<br />

Betrachten Sie das Kind, das hereingewachsen ist in die Welt,<br />

mit der genügenden Unbefangenheit, so werden Sie richtig<br />

wahrnehmen: Hier in dem Kind ist noch unverbunden Seelengeist<br />

oder Geistseele mit Leibeskörper oder Körperleib. Die Aufgabe<br />

der Erziehung, im geistigen Sinn erfasst, bedeutet das In-<br />

Einklang-Versetzen des Seelengeistes mit dem Körperleib oder<br />

dem Leibeskörper. Die müssen miteinander in Harmonie kommen,<br />

müssen aufeinander gestimmt werden, denn die passen<br />

gewissermaßen, indem das Kind hereingeboren wird in die physische<br />

Welt, noch nicht zusammen. Die Aufgabe des Erziehers<br />

und auch des Unterrichters ist das Zusammenstimmen dieser<br />

zwei Glieder.<br />

Nun, fassen wir diese Aufgabe etwas mehr im Konkreten. Unter<br />

all diesen Beziehungen, welche der Mensch zur Außenwelt hat,<br />

ist die allerwichtigste das Atmen. Aber das Atmen beginnen wir<br />

ja gerade, indem wir die physische Welt betreten. Das Atmen<br />

im Mutterleib ist noch sozusagen ein vorbereitendes Atmen, es<br />

bringt den Menschen noch nicht in vollkommenen Zusammenhang<br />

mit der Außenwelt. Dasjenige, was im rechten Sinn Atmen<br />

genannt werden soll, beginnt der Mensch erst, wenn er<br />

den Mutterleib verlassen hat. Dieses Atmen bedeutet sehr, sehr<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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viel für die menschliche Wesenheit, denn in diesem Atmen liegt<br />

ja schon das ganze dreigliedrige System des physischen Menschen.<br />

Wir rechnen zu den Gliedern des dreigliedrigen physischen<br />

Menschensystems zunächst den Stoffwechsel. Aber der Stoffwechsel<br />

hängt an dem einen Ende mit dem Atmen innig zusammen;<br />

der Atmungsprozess hängt stoffwechselmäßig mit der<br />

Blutzirkulation zusammen. Die Blutzirkulation nimmt die auf<br />

anderem Wege eingeführten Stoffe der äußeren Welt auf in den<br />

menschlichen Körper, so dass gewissermaßen auf der einen Seite<br />

das Atmen mit dem ganzen Stoffwechselsystem zusammenhängt.<br />

Das Atmen hat also seine eigenen Funktionen, aber es<br />

hängt doch auf der einen Seite mit dem Stoffwechselsystem zusammen.<br />

Auf der anderen Seite hängt dieses Atmen auch zusammen mit<br />

dem Nerven-Sinnesleben des Menschen. Indem wir einatmen,<br />

pressen wir fortwährend das Gehirnwasser in das Gehirn hinein;<br />

indem wir ausatmen, prellen wir es zurück in den Körper.<br />

Dadurch verpflanzen wir den Atmungsrhythmus auf das Gehirn.<br />

Und wie das Atmen zusammenhängt auf der einen Seite<br />

mit dem Stoffwechsel, so hängt es auf der anderen Seite zusammen<br />

mit dem Nerven-Sinnesleben. Wir können sagen: Das Atmen<br />

ist der wichtigste Vermittler des die physische Welt betretenden<br />

Menschen mit der physischen Außenwelt. Aber wir<br />

müssen uns auch bewusst sein, dass dieses Atmen durchaus<br />

noch nicht so verläuft, wie es zum Unterhalt des physischen Lebens<br />

beim Menschen voll verlaufen muss, namentlich nach der<br />

einen Seite nicht: es ist beim Menschen, der das physische Dasein<br />

betritt, noch nicht die richtige Harmonie, der rechte Zusammenhang<br />

hergestellt zwischen dem Atmungsprozess und<br />

dem Nerven-Sinnesprozess.<br />

Betrachten wir das Kind, so müssen wir in bezug auf sein Wesen<br />

sagen: Das Kind hat noch nicht so atmen gelernt, dass das Atmen<br />

in der richtigen Weise den Nerven-Sinnesprozess unterhält.<br />

Da liegt wiederum die feinere Charakteristik desjenigen,<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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was mit dem Kind zu tun ist. Wir müssen zunächst die Menschenwesenheit<br />

anthropologisch-anthroposophisch verstehen.<br />

Die wichtigsten Maßnahmen in der Erziehung werden daher<br />

liegen in der Beobachtung alles desjenigen, was in der rechten<br />

Weise den Atmungsprozess hineinorganisiert in den Nerven-<br />

Sinnesprozess. Im höheren Sinne muss das Kind lernen, in seinen<br />

Geist aufzunehmen dasjenige, was ihm geschenkt werden<br />

kann dadurch, dass es geboren wird zum Atmen. Sie sehen, dieser<br />

Teil der Erziehung wird hinneigen zu dem Geistig-<br />

Seelischen: dadurch, dass wir harmonisieren das Atmen mit dem<br />

Nerven-Sinnesprozeß, ziehen wir das Geistig-Seelische in das<br />

physische Leben des Kindes herein. Grob ausgedrückt, können<br />

wir sagen: Das Kind kann noch nicht innerlich richtig atmen,<br />

und die Erziehung wird darin bestehen müssen, richtig atmen<br />

zu lehren.<br />

Aber das Kind kann noch etwas anderes nicht richtig, und dieses<br />

andere muss in Angriff genommen werden, damit ein Einklang<br />

geschaffen werde zwischen den zwei Wesensgliedern,<br />

zwischen dem Körperleib und zwischen der Geistseele. Was das<br />

Kind nicht richtig kann im Anfang seines Daseins - es wird Ihnen<br />

auffallen, dass gewöhnlich das, was wir geistig betonen<br />

müssen, der äußeren Weltenordnung zu widersprechen scheint<br />

-, was das Kind nicht richtig kann, das ist, den Wechsel zwischen<br />

Schlafen und Wachen in einer dem Menschenwesen entsprechenden<br />

Weise zu vollziehen. Man kann freilich sagen, äußerlich<br />

betrachtet: Das Kind kann ja ganz gut schlafen; es<br />

schläft ja viel mehr als der Mensch im späteren Lebensalter, es<br />

schläft sogar in das Leben herein. - Aber das, was innerlich dem<br />

Schlafen und Wachen zugrunde liegt, das kann es noch nicht.<br />

Das Kind erlebt allerlei auf dem physischen Plan. Es gebraucht<br />

seine Glieder, es isst, trinkt und atmet. Aber indem es so allerlei<br />

macht auf dem physischen Plan, indem es abwechselt zwischen<br />

Schlafen und Wachen, kann es nicht alles dasjenige, was es auf<br />

dem physischen Plan erfährt - was es mit den Augen sieht, den<br />

Ohren hört, den Händchen vollbringt, wie es mit den Beinchen<br />

strampelt -, es kann nicht das, was es auf dem physischen Plan<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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erlebt, hineintragen in die geistige Welt und dort verarbeiten<br />

und das Ergebnis der Arbeit wieder zurücktragen auf den physischen<br />

Plan. Sein Schlaf ist gerade dadurch charakterisiert, dass<br />

er ein anderer Schlaf ist als der Schlaf der Erwachsenen. Im<br />

Schlafe des Erwachsenen wird vorzugsweise das verarbeitet, was<br />

der Mensch erfährt zwischen dem Aufwachen und dem Einschlafen.<br />

Das Kind kann das noch nicht in den Schlaf hineintragen,<br />

was es erfährt zwischen Aufwachen und Einschlafen, und<br />

es lebt sich daher noch so in die allgemeine Weltenordnung mit<br />

dem Schlafen hinein, dass es nicht mitbringt in diese Weltenordnung<br />

während des Schlafes dasjenige, was es äußerlich in der<br />

physischen Welt erfahren hat. Dahin muss es gebracht werden<br />

durch die richtiggehende Erziehung, dass das, was der Mensch<br />

auf dem physischen Plan erfährt, hineingetragen wird in dasjenige,<br />

was der Seelengeist oder die Geistseele tut vom Einschlafen<br />

bis zum Aufwachen. Wir können als Unterrichter und Erzieher<br />

dem Kinde gar nichts von der höheren Welt beibringen.<br />

Denn dasjenige, was in den Menschen von der höheren Welt<br />

hineinkommt, das kommt hinein in der Zeit vom Einschlafen<br />

bis zum Aufwachen. Wir können nur die Zeit, die der Mensch<br />

auf dem physischen Plan verbringt, so ausnützen, dass er gerade<br />

das, was wir mit ihm tun, allmählich hineintragen kann in die<br />

geistige Welt und dass durch dieses Hineintragen wiederum in<br />

die physische Welt zurückfließen kann die Kraft, die er mitnehmen<br />

kann aus der geistigen Welt, um dann im physischen<br />

Dasein ein rechter Mensch zu sein.<br />

So wird zunächst alle Unterrichts- und Erziehungstätigkeit gelenkt<br />

auf ein recht hohes Gebiet, auf das Lehren des richtigen<br />

Atmens und auf das Lehren des richtigen Rhythmus im Abwechseln<br />

zwischen Schlafen und Wachen. Wir werden selbstverständlich<br />

solche Verhaltungsmaßregeln beim Erziehen und<br />

Unterrichten kennenlernen, die nicht etwa auf eine Dressur des<br />

Atmens hinauslaufen oder auf eine Dressur von Schlafen und<br />

Wachen. Das wird alles nur im Hintergrund stehen. Das, was<br />

wir kennenlernen werden, werden konkrete Maßregeln sein.<br />

Aber wir müssen uns bis in die Fundamente hinein bewusst sein<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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dessen, was wir tun. So werden wir uns bewusst werden müssen,<br />

wenn wir einem Kinde diesen oder jenen Lehrgegenstand<br />

beibringen, dass wir dann in der einen Richtung wirken auf das<br />

mehr in den physischen Leib Hineinbringen der Geistseele und<br />

in der anderen Richtung mehr auf das Hereinbringen der Körperleiblichkeit<br />

in die Geistseele.<br />

Unterschätzen wir nicht, dass das wichtig ist, was jetzt gesagt<br />

ist, denn Sie werden nicht gute Erzieher und Unterrichter werden,<br />

wenn Sie bloß auf dasjenige sehen werden, was Sie tun,<br />

wenn Sie nicht auf dasjenige sehen werden, was Sie sind. Wir<br />

haben ja die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft<br />

eigentlich aus dem Grunde, um die Bedeutsamkeit dieser Tatsache<br />

einzusehen, dass der Mensch in der Welt wirkt nicht nur<br />

durch dasjenige, was er tut, sondern vor allem durch dasjenige,<br />

was er ist. Es ist einmal ein großer Unterschied, meine lieben<br />

Freunde, ob der eine Lehrer in die Schule durch die Klassentür<br />

zu einer kleineren oder größeren Anzahl von Schülern hineingeht<br />

oder der andere Lehrer. Es ist ein großer Unterschied, und<br />

der liegt nicht bloß darin, dass der eine Lehrer geschickter ist,<br />

die äußerlichen pädagogischen Handgriffe so oder so zu machen,<br />

als der andere; sondern der hauptsächlichste Unterschied,<br />

der wirksam ist beim Unterricht, rührt her von dem, was der<br />

Lehrer in der ganzen Zeit seines Daseins an Gedankenrichtung<br />

hat, die er durch die Klassentür hereinträgt. Ein Lehrer, der sich<br />

beschäftigt mit Gedanken vom werdenden Menschen, wirkt<br />

ganz anders auf die Schüler als ein Lehrer, der von alledem<br />

nichts weiß, der niemals seine Gedanken dahin lenkt. Denn was<br />

geschieht in dem Augenblick, wo Sie über solche Gedanken<br />

nachdenken, das heißt, wo Sie anfangen zu wissen, welche<br />

kosmische Bedeutung der Atmungsprozess und seine Umwandlung<br />

in der Erziehung hat, welche kosmische Bedeutung der<br />

Rhythmusprozess zwischen Schlafen und Wachen hat? In dem<br />

Augenblick, wo Sie solche Gedanken haben, bekämpft etwas in<br />

Ihnen alles das, was bloßer Persönlichkeitsgeist ist. In diesem<br />

Augenblick werden abgedämpft alle Instanzen, welche dem<br />

Persönlichkeitsgeist zugrunde liegen; es wird etwas von dem<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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ausgelöscht, was gerade am meisten vorhanden ist im Menschen<br />

dadurch, dass er ein physischer Mensch ist.<br />

Und indem Sie in diesem Ausgelöschtsein leben und hineingehen<br />

in das Klassenzimmer, kommt es durch innere Kräfte, dass<br />

sich ein Verhältnis herstellt zwischen den Schülern und Ihnen.<br />

Da kann es sein, dass die äußeren Tatsachen dem anfangs widersprechen.<br />

Sie gehen in die Schule hinein, und vielleicht haben<br />

Sie Rangen und Ranginnen vor sich, die Sie auslachen. Sie müssen<br />

so gestärkt sein durch solche Gedanken, wie wir sie hier<br />

pflegen wollen, dass Sie gar nicht achten dieses Auslachens, dass<br />

Sie es hinnehmen wie eine äußere Tatsache, ich will sagen wie<br />

die Tatsache, dass es, während Sie ohne Regenschirm ausgegangen<br />

sind, plötzlich beginnt zu regnen. Gewiss, das ist eine unangenehme<br />

Überraschung. Aber gewöhnlich macht der Mensch<br />

selbst einen Unterschied zwischen dem Ausgelachtwerden und<br />

dem Überraschtwerden durch den Regen, wenn man keinen<br />

Schirm hat. Es darf kein Unterschied gemacht werden. Wir<br />

müssen so starke Gedanken entwickeln, dass dieser Unterschied<br />

nicht gemacht wird, dass wir dieses Ausgelachtwerden wie einen<br />

Regenguss hinnehmen. Wenn wir durchdrungen sind von<br />

diesen Gedanken, und namentlich den rechten Glauben an sie<br />

haben, dann wird das über uns kommen, was vielleicht erst<br />

nach acht Tagen, vielleicht erst nach vierzehn Tagen, vielleicht<br />

nach noch längerer Zeit eintritt - wenn wir noch so sehr ausgelacht<br />

werden von den Kindern: dass wir ein Verhältnis zu den<br />

Kindern herstellen, das wir für das Wünschenswerte halten.<br />

Wir müssen dieses Verhältnis auch gegen Widerstand herstellen<br />

durch das, was wir aus uns selbst machen. Und wir müssen uns<br />

vor allen Dingen der ersten pädagogischen Aufgabe bewusst<br />

werden, dass wir erst selbst aus uns etwas machen müssen, dass<br />

eine gedankliche, dass eine innere spirituelle Beziehung<br />

herrscht zwischen dem Lehrer und den Kindern, und dass wir<br />

in das Klassenzimmer eintreten in dem Bewusstsein: Diese spirituelle<br />

Beziehung ist da, nicht bloß die Worte, die Ermahnungen,<br />

die ich die Kinder erfahren lasse, die Geschicklichkeit im<br />

Unterrichten wird da sein. Das alles sind Äußerlichkeiten, die<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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wir gewiss pflegen müssen; aber wir werden sie nicht richtig<br />

pflegen, wenn wir nicht als Grundtatsache herstellen das ganze<br />

Verhältnis zwischen den Gedanken, die uns selbst erfüllen, und<br />

den Tatsachen, die während des Unterrichts an Leib und Seele<br />

der Kinder vor sich gehen sollen. Unsere ganze Haltung im Unterrichten<br />

würde nicht vollständig sein, wenn wir nicht das Bewusstsein<br />

in uns tragen würden: der Mensch wurde geboren;<br />

dadurch wurde ihm die Möglichkeit gegeben, dasjenige zu tun,<br />

was er nicht konnte in der geistigen Welt. Wir müssen erziehen<br />

und unterrichten, der Atmung erst die richtige Harmonie geben<br />

zur geistigen Welt. Der Mensch konnte nicht in derselben Weise<br />

den rhythmischen Wechsel vollziehen zwischen Wachen<br />

und Schlafen in der geistigen Welt wie in der physischen Welt.<br />

Wir müssen diesen Rhythmus so regeln durch Erziehung und<br />

Unterricht, dass in der rechten Weise im Menschen eingegliedert<br />

werde Körperleib oder Leibeskörper in Seelengeist oder<br />

Geistseele. Das ist etwas, was wir selbstverständlich nicht so wie<br />

eine Abstraktion vor uns haben und als solche unmittelbar im<br />

Unterricht verwenden sollen, aber als Gedanke von der<br />

menschlichen Wesenheit muss es uns beherrschen.<br />

Das wollte ich Ihnen in dieser Einleitung sagen, und wir wollen<br />

morgen mit der eigentlichen Pädagogik beginnen.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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ZWEITER VORTRAG<br />

22. AUGUST 1919, STUTTGART<br />

Jeder Unterricht in der Zukunft wird gebaut werden müssen auf<br />

eine wirkliche Psychologie, welche herausgeholt ist aus anthroposophischer<br />

Welterkenntnis. Dass der Unterricht und das Erziehungswesen<br />

überhaupt auf Psychologie gebaut werden müsse,<br />

erkannte man selbstverständlich an den verschiedensten Orten,<br />

und Sie wissen ja wohl, dass zum Beispiel die in der Vergangenheit<br />

in sehr weiten Kreisen wirkende Herbartsche Pädagogik<br />

ihre Erziehungsmaßnahmen auf die Herbartsche Psychologie<br />

aufgebaut hat. Nun liegt heute und auch in der Vergangenheit<br />

der letzten Jahrhunderte eine gewisse Tatsache vor,<br />

welche eigentlich eine wirkliche, eine brauchbare Psychologie<br />

gar nicht aufkommen ließ. Das muss darauf zurückgeführt werden,<br />

dass in dem Zeitalter, in welchem wir jetzt sind, in dem<br />

Bewusstseinsseelenzeitalter, bisher noch nicht eine solche geistige<br />

Vertiefung erreicht worden ist, dass man wirklich zu einer<br />

tatsächlichen Erfassung der menschlichen Seele hätte kommen<br />

können. Diejenigen Begriffe aber, die man sich früher auf psychologischem<br />

Gebiete, auf dem Gebiete der Seelenkunde gebildet<br />

hatte aus dem alten Wissen noch des vierten nachatlantischen<br />

Zeitraumes heraus, diese Begriffe sind eigentlich heute<br />

mehr oder weniger inhaltleer, sind zur Phrase geworden. Wer<br />

heute irgendeine Psychologie oder auch nur irgend etwas in die<br />

Hand nimmt, das mit Psychologiebegriffen zu tun hat, der wird<br />

finden, dass ein wirklicher Inhalt heute in solchen Schriftwerken<br />

nicht mehr drinnen ist. Man hat das Gefühl, dass die Psychologen<br />

nur mit Begriffen spielen. Wer entwickelt heute zum<br />

Beispiel einen richtigen deutlichen Begriff von dem, was Vorstellung,<br />

was Wille ist? Sie können heute Definition nach Definition<br />

aus Psychologien und Pädagogiken nehmen über Vorstellung,<br />

über Wille: eine eigentliche Vorstellung über die Vorstellung,<br />

eine eigentliche Vorstellung vom Willen werden Ihnen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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diese Definitionen nicht geben können. Man hat eben vollständig<br />

versäumt - natürlich aus einer äußeren geschichtlichen<br />

Notwendigkeit heraus, den einzelnen Menschen anzuschließen<br />

auch seelisch an das ganze Weltenall. Man war nicht imstande<br />

zu begreifen, wie das Seelische des Menschen in Zusammenhang<br />

steht mit dem ganzen Weltenall. Erst dann, wenn man den<br />

Zusammenhang des einzelnen Menschen mit dem ganzen Weltenall<br />

ins Auge fassen kann, ergibt sich ja eine Idee von der Wesenheit<br />

Mensch als solcher.<br />

Sehen wir einmal auf das, was man gewöhnlich die Vorstellung<br />

nennt. Wir müssen ja Vorstellen, Fühlen und Wollen bei den<br />

Kindern entwickeln. Also wir müssen zunächst für uns einen<br />

deutlichen Begriff gewinnen von dem, was Vorstellung ist. Wer<br />

wirklich unbefangen das anschaut, was als Vorstellung im Menschen<br />

lebt, dem wird wohl sogleich der Bildcharakter der Vorstellung<br />

auffallen: Vorstellung hat einen Bildcharakter. Und wer<br />

einen Seins-Charakter in der Vorstellung sucht, wer eine wirkliche<br />

Existenz in der Vorstellung sucht, der gibt sich einer großen<br />

Illusion hin. Was sollte für uns aber auch Vorstellung sein,<br />

wenn sie ein Sein wäre? Wir haben zweifellos auch Seins-<br />

Elemente in uns. Nehmen Sie nur unsere leiblichen Seins-<br />

Elemente, nehmen Sie nur das, was ich jetzt sage, ganz grob:<br />

zum Beispiel Ihre Augen, die Seins-Elemente sind, Ihre Nase,<br />

die ein Seins-Element ist, oder auch Ihren Magen, der ein Seins-<br />

Element ist. Sie werden sich sagen, in diesen Seins-Elementen<br />

leben Sie zwar, aber Sie können mit ihnen nicht vorstellen. Sie<br />

fließen mit Ihrem eigenen Wesen in die Seins-Elemente aus, Sie<br />

identifizieren sich mit den Seins-Elementen. Gerade das ergibt<br />

die Möglichkeit, dass wir mit den Vorstellungen etwas ergreifen,<br />

etwas erfassen können, dass sie Bildcharakter haben, dass<br />

sie nicht so mit uns zusammenfließen, dass wir in ihnen sind.<br />

Sie sind also eigentlich nicht, sie sind bloße Bilder. Es ist der<br />

große Fehler gerade im Ausgange der letzten Entwickelungsepoche<br />

der Menschheit in den letzten Jahrhunderten gemacht<br />

worden, das Sein mit dem Denken als solchem zu identifizieren.<br />

«Cogito, ergo sum» ist der größte Irrtum, der an die Spitze der<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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neueren Weltanschauung gestellt worden ist; denn in dem ganzen<br />

Umfange des «cogito» liegt nicht das «sum», sondern das<br />

«non sum». Das heißt, soweit meine Erkenntnis reicht, bin ich<br />

nicht, sondern ist nur Bild.<br />

Nun müssen Sie, wenn Sie den Bildcharakter des Vorstellens ins<br />

Auge fassen, ihn vor allem qualitativ ins Auge fassen. Sie müssen<br />

auf die Beweglichkeit des Vorstellens sehen, müssen sich gewissermaßen<br />

einen nicht ganz zutreffenden Begriff vom Tätigsein<br />

machen, was ja anklingen würde an das Sein. Aber wir müssen<br />

uns vorstellen, dass wir auch im gedanklichen Tätigsein nur eine<br />

bildhafte Tätigkeit haben. Also alles, was auch nur Bewegung<br />

ist im Vorstellen, ist Bewegung von Bildern. Aber Bilder müssen<br />

Bilder von etwas sein, können nicht Bilder bloß an sich sein.<br />

Wenn Sie reflektieren auf den Vergleich mit den Spiegelbildern,<br />

so können Sie sich sagen: Aus dem Spiegel heraus erscheinen<br />

zwar die Spiegelbilder, aber alles, was in den Spiegelbildern<br />

liegt, ist nicht hinter dem Spiegel, sondern ganz unabhängig von<br />

ihm irgend woanders vorhanden, und es ist für den Spiegel<br />

ziemlich gleichgültig, was sich in ihm spiegelt; es kann sich alles<br />

mögliche in ihm spiegeln. –<br />

Wenn wir genau in diesem Sinne von der vorstellenden Tätigkeit<br />

wissen, dass sie bildhaft ist, so handelt es sich darum, zu<br />

fragen: Wovon ist das Vorstellen Bild? Darüber gibt natürlich<br />

keine äußere Wissenschaft Auskunft; darüber kann nur anthroposophisch<br />

orientierte Wissenschaft Auskunft geben. Vorstellen<br />

ist Bild von all den Erlebnissen, die vorgeburtlich beziehungsweise<br />

vor der Empfängnis von uns erlebt sind. Sie kommen<br />

nicht anders zu einem wirklichen Begreifen des Vorstellens, als<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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wenn Sie sich darüber klar sind, dass Sie ein Leben vor der Geburt,<br />

vor der Empfängnis durchlebt haben. Und so wie die gewöhnlichen<br />

Spiegelbilder räumlich als Spiegelbilder entstehen,<br />

so spiegelt sich Ihr Leben zwischen Tod und neuer Geburt in<br />

dem jetzigen Leben drinnen, und diese Spiegelung ist das Vorstellen.<br />

Also Sie müssen sich geradezu vorstellen - wenn Sie es<br />

sich bildhaft vorstellen, Ihren Lebensgang verlaufend zwischen<br />

den beiden horizontalen Linien, begrenzt rechts und links<br />

durch Geburt und Tod. Sie müssen sich dann weiter vorstellen,<br />

dass fortwährend von jenseits der Geburt das Vorstellen hereinspielt<br />

und durch die menschliche Wesenheit selber zurückgeworfen<br />

wird. Und auf diese Weise, indem die Tätigkeit, die Sie<br />

vor der Geburt beziehungsweise der Empfängnis ausgeführt haben<br />

in der geistigen Welt, zurückgeworfen wird durch Ihre<br />

Leiblichkeit, dadurch erfahren Sie das Vorstellen. Für wirklich<br />

Erkennende ist einfach das Vorstellen selbst ein Beweis des vorgeburtlichen<br />

Daseins, weil es Bild dieses vorgeburtlichen Daseins<br />

ist.<br />

Ich wollte dies zunächst als Idee hinstellen - wir kommen auf<br />

die eigentlichen Erläuterungen der Dinge noch zurück - um Sie<br />

darauf aufmerksam zu machen, dass wir auf diese Weise aus den<br />

bloßen Worterklärungen, die Sie in den Psychologien und Pädagogiken<br />

finden, herauskommen und dass wir zu einem wirklichen<br />

Ergreifen dessen, was vorstellende Tätigkeit ist, kommen,<br />

indem wir wissen lernen, dass wir im Vorstellen die Tätigkeit<br />

gespiegelt haben, die vor der Geburt oder Empfängnis von der<br />

Seele in der rein geistigen Welt ausgeübt worden ist. Alles übrige<br />

Definieren des Vorstellens nützt gar nichts, weil man keine<br />

wirkliche Idee von dem bekommt, was das Vorstellen in uns ist.<br />

Nun wollen wir uns in derselben Art nach dem Willen fragen.<br />

Der Wille ist eigentlich für das gewöhnliche Bewusstsein etwas<br />

außerordentlich Rätselhaftes; er ist eine Crux der Psychologen,<br />

einfach aus dem Grunde, weil dem Psychologen der Wille<br />

entgegentritt als etwas sehr Reales, aber im Grunde genommen<br />

doch keinen rechten Inhalt hat. Denn wenn Sie bei den Psycho-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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logen nachsehen, welchen Inhalt sie dem Willen verleihen,<br />

dann werden Sie immer finden: solcher Inhalt rührt vom Vorstellen<br />

her. Für sich selber hat der Wille zunächst einen eigentlichen<br />

Inhalt nicht. Nun ist es wiederum so, dass keine Definitionen<br />

da sind für den Willen; diese Definitionen sind beim Willen<br />

umso schwieriger, weil er keinen rechten Inhalt hat. Was ist<br />

er aber eigentlich? Er ist nichts anderes, als schon der Keim in<br />

uns für das, was nach dem Tode in uns geistig-seelische Realität<br />

sein wird. Also wenn Sie sich vorstellen, was nach dem Tode<br />

geistig-seelische Realität von uns wird, und wenn Sie es sich<br />

keimhaft in uns vorstellen, dann bekommen Sie den Willen. In<br />

unserer Zeichnung endet der Lebenslauf auf der Seite des Todes,<br />

und der Wille geht darüber hinaus.<br />

Wir haben uns also vorzustellen: Vorstellung auf der einen Seite,<br />

die wir als Bild aufzufassen haben vom vorgeburtlichen Leben;<br />

Willen auf der anderen Seite, den wir als Keim aufzufassen<br />

haben für späteres. Ich bitte, den Unterschied zwischen Keim<br />

und Bild recht ins Auge zu fassen. Denn ein Keim ist etwas<br />

Überreales, ein Bild ist etwas Unterreales; ein Keim wird später<br />

erst zu einem Realen, trägt also der Anlage nach das spätere<br />

Reale in sich, so dass der Wille in der Tat sehr geistiger Natur<br />

ist. Das hat Schopenhauer geahnt; aber er konnte natürlich<br />

nicht bis zu der Erkenntnis vordringen, dass der Wille der Keim<br />

des Geistig-Seelischen ist, wie dieses Geistig-Seelische sich nach<br />

dem Tode in der geistigen Welt entfaltet.<br />

Nun haben Sie in einer gewissen Weise das menschliche Seelenleben<br />

in zwei Gebiete zerteilt: in das bildhafte Vorstellen und in<br />

den keimhaften Willen; und zwischen Bild und Keim liegt eine<br />

Grenze. Diese Grenze ist das ganze Ausleben des physischen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Menschen selbst, der das Vorgeburtliche zurückwirft, dadurch<br />

die Bilder der Vorstellung erzeugt, und der den Willen nicht<br />

sieh ausleben lässt und dadurch ihn fortwährend als Keim erhält,<br />

bloß Keim sein lässt. Durch welche Kräfte, so müssen wir<br />

fragen, geschieht denn das eigentlich?<br />

Wir müssen uns klar sein, dass im Menschen gewisse Kräfte<br />

vorhanden sein müssen, durch welche die Zurückwerfung der<br />

vorgeburtlichen Realität und das Im-Keime-Behalten der nachtodlichen<br />

Realität bewirkt wird; und hier kommen wir auf die<br />

wichtigsten psychologischen Begriffe von den Tatsachen, die<br />

Spiegelung desjenigen sind, was Sie aus dem Buche «Theosophie»<br />

schon kennen: Spiegelungen von Antipathie und Sympathie.<br />

Wir werden - und jetzt knüpfen wir an das im ersten Vortrage<br />

Gesagte an -, weil wir nicht mehr in der geistigen Welt<br />

bleiben können, herunterversetzt in die physische Welt.<br />

Wir entwickeln, indem wir in diese herunterversetzt werden,<br />

gegen alles, was geistig ist, Antipathie, so dass wir die geistige<br />

vorgeburtliche Realität zurückstrahlen in einer uns unbewussten<br />

Antipathie. Wir tragen die Kraft der Antipathie in uns und<br />

verwandeln durch sie das vorgeburtliche Element in ein bloßes<br />

Vorstellungsbild. Und mit demjenigen, was als Willensrealität<br />

nach dem Tode hinausstrahlt zu unserem Dasein, verbinden wir<br />

uns in Sympathie. Dieser zwei, der Sympathie und der Antipathie,<br />

werden wir uns nicht unmittelbar bewusst, aber sie leben<br />

in uns unbewusst und sie bedeuten unser Fühlen, das fortwährend<br />

aus einem Rhythmus, aus einem Wechselspiel zwischen<br />

Sympathie und Antipathie sich zusammensetzt.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Wir entwickeln in uns die Gefühlswelt, die ein fortwährendes<br />

Wechselspiel - Systole, Diastole - zwischen Sympathie und Antipathie<br />

ist. Dieses Wechselspiel ist fortwährend in uns. Die Antipathie,<br />

die nach der einen Seite geht, verwandelt fortwährend<br />

unser Seelenleben in ein vorstellendes; die Sympathie, die nach<br />

der anderen Seite geht, verwandelt uns das Seelenleben in las,<br />

was wir als unseren Tatwillen kennen, in das Keimhafthalten<br />

dessen, was nach dem Tode geistige Realität ist. Hier kommen<br />

Sie zum realen Verstehen des geistig-seelischen Lebens: wir<br />

schaffen den Keim des seelischen Lebens als einen Rhythmus<br />

von Sympathie und Antipathie.<br />

Was strahlen Sie nun in der Antipathie zurück? Sie strahlen Das<br />

ganze Leben, das Sie durchlebt, die ganze Welt, die Sie vor der<br />

Geburt beziehungsweise vor der Empfängnis durchlebt haben,<br />

zurück.<br />

Das hat im wesentlichen einen erkennenden Charakter. Also<br />

Ihre Erkenntnis verdanken Sie eigentlich dem Hereinschauen,<br />

dem Hereinstrahlen Ihres vorgeburtlichen Lebens.<br />

Und dieses Erkennen, das in weit höherem Maße vorhanden ist,<br />

als Realität vorhanden ist vor der Geburt oder der Empfängnis,<br />

wird abgeschwächt zum Bilde durch die Antipathie. Daher<br />

können wir sagen: Dieses Erkennen begegnet der Antipathie<br />

und wird dadurch abgeschwächt zum Vorstellungsbild.<br />

Wenn die Antipathie nun genügend stark wird, dann tritt etwas<br />

ganz Besonderes ein. Denn wir könnten auch im gewöhnlichen<br />

Leben nach der Geburt nicht vorstellen, wenn wir es nicht doch<br />

auch mit derselben Kraft in gewissem Sinn täten, die uns geblieben<br />

ist aus der Zeit vor der Geburt. Wenn Sie heute als physische<br />

Menschen vorstellen, so stellen Sie nicht mit einer Kraft<br />

vor, die in Ihnen ist, sondern mit der Kraft aus der Zeit vor der<br />

Geburt, die noch in Ihnen nachwirkt. Man meint vielleicht, die<br />

habe aufgehört mit der Empfängnis, aber sie ist noch immer tätig,<br />

und wir stellen vor mit dieser Kraft, die noch immer in uns<br />

hereinstrahlt. Sie haben das Lebendige vom Vorgeburtlichen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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fortwährend in sich, nur haben Sie die Kraft in sich, es zurückzustrahlen.<br />

Die begegnet Ihrer Antipathie. Wenn Sie nun jetzt<br />

vorstellen, so begegnet jedes solche Vorstellen der Antipathie,<br />

und wird die Antipathie genügend stark, so entsteht das Erinnerungsbild,<br />

das Gedächtnis, so dass das Gedächtnis nichts anderes<br />

ist als ein Ergebnis der in uns waltenden Antipathie. Hier haben<br />

Sie den Zusammenhang zwischen dem rein Gefühlsmäßigen<br />

noch der Antipathie, die unbestimmt noch zurückstrahlt, und<br />

dem bestimmten Zurückstrahlen, dem Zurückstrahlen der jetzt<br />

noch bildhaft ausgeübten Wahrnehmungstätigkeit im Gedächtnis.<br />

Das Gedächtnis ist nur gesteigerte Antipathie. Sie könnten<br />

kein Gedächtnis haben, wenn Sie zu Ihren Vorstellungen so<br />

große Sympathie hätten, dass Sie sie «verschlucken» würden; Sie<br />

haben Gedächtnis nur dadurch, dass Sie eine Art Ekel haben vor<br />

den Vorstellungen, sie zurückwerfen - und dadurch sie präsent<br />

machen. Das ist ihre Realität.<br />

Wenn Sie diese ganze Prozedur durchgemacht haben, wenn Sie<br />

bildhaft vorgestellt haben, dies zurückgeworfen haben im Gedächtnis<br />

und das Bildhafte festhalten, dann entsteht der Begriff.<br />

Auf diese Weise haben Sie die eine Seite der Seelentätigkeit, die<br />

Antipathie, die zusammenhängt mit unserem vorgeburtlichen<br />

Leben.<br />

Jetzt nehmen wir die andere Seite, die des Wollens, was Keimhaftes,<br />

Nachtodliches in uns ist. Das Wollen lebt in uns, weil<br />

wir mit ihm Sympathie haben, weil wir mit diesem Keim, der<br />

nach dem Tode sich erst entwickelt, Sympathie haben. Ebenso<br />

wie das Vorstellen auf Antipathie beruht, so beruht das Wollen<br />

auf Sympathie. Wird nun die Sympathie genügend stark - wie es<br />

bei der Vorstellung war, die durch Antipathie zum Gedächtnis<br />

wird, dann entsteht aus Sympathie die Phantasie. Genau ebenso<br />

wie aus der Antipathie das Gedächtnis entsteht, so entsteht aus<br />

Sympathie die Phantasie. Und bekommen Sie die Phantasie genügend<br />

stark, was beim gewöhnlichen Leben nur unbewusst<br />

geschieht, wird sie so stark, dass sie wieder Ihren ganzen Menschen<br />

durchdringt bis in die Sinne, dann bekommen Sie die ge-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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wöhnlichen Imaginationen, durch die Sie die äußeren Dinge<br />

vorstellen. Wie der Begriff aus dem Gedächtnis, so geht aus der<br />

Phantasie die Imagination hervor, welche die sinnlichen Anschauungen<br />

liefert. Die gehen aus dem Willen hervor.<br />

Es ist der große Irrtum, dem sich die Menschen hingeben, dass<br />

sie fortwährend in der Psychologie erzählen: Wir schauen die<br />

Dinge an, dann abstrahieren wir und bekommen so die Vorstellung.<br />

Das ist nicht der Fall. Dass wir zum Beispiel die Kreide<br />

weiß empfinden, das ist hervorgegangen aus der Anwendung<br />

des Willens, der über die Sympathie und Phantasie zur Imagination<br />

wird. Wenn wir uns dagegen einen Begriff bilden, so hat<br />

dieser einen ganz anderen Ursprung, denn der Begriff geht aus<br />

dem Gedächtnis hervor.<br />

Damit habe ich Ihnen das Seelische geschildert. Sie können unmöglich<br />

das Menschenwesen erfassen, wenn Sie nicht den Unterschied<br />

ergreifen zwischen dem sympathischen und antipathischen<br />

Element im Menschen. Diese, das sympathische und das<br />

antipathische Element, kommen zum Ausdruck an sich - wie<br />

ich es geschildert habe - in der Seelenwelt nach dem Tode. Dort<br />

herrscht unverhüllt Sympathie und Antipathie.<br />

Alles Seelische drückt sich aus, offenbart sich im Leiblichen, so<br />

dass sich auf der einen Seite alles das im Leiblichen offenbart,<br />

was sich ausdrückt in Antipathie, Gedächtnis und Begriff. Das<br />

ist gebunden an die Leibesorganisation der Nerven. Indem die<br />

Nervenorganisationen gebildet werden im Leibe, wirkt darin für<br />

den menschlichen Leib alles Vorgeburtliche. Das seelisch Vorgeburtliche<br />

wirkt durch Antipathie, Gedächtnis und Begriff<br />

herein in den menschlichen Leib und schafft sich die Nerven.<br />

Das ist der richtige Begriff der Nerven. Alles Reden von einer<br />

Unterscheidung der Nerven in sensitive und motorische ist, wie<br />

ich Ihnen schon öfter auseinandergesetzt habe, nur ein Unsinn.<br />

Und ebenso wirkt Wollen, Sympathie, Phantasie und Imagination<br />

in gewisser Beziehung wieder aus dem Menschen heraus.<br />

Das ist an das Keimhafte gebunden, das muss im Keimhaften<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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bleiben, darf daher eigentlich nie zu einem wirklichen Abschluss<br />

kommen, sondern muss im Entstehen schon wieder vergehen.<br />

Es muss im Keime bleiben, es darf der Keim in der Entwickelung<br />

nicht zu weit gehen; daher muss es im Entstehen<br />

vergehen. Hier kommen wir zu etwas sehr Wichtigem im Menschen.<br />

Sie müssen den ganzen Menschen verstehen lernen: geistig,<br />

seelisch und leiblich. Nun wird im Menschen fortwährend<br />

etwas gebildet, das immer die Tendenz hat, geistig zu werden.<br />

Aber weil man es in großer Liebe, allerdings in egoistischer Liebe,<br />

im Leibe festhalten will, kann es nie geistig werden; es zerrinnt<br />

in seiner Leiblichkeit. Wir haben etwas in uns, was materiell<br />

ist, aber aus dem materiellen Zustand fortwährend in einen<br />

geistigen Zustand übergehen will. Wir lassen es nicht geistig<br />

werden; daher vernichten wir es in dem Moment, wo es geistig<br />

werden will. Es ist das Blut - das Gegenteil der Nerven.<br />

Das Blut ist wirklich ein „ganz besonderer Saft“, denn es ist derjenige<br />

Saft, welcher, wenn wir ihn aus dem menschlichen Leib<br />

entfernen könnten – was innerhalb der irdischen Bedingungen<br />

nicht geht – so dass er noch Blut bliebe und durch die anderen<br />

Agenzien nicht vernichtet würde, als Geist aufwirbeln würde.<br />

Damit nicht das Blut als Geist aufwirble, damit wir es so lange,<br />

als wir auf der Erde sind, in uns behalten können, deshalb muss<br />

es vernichtet werden. Daher haben wir immerwährend in uns:<br />

Bildung des Bluts, Vernichtung des Bluts usw. durch Einatmung<br />

und Ausatmung.<br />

Wir haben einen polarischen Prozess in uns. Wir haben diejenigen<br />

Prozesse in uns, die längs des Blutes, der Blutbahnen laufen,<br />

die fortwährend die Tendenz haben, unser Dasein ins Geistige<br />

hinauszuleiten. Von motorischen Nerven so zu reden, wie dies<br />

üblich geworden ist, ist ein Unsinn, weil die motorischen Ner-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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ven eigentlich die Blutbahnen wären. Im Gegensatz Jun Blut<br />

sind alle Nerven so veranlagt, dass sie fortwährend Absterben,<br />

im Materiellwerden begriffen sind. Was längs Nervenbahnen<br />

liegt, das ist eigentlich ausgeschiedene Materie; der Nerv ist eigentlich<br />

abgesonderte Materie. Das Blut will immer geistiger<br />

werden, der Nerv immer materieller; darin besteht der polarische<br />

Gegensatz.<br />

Wir werden in den späteren Vorträgen diese hiermit gegebenen<br />

Grundprinzipien weiter verfolgen und werden sehen, wie ihre<br />

Verfolgung uns wirklich das geben kann, was uns auch in bezug<br />

auf die hygienische Gestaltung des Unterrichtes dienlich sein<br />

wird, damit wir das Kind zur seelischen und leiblichen Gesundheit<br />

heranerziehen und nicht zur geistigen und seelischen Dekadenz.<br />

Es wird deshalb so viel misserzogen, weil so vieles nicht<br />

erkannt wird. So sehr die Physiologie glaubt, etwas zu haben,<br />

indem sie von sensitiven und motorischen Nerven spricht, so<br />

hat sie darin doch nur ein Spiel mit Worten. Von motorischen<br />

Nerven wird gesprochen, weil die Tatsache besteht, dass der<br />

Mensch nicht gehen kann, wenn gewisse Nerven beschädigt<br />

sind, zum Beispiel die, welche nach den Beinen gehen. Man<br />

sagt, er könne das nicht, weil er die Nerven gelähmt hat, die als<br />

«motorische» die Beine in Bewegung setzen. In Wahrheit ist es<br />

so, dass man in einem solchen Fall nicht gehen kann, weil man<br />

die eigenen Beine nicht wahrnehmen kann. Dieses Zeitalter, in<br />

dem wir leben, hat sich eben notwendigerweise in eine Summe<br />

von Irrtümern verstricken müssen, damit wir wieder die Möglichkeit<br />

haben, uns aus diesen Irrtümern herauszuwinden, selbständig<br />

als Menschen zu werden.<br />

Nun merken Sie schon an dem, was ich jetzt hier entwickelt habe,<br />

dass eigentlich das Menschenwesen nur begriffen werden<br />

kann im Zusammenhange mit dem Kosmischen. Denn indem<br />

wir vorstellen, haben wir das Kosmische in uns. Wir waren im<br />

Kosmischen, ehe wir geboren wurden, und unser damaliges Erleben<br />

spiegelt sich jetzt in uns; und wir werden wieder im Kosmischen<br />

sein, wenn wir die Todespforte durchschritten haben<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

werden, und unser künftiges Leben drückt sich keimhaft aus in<br />

dem, was in unserem Willen waltet. Was in uns unbewusst waltet,<br />

das waltet sehr bewusst für das höhere Erkennen im Kosmos.<br />

Wir haben allerdings selbst in der leiblichen Offenbarung einen<br />

dreifachen Ausdruck dieser Sympathie und Antipathie. Gewissermaßen<br />

drei Herde haben wir, wo Sympathie und Antipathie<br />

ineinanderspielen. Zunächst haben wir in unserem Kopf einen<br />

solchen Herd, im Zusammenwirken von Blut und Nerven, wodurch<br />

das Gedächtnis entsteht. Überall, wo die Nerventätigkeit<br />

unterbrochen ist, überall, wo ein Sprung ist, da ist ein solcher<br />

Herd, wo Sympathie und Antipathie ineinanderspielen.<br />

Ein weiterer solcher Sprung findet sich im Rückenmark, zum<br />

Beispiel wenn ein Nerv nach dem hinteren Stachel des Rückenwirbels<br />

hingeht, ein anderer Nerv von dem vorderen Stachel<br />

ausgeht. Dann ist wieder ein solcher Sprung in den Ganglienhäufchen,<br />

die in die sympathischen Nerven eingebettet sind.<br />

Wir sind gar nicht so unkomplizierte Wesen, wie es scheinen<br />

mag. An drei Stellen unseres Organismus, im Kopf, in der Brust<br />

und im Unterleib spielt das hinein, da sind Grenzen, an denen<br />

Antipathie und Sympathie sich begegnen. Es ist mit Wahrnehmen<br />

und Wollen nicht so, dass sich etwas umleitet von einem<br />

sensitiven Nerven zu einem motorischen, sondern ein gerader<br />

Strom springt über von einem Nerven auf den anderen, und dadurch<br />

wird in uns das Seelische berührt: in Gehirn und Rückenmark.<br />

An diesen Stellen, wo die Nerven unterbrochen sind,<br />

sind wir eingeschaltet mit unserer Sympathie und Antipathie in<br />

das Leibliche; und dann sind wir wieder eingeschaltet, wo die<br />

Ganglienhäufchen sich entwickeln im sympathischen Nervensystem.<br />

Wir sind mit unserem Erleben in den Kosmos eingeschaltet.<br />

Ebenso wie wir Tätigkeiten entwickeln, die im Kosmos weiter<br />

zu verfolgen sind, so entwickelt wieder mit uns der Kosmos<br />

fortwährend Tätigkeiten, denn er entwickelt fortwährend die<br />

Tätigkeit von Antipathie und Sympathie. Wenn wir uns als<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Menschen betrachten, so sind wir wieder selbst ein Ergebnis<br />

von Sympathien und Antipathien des Kosmos. Wir entwickeln<br />

Antipathie von uns aus: der Kosmos entwickelt mit uns Antipathie;<br />

wir entwickeln Sympathie: der Kosmos entwickelt mit uns<br />

Sympathie.<br />

Nun sind wir ja als Menschen, indem wir uns äußerlich offenbaren,<br />

deutlich gegliedert in das Kopfsystem, in das Brust-System<br />

und in das eigentliche Leibessystem mit den Gliedmaßen. Nun<br />

bitte ich aber zu berücksichtigen, dass diese Einteilung in gegliederte<br />

Systeme sehr leicht angefochten werden kann, weil die<br />

Menschen, wenn sie heute systematisieren, die einzelnen Glieder<br />

hübsch nebeneinander haben wollen. Wenn man also sagt:<br />

Man unterscheidet am Menschen ein KopfSystem, ein Brustsystem<br />

und ein Unterleibssystem mit den Gliedmaßen, dann muss<br />

nach Ansicht der Menschen jedes System eine strenge Grenze<br />

haben. Die Menschen wollen Linien ziehen, wenn sie einteilen,<br />

und das kann man nicht, wenn man von Realitäten spricht. Wir<br />

sind im Kopf hauptsächlich Kopf, aber der ganze Mensch ist<br />

Kopf, nur ist das andere nicht hauptsächlich Kopf. Denn wie wir<br />

im Kopfe die eigentlichen Sinneswerkzeuge haben, so haben wir<br />

über den ganzen Leib ausgebildet zum Beispiel den Tastsinn und<br />

den Wärmesinn; indem wir daher Wärme empfinden, sind wir<br />

ganz Kopf. Wir sind nur im Kopfe hauptsächlich Kopf, sonst<br />

sind wir «nebenbei» Kopf. So gehen also die Teile ineinander,<br />

und wir haben es nicht so bequem mit den Gliedern, wie es die<br />

Pedanten haben möchten. Der Kopf setzt sich also fort; er ist<br />

nur im Kopfe besonders ausgebildet. Ebenso ist es mit der Brust.<br />

Brust ist die eigentliche Brust, ab er nur hauptsächlich, denn der<br />

ganze Mensch ist wiederum Brust. Also auch der Kopf ist etwas<br />

Brust und auch der Unterleib mit den Gliedmaßen. Die Glieder<br />

gehen also ineinander über. Und ebenso ist es mit dem Unterleib.<br />

Dass der Kopf Unterleib ist, haben einige Physiologen bemerkt,<br />

denn die sehr feine Ausbildung des Kopf-Nervensystems<br />

liegt eigentlich nicht in dem, was unser Stolz ist, im Gehirn, in<br />

der äußeren Hirnrinde, sondern die liegt unter der äußeren<br />

Hirnrinde. Ja, der kunstvollere Bau, die äußere Hirnrinde, ist<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

gewissermaßen schon eine Rückbildung; da ist der komplizierte<br />

Bau schon in Rückbildung begriffen; es ist vielmehr schon ein<br />

Ernährungssystem im Gehirnmantel vorliegend. So dass der<br />

Mensch, wenn man das so vergleichsweise ausdrücken will, sich<br />

auf seinen Gehirnmantel gar nichts Besonderes einzubilden<br />

braucht; der ist ein Zurückgehen des komplizierteren Gehirns in<br />

ein mehr ernährendes Gehirn. Wir haben den Gehirnmantel<br />

mit dazu, dass die Nerven, die mit dem Erkennen zusammenhängen,<br />

ordentlich mit Nahrung versorgt werden. Und dass wir<br />

das über das tierische Gehirn hinausgehende bessere Gehirn haben,<br />

das ist nur aus dem Grunde, weil wir die Gehirnnerven<br />

besser ernähren. Nur dadurch haben wir die Möglichkeit, unser<br />

höheres Erkennen zu entfalten, dass wir die Gehirnnerven besser<br />

ernähren, als die Tiere es können. Aber mit dem eigentlichen<br />

Erkennen hat das Gehirn und das Nervensystem überhaupt<br />

nichts zu tun, sondern nur mit dem Ausdruck des Erkennens<br />

im physischen Organismus.<br />

Nun fragt es sich: Warum haben wir den Gegensatz zwischen<br />

Kopfsystem - lassen wir zunächst das mittlere System unberücksichtigt<br />

- und dem polarischen Gliedmaßensystem mit dem Unterleibssystem?<br />

Wir haben ihn, weil das Kopfsystem in einem<br />

bestimmten Zeitpunkte „ausgeatmet“ wird durch den Kosmos.<br />

Der Mensch hat durch die Antipathie des Kosmos seine Hauptesbildung.<br />

Wenn dem Kosmos sozusagen gegenüber dem, was<br />

der Mensch in sich trägt, so stark „ekelt“, dass er es ausstößt, so<br />

entsteht dieses Abbild. Im Kopfe trägt wirklich der Mensch das<br />

Abbild des Kosmos in sich. Das rund geformte menschliche<br />

Haupt ist ein solches Abbild. Durch eine Antipathie des Kosmos<br />

schafft der Kosmos ein Bild von sich außerhalb seiner. Das ist<br />

unser Haupt. Wir können uns unseres Hauptes als eines Organs<br />

zu unserer Freiheit deshalb bedienen, weil der Kosmos dieses<br />

Haupt zuerst von sich ausgestoßen hat. Wir betrachten das<br />

Haupt nicht richtig, wenn wir es etwa in demselben Sinne intensiv<br />

eingegliedert denken in den Kosmos wie unser Gliedmaßensystem,<br />

mit dem die Sexualsphäre ja zusammengehört. Unser<br />

Gliedmaßensystem ist in den Kosmos eingegliedert, und der<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Kosmos zeiht es an, hat mit ihm Sympathie, wie er dem Haupt<br />

gegenüber Antipathie hat. Im Haupte begegnet unsere Antipathie<br />

der Antipathie des Kosmos, die stoßen dort zusammen. Da,<br />

in dem Aufeinanderprallen unserer Antipathien mit denen des<br />

Kosmos, entstehen unsere Wahrnehmungen. Alles Innenleben,<br />

das auf der anderen Seite des Menschen entsteht, rührt her von<br />

dem liebevollen sympathischen Umschlingen unseres Gliedmaßensystems<br />

durch den Kosmos.<br />

So drückt sich in der menschlichen Leibesgestalt aus, wie der<br />

Mensch auch seelisch aus dem Kosmos heraus gebildet ist und<br />

was er in seiner Trennung wiederum aufnimmt aus dem Kosmos<br />

heraus. Sie werden daher auf Grundlage solcher Betrachtungen<br />

leichter einsehen, dass ein großer Unterschied ist zwischen der<br />

Willensbildung und der Vorstellungsbildung. Wirken Sie besonders<br />

auf die Vorstellungsbildung, wirken Sie einseitig auf die<br />

Vorstellungsbildung, so weisen Sie eigentlich den ganzen Menschen<br />

auf das Vorgeburtliche zurück, und Sie werden ihm schaden,<br />

wenn Sie ihn rationalistisch erziehen, weil Sie dann seinen<br />

Willen einspannen in das, was er eigentlich schon absolviert<br />

hat: in das Vorgeburtliche. Sie dürfen nicht zuviel abstrakte Begriffe<br />

in das einmischen, was Sie in der Erziehung an das Kind<br />

heranbringen. Sie müssen mehr Bilder darin einmischen. Warum?<br />

Das können Sie an unserer Zusammenstellung ablesen.<br />

Bilder sind Imaginationen, gehen durch die Phantasie und Sympathie.<br />

Begriffe, abstrakte Begriffe, sind Abstraktionen, gehen<br />

durch das Gedächtnis und durch die Antipathie, kommen vom<br />

vorgeburtlichen Leben. Wenn Sie also beim Kinde viele Abstraktionen<br />

anwenden, werden Sie fördern, dass das Kind sich<br />

besonders intensiv verlegen muss auf den Prozess des Kohlensäurewerdens,<br />

Kohlensäurebildens im Blute, auf den Prozess der<br />

Leibesverhärtung, des Absterbens. Wenn Sie dem Kinde möglichst<br />

viele Imaginationen beibringen, wenn Sie es möglichst so<br />

ausbilden, dass Sie in Bildern zu ihm sprechen, dann legen Sie in<br />

das Kind den Keim zum fortwährenden Sauerstoffbewahren,<br />

zum fortwährenden Werden, weil Sie es auf die Zukunft, auf<br />

das Nachtodliche hinweisen. Wir nehmen gewissermaßen, in-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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dem wir erziehen, die Tätigkeiten, die vor der Geburt mit uns<br />

Menschen ausgeübt werden, wieder auf. Wir müssen uns heute<br />

gestehen: Vorstellen ist eine Bildtätigkeit, die herrührt von dem,<br />

was wir vor der Geburt oder Empfängnis erlebt haben. Da ist<br />

mit uns von den geistigen Mächten so verfahren worden, dass<br />

Bildtätigkeit in uns gelegt wurde, die in uns nachwirkt noch<br />

nach der Geburt. Indem wir den Kindern Bilder überliefern,<br />

fangen wir im Erziehen damit an, diese kosmische Tätigkeit<br />

wieder aufzunehmen. Wir verpflanzen in sie Bilder, die zu<br />

Keimen werden können, weil wir sie hineinlegen in eine Leibestätigkeit.<br />

Wir müssen daher, indem wir uns als Pädagogen die Fähigkeit<br />

aneignen, in Bildern zu wirken. das fortwährende Gefühl haben:<br />

du wirkst auf den ganzen Menschen, eine Resonanz des<br />

ganzen Menschen ist da, wenn du in Bildern wirkst.<br />

Dieses in das eigene Gefühl aufnehmen, dass man in aller Erziehung<br />

eine Art Fortsetzung der vorgeburtlichen übersinnlichen<br />

Tätigkeit bewirkt, dies gibt allem Erziehen die nötige Weihe,<br />

und ohne diese Weihe kann man überhaupt nicht erziehen.<br />

So haben wir uns zwei Begriffssysteme angeeignet: Erkennen,<br />

Antipathie, Gedächtnis, Begriff - Wollen, Sympathie, Phantasie,<br />

Imagination; zwei Systeme, die uns dann im speziellen Anwenden<br />

für alles dienen können, was wir praktisch auszuüben haben<br />

in unserer pädagogischen Tätigkeit. Davon wollen wir dann<br />

morgen weitersprechen.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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DRITTER VORTRAG<br />

23. AUGUST 1919, STUTTGART<br />

Der gegenwärtige Lehrer müsste im Hintergrunde von allem,<br />

was er schulmäßig unternimmt, eine umfassende Anschauung<br />

über die Gesetze des Weltenalls haben. Es ist ja selbstverständlich,<br />

dass gerade der Unterricht in den unteren Klassen, in den<br />

unteren Stufen der Schule, einen Zusammenhang der Seele des<br />

Lehrenden mit den höchsten Ideen der Menschheit fordert. Ein<br />

Krebsschaden der bisherigen Schulkonstitution besteht wohl<br />

darin, dass man den Lehrer der unteren Schulstufen in einer<br />

gewissen, ich möchte sagen, Abhängigkeit gehalten hat, namentlich<br />

dass man ihn in einer Sphäre gehalten hat, wodurch<br />

seine Existenz minderwertiger schien als die Existenz der Lehrer<br />

der höheren Schulstufen. Es obliegt mir hier natürlich nicht,<br />

über diese allgemeine Frage des geistigen Gliedes des sozialen<br />

Organismus zu sprechen. Aber darauf muss doch aufmerksam<br />

gemacht werden, dass in der Zukunft alles, was zur Lehrerschaft<br />

gehört, einander ebenbürtig sein muss, und dass man ein starkes<br />

Gefühl in der Öffentlichkeit dafür wird haben müssen, dass der<br />

Lehrer der unteren Schulstufen durchaus gleichwertig ist, auch<br />

in bezug auf seine geistige Konstitution, dem Lehrer höherer<br />

Schulstufen. Daher wird es Sie nicht verwundern, wenn wir<br />

heute gerade darauf hinweisen, wie im Hintergrunde alles<br />

Unterrichtens - auch auf den untersten Schulstufen - dasjenige<br />

stehen muss, was man natürlich unmittelbar den Kindern gegenüber<br />

nicht verwenden kann, was man aber als Lehrer unbedingt<br />

wissen muss, denn sonst würde der Unterricht nicht ersprießlich<br />

sein können.<br />

Wir bringen im Unterricht an das Kind heran auf der einen Seite<br />

die Naturwelt, auf der anderen Seite die geistige Welt. Wir<br />

sind als Menschen durchaus auf der einen Seite verwandt der<br />

Naturwelt, auf der anderen Seite verwandt der geistigen Welt,<br />

insofern wir eben Menschen hier auf der Erde, auf dem physi-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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schen Plane sind und unser Dasein zwischen Geburt und Tod<br />

vollenden.<br />

Nun ist eben die Psychologie-Erkenntnis durchaus etwas, was in<br />

unserer zeit außerordentlich schwach ausgebildet ist. Namentlich<br />

leidet die psychologische Erkenntnis unter der Nachwirkung<br />

jener kirchlichen dogmatischen Feststellung, die im Jahre<br />

869 gefallen ist und in der eine ältere, auf einer instinktiven Erkenntnis<br />

beruhende Einsicht verdunkelt worden ist: die Einsicht,<br />

dass der Mensch gegliedert ist in Leib, Seele und Geist. Sie<br />

können ja fast überall, wo Sie heute von Psychologie reden hören,<br />

von einer bloßen Zweigliederung des Menschenwesens reden<br />

hören. Sie können davon reden hören, der Mensch bestehe<br />

aus Leib und Seele oder aus Körper und Geist, wie man es dann<br />

nennen will; man betrachtet dann Körper und Leib und ebenso<br />

auch Geist und Seele als ziemlich gleichbedeutend. Fast alle<br />

Psychologien sind auf diesem Irrtum der Zweigliederung des<br />

menschlichen Wesens aufgebaut. Man kann gar nicht zu einer<br />

wirklichen Einsicht in die menschliche Wesenheit kommen,<br />

wenn man sich nur dieser Zweigliederung als einem durchgreifend<br />

Gültigen zuwendet. Daher ist im Grunde genommen fast<br />

alles, was heute als Psychologie auftaucht, durchaus dilettantisch,<br />

manchmal auch nur ein Spiel mit Worten.<br />

Das aber beruht ja im allgemeinen auf jenem großen Irrtum, der<br />

erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so groß geworden<br />

ist, weil misskannt worden ist eine eigentlich große Errungenschaft,<br />

welche die physikalische Wissenschaft zu verzeichnen<br />

hatte. Sie wissen ja, dass die braven Heilbronner dem Manne<br />

inmitten ihrer Stadt ein Denkmal aufgerichtet haben, den sie<br />

zur zeit seines Lebens ins Irrenhaus gesperrt haben: Julius Robert<br />

Mayer. Und Sie wissen, dass diese Persönlichkeit, auf die<br />

heute selbstverständlich die Heilbronner sehr stolz sind, verknüpft<br />

ist mit dem sogenannten Gesetz von der Erhaltung der<br />

Energie oder der Kraft. Dieses Gesetz besagt ja, dass die Summe<br />

aller im Weltenall vorhandenen Energien oder Kräfte eine konstante<br />

ist, dass sich diese Kräfte nur umwandeln, so dass etwa<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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eine Kraft einmal als Wärme, ein andermal als mechanische<br />

