Allgemeine Menschenkunde - Rudolf Steiner Online Archiv
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RUDOLF STEINER<br />
<strong>Allgemeine</strong> <strong>Menschenkunde</strong> als Grundlage<br />
der Pädagogik<br />
14 Vorträge und eine einführende Ansprache<br />
20. August – 5 September 1919 in Stuttgart<br />
Schulungskurs für die Lehrer der ersten Waldorfschule<br />
RUDOLF STEINER ONLINE ARCHIV<br />
http://anthroposophie