Kraft erscheint und dergleichen. In diese Form kleidet man aber<br />

das Gesetz von Julius Robert Mayer nur dann, wenn man ihn<br />

gründlich missversteht! Denn ihm war es zu tun um die Aufdeckung<br />

der Metamorphose der Kräfte, nicht aber um die Aufstellung<br />

eines so abstrakten Gesetzes, wie es das von der Erhaltung<br />

der Energie ist.<br />

Was ist, in einem großen Zusammenhange angesehen, kulturgeschichtlich<br />

dieses Gesetz von der Erhaltung der Energie oder<br />

der Kraft? Es ist das große Hindernis, den Menschen überhaupt<br />

zu verstehen. Sobald man nämlich meint, dass niemals Kräfte<br />

wirklich neu gebildet werden, wird man nicht zu einer Erkenntnis<br />

des wahren Wesens des Menschen gelangen können.<br />

Denn dieses wahre Wesen des Menschen beruht gerade darin,<br />

dass fortwährend durch ihn neue Kräfte gebildet werden. Allerdings<br />

in dem Zusammenhange, in dem wir in der Welt leben, ist<br />

der Mensch das einzige Wesen, in welchem neue Kräfte und -<br />

wie wir später noch hören werden - sogar neue Stoffe gebildet<br />

werden. Aber da die heutige Weltanschauung überhaupt nicht<br />

solche Elemente in sich aufnehmen will, durch welche auch der<br />

Mensch voll erkannt werden kann, so kommt sie dann mit diesem<br />

Gesetz von der Erhaltung der Kraft, das ja in einem gewissen<br />

Sinne nicht stört, wenn man nur die anderen Reiche der Natur<br />

- das Mineralreich, das Pflanzenreich und das Tierreich - ins<br />

Auge fasst, das aber sofort alles von wirklicher Erkenntnis auslöscht,<br />

wenn man an den Menschen herankommen will.<br />

Sie werden als Lehrer die Notwendigkeit haben, auf der einen<br />

Seite Ihren Schülern die Natur verständlich zu machen, auf der<br />

anderen Seite sie hinzuführen zu einer gewissen Auffassung des<br />

geistigen Lebens. Ohne mit der Natur bekannt zu sein, wenigstens<br />

in einem gewissen Grade, und ohne ein Verhältnis zum<br />

geistigen Leben zu haben, kann sich heute der Mensch auch<br />

nicht in das soziale Leben hineinstellen. Wenden wir daher zunächst<br />

einmal unseren Blick der äußeren Natur zu.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Die äußere Natur wendet sich an uns so, dass gegenübersteht<br />

dieser äußeren Natur auf der einen Seite unser Vorstellungs-,<br />

Gedankenleben, das, wie Sie wissen, bildhafter Natur ist, das<br />

eine Art Spiegelung des vorgeburtlichen Lebens ist, und dass auf<br />

der anderen Seite sich der Natur zuwendet alles dasjenige, was<br />

willensartiger Natur ist, was als Keim hinweist auf unser nachtodliches<br />

Leben. In dieser Weise sind wir immer auf die Natur<br />

hingelenkt. Das scheint ja allerdings zunächst eine Hinordnung<br />

auf die Natur in zwei Gliedern zu sein, und sie hat auch hervorgerufen<br />

den Irrtum von der Zweigliederung des Menschen. Wir<br />

werden auf diese Sache noch zurückkommen.<br />

Wenn wir der Natur so gegenüberstehen, dass wir ihr unsere<br />

Denkseite, unsere Vorstellungsseite zuwenden, dann fassen wir<br />

eigentlich von der Natur nur das auf, was in der Natur fortwährendes<br />

Sterben ist. Es ist dies ein außerordentlich gewichtiges<br />

Gesetz. Seien Sie sich ganz klar darüber: Wenn Sie noch so<br />

schöne Naturgesetze erfahren, die mit Hilfe des Verstandes, mit<br />

Hilfe der vorstellenden Kräfte gefunden sind, so beziehen sich<br />

diese Naturgesetze immer auf das, was in der Natur abstirbt.<br />

Etwas ganz anderes als diese Naturgesetze, die sich auf das Tote<br />

beziehen, erfährt der lebendige Wille, der keimhaft vorhanden<br />

ist, wenn er sich auf die Natur richtet. Hier werden Sie, weil Sie<br />

ja wohl noch angefüllt sind mit mancherlei Vorstellungen, die<br />

aus der Gegenwart und den Irrtümern ihrer Wissenschaft entstammen,<br />

eine ziemliche Schwierigkeit Ihres Verständnisses<br />

finden. - Was uns zunächst in den Sinnen, ganz im Umfange der<br />

zwölf Sinne, in Beziehung bringt zur Außenwelt, das ist nicht<br />

erkenntnismäßiger, sondern willensmäßiger Natur. Dem Menschen<br />

der Gegenwart ist davon eigentlich die Einsicht ganz geschwunden.<br />

Daher betrachtet er es als etwas Kindliches, wenn<br />

er bei Plato liest, dass das Sehen eigentlich darauf beruhe, dass<br />

eine Art von Fangarmen aus den Augen ausgestreckt werde zu<br />

den Dingen hin. Diese Fangarme sind allerdings mit sinnlichen<br />

Mitteln nicht zu erkennen; aber dass Plato sich ihrer bewusst<br />

war, das beweist eben, dass er in die übersinnliche Welt einge-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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drungen war. Es ist in der Tat, indem wir die Dinge ansehen,<br />

nichts anderes als nur in feinerer Weise ein Vorgang vorhanden<br />

ähnlich demjenigen, der sich abspielt, wenn wir die Dinge angreifen.<br />

Wenn Sie zum Beispiel ein Stück Kreide anfassen, so ist<br />

dies ein physischer Vorgang ganz ähnlich dem geistigen Vorgange,<br />

der sich abspielt, indem Sie die Ätherkräfte aus Ihrem<br />

Auge senden, um den Gegenstand im Sehen zu erfassen. Wenn<br />

die Menschen überhaupt in der Gegenwart beobachten könnten,<br />

so würden sie aus den Naturbeobachtungen diese Tatsachen<br />

entnehmen können. Wenn Sie sich zum Beispiel die nach auswärts<br />

gestellten Pferdeaugen ansehen, dann werden Sie das Gefühl<br />

bekommen, dass einfach durch die Stellung seiner Augen<br />

das Pferd zu seiner Umgebung in eine andere Lage versetzt ist<br />

als der Mensch.<br />

Was da zugrunde liegt, kann ich Ihnen am besten dadurch klar<br />

machen, dass ich folgendes hypothetisch aufstelle. Denken Sie<br />

sich, Ihre beiden Arme wären so gestaltet, dass Sie in die Unmöglichkeit<br />

versetzt wären, die Arme nach vorn zusammenzubringen,<br />

so dass sie sich niemals übergreifen könnten. Sie müssten<br />

eurythmisch immer bei A stehenbleiben, könnten nie zum<br />

O kommen, es würde durch eine Widerstandskraft Ihnen unmöglich<br />

gemacht, durch die Vorwärtsrichtung der Arme diese<br />

vorne zusammenzubringen. Das Pferd ist nun in bezug auf die<br />

übersinnlichen Fangarme seiner Augen in dieser Lage: es kann<br />

niemals den Fangarm des linken Auges berühren lassen von<br />

dem Fangarm des rechten Auges. Der Mensch ist durch seine<br />

Augenstellung eben in der Lage, fortwährend diese zwei übersinnlichen<br />

Fangarme seiner Augen miteinander sich berühren<br />

zu lassen. Darauf beruht die Empfindung - die übersinnlicher<br />

Natur ist - von dem Ich. Würden wir überhaupt niemals in die<br />

Lage kommen, rechts und links miteinander in Berührung zu<br />

bringen, oder würde die Berührung von rechts und links eine so<br />

geringe Bedeutung haben, wie es bei den Tieren der Fall ist, die<br />

niemals so ganz richtig die Vorderpfoten, sagen wir, zum Gebet<br />

oder zu irgendeinem ähnlichen Geistigen verwenden, dann<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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würden wir auch nicht zu einer vergeistigten Empfindung unseres<br />

Selbstes gelangen.<br />

Was für die Sinnesempfindungen am Auge und Ohr überall<br />

wichtig ist, das ist nicht so sehr das Passive; es ist das Aktive,<br />

das, was wir willentlich den Dingen entgegenbringen. Die neuere<br />

Philosophie hat ja manchmal Ahnungen gehabt von etwas<br />

Richtigem und hat dann allerlei Worte erfunden, die aber in der<br />

Regel beweisen, wie weit man von der Erfassung der Sache entfernt<br />

ist. So sind in den Lokalzeichen der Lotzeschen Philosophie<br />

solche Ahnungen von Erkenntnis der Aktivität des Willens-Sinneslebens<br />

vorhanden. Aber unser Sinnesorganismus, der<br />

ja ganz deutlich in dem Tastsinn, Geschmackssinn, Geruchssinn<br />

sein Verbundensein mit dem Stoffwechsel zeigt, ist bis in die<br />

höheren Sinne mit dem Stoffwechsel verbunden, und der ist<br />

willensartiger Natur.<br />

Daher können Sie sich sagen: Der Mensch steht, indem er der<br />

Natur gegenübersteht, durch sein Verstandesmäßiges der Natur<br />

gegenüber und fasst dadurch alles das von ihr auf, was in ihr tot<br />

ist und eignet sich von diesem Toten Gesetze an. Was aber in<br />

der Natur aus dem Schoße des Toten sich erhebt, um zur Zukunft<br />

der Welt zu werden, das fasst der Mensch auf durch seinen<br />

ihm so unbestimmt erscheinenden Willen, der sich bis in<br />

die Sinne hinein erstreckt.<br />

Denken Sie sich, wie lebendig Ihnen Ihr Verhältnis zur Natur<br />

wird, wenn Sie das eben Gesagte ordentlich ins Auge fassen. Sie<br />

werden sich dann sagen: Wenn ich in die Natur hinausgehe, so<br />

glänzt mir entgegen Licht und Farbe; indem ich das Licht und<br />

seine Farben aufnehme, vereinige ich mit mir das von der Natur,<br />

was sie in die Zukunft hinübersendet, und indem ich dann<br />

in meine Stube zurückkehre und nachdenke über die Natur, Gesetze<br />

über sie ausspinne, da beschäftige ich mich mit dem, was<br />

in der Natur fortwährend stirbt. In der Natur ist fortwährendes<br />

Sterben und Werden miteinander verbunden. Dass wir das<br />

Sterben auffassen, rührt davon her, dass wir in uns tragen das<br />

Spiegelbild unseres vorgeburtlichen Lebens, die Verstandeswelt,<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

die Denkwelt, wodurch wir das der Natur zugrunde liegende<br />

Tote ins Auge fassen können. Und dass wir dasjenige, was in der<br />

Zukunft von der Natur da sein wird, ins Auge fassen können,<br />

rührt davon her, dass wir nicht nur unseren Verstand, unser<br />

Denkleben der Natur entgegenstellen, sondern dass wir ihr dasjenige<br />

entgegenstellen können, was in uns selbst willensartiger<br />

Natur ist.<br />

Wenn der Mensch nicht etwas, was fortwährend ihm bleibt,<br />

retten könnte aus seinem vorgeburtlichen Leben durch sein Erdenleben<br />

hindurch, wenn er nicht etwas retten könnte von<br />

dem, was zuletzt während seines vorgeburtlichen Lebens zum<br />

bloßen Gedankenleben geworden ist, dann würde er niemals<br />

zur Freiheit kommen können. Denn der Mensch würde verbunden<br />

sein mit dem Toten, und er würde in dem Augenblick,<br />

wo er das, was in ihm selbst mit der toten Natur verwandt ist,<br />

zur Freiheit aufrufen wollte, ein Sterbendes zur Freiheit aufrufen<br />

wollen. Er würde, wenn er desjenigen sich bedienen wollte,<br />

was ihn als Willenswesen mit der Natur verbindet, betäubt<br />

werden; denn in dem, was ihn als Willenswesen mit der Natur<br />

verbindet, ist alles noch keimhaft. Er würde ein Naturwesen<br />

sein, aber kein freies Wesen.<br />

Über diesen zwei Elementen - der Erfassung des Toten durch<br />

den Verstand und der Erfassung des Lebendigen, des Werdenden<br />

durch den Willen - steht im Menschen etwas, was nur er,<br />

kein anderes irdisches Wesen, von der Geburt bis zum Tode in<br />

sich trägt: das ist das reine Denken, dasjenige Denken, das sich<br />

nicht auf die äußere Natur bezieht, sondern das sich nur auf<br />

dasjenige Übersinnliche bezieht, was im Menschen selber ist,<br />

was den Menschen zum autonomen Wesen macht, zu etwas,<br />

was noch über demjenigen ist, was im Untertoten und im Überlebendigen<br />

ist. Will man daher von der menschlichen Freiheit<br />

reden, so muss man auf dieses Autonome im Menschen sehen,<br />

auf das reine sinnlichkeitsfreie Denken, in dem immer auch der<br />

Wille lebt.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Wenn Sie aber von diesem Gesichtspunkte aus die Natur selbst<br />

betrachten, werden Sie sich sagen: Ich blicke hin auf die Natur,<br />

der Strom des Sterbens ist in mir und auch der Strom des Neuwerdens:<br />

sterben - wiederum geboren werden. Von diesem Zusammenhang<br />

versteht die neuere Wissenschaft sehr wenig;<br />

denn ihr ist die Natur gewissermaßen eine Einheit, und sie puddelt<br />

fortwährend durcheinander das Sterbende und das Werdende,<br />

so dass alles, was heute vielfach ausgesagt wird über die<br />

Natur und ihr Wesen, etwas ganz Konfuses ist, weil Sterben und<br />

Werden fortwährend durcheinandergemischt werden. Will man<br />

reinlich diese beiden Strömungen in der Natur auseinanderhalten,<br />

so muss man sich schon fragen: Wie stünde es denn mit der<br />

Natur, wenn der Mensch nicht in dieser Natur wäre?<br />

Gegenüber dieser Frage ist im Grunde genommen die neuere<br />

Naturwissenschaft mit ihrer Philosophie in einer großen Verlegenheit.<br />

Denn denken Sie einmal, Sie stellten einem richtigen<br />

neueren Naturforscher die Frage: Was wäre es mit der Natur<br />

und ihrem Wesen, wenn der Mensch nicht darin wäre? Er würde<br />

natürlich zunächst etwas schockiert sein, weil ihm die Frage<br />

sonderbar vorkommen würde. Aber er würde sich dann besinnen,<br />

welche Unterlagen zur Beantwortung dieser Frage ihm seine<br />

Wissenschaft gibt und würde sagen: Dann wären auf der Erde<br />

Mineralien, Pflanzen und Tiere, nur der Mensch wäre nicht<br />

da, und der Erdenverlauf würde von dem Anfange an, wo die<br />

Erde noch im Kant-Laplaceschen Nebelzustande war, sich so<br />

vollzogen haben, dass alles so fortgegangen wäre, wie es gegangen<br />

ist; nur der Mensch wäre in diesem Fortgange nicht drinnen.<br />

- Eine andere Antwort könnte im Grunde genommen nicht<br />

herauskommen. Er könnte vielleicht noch hinzufügen: Der<br />

Mensch gräbt als Ackerbauer den Erdboden um und verändert<br />

so die Erdoberfläche, oder er konstruiert Maschinen und bringt<br />

dadurch Veränderungen hervor; aber das ist nicht so erheblich<br />

gegenüber den anderen Verwandlungen, welche durch die Natur<br />

selbst geschehen. Immer also würde der Naturforscher sagen:<br />

Es würden Mineralien, Pflanzen und Tiere sich entwickeln,<br />

ohne dass der Mensch dabei wäre.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Das ist nicht richtig. Wäre der Mensch nämlich nicht in der Erdenevolution<br />

vorhanden, dann wären die Tiere zum großen<br />

Teile nicht da; denn ein großer Teil, namentlich die höheren<br />

Tiere, ist nur dadurch in der Erdenevolution entstanden, dass<br />

der Mensch genötigt war - ich spreche jetzt natürlich bildlich -<br />

seine Ellenbogen zu verwenden. Er musste auf einer bestimmten<br />

Stufe seiner Erdenentwickelung aus seinem eigenen Wesen,<br />

in dem damals noch ganz anderes war, als jetzt in ihm ist, die<br />

höheren Tiere heraus sondern, musste sie abwerfen, damit er<br />

weiterkommen konnte. Ich möchte dies Abwerfen damit vergleichen,<br />

dass ich sage: Stellen Sie sich ein Gemisch vor, worin<br />

etwas aufgelöst ist, und stellen Sie sich vor, dass dann diese aufgelöste<br />

Substanz sich aussondert und zu Boden setzt. So war der<br />

Mensch in seinen früheren Entwickelungszuständen mit der<br />

Tierwelt zusammen und hat dann später die Tierwelt wie einen<br />

Bodensatz ausgeschieden. Die Tiere wären nicht in der Erdenentwickelung<br />

diese heutigen Tiere geworden, wenn der Mensch<br />

nicht hätte so werden sollen, wie er jetzt ist. Ohne den Menschen<br />

in der Erdenentwickelung würden also die Tierformen<br />

und die Erde ganz anders ausschauen, als es heute der Fall ist.<br />

Aber gehen wir nun über zur mineralischen und pflanzlichen<br />

Welt. Da sollten wir uns darüber klar sein, dass nicht nur die<br />

niederen Tierformen, sondern auch die pflanzliche und die mineralische<br />

Welt längst erstarrt wären, nicht mehr im Werden<br />

wären, wenn der Mensch nicht auf der Erde wäre. Wiederum<br />

ist es notwendig für die heutige, auf einer einseitigen Naturanschauung<br />

fußenden Weltanschauung, zu sagen: Gut, die Menschen<br />

sterben, und ihre Körper werden verbrannt oder begraben<br />

und damit der Erde übergeben; aber das hat für die Erdenentwickelung<br />

keine Bedeutung; denn wenn die Erdenentwickelung<br />

nicht Menschenkörper aufnehmen würde, könnte sie gerade<br />

so verlaufen wie jetzt, da sie Menschenkörper aufnimmt. -<br />

Das heißt aber, man ist sich gar nicht bewusst, dass das fortwährende<br />

Übergehen menschlicher Leichname in die Erde,<br />

gleichgültig ob es durch Verbrennen oder durch Begraben geschieht,<br />

ein realer Prozess ist, der fortwirkt.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Die Bäuerinnen auf dem Lande sind sich noch klarer, als es die<br />

Frauen in der Stadt sind, darüber, dass die Hefe für das Brotbacken<br />

eine gewisse Bedeutung hat, trotzdem nur wenig dem Brote<br />

zugesetzt wird; sie wissen, dass das Brot nicht gedeihen könnte,<br />

wenn nicht Hefe dem Teig zugesetzt würde. Ebenso aber wäre<br />

die Erdenentwickelung längst in ihren Endzustand hineingekommen,<br />

wenn ihr nicht fortwährend die Kräfte des menschlichen<br />

Leichnams, der mit dem Tode von dem Geistig-Seelischen<br />

abgesondert ist, zugeführt würden. Durch diese Kräfte, welche<br />

die Erdenentwickelung durch die Zuführung der menschlichen<br />

Leichname fortwährend bekommt, beziehungsweise der Kräfte,<br />

die in den Leichnamen sind, dadurch wird die Evolution der Erde<br />

unterhalten. Dadurch werden Mineralien dazu veranlasst,<br />

ihre Kristallisationskräfte noch heute zu entfalten,die sie längst<br />

nicht mehr entfalten würden ohne diese Kräfte; sie wären längst<br />

zerbröckelt, hätten sich aufgelöst. Dadurch werden Pflanzen,<br />

die längst nicht mehr wachsen würden, veranlasst, heute noch<br />

zu wachsen. Und auch mit Bezug auf die niederen Tierformen<br />

ist es so. Der Mensch übergibt der Erde in seinem Leibe das<br />

Ferment, gleichsam die Hefe für die Weiterentwickelung.<br />

Daher ist es nicht bedeutungslos, ob der Mensch auf der Erde<br />

lebt oder nicht. Es ist einfach nicht wahr, dass die Erdenentwickelung<br />

in bezug auf das Mineralreich, Pflanzenreich und Tierreich<br />

auch dann vorwärtsgehen würde, wenn der Mensch nicht<br />

dabei wäre! Der Naturprozess ist ein einheitlicher, ein geschlossener,<br />

zu dem der Mensch dazugehört. Der Mensch wird nur<br />

richtig vorgestellt, wenn er selbst noch mit seinem Tode als<br />

drinnenstehend in dem kosmischen Prozess gedacht wird.<br />

Wenn Sie dies bedenken, dann werden Sie sich kaum mehr<br />

wundern, wenn ich auch noch das Folgende sage: Der Mensch<br />

bekommt, indem er aus der geistigen Welt heruntersteigt in die<br />

physische, die Umkleidung seines physischen Leibes. Aber natürlich<br />

ist der physische Leib anders, wenn man ihn als Kind<br />

bekommt, als wenn man ihn in irgendeinem Lebensalter durch<br />

den Tod ablegt. Da ist etwas geschehen mit dem physischen<br />

44


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Leibe. Was da mit ihm geschehen ist, das kann nur dadurch geschehen,<br />

dass dieser Leib durchdrungen ist von den geistig- seelischen<br />

Kräften des Menschen. Nicht wahr, schließlich essen<br />

wir alle dasselbe, was die Tiere auch essen, das heißt, wir verwandeln<br />

die äußeren Stoffe so, wie die Tiere sie verwandeln,<br />

aber wir verwandeln sie unter der Mittätigkeit von etwas, was<br />

die Tiere nicht haben, von etwas, was aus der geistigen Welt<br />

heruntersteigt, um sich mit dem physischen Menschenleib zu<br />

vereinigen. Wir machen dadurch mit den Stoffen etwas anderes,<br />

als die Tiere oder Pflanzen mit ihnen machen. Und die Stoffe,<br />

welche im menschlichen Leichnam der Erde übergeben werden,<br />

sind verwandelte Stoffe, sind etwas anderes, als was der Mensch<br />

empfangen hat, als er geboren worden ist. Daher können wir<br />

sagen: Die Stoffe, welche der Mensch empfängt, und auch die<br />

Kräfte, welche er mit der Geburt empfängt, die erneuert er<br />

während seines Lebens und gibt sie in verwandelter Form an<br />

den Erdenprozess ab. Es sind nicht dieselben Stoffe und Kräfte,<br />

die er bei seinem Tode an den Erdenprozess abgibt, als diejenigen<br />

waren, die er bei seiner Geburt empfangen hat. Er übergibt<br />

damit also dem Erdenprozess etwas, was durch ihn fortwährend<br />

aus der übersinnlichen Welt in den physisch- sinnlichen Erdenprozess<br />

einfließt. Er trägt bei seiner Geburt aus der übersinnlichen<br />

Welt etwas herunter; das bekommt dann, indem er es einverleibt<br />

hat den Stoffen und Kräften, die während seines Lebens<br />

seinen Leib zusammensetzen, mit seinem Tode die Erde. Dadurch<br />

vermittelt der Mensch fortwährend das Herunterträufeln<br />

von Übersinnlichem an Sinnliches, an Physisches. Sie können<br />

sich vorstellen, dass gleichsam fortwährend etwas<br />

herunterregnet aus dem Übersinnlichen ins Sinnliche, dass aber<br />

diese Tropfen ganz unfruchtbar blieben für die Erde, wenn der<br />

Mensch sie nicht aufnehmen würde und sie durch sich der Erde<br />

vermitteln würde. Diese Tropfen, die der Mensch aufnimmt bei<br />

der Geburt, die er abgibt bei seinem Tode, die sind ein fortwährendes<br />

Befruchten der Erde durch übersinnliche Kräfte, und<br />

durch diese befruchtenden, übersinnlichen Kräfte wird der Evo-<br />

45


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

lutionsprozess der Erde erhalten. Ohne menschliche Leichname<br />

wäre daher die Erde längst tot.<br />

Wenn wir das vorausgeschickt haben, können wir nun fragen:<br />

Was machen nun die toten Kräfte mit der menschlichen Natur?<br />

Es wirken ja in die menschliche Natur herein die todbringenden<br />

Kräfte, die draußen in der Natur vorwaltend sind; denn gäbe der<br />

Mensch der äußeren Natur nicht fortwährend Belebung, so<br />

müsste sie absterben. Wie walten also diese todbringenden Kräfte<br />

in der menschlichen Natur? Sie walten so. dass der Mensch<br />

alle diejenigen Organisationen durch sie hervorbringt, die in der<br />

Linie vom Knochensystem bis zum Nervensystem liegen. Was<br />

die Knochen und alles, was mit ihnen verwandt ist, aufbaut, das<br />

ist ganz anderer Natur als dasjenige, was die anderen Systeme<br />

aufbaut. In uns spielen die todbringenden Kräfte herein: wir lassen<br />

sie, wie sie sind, und dadurch sind wir Knochenmenschen.<br />

In uns aber spielen weiter noch die todbringenden Kräfte herein:<br />

wir schwächen sie ab, und dadurch sind wir Nervenmenschen.<br />

- Was ist ein Nerv? Ein Nerv ist etwas, was fortwährend<br />

Knochen werden will, was nur dadurch verhindert wird, Knochen<br />

zu werden, dass es mit nicht knochenmäßigen oder nicht<br />

nervösen Elementen der Menschennatur in Zusammenhang<br />

steht. Der Nerv will fortwährend verknöchern, er ist fortwährend<br />

gedrängt abzusterben, wie der Knochen im Menschen immer<br />

etwas in hohem Grade Abgestorbenes ist. Beim tierischen<br />

Knochen liegen die Verhältnisse anders, er ist viel lebendiger als<br />

der menschliche Knochen. - So können Sie sich die eine Seite<br />

der Menschennatur vorstellen, indem Sie sagen: Die todbrin-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

gende Strömung wirkt im Knochen- und Nervensystem. Das ist<br />

der eine Pol.<br />

Die fortwährend Leben gebenden Kräfte, die andere Strömung,<br />

wirkt im Muskel- und Blutsystem und in allem, was dazugehört.<br />

Nerven sind nur deshalb überhaupt keine Knochen, weil sie mit<br />

dem Blut- und Muskelsystem so im Zusammenhang stehen, dass<br />

der Drang in ihnen, Knochen zu werden, den in Blut und Muskel<br />

wirkenden Kräften entgegensteht. Der Nerv wird nur dadurch<br />

nicht Knochen, weil ihm Blut- und Muskelsystem entgegensteht<br />

und sein Knochenwerden verhindert. Besteht im<br />

Wachstum eine falsche Verbindung zwischen Knochen einerseits<br />

und Blut und Muskeln andererseits, so kommt die Rachitis<br />

zustande, die ein Verhindern des richtigen Absterbens des Knochens<br />

durch die Muskel-Blutnatur ist. Es ist daher außerordentlich<br />

wichtig, dass im Menschen die richtige Wechselwirkung<br />

zustande kommt zwischen dem MuskelBlutsystem auf der einen<br />

Seite und dem Knochen-Nerven- system auf der anderen Seite.<br />

Indem in unser Auge hereinragt das Knochen-Nervensystem<br />

etwas, in der Umhüllung, das Knochensystem sich zurückzieht<br />

und nur seine Abschwächung, den Nerv, hineinschickt, kommt<br />

im Auge die Möglichkeit zustande, die willensartige Wesenheit,<br />

die in Muskel und Blut lebt, mit der vorstellungsmäßigen Tätigkeit,<br />

die im KnochenNervensystem liegt, zu verbinden. Da<br />

kommen wir wieder auf etwas, was in der älteren Wissenschaft<br />

eine große Rolle gespielt hat, was aber von der heutigen Wissenschaft<br />

als kindliche Vorstellung verlacht wird. Doch die neuere<br />

Wissenschaft wird schon wieder darauf zurückkommen, nur<br />

in anderer Form.<br />

Die Alten haben in ihrem Wissen immer eine Verwandtschaft<br />

gefühlt zwischen dem Nervenmark, der Nervensubstanz und<br />

dem Knochenmark oder der Knochensubstanz, und sie sind der<br />

Meinung gewesen, dass man mit dem Knochenteil ebenso denkt<br />

wie mit dem Nerventeil. Das ist auch die Wahrheit. Wir verdanken<br />

alles, was wir an abstrakter Wissenschaft haben, der Fähigkeit<br />

unseres Knochensystems. Warum kann der Mensch zum<br />

47


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Beispiel Geometrie ausbilden? Die höheren Tiere haben keine<br />

Geometrie; das sieht man ihrer Lebensweise an. Es ist nur ein<br />

Unsinn, wenn manche Leute sagen: Vielleicht haben die höheren<br />

Tiere auch Geometrie, man merkt es vielleicht nur nicht. -<br />

Der Mensch also bildet Geometrie aus. Wodurch aber bildet er<br />

zum Beispiel die Vorstellung eines Dreiecks aus? Wer wirklich<br />

über diese Tatsache nachdenkt, dass der Mensch die Vorstellung<br />

des Dreiecks ausbildet, der muss etwas Wunderbares darin finden,<br />

dass der Mensch das Dreieck, das abstrakte Dreieck, das im<br />

konkreten Leben nirgends vorhanden ist, rein aus seiner geometrisch-mathematischen<br />

Phantasie heraus ausbildet. Es liegt<br />

vieles Unbekannte zugrunde den Geschehnissen der Welt, die<br />

offenbar sind. Denken Sie sich zum Beispiel an einem bestimmten<br />

Platze dieses Zimmers stehend. Sie führen zu gewissen Zeiten<br />

als übersinnliches Menschenwesen merkwürdige Bewegungen<br />

aus, von denen Sie für gewöhnlich nichts wissen, ungefähr<br />

in der Art: Sie gehen ein Stückchen nach der einen Seite, dann<br />

gehen Sie ein Stückchen zurück, und dann kommen Sie wieder<br />

an Ihrem Platze an. Eine unbewusst bleibende Linie im Raume,<br />

die Sie beschreiben, verläuft tatsächlich als eine Dreiecksbewegung.<br />

Solche Bewegungen sind tatsächlich vorhanden, Sie nehmen<br />

sie nur nicht wahr, aber dadurch, dass Ihr Rückgrat in die<br />

Vertikale gerückt ist, sind Sie in der Ebene drinnen, in der diese<br />

Bewegungen verlaufen. Das Tier ist nicht in dieser Ebene drinnen,<br />

es hat sein Rückenmark anders liegen; da werden diese<br />

Bewegungen nicht vollführt. Indem der Mensch sein Rückenmark<br />

vertikal stehen hat, ist er in der Ebene, wo diese Bewegung<br />

ausgeführt wird. Zum Bewusstsein bringt er es sich nicht,<br />

dass er sich sagte: Ich tanze da fortwährend in einem Dreieck. -<br />

Aber er zeichnet ein Dreieck und sagt: Das ist ein Dreieck! - In<br />

Wahrheit ist das eine unbewusst ausgeführte Bewegung, die er<br />

im Kosmos vollführt.<br />

Diese Bewegungen, die Sie in der Geometrie fixieren, indem Sie<br />

geometrische Figuren zeichnen, führen Sie mit der Erde aus. Die<br />

Erde hat nicht nur die Bewegung, welche sie nach der Kopernikanischen<br />

Weltansicht hat: sie hat noch ganz andere, künstleri-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

sche Bewegungen, die werden da fortwährend ausgeführt. Und<br />

noch viel kompliziertere Bewegungen werden ausgeführt, solche<br />

Bewegungen zum Beispiel, die in den Linien liegen, welche<br />

die geometrischen Körper haben: der Würfel, das Oktaeder, das<br />

Dodekaeder, das Ikosaeder und so weiter. Diese Körper sind<br />

nicht erfunden, sie sind Wirklichkeit, nur unbewusste Wirklichkeit.<br />

Es liegen in diesen und in noch anderen Körperformen<br />

merkwürdige Anklänge an dieses für die Menschen unterbewusste<br />

Wissen. Das wird dadurch herbeigeführt, dass unser<br />

Knochensystem eine wesentliche Erkenntnis hat; aber Sie reichen<br />

nicht mit Ihrem Bewusstsein bis zum Knochensystem hinunter.<br />

Das Bewusstsein davon erstirbt, es wird nur reflektiert in<br />

den Bildern der Geometrie, die der Mensch da als Bilder ausführt.<br />

Der Mensch ist recht sehr eingeschaltet in den Kosmos.<br />

Indem er die Geometrie ausbildet, bildet er etwas nach, was er<br />

selbst im Kosmos tut.<br />

Da blicken wir auf der einen Seite in eine Welt hinein, die uns<br />

mitumfasst und die fortwährend im Absterben ist. Auf der anderen<br />

Seite blicken wir in alles das hinein, was in die Kräfte unseres<br />

Blut-Muskelsystems hereinragt: das ist in fortwährender<br />

Bewegung, in fortwährendem Fluktuieren, in fortwährendem<br />

Werden und Entstehen; das ist ganz keimhaft, da ist nichts Totes.<br />

Wir halten in uns den Sterbeprozess auf, und nur wir als<br />

Menschen können ihn aufhalten und bringen in das Sterbende<br />

Werden hinein. Wäre der Mensch nicht hier auf der Erde, so<br />

würde eben längst das Sterben sich ausgebreitet haben über den<br />

Erdenprozess, und die Erde wäre als Ganzes in eine große Kristallisation<br />

übergegangen. Nicht erhalten aber hätten sich die<br />

einzelnen Kristalle. Wir entreißen die einzelnen Kristalle der<br />

großen Kristallisation und erhalten sie, solange wir sie für unsere<br />

Menschenevolution brauchen. Wir erhalten aber damit auch<br />

das Leben der Erde rege. Wir Menschen sind es also, die das Leben<br />

der Erde rege halten, die nicht ausgeschaltet werden können<br />

vom Leben der Erde. Daher war es schon ein realer Gedanke<br />

von Eduard von Hartmann, der aus seinem Pessimismus heraus<br />

wollte, dass die Menschheit einmal eines Tages so reif wäre,<br />

49


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

dass alle Menschen sich selbst mordeten. Man braucht auch gar<br />

nicht das noch hinzuzufügen, was Hartmann aus der Beschränktheit<br />

der naturwissenschaftlichen Weltanschauung<br />

wollte: weil ihm nämlich das nicht genügt hätte, dass alle Menschen<br />

sich eines Tages selbst mordeten, wollte er auch noch die<br />

Erde durch eine großangelegte Unternehmung in die Luft<br />

sprengen. Das hätte er nicht gebraucht. Er hätte nur den Tag des<br />

großen Selbstmordens anordnen brauchen, und die Erde wäre<br />

von selbst langsam in die Luft gegangen! Denn ohne das, was<br />

vom Menschen in die Erde verpflanzt wird, kann die Erdenentwickelung<br />

nicht weitergehen. Von dieser Erkenntnis aus müssen<br />

wir uns wieder gefühlsmäßig durchdringen. Es ist notwendig,<br />

dass in der Gegenwart diese Dinge verstanden werden. Ich<br />

weiß nicht, ob Sie sich erinnern, dass in meinen allerersten<br />

Schriften immer ein Gedanke wiederkehrt, durch den ich die<br />

Erkenntnis auf eine andere Basis stellen wollte, als sie heute<br />

steht. In der äußeren Philosophie, die auf anglo-amerikanisches<br />

Denken zurückgeht, ist der Mensch eigentlich ein bloßer Zuschauer<br />

der Welt; er ist mit seinem inneren Seelenprozess ein<br />

bloßer Zuschauer der Welt. Wenn der Mensch nicht da wäre,<br />

so meint man, wenn er nicht in der Seele wieder erlebte, was in<br />

der Welt draußen vor sich geht, so wäre doch alles so, wie es ist.<br />

Das gilt für die Naturwissenschaft in bezug auf jene Tatsachenentwickelung,<br />

die ich angeführt habe, es gilt aber auch für die<br />

Philosophie. Der heutige Philosoph fühlt sich sehr wohl als Zuschauer<br />

der Welt, das heißt, in dem bloß ertötenden Element<br />

des Erkennens. Aus diesem ertötenden Element wollte ich die<br />

Erkenntnis herausführen. Daher habe ich immer wiederholt:<br />

Der Mensch ist nicht bloß ein Zuschauer der Welt, sondern er<br />

ist Schauplatz der Welt, auf dem sich die großen kosmischen<br />

Ereignisse immer wieder und wieder abspielen. Ich habe immer<br />

wieder gesagt: Der Mensch ist mit seinem Seelenleben der<br />

Schauplatz, auf dem sich Weltgeschehen abspielt. So kann man<br />

das auch in philosophisch-abstrakte Form kleiden. Und besonders,<br />

wenn Sie das Schlusskapitel über Freiheit in meiner Schrift<br />

«Wahrheit und Wissenschaft» lesen, werden Sie finden, dass<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

dieser Gedanke scharf betont ist: dass dasjenige, was sich im<br />

Menschen vollzieht, nicht etwas ist, was der übrigen Natur<br />

gleich ist, sondern dass die übrige Natur hereinragt in den Menschen<br />

und dass dasjenige, was im Menschen sich vollzieht, zugleich<br />

ein kosmischer Vorgang ist, so dass die menschliche Seele<br />

ein Schauplatz ist, auf dem sich ein kosmischer Vorgang abspielt,<br />

nicht bloß ein menschlicher. Damit wird man natürlich<br />

in gewissen Kreisen heute noch schwer verstanden. Aber ohne<br />

dass man sich mit solchen Anschauungen durchdringt, kann<br />

man unmöglich ein richtiger Erzieher werden.<br />

Was geschieht denn tatsächlich in der menschlichen Wesenheit?<br />

Auf der einen Seite steht die Knochen-Nervennatur, auf<br />

der anderen Seite die Blut-Muskelnatur. Durch das Zusammenwirken<br />

beider werden fortwährend Stoffe und Kräfte neu geschaffen.<br />

Die Erde wird vor dem Tode dadurch bewahrt, dass im<br />

Menschen selber Stoffe und Kräfte neu geschaffen werden. Jetzt<br />

können Sie das, was ich eben gesagt habe: dass das Blut durch<br />

seine Berührung mit den Nerven Neuschöpfung von Stoffen und<br />

Kräften bewirkt, zusammenbringen mit dem, was ich im vorigen<br />

Vortrage sagte: dass das Blut fortwährend auf dem Wege zur<br />

Geistigkeit ist und dabei aufgehalten wird. Diese Gedanken, die<br />

wir in diesen zwei Vorträgen gewonnen haben, werden wir<br />

miteinander verbinden und dann weiter darauf aufbauen. Aber<br />

Sie sehen schon, wie irrtümlich der Gedanke der Erhaltung von<br />

Kraft und Stoff ist, wie er gewöhnlich vorgebracht wird: denn<br />

durch das, was im Inneren der Menschennatur geschieht, wird<br />

er widerlegt, und für eine wirkliche Auffassung der Menschenwesenheit<br />

ist er nur ein Hindernis. Erst wenn man wieder den<br />

synthetischen Gedanken bekommen wird, dass tatsächlich zwar<br />

nicht aus Nichts etwas hervorgehen kann, dass aber das eine so<br />

umgewandelt werden kann, dass es vergeht und das andere entsteht<br />

- erst wenn man diesen Gedanken an die Stelle des Gedankens<br />

von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes gestellt haben<br />

wird, wird man etwas Gedeihliches für die Wissenschaft erhalten<br />

können.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Sie sehen, in welcher Richtung manches, was in unserem Denken<br />

lebt, verkehrt ist. Wir stellen etwas auf, wie zum Beispiel<br />

das Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes, und<br />

prok1amieren es als ein Weltgesetz. Dem liegt zugrunde ein<br />

gewisser Hang unseres Vorstellungslebens, unseres Seelenlebens<br />

überhaupt, in einseitiger Weise zu beschreiben, während wir<br />

nur Postulate aufstellen sollten aus dem, was wir in unserem<br />

Vorstellen entwickeln. So finden Sie zum Beispiel in unseren<br />

Physikbüchern das Gesetz von der Undurchdringlichkeit der<br />

Körper als ein Axiom aufgestellt: An der Stelle im Raume, wo<br />

ein Körper steht, kann zu gleicher Zeit kein anderer sein. - Das<br />

wird als allgemeine Eigenschaft der Körper hingestellt. Man<br />

sollte aber nur sagen: Diejenigen Körperlichkeiten oder Wesenheiten,<br />

welche so sind, dass an der Stelle des Raumes, wo sie<br />

sind, zu gleicher Zeit kein anderes Wesen gleicher Natur sein<br />

kann, die sind undurchdringlich. - Man sollte bloß die Begriffe<br />

dazu verwenden, um ein gewisses Gebiet von einem anderen<br />

abzugliedern, man sollte bloß Postulate aufstellen, sollte keine<br />

Definitionen geben, die den Anspruch erheben, universell zu<br />

sein. So sollte man auch kein Gesetz von der Erhaltung der Kraft<br />

und des Stoffes aufstellen, sondern, man sollte aufsuchen, für<br />

welche Wesenheiten dieses Gesetz eine Bedeutung hat. Das war<br />

gerade ein Bestreben im 19. Jahrhundert, dass man ein Gesetz<br />

aufstellte und sagte: Das gilt für alles - statt dass wir unser seelenleben<br />

dazu verwenden, um an die Dinge heranzukommen<br />

und zu beobachten, was wir an ihnen erleben.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

VIERTER VORTRAG<br />

25. AUGUST 1919, STUTTGART<br />

In der Zukunftserziehung und im Zukunftsunterricht muss ein<br />

ganz besonderer Wert gelegt werden auf die Willens- und die<br />

Gemütsbildung. Es wird zwar immer betont, auch von denjenigen,<br />

die an keine Erneuerung des Unterrichts- und Erziehungswesens<br />

denken, dass Wille und Gemüt in der Erziehung besonders<br />

berücksichtigt werden müssen, aber es kann eigentlich von<br />

dieser Seite, trotz allen guten Willens, nicht viel zu dieser Willens-<br />

und Gemütserziehung getan werden. Sie bleiben immer<br />

mehr und mehr dem sogenannten Zufall überlassen, weil keine<br />

Einsicht vorhanden ist in die wirkliche Natur des Willens.<br />

Einleitend möchte ich nun das Folgende bemerken: Erst wenn<br />

man den Willen wirklich erkennt, kann man auch wenigstens<br />

einen Teil der anderen Gemütsbewegungen erkennen, einen<br />

Teil der Gefühle. Wir können uns die Frage stellen: Was ist<br />

denn eigentlich ein Gefühl? Ein Gefühl ist mit dem Willen sehr<br />

verwandt. Wille ist, ich möchte sagen, nur das ausgeführte Gefühl,<br />

und das Gefühl ist der zurückgehaltene Wille. Der Wille,<br />

der sich noch nicht wirklich äußert, der in der Seele zurückbleibt,<br />

das ist das Gefühl; ein abgestumpfter Wille ist das Gefühl.<br />

Daher wird man das Wesen des Gefühls auch erst dann verstehen,<br />

wenn man das Wesen des Willens durchdringt.<br />

Nun können Sie schon aus meinen bisherigen Auseinandersetzungen<br />

sehen, dass alles, was im Willen lebt, sich nicht vollständig<br />

ausgestaltet in dem Leben zwischen Geburt und Tod. Es<br />

bleibt im Menschen, wenn er einen Willensentschluss ausführt,<br />

immer etwas übrig, was sich nicht erschöpft in dem Leben bis<br />

zum Tode hin; es bleibt ein Rest, der im Menschen fortlebt und<br />

der gerade von jedem Willensentschluss und jeder Willenstat<br />

durch den Tod sich fortsetzt. Dieser Rest muss durch das ganze<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Leben und insbesondere auch im kindlichen Alter berücksichtigt<br />

werden.<br />

Wir wissen, wenn wir den vollständigen Menschen betrachten,so<br />

betrachten wir ihn nach Leib, Seele und Geist. Der Leib<br />

wird zunächst, wenigstens seinen gröberen Bestandteilen nach,<br />

geboren. Das Genauere darüber finden Sie in meinem Buche<br />

„Theosophie“. Der Leib wird also in die Vererbungsströmung<br />

einbezogen, trägt die vererbten Merkmale usw. Das Seelische ist<br />

schon in der Hauptsache das, was aus dem vorgeburtlichen Dasein<br />

sich verbindet mit dem Leiblichen, hinuntersteigt in das<br />

Leibliche. Aber das Geistige ist im gegenwärtigen Menschen –<br />

in dem Menschen einer ferneren Zukunft wird es ja anders sein<br />

– eigentlich nur seiner Anlage nach vorhanden. Und hier, wo<br />

wir die Grundlagen zu einer guten Pädagogik legen wollen,<br />

müssen wir auf das Rücksicht nehmen, was im Menschen der<br />

heutigen Entwicklungsepoche nur der Anlage nach als Geistiges<br />

vorhanden ist. Machen wir uns zunächst einmal ganz klar, was<br />

als solche Anlagen des Menschen für eine ferne Menschheitszukunft<br />

vorhanden sind.<br />

Da ist zunächst das vorhanden, eben nur der Anlage nach, was<br />

wir nennen das Geistselbst. Das Geistselbst werden wir nicht<br />

unter die Bestandteile, unter die Glieder der menschlichen Natur<br />

ohne weiteres aufnehmen können, wenn wir von dem gegenwärtigen<br />

Menschen sprechen; aber ein deutliches Bewusstsein<br />

vom Geistselbst ist insbesondere bei solchen Menschen<br />

vorhanden, die auf das Geistige zu sehen vermögen. Sie wissen,<br />

dass das gesamte morgenländische Bewusstsein, insofern es gebildetes<br />

Bewusstsein ist, dieses Geistselbst «Manas» nennt und<br />

dass von Manas als etwas im Menschen Lebendem in der morgenländischen<br />

Geisteskultur durchaus gesprochen wird. Aber<br />

auch in der abendländischen Menschheit, wenn sie nicht gerade<br />

«gelehrt» geworden ist, ist ein deutliches Bewusstsein von diesem<br />

Geistselbst vorhanden. Und zwar sage ich nicht ohne Bedacht:<br />

ein deutliches Bewusstsein ist vorhanden; denn man<br />

nennt im Volke - hat wenigstens genannt, bevor das Volk ganz<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

ergriffen worden ist von der materialistischen Gesinnung - das,<br />

was vom Menschen übrigbleibt nach dem Tode, die Manen.<br />

Man spricht davon, dass nach dem Tode übrigbleiben die Manen;<br />

Manas = die Manen. Ich sagte: ein deutliches Bewusstsein<br />

hat das Volk davon; denn das Volk gebraucht in diesem Falle<br />

den Plural, die Manen. Wir, die wir wissenschaftlich mehr das<br />

Geistselbst noch auf den Menschen vor dem Tode beziehen,<br />

sagen in der Einzahl: das Geistselbst. Das Volk, das mehr aus der<br />

Realität, aus der naiven Erkenntnis heraus über dieses Geistselbst<br />

spricht, gebraucht die Mehrzahl, indem es von den Manen<br />

redet, weil der Mensch in dem Augenblick, wo er durch die<br />

Pforte des Todes geht, aufgenommen wird von einer Mehrzahl<br />

von geistigen Wesenheiten. Ich habe das schon in einem anderen<br />

Zusammenhang angedeutet: Wir haben unseren persönlichen<br />

führenden Geist aus der Hierarchie der Angeloi; darüberstehend<br />

aber haben wir die Geister aus der Hierarchie der<br />

Archangeloi, die sich sogleich einschalten, wenn der Mensch<br />

durch die Pforte des Todes geht, so dass er dann sofort sein Dasein<br />

in gewisser Beziehung in der Mehrzahl hat, weil viele<br />

Archangeloi in sein Dasein eingeschaltet sind. Das fühlt das<br />

Volk sehr deutlich, weil es weiß, dass der Mensch, im Gegensatz<br />

zu seinem Dasein hier, das als eine Einheit erscheint, sich dann<br />

mehr oder weniger als eine Vielheit wahrnimmt. Also die Manen<br />

sind etwas, was im naiven Volksbewusstsein von diesem der<br />

Mehrzahl nach vorhandenen Geistselbst, von Manas, lebt.<br />

Ein zweiter, höherer Bestandteil des Menschen ist dann das, was<br />

wir den Lebensgeist nennen. Dieser Lebensgeist ist schon sehr<br />

wenig wahrnehmbar innerhalb des gegenwärtigen Menschen.<br />

Er ist etwas sehr geistiger Art im Menschen, was sich in ferner<br />

Menschenzukunft entwickeln wird. Und dann das Höchste, was<br />

im Menschen ist, was gegenwärtig eben nur der ganz geringfügigen<br />

Anlage nach vorhanden ist, das ist der eigentliche Geistesmensch.<br />

Wenn nun aber auch im gegenwärtigen, hier auf der Erde zwischen<br />

Geburt und Tod lebenden Menschen diese drei höheren<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Glieder der Menschennatur nur der Anlage nach vorhanden<br />

sind, so entwickeln sie sich, allerdings unter dem Schutze höherer<br />

geistiger Wesenheiten, zwischen Tod und neuer Geburt<br />

doch sehr bedeutsam. Wenn also der Mensch stirbt und sich in<br />

die geistige Welt wieder hineinlebt, entwickeln sich diese drei<br />

Glieder, gewissermaßen vordeutend ein zukünftiges Menschheitsdasein,<br />

sehr deutlich. Also geradeso wie der Mensch sich in<br />

seinem jetzigen Leben geistig-seelisch zwischen Geburt und Tod<br />

entwickelt, so hat er auch nach dem Tode eine deutliche Entwickelung,<br />

nur dass er dann, gleichsam wie an einer Nabelschnur,<br />

an den geistigen Wesenheiten der höheren Hierarchien dranhängt.<br />

Fügen wir nun jetzt zu den heute kaum wahrnehmbaren höheren<br />

Gliedern der Menschennatur dasjenige hinzu, was wir jetzt<br />

schon wahrnehmen. Das ist zunächst das, was sich ausprägt in<br />

der Bewusstseinsseele, in der Verstandes- oder Gemütsseele und<br />

in der Empfindungsseele. Das sind die eigentlichen Seelenbestandteile<br />

des Menschen. Wollen wir heute beim Menschen von<br />

der Seele sprechen, wie sie im Leibe lebt, so müssen wir von den<br />

eben angeführten drei Seelengliedern sprechen.<br />

Wollen wir von seinem Leibe sprechen, so sprechen wir von<br />

dem Empfindungsleib, dem feinsten Leib, den man auch astralischen<br />

Leib nennt, von dem ätherischen Leib und dem groben<br />

physischen Leib, den wir mit unseren Augen sehen und den die<br />

äußere Wissenschaft zergliedert. Damit haben wir den ganzen<br />

Menschen vor uns.<br />

Nun wissen Sie ja, dass der physische Leib, wie wir ihn an uns<br />

tragen, auch dem Tiere eigen ist. Wir bekommen nur, wenn wir<br />

diesen ganzen Menschen nach diesen neun Gliedern mit der<br />

Tierwelt vergleichen, eine empfindungsgemäße und für die<br />

Auffassung des Willens brauchbare Vorstellung von der Beziehung<br />

des Menschen zu den Tieren, wenn wir wissen: so wie der<br />

Mensch in seiner Seele umkleidet ist mit dem physischen Leib,<br />

so ist auch das Tier mit einem physischen Leib umkleidet, aber<br />

der physische Leib des Tieres ist in vieler Beziehung anders ge-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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staltet als der des Menschen. Der physische Leib des Menschen<br />

ist nicht eigentlich vollkommener als der des Tieres. Denken Sie<br />

an solche aus der Reihe der höheren Tiere, wie an den Biber,<br />

wenn er seinen Biberbau formt. Das kann der Mensch nicht,<br />

wenn er es nicht lernt, wenn er nicht sogar eine sehr komplizierte<br />

Schulung dazu durchmacht, wenn er nicht Architektur<br />

lernt und dergleichen. Der Biber macht seinen Bau aus der Organisation<br />

seines Leibes heraus. Es ist einfach sein äußerer, physischer<br />

Leib so geformt, dass er sich in die äußere physische<br />

Welt so einfügt, dass er das, was in den Formen seines physischen<br />

Leibes lebt, zur Herstellung seines Biberbaues verwenden<br />

kann. Sein physischer Leib selbst ist in dieser Beziehung sein<br />

Lehrmeister. Wir können die Wespen, die Bienen, können auch<br />

die sogenannten niederen Tiere beobachten und werden in der<br />

Form ihrer physischen Leiber finden, dass darin etwas verankert<br />

ist, was im physischen Leibe des Menschen in dieser Ausdehnung,<br />

in dieser Stärke nicht vorhanden ist. Das ist alles das,<br />

was wir umfassen mit dem Begriff des Instinktes; so dass wir den<br />

Instinkt in Wirklichkeit nur studieren können, wenn wir ihn<br />

im Zusammenhange mit der Form des physischen Leibes betrachten.<br />

Studieren wir die ganze Tierreihe, wie sie sich außen<br />

ausbreitet, so werden wir in den Formen der physischen Leiber<br />

der Tiere überall drinnen die Anleitung haben, die verschiedenen<br />

Arten der Instinkte zu studieren. Wir müssen, wenn wir<br />

den Willen studieren wollen, ihn zuerst aufsuchen im Gebiete<br />

des Instinktes und müssen uns bewusst werden, dass wir den<br />

Instinkt auffinden in den Formen der physischen Leiber der<br />

verschiedenen Tiere. Wenn wir die Hauptformen der einzelnen<br />

Tiere ins Auge fassen und aufzeichnen würden, so würden wir<br />

die verschiedenen Gebiete des Instinktes zeichnen können. Was<br />

der Instinkt als Wille ist, das ist im Bilde die Form des physischen<br />

Leibes der verschiedenen Tiere. Sie sehen, dadurch<br />

kommt Sinn in die Welt hinein, wenn wir diesen Gesichtspunkt<br />

anlegen können. Wir überschauen die Formen der physischen<br />

Tierleiber und sehen darin eine Zeichnung, welche die Natur<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

selbst von den Instinkten schafft, durch die sie verwirklichen<br />

will, was im Dasein lebt.<br />

Nun lebt in unserem physischen Leibe, diesen ganz durchgestaltend,<br />

durchdringend, der Ätherleib. Er ist für die äußeren Sinne<br />

übersinnlich, unsichtbar. Aber wenn wir auf die Willensnatur<br />

schauen, dann ist es so, dass ebenso wie der Ätherleib den physischen<br />

Leib durchdringt, so ergreift er auch das, was sich im<br />

physischen Leibe als Instinkt äußert. Dann wird der Instinkt<br />

zum Trieb. Im physischen Leib ist der Wille Instinkt; sobald der<br />

Ätherleib sich des Instinktes bemächtigt, wird der Wille Trieb.<br />

Es ist dann sehr interessant, zu verfolgen, wie in der Beobachtung<br />

der Instinkt, den man in der äußeren Form mehr konkret<br />

erfassen kann, sich verinnerlicht und sich auch mehr vereinheitlicht,<br />

indem man ihn als Trieb betrachtet. Von Instinkt wird<br />

man immer so sprechen, dass er, wenn er sich im Tiere oder in<br />

seiner Abschwächung im Menschen vorfindet, dem Wesen von<br />

außen aufgedrängt ist; beim Trieb ist schon daran zu denken,<br />

dass das, was sich in einer mehr verinnerlichten Form äußert,<br />

auch mehr von innen kommt, weil der übersinnliche Ätherleib<br />

sich des Instinktes bemächtigt und dadurch der Instinkt zum<br />

Trieb wird. Nun hat der Mensch auch noch den Empfindungsleib.<br />

Der ist noch innerlicher. Er ergreift nun wieder den Trieb,<br />

und dann wird nicht nur eine Verinnerlichung erzeugt, sondern<br />

es wird Instinkt und Trieb auch schon ins Bewusstsein heraufgehoben,<br />

und so wird daraus dann die Begierde. Die Begierde<br />

finden Sie auch noch beim Tiere, wie Sie den Trieb bei ihm finden,<br />

weil das Tier ja alle diese drei Glieder, physischen Leib,<br />

Ätherleib, Empfindungsleib, auch hat. Aber wenn Sie von der<br />

Begierde sprechen, so werden Sie schon, ganz instinktiv, sich<br />

herbeilassen müssen, die Begierde als etwas sehr Innerliches anzusehen.<br />

Beim Trieb sprechen Sie so, dass er doch, ich möchte<br />

sagen, von der Geburt bis zum späten Alter sich einheitlich äußert;<br />

bei der Begierde sprechen Sie von etwas, was erkraftet<br />

wird von dem Seelischen, was mehr einmalig erkraftet wird.<br />

Eine Begierde braucht nicht charakterologisch zu sein, sie<br />

braucht nicht dem Seelischen anzuhaften, sondern sie entsteht<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

und vergeht. Dadurch zeigt sich die Begierde als mehr dem Seelischen<br />

eigentümlich, als der bloße Trieb.<br />

Jetzt fragen wir uns: Wenn nun der Mensch - was also beim<br />

Tiere nicht mehr auftreten kann - in sein Ich, das heißt in Empfindungsseele,<br />

Verstandes- oder Gemütsseele und Bewusstseinsseele<br />

dasjenige herein nimmt, was als Instinkt, Trieb und Begierde<br />

in seinem Leiblichen lebt, was wird dann daraus gemacht?<br />

Da unterscheiden wir nicht so streng, wie innerhalb des<br />

Leiblichen, weil Sie in der Seele tatsächlich, namentlich beim<br />

gegenwärtigen Menschen, alles mehr oder weniger durcheinandergemischt<br />

haben. Das ist ja auch das Kreuz der gegenwärtigen<br />

Psychologie, dass die Psychologen nicht wissen, sollen sie die<br />

Glieder der Seele streng auseinanderhalten, oder sollen sie sie<br />

durcheinanderfließen lassen? Da spuken noch bei einzelnen<br />

Psychologen die alten strengen Unterscheidungen zwischen<br />

Wille, Gefühl und Denken; bei anderen, zum Beispiel bei den<br />

mehr Herbartisch gearteten Psychologen, wird alles mehr nach<br />

der Vorstellungsseite hinübergeleitet, bei den Wundtianern<br />

mehr nach der Willensseite. Also man hat keine rechte Vorstellung<br />

davon, was man eigentlich mit der Gliederung der Seele<br />

machen soll. Das kommt davon her, weil im praktischen Leben<br />

in der Tat das Ich alle Seelenfähigkeiten durchsetzt und weil<br />

beim gegenwärtigen Menschen in bezug auf die drei Glieder der<br />

Seele die Unterscheidung auch in der Praxis nicht deutlich<br />

hervortritt. Daher hat die Sprache auch keine Worte, um das,<br />

was in der Seele willensartiger Natur ist - Instinkt, Trieb, Begierde<br />

, wenn es vom Ich erfasst wird, zu unterscheiden. Aber<br />

im allgemeinen bezeichnen wir das beim Menschen, was als<br />

Instinkt, Trieb, Begierde vom Ich erfasst wird, als Motiv, so dass<br />

wir, wenn wir von dem Willensantriebe in dem eigentlichen<br />

Seelischen, in dem «Ichlichen» sprechen, vom Motiv sprechen<br />

und dann wissen: Tiere können wohl Begierden haben, aber<br />

keine Motive. Beim Menschen erst wird die Begierde erhoben,<br />

indem er sie in die Seelenwelt hereinnimmt, und dadurch wird<br />

der starke Antrieb bewirkt, innerlich ein Motiv zu fassen. Bei<br />

ihm erst wird die Begierde zum eigentlichen Willensmotiv. Da-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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durch, dass wir sagen, im Menschen lebt noch von der Tierwelt<br />

her Instinkt, Trieb und Begierde, aber er erhebt diese zum Motiv,<br />

dadurch haben wir, wenn wir vom Willen sprechen, dasjenige,<br />

was beim gegenwärtigen Menschen vorliegt. Das ist deutlich<br />

vorhanden. Und wer überhaupt den Menschen beobachten<br />

wird hinsichtlich seiner Willensnatur, der wird sich sagen:<br />

Weiß ich beim Menschen, was seine Motive sind, so erkenne<br />

ich ihn. Aber nicht ganz!<br />

Denn es klingt leise unten etwas an, wenn der Mensch Motive<br />

entwickelt, und dieses leise Anklingende muss nun sehr, sehr<br />

stark berücksichtigt werden. Ich bitte Sie jetzt, genau zu unterscheiden,<br />

was ich mit diesem Anklingenden beim Willensimpuls<br />

meine, von dem, was mehr vorstellungsgemäß ist. Was<br />

mehr vorstellungsgemäß ist beim Willensimpuls, das meine ich<br />

jetzt nicht. Sie können zum Beispiel die Vorstellung haben: Das<br />

war gut, was ich da gewollt oder getan habe , oder Sie können<br />

auch eine andere Vorstellung haben. Das meine ich nicht, sondern<br />

ich meine jetzt das, was eben willensmäßig noch leise anklingt.<br />

Da ist zunächst eines, das auch, wenn wir Motive haben,<br />

immer noch im Willen wirkt, der Wunsch. Ich meine jetzt<br />

nicht die stark ausgeprägten Wünsche, aus denen dann die Begierden<br />

sich bilden, sondern jenen leisen Anklang von Wünschen,<br />

die alle unsere Motive begleiten. Sie sind immer vorhanden.<br />

Dieses Wünschen nehmen wir besonders dann stark wahr,<br />

wenn wir irgend etwas ausführen, das einem Motive in unserem<br />

Willen entspringt, und wenn wir zuletzt darüber nachdenken<br />

und uns sagen: Was du da ausgeführt hast, das könntest du noch<br />

viel besser ausführen. - Aber gibt es denn etwas, was wir im Leben<br />

tun, bei dem wir nicht das Bewusstsein haben könnten, dass<br />

wir es noch besser ausführen könnten? Es wäre traurig, wenn<br />

wir mit irgend etwas vollständig zufrieden sein könnten, denn<br />

es gibt nichts, was wir nicht auch noch besser machen könnten.<br />

Und dadurch gerade unterscheidet sich der in der Kultur etwas<br />

höherstehende Mensch von dem niedriger stehenden, dass der<br />

letztere immer mit sich zufrieden sein möchte. Der Höherstehende<br />

möchte nie mit sich so richtig zufrieden sein, weil ein<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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leiser Wunsch nach Bessermachen, sogar nach Andersmachen,<br />

immer mitklingt als Motiv. Auf diesem Gebiete wird ja viel gesündigt.<br />

Die Menschen sehen etwas wer weiß wie Großes darin,<br />

wenn sie eine Handlung bereuen. Das ist aber nicht das Beste,<br />

was man mit einer Handlung anfangen kann, denn die Reue beruht<br />

vielfach auf einem bloßen Egoismus: man möchte etwas<br />

besser getan haben, um ein besserer Mensch zu sein. Das ist egoistisch.<br />

Unegoistisch wird unser Streben erst dann, wenn man<br />

nicht die schon vollbrachte Handlung besser haben möchte,<br />

sondern wenn man viel größeren Wert darauf legt, in einem<br />

nächsten Falle dieselbe Handlung besser zu machen. Der Vorsatz,<br />

den man so fasst, die Anstrengung, das nächste Mal eine<br />

Sache besser zu machen, ist das Höchste, nicht die Reue. Und in<br />

diesen Vorsatz klingt der Wunsch noch hinüber, so dass wir uns<br />

wohl die Frage stellen dürfen: Was ist es, was da mitklingt als<br />

Wunsch? - Für den, der die Seele wirklich beobachten kann, ist<br />

es das erste Element von alledem, was nach dem Tode übrigbleibt.<br />

Es ist etwas von dem Rest, was wir fühlen: Wir sollten es<br />

besser gemacht haben, wir wünschten es besser zu machen. -<br />

Das gehört schon dem Geistselbst an: der Wunsch in der Form,<br />

wie ich ihn auseinandergesetzt habe.<br />

Nun kann sich der Wunsch mehr konkretisieren, kann deutlichere<br />

Gestalt annehmen. Dann wird er dem Vorsatz ähnlich.<br />

Dann bildet man sich eine Art Vorstellung davon, wie man die<br />

Handlung, wenn man sie noch einmal machen müsste, besser<br />

machen würde. Aber auf die Vorstellung lege ich nicht den<br />

großen Wert, sondern auf das Gefühls- und Willensmäßige, das<br />

jedes Motiv begleitet, das Motiv: das nächste Mal in ähnlichem<br />

Falle etwas besser zu machen. Da kommt bei uns das sogenannte<br />

Unterbewusste des Menschen zu starker Auswirkung. In Ihrem<br />

gewöhnlichen Bewusstsein werden Sie nicht, wenn Sie heute<br />

aus Ihrem Willen heraus eine Handlung vollführen, immer eine<br />

Vorstellung davon entwerfen, wie Sie das nächste Mal eine ähnliche<br />

Handlung besser ausführen können. Der Mensch aber, der<br />

noch in Ihnen lebt, der zweite Mensch, der entwickelt - allerdings<br />

jetzt nicht vorstellungsgemäß, sondern willensgemäß -<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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immer ein deutliches Bild von dem, wie er die Handlung, wenn<br />

er noch einmal in derselben Lage wäre, ausführen würde. Unterschätzen<br />

Sie ja nicht eine solche Erkenntnis! Unterschätzen<br />

Sie überhaupt nicht diesen zweiten Menschen, der in Ihnen<br />

lebt.<br />

Von diesem zweiten Menschen faselt heute viel jene sogenannte<br />

wissenschaftliche Richtung, welche sich die analytische Psychologie<br />

nennt, die Psychoanalyse. Diese Psychoanalyse geht ja gewöhnlich<br />

von einem Schulbeispiel aus, wenn sie sich darstellt.<br />

Ich habe dieses Schulbeispiel auch schon erzählt, aber es ist ganz<br />

gut, es sich wieder einmal vor die Augen zu rücken.<br />

Es ist das Folgende: Es wird von einem Manne in seinem Hause<br />

eine Abendgesellschaft gegeben, und es ist im Programm vorgesehen,<br />

dass gleich nach Schluss der Gesellschaft die Dame des<br />

Hauses noch abreisen soll, um ins Bad zu fahren. Bei dieser Gesellschaft<br />

sind verschiedene Leute, darunter auch eine Dame.<br />

Die Gesellschaft wird gegeben. Die Dame des Hauses wird zum<br />

Zuge gebracht, um ins Bad zu reisen. Die übrige Gesellschaft<br />

geht fort und mit den anderen auch die eine Dame. Sie wird<br />

ebenso wie die anderen Glieder der Gesellschaft an einer Straßenkreuzung<br />

von einer Droschke überrascht, die gerade von<br />

einer anderen Straße her um die Ecke biegt, so dass man sie erst<br />

sieht, als man ganz nahe davor ist. Was tun die Mitglieder der<br />

Gesellschaft? Sie weichen selbstverständlich der Droschke<br />

rechts und links aus, nur jene eine Dame nicht. Sie läuft, soviel<br />

sie laufen kann, mitten auf der Straße immer vor den Pferden<br />

her. Der Droschkenkutscher hört auch nicht mit fahren auf, und<br />

die anderen Teilnehmer der Gesellschaft sind ganz erschrocken.<br />

Aber die Dame läuft so rasch, dass die anderen ihr nicht folgen<br />

können, läuft, bis sie an eine Brücke kommt. Da fällt es ihr<br />

auch nicht ein, jetzt auszuweichen. Nun fällt sie ins Wasser,<br />

aber sie wird gerettet, und sie wird dann zurückgebracht in das<br />

Haus des Gastgebers. Dort kann sie nun die Nacht zubringen. -<br />

Diese Begebenheit finden Sie als Beispiel in vielen Darstellungen<br />

der Psychoanalyse. Es wird nur überall etwas darin falsch<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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interpretiert. Denn man muss sich fragen: Was liegt dem ganzen<br />

Vorgang zugrunde? Zugrunde liegt das Wollen der Dame. Was<br />

wollte sie nämlich? Sie wollte, nachdem die Dame des Hauses<br />

abgereist sein würde, in das Haus des Gastgebers zurückkehren,<br />

denn sie war in den Mann verliebt. Aber das war kein bewusstes<br />

Wollen, sondern etwas, was ganz im Unterbewusstsein saß. Und<br />

dieses Unterbewusstsein des zweiten Menschen, der im Menschen<br />

sitzt, ist oftmals viel raffinierter als der Mensch in seinem<br />

Oberstübchen. So raffiniert war in diesem Falle das Unterbewusstsein,<br />

dass die Dame die ganze Prozedur angestellt hat bis<br />

zu dem Augenblick, wo sie ins Wasser fiel, um in das Haus des<br />

Gastgebers zurückzukommen. Sie sah sogar prophetisch voraus,<br />

dass sie gerettet werden würde. - Diesen verborgenen Seelenkräften<br />

sucht nun die Psychoanalyse nahezukommen, aber sie<br />

spricht nur im allgemeinen von einem zweiten Menschen. Wir<br />

aber können wissen, dass das, was in den unterbewussten Seelenkräften<br />

wirksam ist und sich oftmals außerordentlich raffiniert<br />

äußert, viel raffinierter als bei normaler Seelenbeschaffenheit,<br />

in jedem Menschen vorhanden ist.<br />

In jedem Menschen sitzt unten, gleichsam unterirdisch, der andere<br />

Mensch. In diesem anderen Menschen lebt auch der bessere<br />

Mensch, der sich immer vornimmt, bei einer Handlung, die<br />

er begangen hat, in einem ähnlichen Falle die Sache das nächste<br />

Mal besser zu machen, so dass immer leise mitklingt der Vorsatz,<br />

der unbewusste, unterbewusste Vorsatz, eine Handlung in<br />

einem ähnlichen Falle besser auszuführen.<br />

Und erst wenn die Seele einmal vom Leibe befreit sein wird,<br />

wird aus diesem Vorsatz der Entschluss. Der Vorsatz bleibt ganz<br />

keimhaft in der Seele liegen; dann folgt der Entschluss später<br />

nach. Und der Entschluss sitzt ebenso im Geistesmenschen, wie<br />

der Vorsatz im Lebensgeist und wie der reine Wunsch im Geistselbst<br />

sitzt. Fassen Sie also den Menschen als wollendes Wesen<br />

ins Auge, so können Sie alle diese Bestandteile finden: Instinkt,<br />

Trieb, Begierde und Motiv, und dann leise anklingend das, was<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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schon im Geistselbst, im Lebensgeist und im Geistesmenschen<br />

lebt als Wunsch, Vorsatz und Entschluss.<br />

Das hat nun für die Entwickelung des Menschen eine große Bedeutung.<br />

Denn was da leise lebt als sich aufbewahrend für die<br />

Zeit nach dem Tode, das lebt sich im Bilde aus beim Menschen<br />

zwischen Geburt und Tod. Da bezeichnet man es dann mit denselben<br />

Worten. Vorstellungsmäßig erleben wir auch da<br />

Wunsch, Vorsatz und Entschluss. Aber nur dann werden wir in<br />

menschlich entsprechender Weise diesen Wunsch, Vorsatz und<br />

Entschluss erleben, wenn diese Dinge in richtiger Art herangebildet<br />

werden. Was Wunsch, Vorsatz und Entschluss eigentlich<br />

in der tieferen Menschennatur sind, das tritt nicht hervor beim<br />

äußeren Menschen zwischen Geburt und Tod. Die Bilder treten<br />

im Vorstellungsleben hervor. Sie wissen ja gar nicht, wenn Sie<br />

nur das gewöhnliche Bewusstsein entwickeln, was Wunsch ist.<br />

Sie haben stets nur die Vorstellung des Wunsches. Daher glaubt<br />

Herbart, es sei überhaupt in der Vorstellung des Wunsches<br />

schon ein Strebendes vorhanden. Beim Vorsatz ist es ebenso;<br />

vor ihm haben Sie auch nur die Vorstellung. Sie wollen so und<br />

so etwas tun, was sich real unten in der Seele abspielt, aber Sie<br />

wissen ja nicht, was da zugrunde liegt. Und nun erst der Entschluss!<br />

Wer weiß denn etwas davon? Nur von einem allgemeinen<br />

Wollen spricht die allgemeine Psychologie. - Und dennoch<br />

muss in alle diese drei Seelenkräfte regelnd und ordnend der<br />

Unterrichter und Erzieher eingreifen. Man muss gerade mit<br />

dem arbeiten, was in den Tiefen unten in der Menschennatur<br />

sich abspielt, wenn man erziehend und unterrichtend arbeiten<br />

will.<br />

Geistesmensch: Entschluss<br />

Lebensgeist: Vorsatz<br />

Geistselbst: Wunsch<br />

Bewusstseinsseele<br />

Verstandesseele Motiv<br />

Empfindungsseele<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Empfindungsleib: Begierde<br />

Ätherleib: Trieb<br />

Physischer Leib: Instinkt<br />

Es ist immer außerordentlich wichtig, dass man sich als Erzieher<br />

und Unterrichter bewusst werde: Es genügt nicht, den Unterricht<br />

einzurichten nach dem gewöhnlichen Menschenverkehr,<br />

sondern man muss diesen Unterricht aus der Erfassung des<br />

inneren Menschen heraus gestalten.<br />

Diesen Fehler, den Unterricht nach dem gewöhnlichen Verkehr<br />

der Menschen einzurichten, möchte gerade der landläufige Sozialismus<br />

machen. Denken Sie sich nur einmal, es würde nach<br />

dem Ideal der gewöhnlichen marxistischen Sozialisten die Schule<br />

der Zukunft gestaltet werden. In Russland ist es schon geschehen;<br />

daher ist dort die Lunatscharskische Schulreform etwas<br />

ganz Fürchterliches. Sie ist der Tod aller Kultur! Und wenn<br />

schon aus dem übrigen Bolschewismus sehr viel Schlimmes hervorgeht<br />

- das Schlimmste aus ihm wird die bolschewistische Unterrichtsmethode<br />

sein! Denn sie wird, wenn sie siegte, gründlich<br />

alles das ausrotten, was aus den früheren Zeiten an Kultur überkommen<br />

ist. Sie wird es nicht gleich in der ersten Generation<br />

erreichen, aber sie wird es bei den kommenden Generationen<br />

um so sicherer können, und dann wird sehr bald jegliche Kultur<br />

vom Erdboden verschwinden. Das müssten einige einsehen.<br />

Denn denken Sie sich, dass wir ja jetzt unter den dilettantischen<br />

Forderungen eines gemäßigten Sozialismus leben. Dahinein<br />

klingen die Klänge, die in der verkehrtesten Art den Sozialismus<br />

ausgestalten wollen. Gutes mit Schlimmem tönt da zusammen.<br />

Sie haben es ja in diesem Raume selbst gehört, haben Menschen<br />

gehört, die ein Loblied auf den Bolschewismus gesungen haben,<br />

und die gar keine Ahnung davon haben, dass dadurch das Teuflische<br />

selbst in den Sozialismus hineingetrieben wird.<br />

Hier muss besonders achtgegeben werden. Es müssen Menschen<br />

da sein, welche wissen, dass der Fortschritt nach der sozialen<br />

Seite ein um so intimeres Erfassen des Menschen von seiten der<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Erziehung fordert. Daher muss man wissen, dass gerade von<br />

dem Zukunftserzieher und -unterrichter das Innerste der Menschennatur<br />

angefasst werden muss, dass man mit diesem Innersten<br />

der Menschennatur leben muss und dass der gewöhnliche<br />

Verkehr, wie er sich zwischen den Erwachsenen abspielt, nicht<br />

im Unterricht angewendet werden darf. Was wollen denn die<br />

gewöhnlichen Marxisten? Sie wollen die Schule sozialistisch<br />

gestalten, wollen das Rektorat abschaffen und nichts an seine<br />

Stelle setzen und wollen möglichst die Kinder durch sich selbst<br />

erziehen lassen. Es kommt etwas Furchtbares heraus!<br />

Wir waren einmal in einem Landerziehungsheim und wollten<br />

uns beim dortigen Unterrichte die erhebendste Stunde ansehen:<br />

die Religionsstunde. Wir kamen in das Unterrichtszimmer. Da<br />

lag auf dem Fensterbrett ein Bengel, der räkelte sich mit seinen<br />

Beinen zum Fenster hinaus; ein zweiter hockte auf dem Fußboden,<br />

ein dritter lag irgendwo auf dem Bauch und hob den Kopf<br />

nach aufwärts. So ungefähr waren alle Schüler in dem Raume<br />

verteilt. Dann kam der sogenannte Religionslehrer und las ohne<br />

besondere Einleitung eine Novelle von Gottfried Kel1er vor.<br />

Dabei begleiteten die Schüler seine Vorlesung wieder mit den<br />

verschiedensten Räkeleien. Dann, als er damit zu Ende war, war<br />

die Religionsstunde aus, und alles ging ins Freie. Mir stieg bei<br />

diesem Erlebnis das Bild auf, dass neben diesem Landerziehungsheim<br />

ein großer Hammelstall war - und einige Schritte<br />

davon entfernt lebte dann diese Schülerschaft. - Gewiss, auch<br />

diese Dinge sollen nicht scharf getadelt werden. Es liegt viel guter<br />

Wille zugrunde, aber es ist eine vollständige Verkennung<br />

dessen, was für die Kultur der Zukunft zu geschehen hat.<br />

Was will man denn heute nach dem sogenannten sozialistischen<br />

Programm? - Man will die Kinder so miteinander in Verkehr<br />

treten lassen, wie es bei den Erwachsenen der Fall ist. Das aber<br />

ist das Falscheste, was man in der Erziehung tun kann. Man<br />

muss sich bewusst sein dessen, dass das Kind noch etwas ganz<br />

anderes an Seelenkräften und auch an Körperkräften zu entwickeln<br />

hat, als die Erwachsenen im Wechselverkehr miteinander<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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zu entwickeln haben. Also auf das, was tief unten in der Seele<br />

sitzt, muss die Erziehung und der Unterricht eingehen können;<br />

sonst kommt man nicht weiter. Daher wird man sich fragen<br />

müssen: Was vom Unterricht und von der Erziehung wirkt auf<br />

die Willensnatur des Menschen? - Diese Frage muss einmal<br />

ernstlich in Angriff genommen werden.<br />

Wenn Sie an das gestern Gesagte denken, werden Sie sich erinnern:<br />

Alles Intellektuelle ist schon greisenhafter Wille, ist schon<br />

der Wille im Alter. Also alle gewöhnliche Unterweisung im verstandesmäßigen<br />

Sinne, alle gewöhnliche Ermahnung, alles, was<br />

für die Erziehung in Begriffe gefasst wird, wirkt in dem Alter,<br />

das für die Erziehung in Betracht kommt, noch gar nicht auf das<br />

Kind. Nun fassen wir die Sache noch einmal zusammen, so dass<br />

wir wissen: Gefühl ist werdender, noch nicht gewordener Wille;<br />

aber im Willen lebt der ganze Mensch, so dass man auch bei<br />

dem Kinde rechnen muss mit den unterbewussten Entschlüssen.<br />

Hüten wir uns nur vor dem Glauben, dass wir mit allem, was<br />

wir meinen gut ausgedacht zu haben, auf den Willen des Kindes<br />

einen Einfluss haben. Wir müssen uns daher fragen: Wie können<br />

wir einen guten Einfluss auf die Gefühlsnatur des Kindes<br />

nehmen? Das können wir nur durch das, was wir einrichten als<br />

das wiederholentliche Tun. Nicht dadurch, dass Sie dem Kinde<br />

einmal sagen, was richtig ist, können Sie den Willensimpuls zur<br />

richtigen Auswirkung bringen, sondern indem Sie heute und<br />

morgen und übermorgen etwas von dem Kinde tun lassen. Das<br />

Richtige liegt gar nicht zunächst darin, dass Sie darauf ausgehen,<br />

dem Kinde Ermahnungen, Sittenregeln zu geben, sondern Sie<br />

lenken es hin auf irgend etwas, von dem Sie glauben, dass es das<br />

Gefühl für das Richtige im Kinde erwecken wird und lassen dies<br />

das Kind wiederholentlich tun. Sie müssen eine solche Handlung<br />

zur Gewohnheit erheben. Je mehr es bei der unbewussten<br />

Gewohnheit bleibt, um so besser ist es für die Entwickelung des<br />

Gefühls; je mehr das Kind sich bewusst wird, die Tat aus Hingabe<br />

in der Wiederholung zu tun, weil sie getan werden soll, weil<br />

sie getan werden muss, desto mehr erheben Sie dies zum wirklichen<br />

Willensimpuls. Also mehr unbewusstes Wiederholen kul-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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tiviert das Gefühl; vollbewußtes Wiederholen kultiviert den eigentlichen<br />

Willensimpuls, denn dadurch wird die Entschlusskraft<br />

erhöht. Und die Entschlusskraft, die sonst nur im Unterbewussten<br />

bleibt, wird angespornt dadurch, dass Sie das Kind<br />

bewusst Dinge wiederholen lassen. Wir dürfen also nicht mit<br />

Bezug auf die Willenskultur auf das sehen, was beim intellektuellen<br />

Leben von besonderer Wichtigkeit ist. Im intellektuellen<br />

Leben rechnen wir immer darauf: man bringt einem Kinde etwas<br />

bei, und es ist um so besser, je besser es die Sache begriffen<br />

hat. Auf das einmalige Beibringen legt man den großen Wert;<br />

dann soll die Sache nur behalten, gemerkt werden. Aber was so<br />

einmal beigebracht und dann behalten werden kann, das wirkt<br />

nicht auf Gefühl und Wille, sondern auf Gefühl und Wille wirkt<br />

das, was immer wieder getan wird und was als das durch die<br />

Verhältnisse Gebotene für richtig getan angesehen wird.<br />

Die früheren, mehr naiv patriarchalischen Erziehungsformen<br />

haben das auch naiv patriarchalisch angewendet. Es wurde einfach<br />

Lebensgewohnheit. In allen diesen Dingen, die so angewendet<br />

wurden, liegt durchaus etwas auch gut Pädagogisches.<br />

Warum lässt man zum Beispiel jeden Tag dasselbe Vaterunser<br />

beten? Wenn der heutige Mensch jeden Tag dieselbe Geschichte<br />

lesen sollte, so würde er es gar nicht tun, das würde ihm viel zu<br />

langweilig fallen. Der heutige Mensch ist eben auf die Einmaligkeit<br />

dressiert. Die Menschen früherer Art haben alle noch das<br />

kennengelernt, dass sie nicht nur dasselbe Vaterunser täglich<br />

gebetet haben, sondern sie haben auch noch ein Buch mit Geschichten<br />

gehabt, die sie jede Woche mindestens einmal gelesen<br />

haben. Dadurch waren sie auch dem Willen nach stärkere Menschen<br />

als diejenigen, welche aus der heutigen Erziehung hervorgehen;<br />

denn auf Wiederholung und bewusster Wiederholung<br />

beruht die Willenskultur. Das muss berücksichtigt werden.<br />

Daher genügt es nicht, in abstracto zu sagen, man muss auch<br />

den Willen erziehen. Denn man wird dann glauben, wenn man<br />

selber gute Ideen für die Willensausbildung hat und diese durch<br />

irgendwelche raffinierte Methoden dem Kinde beibringt, zur<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Ausbildung des Willens etwas beizutragen. Das nützt aber gar<br />

nichts in Wirklichkeit. Es werden doch nur schwache, nervöse<br />

Menschen diejenigen, welche man zur Moral ermahnen will.<br />

Innerlich stark werden die Menschen werden, wenn man zum<br />

Beispiel zu den Kindern sagt: Du tust heute dies, und du tust<br />

heute das, und ihr beide werdet morgen und übermorgen dasselbe<br />

tun. - Da tun sie es auf Autorität hin, weil sie einsehen,<br />

dass einer in der Schule befehlen muss. Also: einem jeden eine<br />

Art Handlung für jeden Tag zuweisen, die sie dann jeden Tag<br />

unter Umständen das ganze Schuljahr hindurch, vollbringen -<br />

das ist etwas, was auf die Willensbildung sehr stark wirkt. Das<br />

schafft erstens einen Kontakt unter den Schülern; dann stärkt es<br />

die Autorität des Unterrichtenden und bringt die Menschen in<br />

eine wiederholentliche Tätigkeit hinein, die stark auf den Willen<br />

wirkt.<br />

Warum wirkt denn ganz besonders das künstlerische Element<br />

auf die Willensbildung? Weil das ja im Üben erstens auf Wiederholung<br />

beruht, zweitens aber auch, weil dasjenige, was sich<br />

der Mensch künstlerisch aneignet, ihm immer wieder Freude<br />

macht. Das Künstlerische genießt man immer wieder, nicht nur<br />

das erste Mal. Es hat schon in sich die Anlage, den Menschen<br />

nicht nur einmal anzuregen, sondern ihn unmittelbar immer<br />

wieder zu erfreuen. Und daher haben wir das, was wir im Unterricht<br />

wollen, in der Tat zusammenhängend mit dem künstlerischen<br />

Element. Darauf wollen wir dann morgen weiter eingehen.<br />

Ich wollte heute zeigen, wie auf die Willensbildung anders gewirkt<br />

werden muss als auf die Ausbildung des Intellektuellen.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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FÜNFTER VORTRAG<br />

26. AUGUST 1919, STUTTGART<br />

Wir haben gestern die Wesenheit des Willens besprochen, insofern<br />

der Wille in den menschlichen Organismus eingegliedert<br />

ist. Wir wollen nun die Beziehungen des Willens zum Menschen,<br />

die wir kennengelernt haben, fruchtbar machen für die<br />

Anschauung der übrigen Wesenheit des Menschen.<br />

Sie werden bemerkt haben, dass ich bei den bisherigen Besprechungen<br />

der menschlichen Wesenheit hauptsächlich Rücksicht<br />

genommen habe auf die intellektuelle, auf die Erkenntnistätigkeit<br />

auf der einen Seite und auf die Willenstätigkeit auf der anderen<br />

Seite. Ich habe Ihnen ja auch gezeigt, wie die Erkenntnistätigkeit<br />

im Zusammenhang steht mit dem Nervenwesen des<br />

Menschen, wie die Willensstärke im Zusammenhang steht mit<br />

der Bluttätigkeit. Sie werden, wenn Sie über die Sache nachdenken,<br />

sich fragen: Wie steht es denn nun mit der dritten Seelenfähigkeit,<br />

mit der Gefühlstätigkeit? - Die haben wir bisher<br />

noch wenig berücksichtigt. Aber gerade indem wir die Gefühlstätigkeit<br />

heute mehr ins Auge fassen, wird sich uns auch die<br />

Möglichkeit bieten, die anderen beiden Seiten der Menschennatur,<br />

die erkennende und die willensmäßige, intensiver zu<br />

durchdringen.<br />

Wir müssen uns nur über eines noch klar werden, das ich ja in<br />

verschiedenen Zusammenhängen schon erwähnt habe. Man<br />

kann nicht die Seelenfähigkeiten so pedantisch nebeneinanderstellen:<br />

Denken, Fühlen, Wollen - weil in der ganzen lebendigen<br />

Seele die eine Tätigkeit immer in die andere übergeht.<br />

Betrachten Sie einmal auf der einen Seite den Willen. Sie werden<br />

sich bewusst sein können, dass Sie nicht zu wollen imstande<br />

sind, was Sie nicht durchdringen mit Vorstellung, also mit erkenntnismäßiger<br />

Tätigkeit. Versuchen Sie in einer, wenn auch<br />

nur oberflächlichen Selbstbesinnung, auf Ihr Wollen sich zu<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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konzentrieren. Sie werden immer finden: in dem Willensakt<br />

steckt immer irgendwie Vorstellen drinnen. Sie würden gar<br />

nicht Mensch sein, wenn Sie in dem Willensakt nicht Vorstellen<br />

drinnen hätten. Sie würden aus einer stumpfen, instinktiven<br />

Tätigkeit heraus alles das vollziehen, was aus Ihrem Willen<br />

strömt, wenn Sie nicht die Handlung, die aus dem Willen<br />

hervorquillt, mit vorstellender Tätigkeit durchdringen würden.<br />

Ebenso nun wie in aller Willensbetätigung das Vorstellen steckt,<br />

so steckt in allem Denken der Wille drinnen. Wieder wird Ihnen<br />

eine, wenn auch nur recht oberflächliche Betrachtung Ihres<br />

eigenen Selbstes die Erkenntnis liefern, dass Sie, indem Sie denken,<br />

immer in das Gedankenbilden den Willen hineinströmen<br />

lassen. Wie Sie Gedanken selber formen, wie Sie einen Gedanken<br />

mit dem anderen verbinden, wie Sie zu Urteil und Schluss<br />

übergehen, das alles ist von einer feineren Willenstätigkeit<br />

durchströmt.<br />

Daher können wir eigentlich nur sagen: Die Willenstätigkeit ist<br />

hauptsächlich Willenstätigkeit und hat in sich die Unterströmung<br />

der Denktätigkeit; die Denktätigkeit ist hauptsächlich<br />

Denktätigkeit und hat in ihrer Unterströmung Willenstätigkeit.<br />

Also ein pedantisches Nebeneinanderstellen ist schon für die<br />

Beobachtung der einzelnen Seelenbetätigungen nicht möglich,<br />

weil eben die eine in die andere überfließt.<br />

Was Sie für die Seele erkennen können: das Ineinanderfließen<br />

der Seelentätigkeiten, das sehen Sie auch ausgeprägt in dem<br />

Leib, in dem sich die Seelentätigkeit offenbart. Betrachten Sie<br />

zum Beispiel das menschliche Auge. In das Auge hinein, wenn<br />

wir es in seiner Ganzheit betrachten, setzen sich fort die Nerven;<br />

aber es setzen sich in das Auge auch die Blutbahnen fort.<br />

Dadurch, dass sich die Nerven in das menschliche Auge hinein<br />

fortsetzen, strömt die Gedanken-, die Erkenntnistätigkeit ins<br />

Auge ein; dadurch, dass sich die Blutbahnen ins Auge fortsetzen,<br />

strömt die Willensbetätigung in das Auge ein. So ist bis in<br />

die Peripherie der Sinnesbetätigungen auch im Leibe Willensgemäßes<br />

und Vorstellungs- oder Erkenntnisgemäßes miteinan-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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der verbunden. Das ist für alle Sinne so, ist aber auch für alle<br />

Bewegungsglieder, die dem Wollen dienen, eben so: in unser<br />

Wollen, in unsere Bewegungen geht durch die Nervenbahnen<br />

das Erkenntnisgemäße und durch die Blutbahnen das Willensgemäße.<br />

Nun müssen wir aber auch die besondere Art der Erkenntnistätigkeit<br />

kennenlernen. Wir haben schon darauf hingewiesen,<br />

aber wir müssen uns voll bewusst werden, was in diesem ganzen<br />

Komplex von menschlicher Tätigkeit, der nach der Erkenntnis-,<br />

der Vorstellungsseite hinneigt, alles liegt. Wir haben<br />

schon gesagt Im Erkennen, im Vorstellen lebt eigentlich Antipathie.<br />

So sonderbar es ist, alles, was nach dem Vorstellen hinneigt,<br />

ist durchdrungen von Antipathie. Sie werden sich sagen:<br />

Ja, wenn ich etwas anschaue, so übe ich in diesem Anschauen<br />

doch nicht Antipathie aus! - Doch, Sie üben sie aus! Sie üben<br />

Antipathie aus, indem Sie einen Gegenstand ansehen. Würde in<br />

Ihrem Auge nur Nerventätigkeit sein, so würde Ihnen jeder Gegenstand,<br />

den Sie mit Ihren Augen ansehen, zum Ekel sein, er<br />

wäre Ihnen antipathisch. Nur dadurch, dass sich in die Augentätigkeit<br />

hinein auch die Willenstätigkeit ergießt, die in Sympathie<br />

besteht, dadurch dass sich leiblich in Ihr Auge hineinerstreckt<br />

das Blutmäßige, nur dadurch wird für Ihr Bewusstsein<br />

die Empfindung der Antipathie im sinnlichen Anschauen ausgelöscht,<br />

und es wird durch einen Ausgleich zwischen Sympathie<br />

und Antipathie der objektive, gleichgültige Akt des Sehens hervorgerufen.<br />

Er wird da hervorgerufen, indem Sympathie und<br />

Antipathie sich ins Gleichgewicht stellen und uns dieses<br />

Ineinanderspielen von Sympathie und Antipathie gar nicht bewusst<br />

wird.<br />

Wenn Sie die Goethesche Farbenlehre, auf die ich in diesem Zusammenhang<br />

schon einmal aufmerksam gemacht habe, studieren,<br />

namentlich in ihrem physiologisch-didaktischen Teil, dann<br />

werden sie sehen: weil Goethe eingeht auf die tiefere Tätigkeit<br />

des Sehens, so kommt dadurch für seine Betrachtung in den<br />

Farbennuancen gleich zum Vorschein das Sympathische und das<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Antipathische. sie brauchen nur ein wenig hineindringen in die<br />

Tätigkeit eines Sinnesorgans, dann finden Sie sogleich das sympathische<br />

und das Antipathische in der Sinnestätigkeit auftauchen.<br />

Es rührt eben auch in der Sinnestätigkeit das Antipathische<br />

her von dem eigentlichen Erkenntnisteil, von dem Vorstellungsteil,<br />

dem Nerventeil, und das Sympathische rührt her von<br />

dem eigentlichen Willensteil, von dem Blutteil.<br />

Es gibt einen bedeutungsvollen Unterschied, den ich auch schon<br />

in den allgemeinen anthroposophischen Vorträgen öfter hervorgehoben<br />

habe, zwischen den Tieren und den Menschen mit<br />

Bezug auf die Einrichtung des Auges. Es ist sehr eigentümlich,<br />

dass das Tier viel mehr von Bluttätigkeit im Auge hat als der<br />

Mensch. Bei gewissen Tieren finden Sie sogar Organe, welche<br />

dieser Bluttätigkeit dienen, wie den «Schwertfortsatz» und den<br />

«Fächer». Daraus können Sie entnehmen, dass das Tier viel<br />

mehr von Bluttätigkeit auch ins Auge hineinsendet, und so ist es<br />

auch bei den übrigen Sinnen, als der Mensch. Das heißt, das<br />

Tier entwickelt in seinen Sinnen viel mehr Sympathie, instinktive<br />

Sympathie mit der Umwelt als der Mensch. Der Mensch hat<br />

in Wirklichkeit mehr Antipathie zu der Umwelt als das Tier,<br />

aber sie kommt im gewöhnlichen Leben nicht zum Bewusstsein.<br />

Sie kommt nur zum Bewusstsein, wenn sich das Anschauen der<br />

Umwelt steigert bis zu dem Eindruck, auf den wir mit dem Ekel<br />

reagieren. Das ist nur ein gesteigerter Eindruck alles sinnlichen<br />

Wahrnehmens: Sie reagieren mit dem Ekel auf den äußeren<br />

Eindruck. Wenn Sie an einen Ort gehen, der übel riecht, und<br />

Sie empfinden in der Sphäre dieses Übelriechens Ekel, so ist dieses<br />

Ekelempfinden nichts anderes als eine Steigerung desjenigen,<br />

was bei jeder Sinnestätigkeit stattfindet, nur bleibt die Begleitung<br />

der Empfindung durch den Ekel in der gewöhnlichen<br />

Sinnesempfindung unter der Bewusstseinsschwelle liegend.<br />

Wenn wir Menschen aber nicht mehr Antipathie hätten zu unserer<br />

Umgebung als das Tier, so würden wir uns nicht so stark<br />

absondern von unserer Umgebung, als wir uns tatsächlich absondern.<br />

Das Tier hat viel mehr Sympathie mit der Umgebung,<br />

ist daher viel mehr mit der Umgebung zusammengewachsen,<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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und es ist deshalb auch viel mehr angewiesen auf die Abhängigkeit<br />

vom Klima, von den Jahreszeiten und so weiter als der<br />

Mensch. Weil der Mensch viel mehr Antipathie hat gegen die<br />

Umgebung, deshalb ist er eine Persönlichkeit. Der Umstand,<br />

dass wir uns durch unsere unter der Schwelle des Bewusstseins<br />

liegende Antipathie absondern können von der Umgebung, diese<br />

Tatsache bewirkt unser gesondertes Persönlichkeitsbewusstsein.<br />

Damit aber haben wir auf etwas hingewiesen, was zur ganzen<br />

Auffassung des Menschen ein sehr Wesentliches beiträgt. Wir<br />

haben gesehen, wie in der Erkenntnis- oder Vorstellungstätigkeit<br />

zusammenfließen: Denken - Nerventätigkeit, leiblich ausgedrückt<br />

und Wollen - Bluttätigkeit, leiblich ausgedrückt.<br />

So aber fließen auch zusammen in der Willensbetätigung vorstellende<br />

und eigentliche Willenstätigkeit. Wir entwickeln immer,<br />

wenn wir irgend etwas wollen, Sympathie mit dem Gewollten.<br />

Aber es würde immer ein ganz instinktives Wollen<br />

bleiben, wenn wir uns nicht auch durch eine in die Sympathie<br />

des Wollens hineingeschickte Antipathie absondern könnten als<br />

Persönlichkeit von der Tat, von dem Gewollten. Nur überwiegt<br />

jetzt eben durchaus die Sympathie zu dem Gewollten, und es<br />

wird nur ein Ausgleich mit dieser Sympathie dadurch geschaffen,<br />

dass wir auch die Antipathie hineinschicken. Dadurch<br />

bleibt aber die Sympathie als solche unter der Schwelle des Bewusstseins<br />

liegend, es dringt nur etwas von dieser Sympathie ein<br />

in das Gewollte. In den ja nicht sehr zahlreichen Handlungen,<br />

die wir nicht bloß aus Vernunft vollbringen, sondern die wir in<br />

wirklicher Begeisterung, in Hingabe, in Liebe ausführen, da<br />

überwiegt die Sympathie so stark im Wollen, dass sie auch<br />

hinaufdringt über die Schwelle unseres Bewusstseins und unser<br />

Wollen selber uns durchtränkt erscheint von Sympathie, während<br />

es uns sonst als ein objektives verbindet mit der Umwelt,<br />

sich uns so offenbart. Geradeso wie uns nur ausnahmsweise,<br />

nicht immer, unsere Antipathie mit der Umwelt ins Bewusstsein<br />

kommen darf im Erkennen, so darf uns unsere immer vorhan-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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dene Sympathie mit der Umwelt nur in Ausnahmefällen, in Fällen<br />

der Begeisterung, der hingebenden Liebe, zum Bewusstsein<br />

kommen. Sonst würden wir alles instinktiv ausführen. Wir<br />

würden uns niemals in das, was objektiv, zum Beispiel im sozialen<br />

Leben, die Welt von uns fordert, eingliedern können. Wir<br />

müssen gerade das Wollen denkend durchdringen, damit dieses<br />

Wollen uns eingliedert in die Gesamtmenschheit und in den<br />

Weltenprozess als solchen.<br />

Sie werden sich das, was dabei geschieht, vielleicht klarmachen<br />

können, wenn Sie bedenken, welche Verheerungen es in der<br />

menschlichen Seele eigentlich anrichten würde, wenn im gewöhnlichen<br />

Leben diese ganze Sache, von der ich jetzt gesprochen<br />

habe, bewusst wäre. Wenn diese Sache im gewöhnlichen<br />

Leben fortwährend in der menschlichen Seele bewusst wäre,<br />

dann wäre dem Menschen ein gut Stück Antipathie bewusst, das<br />

bei allen seinen Handlungen begleitend wäre. Das wäre furchtbar!<br />

Der Mensch ginge dann durch die Welt und fühlte sich<br />

fortwährend in einer Atmosphäre von Antipathie. Das ist weise<br />

eingerichtet in der Welt, dass diese Antipathie als eine Kraft<br />

zwar notwendig ist zu unserem Handeln, dass wir uns ihrer aber<br />

nicht bewusst werden, dass sie unter der Schwelle des Bewusstseins<br />

bleibt.<br />

Nun schauen Sie da, ich möchte sagen, in ein merkwürdiges<br />

Mysterium der menschlichen Natur hinein, in ein Mysterium,<br />

das eigentlich jeder bessere Mensch empfindet, das aber der Erzieher<br />

und Unterrichter sich ganz zum Bewusstsein bringen<br />

sollte. Wir handeln ja, indem wir zuerst Kinder werden, mehr<br />

oder weniger aus bloßer Sympathie. So sonderbar es klingt: aber<br />

alles, was das Kind tut und tobt, ist aus Sympathie zu dem Tun<br />

und Toben vollbracht. Wenn die Sympathie geboren wird in der<br />

Welt, so ist sie starke Liebe, starkes Wollen. Aber sie kann nicht<br />

so bleiben, sie muss durchdrungen werden vom Vorstellen, sie<br />

muss gewissermaßen fortwährend erhellt werden vom Vorstellen.<br />

Das geschieht in umfassender Weise, indem wir eingliedern<br />

in unsere bloßen Instinkte die Ideale, die moralischen Ideale.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Und jetzt werden Sie besser begreifen können, was eigentlich<br />

auf diesem Gebiete die Antipathie bedeutet. Blieben uns die Instinktimpulse,<br />

die wir in dem kleinen Kinde bemerken, durch<br />

das ganze Leben nur sympathisch, wie sie dem Kinde sympathisch<br />

sind, so würden wir uns unter dem Einfluss unserer Instinkte<br />

animalisch entwickeln. Diese Instinkte müssen uns antipathisch<br />

werden, wir müssen Antipathie in sie hineingießen.<br />

Dann, wenn wir Antipathie in sie hineingießen, tun wir das<br />

durch unsere moralischen Ideale, denen die Instinkte antipathisch<br />

sind und die zunächst für unser Leben zwischen Geburt<br />

und Tod Antipathie in die kindliche Sympathie der Instinkte<br />

hineinsetzen. Daher ist moralische Entwickelung immer etwas<br />

Asketisches. Es muss nur dieses Asketische im richtigen Sinne<br />

gefasst werden. Es ist immer ein Üben in der Bekämpfung des<br />

Animalischen.<br />

Das alles soll uns lehren, in wie hohem Grade Wollen nicht nur<br />

Wollen in der praktischen Betätigung des Menschen ist, sondern<br />

inwiefern Wollen durchaus auch von Vorstellen, von erkennender<br />

Tätigkeit durchdrungen ist.<br />

Nun steht zwischen Erkennen, Denken und Wollen mitten<br />

drinnen die menschliche Gefühlstätigkeit. Wenn Sie sich das<br />

vorstellen, was ich jetzt als Wollen und Denken entwickelt habe,<br />

so können Sie sich sagen: Von einer gewissen mittleren<br />

Grenze strömt auf der einen Seite alles das aus, was Sympathie<br />

ist: Wollen; auf der anderen Seite strömt aus alles, was Antipathie<br />

ist: Denken. Aber die Sympathie des Wollens wirkt auch<br />

zurück in das Denken hinein, und die Antipathie des Denkens<br />

wirkt auch in das Wollen hinein. Und so wird der Mensch ein<br />

Ganzes, indem das, was sich auf der einen Seite hauptsächlich<br />

entwickelt, auch in die andere Seite hineinwirkt. Zwischen-<br />

drinnen nun, zwischen Denken und Wollen, liegt das Fühlen,<br />

so dass das Fühlen nach der einen Richtung hin verwandt ist<br />

mit dem Denken, nach der anderen Richtung hin mit dem Wollen.<br />

Wie Sie schon in der ganzen menschlichen Seele nicht<br />

streng auseinanderhalten können erkennende oder denkerische<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Tätigkeit und Willenstätigkeit, so können Sie noch weniger auseinanderhalten<br />

im Fühlen das denkerische Element von dem<br />

Willenselement. Im Fühlen fließen ganz stark ineinander Willenselemente<br />

und Denkelemente.<br />

Auch hier können Sie wieder durch die bloße Selbstbeobachtung,<br />

wenn Sie diese auch nur oberflächlich ausüben, sich von<br />

der Richtigkeit des eben Gesagten überzeugen. Schon was ich<br />

bis jetzt gesagt habe, führt Sie auf die Anschauung von dieser<br />

Richtigkeit, denn ich sagte Ihnen: Das Wollen, das im gewöhnlichen<br />

Leben objektiv verläuft, steigert sich bis zur Tätigkeit aus<br />

Enthusiasmus, aus Liebe heraus. Da sehen Sie ganz deutlich ein<br />

sonst von der Notwendigkeit des äußeren Lebens hervorgebrachtes<br />

Wollen durchströmt vom Fühlen.<br />

Wenn Sie etwas Enthusiastisches oder Liebevolles tun, so tun<br />

Sie das, was aus dem Willen fließt, indem Sie es durchdrungen<br />

sein lassen von einem subjektiven Gefühl. Aber auch bei der<br />

Sinnestätigkeit können Sie sehen, wenn Sie genauer zusehen -<br />

eben durch die Goethesche Farbenlehre -, wie sich in die Sinnestätigkeit<br />

hineinmischt das Fühlen. Und wenn sich die Sinnestätigkeit<br />

bis zum Ekel steigert oder auf der anderen Seite bis<br />

zum Einsaugen des angenehmen Blumenduftes, so haben Sie<br />

auch dabei die Gefühlstätigkeit in die Sinnestätigkeit ohne weiteres<br />

überfließend.<br />

Aber auch in die Denktätigkeit fließt die Gefühlstätigkeit hinein.<br />

Es war einmal ein, äußerlich wenigstens, sehr bemerkenswerter<br />

philosophischer Streit - es gab ja in der Geschichte der<br />

Weltanschauungen viele philosophische Streitigkeiten - zwi-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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schen dem Psychologen Franz Brentano und dem Logiker<br />

Sigwart in Heidelberg. Die beiden Herren stritten miteinander<br />

über das, was in der Urteilstätigkeit des Menschen liegt. Sigwart<br />

meinte: Wenn der Mensch urteilt, sagen wir, er fällt das Urteil:<br />

Der Mensch soll gut sein -,so spräche in einem solchen Urteil<br />

immer ein Gefühl mit; die Entscheidung trifft das Gefühl. -<br />

Brentano meinte: Urteilstätigkeit und Gefühlstätigkeit, die in<br />

Gemütsbewegungen bestehen, seien so verschieden, dass die Urteilsfunktion,<br />

die Urteilsbetätigung gar nicht begriffen werden<br />

könnte, wenn man nur glaube, das Gefühl spiele da hinein. Er<br />

meinte, dadurch käme etwas Subjektives in das Urteil hinein,<br />

während doch unser Urteil objektiv sein wolle.<br />

Ein solcher Streit zeigt dem Einsichtigen nur, dass weder die<br />

Psychologen noch die Logiker auf das gekommen sind, worauf<br />

sie kommen sollten: auf das lneinanderfließen der Seelentätigkeiten.<br />

Bedenken Sie, was hier wirklich beobachtet werden<br />

muss. Wir haben auf der einen Seite die Urteilsfähigkeit, die natürlich<br />

entscheiden muss über etwas ganz Objektives. Dass der<br />

Mensch gut sein muss, darf nicht von unserem subjektiven Gefühl<br />

abhängen. Also der Inhalt des Urteils muss objektiv sein.<br />

Aber wenn wir urteilen, kommt ja noch etwas ganz anderes in<br />

Betracht. Die Dinge, die objektiv richtig sind, sind ja deshalb<br />

noch nicht bewusst in unserer Seele. Wir müssen sie erst bewusst<br />

in unsere Seele hereinbekommen. Und bewusst bekommen<br />

wir kein Urteil in unsere Seele herein, ohne dass die Gefühlstätigkeit<br />

mitwirkt. Daher müssen wir sagen, Brentano und<br />

Sigwart hätten sich dahin einigen müssen, dass sie beide gesagt<br />

hätten: Ja, der objektive Inhalt des Urteils steht außerhalb der<br />

Gefühlstätigkeit fest; damit aber in der subjektiven Menschenseele<br />

die Überzeugung von der Richtigkeit des Urteils zustande<br />

komme, muss die Gefühlstätigkeit sich entwickeln.<br />

sie sehen daraus, wie schwer es ist bei der ungenauen Art der<br />

philosophischen Betrachtungen, wie sie gegenwärtig gepflogen<br />

werden, überhaupt zu genauen Begriffen zu kommen. Zu solchen<br />

genauen Begriffen muss man sich ja erst erheben, und es<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

gibt heute keine andere Erziehung zu genauen Begriffen als die<br />

durch Geisteswissenschaft. Die äußere Wissenschaft meint, sie<br />

habe genaue Begriffe, und sie ergeht sich sehr hochnäsig über<br />

das, was anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft liefert,<br />

weil sie keine Ahnung hat, dass die von dieser Seite gelieferten<br />

Begriffe gegenüber den heute gebräuchlichen viel genauer<br />

und exakter sind, weil sie aus der Wirklichkeit hergeholt<br />

sind, nicht aus dem bloßen Spiel mit den Worten.<br />

Indem sie so das gefühlsmäßige Element nach der einen Seite<br />

verfolgen in dem Erkennenden, in dem Vorstellenden, und auf<br />

der anderen Seite in dem Willensgemäßen, werden Sie sich sagen:<br />

Das Gefühl steht als die mittlere Seelenbetätigung zwischen<br />

Erkennen und Wollen drinnen und strahlt seine Wesenheit<br />

nach den beiden Richtungen aus. - Gefühl ist sowohl noch nicht<br />

ganz gewordene Erkenntnis, wie noch nicht ganz gewordener<br />

Wille, zurückgehaltene Erkenntnis und zurück gehaltener Wille.<br />

Daher auch ist das Fühlen zusammengesetzt aus Sympathie<br />

und Antipathie, die sich nur verstecken, wie Sie gesehen haben,<br />

sowohl im Erkennen wie im Wollen. Beide, Sympathie und Antipathie,<br />

sind im Erkennen und Wollen vorhanden, indem leiblich<br />

Nerventätigkeit und Bluttätigkeit zusammenwirken, aber<br />

sie verstecken sich. Im Fühlen werden sie offenbar.<br />

Wie schauen denn daher die leiblichen Offenbarungen des Fühlens<br />

aus? Sie werden ja im menschlichen Leibe überall finden,<br />

wie die Blutbahnen mit den Nervenbahnen in irgendeiner Weise<br />

sich berühren. Und überall dort, wo Blutbahnen mit Nervenbahnen<br />

sich berühren, entsteht eigentlich Gefühl. Nur ist, in<br />

den Sinnen zum Beispiel, sowohl der Nerv wie das Blut so verfeinert,<br />

dass wir nicht mehr das Gefühl spüren. Von einem leisen<br />

Gefühl ist all unser Sehen und Hören durchzogen, aber wir<br />

spüren es nicht; wir spüren es um so weniger, als das Sinnesorgan<br />

abgegrenzt, abgetrennt ist von dem übrigen Leib. Beim Sehen,<br />

bei der Augentätigkeit, spüren wir das gefühlsmäßige<br />

Sympathisieren und Antipathisieren fast gar nicht, weil das Auge,<br />

in der Knochenrundung eingebettet, fast ganz vom übrigen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Organismus abgesondert ist. Und sehr verfeinert sind die Nerven,<br />

die sich ins Auge hineinerstrecken und auch die Blutbahnen,<br />

die sich ins Auge hineinerstrecken. Es ist das gefühlsmäßige<br />

Empfinden im Auge sehr unterdrückt. - Weniger unterdrückt<br />

ist das Gefühlsmäßige beim Sinn des Hörens. Das Hören<br />

steht viel mehr als das Schauen mit der Gesamttätigkeit des Organismus<br />

in einem organischen Zusammenhang. Indem sich<br />

zahlreiche Organe im Ohre befinden, die ganz andersgeartet<br />

sind als die Organe des Auges, ist das Ohr in vieler Beziehung<br />

ein getreues Abbild desjenigen, was im ganzen Organismus vor<br />

sich geht. Daher wird das, was im Ohr als Sinnestätigkeit vor<br />

sich geht, sehr stark begleitet von Gefühlstätigkeit. Und hier<br />

wird es selbst Menschen, die sich gut auf das verstehen, was gehört<br />

wird, schwer, wirklich zur Klarheit zu kommen, was im<br />

Gehörten, besonders beim künstlerisch Gehörten, bloßes Erkennen<br />

und was Gefühlsmäßiges ist. Darauf beruht eine sehr<br />

interessante Erscheinung der neueren Zeit, die auch in die unmittelbare<br />

künstlerische Produktion hineingespielt hat.<br />

Sie kennen alle in Richard Wagners «Meistersinger» die Figur<br />

des Beckmesser. Was sollte Beckmesser eigentlich darstellen? Er<br />

sollte darstellen einen musikalisch Auffassenden, der ganz vergisst,<br />

wie auch das gefühlsmäßige Element des ganzen Menschen<br />

in das Erkenntnismäßige der Gehörtätigkeit hineinwirkt<br />

Wagner, der seine eigene Auffassung in dem Walther dargestellt<br />

hat, war wiederum ganz einseitig davon durchdrungen, dass<br />

hauptsächlich das Gefühlsmäßige im Musikalischen leben müsse.<br />

Was da im Walther und im Beckmesser aus einer missverständlichen<br />

Auffassung - ich meine: bei beiden missverständliche<br />

Auffassung - sich gegenübergestellt wird, im Gegensatz zu<br />

der richtigen Auffassung, wie Gefühlsmäßiges und Erkenntnismäßiges<br />

im musikalischen Hören zusammenwirken, das kam in<br />

einer historischen Erscheinung dadurch zum Ausdruck, dass die<br />

Wagnersche Kunst bei ihrem Auftreten, namentlich aber bei<br />

ihrem Bekanntwerden einen Gegner fand in der Person von<br />

Eduard Hanslick in Wien, der alles, was in der Gefühlssphäre<br />

aufströmt in der Wagnerschen Kunst, als unmusikalisch ansah.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Es gibt vielleicht wenig psychologisch so interessante Schriften<br />

auf dem Gebiete des Künstlerischen wie die «Vom musikalisch<br />

Schönen» von Eduard Hanslick. Darin wird hauptsächlich ausgeführt,<br />

dass der kein wahrer Musiker ist, keinen wahren musikalischen<br />

Sinn hat, der alles vom Gefühlsmäßigen in der Musik<br />

herholen möchte, sondern nur derjenige, der in der objektiven<br />

Verbindung von Ton zu Ton den eigentlichen Nerv des Musikalischen<br />

sieht, in der alles Gefühlsmäßige entbehrenden Arabeske,<br />

die sich zusammenfügt von Ton zu Ton. Mit einer wunderbaren<br />

Reinlichkeit wird da die Forderung, dass das höchste Musikalische<br />

nur im Tonbilde, in der Tonarabeske bestehen darf,<br />

ausgeführt in dem Buche «Vom musikalisch Schönen» von Eduard<br />

Hanslick, und es wird aller mögliche Spott über das ergossen,<br />

was gerade den Nerv des Wagnertums ausmacht als das<br />

Schaffen des Tonlichen aus dem Gefühlselemente heraus. Dass<br />

überhaupt ein solcher Streit wie der zwischen Hanslick und<br />

Wagner auftreten konnte auf dem Gebiete des Musikalischen,<br />

das bezeugt eben, dass psychologisch die Ideen über die Seelenbetätigungen<br />

in der neueren Zeit durchaus im unklaren waren,<br />

sonst hätte gar nicht eine solch einseitige Neigung, wie sie bei<br />

Hanslick hervortrat, entstehen können. Durchschaut man aber<br />

das Einseitige und gibt man sich dann hin den philosophisch<br />

starken Auseinandersetzungen von Hanslick, dann wird man<br />

sagen: das Büchelchen „Vom musikalisch Schönen“ ist ein sehr<br />

geistreiches.<br />

Sie sehen daraus, dass bei dem einen Sinne mehr, bei dem anderen<br />

weniger von dem ganzen Menschen, der zunächst als Gefühlswesen<br />

lebt, in die Peripherie hineindringt, erkenntnismäßig.<br />

Das wird und muss auch Sie gerade zum Behufe pädagogischer<br />

Einsicht auf etwas aufmerksam machen, was eine große Verheerung<br />

im wissenschaftlichen Denken der Gegenwart anrichtet.<br />

Hätten wir hier nicht vorbereitend gesprochen und sprächen<br />

wir nicht vorbereitend über das, was Sie hinüberleiten soll zu<br />

einer reformatorischen Tätigkeit, so müssten Sie aus den jetzi-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

gen vorhandenen Pädagogiken, aus den bestehenden Psychologien<br />

und Logiken und aus den Erziehungspraktiken sich das zusammensetzen,<br />

was Sie in Ihrer Schultätigkeit ausüben wollen.<br />

Sie müssten das, was außen üblich geworden ist, in die Schultätigkeit<br />

hineintragen. Nun leidet aber das, was heute üblich geworden<br />

ist, von vornherein an einem großen Übelstand schon<br />

mit Bezug auf die Psychologie. sie finden ja in jeder Psychologie<br />

zunächst eine sogenannte Sinneslehre. Indem man untersucht,<br />

worauf die Sinnestätigkeit beruht, gewinnt man die Sinnestätigkeit<br />

des Auges, des Ohres, der Nase und so weiter. Man fasst alles<br />

in einer großen Abstraktion «Sinnestätigkeit» zusammen.<br />

Das ist ein großer Fehler, ist ein beträchtlicher Irrtum. Denn<br />

nehmen Sie nur diejenigen Sinne, die zunächst dem heutigen<br />

Physiologen oder Psychologen bekannt sind, so werden Sie,<br />

wenn Sie zunächst nur auf das Leibliche sehen, beobachten<br />

können, dass eigentlich der Sinn des Auges etwas ganz anderes<br />

ist als der Sinn des Ohres. Auge und Ohr sind zwei ganz verschiedene<br />

Wesen. Und dann erst die Organisation des Tastsinnes,<br />

die überhaupt noch gar nicht erforscht ist, auch nicht in<br />

nur so befriedigender Weise, wie es beim Auge und Ohr der Fall<br />

ist! Aber bleiben wir beim Auge und 0hr stehen. Sie sind zwei<br />

ganz verschiedene Tätigkeiten, so dass die Zusammenfassung<br />

des Sehens und Hörens in eine «allgemeine Sinnestätigkeit» eine<br />

graue Theorie ist. Man müsste, wollte man richtig hier zu Werke<br />

gehen, mit einem konkreten Anschauungsvermögen zunächst<br />

überhaupt nur sprechen von der Betätigung des Auges,<br />

von der Betätigung des Ohres, von der Betätigung des Geruchsorgans<br />

und so weiter. Dann wurde man eine so große Verschiedenheit<br />

finden, dass einem die Lust verginge, eine allgemeine<br />

Sinnesphysiologie, wie sie die heutigen Psychologien haben,<br />

aufzustellen.<br />

Man kommt in der Betrachtung der menschlichen Seele nur zu<br />

einer Einsicht, wenn man auf dem Gebiete stehenbleibt, das ich<br />

zu begrenzen versuchte in meinen Auseinandersetzungen sowohl<br />

in «Wahrheit und Wissenschaft» wie in der «Philosophie<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

der Freiheit». Dann kann man von der einheitlichen Seele sprechen,<br />

ohne dass man dabei in Abstraktionen verfällt. Denn da<br />

steht man auf einem sicheren Boden; da geht man davon aus,<br />

dass der Mensch sich in die Welt hineinlebt und nicht die ganze<br />

Wirklichkeit hat. Sie können das in «Wahrheit und Wissenschaft»<br />

und in der «Philosophie der Freiheit» nachlesen. Der<br />

Mensch hat anfangs nicht die ganze Wirklichkeit. Er entwickelt<br />

sich erst weiter, und im Weiterentwickeln wird ihm das, was<br />

vorher noch nicht Wirklichkeit ist, durch das Ineinandergehen<br />

von Denken und Anschauung erst zur wahren Wirklichkeit.<br />

Der Mensch erobert sich erst die Wirklichkeit. In dieser Beziehung<br />

hat der Kantianismus, der sich in alles eingefressen hat,<br />

die furchtbarsten Verheerungen angerichtet. Was tut denn der<br />

Kantianismus? Er sagt von vornherein dogmatisch: Die Welt,<br />

die uns umgibt, haben wir zunächst anzuschauen, und in uns<br />

lebt eigentlich nur das Spiegelbild von dieser Welt. So kommt er<br />

zu allen seinen anderen Deduktionen. Kant ist sich nicht im klaren<br />

darüber, was in der wahrgenommenen Umgebung des Menschen<br />

ist. Denn die Wirklichkeit ist nicht in der Umgebung, ist<br />

auch nicht in der Erscheinung, sondern es ist so, dass die Wirklichkeit<br />

erst nach und nach auftaucht durch unser Erobern dieser<br />

Wirklichkeit, so dass das Letzte, was an uns herantritt, die<br />

Wirklichkeit erst ist. Im Grunde genommen wäre das die richtige<br />

Wirklichkeit, was der Mensch in dem Augenblicke erschaut,<br />

wo er sich nicht mehr aussprechen kann, in jenem Augenblicke<br />

nämlich, wo er durch die Pforte des Todes geht.<br />

Es sind sehr viele falsche Elemente eingeflossen in die neuere<br />

Geisteskultur, und das wirkt am entscheidendsten auf dem Gebiete<br />

der Pädagogik. Daher müssen wir bestrebt sein, an die<br />

Stelle der falschen Begriffe die richtigen zu setzen. Dann werden<br />

wir das, was wir für den Unterricht zu tun haben, auch in<br />

der richtigen Weise ausüben können.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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SECHSTER VORTRAG<br />

27. AUGUST 1919, STUTTGART<br />

Wir haben bisher versucht, den Menschen zu begreifen, insofern<br />

uns dieses Begreifen für die Erziehung des Kindes notwendig<br />

ist, vom seelischen Standpunkte aus. Wir werden ja die drei<br />

Standpunkte auseinanderhalten müssen - den geistigen, den seelischen<br />

und den physischen Standpunkt - und werden, um eine<br />

vollständige Anthropologie zu bekommen, von jedem dieser<br />

Standpunkte aus den Menschen betrachten. Es liegt am nächsten,<br />

die seelische Betrachtung zu vollziehen, weil dem Menschen<br />

im gewöhnlichen Leben eben das Seelische am nächsten<br />

liegt. Und sie werden auch empfunden haben, dass wir, indem<br />

wir zu diesem Begreifen des Menschen als Hauptbegriffe verwendet<br />

haben Antipathie und Sympathie, damit auf das Seelische<br />

hingezielt haben. Es wird sich für uns nicht entsprechend<br />

erweisen, wenn wir vom seelischen gleich auf das Leibliche<br />

übergehen, denn wir wissen aus unseren geisteswissenschaftlichen<br />

Betrachtungen heraus, dass das Leibliche nur gefasst werden<br />

kann, wenn es als eine Offenbarung des Geistigen und auch<br />

des seelischen aufgefasst wird. Daher werden wir zu der seelischen<br />

Betrachtung, die wir in allgemeinen Linien skizziert haben,<br />

jetzt hinzufügen eine Betrachtung des Menschen vom geistigen<br />

Gesichtspunkte aus, und wir werden dann erst auf die eigentliche,<br />

jetzt so genannte Anthropologie, auf die Betrachtung<br />

des Menschenwesens, wie es sich in der äußeren physischen<br />

Welt zeigt, näher eingehen.<br />

Wenn Sie von irgendeinem Gesichtspunkt aus den Menschen<br />

zweckmäßig betrachten wollen, so müssen sie immer wieder<br />

und wieder zurückgehen auf die Gliederung der menschlichen<br />

Seelentätigkeiten in Erkennen, das im Denken verläuft, in Fühlen<br />

und in Wollen. Wir haben bis jetzt Denken oder Erkennen,<br />

Fühlen und Wollen in die Atmosphäre von Antipathie und<br />

Sympathie gerückt. Wir wollen jetzt einmal eben vom geistigen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Gesichtspunkte aus Wollen, Fühlen und Erkennen ins Auge fassen.<br />

Sie werden auch vom geistigen Gesichtspunkte aus einen Unterschied<br />

finden zwischen Wollen, Fühlen und denkendem Erkennen.<br />

Betrachten Sie nur das Folgende. Indem Sie denkend erkennen,<br />

müssen Sie empfinden - wenn ich mich zunächst bildlich ausdrücken<br />

darf, aber das Bildliche wird uns zu Begriffen verhelfen<br />

-, dass Sie gewissermaßen im Lichte leben. Sie erkennen und<br />

fühlen sich ganz drinnen mit Ihrem Ich in dieser Tätigkeit des<br />

Erkennens. Gewissermaßen jeder Teil, jedes Glied derjenigen<br />

Tätigkeit, die Sie Erkennen nennen, ist drinnen in alledem, was<br />

Ihr Ich tut; und wieder: was Ihr Ich tut, ist drinnen in der Tätigkeit<br />

des Erkennens. Sie sind ganz im Hellen, Sie leben in einer<br />

vollbewussten Tätigkeit, wenn ich mich begrifflich ausdrücken<br />

darf. Es wäre auch schlimm, wenn Sie beim Erkennen<br />

nicht in einer vollbewussten Tätigkeit wären. Denken Sie einmal,<br />

wenn Sie das Gefühl haben müssten: während Sie ein Urteil<br />

fällen, geht mit Ihrem Ich irgendwo im Unterbewussten etwas<br />

vor, und das Ergebnis dieses Vorganges sei das Urteil! Nehmen<br />

Sie an, Sie sagen: Dieser Mensch ist ein guter Mensch , fällen<br />

also ein Urteil. Sie müssen sich bewusst sein, dass das, was<br />

Sie brauchen, um dieses Urteil zu fällen - das Subjekt «der<br />

Mensch», das Prädikat «er ist ein guter» -, Glieder sind eines<br />

Vorganges, der Ihnen ganz gegenwärtig ist, der für Sie ganz vom<br />

Lichte des Bewusstseins durchzogen ist. Müssten Sie annehmen,<br />

irgendein Dämon oder ein Mechanismus der Natur knäuele zusammen<br />

den «Menschen» mit dem<br />

Nicht so ist es beim Wollen. Sie wissen ganz gut, wenn Sie das<br />

einfachste Wollen, das Gehen, entwickeln, so leben Sie eigentlich<br />

vollbewusst nur in der Vorstellung von diesem Gehen. Was<br />

innerhalb Ihrer Muskeln sich vollzieht, während Sie ein Bein<br />

nach dem anderen vorwärts bewegen, was da im Mechanismus<br />

und Organismus Ihres Leibes vorgeht, von dem wissen Sie<br />

nichts. Denken Sie nur, was Sie alles zu lernen haben würden<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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von der Welt, wenn Sie alle die Vorrichtungen bewusst vollziehen<br />

müssten, welche beim Wollen des Gehens notwendig<br />

sind! Sie müssten dann genau wissen, wie viel von den Tätigkeiten,<br />

welche die Nahrungsstoffe in den Muskeln Ihrer Beine und<br />

in den anderen Körpermuskeln hervorrufen, verbraucht wird,<br />

während Sie sich anstrengen, zu gehen. Sie haben das nie ausgerechnet,<br />

wie viel Sie von dem verbrauchen, was Ihnen die Nahrung<br />

zuführt. Sie wissen ganz gut: Das alles geschieht in Ihrer<br />

Körperlichkeit sehr, sehr unbewusst. Indem wir wollen, mischt<br />

sich fortwährend in unsere Tätigkeit ein tiefes Unbewusstes<br />

hinein. Das ist nicht etwa bloß so, wenn wir das Wesen des<br />

Wollens an unserem eigenen Organismus betrachten. Auch was<br />

wir vollbringen, wenn wir unser Wollen auf die äußere Welt<br />

erstrecken, auch das umfassen wir keineswegs vollständig mit<br />

dem Lichte des Bewusstseins.<br />

Nehmen Sie an, Sie haben zwei säulenartige Pflöcke. Sie nehmen<br />

sich vor, Sie legen einen dritten Pflock quer darüber. Unterscheiden<br />

Sie jetzt genau, was in alledem, was Sie da getan haben,<br />

als vollbewusste erkennende Tätigkeit lebt, von dem,<br />

was in Ihrer vollbewussten Tätigkeit lebt, wenn Sie das Urteil<br />

fällen: Ein Mensch ist gut -, wo Sie mit Ihrem Erkennen ganz<br />

drinnenstecken.<br />

Unterscheiden Sie bitte, was darin als erkennende Tätigkeit lebt,<br />

von dem, wovon Sie nichts wissen, trotzdem Sie es mit Ihrem<br />

vollen Willen zu tun hatten: Warum stützen diese zwei Säulen<br />

durch gewisse Kräfte diesen darüberliegenden Balken? Dafür<br />

hat ja die Physik bis heute nur Hypothesen. Und wenn die Menschen<br />

glauben, dass sie wissen, warum die beiden Pflöcke den<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Balken tragen, so bilden sie es sich nur ein. Alles, was man hat<br />

als Begriffe der Kohäsion, der Adhäsion, der Anziehungs- und<br />

Abstoßungskraft, sind im Grunde genommen für das äußere<br />

Wissen nur Hypothesen. Wir rechnen mit diesen äußeren Hypothesen,<br />

indem wir handeln; wir rechnen damit, dass die beiden<br />

Pflöcke, die den Balken tragen sollen, nicht zusammenknicken<br />

werden, wenn sie eine gewisse Dicke haben. Aber durchschauen<br />

können wir den ganzen Vorgang, der damit zusammenhängt,<br />

nicht, geradesowenig wie wir unsere Beinbewegungen<br />

durchschauen können, wenn wir vorwärts streben. So<br />

mischt sich auch hier in unser Wollen ein nicht in unser Bewusstsein<br />

hineinreichendes Element hinein. Das Wollen hat im<br />

weitesten Umfange ein Unbewusstes in sich.<br />

Und das Fühlen steht zwischen Wollen und denkendem Erkennen<br />

mitten drinnen. Beim Fühlen ist es auch so, dass es zum Teil<br />

von Bewusstsein durchzogen wird, zum Teil von einem Unbewussten.<br />

Das Fühlen nimmt auch in dieser Weise teil an der Eigenschaft<br />

eines erkennenden Denkens, auf der anderen Seite an<br />

der Eigenschaft eines fühlenden oder gefühlten Wollens. Was<br />

liegt denn nun da eigentlich vom geistigen Gesichtspunkte aus<br />

vor?<br />

Sie kommen nur zurecht, wenn Sie sich vom geistigen Gesichtspunkte<br />

aus die oben charakterisierten Tatsachen in der folgenden<br />

Art zum Begreifen bringen. Wir reden in unserem gewöhnlichen<br />

Leben vom Wachen, von dem wachen Bewusstseinszustande.<br />

Aber wir haben diesen wachen Bewusstseinszustand nur<br />

in der Tätigkeit des erkennenden Denkens. Wenn Sie also ganz<br />

genau davon reden wollen, inwiefern der Mensch wacht, so<br />

müssen Sie sagen: Wirklich wachend ist der Mensch nur, solange<br />

und insofern er ein denkender Erkenner von irgend etwas ist.<br />

Wie steht es nun mit dem Wollen? Sie kennen alle den Bewusstseinszustand<br />

- nennen Sie es meinetwillen auch<br />

Bewusstseinslosigkeitszustand - des Schlafes. Sie wissen, während<br />

wir schlafen, vom Einschlafen bis zum Aufwachen, ist das,<br />

was wir erleben, nicht in unserem Bewusstsein drinnen. Gera-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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deso ist es aber auch mit alledem, was als Unbewusstes unser<br />

Wollen durchzieht. Insofern wir wollende Wesen sind als Menschen,<br />

schlafen wir, auch wenn wir wachen. Wir tragen immer<br />

mit uns einen schlafenden Menschen, nämlich den wollenden<br />

Menschen, und begleiten ihn mit dem wachenden, mit dem<br />

denkend erkennenden Menschen; wir sind, insofern wir wollende<br />

Wesen sind, auch vom Aufwachen bis zum Einschlafen<br />

schlafend. Es schläft immer etwas in uns mit, nämlich die innere<br />

Wesenheit des Wollens. Der sind wir uns nicht stärker bewusst,<br />

als wir uns derjenigen Vorgänge bewusst sind, die sich<br />

mit uns abspielen während des Schlafes. Man erkennt den Menschen<br />

nicht vollständig, wenn man nicht weiß, dass das Schlafen<br />

in sein Wachen hereinspielt, indem der Mensch ein Wollen-<br />

der ist.<br />

Das Fühlen steht in der Mitte, und wir dürfen uns jetzt fragen:<br />

Wie ist das Bewusstsein im Fühlen? - Das steht nun auch in der<br />

Mitte zwischen Wachen und Schlafen. Gefühle, die in Ihrer<br />

Seele leben, kennen Sie gerade so, wie Sie Träume kennen, nur<br />

dass Sie die Träume erinnern und die Gefühle unmittelbar erleben.<br />

Aber die innere Seelenverfassung und Seelenstimmung die<br />

Sie haben, indem Sie von Ihren Gefühlen wissen, ist keine andere<br />

als die, welche Sie gegenüber Ihren Träumen haben. Sie sind<br />

im Wachen nicht nur ein wachender Mensch, indem Sie denkend<br />

erkennen, und ein schlafender, insofern Sie wollen, Sie<br />

sind auch ein träumender, insofern Sie fühlen. So sind also tatsächlich<br />

drei Bewusstseinszustände während unseres Wachens<br />

über uns ergossen: das Wachen im eigentlichen Sinne im denkenden<br />

Erkennen, das Träumen im Fühlen, das Schlafen im<br />

Wollen. Der gewöhnliche traumlose Schlaf ist vom geistigen<br />

Gesichtspunkte aus angesehen nichts anderes als die Hingabe<br />

des Menschen mit seiner ganzen Seelenwesenheit an das, woran<br />

er hingegeben ist mit seinem Wollen, während er seinen Tageslauf<br />

vollbringt. Es ist nur der Unterschied, dass wir im eigentlichen<br />

Schlafen mit unserem ganzen Seelenwesen schlafen, dass<br />

wir im Wachen nur schlafen mit unserem Wollen. Beim Träumen,<br />

was man im gewöhnlichen Leben so nennt, ist es so, dass<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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wir mit unserem ganzen Menschen an den Seelenzustand hingegeben<br />

sind, den wir Traum nennen, und dass wir im Wachen<br />

nur als fühlender Mensch an diesen träumerischen Seelenzustand<br />

hingegeben sind.<br />

Pädagogisch betrachtet werden Sie sich jetzt nicht mehr verwundern,<br />

wenn Sie die Sache so ansehen, dass die Kinder verschieden<br />

sind mit Bezug auf die Wachheit ihres Bewusstseins.<br />

Denn Sie werden finden, dass Kinder, bei denen das Gefühlsleben<br />

der Anlage gemäß überwiegt, träumerische Kinder sind, so<br />

dass solche Kinder, bei denen in der Kindheit eben das volle<br />

Denken noch nicht aufgewacht ist, leicht hingegeben sein werden<br />

an ein träumerisches Wesen. Das werden Sie dann zum<br />

Anlass nehmen, um durch starke Gefühle auf ein solches Kind<br />

zu wirken. Und Sie werden dann die Hoffnung haben können,<br />

dass diese starken Gefühle bei ihm auch das helle Erkennen erwecken<br />

werden, denn alles Schlafen hat dem Lebensrhythmus<br />

gemäß die Tendenz, nach einiger Zeit aufzuwachen. Wenn wir<br />

nun ein solches Kind, das träumerisch im Gefühlsleben<br />

dahinbrütet, mit starken Gefühlen angehen, dann werden diese<br />

in das Kind versetzten starken Gefühle nach einiger Zeit von<br />

selbst als Gedanken aufwachen.<br />

Kinder, die noch mehr brüten, die sogar stumpf sind gegenüber<br />

dem Gefühlsleben, die werden Ihnen offenbaren, dass sie besonders<br />

im Willen stark veranlagt sind. Sie sehen da: wenn Sie<br />

dies bedenken, können Sie erkennend vor manchem Rätsel im<br />

kindlichen Leben stehen. Sie können ein Kind in die Schule<br />

hereinbekommen, das sich ausnimmt wie ein echter Stumpfling.<br />

Wenn Sie da gleich das Urteil fällen: Das ist ein schwachsinniges,<br />

ein stumpfsinniges Kind -, wenn Sie es mit experimenteller<br />

Psychologie untersuchen würden, schöne Gedächtnisprüfungen<br />

vornähmen und allerlei, was ja jetzt auch schon in psychologisch-pädagogischen<br />

Laboratorien gemacht wird und dann sagen<br />

würden: Stumpfes Kind seiner ganzen Anlage nach, gehört<br />

in die Schwachsinnigen-Schule oder auch in die jetzt beliebte<br />

Wenigerbefähigten-Schule, so würden Sie mit solchem Urteil<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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nicht dem Wesen des Kindes nahekommen. Vielleicht aber ist<br />

dieses Kind besonders stark im Willen veranlagt, vielleicht ist es<br />

eines jener Kinder, die im späteren Leben aus ihrer Cholerik zu<br />

tatkräftigem Handeln übergehen. Aber der Wille schläft zunächst.<br />

Und wenn das denkende Erkennen bei diesem Kinde<br />

verurteilt ist, später erst hervorzutreten, dann muss es auch in<br />

der entsprechenden Weise behandelt werden, damit es dann<br />

später berufen sein kann, etwas Tatkräftiges zu vollbringen.<br />

Vorerst erscheint es als ein rechter Stumpfling, der ist es aber<br />

vielleicht gar nicht. Und man muss dann den Blick dafür haben,<br />

bei einem solchen Kinde den Willen zu erwecken; das heißt,<br />

man muss so in seinen wachen Schlafzustand hineinwirken,<br />

dass es nach und nach dahin kommt - weil ja jeder Schlaf die<br />

Tendenz hat, zum Erwachen zu kommen einen Schlaf als Willen,<br />

der vielleicht sehr stark ist, der aber nur jetzt schläft, vom<br />

schlafenden Wesen übertönt wird, im späteren Lebensalter aufzuwecken.<br />

Ein solches Kind muss so -handelt werden, dass Sie<br />

möglichst wenig auf sein Erkenntnisvermögen, auf sein Begreifen<br />

bauen, sondern ihm gewissermaßen einhämmern einige<br />

recht stark auf den Willen wirkende Sachen, dass Sie es, indem<br />

es spricht, zu gleicher Zeit gehen lassen. Sie nehmen ein solches<br />

Kind, Sie werden ja nicht sehr viele davon haben, aus der Klasse<br />

heraus und - für die anderen Kinder wird es anregend sein, für<br />

dieses Kind ist es bildend - lassen es, indem es Sätze spricht, die<br />

Worte mit Bewegungen begleiten. Also: Der (Schritt) - Mensch<br />

(Schritt) - ist (Schritt) - gut! - Auf diese Weise verbinden Sie den<br />

ganzen Menschen im Willenselement mit dem bloß Intellektuellen<br />

m Erkennen, und Sie können es nach und nach dahin<br />

bringen, dass bei einem solchen Kinde der Wille zum Gedanken<br />

erwacht. Erst die Einsicht, dass man es im wachenden Menschen<br />

schon zu tun hat mit verschiedenen Bewusstseinszuständen<br />

- mit machen, Träumen und Schlafen -, erst diese Einsicht<br />

bringt ins zu einer wirklichen Erkenntnis unserer Aufgaben gegenüber<br />

dem werdenden Menschen.<br />

Wir können aber jetzt etwas fragen. Wir können fragen: Wie<br />

verhält sich das eigentliche Zentrum des Menschen, das Ich, zu<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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diesen verschiedenen Zuständen? Sie kommen am leichtesten<br />

dabei zurecht, wenn Sie zunächst, was ja unleugbar ist, voraussetzen:<br />

Was wir Welt, was wir Kosmos nennen, das ist eine<br />

Summe von Tätigkeiten. Für uns drücken sich diese Tätigkeiten<br />

aus auf den verschiedenen Gebieten des elementaren Lebens.<br />

Wir wissen, dass in diesem elementaren Leben Kräfte walten.<br />

Die Lebenskraft waltet zum Beispiel um uns herum. Und zwischen<br />

den elementaren Kräften und der Lebenskraft eingesponnen<br />

ist alles, was zum Beispiel die Wärme und das Feuer bewirkt.<br />

Denken Sie nur, wie sehr wir in einer Umgebung stehen,<br />

in der durch das Feuer sehr vieles bewirkt wird.<br />

In gewissen Gegenden der Erde, zum Beispiel in Süditalien,<br />

brauchen Sie nur eine Papierkugel anzuzünden, und in demselben<br />

Augenblick fängt es an, aus der Erde heraus mächtig zu rauchen.<br />

Warum geschieht das? Es geschieht, weil Sie durch das<br />

Anzünden der Papierkugel und die sich dadurch entwickelnde<br />

Wärme die Luft an dieser Stelle verdünnen, und das, was sonst<br />

unter der Erdoberfläche an Kräften waltet, wird durch den<br />

nach aufwärts gerichteten Rauch nach oben gezogen, und in<br />

dem Augenblick, wo Sie die Papierkugel anzünden und auf die<br />

Erde werfen, stehen Sie in einer Rauchwolke. Das ist ein Experiment,<br />

das jeder Reisende machen kann, der in die Gegend von<br />

Neapel kommt. Das habe ich als ein Beispiel dafür angeführt,<br />

dass wir, wenn wir die Welt nicht oberflächlich betrachten, uns<br />

sagen müssen: Wir leben in einer Umgebung, die überall von<br />

Kräften durchzogen ist.<br />

Nun gibt es auch höhere Kräfte als die Wärme. Die sind auch in<br />

unserer Umgebung. Durch sie gehen wir immer durch, indem<br />

wir als physische Menschen durch die Welt gehen. Ja, unser<br />

physischer Körper, ohne dass wir es im gewöhnlichen Erkennen<br />

wissen, ist so geartet, dass wir das vertragen. Mit unserem physischen<br />

Körper können wir so durch die Welt schreiten.<br />

Mit unserem Ich, das die jüngste Bildung unserer Evolution ist,<br />

könnten wir nicht durch diese Weltenkräfte schreiten, wenn<br />

dieses Ich sich unmittelbar an diese Kräfte hingeben sollte. Die-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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ses Ich könnte nicht an alles sich hingeben, was in seiner Umgebung<br />

ist und worin es selbst drinnen ist. Dieses Ich muss jetzt<br />

noch davor bewahrt werden, sich ergießen zu müssen in die<br />

Weltenkräfte. Es wird sich einmal dazu entwickeln, in die Weltenkräfte<br />

hinein aufgehen zu können. Jetzt kann es das noch<br />

nicht. Deshalb ist es notwendig, dass wir für das völlig wache<br />

Ich nicht versetzt werden in die wirkliche Welt, die in unserer<br />

Umgebung ist, sondern nur in das Bild der Welt. Daher haben<br />

wir in unserem denkenden Erkennen eben nur die Bilder der<br />

Welt, was wir vom seelischen Gesichtspunkte aus schon angeführt<br />

haben.<br />

Jetzt betrachten wir es auch vom geistigen Gesichtspunkte aus.<br />

Im denkenden Erkennen leben wir in Bildern; und wir Menschen<br />

auf der gegenwärtigen Entwickelungsstufe innerhalb von<br />

Geburt und Tod können mit unserem vollwachenden Ich nur in<br />

Bildern von dem Kosmos leben, noch nicht in dem wirklichen<br />

Kosmos. Daher muss, wenn wir wachen, unser Leib uns zuerst<br />

die Bilder des Kosmos hervorbringen. Dann lebt unser Ich in<br />

den Bildern von diesem Kosmos.<br />

Die Psychologen geben sich furchtbar viel Mühe, die Beziehungen<br />

zwischen Leib und Seele zu konstatieren. Sie reden von<br />

Wechselwirkung zwischen Leib und Seele, reden vom psychophysischen<br />

Parallelismus und auch von anderen Dingen noch.<br />

Alle diese Dinge sind im Grunde genommen kindliche Begriffe.<br />

Denn der wirkliche Vorgang dabei ist der: Wenn das Ich des<br />

Morgens in den Wachzustand übergeht, so dringt es in den Leib<br />

ein, aber nicht in die physischen Vorgänge des Leibes, sondern<br />

in die Bilderwelt, die bis in sein tiefstes Inneres der Leib von<br />

den äußeren Vorgängen erzeugt. Dadurch wird dem Ich das<br />

denkende Erkennen übermittelt.<br />

Beim Fühlen ist es anders. Da dringt schon das Ich in den wirklichen<br />

Leib ein, nicht bloß in die Bilder. Wenn es aber bei diesem<br />

Eindringen voll bewusst wäre, dann würde es - nehmen Sie<br />

das jetzt seelisch - buchstäblich seelisch verbrennen. Wenn Ihnen<br />

dasselbe passierte beim Fühlen, was Ihnen passiert beim<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Denken, indem Sie in die Bilder, die Ihnen Ihr Leib erzeugt, mit<br />

Ihrem Ich eindringen, dann würden Sie seelisch verbrennen. Sie<br />

würden es nicht aushalten. Sie können dieses Eindringen, welches<br />

das Fühlen bedeutet, nur träumend, im herabgedämpften<br />

Bewusstseinszustande erleben. Nur im Traume halten Sie das<br />

aus, was beim Fühlen in Ihrem Leib eigentlich vor sich geht.<br />

Und was beim Wollen sich abspielt, das können Sie überhaupt<br />

nur erleben, indem Sie schlafen. Das wäre etwas ganz Schreckliches,<br />

was Sie erleben würden, wenn Sie im gewöhnlichen Leben<br />

alles miterleben müssten, was mit Ihrem Wollen vor sich geht.<br />

Der entsetzlichste Schmerz ergriffe Sie zum Beispiel, wenn Sie,<br />

was ich schon andeutete, wirklich erleben müssten, wie sich die<br />

durch die Nahrungsmittel dem Organismus zugeführten Kräfte<br />

beim Gehen verbrauchen in Ihren Beinen. Es ist schon Ihr<br />

Glück, dass Sie das nicht erleben beziehungsweise nur schlafend<br />

erleben. Denn wachend dies erleben, würde den denkbar größten<br />

Schmerz bedeuten, einen furchtbaren Schmerz. Man könnte<br />

sogar sagen: das Erwachen ins Wollen besteht darin, dass für<br />

den Menschen, insofern er ein wollender ist, der Schmerz, der<br />

nur latent bleibt, betäubt wird durch den Schlafzustand im<br />

Wollen.<br />

Daher werden Sie verstehen, wenn ich Ihnen jetzt das Leben<br />

des Ich charakterisiere während dessen, was man im gewöhnlichen<br />

Leben Wachzustand nennt - was also umfasst: voll Wachen,<br />

träumend Wachen, schlafend Wachen -, wenn ich charakterisiere,<br />

was das Ich, indem es im gewöhnlichen Wachzustande<br />

im Leibe lebt, eigentlich in Wirklichkeit durchlebt. Dieses<br />

Ich lebt im denkenden Erkennen, indem es aufwacht in den<br />

Leib; da ist es voll wach. Es lebt darin aber nur in Bildern, so<br />

dass der Mensch in seinem Leben zwischen Geburt und Tod,<br />

wenn er nicht solche Übungen macht, wie sie in meinem Buche<br />

«Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» angedeutet<br />

sind, fortwährend nur in Bildern durch sein denkendes Erkennen<br />

lebt.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Dann senkt sich erwachend das Ich auch ein in die Vorgänge,<br />

die das Fühlen bedingen. Fühlend leben: da sind wir nicht voll<br />

wach, sondern da sind wir träumend wach. Wie erleben wir<br />

denn eigentlich das, was wir da im träumenden Wachzustande<br />

fühlend durchmachen? Das erleben wir tatsächlich in dem, was<br />

man immer genannt hat Inspirationen, inspirierte Vorstellungen,<br />

unbewusst inspirierte Vorstellungen. Da ist der Herd von<br />

alledem, was aus den Gefühlen beim Künstler hinaufsteigt in das<br />

wache Bewusstsein. Dort wird es zuerst durchgemacht. Dort<br />

wird auch alles das durchgemacht, was beim wachen Menschen<br />

oftmals als Einfälle hinaufsteigt ins Wachbewusstsein und dann<br />

zu Bildern wird.<br />

Was in meinem Buche: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren<br />

Welten?» Inspirationen genannt wird, das ist nur das zur<br />

Helligkeit, zum Vollbewusstsein heraufgehobene Erleben desjenigen,<br />

was bei jedem Menschen unten im Gefühlsleben unbewusst<br />

an Inspirationen vorhanden ist.<br />

Und wenn besonders veranlagte Leute von ihren Inspirationen<br />

sprechen, so sprechen sie eigentlich von dem, was die Welt in<br />

ihr Gefühlsleben hineingelegt hat und durch ihre Anlagen heraufkommen<br />

lässt in ihr volles Wachbewusstsein. Es ist das ebenso<br />

Weltinhalt, wie der Gedankeninhalt Weltinhalt ist. Aber in<br />

dem Leben zwischen Geburt und Tod spiegeln diese unbewussten<br />

Inspirationen solche Weltenvorgänge, die wir nur träumend<br />

erleben können; sonst würde unser Ich in diesen Vorgängen<br />

sich verbrennen, oder es würde ersticken, namentlich ersticken.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Dieses Ersticken beginnt auch manchmal beim Menschen in abnormen<br />

Zuständen. Denken Sie nur einmal, Sie haben Alpdruck.<br />

Dann will ein Zustand, der sich abspielt zwischen Ihnen<br />

und der äußeren Luft, wenn bei einem Menschen in diesem<br />

Wechselverhältnis nicht alles in Ordnung ist, in abnormer Weise<br />

übergehen in etwas anderes. Indem das übergehen will in Ihr<br />

Ich-Bewusstsein, wird es Ihnen nicht als eine normale Vorstellung<br />

bewusst, sondern als eine Sie quälende Vorstellung: als der<br />

Alpdruck. Und so qualvoll wie das abnorme Atmen im Alpdruck,<br />

so qualvoll wäre das gesamte Atmen, wäre jeder Atemzug,<br />

wenn der Mensch das Atmen vollbewusst erleben würde.<br />

Er würde es fühlend erleben, aber qualvoll wäre es für ihn. Es<br />

wird daher abgestumpft, und so wird es nicht als physischer<br />

Vorgang, sondern nur in dem träumerischen Gefühl erlebt.<br />

Und gar die Vorgänge, die sich beim Wollen abspielen, ich habe<br />

es Ihnen schon angedeutet: furchtbarer Schmerz wäre das! Daher<br />

können wir weiter sagen als drittes: Das Ich im wollenden<br />

Tun ist schlafend. Da wird das erlebt, was erlebt wird mit stark<br />

herabgedämpftem Bewusstsein - eben im schlafenden Bewusstsein<br />

- in unbewussten Intuitionen. Unbewusste Intuitionen hat<br />

der Mensch fortwährend; aber sie leben in seinem Wollen. Er<br />

schläft in seinem Wollen. Daher kann er sie auch nicht im gewöhnlichen<br />

Leben heraufholen. Sie kommen nur in Glückszuständen<br />

des Lebens herauf; dann erlebt der Mensch ganz dumpf<br />

die geistige Welt mit.<br />

Nun ist etwas Eigentümliches beim gewöhnlichen Leben des<br />

Menschen vorhanden. Das Vollbewusstsein im vollen Wachen<br />

beim denkenden Erkennen, das kennen wir ja alle. Da sind wir<br />

sozusagen in der Helligkeit des Bewusstseins, darüber wissen<br />

wir Bescheid. Manchmal fangen dann die Menschen an, wenn<br />

sie über die Welt etwas nachdenken, zu sagen: Wir haben Intuitionen.<br />

Unbestimmt Gefühltes bringen die Menschen dann aus<br />

diesen Intuitionen heraus vor. Was sie da sagen, kann manchmal<br />

etwas sehr Verworrenes sein, aber es kann auch unbewusst<br />

geregelt sein. Und schließlich, wenn der Dichter von seinen In-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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tuitionen spricht, so ist das durchaus richtig, dass er sie zunächst<br />

nicht herausholt aus dem Herd, wo sie ihm am nächsten liegen,<br />

aus den inspirierten Vorstellungen des Gefühlslebens, sondern<br />

er holt hervor seine ganz unbewussten Intuitionen aus der Region<br />

des schlafenden Wollens.<br />

Wer in diese Dinge hineinsieht, der sieht selbst in scheinbaren<br />

Zufälligkeiten des Lebens tiefe Gesetzmäßigkeiten. Man liest<br />

zum Beispiel den zweiten Teil von Goethes «Faust», und man<br />

möchte sich ganz gründlich davon unterrichten, wie gerade diese<br />

merkwürdigen Verse in ihrem Bau hervorgebracht werden<br />

konnten. Goethe war schon alt, als er den zweiten Teil seines<br />

«Faust» schrieb, wenigstens den größten Teil davon. Er schrieb<br />

ihn so, dass John, sein Sekretär, am Schreibtische saß und das<br />

schrieb, was Goethe diktierte. Hätte Goethe selber schreiben<br />

müssen, so hätte er wahrscheinlich nicht so merkwürdig ziselierte<br />

Verse für den zweiten Teil seines «Faust» hervorgebracht.<br />

Goethe ging, während er diktierte, in seiner kleinen Weimarer<br />

Stube fortwährend auf und ab, und dieses Auf- und Abgehen<br />

gehört mit zur Konzeption des zweiten Teiles des «Faust». Indem<br />

Goethe dieses unbewusste wollende Tun im Gehen entwickelte,<br />

drängte aus seinen Intuitionen etwas herauf, und in seiner<br />

äußeren Tätigkeit offenbarte sich dann dasjenige, was er<br />

durch einen anderen auf das Papier schreiben ließ.<br />

Wenn Sie sich ein Schema machen wollen von dem Leben des<br />

Ich im Leibe, und Sie machen es sich in der folgenden Weise:<br />

I. wachend - bildhaftes Erkennen<br />

II. träumend - inspiriertes Fühlen<br />

III. schlafend - intuitierendes oder intuitiertes Wollen<br />

dann werden Sie sich nicht recht begreiflich machen können,<br />

warum das Intuitive, von dem die Menschen instinktiv sprechen,<br />

leichter heraufkomme ins bildhafte Erkennen des Alltags<br />

als das näherliegende inspirierte Fühlen. Wenn Sie sich nun das<br />

Schema jetzt richtig zeichnen - denn hier oben ist es falsch gezeichnet<br />

-, wenn Sie es in der Weise machen, wie in der Zeich-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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nung, dann werden Sie die Sache leichter begreifen. Denn dann<br />

werden Sie sich sagen: In der Richtung des Pfeils (1) steigt das<br />

bildhafte Erkennen hinunter in die Inspirationen, und es<br />

kommt wieder herauf aus den Intuitionen (Pfeil 2). Aber dieses<br />

Erkennen, das mit dem Pfeil 1 angedeutet ist, ist das Hinuntersteigen<br />

in den Leib. Und jetzt betrachten Sie sich; Sie sind zunächst<br />

ganz ruhig, sitzend oder stehend, geben sich nur dem<br />

denkenden Erkennen hin, der Betrachtung der Außenwelt. Da<br />

leben Sie im Bilde. Was sonst das Ich erlebt an den Vorgängen,<br />

steigt hinunter in den Leib, erst ins Fühlen, dann ins Wollen.<br />

Was im Fühlen ist, beachten Sie nicht, was im Wollen ist, beachten<br />

Sie zunächst auch nicht. Nur wenn Sie anfangen zu gehen,<br />

wenn Sie anfangen zu handeln, dann betrachten Sie äußerlich<br />

nicht zuerst das Fühlen, sondern das Wollen. Und da, beim<br />

Hinuntersteigen in den Leib und beim Wiederheraufsteigen,<br />

was in der Richtung des Pfeiles 2 vor sich geht, da hat das intuitive<br />

Wollen es näher, zum bildhaften Bewusstsein zu kommen<br />

als das träumende inspirierte Fühlen. Daher werden Sie finden,<br />

dass die Menschen so oft sagen: Ich habe eine unbestimmte Intuition.<br />

- Da wird dann das, was in meinem Buche „Wie erlangt<br />

man Erkenntnisse der höheren Welten“ Intuitionen genannt<br />

wird, mit der oberflächlichen Intuition des gewöhnlichen Bewusstseins<br />

verwechselt.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Jetzt werden Sie etwas begreifen von der Gestalt des menschlichen<br />

Leibes. Denken Sie sich jetzt einmal einen Augenblick gehend,<br />

aber die Welt betrachtend. Denken Sie sich: Nicht Ihr<br />

Unterleib müsste mit den Beinen gehen, sondern Ihr Kopf würde<br />

direkt die Beine haben und müsste gehen. Da würde in eins<br />

verwoben sein Ihr Weltbetrachten und Ihr Wollen, und die<br />

Folge wäre, dass Sie nur schlafend gehen könnten. Indem Ihr<br />

Kopf aufgesetzt ist auf die Schultern und auf den übrigen Leib,<br />

ruht er auf dem übrigen Leibe. Er ruht, und Sie tragen Ihren<br />

Kopf, indem Sie sich nur mit dem anderen Leib bewegen. Der<br />

Kopf muss aber auf dem Leibe ruhen können, sonst könnte er<br />

nicht das Organ des denkenden Erkennens sein. Er muss dem<br />

schlafenden Wollen entzogen werden, denn in dem Augenblick,<br />

wo Sie ihn in die Bewegung überführen, wo Sie ihn aus der relativen<br />

Ruhe in eine selbstgemachte Bewegung überführen würden,<br />

da würde er zum Schlafen kommen. Das eigentliche Wollen<br />

lässt er den Leib vollziehen, und er lebt in diesem Leibe<br />

drinnen wie in einer Kutsche und lässt sich von diesem Wagen<br />

weiterbefördern. Nur dadurch, dass sich der Kopf wie in einer<br />

Kutsche von dem Wagen des Leibes weiterbefördern lässt und<br />

während dieses Weiterbeförderns, während dieses Rubens handelt,<br />

ist der Mensch wachend handelnd. Nur wenn Sie die Dinge<br />

so zusammenhalten, kommen Sie auch zu einem wirklichen Begreifen<br />

der Gestalt des menschlichen Leibes.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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SIEBENTER VORTRAG<br />

28. AUGUST 1919, STUTTGART<br />

Es kommt für Sie darauf an zu durchschauen, was das Menschenwesen<br />

eigentlich ist. Wir haben auf unserem bisherigen<br />

Gange durch die allgemeine Pädagogik versucht, zunächst vom<br />

seelischen, dann vom geistigen Gesichtspunkte aus dieses Menschenwesen<br />

zu begreifen. Das letztere wollen wir heute etwas<br />

fortsetzen. Wir werden uns selbstverständlich fortwährend beziehen<br />

müssen auf Begriffe, die über Pädagogisches, auch über<br />

Seelisches, Psychologisches in der Welt gang und gäbe sind;<br />

denn Sie werden sich ja durch Lektüre im Laufe der zeit mit pädagogischer<br />

und psychologischer Literatur auseinanderzusetzen<br />

haben, soweit Sie dazu Zeit und Muße haben.<br />

Betrachten wir vom seelischen Gesichtspunkte aus den Menschen,<br />

so legen wir das Hauptgewicht darauf, Antipathien und<br />

Sympathien innerhalb der Weltgesetzmäßigkeit zu entdecken;<br />

betrachten wir aber vom geistigen Gesichtspunkte aus den Menschen,<br />

so müssen wir das Hauptgewicht darauf legen, Bewusstseinszustände<br />

zu entdecken. Und wir haben uns ja gestern mit<br />

den im Menschen waltenden drei Bewusstseinszuständen beschäftigt:<br />

mit dem Vollwachsein, mit dem Träumen und mit<br />

dem Schlafen - und haben gezeigt, wie das Vollwachsein eigentlich<br />

nur im denkenden Erkennen vorhanden ist, das Träumen<br />

aber im Fühlen waltet und das Schlafen im Wollen.<br />

Es ist alles Begreifen eigentlich ein Beziehen des einen auf das<br />

andere. Begreifen können wir aber in der Welt nicht anders, als<br />

dass wir das eine auf das andere beziehen. Diese methodische<br />

Bemerkung möchte ich vorausschicken. Indem wir uns zur<br />

Welt erkennend in Beziehung setzen, beobachten wir zunächst.<br />

Entweder beobachten wir mit unseren Sinnen, wie wir das im<br />

gewöhnlichen Leben tun, oder wir entwickeln uns etwas weiter<br />

und beobachten mit Seele und Geist, wie wir das im Imaginie-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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ren, in der Inspiration und in der Intuition können. Aber auch<br />

das geistige Beobachten ist eben ein Beobachten, und notwendig<br />

ist zur Ergänzung alles Beobachtens, dass wir begreifen. Begreifen<br />

aber können wir nur, wenn wir das eine auf das andere im<br />

Weltenall, in unserer Umgebung beziehen.<br />

Sie können sich gute Begriffe verschaffen von Leib, Seele und<br />

Geist, wenn sie den ganzen menschlichen Lebenslauf ins Auge<br />

fassen. Nur müssen sie berücksichtigen, dass Sie bei solchem Beziehen,<br />

wie ich es jetzt andeuten werde, immer nur die allerersten<br />

Anfangsgründe des Begreifens haben. sie müssen dann die<br />

Begriffe, welche Sie auf diese Art bekommen, weiter ausbilden.<br />

Betrachten Sie nämlich das erst in die Welt gekommene Kind,<br />

betrachten sie es in seinen Formen, in seinen Bewegungen, in<br />

seinen Lebensäußerungen, im schreien, im Lallen und so weiter,<br />

dann bekommen sie ein Bild mehr des Menschenleibes. Aber sie<br />

bekommen dieses Bild des Menschenleibes auch nur vollständig,<br />

wenn sie es beziehen auf das mittlere und auf das greise Lebensalter<br />

des Menschen. Im mittleren Lebensalter ist der Mensch<br />

mehr seelisch, im Greisenalter ist er am meisten geistig. Das<br />

letztere könnte leicht angefochten werden. selbstverständlich<br />

werden da manche sagen: Aber viele Greise werden doch wieder<br />

ganz schwachgeistig! - Das ist insbesondere ein Einwand des<br />

Materialismus gegen das Seelisch- Geistige, dass man im Alter<br />

wieder schwachgeistig wird, und mit einer wahren Beharrlichkeit<br />

dozieren ja die Materialisten, dass selbst ein so großer Geist<br />

wie Kant in seinem Alter schwachsinnig geworden wäre. Dieser<br />

Einwand der Materialisten und diese Tatsache sind richtig. Allein,<br />

was sie beweisen wollen, beweisen sie nicht. Denn auch<br />

Kant war, als er vor der Todespforte stand, weiser, als er in seiner<br />

Kindheit war; nur war in seiner Kindheit sein Leib imstande,<br />

alles aufzunehmen, was aus seiner Weisheit kam; dadurch<br />

konnte es bewusst werden im physischen Leben. Im Greisenalter<br />

dagegen war der Leib unfähig geworden, das auch aufzunehmen,<br />

was der Geist ihm lieferte. Es war der Leib kein richtiges<br />

Werkzeug des Geistes mehr. Daher konnte auf dem physi-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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schen Plan Kant nicht mehr zum Bewusstsein dessen kommen,<br />

was in seinem Geiste lebte. Trotz der scheinbaren Tragkraft des<br />

eben gekennzeichneten Einwandes muss man sich ja doch klar<br />

darüber sein, dass man im Alter weise, geistvoll wird, dass man<br />

sich den Geistern nähert. Daher wird man bei solchen Greisen,<br />

die sich bis ins hohe Alter hinein Elastizität und Lebenskraft für<br />

ihren Geist bewahren, die Eigenschaften des Geistigen in ihrem<br />

Anfange erkennen müssen. Es gibt ja auch solche Möglichkeiten.<br />

In Berlin waren einmal zwei Professoren. Der eine war Michelet,<br />

der Hegelianer, der schon über neunzig Jahre war. Er hatte<br />

es, da er ziemlich geistvoll war, nur zum Honorarprofessor gebracht,<br />

aber er hielt noch, als er schon so alt war, seine Vorträge.<br />

Da war dann ein anderer, Zeller, der Geschichtsschreiber der<br />

griechischen Philosophie. Der war gegen Michelet ein Jüngling,<br />

denn er war erst siebzig Jahre. Von dem hörte man überall, dass<br />

er die Last des Alters fühle, dass er nicht mehr seine Vorlesungen<br />

halten könne, dass er vor allem aber seine Vorlesungen eingeschränkt<br />

wissen wollte. Dazu sagte Michelet immer: Ich begreife<br />

den Zeller nicht; ich könnte noch den ganzen Tag Vorlesungen<br />

halten, der Zeller aber in seiner Jugend redet immer davon,<br />

dass ihm das zu viel Anstrengung verursacht!<br />

Also Sie sehen, man wird schon vielleicht nur in einzelnen<br />

Exemplaren äußerlich physisch das bewahrheitet finden, was<br />

hier über den Geist des Alters zugrunde gelegt wird. Aber es ist<br />

so.<br />

Betrachten wir dagegen den Menschen in seinen Lebensäußerungen<br />

mehr in seinem mittleren Alter, so bekommen wir die<br />

Anfangsgründe für das Beobachten des Seelischen. Daher kann<br />

auch der Mensch in seinem mittleren Lebensalter, man möchte<br />

sagen, das Seelische mehr verleugnen. Er kann seelenlos oder<br />

sehr beseelt erscheinen. Denn das Seelische steht in der Freiheit<br />

des Menschen, auch in der Erziehung. Dass manche Menschen<br />

sehr seelenlos sind in ihrer mittleren Lebenszeit, beweist daher<br />

nichts dagegen, dass die mittlere Lebenszeit die eigentlich seeli-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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sche ist. Wenn man vergleicht die mehr zappelnde, unbewusst<br />

sich betätigende Leibesnatur des Kindes mit der beschaulichen,<br />

ruhigen Leibesnatur des Alters, so hat man auf der einen Seite<br />

einen Leib, der besonders seinen Leib hervorkehrt im Kinde,<br />

und einen Leib, der den Leib als solchen zurücktreten lässt, der<br />

sich gewissermaßen als Leib selbst verleugnet, im Greisenalter.<br />

Wenn wir diese Betrachtung mehr auf das Seelische anwenden,<br />

dann werden wir sagen: Der Mensch trägt in sich denkendes<br />

Erkennen, Fühlen und Wollen. Schauen wir das Kind an, dann<br />

haben wir in dem Bilde, das uns das Kind seelisch darbietet, eine<br />

enge Verknüpfung zwischen Wollen und Fühlen. Man möchte<br />

sagen, Wollen und Fühlen sind im Kinde zusammengewachsen.<br />

Wenn das Kind zappelt, strampelt, so macht es genau die Bewegungen,<br />

die seinem Fühlen in diesem Augenblicke entsprechen;<br />

es ist nicht imstande, die Bewegungen etwa von dem Gefühl<br />

auseinanderzuhalten.<br />

Anders wird das beim Greise. Bei ihm ist das Entgegengesetzte<br />

der Fall: denkendes Erkennen und Fühlen sind zusammengewachsen,<br />

und das Wollen tritt in einer gewissen selbständigen<br />

Art auf. Es verläuft also der menschliche Lebensgang in der<br />

Weise, dass das Fühlen, welches zuerst an das Wollen gebunden<br />

ist, sich allmählich im Laufe des Lebens vom Wollen loslöst.<br />

Und damit haben wir es gerade vielfach im Erziehen zu tun: mit<br />

dem Loslösen des Fühlens vom Wollen. Dann verbindet sich das<br />

vom Wollen losgelöste Fühlen mit dem denkenden Erkennen.<br />

Damit hat es dann das spätere Leben zu tun. Wir haben das<br />

Kind für das spätere Leben nur dann richtig vorbereitet, wenn<br />

wir in ihm bewirken, dass das Fühlen sich gut loslösen kann von<br />

dem Wollen; dann wird es in einer späteren Lebensära als Mann<br />

oder Frau auch das losgelöste Fühlen mit dem denkenden Erkennen<br />

verbinden können und wird so dem Leben gewachsen<br />

sein. Warum hören wir dem Greise zu, auch wenn er uns von<br />

seinen Lebenserfahrungen erzählt? Weil er im Laufe seines Lebens<br />

sein persönliches Empfinden verbunden hat mit seinen Begriffen<br />

und Ideen. Er erzählt uns nicht Theorien, er erzählt uns<br />

das, was er persönlich an Gefühlen hat anknüpfen können an<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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die Ideen und Begriffe. Bei dem Greise, der wirklich sein Fühlen<br />

mit dem denkenden Erkennen verbunden hat, klingen daher die<br />

Begriffe und Ideen warm, klingen wirklichkeitsgesättigt, konkret,<br />

persönlich; während bei dem Menschen, der mehr im<br />

Mannes- oder Frauenalter stehengeblieben ist, die Begriffe und<br />

Ideen theoretisch, abstrakt, wissenschaftlich klingen. Das gehört<br />

einmal zum menschlichen Leben, dass von den menschlichen<br />

Seelenfähigkeiten ein gewisser Gang durchgemacht wird, indem<br />

sich das fühlende Wollen des Kindes entwickelt zu dem fühlenden<br />

Denken des Greises. Dazwischen liegt das menschliche Leben,<br />

und wir werden zu diesem menschlichen Leben nur gut<br />

erziehen, wenn wir eine solche Sache psychologisch ins Auge zu<br />

fassen vermögen.<br />

Nun müssen wir darauf Rücksicht nehmen, dass bei aller unserer<br />

Beobachtung der Welt etwas zuerst auftritt, auch alle<br />

Psychologien beschreiben es als das erste, das bei der Weltbeobachtung<br />

auftritt: das ist die Empfindung. Wenn irgendeiner<br />

unserer Sinne in Zusammenhang kommt mit der Umwelt, so<br />

empfindet er. Wir empfinden die Farbe, die Töne, Wärme und<br />

Kälte. So tritt in unserem Wechselverkehr mit der Umwelt die<br />

Empfindung auf.<br />

So wie die Empfindung gewöhnlich in den landläufigen Psychologien<br />

beschrieben wird, bekommen Sie keine richtige Vorstellung<br />

von dem, was Empfindung eigentlich ist. Wenn die<br />

Psychologien von der Empfindung sprechen, so sagen sie: Draußen<br />

geht ein gewisser physischer Vorgang vor sich, Vibrationen<br />

im Lichtäther oder Schwingungen in der Luft, das strömt an unser<br />

Sinnesorgan, reizt dieses Sinnesorgan. - Man spricht dann<br />

wohl von dem Reiz, und man schwingt sich dann auf zu einem<br />

Ausdruck, den man bildet, aber nicht zum Verständnis bringen<br />

will. Denn der Reiz löst aus durch das Sinnesorgan in unserer<br />

Seele die Empfindung, die ganz qualitative Empfindung, welche<br />

zustande kommt aus dem physischen Vorgang, zum Beispiel<br />

durch Schwingungen der Luftwellen beim Hören. Wie das zustande<br />

kommt, darüber kann die Psychologie, kann die gegen-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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wärtige Wissenschaft überhaupt noch keine Auskunft geben.<br />

Das steht ja gewöhnlich in den Psychologien.<br />

Näher als durch solche psychologischen Betrachtungen werden<br />

Sie dem Verständnis dieser Dinge kommen, wenn Sie durch die<br />

Einsicht in die Natur der Empfindungen selber sich die Frage<br />

beantworten können: Welcher der Seelenkräfte ist denn eigentlich<br />

die Empfindung am meisten verwandt? - Die Psychologen<br />

machen sich die Sache 'leicht; sie rechnen die Empfindung<br />

glattweg zu dem Erkennen und sagen: Erst empfinden wir, dann<br />

nehmen wir wahr, dann machen wir uns Vorstellungen, bilden<br />

uns Begriffe und so weiter. - So scheint ja auch der Vorgang zunächst<br />

zu sein. Nur nimmt man dann darauf keine Rücksicht,<br />

welcher Wesenheit eigentlich die Empfindung ist.<br />

Wenn man die Empfindung wirklich in genügender Selbstbeobachtung<br />

durchschaut, so erkennt man: die Empfindung ist<br />

willensartiger Natur mit einem Einschlag von gefühlsmäßiger<br />

Natur. Sie ist zunächst nicht verwandt mit dem denkenden Erkennen,<br />

sondern mit dem fühlenden Wollen oder dem wollenden<br />

Fühlen. Ich weiß nicht, wie viele Psychologien - man kann<br />

natürlich nicht alle die unzähligen Psychologien, die es in der<br />

Gegenwart gibt, kennen - irgend etwas von der Verwandtschaft<br />

der Empfindung mit dem wollenden Fühlen oder dem fühlenden<br />

Wollen eingesehen haben. Wenn man sagt, dass die Empfindung<br />

mit dem Wollen verwandt ist, so ist das nicht genau gesprochen,<br />

denn sie ist mit dem wollenden Fühlen und dem fühlenden<br />

Wollen verwandt. Aber dass sie mit dem Fühlen verwandt<br />

ist, hat wenigstens ein Psychologe, der sich durch eine<br />

besonders gute Beobachtung auszeichnete, Moriz Benedikt in<br />

Wien, in seiner Psychologie erkannt.<br />

Diese Psychologie wird von den Psychologen allerdings weniger<br />

berücksichtigt. Es ist auch etwas Eigentümliches mit ihr. Erstens<br />

ist Moriz Benedikt seiner Fachstempelung nach Kriminalanthropologe;<br />

der schreibt nun eine Psychologie. zweitens ist er Naturforscher,<br />

und er schreibt über die Wichtigkeit dichterischer<br />

Kunstwerke bei der Erziehung, analysiert sogar dichterische<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Kunstwerke, um zu zeigen, wie man sie in der Erziehung verwenden<br />

kann. Es ist etwas Schreckliches: der Mann will Wissenschaftler<br />

sein und hält etwas davon, dass die Psychologen<br />

etwas lernen können von den Dichtern! Und drittens: Dieser<br />

Mann ist jüdischer Naturforscher und schreibt eine Psychologie<br />

und widmet diese ausgerechnet dem Priester, dem katholischen<br />

Philosophen der Theologischen Fakultät an der Wiener Universität<br />

- das war er damals noch -, Laurenz Mülner. Drei furchtbare<br />

Dinge, die unmöglich die Fachpsychologen veranlassen<br />

können, den Mann ernst zu nehmen. Aber Sie würden, wenn<br />

Sie seine Psychologie durchlesen würden, so viele wirklich treffende<br />

Apercus im einzelnen finden, dass Sie davon viel hätten,<br />

trotzdem Sie den ganzen Aufbau dieser Psychologie, die ganze<br />

materialistische Denkweise Moriz Benedikts - denn in der steckt<br />

er doch - ablehnen müssen. Von dem Ganzen des Buches haben<br />

Sie nicht das geringste, aber von den einzelnen Beobachtungen<br />

sehr viel. So muss man sich das Beste in der Welt dort suchen,<br />

wo es vorhanden ist. Wenn einer ein guter Beobachter im einzelnen<br />

ist, und es ekelt einen vor der Gesamttendenz, die man<br />

bei Moriz Benedikt finden kann, dann braucht man darum nicht<br />

seine guten Beobachtungen im einzelnen abzulehnen.<br />

Die Empfindung ist also, wie sie im Menschen auftritt, wollendes<br />

Fühlen oder fühlendes Wollen. Daher müssen wir sagen:<br />

Da, wo sich äußerlich die menschliche Sinnessphäre ausbreitet -<br />

die Sinne tragen wir ja an der Außenseite unseres Leibes, wenn<br />

man sich grob ausdrücken darf , da ist im Menschen in gewisser<br />

Weise fühlendes Wollen, wollendes Fühlen vorhanden. zeichnen<br />

wir uns skizzenhaft den Menschen schematisch auf, so<br />

können wir sagen: An der äußeren Oberfläche des Menschen -<br />

ich bitte zu berücksichtigen, dass das alles schematisch gemeint<br />

ist -, da haben wir die Sinnessphäre, da ist wollendes Fühlen,<br />

fühlendes Wollen vorhanden. (Siehe Zeichnung S. 119.) Was<br />

tun wir denn an dieser Oberfläche, wenn fühlendes Wollen,<br />

wollendes Fühlen vorhanden ist, soweit diese Körperoberfläche<br />

Sinnessphäre ist? Wir verüben eine Tätigkeit, die halb Schlafen<br />

und halb Traum ist; ein träumendes Schlafen, ein schlafendes<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Träumen könnten wir es auch nennen. Denn wir schlafen nicht<br />

nur in der Nacht, wir schlafen fortwährend an der Peripherie,<br />

an der äußeren Oberfläche unseres Leibes, und wir durchschauen<br />

als Menschen deshalb die Empfindungen nicht ganz, weil wir<br />

in diesen Gegenden, wo die Empfindungen sind, nur schlafend<br />

träumen und träumend schlafen. Die Psychologen ahnen gar<br />

nicht, dass es derselbe Grund ist, warum sie die Empfindungen<br />

nicht erfassen können, der uns auch hindert, wenn wir des<br />

Morgens erwachen, die Träume uns klar zum Bewusstsein zu<br />

bringen. Sie sehen, die Begriffe von Schlafen und Träumen haben<br />

eine ganz andere Bedeutung noch als die, welche wir im<br />

gewöhnlichen Leben anwenden würden. Wir kennen das Schlafen<br />

im gewöhnlichen Leben nur dadurch, dass wir wissen: in<br />

der Nacht, wenn wir im Bette liegen, schlafen wir. Wir wissen<br />

gar nicht, dass dieses Schlafen etwas ist, was eine viel größere<br />

Verbreitung hat, was wir fortwährend auch tun an unserer Körperoberfläche;<br />

nur mischen sich an unsere Körperoberfläche in<br />

das Schlafen fortwährend Träume hinein. Diese<br />

Sie müssen die Willens- und Fühlenssphäre beim Kinde auch in<br />

seinen Sinnen aufsuchen. Deshalb betonen wir so stark, dass<br />

wir, indem wir das Kind intellektuell erziehen, auch auf den<br />

Willen fortwährend wirken müssen; denn in allem, was das<br />

Kind anschauen muss, was es wahrnehmen muss, müssen wir<br />

auch den Willen und das Fühlen pflegen, sonst widersprechen<br />

wir ja eigentlich dem kindlichen Empfinden. Wir können erst<br />

zum Greise, erst am Lebensabend des Menschen so zu ihm sprechen,<br />

dass wir auch die Empfindungen auffassen als schon<br />

metamorphosiert. Beim Greise ist es so, dass auch schon die<br />

Empfindung übergegangen ist vom fühlenden Wollen zum fühlenden<br />

Denken oder denkenden Fühlen. Bei ihm ist die Empfindung<br />

etwas anderes geworden. Da haben die Empfindungen<br />

mehr Gedankencharakter und entbehren des unruhigen Willenscharakters,<br />

tragen größere Ruhe in sich. Beim Greise können<br />

wir erst sagen, die Empfindungen haben sich dem Begriffe,<br />

dem Ideencharakter angenähert.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Diesen feinen Unterschied in der Empfindung machen gewöhnlich<br />

die Psychologen nicht. Für sie ist Greisesempfindung dasselbe,<br />

was Kindesempfindung ist, denn Empfindung ist für sie<br />

Empfindung. Das ist ungefähr eine solche Logik, als wenn Sie<br />

ein Rasiermesser vor sich haben und sagen: Das Rasiermesser ist<br />

ein Messer, also schneiden wir damit das Fleisch, denn Messer<br />

ist Messer. - Da nimmt man von der Worterklärung den Begriff.<br />

Das sollte man aber niemals machen, sondern man sollte den<br />

Begriff von den Tatsachen nehmen. Bei der Empfindung würden<br />

wir finden, dass sie auch lebt, dass sie auch ein Werden im<br />

Leben durchmacht, dass sie beim Kinde mehr willensartigen<br />

Charakter hat, beim Greise mehr verstandesmäßig intellektuellen<br />

Charakter. Natürlich ist es für den Menschen leichter, alles<br />

aus den Worten herauszuklauben; daher haben wir so viele<br />

Worterklärer, und es kann manches ganz entsetzlich auf einen<br />

wirken.<br />

Ich war einmal in der Lage, einem Mitschüler zuzuhören, nachdem<br />

wir beide etwas auseinandergekommen waren. Wir hatten<br />

dieselbe Volksschule besucht; ich kam auf die Realschule, er auf<br />

das Lehrerseminar, noch dazu auf ein ungarisches, und das wollte<br />

in den siebziger Jahren etwas heißen. Wir trafen uns nach<br />

einigen Jahren und besprachen uns über das Licht. Ich hatte<br />

schon gelernt, was man in der regulären Physik lernen konnte,<br />

dass also das Licht etwas zu tun habe mit Schwingungen im<br />

Äther und so weiter. Das konnte man wenigstens als eine Ursache<br />

des Lichtes ansehen. Mein ehemaliger Mitschüler sagte dazu:<br />

Wir haben auch gelernt, was das Licht ist: Licht ist die Ursache<br />

des Sehens! - Ein Wortgeplänkel! So werden die Begriffe zu<br />

bloßen Worterklärungen. Und man kann sich vorstellen, was<br />

damit den Schülern gegeben wurde, wenn man weiß, dass dieser<br />

betreffende Herr später selbst als Lehrer an zahlreiche Schüler<br />

den Unterricht zu erteilen hatte, bis er pensioniert worden<br />

ist. - Wir müssen von den Worten loskommen und müssen an<br />

den Geist der Dinge herankommen. Wir müssen nicht gleich,<br />

wenn wir etwas begreifen wollen, jedesmal an das Wort denken,<br />

sondern wir müssen die tatsächlichen Beziehungen aufsu-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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chen. Wenn wir bei dem Worte «Geist» die Ursprünge dafür in<br />

Fritz Mauthners Sprachgeschichte aufsuchen und fragen: Wie<br />

tritt zuerst das Wort «Geist» auf? - so werden wir die Verwandtschaft<br />

des Wortes Geist mit «Gischt», mit «Gas» finden. Diese<br />

Verwandtschaften bestehen, aber es würde nichts Besonderes<br />

dabei herauskommen, wenn man bloß darauf bauen wollte. Leider<br />

wird gerade manchmal diese Methode kaschiert, umfassend<br />

kaschiert in der Bibelforschung angewendet. Daher ist die Bibel<br />

dasjenige Buch, das von den meisten Menschen, besonders von<br />

den gegenwärtigen Theologen, am allerschlechtesten verstanden<br />

wird.<br />

Worum es sich handelt, das ist, dass wir überall sachgemäß vorgehen,<br />

dass wir also versuchen, nicht von der Wortgeschichte<br />

aus einen Begriff vom Geiste zu bekommen, sondern dadurch,<br />

dass wir die kindliche Leibesauslebung vergleichen mit der greisenhaften<br />

Leibesauslebung. Durch dieses Tatsachenaufeinander-Beziehen<br />

bekommen wir reale Begriffe.<br />

Und so bekommen wir auch nur einen realen Begriff von der<br />

Empfindung, wenn wir wissen: sie entsteht als wollendes Fühlen<br />

oder fühlendes Wollen beim Kinde noch in der Körperperipherie<br />

dadurch, dass diese Körperperipherie beim Kinde gegenüber<br />

dem mehr menschlichen Inneren schläft und dabei träumt.<br />

Sie sind also nicht nur im denkenden Erkennen voll wach, sondern<br />

Sie sind überhaupt nur im Inneren Ihres Leibes voll wach.<br />

An der Körperperipherie, an der Leibesoberfläche schlafen Sie<br />

auch fortwährend. Und weiter: Was da in der Umgebung des<br />

Leibes oder, besser gesagt, an der Oberfläche des Leibes stattfindet,<br />

das findet in ähnlicher Weise auch statt im Kopf, und am<br />

stärksten findet es statt, je weiter wir in das Innere des Menschen<br />

hineinkommen, in das Muskelhafte, das Bluthafte. Da<br />

drinnen schläft der Mensch wiederum und träumt dabei. An der<br />

Oberfläche schläft und träumt der Mensch, und auch mehr gegen<br />

sein Inneres zu schläft er und träumt wiederum dabei.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Daher bleibt in unserem Inneren dasjenige, was mehr seelischwollendes<br />

Fühlen, fühlendes Wollen ist, unser Wunschleben<br />

und so weiter wiederum in einem träumenden Schlaf. Wo sind<br />

wir denn also nur voll wachend? In der Zwischenzone, wenn<br />

wir ganz wach sind.<br />

Sie sehen, wir gehen jetzt vom geistigen Gesichtspunkte aus,<br />

indem wir die Tatsachen des Wachens und des Schlafens auch<br />

räumlich auf den Menschen anwenden und dies auf seine Gestaltung<br />

beziehen, so dass wir uns sagen können: Der Mensch ist<br />

vom geistigen Gesichtspunkte angesehen so, dass er an seiner<br />

Oberfläche und in seinen Innenorganen schläft und nur in der<br />

Zwischenzone im Leben zwischen Geburt und Tod jetzt wirklich<br />

ganz wach sein kann. Was für Organe sind denn in dieser<br />

Zwischenzone am meisten ausgebildet? Diejenigen Organe, besonders<br />

im Kopfe, die wir die Nerven nennen, der Nervenapparat.<br />

Dieser Nervenapparat sendet seine Ausläufer in die äußere<br />

Oberflächenzone hinein und wieder in das Innere; da verlaufen<br />

die Nerven, und zwischendrinnen sind solche Mittelzonen wie<br />

das Gehirn, namentlich das Rückenmark, auch das Bauchmark.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Da ist uns Gelegenheit gegeben, so eigentlich recht wach zu<br />

sein. Wo die Nerven am meisten ausgebildet sind, da sind wir<br />

am meisten wach. Aber das Nervensystem hat zum Geiste eine<br />

eigentümliche Beziehung. Es ist ein Organsystem, das durch die<br />

Funktionen des Leibes fortwährend die Tendenz hat zu verwesen,<br />

mineralisch zu werden. Wenn Sie beim lebenden Menschen<br />

sein Nervensystem von der übrigen Drüsen-Muskel-<br />

Blutwesenheit und Knochenwesenheit loslösen könnten - das<br />

Knochensystem könnten Sie sogar beim Nervensystem<br />

dabeilassen -, so wäre das beim lebenden Menschen schon<br />

Leichnam, fortwährend Leichnam. Im Nervensystem geht fortwährend<br />

das Sterben des Menschen vor sich. Das Nervensystem<br />

ist das einzige System, welches gar keine unmittelbare Beziehung<br />

zum Geistig-Seelischen hat. Blut, Muskeln und so weiter<br />

haben immer direkte Beziehungen zum Geistig-Seelischen, das<br />

nervöse System hat unmittelbar dazu gar keine Beziehungen; es<br />

hat nur dadurch Beziehungen zum Geistig-Seelischen, dass es<br />

sich fortwährend aus der menschlichen Organisation ausschaltet,<br />

dass es nicht da ist, weil es fortwährend verwest. Die anderen<br />

Glieder leben; deshalb bilden sie direkte Beziehungen aus<br />

zum Geistig-Seelischen. Das Nervensystem stirbt fortwährend<br />

ab; es sagt fortwährend zum Menschen: Du kannst dich entwickeln,<br />

weil ich dir kein Hindernis biete, weil ich mache, dass<br />

ich gar nicht da bin mit meinem Leben! - Das ist das Eigenartige.<br />

In der Psychologie und Physiologie finden Sie dargestellt:<br />

das vermittelnde Organ des Empfindens, des Denkens, des Geistig-Seelischen<br />

überhaupt ist das Nervensystem. Wodurch ist es<br />

aber dieses vermittelnde Organ? Nur dadurch, dass es sich fortwährend<br />

aus dem Leben herausdrückt, dass es dem Denken und<br />

Empfinden gar keine Hindernisse bietet, dass es gar keine Beziehungen<br />

zum Denken und Empfinden anstiftet, dass es den<br />

Menschen leer sein lässt in bezug auf das Geistig-Seelische da,<br />

wo es ist. Für das Geistig-Seelische sind einfach dort, wo die<br />

Nerven sind, Hohlräume. Daher kann das Geistig-Seelische dort<br />

hinein, wo die Hohlräume sind. Wir müssen dem Nervensystem<br />

dankbar sein, dass es sich nicht kümmert um das Geistig-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Seelische, dass es all das nicht tut, was ihm die Physiologen und<br />

Psychologen zuschreiben. Täte es das, geschähe nur fünf Minuten<br />

lang das, was die Nerven nach den Beschreibungen der Physiologen<br />

und Psychologen tun sollen, so würden wir gar nichts<br />

in diesen fünf Minuten von der Welt und von uns wissen: wir<br />

würden eben schlafen. Denn die Nerven machten es dann so<br />

wie jene Organe, die das Schlafen vermitteln, die das fühlende<br />

Wollen, das wollende Fühlen vermitteln.<br />

Ja, es ist schon so, dass man es heute etwas hart hat, wenn man<br />

darauf kommt, was in der Physiologie und Psychologie die<br />

Wahrheit ist, denn die Leute sagen immer: Du stellst ja die Welt<br />

auf den Kopf. - Die Wahrheit ist nur, dass sie auf dem Kopfe<br />

steht und dass man sie durch Geisteswissenschaft auf die Beine<br />

zu stellen hat. Die Physiologen sagen: Die Organe des Denkens<br />

sind die Nerven, insbesondere das Gehirn. - Wahr ist, dass Gehirn-<br />

und Nervensystem gerade nur dadurch mit dem denkenden<br />

Erkennen etwas zu tun haben, weil sie sich immerfort aus<br />

der Organisation des Menschen ausschließen, und weil dadurch<br />

das denkende Erkennen sich entfalten kann. Jetzt betrachten Sie<br />

etwas ganz genau und nehmen Sie, bitte, Ihre Verstandeskräfte<br />

gut zusammen. In der Umgebung des Menschen, wo die Sinnessphäre<br />

ist, geschehen reale Vorgänge, die sich immerfort hineinstellen<br />

in das Weltgeschehen. Nehmen Sie an, Licht wirke auf<br />

den Menschen durch das Auge. Im Auge, das heißt in der Sinnessphäre,<br />

geschieht ein realer Vorgang, es geschieht etwas, ein<br />

physisch-chemischer Vorgang. Der setzt sich fort in das Innere<br />

des menschlichen Leibes, und er kommt dann auch bis in jenes<br />

Innere hinein (das dunkel Schraffierte der Zeichnung), wo wiederum<br />

physisch-chemische Vorgänge vor sich gehen. Jetzt denken<br />

Sie sich, Sie stehen einer beleuchteten Fläche gegenüber,<br />

und Lichtstrahlen fallen von dieser beleuchteten Fläche aus in<br />

Ihr Auge. Dort entstehen wieder physisch-chemische Vorgänge,<br />

die sich fortsetzen in die Muskel-Blutnatur im Inneren des<br />

Menschen. Dazwischen bleibt eine leere Zone. In dieser leeren<br />

Zone, die durch das nervöse Organ leer gelassen ist, entwickeln<br />

sich keine solchen Vorgänge wie im Auge oder im Inneren des<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Menschen, die selbständige Vorgänge sind, sondern da hinein<br />

setzt sich fort, was draußen ist: die Natur des Lichtes, die Natur<br />

der Farben selber und so weiter. Wir haben also an unserer<br />

Körperoberfläche, wo die Sinne sind, reale Vorgänge, welche<br />

vom Auge, vom Ohr, vom Wärmeaufnahmeorgan und so weiter<br />

abhängen. Ähnliche Vorgänge sind auch im Inneren des Menschen.<br />

Aber dazwischen nicht, wo die Nerven sich eigentlich<br />

ausbreiten; die machen den Raum frei, dort können wir leben<br />

mit dem, was draußen ist. Das Auge verändert Ihnen Licht und<br />

Farbe. Dort aber, wo Sie Nerven haben, wo Sie hohl sind in bezug<br />

auf das Leben, da verändern sich Licht und Farbe nicht, da<br />

leben Sie Licht und Farbe mit. Sie sind nur in bezug auf die Sinnessphäre<br />

abgesondert von einer äußeren Welt, aber innen leben<br />

Sie, wie in einer Schale, die Außenvorgänge mit. Da werden<br />

Sie selbst zum Licht, da werden Sie selbst zum Ton, da breiten<br />

sich die Vorgänge aus, weil die Nerven dafür kein Hindernis<br />

sind, wie das Blut und der Muskel.<br />

Jetzt bekommen wir ein Gefühl davon, was das für eine Bedeutung<br />

hat: Wir wachen da mit Bezug auf einen im Verhältnis<br />

zum Leben in uns vorhandenen Hohlraum, während wir an der<br />

äußeren Oberfläche und im Inneren schlafend träumen und<br />

träumend schlafen. Wir wachen nur in einer Zone, die zwischen<br />

dem Äußeren und dem Inneren liegt, vollständig auf. Das<br />

mit Bezug auf den Raum.<br />

Dir müssen aber, wenn wir den Menschen vom geistigen Gesichtspunkt<br />

betrachten, auch sein zeitliches in Beziehung bringen<br />

zum Wachen und Schlafen und Träumen.<br />

Sie lernen etwas; das nehmen Sie auf so, dass es hereingeht in<br />

Ihr Vollwachen. Während Sie sich damit beschäftigen und<br />

wenn Sie daran denken, ist es in Ihrem Vollwachen. Dann gehen<br />

Sie an das andere Leben. Anderes nimmt Ihr Interesse, Ihre<br />

Aufmerksamkeit in Anspruch. Was tut nun das, was Sie vordem<br />

gelernt haben und womit Sie sich beschäftigt haben? Es fängt an<br />

einzuschlafen, und wenn Sie sich wieder daran erinnern, dann<br />

wacht es wieder auf. Sie kommen mit allen diesen Dingen nur<br />

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zurecht, wenn Sie all das Wortgeplänkel, das Sie in den Psychologien<br />

als Erinnern und Vergessen haben, ersetzen durch die<br />

realen Begriffe. Was ist Erinnern? Es ist das Aufwachen eines<br />

Vorstellungskomplexes. Und was ist das Vergessen? Das Einschlafen<br />

des Vorstellungskomplexes. Da können Sie Reales mit<br />

real Erlebtem vergleichen, da haben Sie keine bloßen Worterklärungen.<br />

Wenn Sie immer reflektieren auf Wachen und<br />

Schlafen, wenn Sie sich selber einschlafend erleben oder einen<br />

anderen einschlafen sehen, so haben Sie einen realen Vorgang.<br />

Sie beziehen das Vergessen, diese innere Seelentätigkeit, auf diesen<br />

realen Vorgang - nicht auf irgendein Wort -, vergleichen die<br />

beiden und sagen sich: Vergessen ist nur ein Einschlafen auf einem<br />

anderen Gebiete, und auch Erinnern ist nur ein Aufwachen<br />

auf einem anderen Gebiete. Nur dadurch kommen Sie zum geistigen<br />

Weltbegreifen, dass Sie Reales mit Realem vergleichen.<br />

Wie Sie das kindliche Lebensalter mit dem Greisenalter vergleichen<br />

müssen, um Leib und Geist wirklich aufeinander beziehen<br />

zu können, wenigstens in den ersten Rudimenten, so vergleichen<br />

Sie Erinnern und Vergessen, indem Sie es auf ein Reales,<br />

auf Einschlafen und Aufwachen beziehen.<br />

Das ist es, was für die Zukunft der Menschheit so unendlich<br />

notwendig werden wird: dass die Menschen sich bequemen, in<br />

die Realität, in die Wirklichkeit sich hineinzubegeben. Die<br />

Menschen denken heute fast nur in Worten, sie denken nicht in<br />

Wirklichkeit. Wo käme einem heutigen Menschen das Reale,<br />

was wir haben können, wenn wir vom Erinnern sprechen, das<br />

Aufwachen in den Sinn? Er wird im Umkreise der Worte alles<br />

mögliche hören können, um das Erinnern zu definieren, aber er<br />

wird nicht daran denken, aus der Wirklichkeit, aus der Sache<br />

heraus diese Dinge zu finden.<br />

Daher werden Sie es begreiflich finden, wenn man so etwas wie<br />

die Dreigliederung, was ganz aus der Wirklichkeit, nicht aus<br />

abstrakten Begriffen, herausgeholt ist, an die Menschen heranbringt,<br />

dass diese Menschen es zunächst unverständlich finden,<br />

weil sie gar nicht gewöhnt sind, die Dinge aus der Wirklichkeit<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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herauszuholen. Sie verbinden gar keine Begriffe mit dem Herausholen<br />

der Dinge aus der Wirklichkeit. Und am wenigsten<br />

Begriffe mit dem Herausholen der Dinge aus der Wirklichkeit<br />

verbinden zum Beispiel die sozialistischen Führer in ihren Theorien;<br />

sie stellen das letzte Ende, die letzte Dekadenzerscheinung<br />

des Worterklärens dar. Die Leute glauben am allermeisten,<br />

etwas von der Wirklichkeit zu verstehen; wenn sie aber anfangen<br />

zu sprechen, dann kommen sie mit den allerleersten Worthülsen.<br />

Das war nur eine Zwischenbemerkung, die namentlich mit dem<br />

Wesen unserer gegenwärtigen Zeitströmung zusammenhängt.<br />

Aber der Pädagoge muss auch die zeit begreifen, in der er steht,<br />

weil er die Kinder begreifen muss, die ihm aus dieser Zeit heraus<br />

zum Erziehen übergeben werden.<br />

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ACHTER VORTRAG<br />

29. AUGUST 1919, STUTTGART<br />

Wir haben gestern gesehen, dass wir so etwas wie Gedächtnis,<br />

Erinnerungskraft, nur begreifen können, wenn wir es in ein<br />

Verhältnis bringen zu, ich möchte sagen, für die äußere Beobachtung<br />

durchsichtigeren Vorgängen: zu schlafen und Wachen.<br />

Sie werden daraus sehen, dass es das pädagogische Bestreben<br />

sein muss, immer mehr und mehr das Unbekanntere an das<br />

Bekanntere auch in bezug auf geistige Ideenbildung heranzubringen.<br />

Sie können sagen: Ja, schlafen und Wachen sind doch eigentlich<br />

noch dunkler als das Erinnern und Vergessen, und daher wird<br />

man für die Behandlung von Erinnern und Vergessen nicht viel<br />

gewinnen können durch schlafen und Wachen. - Dennoch aber:<br />

Wer sorgfältig beobachtet, was dem Menschen verlorengeht<br />

durch einen gestörten Schlaf, der wird daraus eine Erkenntnis<br />

schöpfen können für das, was wie störend sich in das ganze<br />

menschliche Seelenleben hineinstellt, wenn Vergessen nicht in<br />

das richtige Verhältnis gebracht wird zum Erinnern. Wir wissen<br />

aus dem äußeren Leben, dass schon ein gehörig langer Schlaf<br />

notwendig ist, wenn nicht das Ich-Bewusstsein immer unkräftiger<br />

und unkräftiger gemacht werden soll, wenn es nicht den<br />

Charakter annehmen soll, den man so bezeichnen könnte, dass<br />

es durch einen gestörten Schlafzustand zu stark hingegeben<br />

wird an die Eindrücke der Außenwelt, an alles mögliche, was<br />

von der Außenwelt an das Ich herankommt. Selbst schon bei<br />

verhältnismäßig geringfügiger Störung durch den Schlaf oder,<br />

besser gesagt, durch die Schlaflosigkeit können Sie bemerken,<br />

wie das der Fall ist. Nehmen wir an, Sie haben einmal während<br />

einer Nacht nicht gut geschlafen. Ich setze voraus, dass Sie nicht<br />

dadurch nicht gut geschlafen haben, dass sie einmal besonders<br />

fleißig waren und die Nacht zum Arbeiten verwendet haben; da<br />

verhält sich die Sache etwas anders. Aber nehmen wir an, Sie<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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seien durch irgendeinen körperlichen Zustand oder durch die<br />

Moskitos, kurz, für das Seelische mehr von außen, in Ihrem<br />

Schlafe gestört worden. Da werden Sie sehen, dass Sie vielleicht<br />

schon am nächsten Tage in einer unangenehmeren Weise berührt<br />

werden von den Dingen, die auf Sie Eindruck machen, als<br />

Sie sonst berührt werden. Sie sind gewissermaßen in Ihrem Ich<br />

dadurch empfindlich geworden.<br />

So ist es auch, wenn wir in einer unrichtigen Weise in das<br />

menschliche Seelenleben hereinspielen haben Vergessen und<br />

Erinnerung. Wann aber haben wir dies? Dann, wenn wir nicht<br />

willkürlich unser Vergessen und Erinnern regeln können. Es<br />

gibt ja sehr viele Menschen - und diese Anlage zeigt sich auch<br />

schon in früher Kindheit , die duseln so durch das Leben dahin.<br />

Äußeres macht auf sie Eindruck, sie geben sich den Eindrücken<br />

hin, sie verfolgen aber die Eindrücke nicht ordentlich, sondern<br />

lassen sie so vorüberhuschen; sie verbinden sich gewissermaßen<br />

nicht ordentlich durch ihr Ich mit den Eindrücken. Dann aber<br />

duseln sie auch wieder in den frei aufsteigenden Vorstellungen,<br />

wenn sie nicht richtig dem äußeren Leben hingegeben sind. Sie<br />

suchen nicht durch Willkür den Schatz ihrer Vorstellungen bei<br />

irgendeiner Veranlassung zu heben, den sie nötig haben, um<br />

dies oder jenes gut zu verstehen, sondern sie lassen die Vorstellungen,<br />

die aus dem Inneren aufsteigen wollen, von selbst aufsteigen.<br />

Da kommt bald diese, bald jene Vorstellung; da hat die<br />

Willkür keinen besonderen Einfluss darauf. Man kann schon<br />

sagen, dass in vieler Beziehung dies der Seelenzustand für viele<br />

Menschen ist, der insbesondere beim kindlichen Alter in dieser<br />

Art hervortritt.<br />

Man wird Abhilfe schaffen und das Erinnern und Vergessen<br />

immer mehr und mehr in die Sphäre der Willkür stellen, wenn<br />

man weiß, dass Schlafen und Wachen auch ins Wachleben<br />

hereinspielen bei diesem Erinnern und Vergessen. Denn man<br />

wird sich dann sagen: Woher kommt das Erinnern? - Es kommt<br />

davon her, dass der Wille, in dem wir ja schlafen, eine Vorstellung<br />

unten im Unbewussten ergreift und sie heraufträgt ins Be-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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wusstsein. Geradeso wie das menschliche Ich und der menschliche<br />

astralische Leib, wenn sie vom Einschlafen bis zum Aufwachen<br />

aus dem physischen Leib und Ätherleib heraus sind, Kraft<br />

sammeln in der geistigen Welt, um den physischen Leib und<br />

Ätherleib aufzufrischen, so kommt von der Kraft des schlafenden<br />

Willens das, was vom Erinnerungsvorgang bewirkt wird.<br />

Nun ist aber der Wille gerade schlafend und Sie können daher<br />

nicht unmittelbar im Kinde bewirken, dass es lerne, seinen<br />

Willen zu gebrauchen. Denn wenn Sie im Kinde bewirken wollten,<br />

dass es seinen Willen gebrauche, so wäre das gerade so, als<br />

wenn Sie den Menschen ermahnen wollten, er solle im Schlafe<br />

nur recht brav sein, damit er sich diese Bravheit ins Leben mitbringe,<br />

wenn er morgens aufwacht. Man kann also auch diesem<br />

schlafenden Teil, der im Willen schläft, nicht zumuten, dass er<br />

sich unmittelbar im Einzelakt aufraffe, um die Erinnerung zu<br />

regeln. Was ist da zu tun? Nun, das kann man natürlich dem<br />

Menschen nicht zumuten, dass er sich im Einzelakt aufraffe, um<br />

die Erinnerung zu regeln, aber man kann den ganzen Menschen<br />

so erziehen, dass er seelische, leibliche und geistige Lebensgewohnheiten<br />

entwickelt, die zu einem solchen Aufraffen des<br />

Willens im Einzelfalle führen. Betrachten wir die Sache einmal<br />

mehr im einzelnen.<br />

Nehmen wir an, wir erwecken durch besondere Behandlungsarten<br />

in dem Kinde ein lebendiges Interesse zum Beispiel für die<br />

Tierwelt. Dieses Interesse für die Tierwelt werden wir natürlich<br />

nicht in einem Tage entwickeln können. Wir werden den ganzen<br />

Unterricht so zu veranlagen haben, dass allmählich das Interesse<br />

für die Tierwelt immer mehr und mehr sich einstellt und<br />

erwacht. Ist ein Kind durch einen solchen Unterricht durchgegangen,<br />

dann geht dieser Unterricht, je lebendigere Interessen<br />

er erweckt, um so mehr über auf den Willen, und dieser Wille<br />

bekommt dann im allgemeinen die Eigenschaft, wenn in einem<br />

geordneten Leben für die Erinnerung Tiervorstellungen gebraucht<br />

werden, diese aus dem Unterbewusstsein, aus der Vergessenheit<br />

heraufzuholen. Nur dadurch, dass Sie auf das Habituelle<br />

des Menschen, auf das Gewohnheitsmäßige wirken, bringen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Sie seinen Willen und damit auch seine Erinnerungskraft in<br />

Ordnung. Das heißt mit anderen Worten: Sie müssen auf diese<br />

Art durchschauen, warum alles, was beim Kinde ein intensives<br />

Interesse erweckt, auch dazu beiträgt, sein Gedächtnis tatkräftig<br />

zu stärken. Denn die Gedächtniskraft muss man heben vom Gefühl<br />

und Willen aus, nicht etwa durch bloße intellektuelle Gedächtnisübungen.<br />

Sie sehen gerade aus dem, was ich auseinandergesetzt<br />

habe, wie in der Welt und insbesondere in der<br />

menschlichen Welt alles in einem gewissen Sinne getrennt ist,<br />

wie aber das Getrennte auch wieder zusammenwirkt. Wir können<br />

den Menschen in bezug auf sein Seelisches nicht begreifen,<br />

wenn wir nicht das Seelische trennen, gliedern nach Denken<br />

oder denkendem Erkennen, Fühlen und Wollen. Aber nirgends<br />

ist denkendes Erkennen, Fühlen und Wollen rein vorhanden,<br />

immer wirken die drei ineinander zu einer Einheit, verweben<br />

sich.<br />

Und so ist es in der ganzen menschlichen Wesenheit bis in das<br />

Leibliche hinein.<br />

Ich habe Ihnen angedeutet, dass der Mensch hauptsächlich Kopf<br />

ist im Kopfteil, dass er aber eigentlich ganz Kopf ist. Er ist<br />

hauptsächlich Brust als Brustmensch, aber eigentlich ist er ganz<br />

Brustmensch, denn auch der Kopf hat Anteil an der Brustnatur<br />

und ebenso auch der Gliedmaßenmensch. Und auch der Gliedmaßenmensch<br />

ist hauptsächlich Gliedmaßenmensch, aber eigentlich<br />

ist der ganze Mensch Gliedmaßenmensch, aber auch<br />

die Gliedmaßen haben Anteil an der Kopfnatur und ebenso an<br />

der Brustnatur; sie nehmen zum Beispiel auch an der Hautatmung<br />

teil und so weiter.<br />

Man kann sagen: Will man sich der Wirklichkeit nähern, insbesondere<br />

der Wirklichkeit der Menschennatur, dann muss man<br />

sich klar sein, dass alle Gliederung vorgenommen wird in einem<br />

Einheitlichen; würde man nur auf das abstrakt Einheitliche gehen,<br />

so würde man überhaupt nichts kennenlernen. Würde man<br />

niemals gliedern, so bliebe die Welt immer in einem Unbestimmten,<br />

wie in der Nacht alle Katzen grau sind. Menschen,<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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die daher alles in abstrakten Einheiten erfassen wollen, sehen<br />

die Welt grau in grau. Und würde man nur gliedern, nur trennen,<br />

alles auseinanderhalten, so würde man niemals zu einer<br />

wirklichen Erkenntnis kommen, denn dann würde man nur<br />

Verschiedenes erfassen, und die Erkenntnis bliebe aus.<br />

So ist alles, was im Menschen ist, zum Teil erkennender, zum<br />

Teil fühlender, zum Teil wollender Natur. Und was erkennend<br />

ist, das ist hauptsächlich erkennend, aber auch gefühlsmäßig<br />

und willensmäßig; was fühlend ist, das ist hauptsächlich fühlend,<br />

aber auch erkennend und willensmäßig, und ebenso ist es<br />

mit dem Wollenden. Dies können wir nun schon auf das anwenden,<br />

was wir gestern als die Sinnessphäre charakterisiert<br />

haben. Sie müssen, indem Sie ein solches Kapitel wie das, was<br />

ich jetzt bringen werde, begreifen wollen, wirklich, ich möchte<br />

sagen, alles Pedantentum ablegen, sonst werden Sie den krassesten<br />

Widerspruch vielleicht gerade mit dem finden, was ich im<br />

gestrigen Vortrag gesagt habe. Aber aus Widersprüchen besteht<br />

die Wirklichkeit. Wir begreifen die Wirklichkeit nicht, wenn<br />

wir nicht die Widersprüche in der Welt schauen.<br />

Der Mensch hat im ganzen zwölf Sinne. Dass man nur fünf,<br />

sechs oder sieben Sinne in der gewöhnlichen Wissenschaft unterscheidet,<br />

rührt allein davon her, dass diese fünf, sechs oder<br />

sieben Sinne besonders auffällig sind und die anderen, welche<br />

die Zwölfzahl dann vollenden, weniger auffällig sind. Ich habe<br />

diese zwölf Sinne des Menschen öfter erwähnt, wir wollen sie<br />

uns heute noch einmal vor die Seele führen. Gewöhnlich redet<br />

man ja vom Hörsinn, Wärmesinn, Sehsinn, Geschmackssinn,<br />

Geruchssinn, Tastsinn, wobei es sogar noch vorkommt, dass der<br />

Wärmesinn und der Tastsinn in eins zusammengeschoben werden,<br />

was ungefähr so wäre, wie wenn man bei der äußeren Beobachtung<br />

der Dinge «Rauch» und «Staub» in eins zusammenzählte,<br />

weil es äußerlich nämlich gleich ausschaut. Dass Wärmesinn<br />

und Tastsinn zwei durchaus verschiedene Arten des<br />

Menschen sind, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen, sollte<br />

man nicht mehr zu erwähnen brauchen. Diese Sinne und<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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höchstens vielleicht noch, wie manche angeben, den Gleichgewichtssinn,<br />

unterscheiden die heutigen Psychologen. Mancher<br />

fügt noch einen Sinn dazu, aber zur Vollständigkeit einer Sinnesphysiologie<br />

und Sinnespsychologie kommt man dabei nicht,<br />

weil man einfach nicht beachtet, dass der Mensch ein ähnliches<br />

Verhältnis zu seiner Umwelt hat, wenn er das Ich eines anderen<br />

Menschen wahrnimmt, wie er es hat, wenn er eine Farbe wahrnimmt<br />

durch den Sehsinn.<br />

Die Menschen sind ja heute geneigt, alles durcheinanderzuwerfen.<br />

Wenn einer an die Ich-Vorstellung denkt, so denkt er zunächst<br />

an seine eigene Seelenwesenheit; dann ist er gewöhnlich<br />

zufrieden. Fast machen es die Psychologen auch so. Sie bedenken<br />

gar nicht, dass es etwas völlig Verschiedenes ist, ob ich<br />

durch das Zusammennehmen dessen, was ich an mir selbst erlebe,<br />

zuletzt die Summe dieses Erlebens als «Ich» bezeichne, oder<br />

ob ich einem Menschen gegenübertrete und durch die Art, wie<br />

ich mich zu ihm in Beziehung setze, auch diesen Menschen als<br />

ein «Ich» bezeichne. Das sind zwei ganz verschiedene geistigseelische<br />

Tätigkeiten. Das eine Mal, wenn ich meine Lebenstätigkeiten<br />

in der umfassenden Synthesis «Ich» zusammenfasse,<br />

habe ich etwas rein innerliches; das andere Mal, wenn ich dem<br />

anderen Menschen gegenübertrete und durch meine Beziehung<br />

zu ihm zum Ausdruck bringe, dass er auch so etwas ist, wie<br />

mein ich, habe ich eine Tätigkeit vor mir, die im Wechselspiel<br />

zwischen mir und dem anderen Menschen verfließt. Daher<br />

muss ich sagen: Die Wahrnehmung meines Ich in meinem Inneren<br />

ist etwas anderes, als wenn ich den anderen Menschen als<br />

ein Ich erkenne. Die Wahrnehmung des anderen Ich beruht auf<br />

dem Ich-Sinn, so wie die Wahrnehmung der Farbe auf dem<br />

Sehsinn, die des Tones auf dem Hörsinn beruht. Die Natur<br />

macht es dem Menschen nicht so leicht, beim «Ichen» das Organ<br />

des Wahrnehmens so offen zu sehen wie beim Sehen. Aber man<br />

könnte gut das Wort «Ichen» gebrauchen für das Wahrnehmen<br />

anderer Iche, wie man das Wort Sehen gebraucht beim Wahrnehmen<br />

der Farbe. Das Organ der Farbwahrnehmung ist außen<br />

am Menschen, das Organ der Wahrnehmung der Iche ist über<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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den ganzen Menschen ausgebreitet und besteht in einer sehr<br />

feinen Substantialität, und daher reden die Menschen nicht vom<br />

Ich-Wahrnehmungsorgan. Dieses Ich-Wahrnehmungsorgan ist<br />

etwas ganz anderes als das, was bewirkt, dass ich mein eigenes<br />

Ich erlebe. Es ist sogar ein gewaltiger Unterschied zwischen<br />

dem erleben des eigenen Ich und dem Wahrnehmen des Ich bei<br />

einem anderen. Denn das Wahrnehmen des Ich bei einem anderen<br />

ist im wesentlichen ein Erkenntnisvorgang, wenigstens ein<br />

der Erkenntnis ähnlicher Vorgang. Das Erleben des eigenen Ich<br />

dagegen ist ein Willensvorgang.<br />

Nun kommt das, wobei sich ein Pedant behaglich fühlen könnte.<br />

Er könnte sagen: Im letzten Vortrag hast du doch gesagt, dass<br />

alle Sinnesbetätigung vorzugsweise Willensbetätigung sei; jetzt<br />

konstruierst du den Ich-Sinn und sagst, er sei hauptsächlich ein<br />

Erkenntnissinn. - Aber wenn Sie den Ich-Sinn charakterisieren,<br />

so wie ich es in der Neuauflage meiner «Philosophie der Freiheit»<br />

versucht habe, so werden Sie darauf kommen, dass dieser<br />

Ich-Sinn in der Tat recht kompliziert arbeitet. Worauf beruht<br />

eigentlich das Wahrnehmen des Ich des anderen Menschen?<br />

Die heutigen Abstraktlinge sagen da ganz sonderbare Dinge. Sie<br />

sagen: Eigentlich sieht man vom äußeren Menschen seine Gestalt,<br />

man hört seine Töne, und dann weiß man, dass man selbst<br />

so menschlich ausschaut wie der andere Mensch, dass man<br />

drinnen in sich ein Wesen hat, das denkt und fühlt und will, das<br />

also auch seelisch-geistig ein Mensch ist. - Und so schließt man<br />

durch Analogie: Wie in mir selbst ein denkendes, fühlendes,<br />

wollendes Wesen ist, so ist es auch beim anderen. - Ein Analogieschluss<br />

von mir selbst auf den anderen wird vollzogen. Dieser<br />

Analogieschluss ist nichts weiter als eine Torheit. Das Wechselverhältnis<br />

zwischen dem einen Menschen und dem anderen<br />

schließt etwas ganz anderes in sich. Stehen Sie einem Menschen<br />

gegenüber, dann verläuft das folgendermaßen: Sie nehmen den<br />

Menschen wahr eine kurze zeit; da macht er auf sie einen Eindruck.<br />

Dieser Eindruck stört Sie im Inneren: Sie fühlen, dass der<br />

Mensch, der eigentlich ein gleiches Wesen ist wie Sie, auf Sie<br />

einen Eindruck macht wie eine Attacke. Die Folge davon ist,<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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dass Sie sich innerlich wehren, dass Sie sich dieser Attacke widersetzen,<br />

dass Sie gegen ihn innerlich aggressiv werden. sie erlahmen<br />

im Aggressiven, das Aggressive hört wieder auf; daher<br />

kann er nun auf Sie wieder einen Eindruck machen. Dadurch<br />

haben Sie Zeit, Ihre Aggressivkraft wieder zu erhöhen, und sie<br />

führen nun wieder eine Aggression aus. Sie erlahmen darin<br />

wieder, der andere macht wiederum einen Eindruck auf Sie und<br />

so weiter. Das ist das Verhältnis, das besteht, wenn ein Mensch<br />

dem anderen, das Ich wahrnehmend, gegenübersteht: Hingabe<br />

an den Menschen - innerliches Wehren; Hingabe an den anderen<br />

innerliches Wehren; Sympathie - Antipathie; Sympathie -<br />

Antipathie. Ich rede jetzt nicht von dem gefühlsmäßigen Leben,<br />

sondern nur von dem wahrnehmenden Gegenüberstehen. Da<br />

vibriert die Seele; es vibrieren: Sympathie - Antipathie, Sympathie<br />

- Antipathie, Sympathie - Antipathie. Das können Sie in<br />

der neuen Auflage der «Philosophie der Freiheit» nachlesen.<br />

Aber es ist noch etwas anderes der Fall. Indem die Sympathie<br />

sieh entwickelt, schlafen Sie in den anderen Menschen hinein;<br />

indem die Antipathie sich entwickelt, wachen Sie auf und so<br />

weiter. Das ist ein sehr kurz dauerndes Abwechseln zwischen<br />

Wachen und Schlafen in Vibrationen, wenn wir dem anderen<br />

Menschen gegenüberstehen. Dass es ausgeführt werden kann,<br />

verdanken wir dem Organ des Ich-Sinnes. Dieses Organ des Ich-<br />

Sinnes ist also so organisiert, dass es nicht in seinem wachenden,<br />

sondern in einem schlafenden Willen das Ich des anderen<br />

erkundet - und dann rasch diese Erkundung, die schlafend vollzogen<br />

wird, in die Erkenntnis hinüberleitet, das heißt, in das<br />

Nervensystem hinüberleitet. So ist, wenn man die Sache richtig<br />

betrachtet, die Hauptsache beim Wahrnehmen des anderen<br />

doch der Wille, aber eben gerade der Wille, wie er sich nicht<br />

wachend, sondern schlafend entwickelt; denn wir spinnen<br />

fortwährend schlafende Augenblicke in den Wahrnehmungsakt<br />

des anderen Ich ein. Und was dazwischen liegt, ist schon Erkenntnis;<br />

das wird rasch abgeschoben in die Gegend, wo das<br />

Nervensystem haust, so dass ich nennen kann die Wahrnehmung<br />

des anderen wirklich einen Erkenntnisvorgang, aber wis-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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sen muss, dass dieser Erkenntnisvorgang nur eine Metamorphose<br />

eine: schlafenden Willensvorganges ist. So ist also auch dieser<br />

Sinnesvorgang ein Willensvorgang, nur erkennen wir ihn nicht<br />

als solchen. Wir leben nicht bewusst alles Erkennen, das wir im<br />

Schlafe erleben.<br />

Dann haben wir als nächsten Sinn, aber getrennt von dem Ich-<br />

Sinn und von allen übrigen Sinnen, denjenigen zu beachten,<br />

den ich bezeichne als Gedankensinn. Gedankensinn ist nicht<br />

der Sinn für die Wahrnehmung eigener Gedanken, sondern für<br />

das Wahrnehmen der Gedanken der anderen Menschen. Darüber<br />

entwickeln auch wieder die Psychologen ganz groteske Vorstellungen.<br />

Vor allen Dingen sind die Leute so sehr von der Zusammengehörigkeit<br />

von Sprache und Denken beeinflusst, dass<br />

sie glauben, mit der Sprache wird immer auch das Denken aufgenommen.<br />

Das ist ein Unding. Denn Sie könnten die Gedanken<br />

durch Ihren Gedankensinn ebenso als liegend in äußeren<br />

Raumesgebärden wahrnehmen wie in der Lautsprache. Die<br />

Lautsprache vermittelt nur die Gedanken. Sie müssen die Gedanken<br />

für sich selbst durch einen eigenen Sinn wahrnehmen.<br />

Und wenn einmal für alle Laute die eurythmischen Zeichen<br />

ausgebildet sind, so braucht Ihnen der Mensch nur<br />

vorzueurythmisieren und Sie lesen aus seinen eurythmischen<br />

Bewegungen ebenso die Gedanken ab, wie Sie in der Lautsprache<br />

sie hörend aufnehmen. Kurz, der Gedankensinn ist etwas<br />

anderes, als was im Lautsinn, in der Lautsprache wirkt. - Dann<br />

haben wir den eigentlichen Sprachsinn.<br />

Dann haben wir weiter den Hörsinn, den Wärmesinn, den Sehsinn,<br />

den Geschmackssinn, den Geruchssinn. Dann den Gleichgewichtssinn.<br />

Wir haben ein sinnlich geartetes Bewusstsein davon,<br />

dass wir im Gleichgewicht sind. Ein solches Bewusstsein<br />

haben wir. Wir wissen durch ein gewisses innerliches sinnliches<br />

Wahrnehmen, wie wir uns zu rechts und links, zu vorn und<br />

rückwärts verhalten, wie wir uns im Gleichgewicht verhalten,<br />

damit wir nicht umfallen. Und wenn das Organ unseres Gleichgewichtsinnes<br />

zerstört wird, fallen wir um; dann können wir<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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uns nicht ins Gleichgewicht setzen, wie wir uns zu den Farben<br />

nicht in Beziehung bringen können, wenn das Auge zerstört ist.<br />

Und so wie wir für die Wahrnehmung des Gleichgewichtes einen<br />

Sinn haben, so haben wir auch einen Sinn für die eigene<br />

Bewegung, durch den wir unterscheiden, ob wir in Ruhe oder<br />

in Bewegung sind, ob unsere Muskeln gebeugt sind oder nicht.<br />

Wir haben also neben dem Gleichgewichtssinn einen Bewegungssinn,<br />

und wir haben außerdem noch für die Wahrnehmung<br />

des Gestimmtseins unseres Leibes im weitesten Sinne den<br />

Lebenssinn. Von diesem Lebenssinn sind sogar sehr viele Menschen<br />

sehr abhängig. Sie nehmen wahr, ob sie zuviel oder zuwenig<br />

gegessen haben, und dadurch fühlen sie sich behaglich<br />

oder unbehaglich, oder sie nehmen wahr, ob sie ermüdet sind<br />

oder nicht, und dadurch fühlen sie sich behaglich oder unbehaglich.<br />

Kurz, die Wahrnehmung der Zustände des eigenen Leibes<br />

spiegelt sich im Lebenssinn. So bekommen Sie die Tafel der<br />

Sinne als zwölf Sinne. Tatsächlich hat der Mensch zwölf solcher<br />

Sinne.<br />

Nachdem wir nun die Möglichkeit hinweggeräumt haben, pedantisch<br />

Einwendungen zu machen gegen das Erkenntnisgemäße<br />

mancher Sinne, weil wir ja erkannt haben, dass dieses Erkenntnisgemäße<br />

doch in geheimer Weise auf dem Willen beruht,<br />

können wir jetzt die Sinne weiter gliedern. Da haben wir<br />

zunächst vier Sinne: Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn,<br />

Gleichgewichtssinn. Diese Sinne sind hauptsächlich durchdrungen<br />

von Willenstätigkeit. Der Wille wirkt hinein in das Wahrnehmen<br />

durch diese Sinne. Fühlen Sie doch, wie in das Wahrnehmen<br />

von Bewegungen, selbst wenn Sie diese Bewegungen<br />

im Stehen ausführen, der Wille hineinwirkt! Der ruhende Wille<br />

wirkt auch in die Wahrnehmung Ihres Gleichgewichtes hinein.<br />

In den Lebenssinn wirkt er ja sehr stark hinein, und in das Tasten<br />

wirkt er auch hinein: denn wenn Sie irgend etwas betasten,<br />

so ist das im Grunde genommen eine Auseinandersetzung zwischen<br />

Ihrem Willen und der Umgebung. Kurz, Sie können sagen:<br />

Gleichgewichtssinn, Bewegungssinn, Lebenssinn und Tastsinn<br />

sind Willenssinne im engeren Sinne. Beim Tastsinn sieht<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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der Mensch äußerlich, dass er zum Beispiel seine Hand bewegt,<br />

wenn er etwas betastet: daher ist es für ihn offenbar, dass dieser<br />

Sinn für ihn vorhanden ist. Beim Lebenssinn, Bewegungssinn<br />

und Gleichgewichtssinn ist es nicht so offenbar, dass diese Sinne<br />

vorhanden sind. Da sie aber im besonderen Sinne Willenssinne<br />

sind, so verschläft der Mensch diese Sinne, weil er ja im Willen<br />

schläft. Und in den meisten Psychologien finden Sie diese Sinne<br />

gar nicht angeführt, weil die Wissenschaft in bezug auf viele<br />

Dinge den Schlaf des äußeren Menschen behaglich mitschläft.<br />

Die nächsten Sinne: Geruchssinn, Geschmackssinn, Sehsinn,<br />

Wärmesinn, sind hauptsächlich Gefühlssinne. Das naive Bewusstsein<br />

empfindet ja ganz besonders beim Riechen und<br />

Schmecken die Verwandtschaft mit dem Fühlen. Dass man es<br />

beim Sehen und der Wärme nicht so empfindet, hat eben seine<br />

besonderen Gründe. Beim Wärmesinn beachtet man nicht, dass<br />

er mit dem Gefühl sehr nahe verwandt ist, sondern wirft ihn<br />

mit dem Tastsinn zusammen. Man konfundiert zugleich unrichtig<br />

und unterscheidet zugleich unrichtig. Der Tastsinn ist in<br />

Wahrheit viel mehr willensmäßig, während der Wärmesinn<br />

nur gefühlsmäßig ist. Dass der Sehsinn auch Gefühlssinn ist, dahinter<br />

kommen die Menschen deshalb nicht, weil sie nicht solche<br />

Betrachtungen anstellen wie sie in Goethes Farbenlehre zu<br />

finden sind. Dort haben Sie alles Verwandte der Farben mit dem<br />

Gefühl, was zuletzt dann sogar zu Willensimpulsen führt, deutlich<br />

ausgesprochen. Aber warum merkt dann der Mensch so<br />

wenig, dass beim Sehsinn hauptsächlich eigentlich ein Fühlen<br />

vorhanden ist?<br />

Wir sehen ja im Grunde genommen die Dinge fast immer so,<br />

dass sie uns, indem sie uns die Farben zuordnen, auch die Grenzen<br />

der Farben zeigen: Linien, Formen. Wir werden aber gewöhnlich<br />

nicht darauf aufmerksam, wie wir da eigentlich<br />

wahrnehmen, wenn wir zugleich Farbiges und Formen wahrnehmen.<br />

Wenn der Mensch einen farbigen Kreis wahrnimmt,<br />

sagt er grob: Ich sehe die Farbe, ich sehe auch die Rundung des<br />

Kreises, die Kreisform. Da werden aber doch zwei ganz ver-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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schiedene Dinge durcheinandergeworfen. Durch die eigentliche<br />

Tätigkeit des Auges, durch die abgesonderte Tätigkeit des Auges<br />

sehen Sie zunächst überhaupt nur die Farbe. Die Kreisform sehen<br />

Sie, indem Sie sich in Ihrem Unterbewusstsein des Bewegungssinnes<br />

bedienen und unbewusst im Ätherleib, im astralischen<br />

Leibe eine Kreiswindung ausführen und dies dann in die<br />

Erkenntnis hinaufheben. Und indem der Kreis, den Sie durch<br />

Ihren Bewegungssinn aufgenommen haben, in die Erkenntnis<br />

heraufkommt, verbindet sich der erkannte Kreis erst mit der<br />

wahrgenommenen Farbe. Sie holen also die Form aus Ihrem<br />

ganzen Leibe heraus, indem Sie appellieren an den über den<br />

ganzen Leib ausgebreiteten Bewegungssinn. Das kleiden Sie in<br />

etwas, was ich schon auseinandergesetzt habe, wo ich sagte:<br />

Der Mensch vollzieht eigentlich die Formen der Geometrie im<br />

Kosmos und hebt sie dann in die Erkenntnis hinauf.<br />

Zu so feiner Art des Beobachtens, dass der Unterschied herauskommt<br />

zwischen dem Farbensehen und dem Formenwahrnehmen<br />

mit Hilfe des Bewegungssinnes, schwingt sich heute die<br />

offizielle Wissenschaft überhaupt nicht auf, sondern sie wirft<br />

alles durcheinander. Erziehen wird man aber in der Zukunft<br />

nicht können durch solches Durcheinanderwerfen. Denn wie<br />

soll man erziehen zum Sehen, wenn man nicht weiß, dass in<br />

den Sehakt hinein der ganze Mensch mit seinem Wesen auf<br />

dem Umwege durch den Bewegungssinn sich ergießt? Aber jetzt<br />

kommt etwas anderes zum Vorschein. Sie betrachten den Sehakt,<br />

indem Sie farbige Formen wahrnehmen. Es ist ein komplizierter<br />

Akt, dieser Sehakt, das Wahrnehmen farbiger Formen.<br />

Aber indem Sie ein einheitlicher Mensch sind, können Sie das,<br />

was Sie auf den zwei Umwegen wahrnehmen, auf dem Wege<br />

durch das Auge und auf dem Wege durch den Bewegungssinn,<br />

wieder in sich vereinigen. Sie würden stumpf hinschauen auf<br />

einen roten Kreis, wenn Sie nicht auf einem ganz anderen Wege<br />

das Rote und auf einem ganz anderen Wege das Kreisförmige<br />

wahrnehmen würden. Aber Sie schauen nicht stumpf hin, weil<br />

Sie von zwei Seiten her - die Farbe durch das Auge, die Form<br />

mit Hilfe des Bewegungssinnes - wahrnehmen und im Leben<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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innerlich genötigt sind, diese beiden Dinge zusammenzufügen.<br />

Da urteilen Sie. Und jetzt begreifen Sie das Urteilen als einen<br />

lebendigen Vorgang in Ihrem eigenen Leibe, der dadurch zustande<br />

kommt, dass die Sinne Ihnen die Welt analysiert in Gliedern<br />

entgegenbringen. In zwölf verschiedenen Gliedern bringt<br />

Ihnen die Welt das entgegen, was Sie erleben, und in Ihrem Urteilen<br />

fügen Sie die Dinge zusammen, weil das einzelne nicht<br />

bestehen will als Einzelnes. Die Kreisform lässt es sich zunächst<br />

nicht gefallen, bloß Kreisform zu sein nach der Art, wie sie in<br />

den Bewegungssinn gekommen ist; die Farbe lässt es sich nicht<br />

gefallen, bloß Farbe zu sein, wie sie im Auge wahrgenommen<br />

wird. Die Dinge zwingen Sie innerlich, sie zu verbinden, und<br />

Sie erklären sich innerlich bereit, sie zu verbinden. Da wird die<br />

Urteilsfunktion zu einer Äußerung Ihres ganzen Menschen.<br />

Sie sehen jetzt hinein in den tieferen Sinn unseres Verhältnisses<br />

zur Welt. Hätten wir nicht zwölf Sinne, würden wir wie<br />

Stumpflinge auf unsere Umgebung hinschauen, würden nicht<br />

innerlich das Urteilen erleben können. Da wir aber zwölf Sinne<br />

haben, so haben wir damit eine ziemlich große Anzahl von<br />

Möglichkeiten, das Getrennte zu verbinden. Was der Ichsinn<br />

erlebt, können wir mit den elf anderen Sinnen verbinden, und<br />

das gilt so für jeden Sinn. Wir bekommen dadurch eine große<br />

Anzahl von Permutationen für die Zusammenhänge der Sinne.<br />

Aber außerdem bekommen wir auch noch eine große Anzahl<br />

von Möglichkeiten in dieser Beziehung, indem wir zum Beispiel<br />

den Ich-Sinn mit dem Gedankensinn und dem Sprachsinn zusammen<br />

verbinden und so weiter. Da sehen wir, in wie geheimnisvoller<br />

Weise der Mensch mit der Welt verbunden ist. Durch<br />

seine zwölf Sinne zerlegen sich die Dinge in ihre Bestandteile,<br />

und der Mensch muss in die Lage kommen können, dass er sich<br />

die Dinge aus den Bestandteilen wieder zusammensetzt. Dadurch<br />

nimmt er teil an dem inneren Leben der Dinge. Daher<br />

werden Sie begreifen, wie unendlich wichtig es ist, dass der<br />

Mensch so erzogen werde, dass vieles in gleichmäßiger Pflege in<br />

dem einen Sinn entwickelt wird wie in dem anderen Sinn, da<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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dann ganz bewusst systematisch, die Beziehungen zwischen den<br />

Sinnen, den Wahrnehmungen, aufgesucht werden.<br />

Ich habe noch hinzuzufügen, dass Ich-Sinn, Gedankensinn,<br />

Hörsinn und Sprachsinn mehr Erkenntnisse sind, weil der Wille<br />

darin eben der schlafende Wille ist, der wirklich schlafende<br />

Wille, der in seinen Äußerungen vibriert mit einer Erkenntnistätigkeit.<br />

So lebt schon in der Ich-Zone des Menschen Wille,<br />

Gefühl und Erkenntnis, und sie leben mit Hilfe von Wachen<br />

und Schlafen.<br />

Seien Sie sich also klar darüber, dass Sie den Menschen nur dadurch<br />

erkennen können, dass Sie ihn immer von drei Gesichtspunkten<br />

aus betrachten, indem Sie seinen Geist betrachten.<br />

Aber es genügt nicht, wenn man immer nur sagt: Geist! Geist!<br />

Geist! Die meisten Menschen reden immer von Geist und wissen<br />

nicht das vom Geiste Gegebene zu behandeln. Man behandelt<br />

es nur richtig, wenn man mit Bewusstseinszuständen operiert.<br />

Der Geist muss ergriffen werden durch Bewusstseinszustände,<br />

wie Wachen, Schlafen und Träumen. Das Seelische wird<br />

ergriffen durch Sympathie und Antipathie, das heißt durch Lebenszustände;<br />

das tut sogar die Seele fortwährend im Unterbewussten.<br />

Die Seele haben wir eigentlich im astralischen Leib,<br />

das Leben im ätherischen Leib, und zwischen beiden ist eine<br />

fortwährende Korrespondenz im Inneren, so dass sich von selbst<br />

das Seelische in den Lebenszuständen des ätherischen Leibes<br />

auslebt. Und der Leib wird wahrgenommen durch Formzustände.<br />

Ich habe gestern die Kugelform für den Kopf, die Mondform<br />

für die Brust, die Linienform für die Gliedmaßen angewendet,<br />

und wir werden von der wirklichen Morphologie des menschlichen<br />

Leibes noch zu sprechen haben. Aber wir reden nicht<br />

richtig von dem Geist, wenn wir nicht beschreiben, wie er sich<br />

in Bewusstseinszuständen auslebt; wir reden nicht richtig von<br />

der Seele, wenn wir nicht zeigen, wie sie zwischen Sympathie<br />

und Antipathie sich auslebt, und wir reden nicht richtig vom<br />

Leibe, wenn wir ihn nicht in wahrhaften Formen erfassen. Davon<br />

wollen wir morgen weitersprechen.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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NEUNTER VORTRAG<br />

30. AUGUST 1919, STUTTGART<br />

Wenn sie selbst ein gut entwickeltes, von Ihrem Willen und Ihrem<br />

Gemüt durchzogenes Wissen haben vom Wesen des werdenden<br />

Menschen, dann werden Sie auch gut unterrichten und<br />

gut erziehen. sie werden auf die einzelnen Gebiete durch einen<br />

pädagogischen Instinkt der in Ihnen erwachen wird, dasjenige<br />

anwenden, was sich Ihnen aus diesem willentlichen Wissen<br />

vom werdenden Kinde ergibt. Aber es muss dieses Wissen eben<br />

auch ein ganz reales sein, das heißt, auf wirklicher Erkenntnis<br />

der Tatsachenwelt beruhen.<br />

Nun haben wir ja versucht, um zu einem wirklichen Wissen<br />

vom Menschen zu kommen, diesen Menschen zuerst vom seelischen,<br />

dann vom geistigen Gesichtspunkte aus ins Auge zu fassen.<br />

Wir wollen uns vor Augen stellen, dass die geistige Erfassung<br />

des Menschen notwendig macht, auf die verschiedenen<br />

Bewusstseinszustände zu reflektieren, zu wissen, dass es, zunächst<br />

wenigstens, darauf ankommt, dass unser Leben geistig<br />

verläuft in Wachen, Träumen und Schlafen, und dass die einzelnen<br />

Lebensäußerungen so zu charakterisieren sind, dass man<br />

sie entweder als vollwachende, als träumerische oder als schlafende<br />

Lebenszustände ins Auge fasst. Nun werden wir versuchen,<br />

wiederum nach und nach hinunterzusteigen vom Geiste<br />

durch die Seele zum Leib, damit wir den ganzen Menschen vor<br />

uns haben können und zuletzt diese Betrachtungen auch auslaufen<br />

lassen können in eine gewisse Hygiene des werdenden Kindes.<br />

Sie wissen ja, dass jenes Lebensalter, welches beim Unterricht<br />

und bei der Erziehung als Ganzes für uns in Betracht kommt,<br />

dasjenige ist, das die zwei ersten Lebensjahrzehnte in sich<br />

schließt. Wir wissen weiter, dass das Gesamtleben des Kindes<br />

mit Bezug auf diese zwei ersten Lebensjahrzehnte des jungen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Menschen auch dreigeteilt ist. Bis zum Zahnwechsel trägt das<br />

Kind einen ganz bestimmten Charakter an sich, der sich namentlich<br />

dadurch ausspricht, dass es ein nachahmendes Wesen<br />

sein will; alles, was es in der Umgebung sieht, will es nachahmen.<br />

Vom siebenten Jahre bis zur Geschlechtsreife haben wir<br />

es zu tun mit dem Kinde, das auf Autorität hin dasjenige aufnehmen<br />

will, was es wissen, fühlen und wollen soll; und erst<br />

mit der Geschlechtsreife beginnt die Sehnsucht des Menschen,<br />

aus dem eigenen Urteil heraus sich mit der Umwelt in eine Beziehung<br />

zu setzen. Daher müssen wir fortwährend darauf Rücksicht<br />

nehmen, dass wir ja, wenn wir Kinder im Volksschulalter<br />

vor uns haben, den Menschen entwickeln, der gewissermaßen<br />

aus dem innersten Wesen seiner Natur heraus nach Autorität<br />

strebt. Wir werden schlecht erziehen, wenn wir nicht in der<br />

Lage sind, Autorität gerade in diesem Lebensalter zu halten.<br />

Nun handelt es sich aber darum, dass wir die Gesamtlebenstätigkeit<br />

des Menschen auch geistig charakterisierend überschauen<br />

können. Diese Gesamtlebenstätigkeit des Menschen umfasst,<br />

wie wir von den verschiedensten Gesichtspunkten her gekennzeichnet<br />

haben, das erkennende Denken auf der einen Seite, das<br />

Wollen auf der anderen Seite; Fühlen liegt zwischendrin. Nun<br />

ist der Mensch als Erdenmensch zwischen Geburt und Tod darauf<br />

angewiesen, dasjenige, was als erkennendes Denken sich<br />

äußert, allmählich zu durchdringen mit der Logik, mit alledem,<br />

was ihn befähigt logisch zu denken. Nur werden Sie selbst, was<br />

Sie über Logik als Lehrer und Erzieher zu wissen haben, im<br />

Hintergrunde halten müssen. Denn natürlich ist Logik etwas<br />

ausgeprägt Wissenschaftliches; das soll man als solches nur<br />

durch sein ganzes Verhalten zunächst an das Kind heranbringen.<br />

Aber als Lehrer muss man das Wichtigste der Logik doch in<br />

sich tragen.<br />

Indem wir uns logisch, das heißt, denkend-erkennend betätigen,<br />

haben wir in dieser Betätigung immer drei Glieder. Erstens<br />

haben wir immerfort dasjenige in unserem denkenden Erkennen<br />

drinnen, was wir Schlüsse nennen. Für das gewöhnliche<br />

Leben äußert sich ja das Denken in der Sprache. Wenn Sie das<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Gefüge der Sprache überblicken, werden Sie finden: indem Sie<br />

sprechen, bilden Sie fortwährend Schlüsse aus. Diese Tätigkeit<br />

des Schließens ist die allerbewussteste im Menschen. Der<br />

Mensch würde sich durch die Sprache nicht äußern können,<br />

wenn er nicht fortwährend Schlüsse sprechen würde; er würde<br />

nicht das, was der andere zu ihm sagt, verstehen können, wenn<br />

er nicht fortwährend Schlüsse in sich aufnehmen könnte. Die<br />

Schullogik zergliedert gewöhnlich die Schlüsse; dadurch verfälscht<br />

sie sie schon, insofern die Schlüsse im gewöhnlichen Leben<br />

vorkommen. Die Schullogik bedenkt nicht, dass wir schon<br />

einen Schluss ziehen, wenn wir ein einzelnes Ding ins Auge fassen.<br />

Denken Sie sich, Sie gehen in eine Menagerie und sehen<br />

dort einen Löwen. Was tun Sie denn zuallererst, indem Sie den<br />

Löwen wahrnehmen? Sie werden zuallererst das, was Sie am<br />

Löwen sehen, sich zum Bewusstsein bringen, und nur durch<br />

dieses sich-zum-Bewusstsein-Bringen kommen Sie mit Ihren<br />

Wahrnehmungen gegenüber dem Löwen zurecht. Sie haben im<br />

Leben gelernt, ehe Sie in die Menagerie gegangen sind, dass solche<br />

Wesen, die sich so äußern wie der Löwe, den Sie jetzt sehen,<br />

«Tiere» sind. Was Sie da aus dem Leben gelernt haben,<br />

bringen Sie schon mit in die Menagerie. Dann schauen Sie den<br />

Löwen an und finden: der Löwe tut eben auch das, was Sie bei<br />

den Tieren kennengelernt haben. Dies verbinden Sie mit dem,<br />

was Sie aus der Lebenserkenntnis mitgebracht haben, und bilden<br />

sich dann das Urteil: Der Löwe ist ein Tier. - Erst wenn Sie<br />

dieses Urteil sich gebildet haben, verstehen Sie den einzelnen<br />

Begriff «Löwe». Das erste, was Sie ausführen, ist ein Schluss; das<br />

zweite, was Sie ausführen, ist ein Urteil; und das letzte, wozu Sie<br />

im Leben kommen, ist ein Begriff. Sie wissen natürlich nicht,<br />

dass Sie diese Betätigung fortwährend vollziehen; aber würden<br />

Sie sie nicht vollziehen, so würden Sie kein bewusstes Leben<br />

führen, das Sie geeignet macht, sich durch die Sprache mit anderen<br />

Menschenwesen zu verständigen. Man glaubt gewöhnlich,<br />

der Mensch komme zuerst zu den Begriffen. Das ist nicht<br />

wahr. Das erste im Leben sind die Schlüsse. Und wir können<br />

sagen: Wenn wir nicht unsere Wahrnehmung des Löwen, wenn<br />

131


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

wir in die Menagerie gehen, aus der gesamten übrigen Lebenserfahrung<br />

herausschälen, sondern wenn wir sie in unsere ganze<br />

übrige Lebenserfahrung hineinstellen, so ist das erste, was wir in<br />

der Menagerie vollbringen, das ziehen eines Schlusses. - Wir<br />

müssen uns klar sein: dass wir in die Menagerie gehen und den<br />

Löwen sehen, ist nur eine Einzelhandlung und gehört zum ganzen<br />

Leben hinzu. Wir haben nicht angefangen zu leben, als wir<br />

die Menagerie betreten und den Blick auf den Löwen gerichtet<br />

haben. Das schließt sich an das vorherige Leben an, und das<br />

vorherige Leben spielt da hinein, und wiederum wird das, was<br />

wir aus der Menagerie mitnehmen, hinausgetragen in das übrige<br />

Leben. -<br />

Wenn wir aber nun den ganzen Vorgang betrachten, was ist<br />

dann der Löwe zuerst? Er ist zuerst ein Schluss. Wir können<br />

durchaus sagen: Der Löwe ist ein Schluss. Ein bisschen später:<br />

Der Löwe ist ein Urteil. Und wieder ein bisschen später: Der<br />

Löwe ist ein Begriff.<br />

Wenn Sie Logiken aufschlagen, namentlich solche älteren Kalibers,<br />

dann werden Sie unter den Schlüssen gewöhnlich den allerdings<br />

berühmt gewordenen Schluss angeführt finden: Alle<br />

Menschen sind sterblich; Cajus ist ein Mensch; also ist Cajus<br />

sterblich. - Cajus ist ja die allerberühmteste logische Persönlichkeit.<br />

Nun, dieses Auseinanderschälen der drei Urteile:<br />

«Alle Menschen sind sterblich», «Cajus ist ein Mensch», «also ist<br />

Cajus sterblich», findet in der Tat nur beim Logikunterricht<br />

statt. Im Leben weben diese drei Urteile ineinander, sind eins,<br />

denn das Leben verläuft fortwährend denkend-erkennend. Sie<br />

vollziehen immer alle drei Urteile gleichzeitig, indem Sie an einen<br />

Menschen<br />

Nun haben diese drei Dinge - Schluss, Urteil, Begriff - ihr Dasein<br />

im Erkennen, das heißt im lebendigen Geiste des Menschen.<br />

Wie verhalten sie sich im lebendigen Geiste des Menschen?<br />

132


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Der Schluss kann nur leben im lebendigen Geiste des Menschen,<br />

nur dort hat er ein gesundes Leben; das heißt, der Schluss ist<br />

nur ganz gesund, wenn er verläuft im vollwachenden Leben.<br />

Das ist sehr wichtig, wie wir noch sehen werden. Daher ruinieren<br />

Sie die Seele des Kindes, wenn Sie darauf hinarbeiten, dass<br />

fertige Schlüsse dem Gedächtnis anvertraut werden sollen. Was<br />

ich jetzt für den Unterricht sage, das ist, wie wir es noch im einzelnen<br />

auszuführen haben, von ganz fundamentaler Wichtigkeit.<br />

Sie werden in der Waldorfschule Kinder aller Altersstufen<br />

bekommen mit den Ergebnissen vorangehenden Unterrichtes.<br />

Es wird mit den Kindern gearbeitet worden sein - Sie werden<br />

das Ergebnis davon schon vorfinden im Schluss, Urteil, Begriff.<br />

Sie werden ja aus den Kindern das Wissen wieder heraufholen<br />

müssen, denn Sie können nicht mit jedem Kinde von neuem<br />

beginnen. Wir haben ja das Eigentümliche, dass wir die Schule<br />

nicht von unten aufbauen können, sondern gleich mit acht<br />

Klassen beginnen. Sie werden also präparierte Kinderseelen vorfinden<br />

und werden in der Methode in den allerersten Zeiten<br />

darauf Rücksicht nehmen müssen, dass Sie möglichst wenig die<br />

Kinder damit plagen, fertige Schlüsse aus dem Gedächtnis herauszuholen.<br />

Sind diese fertigen Schlüsse zu stark in die Seelen<br />

der Kinder gelegt, dann lasse man sie lieber unten liegen und<br />

bemühe sich, das gegenwärtige Leben des Kindes im Schließen<br />

leben zu lassen.<br />

Das Urteil entwickelt sich ja zunächst auch, selbstverständlich,<br />

im vollwachenden Leben. Aber das Urteil kann schon hinuntersteigen<br />

in die Untergründe der menschlichen Seele, da, wo die<br />

Seele träumt. Der Schluss sollte nicht einmal in die träumende<br />

Seele hinunterziehen, sondern nur das Urteil kann in die träumende<br />

Seele hinunterziehen. Also alles, was wir uns als Urteil<br />

über die Welt bilden, zieht in die träumende Seele hinunter.<br />

Ja, was ist denn diese träumende Seele eigentlich? Sie ist mehr<br />

das Gefühlsmäßige, wie wir gelernt haben. Wenn wir also im<br />

Leben Urteile gefällt haben und dann über die Urteilsfällung<br />

hinweggehen und das Leben weiterführen, so tragen wir unsere<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Urteile durch die Welt; aber wir tragen sie im Gefühl durch die<br />

Welt. Das heißt aber weiter: das Urteilen wird in uns eine Art<br />

Gewohnheit. Sie bilden die Seelengewohnheiten des Kindes aus<br />

durch die Art, wie Sie die Kinder urteilen lehren. Dessen müssen<br />

Sie sich durchaus bewusst sein. Denn der Ausdruck des Urteils<br />

im Leben ist der Satz, und mit jedem Satze, den Sie zu dem<br />

Kinde sprechen, tragen Sie ein Atom hinzu zu den Seelengewohnheiten<br />

des Kindes. Daher sollte der ja Autorität besitzende<br />

Lehrer sich immer bewusst sein, dass das, was er spricht, haften<br />

werde an den Seelengewohnheiten des Kindes.<br />

Und kommen wir vom Urteil zum Begriff, so müssen wir uns<br />

gestehen: was wir als Begriff ausbilden, das steigt hinunter bis in<br />

die tiefste Tiefe des Menschenwesens, geistig betrachtet, steigt<br />

hinunter bis in die schlafende Seele. Der Begriff steigt hinunter<br />

bis in die schlafende Seele, und dies ist die Seele, die fortwährend<br />

am Leibe arbeitet. Die wachende Seele arbeitet nicht am<br />

Leibe. Ein wenig arbeitet die träumende Seele am Leibe; sie erzeugt<br />

das, was in seinen gewohnten Gebärden liegt. Aber die<br />

schlafende Seele wirkt bis in die Formen des Leibes hinein. Indem<br />

Sie Begriffe bilden, das heißt, indem Sie Ergebnisse der Urteile<br />

bei den Menschen feststellen, wirken Sie bis in die schlafende<br />

Seele oder, mit anderen Worten, bis in den Leib des Menschen<br />

hinein. Nun ist ja der Mensch in hohem Grade dem Leibe<br />

nach fertig gebildet, indem er geboren wird, und die Seele hat<br />

nur die Möglichkeit, das, was durch die Vererbungsströmung<br />

den Menschen überliefert wird, feiner auszubilden. Aber sie<br />

bildet es feiner aus. Wir gehen durch die Welt und schauen uns<br />

Menschen an. Diese Menschen treten uns entgegen mit ganz<br />

bestimmten Gesichtsphysiognomien. Was ist in diesen Gesichtsphysiognomien<br />

enthalten? Es ist in ihnen unter anderem<br />

enthalten das Ergebnis aller Begriffe, welche die Lehrer und Erzieher<br />

während der Kindheit in den Menschen hineingebracht<br />

haben. Aus dem Gesicht des reifen Menschen strahlt uns wieder<br />

das entgegen, was an Begriffen in die Kinderseele hineingegossen<br />

ist, denn die schlafende Seele hat die Physiognomie des<br />

Menschen unter anderem auch nach den feststehenden Begrif-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

fen gebildet. Hier sehen wir die Macht des Erzieherischen und<br />

Unterrichtlichen von uns auf den Menschen. Seinen Siegelabdruck<br />

bekommt der Mensch bis in den Leib hinein durch das<br />

Begriffebilden.<br />

Heute ist die auffälligste Erscheinung in der Welt die, dass wir<br />

Menschen mit so wenig ausgeprägten Physiognomien finden.<br />

Recht geistreich hat einmal Hermann Bahr in einem Berliner<br />

Vortrage etwas erzählt aus seinen Lebenserfahrungen. Er meinte,<br />

wenn man so an den Rhein oder in die Gegend von Essen<br />

komme, in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />

schon, und man ginge durch die Straßen und es begegneten einem<br />

die Menschen, die aus den Fabriken kämen, da hätte man<br />

so still das Gefühl: Ja, keiner unterscheidet sich vom anderen, es<br />

ist eigentlich nur ein einziger Mensch, der einem dort begegnet,<br />

wie durch einen Vervielfältigungsapparat im Bilde sich zeigend;<br />

man kann die Menschen eigentlich gar nicht voneinander unterscheiden.<br />

- Eine sehr wichtige Beobachtung! Und noch eine<br />

andere Beobachtung hat Hermann Bahr angeführt, die auch<br />

ganz wichtig ist. Er meinte: Wenn man in den neunziger Jahren<br />

in Berlin irgendwo eingeladen war zum Souper, man hatte<br />

rechts und links seine Tischdame, man konnte sie eigentlich<br />

nicht voneinander unterscheiden, aber man hatte wenigstens<br />

den Unterschied: die eine ist rechts, die andere ist links. Nun<br />

war man dann auch wieder woanders eingeladen, und es konnte<br />

einem dann passieren, dass man nicht unterscheiden konnte: ist<br />

das nun die Dame von gestern, oder ist es die von vorgestern?<br />

Kurz, eine gewisse Uniformität ist in die Menschheit eingezogen.<br />

Das ist aber ein Beweis dafür, dass in den Menschen nichts<br />

heranerzogen worden ist in der vorhergehenden Zeit. An solchen<br />

Dingen muss man lernen, was notwendig ist in bezug auf<br />

die Umwandlung unseres Erziehungswesens, denn die Erziehung<br />

greift tief ein in das ganze Kulturleben. Daher können wir<br />

sagen: Wenn der Mensch durch das Leben geht und nicht gerade<br />

einer einzelnen Tatsache gegenübersteht, so leben im Unbewussten<br />

seine Begriffe.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Begriffe können also im Unbewussten leben. Urteile können nur<br />

leben als Urteilsgewohnheiten im halbbewussten, im träumerischen<br />

Leben, und Schlüsse sollen eigentlich nur im vollbewussten,<br />

wachen Leben herrschen. Das heißt, man soll recht viel<br />

Rücksicht darauf nehmen, dass man alles, was sich auf die<br />

Schlüsse bezieht, mit den Kindern bespricht und sie nicht fertige<br />

Schlüsse immer gerade bewahren lässt, sondern nur das bewahren<br />

lässt, was zum Begriff ausreift. Aber was ist dazu notwendig?<br />

Denken Sie sich, Sie bilden Begriffe, und diese Begriffe sind tot.<br />

Dann impfen Sie den Menschen Begriffsleichname ein. Bis in<br />

seinen Leib hinein impfen Sie dem Menschen Begriffsleichname<br />

ein, wenn Sie ihm tote Begriffe einimpfen. Wie muss der Begriff<br />

sein, den wir dem Menschen beibringen? Er muss lebendig sein,<br />

wenn der Mensch mit ihm soll leben können. Der Mensch muss<br />

leben, also muss der Begriff mitleben können. Impfen Sie dem<br />

Kinde im neunten, zehnten Jahre Begriffe ein, die dazu bestimmt<br />

sind, dass sie der Mensch im dreißigsten, vierzigsten<br />

Jahre noch ebenso hat, dann impfen Sie ihm Begriffsleichname<br />

ein, denn der Begriff lebt dann nicht mit dem Menschen mit,<br />

wenn dieser sich entwickelt. Sie müssen dem Kinde solche Begriffe<br />

beibringen, die sich im Laufe des weiteren Lebens des<br />

Kindes umwandeln können. Der Erzieher muss darauf bedacht<br />

sein, solche Begriffe dem Kinde zu übermitteln, welche der<br />

Mensch dann im späteren Leben nicht mehr so hat, wie er sie<br />

einmal bekommen hat, sondern die sich selbst umwandeln im<br />

späteren Leben. Wenn Sie das machen, dann impfen Sie dem<br />

Kinde lebendige Begriffe ein. Und wann impfen Sie ihm tote<br />

Begriffe ein? Wenn Sie dem Kinde fortwährend Definitionen<br />

geben, wenn Sie sagen: Ein Löwe ist...und so weiter und das<br />

auswendig lernen lassen, dann impfen Sie ihm tote Begriffe ein;<br />

dann rechnen Sie damit, dass das Kind, wenn es dreißig Jahre<br />

ist, noch ganz genau so diese Begriffe hat, wie Sie sie ihm einmal<br />

beigebracht haben. Das heißt: das viele Definieren ist der Tod<br />

des lebendigen Unterrichtes.<br />

136


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Was müssen wir also tun? Wir sollten im Unterricht nicht definieren,<br />

wir sollten versuchen zu charakterisieren. Wir charakterisieren,<br />

wenn wir die Dinge unter möglichst viele Gesichtspunkte<br />

stellen. Wenn wir einfach in der Naturgeschichte dem<br />

Kinde das beibringen, was zum Beispiel in den heutigen Naturgeschichten<br />

von den Tieren steht, so definieren wir ihm eigentlich<br />

nur das Tier. Wir müssen versuchen, in allen Gliedern des<br />

Unterrichtes das Tier von anderen Seiten aus zu charakterisieren,<br />

zum Beispiel von der Seite, wie die Menschen allmählich<br />

dazu gekommen sind, dieses Tier kennenzulernen, sich seiner<br />

Arbeit zu bedienen und so weiter. Aber schon ein rationell eingerichteter<br />

Unterricht selber wirkt charakterisierend, wenn Sie<br />

nicht einfach nur - wenn die betreffende Etappe des Unterrichtes<br />

gerade an der Reihe ist - naturgeschichtlich den Tintenfisch<br />

beschreiben, dann wieder, wenn es drankommt, die Maus, und<br />

dann wieder den Menschen, wenn er drankommt, sondern<br />

wenn Sie nebeneinanderstellen Tintenfisch, Maul und Menschen<br />

und diese aufeinander beziehen. Dann sind diese Beziehungen<br />

so vielgliedrig, dass nicht eine Definition herauskommt,<br />

sondern eine Charakteristik. Ein richtiger Unterricht arbeitet<br />

daher von vornherein nicht auf die Definition hin, sondern auf<br />

die Charakteristik.<br />

Das ist von ganz besonderer Wichtigkeit, dass man sich stets<br />

bewusst ist: man ertöte nichts in dem werdenden Menschen,<br />

sondern man erziehe und unterrichte ihn so, dass er lebendig<br />

bleibt, dass er nicht vertrocknet, nicht erstarrt. Sie werden daher<br />

sorgfältig unterscheiden müssen bewegliche Begriffe, die Sie<br />

dem Kinde beibringen, und solche - es gibt auch solche - die<br />

eigentlich einer Veränderung nicht zu unterliegen brauchen.<br />

Diese Begriffe werden beim Kinde eine Art Skelett seiner Seele<br />

geben können. Darauf werden Sie allerdings auch bedacht sein<br />

müssen, dass Sie dem Kinde etwas mitgeben müssen, was doch<br />

wieder für das ganze Leben bleibt. - Sie werden ihm nicht über<br />

die Einzelheiten des Lebens tote Begriffe geben dürfen, die<br />

nicht bleiben dürfen; Sie werden ihm lebendige Begriffe über<br />

die Einzelheiten des Lebens und der Welt geben müssen, die<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

sich mit ihm selber organisch entwickeln. Aber Sie werden alles<br />

auf den Menschen beziehen müssen. Zuletzt wird alles in der<br />

Auffassung des Kindes zusammenströmen müssen in der Idee<br />

vom Menschen. Diese Idee vom Menschen darf bleiben. Alles,<br />

was Sie dem Kinde mitgeben, wenn Sie ihm eine Fabel erzählen<br />

und sie anwenden auf den Menschen, wenn Sie in der Naturgeschichte<br />

Tintenfisch und Maus auf den Menschen beziehen,<br />

wenn sie beim Morsetelegraph ein Gefühl erregen von dem<br />

Wunder, das sich durch die Erdleitung vollzieht - alles das sind<br />

Dinge, welche die ganze Welt in ihren Einzelheiten verbinden<br />

mit dem Menschen. Das ist etwas, was bleiben kann. Aber man<br />

baut den Begriff vom Menschen ja erst allmählich auf, man<br />

kann dem Kinde nicht einen fertigen Begriff vom Menschen<br />

beibringen. Hat man ihn aber aufgebaut, dann darf er bleiben.<br />

Es ist sogar das Schönste, was man dem Kinde von der Schule<br />

ins spätere Leben mitgeben kann, die Idee, die möglichst vielseitige,<br />

möglichst viel enthaltene Idee vom Menschen.<br />

Das, was im Menschen lebt, hat die Tendenz, sich im Leben<br />

wirklich auch lebendig umzuwandeln. Bringen Sie es dahin bei<br />

dem Kind, dass es Begriffe hat von Ehrfurcht, von Verehrung,<br />

Begriffe von alledem, was wir in einem umfassenderen Sinn<br />

nennen können die Gebetsstimmung, dann ist eine solche Vorstellung<br />

in dem Kinde, das mit der Gebetsstimmung durchdrungen<br />

ist, eine lebendige, reicht bis ins höchste Alter und wandelt<br />

sich um im höchsten Alter in die Fähigkeit zu segnen, bei anderen<br />

wieder die Ergebnisse der Gebetsstimmung auszuteilen. Ich<br />

habe es einmal so ausgedrückt, dass ich sagte: Kein Greis, noch<br />

eine Greisin, werden im Alter wirklich gut segnen können, die<br />

nicht als Kind richtig gebetet haben. Hat man als Kind richtig<br />

gebetet, so kann man als Greis oder Greisin richtig segnen, das<br />

heißt mit stärkster Kraft.<br />

Also solche Begriffe beibringen, die mit dem Intimsten des<br />

Menschen zusammenhängen, heißt den Menschen ausstatten<br />

mit lebendigen Begriffen; und das Lebendige geht Metamorpho-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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sen ein, wandelt sich um; mit dem Leben des Menschen selbst<br />

wandelt es sich um.<br />

Betrachten wir einmal noch von einem etwas anderen Gesichtspunkte<br />

aus diese Dreigliederung des jugendlichen Lebensalters.<br />

Bis zum Zahnwechsel will der Mensch nachahmen, bis zur Geschlechtsreife<br />

will er unter Autorität stehen; dann will er sein<br />

Urteil auf die Welt anwenden.<br />

Man kann das auch noch anders ausdrücken. Wenn der Mensch<br />

aus der geistig-seelischen Welt heraustritt, sich mit einem Leibe<br />

umkleidet, was will er da eigentlich? Er will das Vergangene,<br />

das er im Geistigen durchlebt hat, in der physischen Welt verwirklichen.<br />

Der Mensch ist gewissermaßen vor dem Zahnwechsel<br />

ganz auf das Vergangene noch eingestellt. Von jener Hingabe,<br />

die man in der geistigen Welt entwickelt, ist der Mensch<br />

noch erfüllt. Daher gibt er sich auch in seine Umgebung hin,<br />

indem er die Menschen nachahmt. Was ist denn nun der<br />

Grundimpuls, die noch ganz unbewusste Grundstimmung des<br />

Kindes bis zum Zahnwechsel? Diese Grundstimmung ist eigentlich<br />

eine sehr schöne, die auch gepflegt werden muss. Es ist die,<br />

welche von der Annahme, von der unbewussten Annahme ausgeht:<br />

Die ganze Weft ist moralisch. Es ist bei den heutigen Seelen<br />

nicht umfassend so; aber es ist im Menschen veranlagt,<br />

wenn er die Welt betritt, dadurch dass er ein physisches Wesen<br />

wird, von der unbewussten Annahme ausgehen: Die Welt ist<br />

moralisch. Daher ist es gut für die ganze Erziehung bis zum<br />

Zahnwechsel und noch darüber hinaus, dass man etwas Rechnung<br />

trage dieser unbewussten Annahme: Die Welt ist moralisch.<br />

Ich habe darauf Rücksicht genommen, indem ich Ihnen<br />

zwei Lesestücke vorgeführt habe, für die ich zuerst die Vorbereitung<br />

gezeigt habe, und diese Präparation lebte ganz unter der<br />

Annahme, dass man moralisch charakterisiert. Ich versuchte zu<br />

charakterisieren bei dem Stück, wo es sich um das Hirtenhündchen,<br />

das Fleischerhündchen und das Polsterhündchen handelt,<br />

wie im Tierreiche Menschenmoral widergespiegelt sein kann.<br />

Und ich versuchte es auch, in dem Gedicht über das Veilchen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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von Hoffmann von Fallersleben, ohne Pedanterie Moral auch<br />

über das siebente Lebensjahr hinaus an das kindliche Leben heranzubringen,<br />

damit man dieser Annahme, die Welt ist moralisch,<br />

entgegenkommt. Das ist ja das Erhebende und Große im<br />

Anblick der Kinder, dass die Kinder eine Menschenrasse sind,<br />

die an die Moral der Welt glaubt und daher glaubt, dass man die<br />

Welt nachahmen dürfe. - Das Kind lebt so in der Vergangenheit<br />

und ist auch vielfach ein 0ffenbarer der vorgeburtlichen Vergangenheit,<br />

nicht der physischen, sondern der geistigseelischen.<br />

Indem der Mensch als Kind durch den Zahnwechsel durchgeht,<br />

lebt er bis zur Geschlechtsreife fortwährend eigentlich in der<br />

Gegenwart und interessiert sich für das Gegenwärtige. Und darauf<br />

muss beim Unterrichten und Erziehen fortwährend Rücksicht<br />

genommen werden, dass eigentlich der Volksschüler fortwährend<br />

in der Gegenwart leben will. Wie lebt man denn in<br />

der Gegenwart? In der Gegenwart lebt man, wenn man in einer<br />

nicht animalischen, sondern menschlichen Weise die Welt um<br />

sich her genießt. Tatsächlich, das Kind als Volksschüler will<br />

auch im Unterricht die Welt genießen. Wir sollen daher nicht<br />

versäumen, so zu unterrichten, dass nicht im animalischen, aber<br />

im höheren menschlichen Sinne der Unterricht wirklich für das<br />

Kind eine Art Genießen ist, und nicht etwa, was ihm Antipathie<br />

und Ekel hervorruft. Auf diesem Gebiete hat ja die Pädagogik<br />

allerlei gute Anläufe gemacht. Aber es ist etwas Gefährliches auf<br />

diesem Gebiete. Das Gefährliche besteht darin, dass man dieses<br />

Prinzip, den Unterricht zu einem Quell der Freude und des Genießens<br />

zu machen, sehr leicht ins Hausbackene verzerren<br />

kann. Das sollte nicht geschehen. Es kann aber nur Abhilfe geschaffen<br />

werden, wenn der Lehrer, der Unterrichtende, sich<br />

selbst fortwährend herausheben will aus dem Hausbackenen,<br />

Pedantischen, Philiströsen. Das kann er eigentlich nur dadurch,<br />

dass er nie versäumt, seine Beziehung zur Kunst recht lebendig<br />

sein zu lassen. Denn man geht von einer bestimmten Voraussetzung<br />

aus, wenn man menschlich - nicht animalisch - die Welt<br />

genießen will, von der Voraussetzung, dass die Welt schön ist.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Und von dieser unbewussten Voraussetzung geht eigentlich das<br />

Kind von seinem Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife aus, dass<br />

es die Welt schön finden dürfe. Dieser unbewussten Annahme<br />

des Kindes, dass die Welt schön ist, dass also auch der Unterricht<br />

schön sein müsse, dem kommt man wahrhaftig nicht entgegen,<br />

wenn man die oftmals so banalen, rein vom Nützlichkeitsstandpunkte<br />

aus zugerichteten Regeln für den Anschauungsunterricht<br />

beobachtet, sondern wenn man selbst versucht,<br />

einzutauchen in künstlerisches Erleben, damit der Unterricht<br />

gerade in dieser Zeit durchkunstet werde. Es tut einem<br />

manchmal fürchterlich leid, wenn man die Didaktiken der Gegenwart<br />

liest und sieht, wie der gute Ansatz, dass man den Unterricht<br />

zu einem Quell der Freude machen möchte, dadurch<br />

nicht zu seinem Rechte kommt, dass das, was der Lehrer mit<br />

seinen Schülern bespricht, einen unästhetischen, einen hausbackenen<br />

Eindruck macht. Es ist ja heute beliebt, mit den Kindern<br />

Anschauungsunterricht zu treiben so nach sokratischer Methode.<br />

Aber die Fragen, welche da an die Kinder gestellt werden,<br />

tragen einen äußersten Nützlichkeitscharakter, nicht einen<br />

Charakter, der etwas in Schönheit lebt. Da nützt dann auch alles<br />

Aufstellen von Musterbeispielen nichts. Nicht darauf kommt es<br />

an, dass man dem Lehrer aufträgt: du sollst diese oder jene Art<br />

beim Auswählen deiner Musterbeispiele für den Anschauungsunterricht<br />

einhalten, sondern dass der Lehrer selbst dafür sorgt<br />

durch sein Leben in der Kunst, dass die Dinge geschmackvoll<br />

sind, die er mit den Kindern durchspricht.<br />

Das erste Kindesleben bis zum Zahnwechsel geht mit der unbewussten<br />

Annahme vor sich: Die Welt ist moralisch. Das zweite<br />

Lebensalter, vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, verläuft<br />

in der unbewussten Voraussetzung: Die Welt ist schön. Und erst<br />

mit der Geschlechtsreife beginnt dann so recht die Anlage dafür,<br />

auch das in der Welt zu finden: Die Welt ist wahr. Erst dann<br />

kann daher der Unterricht damit einsetzen, „wissenschaftlichen“<br />

Charakter zu bekommen. Vor der Geschlechtsreife ist es<br />

nicht gut, dem Unterricht einen bloß systematischen oder wissenschaftlichen<br />

Charakter zu geben, denn einen richtigen inne-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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ren Begriff von der Wahrheit bekommt der Mensch erst dann,<br />

wenn er geschlechtsreif geworden ist.<br />

Auf diese Art werden Sie zu einer Einsicht kommen, dass sich<br />

mit dem werdenden Kinde aus höheren Welten herunter lebt in<br />

diese physische Welt hinein das Vergangene, dass, in dem das<br />

Kind seinen Zahnwechsel vollzogen hat, sich in dem eigentlichen<br />

Volksschüler die Gegenwart auslebt, und dass dann der<br />

Mensch in jenes Lebensalter eintritt, wo sich in seiner Seele die<br />

Zukunftsimpulse festsetzen. Vergangenheit, Gegenwart und<br />

Zukunft und das Leben darinnen: das steckt auch in dem werdenden<br />

Menschen.<br />

Hier wollen wir halten und übermorgen mit dieser Betrachtung<br />

fortsetzen, die dann immer mehr ins praktische Unterrichten<br />

einlaufen wird.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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ZEHNTER VORTRAG<br />

1. SEPTEMBER 1919, STUTTGART<br />

Wir haben das Wesen des Menschen von dem seelischen und<br />

geistigen Gesichtspunkte aus besprochen. Wir haben wenigstens<br />

einige Streiflichter darauf geworfen, wie der Mensch zu betrachten<br />

ist vom geistigen, vom seelischen Gesichtspunkte aus.<br />

Wir werden dasjenige, was so von den zwei Gesichtspunkten<br />

aus betrachtet worden ist, dadurch zu ergänzen haben, dass wir<br />

zunächst verbinden die Gesichtspunkte des Geistigen, des Seelischen,<br />

des Leiblichen, damit wir einen vollständigen Überblick<br />

über den Menschen bekommen und dann übergehen können<br />

auf ein Erfassen, auf ein Begreifen auch der äußeren Leiblichkeit.<br />

Zuerst wollen wir uns noch einmal ins Gedächtnis rufen, was<br />

uns von verschiedenen Seiten her aufgefallen sein muss dass der<br />

Mensch in den drei Gliedern seines Wesens verschiedene Formen<br />

hat. Wir haben darauf aufmerksam gemacht, wie im wesentlichen<br />

die Kopfform die Form des Kugeligen ist, wie in dieser<br />

kugeligen Kopfform das eigentliche leibliche Wesen des<br />

menschlichen Hauptes liegt. Wir haben dann darauf aufmerksam<br />

gemacht, dass der Brustteil des Menschen ein Fragment einer<br />

Kugel ist, so dass also, wenn wir schematisch zeichnen, wir<br />

dem Kopfe eine Kugelform, dem Brustteil eine Mondenform geben<br />

und dass wir uns klar sind, dass in dieser Mondenform ein<br />

Kugelfragment, ein Teil einer Kugel enthalten ist. Daher werden<br />

wir uns sagen müssen: Wir können ergänzen die Mondform des<br />

menschlichen Brustgliedes. Und Sie werden nur dann dieses<br />

Mittelglied der menschlichen Wesenheit, die menschliche<br />

Brustform, richtig ins Auge fassen können, wenn Sie sie auch als<br />

eine Kugel betrachten, aber als eine Kugel, von der nur ein Teil,<br />

ein Mond sichtbar ist und der andere Teil unsichtbar ist. Sie sehen<br />

daraus vielleicht, dass in denjenigen älteren Zeiten, in denen<br />

man mehr die Fähigkeit gehabt hat als später, Formen zu<br />

143


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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sehen, man nicht unrecht hatte, von Sonne dem Kopf entsprechend,<br />

von Mond der Brustform entsprechend zu sprechen. Und<br />

wie man dann, wenn der Mond nicht voll ist, von dem Mond<br />

eben nur ein Kugelfragment sieht, so sieht man von dem<br />

menschlichen Mittelgliede in der Brustform eigentlich nur ein<br />

Fragment. Daraus können Sie ersehen, dass die Kopfform des<br />

Menschen hier in der physischen Welt etwas verhältnismäßig<br />

Abgeschlossenes ist. Die Kopfform zeigt sich physisch als etwas<br />

Abgeschlossenes. Sie ist gewissermaßen ganz dasjenige, als was<br />

sie sich gibt. Sie verbirgt am allerwenigsten von sich.<br />

Der Brustteil des Menschen verbirgt schon sehr viel von sich; er<br />

lässt etwas von seiner Wesenheit unsichtbar. Es ist sehr wichtig<br />

für die Erkenntnis der Wesenheit des Menschen, das ins zu fassen,<br />

dass vom Brustteil ein gut Stück unsichtbar sind so können<br />

wir sagen: Der Brustteil zeigt uns nach der Seite, nach rückwärts,<br />

seine Leiblichkeit; nach vorwärts geht er in das Seelische<br />

über. Der Kopf ist ganz Leib; der Brustteil des Menschen ist Leib<br />

nach rückwärts, Seele nach vorwärts. Wir tragen also einen<br />

wirklichen Leib nur an uns, indem wir unser Haupt auf den<br />

Schultern ruhen haben. Wir haben an uns Leib und Seele, indem<br />

wir unsere Brust herausgliedern aus dem übrigen Brustteil<br />

und sie durcharbeiten, durchwirken lassen von dem Seelischen.<br />

Nun sind eingesetzt in diese beiden Glieder des Menschen, namentlich<br />

zunächst für die äußere Betrachtung, in den Brustteil<br />

die Gliedmaßen. Das dritte ist ja der Gliedmaßenmensch. Nun,<br />

wie können wir den Gliedmaßenmenschen eigentlich verste-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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hen? Den Gliedmaßenmenschen können wir nur verstehen,<br />

wenn wir ins Auge fassen, dass andere Stücke übriggeblieben<br />

sind von der Kugelform als beim Brustteil.<br />

Beim Brustteil ist ein Stück von der Peripherie übriggeblieben.<br />

Bei den Gliedmaßen ist mehr übriggeblieben etwas von dem<br />

Inneren, von den Radien der Kugel, so dass also die inneren Teile<br />

der Kugel angesetzt sind als Gliedmaßen. Man kommt eben<br />

nicht zurecht, wie ich Ihnen schon oftmals gesagt habe, wenn<br />

man nur schematisch eins ins andere gliedert. Man muss immer<br />

das eine mit dem anderen verweben, denn darin besteht das Lebendige.<br />

Wir sagen: Wir haben den Gliedmaßenmenschen, der<br />

besteht aus den Gliedmaßen. Aber sehen Sie, auch der Kopf hat<br />

seine Gliedmaßen. Wenn Sie sich den Schädel ordentlich ansehen,<br />

dann finden Sie, dass zum Beispiel angesetzt sind an den<br />

Schädel die Knochen der hinteren und der vorderen Kinnlade.<br />

Sie sind richtig eingesetzt wie Gliedmaßen. Der Schädel hat<br />

auch seine Gliedmaßen, und obere und untere Kinnlade sind als<br />

Gliedmaßen am Schädel angebracht. Sie sind nur am Schädel<br />

verkümmert. Sie sind richtig groß ausgebildet beim übrigen<br />

Menschen, am Schädel sind sie verkümmert, sind eigentlich nur<br />

Knochengebilde. Und noch einen Unterschied gibt es: wenn Sie<br />

die Gliedmaßen des Schädels betrachten, also obere und untere<br />

Kinnlade, so werden Sie sehen, dass es bei ihnen ankommt im<br />

wesentlichen darauf, dass der Knochen seine Wirksamkeit ausführt.<br />

Wenn Sie die Gliedmaßen, die an unserem gesamten Leib<br />

angesetzt sind, also die eigentliche Wesenheit des Gliedmaßenmenschen<br />

ins Auge fassen, dann werden Sie in der Umkleidung<br />

mit Muskeln und mit Blutgefäßen das Wesentliche suchen müssen.<br />

Gewissermaßen sind unserem Muskel- und Blutsystem für<br />

Arme und Beine, Hände und Füße nur eingesetzt die Knochen.<br />

Und gewissermaßen sind an der oberen und unteren Kinnlade<br />

als Gliedmaßen des Kopfes ganz verkümmert die Muskeln und<br />

die Blutgefäße. Was bedeutet das? - Sehen Sie, in Blut und Muskeln<br />

liegt die Organik des Willens, wie wir schon gehört haben.<br />

Daher sind ausgebildet für den Willen hauptsächlich Arme und<br />

Beine, Hände und Füße. Das, was dem Willen vorzugsweise<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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dient, Blut und Muskeln, das ist ja bis zu einem gewissen Grade<br />

genommen den Gliedmaßen des Hauptes, weil in ihnen ausgebildet<br />

sein soll dasjenige, was zum Intellekt, zum denkerischen<br />

Erkennen hinneigt. Wollen Sie daher studieren, wie sieh in den<br />

äußeren Leibesformen der Wille der Welt offenbart, so studieren<br />

Sie Arme und Beine, Hände und Füße.<br />

Wollen Sie studieren, wie sich das Intelligente der Welt offenbart,<br />

dann studieren Sie das Haupt als Schädel, als Knochengerüst,<br />

und wie sich dem Haupt angliedert obere Kinnlade, untere<br />

Kinnlade und auch anderes, was gliedmaßenähnlich aussieht am<br />

Haupte. Sie können nämlich überall die äußeren Formen als<br />

0ffenbarungen des Inneren ansehen. Und Sie verstehen nur<br />

dann die äußeren Formen, wenn Sie sie als Offenbarungen des<br />

Inneren ansehen.<br />

Nun, sehen Sie, ich habe immer gefunden, dass für die meisten<br />

Menschen eine große Schwierigkeit darin liegt, wenn sie begreifen<br />

sollen, welche Beziehung zwischen den Röhrenknochen<br />

der Arme und Beine und zwischen den Schalknochen des Kopfes,<br />

des Hauptes besteht. Es ist nun gerade für den Lehrer gut,<br />

hier sich einen Begriff anzueignen, der dem gewöhnlichen Leben<br />

fernliegt. Und wir kommen dabei an ein sehr, sehr schwieriges<br />

Kapitel, vielleicht das schwierigste für die Vorstellung, das<br />

wir zu überschreiten haben in diesen pädagogischen Vorträgen.<br />

Sie wissen, Goethe hat zuerst seine Aufmerksamkeit zugewendet<br />

der sogenannten Wirbeltheorie des Schädels. Was ist damit<br />

gemeint? Damit ist gemeint die Anwendung des Metamorphosengedankens<br />

auf den Menschen und seine Gestalt. Wenn man<br />

die menschliche Wirbelsäule betrachtet, so liegt ja ein Knochenwirbel<br />

über dem anderen. Wir können 50 einen Knochenwirbel<br />

mit seinen Fortsätzen, in dem dann das Rückenmark<br />

durchgeht, herausnehmen (es wird gezeichnet). Nun hat Goethe<br />

an einem Schöpsenschädel in Venedig zuerst beobachtet, wie<br />

alle Kopfknochen umgebildete Rückenwirbelknochen sind. Das<br />

heißt, wenn man sich irgendwelche Organe aufgeplustert und<br />

andere zurückgegangen denkt, so bekommt man aus dieser<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Wirbelform den schalgeformten Kopfknochen. Auf Goethe hat<br />

das einen großen Eindruck gemacht, denn er hat daraus den<br />

Schluss ziehen müssen - was für ihn sehr bedeutungsvoll war -,<br />

dass der Schädel eine umgebildete, eine höhergebildete Wirbelsäule<br />

ist.<br />

Man kann nun verhältnismäßig leicht einsehen, dass die Schädelknochen<br />

durch Umwandlung, durch Metamorphose aus den<br />

Wirbelknochen des Rückgrats hervorgehen. Aber nun wird es<br />

sehr schwierig, auch die Gliedmaßenknochen, schon die Gliedmaßenknochen<br />

des Kopfes, obere und untere Kinnlade - Goethe<br />

hat es versucht, aber auf äußerliche Weise noch - als Umformung,<br />

als Metamorphose der Wirbelknochen beziehungsweise<br />

der Kopfknochen aufzufassen. Warum ist das so? Ja, sehen Sie,<br />

das beruht darauf, dass ja allerdings ein röhriger Knochen, den<br />

Sie irgendwo haben, auch eine Metamorphose, eine Umwandlung<br />

des Kopfknochens ist, aber auf ganz besondere Art. Sie<br />

können verhältnismäßig leicht den Rückgratwirbel sich umgewandelt<br />

denken zum Kopfknochen, indem Sie sich einzelne<br />

Teile vergrößert, andere verkleinert denken. Aber Sie kriegen<br />

nicht so leicht aus dem Röhrenknochen der Arme oder der Beine<br />

heraus die Kopfknochen, die schaligen Kopfknochen. Da<br />

müssen Sie nämlich zuerst eine gewisse Prozedur vornehmen,<br />

wenn Sie die herausbekommen wollen. Sie müssen mit dem<br />

Röhrenknochen der Arme oder der Beine dieselbe Prozedur<br />

vornehmen, die Sie vornehmen würden, wenn Sie beim Anziehen<br />

eines Strumpfes oder eines Handschuhes das Innere zuerst<br />

nach außen wenden würden, also wenn Sie es umwenden wür-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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den. Nun ist es verhältnismäßig leicht, sick vorzustellen, wie ein<br />

Handschuh oder ein Strumpf aussieht, wenn das Innere nach<br />

außen gewendet wird. Aber der Röhrenknochen ist nicht<br />

gleichmäßig. Er ist nicht so dünn, dass er gleichmäßig im Inneren<br />

und außen gebaut wäre. Er ist verschieden im Inneren und<br />

außen gebaut. Würden Sie Ihren Strumpf so konstruieren und<br />

dann elastisch machen, dass Sie ihm äußerlich eine künstlerische<br />

Form geben würden mit allerlei Vorsprüngen und Einbuchtungen<br />

und ihn dann wenden, dann würden Sie nach außen<br />

nicht mehr dieselbe Form erhalten, wie die, die dann im<br />

Inneren ist, wenn Sie ihn umgewendet haben. Und so ist es bei<br />

dem Röhrenknochen. Man muss das Innere nach außen und das<br />

Äußere nach innen kehren, dann kommt die Form des Kopfknochens<br />

heraus, so dass die menschlichen Gliedmaßen nicht<br />

nur umgewandelte Kopfknochen sind, sondern außerdem noch<br />

umgewendete Kopfknochen. Woher rührt das? Das rührt davon<br />

her, dass der Kopf seinen Mittelpunkt irgendwo im Inneren hat;<br />

er hat ihn konzentrisch. Nicht hat in der Mitte der Kugel die<br />

Brust ihren Mittelpunkt die Brust hat den Mittelpunkt sehr weit<br />

weg.<br />

Das ist hier in der Zeichnung nur fragmentarisch angesetzt,<br />

denn es wäre sehr groß, wenn es ganz gezeichnet würde. Also<br />

weit weg hat die Brust den Mittelpunkt. Und wo hat denn das<br />

Gliedmaßensystem den Mittelpunkt? Jetzt kommen wir auf die<br />

zweite Schwierigkeit. Das Gliedmaßensystem hat den Mittelpunkt<br />

im ganzen Umkreis. Der Mittelpunkt des Gliedmaßensystems<br />

ist überhaupt eine Kugel, also das Gegenteil von einem<br />

Punkt. Eine Kugelfläche. Überall ist der Mittelpunkt eigentlich;<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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daher können Sie sich überallhin drehen und von überallher<br />

strahlen die Radien ein. Sie vereinigen sich mit Ihnen.<br />

Was im Kopfe ist, geht vom Kopfe aus; was durch die Gliedmaßen<br />

geht, vereinigt sich in Ihnen. Deshalb musste ich auch in<br />

den anderen Vorträgen sagen: Sie müssen sich die Gliedmaßen<br />

eingesetzt denken. Wir sind wirklich eine ganze Welt, nur dass<br />

dasjenige, was da von außen in uns herein will, an seinem Ende<br />

sich verdichtet und sichtbar wird.<br />

Ein ganz winziger Teil von dem, was wir sind, wird in unseren<br />

Gliedmaßen sichtbar, so dass die Gliedmaßen etwas Leibliches<br />

sind, das aber nur ein ganz winziges Atom ist von dem, was eigentlich<br />

da ist im Gliedmaßensystem des Menschen: Geist. Leib,<br />

Seele und Geist ist im Gliedmaßensystem des Menschen. Der<br />

Leib ist in den Gliedmaßen nur angedeutet; aber in den Gliedmaßen<br />

ist ebenso das Seelische drinnen (siehe Zeichnung Seite<br />

162), und es ist drinnen das Geistige, das im Grunde genommen<br />

die ganze Welt umfasst.<br />

Nun könnte man auch noch eine andere Zeichnung vom Menschen<br />

machen. Man könnte sagen: Der Mensch ist zunächst eine<br />

riesengroße Kugel, die die ganze Welt umfasst, dann eine kleinere<br />

Kugel, und dann eine kleinste Kugel. Nur die kleinste Kugel<br />

wird ganz sichtbar; die etwas größere Kugel wird nur zum<br />

Teil sichtbar; die größte Kugel wird nur in ihren Einstrahlungen<br />

am Ende hier sichtbar, das übrige bleibt unsichtbar. So ist der<br />

Mensch aus der Welt heraus gebildet in seiner Form.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Und wiederum im mittleren System, im Brustsystem, haben wir<br />

die Vereinigung des Kopfsystems und des Gliedmaßensystems.<br />

Wenn Sie das Rückgrat mit den Ansätzen der Rippen betrachten,<br />

so werden Sie sehen, dass das der Versuch ist, sich abzuschließen<br />

nach vorne. Nach rückwärts ist das Ganze abgeschlossen,<br />

nach vorne ist nur der Versuch gemacht des Abschließens;<br />

er gelingt nicht ganz. Je mehr die Rippen dem Kopfe zugeneigt<br />

sind, desto mehr gelingt es ihnen, sich abzuschließen, aber je<br />

weiter nach unten gelegen, desto mehr misslingt es ihnen. Die<br />

letzten Rippen kommen nicht mehr zusammen, weil ihnen da<br />

entgegenwirkt diejenige Kraft, die dann in den Gliedmaßen von<br />

außen kommt.<br />

Von diesem Zusammenhang des Menschen mit dem ganzen<br />

Makrokosmos haben die Griechen noch ein sehr starkes Bewusstsein<br />

gehabt. Und die Ägypter wussten das sehr gut, nur<br />

wussten sie es etwas abstrakt. Daher können Sie sehen, wenn<br />

Sie ägyptische oder überhaupt ältere Plastiken anschauen, dass<br />

dieser Gedanke des Kosmos zum Ausdruck kommt. Sie verstehen<br />

sonst nicht, was die Menschen in alten Zeiten gemacht haben,<br />

wenn Sie nicht wissen, dass sie das gemacht haben, was ihrem<br />

Glauben entsprach: Der Kopf ist eine kleine Kugel, ein<br />

Weltkörper im Kleinen; die Gliedmaßen sind ein Stück vom<br />

großen Weltenkörper, wo er sich überall mit den Radien hineindrängt<br />

in die menschliche Gestalt. Die Griechen haben eine<br />

schöne, in sich harmonisch ausgebildete Vorstellung davon gehabt,<br />

daher waren sie gute Plastiker, gute Bildhauer. Und heute<br />

kann noch niemand die plastische Kunst der Menschen wirklich<br />

durchdringen, der sich nicht bewusst wird dieses Zusammenhanges<br />

des Menschen mit dem Weltall. Sonst patzt er immer<br />

nur äußerlich die Naturformen nach.<br />

Nun werden Sie gerade aus dem, was ich Ihnen so gesagt habe,<br />

erkennen, meine lieben Freunde, dass die Gliedmaßen eben<br />

mehr der Welt zugeneigt sind, der Kopf mehr dem einzelnen<br />

Menschen zugeneigt ist. Wozu werden dann also die Gliedmaßen<br />

besonders neigen? Sie werden zur Welt neigen, in der der<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Mensch sich bewegt und selbst seine Stellung immerfort verändert.<br />

Sie werden zur Bewegung der Welt Beziehung haben. Fassen<br />

Sie das gut auf: die Gliedmaßen haben Beziehung zur Bewegung<br />

der Welt.<br />

Indem wir in der Welt herumgehen, indem wir handelnd auftreten<br />

in der Welt, sind wir der Mensch der Gliedmaßen. Was<br />

hat doch nun der Bewegung der Welt gegenüber der Kopf, unser<br />

Haupt, für eine Aufgabe? Er ruht auf den Schultern, das habe<br />

ich Ihnen ja von einem anderen Gesichtspunkte aus gesagt. Er<br />

hat auch die Aufgabe, in sich fortwährend die Bewegung der<br />

Welt zur Ruhe zu bringen.<br />

Wenn Sie sich mit Ihrem Geiste in den Kopf hineinversetzen, so<br />

können Sie sich wirklich von diesem Sich-Versetzen ein Bild<br />

machen dadurch, dass Sie sich denken für eine Weile, Sie säßen<br />

in einem Eisenbahnzug; er bewegt sich vorwärts, Sie sitzen ruhig<br />

drinnen. So sitzt Ihre Seele im Kopf, der sich von den<br />

Gliedmaßen weiterbefördern lässt, ruhig drinnen und bringt die<br />

Bewegung innerlich zur Ruhe. Wie Sie sich sogar hinstrecken<br />

können, wenn Sie in dem Eisenbahnwagen Platz haben, und<br />

ruhen können, trotzdem diese Ruhe eigentlich eine Unwahrheit<br />

ist, denn Sie sausen ja in dem Zuge, vielleicht im Schlafwagen,<br />

durch die Welt; dennoch, Sie haben das Gefühl der Ruhe - so<br />

beruhigt in Ihnen der Kopf dasjenige, was die Gliedmaßen als<br />

Bewegung vollbringen können in der Welt. Und der Brustteil<br />

steht mitten darinnen. Der vermittelt die Bewegung der Außenwelt<br />

mit dem, was das Haupt, der Kopf zur Ruhe bringt.<br />

Denken Sie sich jetzt: es geht geradezu unsere Absicht als<br />

Mensch darauf hin, die Bewegung der Welt durch unsere<br />

Gliedmaßen nachzuahmen, aufzunehmen. Was tun wir denn<br />

da? Wir tanzen. Sie tanzen in Wirklichkeit; das andere Tanzen<br />

ist nur ein fragmentarisches Tanzen. Alles Tanzen ist davon ausgegangen,<br />

Bewegungen, die die Planeten, die anderen Weltenkörper<br />

ausführen, die die Erde selbst ausführt, in den Bewegungen,<br />

in den Gliederbewegungen der Menschen zur Nachahmung<br />

zu bringen.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Aber wie ist denn das nun mit dem Kopfe und mit der Brust,<br />

wenn wir die kosmischen Bewegungen tanzend nachbilden in<br />

unseren Bewegungen als Mensch? Sehen Sie, da ist es so, im<br />

Kopfe und in der Brust, als wenn sich die Bewegungen, die wir<br />

in der Welt ausführen, stauen würden. Sie können sich nicht<br />

fortsetzen durch die Brust in den Kopf hinein, denn der Kerl<br />

ruht auf den Schultern, der lässt die Bewegungen nicht sich<br />

fortsetzen in die Seele hinein. Die Seele muss in Ruhe an den<br />

Bewegungen teilnehmen, weil der Kopf auf den Schultern ruht.<br />

Was tut sie daher? Sie fängt an, von sich aus dasjenige zu reflektieren,<br />

was die Glieder tanzend ausführen. Sie fängt an zu<br />

brummen, wenn die Glieder unregelmäßige Bewegungen ausführen;<br />

sie fängt an zu lispeln, wenn die Glieder regelmäßige<br />

Bewegungen ausführen, und sie fängt gar an zu singen, wenn<br />

die Glieder ausführen die harmonischen kosmischen Bewegungen<br />

des Weltalls. So setzt sich um die tanzende Bewegung nach<br />

außen in den Gesang und in das Musikalische nach innen.<br />

Die Sinnesphysiologie wird es, wenn sie den Menschen nicht als<br />

kosmisches Wesen nimmt, nie dahin bringen, die Empfindung<br />

zu begreifen; sie wird immer sagen: Draußen sind die Bewegungen<br />

der Luft, im Inneren nimmt der Mensch den Ton wahr. Wie<br />

die Bewegungen der Luft mit dem Ton zusammenhängen, das<br />

kann man nicht wissen. - Das steht in den Physiologien und in<br />

den Psychologien, in den einen am Ende, in den anderen am<br />

Anfang; das ist der ganze Unterschied.<br />

Woher rührt denn das? Das rührt davon her, dass die Leute, die<br />

Psychologie oder Physiologie ausüben, nicht wissen, dass das,<br />

was der Mensch äußerlich in Bewegungen hat, im Inneren der<br />

Seele zur Ruhe gebracht wird und dadurch anfängt, in Töne<br />

überzugehen. Und so ist es mit allen anderen Sinnesempfindungen<br />

auch. Weil die Hauptesorgane nicht mitmachen die äußeren<br />

Bewegungen, strahlen sie diese Bewegung in die Brust zurück<br />

und machen sie zum Ton, zur anderen Sinnesempfindung.<br />

Da liegt der Ursprung der Empfindungen. Da liegt aber auch der<br />

Zusammenhang der Künste. Die musischen, die musikalischen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Künste entstehen aus den plastischen und architektonischen<br />

Künsten, indem das, was plastische und architektonische Künste<br />

nach außen sind, die musikalischen Künste nach innen sind. Die<br />

Reflexion der Welt von innen nach außen, das sind die musikalischen<br />

Künste. - So steht der Mensch drinnen im Weltenall.<br />

Empfinden Sie eine Farbe als zur Ruhe gekommene Bewegung.<br />

Die Bewegung nehmen Sie äußerlich nicht wahr, wie wenn Sie<br />

in einem Eisenbahnzug hingestreckt liegen und die Illusion haben<br />

könnten, Sie seien in Ruhe. Sie lassen den Zug draußen sich<br />

bewegen. So lassen Sie Ihren Leib durch feine Bewegungen der<br />

Gliedmaßen, die Sie nicht wahrnehmen, mitmachen die äußere<br />

Welt, und Sie selbst nehmen drinnen die Farben und Töne<br />

wahr. Sie verdanken das dem Umstand, dass Sie Ihr Haupt als<br />

Form tragen lassen in Ruhe von dem Gliedmaßenorganismus.<br />

Ich sagte Ihnen, es ist das, was ich Ihnen da mitteilte, eine gewisse<br />

schwierige Sache. Es ist das aus dem Grunde besonders<br />

schwierig, weil für das Begreifen dieser Dinge ja in unserer Zeit<br />

überhaupt nichts getan wird. Es wird durch alles das, was wir<br />

heute als Zeitbildung aufnehmen, dafür gesorgt dass die Menschen<br />

über so etwas unwissend bleiben, wie es die Dinge sind,<br />

die ich Ihnen heute vorgebracht habe. Was geschieht denn eigentlich<br />

durch unsere heutige Bildung? Ja, der Mensch lernt<br />

wirklich nicht einen Strumpf oder Handschuh ganz kennen,<br />

wenn er ihn nicht einmal auch umdreht, denn er weiß dann<br />

nie, was eigentlich vom Strumpf oder vom Handschuh seine<br />

Haut berührt; er weiß nur dasjenige, was nach außen gewendet<br />

ist. So weiß durch unsere heutige Bildung der Mensch auch nur,<br />

was nach außen gewendet ist. Er bekommt nur Begriffe für den<br />

halben Menschen. Denn nicht einmal die Gliedmaßen kann er<br />

begreifen. Denn die hat schon der Geist umgewendet.<br />

Wir können dasjenige, was wir heute dargestellt haben, auch so<br />

bezeichnen, wir können sagen: Betrachten wir den ganzen, vollen<br />

Menschen, wie er in der Welt vor uns steht, zunächst als<br />

Gliedmaßenmenschen, so zeigt er sich als solcher nach Geist,<br />

Seele und Leib. Betrachten wir ihn als Brustmenschen, so zeigt<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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er sich uns als Seele und Leib. Die große Kugel (siehe Zeichnung):<br />

Geist, Leib, Seele; die kleinere Kugel: Leib, Seele; die<br />

kleinste Kugel: bloß Leib. Auf dem Konzil des Jahres 869 haben<br />

die Bischöfe der katholischen Kirche der Menschheit verboten,<br />

etwas über die große Kugel zu wissen. Sie haben dazumal erklärt,<br />

es sei Dogma der katholischen Kirche, dass nur vorhanden<br />

sei die mittlere Kugel und die kleinste Kugel, dass der Mensch<br />

nur bestehe aus Leib und Seele, dass die Seele nur als ihre Eigenschaft<br />

etwas Geistiges enthalte; die Seele sei nach der einen Seite<br />

auch geistartig. Geist gibt es seit dem Jahre 869 für die vom<br />

Katholizismus ausgehende Kultur des Abendlandes nicht mehr.<br />

- Aber mit der Beziehung zum Geiste ist abgeschafft worden die<br />

Beziehung des Menschen zur Welt. Der Mensch ist mehr und<br />

mehr in seine Egoität hineingetrieben worden. Daher wurde die<br />

Religion selbst immer egoistischer und egoistischer, und heute<br />

leben wir in einer Zeit, wo man, ich möchte sagen, wiederum<br />

aus der geistigen Beobachtung heraus die Beziehung des Menschen<br />

zum Geiste und damit zur Welt kennenlernen muss. Wer<br />

hat denn eigentlich die Schuld, dass wir einen naturwissenschaftlichen<br />

Materialismus bekommen haben? Dass wir einen<br />

naturwissenschaftlichen Materialismus bekommen haben, daran<br />

hat die Hauptschuld die katholische Kirche, denn sie hat im<br />

Jahre 869 auf dem Konzil von Konstantinopel den Geist abgeschafft.<br />

Was ist damals eigentlich geschehen? Betrachten Sie<br />

den menschlichen Kopf. Er hat sich innerhalb der Tatsachenwelt<br />

des Weltgeschehens so ausgebildet, dass er heute das älteste<br />

Glied an dem Menschen ist. Der Kopf ist entsprungen zuerst aus<br />

höheren, dann weiter zurückgehend aus niederen Tieren. Mit<br />

Bezug auf unseren Kopf stammen wir ab von der Tierwelt Da ist<br />

nichts zu sagen - der Kopf ist nur ein weiter ausgebildetes Tier.<br />

Wir kommen zur niederen Tierwelt zurück, wenn wir die Ahnen<br />

unseres Kopfes suchen wollen. Unsere Brust ist erst später<br />

dem Kopf angesetzt worden; die ist nicht mehr so tierisch wie<br />

der Kopf. Die Brust haben wir erst in einem späteren Zeitalter<br />

bekommen. Und die Gliedmaßen haben wir Menschen als die<br />

spätesten Organe bekommen; die sind die allermenschlichsten<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Organe. Die sind nicht umgebildet von den tierischen Organen,<br />

sondern die sind später angesetzt. Die tierischen Organe sind<br />

selbständig gebildet aus dem Kosmos zu den Tieren hin, und die<br />

menschlichen Organe sind später selbständig hinzugebildet zu<br />

der Brust. Aber indem die katholische Kirche das Bewusstsein<br />

des Menschen von seiner Beziehung zum Weltall, von der eigentlichen<br />

Natur seiner Gliedmaßen also, hat verbergen lassen,<br />

hat sie nur ein bisschen überliefert den folgenden Zeitaltern von<br />

der Brust und hauptsächlich vom Kopf, vom Schädel. Und da ist<br />

der Materialismus darauf gekommen, dass der Schädel von den<br />

Tieren abstammt. Und nun redet er davon, dass der ganze<br />

Mensch von den Tieren abstammt, während sich die Brustorgane<br />

und die Gliedmaßenorgane erst später hinzugebildet haben.<br />

Gerade indem die katholische Kirche dem Menschen verborgen<br />

hat die Natur seiner Gliedmaßen, seinen Zusammenhang mit<br />

der Welt, hat sie verursacht, dass die spätere materialistische<br />

Zeit verfallen ist in die Idee, die nur für den Kopf eine Bedeutung<br />

hat, die sie aber für den ganzen Menschen anwendet. Die<br />

katholische Kirche ist in Wahrheit die Schöpferin des Materialismus<br />

auf diesem Gebiet der Evolutionslehre. Es geziemt insbesondere<br />

dem heutigen Lehrer der Jugend, solche Dinge zu wissen.<br />

Denn er soll sein Interesse verknüpfen mit dem, was in der<br />

Welt geschehen ist. Und er soll die Dinge, die in der Welt geschehen,<br />

aus den Fundamenten heraus wissen.<br />

Wir haben heute versucht, uns klarzumachen, wie es kommt,<br />

dass unsere Zeit materialistisch geworden ist, indem wir begonnen<br />

haben mit etwas ganz anderem: mit der Kugelform und<br />

Mondenform und mit der Radienform der Gliedmaßen.<br />

Du heißt, wir haben mit dem scheinbar ganz Entgegengesetzten<br />

begonnen, um eine große, gewaltige, kulturhistorische Tatsache<br />

uns klarzumachen. Das ist aber notwendig, dass insbesondere<br />

der Lehrer, der sonst mit dem werdenden Menschen gar nichts<br />

machen kann, die Kulturtatsachen aus den Fundamenten heraus<br />

zu erfassen in der Lage ist. Dann wird er etwas in sich aufnehmen,<br />

was notwendig ist, wenn er aus seinem Inneren heraus<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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durch die un- und unterbewussten Beziehungen zum Kinde in<br />

der richtigen Weise erziehen will. Denn dann wird er vor dem<br />

Menschengebilde die richtige Achtung haben. Er wird in dem<br />

Menschengebilde überall die Beziehungen zur großen Welt sehen.<br />

Er wird anders an dieses menschliche Gebilde herantreten,<br />

als wenn er nur so etwas wie ein besser ausgebildetes<br />

Viehchelchen, einen besser ausgebildeten Tierleib im Menschen<br />

sieht. Heute tritt der Lehrer im Grunde genommen, wenn er<br />

sich auch manchmal in seinem Oberstübchen Illusionen darüber<br />

hingibt, er tritt mit dem deutlichen Bewußt.cin vor den anderen<br />

Menschen hin, dass der aufwachsende Mensch ein kleines<br />

Viehchelchen, ein Tierlein ist, und dass er dieses Tierlein zu<br />

entwickeln hat etwas weiter, als es die Natur schon entwickelt<br />

hat. Anders wird er fühlen, wenn er sagt: Da ist ein Mensch,<br />

von dem gehen Beziehungen aus zur ganzen Welt, und in jedem<br />

einzelnen aufwachsenden Kind habe ich etwas, wenn ich daran<br />

etwas arbeite, tue ich etwas, was in der ganzen Welt eine Bedeutung<br />

hat. Wir sind da im Schulzimmer: in jedem Kinde liegt<br />

ein Zentrum von der Welt aus, vom Makrokosmos aus. Dieses<br />

Schulzimmer ist der Mittelpunkt, ja viele Mittelpunkte für den<br />

Makrokosmos. - Denken Sie sich, lebendig das gefühlt, was das<br />

bedeutet! Wie da die Idee vom Weltenall und seinem Zusammenhang<br />

mit dem Menschen übergeht in ein Gefühl, welches<br />

durchheiligt alle einzelnen Vornahmen des Unterrichtes. Ohne<br />

dass wir solche Gefühle vom Menschen und vom Weltenall haben,<br />

kommen wir nicht dazu, ernsthaftig und richtig zu unterrichten.<br />

In dem Augenblick, wo wir solche Gefühle haben,<br />

übertragen sich diese durch unterirdische Verbindungen auf die<br />

Kinder. Ich habe Ihnen in anderem Zusammenhange gesagt,<br />

dass es auf einen immer wunderbar wirken muss, wenn man<br />

sieht, wie die Drähte in die Erde hinein zu Kupferplatten gehen<br />

und die Erde die Elektrizität ohne Drähte weiterleitet. Gehen<br />

Sie in die Schule hinein nur mit egoistischen Menschengefühlen,<br />

dann brauchen Sie alle möglichen Drähte - die Worte -, um<br />

sich mit den Kindern zu verständigen. Haben Sie die großen<br />

kosmischen Gefühle, wie sie entwickeln solche Ideen, wie wir<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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sie eben entwickelt haben, dann geht eine unterirdische Leitung<br />

zu dem Kinde. Dann sind Sie mit den Kindern eins. Darin liegt<br />

etwas von geheimnisvollen Beziehungen von Ihnen zum Schulkinder-<br />

ganzen. Aus solchen Gefühlen heraus muss auch das<br />

aufgebaut sein, was wir Pädagogik nennen. Die Pädagogik darf<br />

nicht eine Wissenschaft sein, sie muss eine Kunst sein. Und wo<br />

gibt es eine Kunst, die man lernen kann, ohne dass man fortwährend<br />

in Gefühlen lebt? Die Gefühle aber, in denen man leben<br />

muss, um jene große Lebenskunst auszuüben, die Pädagogik<br />

ist, diese Gefühle, die man haben muss zur Pädagogik, die feuern<br />

sich nur an an der Betrachtung des großen Weltalls und seines<br />

Zusammenhanges mit dem Menschen.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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ELFTER VORTRAG<br />

2. SEPTEMBER 1919, STUTTGART<br />

Können Sie von dem im vorigen Vortrag geltend gemachten Gesichtspunkte<br />

aus überschauen zunächst wie vom Geiste und von<br />

der Seele aus die menschliche Leibeswesenheit, dann werden<br />

Sie rasch eingliedern können all dasjenige in den Aufbau und<br />

die Entwickelung dieser menschlichen Leibeswesenheit, was Sie<br />

brauchen. Wir werden daher, bevor wir dann in den restlichen<br />

Vorträgen übergehen zu der körperlichen Beschreibung des<br />

Menschen, diese Beleuchtung von der geistig-seelischen Seite<br />

her fortsetzen.<br />

Sie haben ja gestern erkennen können, wie der Mensch dreigegliedert<br />

ist: als Kopfmensch, als Rumpfmensch, als Gliedmaßenmensch.<br />

Und Sie haben gesehen, dass die Beziehungen jedes<br />

dieser drei Glieder zu der Welt des Seelischen und des Geistigen<br />

verschieden sind.<br />

Betrachten wir einmal zunächst die Kopfbildung des Menschen.<br />

Da haben wir ja gestern gesagt: der Kopf ist vorzugsweise Leib.<br />

Den Brustmenschen haben wir als «leibig» und seelisch anzusehen<br />

gehabt. Und den Gliedmaßenmenschen als «leibig», seelisch<br />

und geistig. Aber damit ist natürlich die Kopfwesenheit nicht<br />

erschöpft, wenn wir sagen: der Kopf ist vorzugsweise Leib. Es ist<br />

ja schon einmal in der Wirklichkeit so, dass die Dinge nicht<br />

scharf voneinander getrennt sind, und wir dürfen daher ebenso<br />

gut sagen: der Kopf ist nur in anderer Weise seelisch und geistig<br />

als die Brust und die Gliedmaßen. Der Kopf ist schon, wenn der<br />

Mensch geboren wird, vorzugsweise Leib, das heißt, es hat sich<br />

gewissermaßen dasjenige, was ihn als Kopf zunächst zusammensetzt,<br />

in der Form des leiblichen Kopfes ausgeprägt. Daher sieht<br />

der Kopf so aus - er ist ja auch das erste, was sich in der menschlichen<br />

Embryonalentwickelung ausbildet , dass das allgemein<br />

Menschliche geistig-seelisch zunächst im Kopfe zum Vorschein<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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kommt. Welche Beziehung hat der Leib Kopf zu dem Seelischen<br />

und zu dem Geistigen? Weil der Kopf ein möglichst schon vollkommen<br />

ausgebildeter Leib ist, weil er alles, was zur Ausbildung<br />

notwendig ist, durch das Tierische zum Menschen hindurch<br />

schon durchgemacht hat in früheren Entwickelungsstadien,<br />

deshalb kann er in leiblicher Beziehung am vollkommensten<br />

ausgebildet sein. Das Seelische ist so verbunden mit diesem<br />

Kopfe, dass das Kind, indem es geboren wird und auch noch<br />

während es sich entwickelt in den ersten Lebensjahren, im Kopfe<br />

alles Seelische träumt. Und der Geist schläft im Kopfe.<br />

Jetzt haben wir eine merkwürdige Zusammengliederung von<br />

Leib, Seele und Geist im menschlichen Haupte. Wir haben einen<br />

sehr, sehr ausgebildeten Leib als Kopf. Wir haben darin eine<br />

träumende Seele, eine deutlich träumende Seele und einen<br />

noch schlafenden Geist. Nun handelt es sich darum, mit der<br />

ganzen Entwickelung des Menschen diese eben charakterisierte<br />

Tatsache in Einklang zu sehen. Diese Entwickelung ist ja bis<br />

zum Zahnwechsel hin so, dass der Mensch vorzugsweise ein<br />

nachahmendes Wesen ist. Es tut der Mensch alles dasjenige, was<br />

er seiner Umgebung absieht. Dass er das tun kann, verdankt er<br />

eben gerade dem Umstande, dass sein Kopfgeist schläft. Dadurch<br />

kann er mit diesem Kopfgeiste außerhalb des Kopfleibes weilen.<br />

Er kann sich in der Umgebung aufhalten. Denn wenn man<br />

schläft, so ist man mit seinem Geistig-Seelischen außerhalb des<br />

Leibes. Das Kind ist mit seinem Geistig-Seelischen, mit seinem<br />

schlafenden Geiste und mit seiner träumenden Seele außerhalb<br />

des Kopfes. Es ist bei denen, die in seiner Umgebung sind, es<br />

lebt mit denen, die in seiner Umgebung sind. Daher ist das Kind<br />

ein nachahmendes Wesen. Daher entwickelt sich auch aus der<br />

träumenden Seele heraus die Liebe zur Umgebung, vorzugsweise<br />

die Liebe zu den Eltern. Wenn nun der Mensch die zweiten<br />

Zähne bekommt, wenn er den Zahnwechsel durchmacht, so bedeutet<br />

das in seiner Entwickelung eigentlich den letzten Abschluss<br />

der Kopfentwickelung. Wenn der Kopf auch vollständig<br />

schon als Leib geboren wird, so macht er doch eine letzte Entwickelung<br />

erst durch in den ersten sieben Lebensjahren des<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Menschen. Was er da durchmacht, das findet seinen Abschluss,<br />

setzt sich gewissermaßen seinen Schlusspunkt mit dem Zahnwechsel.<br />

Was ist denn da eigentlich abgeschlossen? Sehen Sie,<br />

da ist abgeschlossen die Formbildung. Da hat der Mensch dasjenige,<br />

was ihn erhärtet, was ihn vorzugsweise zur Form macht,<br />

in seinen Leib hineingegossen. Sehen wir die zweiten Zähne aus<br />

dem Menschen herauskommen, so können wir sagen: Es ist die<br />

erste Auseinandersetzung mit der Welt vollendet. - Der Mensch<br />

hat dasjenige getan, was zu seiner Formgebung, zu seiner Gestaltung<br />

gehört. Indem der Mensch vom Kopf aus sich in dieser<br />

Zeit seine Form, seine Gestalt eingliedert, geschieht mit ihm als<br />

Brustmensch etwas anderes.<br />

In der Brust, da liegen die Dinge wesentlich anders als für den<br />

Kopf. Die Brust ist ein Organismus, der von vorneherein, wenn<br />

der Mensch geboren wird, leiblich-seelisch ist. Die Brust ist<br />

nicht bloß leiblich wie der Kopf; die Brust ist leiblich-seelisch,<br />

nur den Geist hat sie noch als einen träumenden außer sich.<br />

Wenn wir das Kind also in seinen ersten Jahren beobachten, so<br />

müssen wir die größere Wachheit, die größere Lebendigkeit der<br />

Brustglieder gegenüber den Kopfgliedern scharf ins Auge fassen.<br />

Es wäre durchaus nicht richtig, wenn wir den Menschen zusammengeworfen<br />

als einziges chaotisches Wesen ansehen würden.<br />

Bei den Gliedmaßen liegt die Sache wieder anders. Da ist von<br />

dem ersten Augenblick des Lebens an Geist, Seele und Leib miteinander<br />

innig verbunden; sie durchdringen sich gegenseitig. Da<br />

ist auch das Kind am allerfrühesten ganz wach. Das merken diejenigen,<br />

die das zappelnde, das strampelnde Wesen zu erziehen<br />

haben in den ersten Jahren. Da ist alles wach, nur dass alles<br />

unausgebildet ist. Das ist überhaupt das Geheimnis des Menschen:<br />

sein Kopfgeist ist, wenn er geboren wird, sehr, sehr ausgebildet<br />

schon, aber er schläft. Seine Kopfseele ist, wenn er geboren<br />

wird, sehr ausgebildet, aber sie träumt nur. Sie müssen<br />

erst nach und nach erwachen. Als Gliedmaßenmensch ist der<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Mensch, indem er geboren wird, zwar ganz wach, aber noch<br />

unausgebildet, unentwickelt.<br />

Eigentlich brauchen wir nur den Giiedmaßenmenschen auszubilden<br />

und einen Teil des Brustmenschen. Denn der Gliedmaßenmensch<br />

und der Brustmensch, die haben dann die Aufgabe ,<br />

den Kopfmenschen aufzuwecken, so dass Sie also hier eigentlich<br />

erst die wirkliche Charakteristik des Erziehens und Unterrichtens<br />

bekommen. Sie entwickeln den Gliedmaßenmenschen und<br />

einen Teil des Brustmenschen, und Sie lassen von dem Gliedmaßenmenschen<br />

und einem Teil des Brustmenschen den anderen<br />

Teil des Brustmenschen und den Kopfmenschen aufwecken.<br />

Daraus sehen Sie, dass Ihnen das Kind schon etwas Beträchtliches<br />

entgegenbringt. Es bringt Ihnen das entgegen, was<br />

es in seinem vollkommenen Geiste und in seiner relativ vollkommenen<br />

Seele durch die Geburt trägt. Und Sie haben nur<br />

auszubilden dasjenige, was es Ihnen entgegen bringt an unvollkommenem<br />

Geist und noch unvollkommenerer Seele.<br />

Wenn das anders wäre, dann wäre das Erziehen, das wirkliche<br />

Erziehen und Unterrichten überhaupt unmöglich. Denn denken<br />

Sie, wenn wir den ganzen Geist, den ein Mensch mit auf die<br />

Welt bringt in der Anlage, heranerziehen und<br />

heranunterrichten wollten, dann müssten wir ja immer als Erzieher<br />

vollkommen gewachsen sein dem, was aus einem Menschen<br />

werden kann. Nun, da könnten Sie bald das Erziehen aufgeben,<br />

denn Sie könnten ja nur so gescheite und so geniale<br />

Menschen heranerziehen, als Sie selber sind. Sie kommen<br />

selbstverständlich in die Lage, viel gescheitere und viel genialere<br />

Menschen heranerziehen zu müssen auf irgendeinem Gebiete,<br />

als Sie selber sind. Das ist nur möglich, weil wir es in der Erziehung<br />

eben nur mit einem Teil des Menschen zu tun haben; mit<br />

jenem Teil des Menschen, den wir auch dann heranerziehen<br />

können, wenn wir nicht so gescheit und nicht so genial sind<br />

und vielleicht nicht einmal 50 gut sind, als er selbst zur Genialität,<br />

zur Gescheitheit, zur Güte veranlagt ist. Dasjenige, was Wir<br />

als das Beste der Erziehung bewirken können, das ist eben die<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Willenserziehung und ein Teil der Gemütserziehung. Denn das,<br />

was wir durch den Willen erziehen, das heißt durch die Gliedmaßen,<br />

was wir durch das Gemüt erziehen, das heißt durch einen<br />

Teil des Brustmenschen, das können wir bis zu dem Grade<br />

von Vollkommenheit bringen, den wir selbst haben. Und wie<br />

sich schließlich nicht nur der Diener, sondern auch die<br />

Weckeruhr abrichten lässt, einen viel gescheiteren Menschen<br />

als er selbst ist, aufzuwecken, so kann auch ein viel weniger genialer<br />

und sogar viel weniger guter Mensch einen Menschen<br />

erziehen, der zu besserem als er selbst veranlagt ist. Allerdings,<br />

darüber werden wir uns klar sein müssen, dass mit Bezug auf<br />

alles Intellektuelle wir dem sich entwickelnden Menschen<br />

durchaus nicht gewachsen zu sein brauchen; dass wir aber, weil<br />

es auf die Willensentwickelung ankommt - wie wir jetzt auch<br />

aus diesem Gesichtspunkte sehen -, in dem Gutsein alles mögliche<br />

anstreben müssen, was wir nur anstreben können. Der Zögling<br />

kann besser werden als wir selber, wird es aber höchstwahrscheinlich<br />

nicht, wenn nicht zu unserer Erziehung eine<br />

andere durch die Welt oder durch andere Menschen dazukommt.<br />

Ich habe Ihnen in diesen Vorträgen angedeutet, dass in der<br />

Sprache ein gewisser Genius lebt. Der Genius der Sprache ist,<br />

sagte ich, genial; er ist gescheiter als wir selbst. Wir können viel<br />

lernen von der Art, wie die Sprache gefügt ist, wie die Sprache<br />

ihren Geist enthält.<br />

Aber Genius ist auch noch in anderem in unserer Umgebung, als<br />

in der Sprache. Bedenken wir das, was wir uns eben angeeignet<br />

haben: dass der Mensch eintritt in die Welt mit schlafendem<br />

Geiste, mit träumender Seele in bezug auf den Kopf dass wir also<br />

eigentlich nötig haben, schon von ganz früh ab, von der Geburt<br />

ab, den Menschen durch den Willen zu erziehen, weil wir,<br />

wenn wir nicht durch den Willen auf ihn wirken könnten, wir<br />

an seinen schlafenden Kopfgeist gar nicht herankommen könnten.<br />

Wir würden aber eine große Lücke in der menschlichen<br />

Entwickelung schaffen, wenn wir nicht an seinen Kopfgeist ir-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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gendwie herankommen könnten. Der Mensch würde geboren<br />

werden, sein Kopfgeist wäre schlafend. Wir können noch nicht<br />

das Kind mit den zappelnden Beinen veranlassen, etwa zu turnen<br />

oder Eurythmie zu treiben. Das geht nicht. Wir können<br />

ihm auch noch nicht gut, wenn es erst mit den Beinen zappelt<br />

und höchstens mit dem Munde etwas brüllt, eine musikalische<br />

Erziehung angedeihen lassen. Mit der Kunst können wir auch<br />

noch nicht heran. Wir finden noch nicht eine deutlich ausgesprochene<br />

Brücke von dem Willen zu dem schlafenden Geiste<br />

des Kindes hin. Später, wenn wir irgendwie herankommen an<br />

den Willen des Kindes, dann können wir auf den schlafenden<br />

Geist wirken, wenn wir nur ihm die ersten Worte vorsprechen<br />

können, denn da ist schon ein Angriff auf den Willen da. Dann<br />

setzt sich dasjenige, was wir durch die ersten Worte in den<br />

Stimmorganen loslösen, schon als Willensbetätigung in den<br />

schlafenden Kopfgeist hinein fort und beginnt ihn aufzuwecken.<br />

Aber in der allerersten Zeit haben wir gar keine rechte Brücke<br />

zunächst. Es geht nicht ein Strom hinüber von den Gliedmaßen,<br />

in denen der Wille wach ist, der Geist wach ist, zum schlafenden<br />

0eist des Kopfes. Da braucht es einen anderen Vermitt1er<br />

noch.<br />

Da können wir als menschliche Erzieher in der ersten Zeit des<br />

Menschen nicht viele Mittel schaffen.<br />

Da tritt etwas auf, was auch Genius ist, was auch Geist ist außerhalb<br />

unser. Die Sprache enthält ihren Genius, aber wir können<br />

in den allerersten Zeiten der kindlichen Entwickelung noch<br />

gar nicht an den Sprachgeist appellieren. Aber es enthält die Natur<br />

selber ihren Genius, ihren Geist. Hätte sie ihn nicht, müssten<br />

wir Menschen durch die Lücke, die in unserer Entwickelung<br />

geschaffen wird erzieherisch in den allerersten Kinderzeiten,<br />

wir müssten verkümmern. Da schafft der Genius der Natur<br />

etwas, was diese Brücke bilden kann. Er lässt aus der Gliedmaßenentwickelung<br />

heraus, aus dem Gliedmaßenmenschen heraus<br />

eine Substanz entstehen, welche, weil sie auch mit dem Gliedmaßenmenschen<br />

in ihrer Entwickelung verbunden ist, etwas<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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von diesem Gliedmaßenmenschen in sich hat - das ist die Milch.<br />

Die Milch entsteht ja im weiblichen Menschen zusammenhängend<br />

mit den oberen Gliedmaßen, mit den Armen. Die milcherzeugenden<br />

Organe sind gleichsam dasjenige, was sich nach innen<br />

von den Gliedmaßen aus fortsetzt. Die Milch ist im Tier-<br />

und Menschenreich die einzige Substanz, welche innere Verwandtschaft<br />

hat mit der Gliedmaßenwesenheit, welche gewissermaßen<br />

aus der Gliedmaßenwesenheit heraus geboren ist,<br />

welche daher auch die Kraft der Gliedmaßenwesenheit in sich<br />

noch enthält. Und indem wir dem Kinde die Milch geben, wirkt<br />

die Milch als die einzige Substanz, wenigstens im wesentlichen,<br />

weckend auf den schlafenden Geist. Das ist, meine lieben<br />

Freunde, der Geist, der in aller Materie ist, der sich äußert da,<br />

wo er sich äußern soll. Die Milch trägt ihren Geist in sich, und<br />

dieser Geist hat die Aufgabe, den schlafenden Kindesgeist zu<br />

wecken. Es ist kein bloßes Bild, sondern es ist eine tiefbegründete<br />

naturwissenschaftliche Tatsache, dass der in der Natur sitzende<br />

Genius, der aus dem geheimnisvollen Untergrund der Natur<br />

heraus die Substanz Milch entstehen lässt, der Wecker des<br />

schlafenden Menschengeistes im Kinde ist. Solche tief geheimnisvollen<br />

Zusammenhänge im Weltendasein müssen durchschaut<br />

werden. Dann begreift man erst, was für wunderbare Gesetzmäßigkeiten<br />

in diesem Weltenall eigentlich enthalten sind.<br />

Dann begreift man nach und nach, dass wir eigentlich entsetzlich<br />

unwissend werden, wenn wir uns Theorien ausbilden von<br />

der materiellen Substanz so, als ob diese materielle Substanz nur<br />

ein gleichgültig Ausgedehntes wäre, das in Atome und Moleküle<br />

zerfällt. Nein, das ist diese Materie nicht. Diese Materie ist so<br />

etwas, dass ein solches Glied dieser Materie, wie die Milch, indem<br />

sie erzeugt wird, das innigste Bedürfnis hat, den schlafenden<br />

Menschengeist zu wecken. Wie wir im Menschen und im<br />

Tiere von Bedürfnis reden können, das heißt von der Kraft, die<br />

dem Willen zugrunde liegt, so können wir auch bei der Materie<br />

im allgemeinen von «Bedürfnis» reden. Und wir schauen die<br />

Milch umfassend nur dann an, wenn wir sagen: Die Milch, indem<br />

sie erzeugt wird, begehrt der Auferwecker des kindlichen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Menschengeistes zu sein. So belebt sich alles dasjenige, was in<br />

unserer Umgebung ist, wenn wir es recht anschauen. So kommen<br />

wir eigentlich niemals frei von der Beziehung von allem,<br />

was da ist in der Welt draußen, zum Menschen. Sie sehen daraus,<br />

dass für die erste Zeit der menschlichen Entwickelung gesorgt<br />

ist durch den Genius der Natur selbst. Und wir nehmen,<br />

indem wir das Kind weiterentwickeln und erziehen, dem Genius<br />

der Natur in einer gewissen Weise seine Arbeit ab. Indem wir<br />

beginnen, durch die Sprache und durch unser Tun, welche das<br />

Kind nachmacht, auf das Kind durch den Willen zu wirken, setzen<br />

wir jene Tätigkeit fort, welche wir den Genius der Natur<br />

haben ausführen sehen, indem er das Kind mit der Milch nährt<br />

und den Menschen nur Mittel sein lässt, diese Ernährung auszuführen.<br />

Damit sehen Sie aber auch, dass die Natur natürlich erzieht.<br />

Denn ihre Ernährung durch die Milch ist das erste Erziehungsmittel.<br />

Die Natur erzieht natürlich. Wir Menschen beginnen,<br />

indem wir durch die Sprache und durch unser Tun auf das<br />

Kind erzieherisch wirken, wir Menschen beginnen seelisch zu<br />

erziehen. Daher ist es so wichtig, dass wir im Unterricht und in<br />

der Erziehung uns bewusst werden: wir können eigentlich als<br />

Erzieher und Unterrichter mit dem Kopf selbst nicht allzu viel<br />

anfangen. Der bringt uns das, was er werden soll in der Welt,<br />

schon durch die Geburt in diese Welt herein. Wir können wecken<br />

dasjenige, was in ihm ist, aber wir können es nicht durchaus<br />

in ihn hineinversetzen.<br />

Da beginnt aber natürlich die Notwendigkeit, sich klarzuwerden<br />

darüber, dass nur ganz Bestimmtes durch die Geburt in das<br />

physische Erdendasein hereingebracht werden kann. Was nur<br />

im Laufe der Kulturentwickelung durch äußere Konvention<br />

entstanden ist, damit gibt sich die geistige Welt nicht ab. Das<br />

heißt, unsere konventionellen Mittel zum Lesen, unsere konventionellen<br />

Mittel zum Schreiben - ich habe das von anderen<br />

Gesichtspunkten aus schon ausgeführt , die bringt natürlich das<br />

Kind nicht mit. Die Geister schreiben nicht. Die Geister lesen<br />

auch nicht. In Büchern lesen sie nicht, und mit der Feder<br />

schreiben sie nicht. Das ist nur eine Erfindung der 5piritisten,<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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dass die Geister eine menschliche Sprache führen und sogar<br />

schreiben. Dasjenige, was in der Sprache und im Schreiben enthalten<br />

ist, ist Kulturkonvention. Das lebt hier auf der Erde. Und<br />

nur dann, wenn wir nicht bloß diese Kulturkonvention, dieses<br />

Lesen und Schreiben, dem Kinde beibringen durch den Kopf,<br />

sondern wenn wir dem Kinde dieses Lesen und Schreiben beibringen<br />

auch durch Brust und Gliedmaßen, dann tun wir ihm<br />

Gutes.<br />

Natürlich, wenn das Kind sieben Jahre alt geworden ist und zur<br />

Volksschule kommt - wir haben es ja nicht immer in die Wiege<br />

gelegt, sondern es hat etwas getan, es hat sich selbst durch<br />

Nachahmung der Alten fortgeholfen, es hat dafür gesorgt, dass<br />

sein Kopfgeist aufgewacht ist in einer gewissen Beziehung -,<br />

dann können wir das, was es sich selbst im Kopfgeist aufgeweckt<br />

hat, dazu benützen, um ihm Lesen und Schreiben in konventioneller<br />

Weise beizubringen; aber dann beginnen wir, diesen<br />

Kopfgeist durch unseren Einfluss zu schädigen. Deshalb habe<br />

ich Ihnen gesagt: Es darf der Lese- und Schreibunterricht nicht<br />

anders erteilt werden, im guten Unterrichten, als von der Kunst<br />

her. - Die ersten Elemente des Zeichnens und Malens, die ersten<br />

Elemente des Musikalischen, die müssen vorangehen. Denn die<br />

wirken auf den Gliedmaßen- und auf den Brustmenschen und<br />

nur mittelbar auf den Kopfmenschen. Dann aber wecken sie<br />

dasjenige auf, was im Kopfmenschen drinnen ist. Sie maiträtieren<br />

nicht den Kopfmenschen, wie wir ihn malträtieren, wenn<br />

wir bloß das Lesen und Schreiben so, wie sie konventionell geworden<br />

sind, auf intellektuelle Weise dem Kinde beibringen.<br />

Lassen wir das Kind erst zeichnen und dann aus dem, was es gezeichnet<br />

hat, die Schriftformen entwickeln, so erziehen wir es<br />

durch den Gliedmaßenmenschen zum Kopfmenschen hin. Wir<br />

machen dem Kinde vor, sagen wir ein F. Muss es dann das F<br />

anschauen und nachfahren, dann wirken wir im Anschauen zunächst<br />

auf den Intellekt, und dann dressiert sich der Intellekt<br />

den Willen. Das ist der verkehrte Weg. Der richtige Weg ist,<br />

soviel als möglich durch den Willen den Intellekt zu wecken.<br />

Das können wir nur, wenn wir vom Künstlerischen übergehen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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in die intellektuelle Bildung. So müssen wir schon in diesen ersten<br />

Jahren des Unterrichts, wo uns das Kind übergeben wird, so<br />

verfahren, dass wir Schreiben und Lesen in künstlerischer Art<br />

dem Kinde beibringen.<br />

Sie müssen bedenken, dass ja das Kind, während Sie es unterrichten<br />

und erziehen, auch noch etwas anders zu tun hat als<br />

dasjenige, was Sie mit ihm machen. Das Kind hat allerlei zu tun,<br />

was gewissermaßen nur indirekt in Ihr Ressort gehört. Das Kind<br />

muss wachsen. Wachsen muss es, und Sie müssen sich klar darüber<br />

sein, dass, während Sie erziehen und unterrichten, das<br />

Kind richtig wachsen muss. Was heißt das aber? Das heißt: Sie<br />

dürfen durch Ihren Unterricht und durch Ihr Erziehen das<br />

Wachstum nicht stören. Sie dürfen nicht störend in das Wachstum<br />

eingreifen. Sie dürfen nur so erziehen und unterrichten,<br />

dass sie mit diesem Erziehen und Unterrichten neben dem Bedürfnis<br />

des Wachstums einhergehen. Das, was ich jetzt sage, ist<br />

von ganz besonderer Wichtigkeit für die Volksschuljahre. Denn,<br />

ist zunächst die Formbildung da bis zum Zahnwechsel vom<br />

Kopfe ausgehend, so ist während der Volksschulzeit da die Lebensentwickelung,<br />

das heißt, das Wachstum und alles, was damit<br />

zusammenhängt bis zur Geschlechtsreife, also gerade während<br />

der Volksschulzeit. Die Geschlechtsreife bildet erst den<br />

Abschluss der Lebensentwickelung, die von dem Brustmenschen<br />

ausgeht. Sie haben es daher sogar während der<br />

Volksschulentwickelung vorzugsweise mit dem Brustmenschen<br />

zu tun. Sie kommen nicht anders zurecht, als wenn Sie wissen:<br />

während Sie das Kind unterrichten und erziehen, wächst es und<br />

entwickelt sich durch seinen Brustorganismus. Sie müssen gewissermaßen<br />

der Kamerad der Natur werden, denn die Natur<br />

entwickelt das Kind durch die Brustorganisation, durch Atmung,<br />

Ernährung, Bewegung und so weiter. Und Sie müssen ein<br />

guter Kamerad der Naturentwickelung werden. Aber wenn Sie<br />

diese Naturentwickelung gar nicht kennen, wie sollen Sie ein<br />

guter Kamerad der Naturentwickelung werden? Wenn Sie zum<br />

Beispiel gar nicht wissen, wodurch Sie seelisch im Unterricht<br />

oder in der Erziehung das Wachstum verlangsamen oder be-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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schleunigen, wie können Sie gut erziehen und unterrichten? Bis<br />

zu einem gewissen Grade haben Sie es sogar seelisch in der<br />

Hand, diejenigen Kräfte des Wachstums im heranwachsenden<br />

Kinde zu stören, so dass sie es aufschießen lassen zum Rixen,<br />

was unter Umständen schädlich sein könnte. Bis zu einem gewissen<br />

Grade haben Sie es in der Hand, das Wachstum des Kindes<br />

ungesund zu hemmen, so dass es klein und stupsig bleibt,<br />

allerdings nur bis zu einem gewissen Grade, aber Sie haben es in<br />

der Hand. Sie müssen also Einsieht haben gerade in die Wachstumsverhältnisse<br />

des Menschen. Sie müssen diese Einsicht haben<br />

vom Seelischen und auch vom Leiblichen aus. Wie können<br />

wir nun vom Seelischen aus Einblick haben in die Wachstumsverhältnisse?<br />

Da müssen wir uns eben an eine bessere Psychologie<br />

wenden, als die gewöhnliche Psychologie ist. Die bessere<br />

Psychologie sagt uns, dass mit alledem, was die Wachstumskräfte<br />

des Menschen beschleunigt, was die Wachstumskräfte des<br />

Menschen so gestaltet, dass der Mensch rixig aufschießt, mit<br />

alledem zusammenhängt dasjenige, was in gewisser Beziehung<br />

Gedächtnisbildung ist. Muten wir nämlich dem Gedächtnis zuviel<br />

zu, dann machen wir den Menschen innerhalb gewisser<br />

Grenzen zum schmalaufschießenden Wesen.<br />

Und muten wir der Phantasie zuviel zu, dann halten wir den<br />

Menschen in seinem Wachstum zurück. Gedächtnis und Phantasie<br />

stehen mit den Lebensentfaltungskräften des Menschen in<br />

einem geheimnisvollen Zusammenhang. Und wir müssen uns<br />

die Augen dafür aneignen, diesen Zusammenhängen etwas<br />

Aufmerksamkeit zuzuwenden.<br />

Der Lehrer muss zum Beispiel in der Lage sein, folgendes zu tun:<br />

er muss eine Art zusammenfassenden Blick über seine Schülerzahl<br />

am Beginn des Schuljahres werfen, insbesondere im Beginn<br />

der Lebensepochen, die ich Ihnen angegeben habe, die mit dem<br />

neunten und zwölften Jahr zusammenhängen. Da muss er gewissermaßen<br />

Revue halten über die leibliche Entwickelung,<br />

und er muss sich merken, wie seine Kinder ausschauen. Und<br />

dann am Ende des Schuljahres oder einer anderen Periode muss<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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er wiederum Revue halten und die Veränderung sich anschauen,<br />

die sich da vollzogen hat. Und das Ergebnis dieser zwei Revuen<br />

muss das sein, dass er weiß: das eine Kind ist nicht so gut<br />

gewachsen während der Zeit, wie es hätte wachsen sollen; das<br />

andere ist ein Stück aufgeschossen. Dann muss er sich fragen:<br />

Wie richte ich im nächsten Schuljahr oder in der nächsten<br />

Schulperiode das Gleichgewicht zwischen Phantasie und Gedächtnis<br />

ein, damit ich der Anomalie entgegenarbeite?<br />

Sehen Sie, deshalb ist es auch so wichtig, dass man die Schüler<br />

behält durch alle Schuljahre hindurch, und deshalb ist es eine so<br />

wahnsinnige Einrichtung, jedes Jahr die Schüler einem anderen<br />

Lehrer in die Hand zu geben. Aber die Sache ist auch umgekehrt.<br />

Der Lehrer lernt nach und nach im Beginn des Schuljahres<br />

und am Anfang der Entwickelungsepochen (siebenten,<br />

neunten, zwölften Jahr) seine Schüler kennen. Er lernt solche<br />

Schüler kennen, die ausgesprochen den Typus von Phantasiekindern<br />

haben, die alles umgestalten. Und er lernt solche Schüler<br />

kennen, die ausgesprochen den Typus von Gedächtniskindern<br />

haben, die sich gut alles merken können. Auch damit muss<br />

sich der Lehrer bekanntmachen. Er macht sich ja bekannt durch<br />

die beiden Revuen, die ich angeführt habe. Aber er muss diese<br />

Bekanntschaft noch in der Weise ausbauen, dass er nicht nur<br />

durch das Wachstum äußerlich-leiblich, sondern wiederum<br />

durch Phantasie und Gedächtnis selbst kennenlernt, ob das Kind<br />

droht, zu schnell aufzuschießen - das würde es tun, wenn es ein<br />

zu gutes Gedächtnis hat -, oder ob es droht, zu untersetzt zu<br />

werden, wenn es zuviel Phantasie hat. Man muss nicht nur<br />

durch allerlei Redensarten und Phrasen den Zusammenhang<br />

von Leib und Seele anerkennen, sondern man muss auch im<br />

werdenden Menschen das Zusammenwirken von Leib und Seele<br />

und Geist beobachten können. Phantasievolle Kinder wachsen<br />

anders, als gedächtnisbegabte Kinder wachsen.<br />

Heute ist für die Psychologen alles fertig; das Gedächtnis ist da,<br />

das wird dann in den Psychologien beschrieben; die Phantasie<br />

ist da, die wird dann beschrieben; während in der wirklichen<br />

169


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Welt alles in gegenseitiger Beziehung ist. Und wir lernen diese<br />

gegenseitigen Beziehungen nur kennen, wenn wir uns auch ein<br />

bisschen anbequemen mit unserer Auffassungsgabe diesen gegenseitigen<br />

Beziehungen. Das heißt, wenn wir diese Auffassungsgabe<br />

nicht so gebrauchen, dass wir alles richtig definieren<br />

wollen, sondern dass wir diese Auffassung selbst beweglich machen,<br />

so dass sie das, was sie erkannt hat, auch wiederum ändern<br />

kann, innerlich, begrifflich ändern kann.<br />

Sie sehen, das Geistig-Seelische führt von selbst hinüber ins<br />

Körperlich-Leibliche. Es führt sogar in dem Grade hinüber, dass<br />

wir sagen können: Durch Leibeseinwirkung, durch die Milch,<br />

erzieht der Genius der Natur in der allerersten Zeit das Kind. So<br />

erziehen wir dann, indem wir Kunst volksschulmäßig dem Kinde<br />

einträufeln, von dem Zahnwechsel ab das Kind. Und indem<br />

das Ende der Volksschulzeit herannaht, ändert sich das wieder<br />

in einer gewissen Weise. Da schillert schon immer mehr und<br />

mehr hinein aus der späteren Zeit die selbständige Urteilskraft,<br />

das Persönlichkeitsgefühl, der selbständige Willensdrang. Dem<br />

tragen wir Rechnung, indem wir den Lehrplan so ausgestalten,<br />

dass wir das, was da hereinkommen soll. auch wirklich benützen.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

ZWÖLFTER VORTRAG<br />

3. SEPTEMBER 1919, STUTTGART<br />

Wenn wir den menschlichen Leib betrachten, müssen wir ihn<br />

in Beziehung bringen zu unserer physisch-sinnlichen Umwelt,<br />

denn mit der steht er in einem fortwährenden Wechselverhältnis,<br />

durch die wird er unterhalten. Wenn wir hinausblicken in<br />

unsere physisch-sinnliche Umwelt, dann nehmen wir in dieser<br />

physisch-sinnlichen Umwelt wahr mineralische Wesen, pflanzliche<br />

Wesen, tierische Wesen. Mit den Wesen des Mineralischen,<br />

des Pflanzlichen, des Tierischen ist unser physischer Leib<br />

verwandt. Aber die besondere Art der Verwandtschaft wird<br />

nicht ohne weiteres durch eine Oberflächenbetrachtung klar,<br />

sondern es ist notwendig, da tiefer in das Wesen der Naturreiche<br />

überhaupt einzudringen, wenn man die Wechselbeziehung<br />

des Menschen mit seiner physisch-sinnlichen Umgebung kennenlernen<br />

will.<br />

Wir nehmen am Menschen, insofern er physisch-leiblich ist,<br />

wahr zunächst sein festes Knochengerüst, seine Muskeln. Wir<br />

nehmen dann, wenn wir weiter in ihn eindringen, den Blutkreislauf<br />

wahr mit den Organen, die zum Blutkreislauf gehören.<br />

Wir nehmen die Atmung wahr. Wir nehmen die Ernährungsvorgänge<br />

wahr. Wir nehmen wahr, wie aus den verschiedensten<br />

Gefäßformen - wie man es in der Naturlehre nennt - die Organe<br />

sich herausbilden. Wir nehmen wahr Gehirn und Nerven, die<br />

Sinnesorgane, und es entsteht die Aufgabe, diese verschiedenen<br />

Organe des Menschen und die Vorgänge, die sie vermitteln, in<br />

die äußere Welt, in der er drinnensteht, hineinzugliedern.<br />

Gehen wir da aus von demjenigen, was am Menschen zunächst<br />

als das vollkommenste erscheint - wie es sich in Wirklichkeit<br />

damit verhält, haben wir ja schon gesehen , gehen wir aus von<br />

seinem Gehirn-Nervensystem, das sich zusammengliedert mit<br />

den Sinnesorganen. Wir haben ja darin diejenige Organisation<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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des Menschen, die die längste zeitliche Entwickelung hinter<br />

sich hat, so dass sie hinausgeschritten ist über die Form, welche<br />

die Tierwelt entwickelt hat. Der Mensch ist gewissermaßen<br />

durchgeschritten durch die Tierwelt in bezug auf dieses sein eigentliches<br />

Hauptsystem, und er ist hinweggeschritten über das<br />

Tiersystem zu dem eigentlich menschlichen System, das ja am<br />

deutlichsten in der Hauptesbildung zum Ausdruck kommt.<br />

Nun haben wir gestern davon gesprochen, inwiefern unsere<br />

Hauptesbildung an der individuellen menschlichen Entwickelung<br />

teilnimmt, inwiefern die Formung, die Gestaltung des<br />

menschlichen Leibes ausgeht von den Kräften, die im Haupte,<br />

im Kopfe veranlagt sind. Und wir haben gesehen, dass gewissermaßen<br />

dem Kopfwirken eine Art Schlusspunkt gesetzt wird<br />

mit dem Zahnwechsel gegen das siebente Jahr zu. Wir sollten<br />

uns klar werden, was da eigentlich geschieht, indem der<br />

menschliche Kopf in Wechselwirkung steht mit den Brustorganen<br />

und mit den Gliedmaßenorganen. Wir sollten die Frage beantworten:<br />

Was tut denn eigentlich der Kopf indem er seine<br />

Arbeit verrichtet in Zusammenhang mit dem BrustRumpfsystem<br />

und dem Gliedmaßensystem? Er formt, er gestaltet fortwährend.<br />

Unser Leben besteht eigentlich darin, dass in den ersten<br />

sieben Lebensjahren eine starke Gestaltung ausgeht, die sich<br />

auch bis in die physische Form hineinergießt, dass dann aber<br />

der Kopf immer noch nachhilft, die Gestalt erhält, die Gestalt<br />

durchseelt, die Gestalt durchgeistigt.<br />

Der Kopf hängt mit der Gestaltbildung des Menschen zusammen.<br />

Ja aber - bildet der Kopf unsere eigentliche Menschengestalt?<br />

Das tut er nämlich nicht. Sie müssen sich schon bequemen<br />

zu der Anschauung, dass der Kopf fortwährend im geheimen<br />

etwas anderes aus Ihnen machen will, als Sie sind. Da gibt es<br />

Augenblicke, in denen Sie der Kopf so gestalten möchte, dass Sie<br />

aussehen wie ein Wolf. Da gibt es Augenblicke, in denen Sie der<br />

Kopf so gestalten möchte, dass Sie aussehen wie ein Lamm, dann<br />

wiederum, dass Sie aussehen wie ein Wurm; zum Wurm, zum<br />

Drachen möchte er Sie machen. All die Gestaltungen, die ei-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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gentlich Ihr Haupt mit Ihnen vorhat, die finden Sie ausgebreitet<br />

draußen in der Natur in den verschiedenen Tierformen. Schauen<br />

Sie das Tierreich an, so können Sie sich sagen: Das bin ich<br />

selbst, nur erweist mir mein Rumpfsystem und mein Gliedmaßensystem<br />

die Gefälligkeit, fortwährend, indem vom Kopf ausgeht<br />

zum Beispiel die Wolfsgestalt, diese Wolfsgestalt umzuwandeln<br />

zur Menschenform. Sie überwinden den sich fortwährend<br />

das Animalische. Sie bemächtigen sich seiner so, dass Sie es<br />

in sich nicht ganz zum Dasein kommen lassen, sondern es<br />

metamorphosieren, umgestalten. Es ist also der Mensch durch<br />

sein Kopfsystem mit der tierischen Umwelt in einer Beziehung,<br />

aber so, dass er in seinem leiblichen Schaffen über diese tierische<br />

Umwelt fortwährend hinausgeht. Was bleibt denn da eigentlich<br />

in Ihnen? Sie können einen Menschen anschauen. Stellen<br />

Sie sich den Menschen vor. Sie können die interessante Betrachtung<br />

anstellen, dass Sie sagen: Da ist der Mensch. Oben hat<br />

er seinen Kopf. Da bewegt sich eigentlich ein Wolf, aber es wird<br />

kein Wolf; er wird gleich durch den Rumpf und die Gliedmaßen<br />

aufgelöst. Da bewegt sich eigentlich ein Lamm; es wird<br />

durch den Rumpf und die Gliedmaßen aufgelöst.<br />

Fortwährend bewegen sich da übersinnlich die tierischen Formen<br />

im Menschen und werden aufgelöst. Was wäre es denn,<br />

wenn es einen übersinnlichen Photographen gäbe, der diesen<br />

Prozess festhielte, der also diesen ganzen Prozess auf die Photographenplatte<br />

oder auf fortwährend wechselnde Photographenplatten<br />

brächte? Was würde man denn da auf der Photographenplatte<br />

sehen? Die Gedanken des Menschen würde sehen.<br />

Diese Gedanken des Menschen sind nämlich das übersinnliche<br />

Korrelat desjenigen, was sinnlich nicht zum Ausdruck kommt.<br />

Sinnlich kommt nicht zum Ausdruck diese fortwährende Metamorphose<br />

aus dem Tierischen, vom Kopfe nach unten strömend,<br />

aber übersinnlich wirkt sie im Menschen als der Gedankenprozess.<br />

Als ein übersinnlich realer Prozess ist das durchaus<br />

vorhanden. Ihr Kopf ist nicht nur der Faulenzer auf den Schultern,<br />

sondern er ist derjenige, der Sie eigentlich gerne in der<br />

Tierheit erhalten möchte. Er gibt Ihnen die Formen des ganzen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

Tierreiches, er möchte gerne, dass fortwährend Tierreiche entstehen.<br />

Aber Sie lassen es durch Ihren Rumpf und die Gliedmaßen<br />

nicht dazu kommen, dass durch Sie ein ganzes Tierreich im<br />

Laufe Ihres Lebens entsteht, sondern Sie verwandeln dieses<br />

Tierreich in Ihre Gedanken. So stehen wir zum Tierreich in Beziehung.<br />

Wir lassen übersinnlich dieses Tierreich in uns entstehen<br />

und lassen es dann nicht zur sinnlichen Wirklichkeit kommen,<br />

sondern halten es im Übersinnlichen zurück. Rumpf und<br />

Gliedmaßen lassen diese entstehenden Tiere in ihr Gebiet nicht<br />

herein. Wenn der Kopf zu sehr die Neigung hat, etwas von diesem<br />

Tierischen zu erzeugen, dann sträubt sich der übrige Organismus,<br />

das aufzunehmen, und dann muss der Kopf zur Migräne<br />

greifen, um es wiederum auszurotten, und zu ähnlichen Dingen,<br />

die sich im Kopfe abspielen.<br />

Auch das Rumpfsystem steht zur Umgebung in Beziehung.<br />

Aber es steht nicht zu dem Tiersystem der Umgebung in Beziehung,<br />

sondern es steht in Beziehung zu dem gesamten Umfang<br />

der Pflanzenwelt. Eine geheimnisvolle Beziehung ist zwischen<br />

dem Rumpfsystem des Menschen, dem Brustsystem und der<br />

Pflanzenwelt. In dem Rumpfsystem, in dem Brustsystem,<br />

Rumpf-Brustsystem spielt sich ja ab das Hauptsächlichste des<br />

Blutkreislaufes, die Atmung, die Ernährung. All diese Prozesse<br />

sind in einer Wechselbeziehung zu dem, was draußen in der<br />

physisch-sinnlichen Natur, in der Pflanzenwelt vor sich geht,<br />

aber in einer sehr eigenartigen Beziehung.<br />

Nehmen wir zunächst die Atmung. Was tut der Mensch, indem<br />

er atmet? Sie wissen, er nimmt den Sauerstoff auf, und er verwandelt<br />

durch seinen Lebensprozess den Sauerstoff, indem er<br />

ihn verbindet mit dem Kohlenstoff, zur Kohlensäure. Der Kohlenstoff<br />

ist im Organismus durch die umgewandelten Ernährungsstoffe.<br />

Dieser Kohlenstoff nimmt den Sauerstoff auf. Dadurch,<br />

dass sich der Sauerstoff mit dem Kohlenstoff verbindet,<br />

entsteht die Kohlensäure. Ja, jetzt wäre eine schöne Gelegenheit<br />

in dem Menschen, wenn er die Kohlensäure da in sich hat, diese<br />

nicht herauszulassen, sondern sie drinnen zu behalten. Und<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

wenn er jetzt den Kohlenstoff wiederum loslösen könnte vom<br />

Sauerstoff - ja, was würde denn dann geschehen? Wenn der<br />

Mensch zunächst durch seinen Lebensprozess den Sauerstoff<br />

einatmet und ihn da drinnen sich verbinden lässt mit dem Kohlenstoff<br />

zur Kohlensäure, und wenn der Mensch jetzt in der Lage<br />

wäre, innerlich den Sauerstoff wieder fortzuschaffen, auszuschalten,<br />

aber den Kohlenstoff drinnen zu verarbeiten, was<br />

würde denn da im Menschen entstehen? Die Pflanzenwelt. Im<br />

Menschen würde plötzlich die ganze Vegetation wachsen. Sie<br />

könnte wachsen. Denn wenn Sie die Pflanze ansehen, was tut<br />

sie denn? Die atmet nämlich nicht in derselben regelmäßigen<br />

Weise wie der Mensch den Sauerstoff ein, sondern sie assimiliert<br />

die Kohlensäure. Die Pflanze ist bei Tage erpicht auf die<br />

Kohlensäure, den Sauerstoff gibt sie ab. Es wäre schlimm, wenn<br />

sie es nicht tun würde; wir hätten ihn dann nicht, und auch die<br />

Tiere hätten ihn nicht. Aber den Kohlenstoff behält sie zurück.<br />

Daraus bildet sie sich Stärke und Zucker und alles was in ihr ist;<br />

daraus baut sie sich ihren ganzen Organismus auf. Die Pflanzenwelt<br />

entsteht eben dadurch, dass sie sich aufbaut aus dem<br />

Kohlenstoff, den sich die Pflanzen durch ihre Assimilation absondern<br />

von der Kohlensäure. Wenn Sie die Pflanzenwelt ansehen,<br />

ist sie metamorphosierter Kohlenstoff, der abgesondert ist<br />

aus dem Assimilationsprozess, der dem menschlichen Atmungsprozess<br />

entspricht. Die Pflanze atmet auch etwas, aber das ist<br />

etwas anderes als beim Menschen. Nur eine äußerliche Betrachtung<br />

sagt, die Pflanze atme auch. Sie atmet zwar ein wenig, namentlich<br />

in der Nacht; aber das ist gerade so, wie wenn einer<br />

sagt: Da ist ein Rasiermesser, ich werde Fleisch damit schneiden.<br />

- Der Atmungsprozess ist bei den Pflanzen anders als beim Menschen<br />

und bei den Tieren, wie das Rasiermesser etwas anderes<br />

ist als das Tischmesser. Dem menschlichen Atmungsprozesse<br />

entspricht bei den Pflanzen der umgekehrte Prozess, der Assimilationsprozess.<br />

Daher werden Sie es begreifen: wenn Sie in sich den Prozess<br />

fortsetzen, wodurch Kohlensäure entstanden ist, das heißt,<br />

wenn Sauerstoff wieder weggegeben würde und die Kohlensäu-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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re in Kohlenstoff umgewandelt würde, wie die Natur es draußen<br />

macht - die Stoffe hätten Sie auch dazu in sich - dann<br />

könnten Sie in sich die ganze Vegetation wachsen lassen. Sie<br />

könnten es bewirken, dass Sie plötzlich aufgingen als Pflanzenwelt.<br />

Sie verschwänden und die ganze Pflanzenwelt entstünde.<br />

Diese Fähigkeit ist nämlich im Menschen, dass er fortwährend<br />

eine Pflanzenwelt erzeugt; er lässt es nur nicht dazu kommen.<br />

Sein Rumpfsystem hat stark die Neigung, fortwährend die<br />

Pflanzenwelt zu erzeugen. Kopf und Gliedmaßen lassen es nicht<br />

dazu kommen; sie wehren sich dagegen. Und so treibt der<br />

Mensch die Kohlensäure heraus und lässt das Pflanzenreich in<br />

sich nicht entstehen. Er lässt draußen das Pflanzenreich entstehen<br />

aus der Kohlensäure.<br />

Es ist das eine merkwürdige Wechselbeziehung zwischen dem<br />

Brust-Rumpfsystem und der sinnlich-physischen Umgebung,<br />

dass da draußen das Reich der Vegetabilien ist, und dass der<br />

Mensch fortwährend genötigt ist, damit er nicht zur Pflanze<br />

wird, den Vegetationsprozess nicht in sich aufkommen zu lassen,<br />

sondern wenn er entsteht, ihn gleich nach außen zu schicken.<br />

Wir können also sagen: Mit Bezug auf das Brust-<br />

Rumpfsystem ist der Mensch in der Lage, das Gegenreich des<br />

Pflanzlichen zu schaffen. Wenn Sie sich das Pflanzenreich vorstellen<br />

als positiv, so erzeugt der Mensch das Negativ vom<br />

Pflanzenreich. Er erzeugt gewissermaßen ein umgekehrtes<br />

Pflanzenreich.<br />

Und was ist es denn, wenn das Pflanzenreich in ihm beginnt,<br />

sich schlecht aufzuführen und Kopf und Gliedmaßen nicht die<br />

Kraft haben, sein Entstehen im Keime gleich zu ersticken, es<br />

wegzuschicken? Dann wird der Mensch krank! Und im Grunde<br />

genommen bestehen die inneren Erkrankungen, die herrühren<br />

vom Brust-Rumpfsystem, darin, dass der Mensch zu schwach<br />

ist, um die in ihm entstehende Pflanzlichkeit sogleich zu verhindern.<br />

In dem Augenblick, wo nur ein bisschen in uns entsteht,<br />

was nach dem Pflanzenreich hintendiert, wo wir nicht in<br />

der Lage sind, gleich dafür zu sorgen, dass das, was als Pflanzen-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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reich in uns entstehen will, herauskommt und draußen sein<br />

Reich aufrichtet, in dem Augenblick werden wir krank. So dass<br />

man das Wesen der Erkrankungsprozesse darin suchen muss,<br />

dass Pflanzen im Menschen anfangen zu wachsen. Sie werden<br />

natürlich nicht zu Pflanzen, weil schließlich für die Lilie das<br />

menschliche Innere keine angenehme Umgebung ist. Aber die<br />

Tendenz kann durch eine Schwäche der anderen Systeme sich<br />

ergeben, dass das Pflanzenreich entsteht, und dann wird der<br />

Mensch krank. Richten wir daher unseren Blick auf die ganze<br />

pflanzliche Umwelt unserer menschlichen Umgebung, so müssen<br />

wir uns sagen: In einem gewissen Sinne haben wir in der<br />

pflanzlichen Umwelt auch die Bilder unserer sämtlichen<br />

Krankheiten. Das ist das merkwürdige Geheimnis im Zusammenhang<br />

des Menschen mit der Naturumwelt, dass er nicht nur,<br />

wie wir bei anderen Gelegenheiten ausgeführt haben, in den<br />

Pflanzen zu sehen hat Bilder seiner Entwickelung bis zur Geschlechtsreife,<br />

sondern dass er in den Pflanzen draußen, namentlich<br />

insofern diese Pflanzen in sich die Anlage tragen zum<br />

Fruchtwerden, die Bilder zu sehen hat seiner Erkrankungsprozesse.<br />

Das ist etwas, was vielleicht der Mensch gar nicht gerne<br />

hört, weil er selbstverständlich die Pflanzenwelt ästhetisch liebt<br />

und weil, wenn die Pflanzenwelt ihr Wesen außerhalb des<br />

Menschen entfaltet, der Mensch mit dieser Ästhetik recht hat.<br />

In dem Augenblick aber, wo die Pflanzenwelt innerhalb des<br />

Menschen ihr Wesen entfalten will, in dem Augenblick, wo es<br />

im Menschen anfangen will zu vegetarisieren, in dem Augenblick<br />

wirkt das, was draußen in der farbenschönen Pflanzenwelt<br />

wirkt, im Menschen als Krankheitsursache. Die Medizin wird<br />

dann einmal eine Wissenschaft sein, wenn sie jede einzelne<br />

Krankheit in Parallele bringen wird zu irgendeiner Form der<br />

Pflanzenwelt. Es ist einmal so, dass, indem der Mensch die Kohlensäure<br />

ausatmet, er im Grunde genommen um seines eigenen<br />

Daseins willen die ganze Pflanzenwelt fortwährend ausatmet,<br />

die in ihm entstehen will. Daher braucht es Ihnen auch nicht<br />

verwunderlich zu sein, dass dann, wenn die Pflanze beginnt,<br />

über ihr gewöhnliches Pflanzendasein hinauszugehen und Gifte<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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in sich zu erzeugen, dass diese Gifte auch zusammenhängen mit<br />

den Gesundheitsund Erkrankungsprozessen des Menschen.<br />

Aber es hängt ja auch mit dem normalen Ernährungsprozess zusammen.<br />

Ja, meine lieben Freunde, die Ernährung, die sich ebenso vollzieht<br />

im Brust-Rumpfsystem, wenigstens ihrem Ausgangspunkt<br />

nach, wie der Atmungsvorgang, sie muss in einer ganz ähnlichen<br />

Art betrachtet werden wie die Atmung. Bei der Ernährung<br />

nimmt der Mensch auch die Stoffe seiner Umwelt in sich auf,<br />

aber er lässt sie nicht so, wie sie sind; er verwandelt sie. Er verwandelt<br />

sie gerade mit Hilfe des Sauerstoffes der Atmung. Es<br />

verbinden sich die Stoffe, die der Mensch durch seine Ernährung<br />

aufnimmt, nachdem er sie verwandelt hat, mit dem Sauerstoff.<br />

Das sieht so aus wie ein Verbrennungsprozess, und es sieht<br />

aus, als ob der Mensch in seinem Inneren fortwährend brennen<br />

würde. Das sagt auch vielfach die Naturwissenschaft, dass im<br />

Menschen ein Verbrennungsprozess wirke. Es ist aber nicht<br />

wahr. Es ist kein wirklicher Verbrennungsprozess, was da im<br />

Menschen vorgeht, sondern es ist ein Verbrennungsprozess -<br />

beachten Sie das wohl, dem der Anfang und das Ende fehlt. Es<br />

ist bloß die mittlere Stufe des Verbrennungsprozesses; es fehlt<br />

ihm der Anfang und das Ende. Im menschlichen Leibe darf<br />

niemals Anfang und Ende des Verbrennungsprozesses vor sich<br />

gehen, sondern nur das Mittelstück des Verbrennungsprozesses.<br />

Es ist für den Menschen zerstörend, wenn die allerersten Stadien<br />

eines Verbrennungsprozesses, wie er in der Fruchtbereitung<br />

vor sich geht, im menschlichen Organismus vollzogen werden;<br />

zum Beispiel, wenn der Mensch ganz unreifes Obst genießt.<br />

Diesen Anfangsprozess, der der Verbrennung ähnlich ist, den<br />

kann der Mensch nicht durchmachen. Das gibt es nicht in ihm,<br />

das macht ihn krank. Und kann er viel unreifes Obst essen, wie<br />

die starken Landleute zum Beispiel, dann muss er schon sehr,<br />

sehr viel von Verwandtschaft mit der umgebenden Natur haben,<br />

dass er die unreifen Äpfel und Birnen in sich so verdauen kann,<br />

wie er das schon von der Sonne reifgekochte Obst verdaut. Also<br />

nur den mittleren Prozess kann er mitmachen. Von allen Ver-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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brennungsprozessen kann der Mensch im Ernährungsvorgang<br />

nur den mittleren Prozess mitmachen. Wird der Prozess zu seinem<br />

Ende getrieben, kommt es dahin, wohin es zum Beispiel<br />

das reife Obst draußen bringt, dass es fault, das darf der Mensch<br />

nicht mehr mitmachen. Also das Ende darf er auch nicht mitmachen;<br />

da muss er vorher die Ernährungsstoffe ausscheiden.<br />

Der Mensch vollzieht tatsächlich nicht die Naturprozesse so,<br />

wie sie sich in der Umgebung abspielen, sondern er vollzieht<br />

nur das Mittelstück; Anfang und Ende kann er nicht in sich<br />

vollziehen. Und jetzt sehen wir etwas höchst Merkwürdiges.<br />

Betrachten Sie die Atmung. Sie ist das Gegenstück zu alledem,<br />

was in der Pflanzenwelt draußen vor sich geht. Sie ist gewissermaßen<br />

das Anti-Pflanzenreich. Die Atmung des Menschen<br />

ist das Anti-Pflanzenreich, und sie verbindet sich innerlich mit<br />

dem Ernährungsprozess, der ein Mittelstück zu dem Prozess<br />

draußen ist. Sehen Sie, da lebt zweierlei in unserem leiblichen<br />

Brust-Rumpfsystem: dieser Anti-Pflanzenprozess, der sich da<br />

abspielt durch die Atmung, wirkt immer zusammen mit dem<br />

Mittelstück der übrigen Naturprozesse draußen. Das wirkt<br />

durcheinander. Da, sehen Sie, hängen zusammen Seele und<br />

Leib. Da ist der geheimnisvolle Zusammenhang zwischen Seele<br />

und Leib. Indem sich dasjenige, was sich durch den Atmungsprozess<br />

abspielt, verbindet mit den übrigen Naturprozessen, deren<br />

Ausführung nur in ihrem Mittelstück erfolgt, da verbindet<br />

sich das Seelische, das der Anti-Pflanzenprozess ist, mit dem<br />

menschlich gewordenen Leiblichen, das immer das Mittelstück<br />

ist der Naturprozesse. Die Wissenschaft kann lange nachdenken,<br />

welches die Wechselbeziehung zwischenLeib und Seele ist,<br />

wenn sie sie nicht sucht in dem geheimnisvollen Zusammenhange<br />

zwischen dem seelisch gewordenen Atmen und dem leiblich<br />

gewordenen Dasein des Mittelstückes der Naturprozesse.<br />

Diese Naturprozesse entstehen im Menschen nicht und vergehen<br />

im Menschen nicht.<br />

Ihr Entstehen lässt er außerhalb; ihr Vergehen darf erst sein,<br />

wenn er sie ausgeschieden hat. Der Mensch verbindet sich leib-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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lich nur mit einem mittleren Teil der Naturprozesse, und er<br />

durchseelt diese Naturprozesse im Atmungsprozess.<br />

Hier entsteht jenes feine Gewebe von Vorgängen, welches die<br />

Zukunftsmedizin, die Zukunftshygiene ganz besonders wird<br />

studieren müssen. Die Zukunftshygiene wird sich fragen müssen:<br />

Wie wirken im Weltall draußen die verschiedenen Wärmeabstufungen<br />

ineinander? Wie wirkt die Wärme beim Übergang<br />

von einem kühleren Ort zu einem wärmeren und umgekehrt?<br />

Und wie wirkt das, was da draußen wirkt als Wärmevorgang,<br />

im menschlichen Organismus, wenn er in diesen Wärmevorgang<br />

hineingestellt ist? - Ein Zusammenspiel von Luft und<br />

Wasser findet der Mensch im äußeren Vegetationsprozess. Er<br />

wird studieren müssen, wie das auf den Menschen wirkt, wenn<br />

der Mensch da hineingestellt ist und so weiter. Mit Bezug auf<br />

solche Dinge ist die Medizin von heute ein ganz klein wenig im<br />

Anfang, aber kaum noch im Anfang. Die Medizin von heute legt<br />

zum Beispiel viel größeren Wert darauf, dass sie, wenn irgend<br />

so etwas da ist wie eine Krankheitsform, den Krankheitserreger<br />

aus der Bazillen- oder Bakterienform findet. Dann, wenn sie ihn<br />

hat, ist sie zufrieden. Es kommt aber viel mehr darauf an, zu erkennen,<br />

wie es kommt, dass der Mensch imstande ist, in einem<br />

Augenblick seines Lebens ein klein wenig einen Vegetationsprozess<br />

in sich zu entwickeln, so dass die Bazillen darin dann<br />

einen angenehmen Aufenthaltsort wittern. Es kommt darauf an,<br />

dass wir unsere Leibeskonstitution so erhalten, dass für all das<br />

vegetabilische Gezücht kein angenehmer Aufenthaltsort mehr<br />

da ist; wenn wir das tun, dann werden diese Herrschaften nicht<br />

allzu große Verheerungen bei uns selbst anrichten können.<br />

Nun bleibt uns noch die Frage: Wie stehen nun eigentlich Knochengerüst<br />

und Muskeln zum gesamten menschlichen Lebensprozess,<br />

wenn wir den Menschen betrachten leiblich in seiner<br />

Beziehung zur Außenwelt?<br />

Sehen Sie, da kommen wir auf etwas, was Sie unbedingt begreifen<br />

müssen, wenn Sie den Menschen verstehen wollen, worauf<br />

aber in der gegenwärtigen Wissenschaft fast gar nicht gesehen<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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wird. Beachten Sie einmal, was geschieht, indem Sie den Arm<br />

beugen. Da bewirken Sie ja durch die Muskelanziehung, die den<br />

Vorderarm beugt einen ganz maschinellen Vorgang. Stellen Sie<br />

sich jetzt vor, das wäre einfach dadurch geschehen, dass Sie zuerst<br />

gehabt hätten eine Stellung wie diese (siehe erste Zeichnung).<br />

Sie würden nun ein Band spannen (c) und würden es zusammenrollen;<br />

dann würde diese Stange diese Bewegung ausführen<br />

(siehe zweite Zeichnung). Es ist eine ganz maschinelle Bewegung.<br />

Solche maschinelle Bewegungen führen Sie auch aus,<br />

wenn Sie Ihr Knie beugen und auch, wenn Sie gehen. Denn<br />

beim Gehen kommt fortwährend die ganze Maschinerie Ihres<br />

Leibes in Bewegung, und fortwährend wirken Kräfte. Es sind<br />

vorzugsweise Hebelkräfte, aber es wirken eben Kräfte. Denken<br />

Sie sich jetzt einmal, Sie könnten durch irgendeinen kniffligen<br />

photographischen Vorgang bewirken, dass, wenn der Mensch<br />

geht, vom Menschen nichts photographiert würde, aber all die<br />

Kräfte, die er anwendet, photographiert würden. Also die Kräfte,<br />

die er anwendet, um das Bein zu heben, es wieder aufzustellen,<br />

das andere Bein nachzusetzen. Vom Menschen würde also<br />

nichts photographiert als nur die Kräfte. Es würde da zunächst,<br />

wenn Sie diese Kräfte sich würden entwickeln sehen, ein<br />

Schatten photographiert und beim Gehen sogar ein ganzes<br />

Schattenband. Sie sind groß im Irrtum, wenn Sie glauben, dass<br />

Sie mit Ihrem Ich in Muskeln und Fleisch leben. Sie leben mit<br />

ihrem Ich, auch wenn Sie wachen, nicht in Muskeln und<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Fleisch, sondern Sie leben mit Ihrem Ich hauptsächlich in diesem<br />

Schatten, den Sie da abphotographieren, in den Kräften,<br />

durch die Ihr Leib seine Bewegungen ausführt. So grotesk es Ihnen<br />

klingt: wenn Sie sich setzen, dann drücken Sie Ihren Rücken<br />

an die Stuhllehne an; mit Ihrem Ich leben Sie in der Kraft,<br />

die sich in diesem Zusammendrücken entwickelt. Und wenn Sie<br />

stehen, leben Sie in der Kraft, mit der Ihre Füße auf die Erde<br />

drücken. Sie leben fortwährend in Kräften. Es ist gar nicht<br />

wahr, dass wir in unserem sichtbaren Körper mit unserem Ich<br />

leben. Wir leben mit unserem Ich in Kräften. Unseren sichtbaren<br />

Körper tragen wir nur mit; den schleppen wir nur mit während<br />

unseres physischen Erdenlebens bis zum Tode. Wir leben<br />

aber auch im wachen Zustand lediglich in einem Kräfteleib.<br />

Und was tut denn eigentlich dieser Kraftleib? Er setzt sich fortwährend<br />

eine sonderbare Aufgabe.<br />

Nicht wahr, indem Sie sich ernähren, nehmen Sie auch auf allerlei<br />

mineralische Stoffe. Auch wenn Sie sich nicht stark Ihre<br />

Suppe salzen - das Salz ist ja in den Speisen drinnen - nehmen<br />

Sie mineralische Stoffe auf. Sie haben auch das Bedürfnis, mineralische<br />

Stoffe aufzunehmen. Was tun Sie denn mit diesen mineralischen<br />

Stoffen? Ja, sehen Sie, Ihr Kopfsystem kann nicht<br />

viel mit diesen mineralischen Stoffen anfangen. Ihr Rumpf-<br />

Brust-System auch nicht. Aber Ihr Gliedmaßensystem; das verhindert,<br />

dass diese mineralischen Stoffe in Ihnen die ihnen eigene<br />

Kristallform annehmen. Wenn Sie nicht die Kräfte Ihres<br />

Gliedmaßensystems entwickeln, so würden Sie, wenn Sie Salz<br />

essen, zum Salzwürfel werden. Ihr Gliedmaßensystem, das Knochengerüst<br />

und das Muskelsystem haben die fortwährende Tendenz,<br />

der Mineralbildung der Erde entgegenzuwirken, das<br />

heißt, die Minerale aufzulösen. Die Kräfte, die die Mineralien<br />

auflösen im Menschen, die kommen vom Gliedmaßensystem.<br />

Wenn der Krankheitsprozess über das bloß Vegetative hinausgeht,<br />

das heißt, wenn der Körper die Tendenz hat, nicht nur das<br />

Pflanzliche in sich beginnen zu lassen, sondern auch den mineralischen<br />

Kristallisationsprozess, dann ist eine höhere, sehr zer-<br />

182


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

störerische Form von Krankheit vorhanden, zum Beispiel Zuckerkrankheit.<br />

Dann ist der menschliche Leib nicht in der Lage,<br />

aus der Kraft seiner Gliedmaßen heraus, die er von der Welt<br />

aufnimmt, das Mineral, das er fortwährend auflösen soll, wirklich<br />

aufzulösen. Und wenn heute die Menschen gerade jener<br />

Krankheitsformen, die vielfach von krankhaftem Mineralisieren<br />

im Menschenleibe herrühren, nicht Herr werden können, so<br />

rührt das vielfach davon her, dass wir nicht genügend anwenden<br />

können, die Gegenmittel gegen diese Erkrankungsform, die<br />

wir alle hernehmen müssten aus den Zusammenhängen der<br />

Sinnesorgane oder des Gehirns, der Nervenstränge und dergleichen.<br />

Wir müssten die Scheinstoffe - ich nenne sie aus gewissen<br />

Gründen Scheinstoffe -, die in den Sinnesorganen sind, die in<br />

Gehirn und Nerven sind, diese zerfallende Materie, die müssten<br />

wir in irgendeiner Form verwenden, um solcher Krankheiten<br />

Herr zu werden, wie Gicht, Zuckerkrankheit und dergleichen.<br />

Auf diesem Gebiete kann erst das wirklich der Menschheit Heilsame<br />

erreicht werden, wenn einmal der Zusammenhang des<br />

Menschen mit der Natur ganz durchschaut wird von dem Gesichtspunkte<br />

aus, den ich Ihnen heute angegeben habe.<br />

Der Leib des Menschen wird auf keine andere Weise erklärlich,<br />

als indem man zuerst seine Vorgänge, seine Prozesse kennt, indem<br />

man weiß, dass der Mensch in sich auflösen muss das Mineral,<br />

in sich umkehren muss das Pflanzenreich, über sich hinausführen<br />

muss, das heißt, vergeistigen muss das Tierreich. Und<br />

alles dasjenige, was der Lehrer wissen soll über die Leibesentwickelung,<br />

das hat zur Grundlage eine solche anthropologische,<br />

anthroposophische Betrachtung, wie ich sie hier mit Ihnen angestellt<br />

habe. Was nun pädagogisch darauf aufgebaut werden<br />

kann, das wollen wir morgen weiterbesprechen.<br />

183


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

DREIZEHNTER VORTRAG<br />

4. SEPTEMBER 1919, STUTTGART<br />

Wir können den Menschen in seinem Verhalten zur Außenwelt<br />

begreifen und können Einblick gewinnen, wie wir uns zum<br />

Kinde bezüglich seines Verhaltens zur Außenwelt verhalten<br />

sollen, wenn wir solche Einsichten zugrunde legen, wie wir sie<br />

in diesen Vorträgen uns verschafft haben. Es handelt sich nur<br />

darum, diese Einsichten in entsprechender Weise im Leben anzuwenden.<br />

Bedenken Sie, dass wir geradezu ein zweifaches<br />

Verhalten des Menschen zur Außenwelt ins Auge fassen müssen<br />

dadurch, dass wir sprechen können von einer ganz entgegengesetzten<br />

Gestaltung des Gliedmaßenmenschen zum Kopfmenschen.<br />

Wir müssen uns die schwierige Vorstellung aneignen, dass wir<br />

die Formen des Gliedmaßenmenschen nur begreifen, wenn wir<br />

uns vorstellen, dass die Kopfformen wie ein Handschuh oder<br />

wie ein Strumpf umgestülpt werden. Das, was damit zum Ausdruck<br />

kommt, ist von einer großen Bedeutung im ganzen Leben<br />

des Menschen. Wenn wir es schematisch hinzeichnen, so ist es<br />

so, dass wir uns sagen können: Die Kopfform wird so gebildet,<br />

dass sie gewissermaßen von innen nach außen gedrücktwird,<br />

dass sie aufgeplustert wird von innen nach außen. Wenn wir<br />

uns die Gliedmaßen des Menschen denken, so können wir uns<br />

184


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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vorstellen, dass sie von außen nach innen gedrückt werden,<br />

durch die Umstülpung - das bedeutet sehr viel im Leben des<br />

Menschen - an Ihrer Stirne. Und vergegenwärtigen Sie sich,<br />

dass Ihr inneres Menschliches hinstrebt von innen aus nach Ihrer<br />

Stirne. Besehen Sie sich Ihre innere Handfläche und besehen<br />

Sie sich Ihre innere Fußfläche: es wird auf diese fortwährend<br />

eine Art von Druck ausgeübt, der gleich ist dem Druck, der auf<br />

Ihre Stirne von innen ausgeübt wird, nur in der entgegengesetzten<br />

Richtung. Indem Sie also Ihre Handfläche der Außenwelt<br />

entgegenhalten, indem Sie Ihre Fußsohlenfläche auf den Boden<br />

aufsetzen, strömt von außen durch diese Sohle dasselbe ein, was<br />

von innen strömt gegen die Stirne zu. Das ist eine außerordentlich<br />

wichtige Tatsache. Es ist deshalb so wichtig, weil wir dadurch<br />

sehen, wie es eigentlich mit dem Geistig-Seelischen im<br />

Menschen ist. Dieses Geistig-Seelische, das sehen Sie ja daraus,<br />

ist eine Strömung. Es geht eigentlich dieses Geistig-Seelische als<br />

Strömung durch den Menschen durch. Und was ist denn der<br />

Mensch gegenüber diesem Geistig-Seelischen? Denken Sie sich,<br />

ein Wasserstrom fließt hin und wird durch ein Wehr aufgehalten,<br />

so dass er sich staut und in sich zurückwellt. So übersprudelt<br />

das Geistig-Seelische sich im Menschen. Der Mensch ist ein<br />

Stauapparat für das Geistig-Seelische. Es möchte eigentlich ungehindert<br />

durch den Menschen durchströmen, aber er hält es<br />

zurück und verlangsamt es. Er lässt es in sich aufstauen. Nun ist<br />

aber allerdings diese Wirkung, die ich als Strömung bezeichnet<br />

habe, eine sehr merkwürdige. Ich habe Ihnen diese Wirkung<br />

des Geistig-Seelischen, das da den Menschen durchströmt, als<br />

eine Strömung bezeichnet, aber was ist es eigentlich gegenüber<br />

der äußeren Leiblichkeit? Es ist ein fortwährendes Aufsaugen<br />

des Menschen.<br />

Der Mensch steht der Außenwelt gegenüber. Das Geistig-<br />

Seelische strebt danach, ihn fortwährend aufzusaugen. Daher<br />

blättern wir außen fortwährend ab, schuppen ab. Und wenn der<br />

Geist nicht stark genug ist, müssen wir uns Stücke, wie zum Beispiel<br />

die Fingernägel, abschneiden, weil der Geist sie, von außen<br />

kommend, saugend zerstören will. Er zerstört alles, und der Leib<br />

185


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

hält diese Zerstörung des Geistes auf. Und es muss im Menschen<br />

ein Gleichgewicht geschaffen werden zwischen dem zerstörenden<br />

Geistig-Seelischen und dem fortwährenden Aufbauenden<br />

des Leibes. Es ist eingeschoben in diese Strömung das Brust-<br />

Bauchsystem. Und das Brust-Bauchsystem ist dasjenige, welches<br />

sich entgegenwirft der Zerstörung des eindringenden Geistig-<br />

Seelischen und welches von sich aus den Menschen durchdringt<br />

mit Materiellem. Daraus aber ersehen Sie, dass die Gliedmaßen<br />

des Menschen, die hinausragen über das Brust-Bauchsystem,<br />

wirklich auch das Geistigste sind, denn da in den Gliedmaßen<br />

wird noch am wenigsten der Materie erzeugende Prozess im<br />

Menschen vorgenommen. Nur dasjenige, was vom Bauch-<br />

Brustsystem hineingeschickt wird an Stoffwechselvorgängen in<br />

die Glieder, das macht, dass unsere Glieder materiell sind. Unsere<br />

Glieder sind in hohem Grade geistig, und sie sind es, welche<br />

an unserem Leib zehren, wenn sie sich bewegen. Und der Leib<br />

ist darauf angewiesen, in sich dasjenige zu entwickeln, wozu der<br />

Mensch eigentlich veranlagt ist von seiner Geburt an. Bewegen<br />

sich die Glieder zuwenig, oder bewegen sie sich nicht entsprechend,<br />

dann zehren sie nicht genug am Leibe. Das Brust-<br />

Bauchsystem ist dann in der glücklichen Lage - in der für es<br />

glücklichen Lage -, dass ihm nicht genügend weggezehrt wird<br />

von den Gliedern. Das, was es so übrig behält, verwendet es dazu,<br />

um überschüssige Materialität im Menschen zu erzeugen.<br />

Diese überschüssige Materialität durchdringt dann dasjenige,<br />

was im Menschen veranlagt ist von seiner Geburt aus, was er<br />

also eigentlich haben sollte zu der Leiblichkeit, weil er als seelisch-geistiges<br />

Wesen geboren wird. Es durchdringt das, was er<br />

haben sollte, mit etwas, was er nicht haben sollte, was er nur als<br />

irdischer Mensch hat materiell, was nicht geistig-seelisch veranlagt<br />

ist im wahren Sinne des Wortes; es durchdringt ihn immer<br />

mehr und mehr mit Fett. Wenn aber dieses Fett in abnormer<br />

Weise eingelagert wird in den Menschen, dann stellt sich ja eigentlich<br />

dem geistig-Seelischen Prozess, der als ein Saugprozess,<br />

als ein verzehrender Prozess eindringt, zuviel entgegen, und<br />

dann wird ihm sein Weg erschwert zum Kopfsystem hin. Daher<br />

186


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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ist es nicht richtig, wenn man den Kindern erlaubt, zuviel fetterzeugende<br />

Nahrung zu nehmen. Dadurch wird ihr Kopf abgegliedert<br />

vom Geistig-Seelischen. Denn das Fett legt sich in den<br />

Weg des Geistig-Seelischen, und der Kopf wird leer. Es handelt<br />

sich darum, dass man den Takt entwickelt, so zusammenzuwirken<br />

mit der gesamten sozialen Lage des Kindes, dass das Kind in<br />

der Tat nicht zu fett wird. Später im Leben hängt ja das Fettwerden<br />

von allerlei anderen Dingen ab, aber in der Kindheit hat<br />

man es bei nicht abnorm gebildeten, das heißt besonders<br />

schwach gebildeten Kindern, die, weil sie schwach sind, leicht<br />

fett werden, also bei normal gebildeten Kindern immerhin in<br />

der Hand, nachzuhelfen durch eine entsprechende Ernährung<br />

gegen das zu starke Fettwerden. Aber man wird diesen Dingen<br />

gegenüber nicht die rechte Verantwortlichkeit haben, wenn<br />

man nicht ihre ganz große Bedeutung ermisst; wenn man nicht<br />

ermisst, dass man in dem Fall, wo man dem Kinde erlaubt, zuviel<br />

Fett ansammeln zu lassen, dem Weltenprozess, der etwas<br />

vorhat mit dem Menschen, was er zum Ausdruck bringt dadurch,<br />

dass er sein Geistig-Seelisches durchströmen lässt durch<br />

den Menschen, dass man da diesem Weltenprozess ins Handwerk<br />

pfuscht. Man pfuscht tatsächlich dem Weltenprozess ins<br />

Handwerk, wenn man das Kind zu fett werden lässt.<br />

Denn, sehen Sie, in diesem Haupt des Menschen, da geschieht<br />

etwas höchst Merkwürdiges: indem da sich alles staut im Menschen<br />

von dem Geistig-Seelischen, spritzt es zurück wie das<br />

Wasser, wenn es an ein Wehr kommt. Das heißt, es spritzt dasjenige,<br />

was das Geistig-Seelische von der Materie mitträgt, so<br />

wie der Mississippi den Sand, auch im Inneren des Gehirns zurück,<br />

so dass da sich überschlagende Strömungen im Gehirn<br />

sind, wo das Geistig-Seelische sich staut. Und im zurückschlagen<br />

des Materiellen, da fällt im Gehirn fortwährend Materie in<br />

sich selbst zusammen. Und wenn Materie, die noch vom Leben<br />

durchdrungen ist, in sich selbst zusammenfällt, also so zurückschlägt,<br />

wie ich es Ihnen gezeigt habe, dann entsteht der Nerv.<br />

Der Nerv entsteht immer, wenn vom Geiste durch das Leben<br />

getriebene Materie in sich selbst zusammenfällt und im lebendi-<br />

187


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

gen Organismus drinnen abstirbt. Deshalb ist der Nerv im lebendigen<br />

Organismus drinnen abgestorbene Materie, so dass<br />

sich also das Leben verschiebt, sich in sich selbst staut, Materie<br />

abbröckelt, zusammenfällt. So entstehen Kanäle im Menschen,<br />

die überall hingehen, die ausgefüllt sind von erstorbener Materie,<br />

die Nerven; da kann dann das Geistig- Seelische zurücksprudeln<br />

in den Menschen. Längs der Nerven sprudelt das Geistig-Seelische<br />

durch den Menschen durch, weil das Geistig-<br />

Seelische die zerfallende Materie braucht. Es lässt die Materie an<br />

der Oberfläche des Menschen zerfallen, bringt sie zum Abschuppen.<br />

Dieses Geistig-Seelische lässt sich nur darauf ein, den<br />

Menschen zu erfüllen, wenn in ihm die Materie zuerst erstirbt.<br />

Längs der materiell erstorbenen Nervenbahnen bewegt sich im<br />

Inneren das Geistig-Seelische des Menschen.<br />

Auf diese Weise sieht man hinein in die Art, wie das Geistig-<br />

Seelische eigentlich im Menschen arbeitet. Man sieht es herandringen<br />

von außen, saugende, zehrende Tätigkeit entwickelnd.<br />

Man sieht es eindringen; man sieht, wie es gestaut wird, wie es<br />

zurückbrodelt, wie es die Materie ertötet. Man sieht, wie die<br />

Materie zerfällt in den Nerven und dadurch von innen heraus<br />

das Geistig-Seelische nun auch an die Haut dringen kann, indem<br />

es sich selbst Wege bereitet, durch die es durch kann. Denn<br />

durch das, was organisch lebt, geht das Geistig-Seelische nicht<br />

durch.<br />

Wie können Sie sich denn also das Organische, das Lebendige<br />

vorstellen? Sehen Sie, das Lebendige können Sie sich auch vorstellen<br />

wie etwas, was das Geistig-Seelische aufnimmt, was es<br />

nicht durchlässt. Das Tote, Materielle, das Mineralische können<br />

Sie sich vorstellen wie etwas, was das Geistig-Seelische durchlässt,<br />

so dass Sie eine Art Definition des Leiblich-Lebendigen<br />

und eine Definition des Knöcherig-Nervösen, wie überhaupt des<br />

Mineralisch-Materiellen bekommen können: Das Lebendig-<br />

Organische ist geistundurchlässig; das Physisch-Tote ist geistdurchlässig.<br />

- «Blut ist ein ganz besonderer Saft», denn es ist so<br />

gegenüber dem Geiste, wie undurchsichtige Materie gegenüber<br />

188


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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dem Lichte ist; es lässt den Geist nicht durch, es behält ihn in<br />

sich. Nervensubstanz ist eigentlich auch eine ganz besondere<br />

Substanz. Sie ist wie durchsichtiges Glas gegenüber dem Lichte.<br />

Wie durchsichtiges Glas das Licht durchlässt, so lässt materiell<br />

physische Materie, auch Nervenmaterie, den Geist durch.<br />

Sehen Sie, da haben Sie den Unterschied zwischen zwei Bestandteilen<br />

des Menschen: zwischen dem, was in ihm Mineral<br />

ist, was geistdurchlässig ist, und dem, was in ihm mehr tierisch,<br />

mehr organisch-lebendig ist, was den Geist aufhält in ihm, was<br />

den Geist veranlasst, die Formen hervorzubringen, die den Organismus<br />

gestalten.<br />

Nun folgt aber daraus für die Behandlung des Menschen allerlei.<br />

Wenn der Mensch, sagen wir, körperlich arbeitet, so bewegt er<br />

seine Glieder, das heißt, er schwimmt ganz und gar im Geiste<br />

herum. Das ist nicht der Geist, der sich in ihm schon gestaut<br />

hat; das ist der Geist, der draußen ist. Ob Sie Holz hacken, ob<br />

Sie gehen, wenn Sie nur Ihre Glieder bewegen, indem Sie Ihre<br />

Glieder zur Arbeit bewegen, zur nützlichen oder unnützlichen<br />

Arbeit bewegen, plätschern Sie fortwährend im Geiste herum,<br />

haben es fortwährend mit dem Geiste zu tun. Das ist sehr wichtig.<br />

Und wichtig ist ferner, sich zu fragen: Wenn wir nun geistig<br />

arbeiten, wenn wir denken oder lesen oder dergleichen, wie ist<br />

es dann? - Ja, da haben wir es mit dem Geistig-Seelischen zu<br />

tun, das in uns drinnen ist. Da plätschern nicht wir mit unseren<br />

Gliedern im Geiste, da arbeitet das Geistig-Seelische in uns und<br />

bedient sich fortwährend unseres Leiblichen, das heißt, es<br />

kommt ganz in uns in einem leiblich-körperlichen Prozess zum<br />

Ausdruck. Da wird fortwährend drinnen durch dieses Stauen<br />

Materie in sich zurückgeworfen. Bei der geistigen Arbeit ist unser<br />

Leib in einer übermäßigen Tätigkeit; bei der körperlichen<br />

Arbeit ist dagegen unser Geist in einer übermäßigen Tätigkeit.<br />

Wir können nicht geistig-seelisch arbeiten, ohne dass wir fortwährend<br />

mit unserem Leib innerlich mitarbeiten. Wenn wir<br />

körperlich arbeiten, da ist höchstens, indem wir uns durch die<br />

Gedanken die Richtung zum Gehen geben, durch die Gedanken<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

___________________________________________________<br />

orientierend wirken, unser Geistig-Seelisches im Inneren beteiligt;<br />

aber das Geistig-Seelische von außen ist beteiligt. Wir arbeiten<br />

fortwährend in den Geist der Welt hinein. Wir verbinden<br />

uns fort während mit dem Geiste der Welt, indem wir körperlich<br />

arbeiten. Körperliche Arbeit ist geistig, geistige Arbeit<br />

ist leiblich, am und im Menschen. Dieses Paradoxon muss man<br />

sich an eignen und es verstehen, dass körperliche Arbeit geistig<br />

und geistige Arbeit leiblich ist im Menschen und am Menschen.<br />

Der Geist umspült uns, indem wir körperlich arbeiten. Die Materie<br />

ist bei uns tätig, rege, indem wir geistig arbeiten.<br />

Diese Dinge muss man wissen in dem Augenblick, wo man verständnisvoll<br />

denken will über Arbeit, sei es nun geistige oder<br />

leibliche Arbeit, über Erholung und Ermüdung. Man kann nicht<br />

verständig denken über Arbeit und Erholung und Ermüdung,<br />

wenn man nicht das wirklich verständig durchschaut, was wir<br />

eben besprochen haben. Denn denken Sie einmal, meine lieben<br />

Freunde, ein Mensch arbeite zuviel mit seinen Gliedern, er arbeitet<br />

zuviel körperlich, was wird denn das für eine Folge haben?<br />

Das bringt ihn in eine zu große Verwandtschaft mit dem<br />

Geiste. Es umspült ihn ja der Geist fortwährend, wenn er körperlich<br />

arbeitet. Die Folge davon ist, dass der Geist über den<br />

Menschen eine zu große Gewalt gewinnt, der Geist, der von<br />

außen an den Menschen herankommt. Wir machen uns zu geistig,<br />

wenn wir zuviel körperlich arbeiten. Von außen machen<br />

wir uns zu geistig. Die Folge davon ist: wir müssen uns zu lange<br />

dem Geiste übergeben, das heißt, wir müssen zu lange schlafen.<br />

Arbeiten wir zuviel körperlich, so müssen wir zu lange schlafen.<br />

Und zu langer Schlaf fördert wiederum zu stark die leibliche<br />

Tätigkeit, die vom Brust-Bauch- System ausgeht, die nicht vom<br />

Kopfsystem ausgeht. Sie wirkt zu stark das Leben anregend, wir<br />

werden zu fiebrig, zu heiß. Das Blut wallt zu sehr in uns, es<br />

kann nicht verarbeitet werden in seiner Tätigkeit im Leibe,<br />

wenn wir zuviel schlafen. Demnach erzeugen wir die Lust, zuviel<br />

zu schlafen, durch übermäßige körperliche Arbeit.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Aber die Trägen, die schlafen doch so gerne und schlafen so viel;<br />

woher kommt denn das? Ja, das kommt davon her, dass der<br />

Mensch eigentlich gar nicht die Arbeit unterlassen kann. Er<br />

kann sie gar nicht unterlassen. Der Träge hat seinen Schlaf nicht<br />

davon, weil er zu wenig arbeitet, denn der Träge muss ja auch<br />

den ganzen Tag seine Beine bewegen, und irgendwie fuchtelt er<br />

doch mit seinen Armen herum. Er tut auch etwas, der Träge; er<br />

tut eigentlich, äußerlich angeschaut, gar nicht weniger als der<br />

Fleißige, aber er tut es sinnlos. Der Fleißige wendet sich an die<br />

Außenwelt; er verbindet mit seinen Tätigkeiten einen Sinn.<br />

Und das ist der Unterschied. Sinnloses Sich-Betätigen, wie es<br />

der Träge tut, das ist dasjenige, was mehr zum Schlaf verleitet,<br />

als sinnvolles Sich-Betätigen. Denn sinnvolles Sich-Betätigen<br />

lässt uns nicht nur im Geiste herumplätschem, sondern indem<br />

wir uns sinnvoll bewegen mit unserer Arbeit, ziehen wir den<br />

Geist auch allmählich hinein. Indem wir die Hand ausstrecken<br />

zu sinnvoller Arbeit, verbinden wir uns mit dem Geiste, und der<br />

Geist braucht wiederum nicht zuviel unbewusst arbeiten im<br />

Schlafe, weil wir bewusst mit ihm arbeiten. Also nicht darauf<br />

kommt es an, dass der Mensch tätig ist, denn das ist auch der<br />

Träge, sondern darauf kommt es an, inwiefern der Mensch<br />

sinnvoll tätig ist. Sinnvoll tätig - diese Worte müssen uns auch<br />

schon durchdringen, indem wir Erzieher des Kindes werden.<br />

Wann ist der Mensch sinnlos tätig? Sinnlos tätig ist er, wenn er<br />

nur so tätig ist, wie es sein Leib erfordert. Sinnvoll tätig ist er,<br />

wenn er so tätig ist, wie es seine Umgebung erfordert, wie es<br />

nicht bloß sein eigener Leib erfordert. Darauf müssen wir beim<br />

Kinde Rücksicht nehmen. Wir können auf der einen Seite die<br />

äußere Leibestätigkeit des Kindes immer mehr und mehr überführen<br />

zu dem, was bloß nach dem Leiblichen hin liegt, nach<br />

dem physiologischen Turnen, wo wir bloß den Leib fragen:<br />

Welche Bewegungen sollen wir ausführen lassen? - Und wir<br />

können die äußere Bewegung des Kindes hinführen zu sinnvollen<br />

Bewegungen, zu sinndurchdrungenen Bewegungen, so dass<br />

es mit seinen Bewegungen nicht plätschert im Geiste, sondern<br />

dem Geiste in seinen Richtungen folgt. Dann entwickeln wir die<br />

191


ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Leibesbewegungen hinüber nach der Eurythmie. Je mehr wir<br />

bloß leiblich turnen lassen, desto mehr verleiten wir das Kind<br />

dazu, eine übermäßige Schlafsucht zu entfalten, eine übermäßige<br />

Tendenz nach der Verfettung zu entfalten. Je mehr wir<br />

abwechseln lassen dieses Hinüberschwingen nach dem Leiblichen<br />

- was wir natürlich nicht ganz vernachlässigen dürfen,<br />

weil der Mensch im Rhythmus leben muss -, je mehr wir dieses<br />

Hinüberschwingen nach dem Leibe wiederum zurückschwingen<br />

lassen nach dem sinnvollen Durchdrungensein der Bewegungen<br />

wie in der Eurythmie, wo jede Bewegung einen Laut<br />

ausdrückt wo jede Bewegung einen Sinn hat: je mehr wir abwechseln<br />

lassen das Turnen mit der Eurythmie, desto mehr rufen<br />

wir Einklang hervor zwischen dem Schlaf- und Wachbedürfnis;<br />

desto normaler erhalten wir von der Willensseite her,<br />

von der Außenseite her das Leben auch des Kindes. Dass wir<br />

allmählich auch das Turnen bloß sinnlos gemacht haben, zu einer<br />

Tätigkeit, die bloß dem Leibe folgt, das war eine Begleiterscheinung<br />

des materialistischen Zeitalters. Dass wir es gar erhöhen<br />

wollen zum Sport, wo wir nicht bloß sinnlose Bewegungen,<br />

bedeutungslose, bloß vom Leibe hergenommene Bewegungen<br />

sich auswirken lassen, sondern auch noch den Widersinn, den<br />

Gegensinn hineinlegen - das entspricht dem Bestreben, den<br />

Menschen nicht nur bis zum materiell denkenden Menschen,<br />

sondern ihn herunterzuziehen bis zum viehisch empfindenden<br />

Menschen. Übertriebene Sporttätigkeit ist praktischer Darwinismus.<br />

Theoretischer Darwinismus heißt behaupten, der<br />

Mensch stamme vom Tier ab. Praktischer Darwinismus ist Sport<br />

und heißt, die Ethik aufstellen, den Menschen wiederum zum<br />

Tiere zurückzuführen.<br />

Man muss diese Dinge heute in dieser Radikalität sagen, weil<br />

der heutige Erzieher sie verstehen muss, weil er sich nicht bloß<br />

zum Erzieher der ihm anvertrauten Kinder machen muss, sondern<br />

weil er auch sozial wirken soll, weil er zurückwirken soll<br />

auf die ganze Menschheit, damit nicht solche Dinge mehr und<br />

mehr aufkommen, welche eigentlich auf die Menschheit nach<br />

und nach wirklich vertierend wirken müssen. Das ist nicht fal-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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sche Askese, das ist etwas, was aus dem Objektiven der wirklichen<br />

Einsicht herausgeholt ist, und was durchaus so wahr ist<br />

wie irgendeine andere naturwissenschaftliche Erkenntnis.<br />

Wie ist es denn mit der geistigen Arbeit? Mit der geistigen Arbeit,<br />

also mit Denken, Lesen und so weiter ist es so, dass sie<br />

fortwährend begleitet ist Von leiblich-körperlicher Tätigkeit,<br />

von fortwährendem innerem Zerfall der organischen Materie,<br />

von Totwerden der organischen Materie. Wir haben daher, indem<br />

wir uns zuviel geistig-seelisch beschäftigen, zerfallende organische<br />

Materie in uns. Verbringen wir unseren Tag restlos nur<br />

in gelehrter Tätigkeit, so haben wir am Abend zuviel zerfallene<br />

Materie in uns, zerfallene organische Materie. Die wirkt in uns.<br />

Die stört uns den ruhigen Schlaf. Übertriebene geistig-seelische<br />

Arbeit zerstört ebenso den Schlaf, wie übertriebene körperliche<br />

Arbeit einen schlaftrunken macht. Aber wenn wir uns zu stark<br />

geistig-seelisch anstrengen, wenn wir Schwieriges lesen, so dass<br />

wir beim Lesen auch denken müssen - was ja bei den heutigen<br />

Menschen nicht gerade beliebt ist -, wenn wir also zuviel denkend<br />

lesen wollen, schlafen wir darüber ein. Oder wenn wir<br />

nicht dem wasserklaren Geschwafle der Volksredner oder anderer<br />

Leute zuhören, die nur das sagen, was man schon weiß sondern<br />

wenn wir zuhören denjenigen Leuten, deren Worten man<br />

mit seinem Denken folgen muss, weil sie einem etwas sagen,<br />

was man noch nicht weiß, dann wird man müde und schlaftrunken.<br />

Es ist ja eine bekannte Erscheinung, dass die Menschen,<br />

wenn sie, weil es „sich so gehört“, in Vorträge, in Konzerte<br />

gehen und nicht gewohnt ist, wirklich denkend und empfindend<br />

das zu erfassen, was ihnen geboten wird, beim ersten<br />

Ton oder beim ersten Wort einschlafen. Sie verschlummern oft<br />

den ganzen Vortrag oder das ganze Konzert, dem sie pflichtgemäß<br />

oder standesgemäß beigewohnt haben.<br />

Nun, da ist wiederum ein Zweifaches vorhanden. Wie ein Unterschied<br />

ist zwischen der sinnvollen äußeren Tätigkeit und der<br />

sinnlosen äußeren Geschäftigkeit, so ist auch ein Unterschied<br />

zwischen der mechanisch verlaufenden inneren Denk- und An-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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schauungstätigkeit und zwischen der fortwährend mit Gefühlen<br />

begleiteten inneren Denk- und Anschauungstätigkeit. Wird unsere<br />

geistig-seelische Arbeit so getrieben, dass wir fortwährendes<br />

Interesse mit ihr verbinden, dann belebt das Interesse, belebt<br />

die Aufmerksamkeit unsere Brusttätigkeit und lässt die<br />

Nerven nicht im Übermaße absterben. Je mehr Sie bloß<br />

dahinlesen, je weniger Sie sich bemühen, das Gelesene in sich<br />

mit tiefgehendem Interesse aufzunehmen, desto mehr fördern<br />

Sie das Absterben Ihrer inneren Materie. Je mehr sie mit Interesse,<br />

mit Wärme alles verfolgen, desto mehr fördern Sie die<br />

Bluttätigkeit, das Lebendigerhaltenwerden der Materie, desto<br />

mehr verhindern Sie auch, dass Ihnen die geistige Tätigkeit den<br />

Schlaf stört. Wenn man dem Examen entgegenbüffeln muss -<br />

man kann auch ochsen sagen, je nach dem Klima -, nimmt man<br />

eben viel auf gegen das Interesse. Denn würde man nur nach<br />

seinem Interesse aufnehmen, dann würde man - nach den heutigen<br />

Zeitverhältnissen mindestens - durchfallen. Die Folge ist,<br />

dass einem das Büffeln oder Ochsen zum Examen den Schlaf<br />

zerstört, dass es in unser normales Menschendasein Unordnung<br />

hineinbringt. Das muss insbesondere bei Kindern beachtet werden.<br />

Daher ist es bei Kindern am allerbesten, und es wird dem<br />

Ideal der Erziehung am meisten entsprechen, wenn wir überhaupt<br />

das sich aufstauende Lernen, das immer vor dem Examen<br />

getrieben wird, ganz weglassen, das heißt, die Examina ganz<br />

weglassen; wenn das Ende des Schuljahres geradeso verläuft wie<br />

der Anfang. Wenn wir uns als Lehrer die Verpflichtung auferlegen,<br />

uns zu sagen: Wozu soll denn das Kind geprüft werden?<br />

Ich habe das Kind ja immer vor Augen gehabt und weiß ganz<br />

gut, was es weiß oder nicht weiß. - Natürlich kann das unter<br />

den heutigen Verhältnissen vorläufig bloß ein Ideal sein, wie<br />

ich Sie überhaupt bitte, nicht Ihre Rebellennatur zu stark nach<br />

außen zu kehren. Kehren Sie zunächst dasjenige, was Sie vorzubringen<br />

haben gegen unsere gegenwärtige Kultur, wie Stacheln<br />

nach innen, damit Sie langsam dahin wirken - denn auf diesem<br />

Gebiet können wir nur langsam wirken -, dass die Menschen<br />

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anders denken lernen, dann werden auch die äußeren sozialen<br />

Verhältnisse in andere Formen eintreten, als sie jetzt sind.<br />

Aber man muss alles im Zusammenhang denken. Man muss<br />

wissen, dass Eurythmie, von Sinn durchzogene äußere Tätigkeit,<br />

Vergeistigen der körperlichen Arbeit, und Interessant- machen<br />

des Unterrichts in nicht banaler Weise, Beleben - wörtlich genommen<br />

-, Beleben, Durchbluten der intellektuellen Arbeit ist.<br />

Wir müssen die Arbeit nach außen vergeistigen; wir müssen die<br />

Arbeit nach innen, die intellektuelle Arbeit, durchbluten! Denken<br />

Sie über diese zwei Sätze nach, dann werden Sie sehen, dass<br />

der erstere eine bedeutsame erzieherische und auch eine bedeutsame<br />

soziale Seite hat; dass der letztere eine bedeutsame erzieherische<br />

und auch eine bedeutsame hygienische Seite hat.<br />

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VIERZEHNTER VORTRAG<br />

5. SEPTEMBER 1919, STUTTGART<br />

Wenn wir den Menschen in der Art betrachten, wie wir das<br />

bisher zur Ausbildung einer wirklichen pädagogischen Kunst<br />

getan haben, dann fällt uns ja durch das Allerverschiedenste<br />

auch die äußere leibliche Dreigliederung des Menschen in die<br />

Augen. Wir unterscheiden deutlich alles dasjenige, was mit der<br />

Kopfbildung, der Kopfgestaltung des Menschen zusammenhängt<br />

von dem, was mit der Brustbildung und Rumpfbildung überhaupt<br />

zusammenhängt, und wiederum von dem, was mit der<br />

Gliedmaßenbildung zusammenhängt, wobei wir uns aber allerdings<br />

vorzustellen haben, dass die Gliedmaßenbildung viel<br />

komplizierter ist, als man sich gewöhnlich vorstellt, weil das,<br />

was in den Gliedmaßen veranlagt ist und, wie wir gesehen haben,<br />

eigentlich von außen nach innen gebildet ist, sich in das<br />

Innere des Menschen fortsetzt, und wir daher beim Menschen<br />

zu unterscheiden haben dasjenige, was von innen nach außen<br />

gebaut ist und dasjenige, was von außen nach innen gewissermaßen<br />

in den menschlichen Leib hineingeschoben ist.<br />

Wenn wir diese Dreigliederung des menschlichen Leibes ins<br />

Auge fassen, dann wird es uns ganz besonders deutlich werden,<br />

wie das Haupt, der Kopf des Menschen, ein ganzer Mensch<br />

schon ist, ein aus der Tierreihe heraufgehobener ganzer<br />

Mensch.<br />

Wir haben am Kopfe den eigentlichen Kopf. Wir haben am<br />

Kopf den Rumpf: das ist alles dasjenige, was zur Nase gehört.<br />

Und wir haben am Kopf den Gliedmaßenteil, der sich in die<br />

Leibeshöhle fortsetzt: das ist alles dasjenige, was den Mund umschließt.<br />

So dass wir am menschlichen Haupte sehen können,<br />

wie da der ganze Mensch leiblich vorhanden ist. Nur ist die<br />

Brust des Kopfes schon verkümmert. Sie ist so verkümmert, dass<br />

gewissermaßen alles, was zur Nase gehört, nur noch undeutlich<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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erkennen lässt, wie es mit dem Lungenartigen zusammenhängt.<br />

Aber es hängt dasjenige, was zur Nase gehört, mit dem Lungenartigen<br />

zusammen. Es ist gewissermaßen diese menschliche Nase<br />

etwas wie eine metamorphosierte Lunge. Sie gestaltet daher<br />

auch den Atmungsprozess so um, dass sie ihn mehr nach dem<br />

Physischen hin ausbildet. Dass Sie die Lunge vielleicht als weniger<br />

geistig ansehen als die Nase, das ist ein Irrtum. Die Lunge ist<br />

kunstvoller gebaut. Sie ist mehr vom Geistigen, wenigstens vom<br />

Seelischen durchdrungen als die Nase, die eigentlich, wenn man<br />

die Sache wirklich richtig auffasst, mit einer großen Unverschämtheit<br />

sich nach außen hin in das menschliche Antlitz<br />

stellt, während die Lunge ihr Dasein, trotzdem sie seelischer ist<br />

als die Nase, viel keuscher verbirgt. Verwandt mit allem, was<br />

dem Stoffwechsel, was der Verdauung und Ernährung angehört<br />

und sich aus den Gliedmaßenkräften in den Menschen herein<br />

fortsetzt, verwandt mit alledem ist dasjenige, was zum menschlichen<br />

Munde gehört, der ja auch seine Verwandtschaft mit der<br />

Ernährung und mit alledem, was zu den menschlichen Gliedmaßen<br />

gehört, nicht verleugnen kann. So ist das Haupt, der<br />

Kopf des Menschen ein ganzer Mensch, bei dem nur das Nichtkopfliche<br />

verkümmert ist. Brust und Unterleib sind am Kopfe,<br />

aber sie sind am Kopfe verkümmert.<br />

Wenn wir im Gegensatz dazu den Gliedmaßenmenschen ansehen,<br />

so ist der in alledem, was er uns äußerlich darbietet, in seiner<br />

äußerlichen gestaltlichen Bildung im wesentlichen die Umgestaltung<br />

der beiden Kinnladen des Menschen, der oberen und<br />

unteren Kinnlade. Was unten und oben Ihren Mund einschließt,<br />

das ist, nur verkümmert, dasjenige, was Ihre Beine und<br />

Füße und Ihre Arme und Hände sind. Nur müssen Sie sich die<br />

Sache richtig gelagert denken. Sie können nun sagen: Wenn ich<br />

mir nun vorstelle, dass meine Arme und Hände seien obere<br />

Kinnlade, meine Beine und Füße untere Kinnlade, dann muss<br />

ich die Frage aufwerfen: Ja, wohin richtet sich denn dasjenige,<br />

was in diesen Kinnladen ausgesprochen ist? Wo beißt es denn?<br />

Wo ist denn der Mund? - Und da müssen Sie sich die Antwort<br />

erteilen: Da, wo Ihr Oberarm auf Ihrem Leib aufsitzt, und da,<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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wo Ihre Oberbeine, die Oberschenkelknochen an Ihrem Leibe<br />

aufsitzen. So dass, wenn Sie sich vorstellen wollen, das sei der<br />

menschliche Rumpf (es wird gezeichnet), so müssen Sie sich<br />

vorstellen, da draußen irgendwo sei das eigentliche Haupt; es<br />

öffne nach der oberen Seite den Mund und es öffne nach der<br />

unteren Seite den Mund, so dass Sie sich vorstellen können eine<br />

merkwürdige Tendenz dieses unsichtbaren Kopfes, der seine<br />

Kiefer nach Ihrer Brust und nach Ihrem Bauche hin öffnet.<br />

Was tut denn dieser unsichtbare Kopf? Er frisst Sie ja fortwährend,<br />

er sperrt sein Maul gegen Sie auf. Und hier haben Sie in<br />

der äußeren Gestalt ein wunderbares Bild des Tatsächlichen.<br />

Während der richtige Kopf des Menschen ein leiblichmaterieller<br />

Kopf ist, ist der Kopf, der zu den Gliedmaßen dazugehört,<br />

der geistige Kopf. Aber er wird ein Stückchen materiell,<br />

damit er fortwährend den Menschen verzehren kann.<br />

Und im Tode, wenn der Mensch stirbt, hat er ihn ganz aufgezehrt.<br />

Das ist in der Tat der wunderbare Prozess, dass unsere<br />

Gliedmaßen so gebaut sind, dass sie uns fortwährend aufessen.<br />

Wir schlüpfen fortwährend mit unserem Organismus in den<br />

aufgesperrten Mund unserer Geistigkeit hinein. Das Geistige<br />

verlangt von uns fortwährend das Opfer unserer Hingabe. Und<br />

auch in unserer Leibesgestaltung ist dieses Opfer unserer Hingabe<br />

ausgedrückt. Wir verstehen die menschliche Gestalt nicht,<br />

wenn wir nicht dieses Opfer der Hingabe an den Geist schon<br />

ausgedrückt finden in der Beziehung der menschlichen Glieder<br />

zu dem übrigen menschlichen Leib. So dass wir sagen können:<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Kopf- und Gliedmaßennatur des Menschen sind entgegengesetzt,<br />

und die Brust- oder Rumpfnatur des Menschen, die in der<br />

Mitte liegt, ist in gewisser Beziehung dasjenige, was zwischen<br />

diesen beiden Gegensätzen die Waage hält.<br />

In der Brust des Menschen ist in der Tat ebenso viel Kopf- wie<br />

Gliedmaßennatur. Gliedmaßennatur und Kopfnatur vermischen<br />

sich miteinander in der Brustnatur. Die Brust hat nach oben<br />

hin fortwährend die Anlage, Kopf zu werden und nach unten<br />

hin fortwährend die Anlage, den entgegengestreckten Gliedmaßen,<br />

der Außenwelt, sich anzuorganisieren, sich anzupassen,<br />

also, mit anderen Worten, Gliedmaßennatur zu werden. Der<br />

obere Teil der Brustnatur hat fortwährend die Tendenz, Kopf zu<br />

werden, der untere Teil hat fortwährend die Tendenz, Gliedmaßenmensch<br />

zu werden. Also der obere Teil des menschlichen<br />

Rumpfes will fortwährend Kopf werden, er kann es nur nicht.<br />

Der andere Kopf verhindert ihn daran. Daher bringt er nur<br />

fortwährend ein Abbild des Kopfes hervor, man möchte sagen,<br />

etwas, was ausmacht den Beginn der Kopfbildung. Können wir<br />

nicht deutlich erkennen, wie im oberen Teil der Brustbildung<br />

der Ansatz gemacht wird zur Kopfbildung? Ja, da ist der Kehlkopf<br />

da, der ja aus der naiven Sprache heraus sogar Kehlkopf<br />

genannt wird. Der Kehlkopf des Menschen ist ganz und gar ein<br />

verkümmertes Haupt des Menschen, ein Kopf, der nicht ganz<br />

Kopf werden kann und der daher seine Kopfesnatur auslebt in<br />

der menschlichen Sprache. Die menschliche Sprache ist der<br />

fortwährend vom Kehlkopf in der Luft unternommene Versuch,<br />

Kopf zu werden. Wenn der Kehlkopf versucht, der oberste Teil<br />

des Kopfes zu werden, da kommen zum Vorschein diejenigen<br />

Laute, welche deutlich zeigen, dass sie am stärksten von der<br />

menschlichen Natur zurückgehalten werden. Wenn der<br />

menschliche Kehlkopf versucht, Nase zu werden, da kann er<br />

nicht Nase werden, weil ihn die wirklich vorhandene Nase daran<br />

verhindert. Aber er bringt hervor in der Luft den Versuch,<br />

Nase zu werden, in den Nasenlauten. Die vorhandene Nase staut<br />

also die Luftnase, die da entstehen will, in den Nasenlauten. Es<br />

ist außerordentlich bedeutungsvoll, wie der Mensch, indem er<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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spricht, fortwährend in der Luft den Versuch macht, Stücke von<br />

einem Kopf hervorzubringen, und wie sich wiederum diese Stücke<br />

von dem Kopf in welligen Bewegungen fortsetzen, die sich<br />

dann stauen an dem leiblich ausgebildeten Kopf. Da haben Sie<br />

dasjenige, was die menschliche Sprache ist.<br />

Sie werden sich daher nicht wundern, dass in dem Augenblick,<br />

wo der Kopf gewissermaßen leiblich fertig geworden ist, so gegen<br />

das siebente Jahr hin, mit dem Zahnwechsel dann schon die<br />

Gelegenheit geboten ist, den seelischen Kopf, der aus dem<br />

Kehlkopf hervorgetrieben wird, mit einer Art von Knochensystem<br />

zu durchsetzen. Es muss nur ein seelisches Knochensystem<br />

sein. Das tun wir, indem wir nicht mehr bloß wild durch Nachahmung<br />

die Sprache entwickeln, sondern indem wir angehalten<br />

werden, die Sprache durch das Grammatikalische zu entwickeln.<br />

Haben wir doch, meine lieben Freunde, das Bewusstsein,<br />

dass wir, wenn das Kind uns zur Volksschule übergeben wird,<br />

seelisch bei ihm eine ähnliche Tätigkeit auszuüben haben wie<br />

der Leib ausgeübt hat, indem er die zweiten Zähne in diese Organisation<br />

hineingetrieben hat! So machen wir fest, aber nur<br />

seelisch fest, die Sprachbildung, indem wir in vernünftiger Weise<br />

das Grammatikalische hineinbringen: dasjenige, was aus der<br />

Sprache hineinwirkt in Schreiben und Lesen. Wir werden zu<br />

dem menschlichen Sprechen das richtige Gemütsverhältnis bekommen,<br />

wenn wir wissen, dass die Worte, die der Mensch<br />

formt, in der Tat veranlagt sind, Haupt zu werden.<br />

Nun, so wie der menschliche Brustteil nach oben die Tendenz<br />

hat, Haupt zu werden, so hat er nach unten die Tendenz,<br />

Gliedmaßen zu werden. So wie dasjenige, was als Sprache aus<br />

dem Kehlkopf hervorgeht, ein verfeinerter Kopf ist, ein noch<br />

luftig gebliebener Kopf, so ist alles dasjenige, was nach unten<br />

von dem Brustwesen des Menschen ausgeht und sich nach den<br />

Gliedmaßen hin organisiert, vergröberte Gliedmaßennatur.<br />

Verdichtete, vergröberte Gliedmaßennatur ist dasjenige, was die<br />

Außenwelt gewissermaßen in den Menschen schiebt.<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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Und wenn einmal die Naturwissenschaft dazu kommen wird,<br />

das Geheimnis zu ergründen, wie Hände und Füße, Arme und<br />

Beine vergröbert und mehr nach innen geschoben sind in den<br />

Menschen, als sie nach außen hervortreten, dann wird diese Naturwissenschaft<br />

das Rätsel der Sexualität erkundet haben. Und<br />

dann wird der Mensch erst den richtigen Ton finden, über so<br />

etwas zu sprechen. Es ist daher gar nicht zu verwundern, dass<br />

all das Gerede, das heute getrieben wird über die Art, wie sexuelle<br />

Aufklärung gepflogen werden soll, ziemlich wesenlos ist.<br />

Denn man kann nicht gut dasjenige erklären, was man selber<br />

nicht versteht. Was die Wissenschaft der Gegenwart ganz und<br />

gar nicht versteht, das ist dasjenige, was nur angedeutet wird,<br />

wenn man so den Gliedmaßenmenschen im Zusammenhang<br />

mit dem Rumpfmenschen charakterisiert, wie ich es eben getan<br />

habe. Aber man muss dann wissen, dass eben so, wie man gewissermaßen<br />

in den ersten Volksschuljahren dasjenige in das<br />

Seelische hineingeschoben hat, was sich in die Zahnnatur hineindrängt<br />

vor dem siebenten Lebensjahre, so hat man in den<br />

letzten Jahren der Volksschule alles dasjenige, was aus der<br />

Gliedmaßennatur stammt, und was erst nach der Geschlechtsreife<br />

voll zum Ausdruck kommt, hineingeschoben in das kindliche<br />

Seelenleben.<br />

Und so wie sich anzeigt in der Fähigkeit, Schreiben und Lesen<br />

zu lernen in den ersten Schuljahren, das seelische Zahnen, so<br />

kündigt sich an in alledem, was Phantasietätigkeit ist und was<br />

von innerer Wärme durchzogen ist, alles dasjenige, was die Seele<br />

entwickelt am Ende der Volksschuljahre vom zwölften, dreizehnten,<br />

vierzehnten und fünfzehnten Lebensjahre an. Da tritt<br />

ganz besonders hervor alles dasjenige, was an seelischen Fähigkeiten<br />

darauf angewiesen ist, von innerer seelischer Liebe<br />

durchströmt zu werden, das heißt also dasjenige, was als Phantasiekraft<br />

sich zum Ausdruck bringt. Die Kraft der Phantasie, an<br />

sie müssen wir appellieren insbesondere in den letzten Jahren<br />

des Volksschulunterrichts. Wir dürfen dem Kinde viel mehr<br />

zumuten, wenn es durch das siebente Jahr in die Volksschule<br />

eintritt, an Schreiben und Lesen die Intellektualität zu entwi-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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ckeln, als wir unterlassen dürfen, in die herankommende Urteilskraft<br />

- denn die Urteilskraft kommt dann langsam heran<br />

vom zwölften Jahr ab - die Phantasie fortwährend hineinzubringen.<br />

Die Phantasie des Kindes anregend, so müssen wir an<br />

das Kind heranbringen alles dasjenige, was es in diesen Jahren<br />

lernen muss; so müssen wir an das Kind alles heranbringen, was<br />

zum geschichtlichen, zum geographischen Unterricht gehört.<br />

Und auch dann appellieren wir ja eigentlich an die Phantasie,<br />

wenn wir zum Beispiel dem Kinde beibringen: Sieh, du hast gesehen<br />

die Linse, die Sammellinse, welche das Licht ansammelt;<br />

solch eine Linse hast du in deinem Auge. Du kennst die Dunkelkammer,<br />

in der äußere Gegenstände abgebildet werden;<br />

solch eine Dunkelkammer ist dein Auge. - Auch da, wenn wir<br />

zeigen, wie hineingebaut ist die äußere Welt durch die Sinnesorgane<br />

in den menschlichen Organismus, auch da appellieren<br />

wir eigentlich an die Phantasie des Kindes. Denn dasjenige, was<br />

da hineingebaut ist, es wird ja nur in seiner äußeren Totheit<br />

gesehen, wenn wir es aus dem Körper herausnehmen; das können<br />

wir ja am lebenden Körper nicht sehen.<br />

Ebenso muss der ganze Unterricht, der dann erteilt wird in bezug<br />

auf Geometrie, sogar in bezug auf Arithmetik, nicht unterlassen,<br />

an die Phantasie zu appellieren. Wir appellieren an die<br />

Phantasie, wenn wir uns immer bemühen, so wie wir es versucht<br />

haben im praktisch-didaktischen Teil, dem Kinde Flächen<br />

nicht nur für den Verstand begreiflich zu machen, sondern die<br />

Flächennatur wirklich so begreiflich zu machen, dass das Kind<br />

seine Phantasie anwenden muss selbst in der Geometrie und<br />

Arithmetik. Deshalb sagte ich gestern, ich wunderte mich, dass<br />

niemand darauf gekommen ist, den pythagoreischen Lehrsatz<br />

auch so zu erklären, dass er gesagt hätte: Nehmen wir an, da wären<br />

drei Kinder. Das eine Kind hat so viel Staub zu blasen, dass<br />

das eine der Quadrate mit Staub überdeckt ist; das zweite Kind<br />

hat so viel Staub zu blasen, dass das zweite Quadrat mit Staub<br />

bedeckt ist und das dritte so viel, dass das kleine Quadrat mit<br />

Staub überdeckt ist. Da würde man dann der Phantasie des Kin-<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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des nachhelfen, indem man ihm zeigte: die große Fläche, die<br />

muss mit so viel Staub bepustet werden, dass der Staub, der zu<br />

der kleinsten Fläche und der, der zur größeren Fläche gehört,<br />

ganz gleich ist dem Staub, der in der ersten Fläche ist. Da würde<br />

dann, wenn auch nicht mit mathematischer Genauigkeit, aber<br />

mit phantasievoller Gestaltung, das Kind seine Auffassekraft in<br />

den ausgepusteten Staub hineinbringen. Es würde die Fläche<br />

verfolgen mit seiner Phantasie. Es würde den pythagoreischen<br />

Lehrsatz durch den fliegenden und sich setzenden Staub, der<br />

auch noch quadratförmig gepustet werden müsste - das kann<br />

natürlich nicht in Wirklichkeit geschehen, die Phantasie muss<br />

angestrengt werden -, es würde das Kind mit der Phantasie den<br />

pythagoreischen Lehrsatz begreifen.<br />

So muss man fortwährend darauf Rücksicht nehmen, dass insbesondere<br />

in diesen Jahren noch anregend ausgebildet werden<br />

muss, was, die Phantasie gebärend, von dem Lehrer auf den<br />

Schüler übergeht. Der Lehrer muss in sich selber lebendig erhalten<br />

den Unterrichtsstoff, muss ihn mit Phantasie durchdringen.<br />

Das kann man nicht anders, als indem man ihn durchdringt mit<br />

gefühlsmäßigem Willen. Das wirkt manchmal noch in späteren<br />

Jahren ganz merkwürdig.<br />

Was gesteigert werden muss in den letzten Volksschulzeiten,<br />

was ganz besonders wichtig ist, das ist das Zusammenleben, das<br />

ganz zusammenstimmende Leben zwischen dem Lehrer und<br />

den Schülern. Daher wird keiner ein guter Volksschullehrer<br />

werden, der nicht sich immer wiederum bemüht, phantasievoll<br />

seinen ganzen Lehr-Stoff zu gestalten, immer neu und neu seinen<br />

Lehrstoff zu gestalten. Denn in der Tat, es ist so: wenn man<br />

dasjenige, was -an einmal phantasievoll gestaltet hat, nach Jahren<br />

genau so wiedergibt, dann ist es verstandesmäßig eingefroren.<br />

Die Phantasie muss notwendig fortwährend lebendig erhalten<br />

werden, sonst frieren ihre Produkte verstandesmäßig ein.<br />

Das aber wirft ein Licht auf die Art, wie der Lehrer selber sein<br />

muss. Er darf in keinem Momente seines Lebens versauern. Und<br />

zwei Begriffe gibt es, die nie zusammenpassen, wenn das Leben<br />

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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />

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gedeihen soll, das ist Lehrerberuf und Pedanterie. Wenn jemals<br />

im Leben zusammenkommen würden Lehrerberuf und Pedanterie,<br />

so gäbe diese Ehe ein größeres Unheil, als sonst irgendwie<br />

im Leben entstehen könnte. Ich glaube nicht, meine lieben<br />

Freunde, dass man das Absurde anzunehmen hat, dass jemals im<br />

Leben sich vereinigt haben Lehrerberuf und Pedanterie! Sie sehen<br />

daraus auch, dass es eine gewisse innere Moralität des<br />

Unterrichtens gibt, eine innere Verpflichtung des Unterrichtens.<br />

Ein wahrer kategorischer Imperativ für den Lehrer! Und<br />

dieser kategorische Imperativ für den Lehrer ist der: Halte deine<br />

Phantasie lebendig. Und wenn du fühlst, dass du pedantisch<br />

wirst, dann sage: Pedanterie mag für die anderen Menschen ein<br />

Übel sein - für mich ist es eine Schlechtigkeit, eine Unmoral! -<br />

Das muss Gesinnung für den Lehrer werden.<br />

Wenn es nicht Gesinnung für den Lehrer wird, dann, meine lieben<br />

Freunde, dann müsste eben der Lehrer daran denken, dasjenige,<br />

was er für den Lehrerberuf sich erworben hat, für einen<br />

anderen Beruf im Leben nach und nach anwenden zu lernen.<br />

Natürlich können diese Dinge im Leben nicht dem vollen Ideal<br />

gemäß durchgeführt werden, aber man muss das Ideal doch<br />

kennen.<br />

Sie werden aber nicht den richtigen Enthusiasmus für diese pädagogische<br />

Moral gewinnen, wenn Sie sich nicht durchdringen<br />

lassen wiederum von Fundamentalem: von der Erkenntnis, wie<br />

schon der Kopf selber ein ganzer Mensch ist, dessen Gliedmaßen<br />

und Brust nur verkümmert sind; wie jedes Glied des Menschen<br />

ein ganzer Mensch ist, nur dass beim Gliedmaßenmenschen<br />

der Kopf ganz verkümmert ist und im Brustmenschen<br />

Kopf und Gliedmaßen sich das Gleichgewicht halten. Wenn Sie<br />

dieses Fundamentale anwenden, dann bekommen Sie aus diesem<br />

Fundamentalen heraus jene innere Kraft, die Ihnen durchdringen<br />

kann Ihre pädagogische Moral mit dem nötigen Enthusiasmus.<br />

Dasjenige, was der Mensch als Intellektualität ausbildet, das hat<br />

einen starken Hang, träge, faul zu werden. Und es wird am<br />

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faulsten, wenn der Mensch es nur immer fort und fort speist mit<br />

materialistischen Vorstellungen. Es wird aber beflügelt, wenn<br />

der Mensch es speist mit aus dem Geiste gewonnenen Vorstellungen.<br />

Die bekommen wir aber nur in unsere Seele hinein auf<br />

dem Umweg durch die Phantasie.<br />

Was hat die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gewettert gegen<br />

das Hereindringen der Phantasie in das Unterrichtswesen! Wir<br />

haben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts solche leuchtende<br />

Gestalten wie zum Beispiel Schelling; Menschen, die auch<br />

in Pädagogik gesunder gedacht haben. Lesen Sie die schöne, anregende<br />

Ausführung Schellings über die Methode des akademischen<br />

Studiums - was allerdings nicht für die Volksschule, was<br />

für die höhere Schule ist -, worin aber der Geist der Pädagogik<br />

von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebt. Er ist dann im<br />

Grunde genommen in einer etwas maskierten Form in der zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts begeifert worden, wo man alles<br />

dasjenige verschimpfte, was irgendwie auf dem Umweg durch<br />

die Phantasie in die menschliche Seele einziehen will, weil man<br />

feige geworden war in bezug auf das seelische Leben, weil man<br />

glaubte, in dem Augenblick, wo man sich irgendwie der Phantasie<br />

hingibt, werde man gleich der Unwahrheit in die Arme fallen.<br />

Man hatte nicht den Mut, selbständig zu sein, frei zu sein<br />

im Denken und dennoch der Wahrheit sich zu vermählen statt<br />

der Unwahrheit. Man fürchtete, sich frei zu bewegen im Denken,<br />

weil man glaubte, dann würde man gleich die Unwahrheit<br />

in seine Seele aufnehmen. So muss der Lehrer zu dem, was ich<br />

eben gesagt habe, zu dem phantasievollen Durchdringen seines<br />

Unterrichtsstoffes, hinzufügen Mut zur Wahrheit. Ohne diesen<br />

Mut zur Wahrheit kommt er mit seinem Willen im Unterrichte,<br />

insbesondere bei den größer gewordenen Kindern, nicht aus.<br />

Das, meine lieben Freunde, was sich als Mut zur Wahrheit entwickelt,<br />

muss aber auch gepaart sein auf der anderen Seite mit<br />

einem starken Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der Wahrheit.<br />

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Phantasiebedürfnis, Wahrheitssinn, Verantwortlichkeitsgefühl,<br />

das sind die drei Kräfte, die die Nerven der Pädagogik sind. Und<br />

wer Pädagogik in sich aufnehmen will, der schreibe sich vor<br />

diese Pädagogik als Motto:<br />

Durchdringe dich mit Phantasiefähigkeit,<br />

habe den Mut zur Wahrheit,<br />

schärfe dein Gefühl für seelische Verantwortlichkeit.<br />

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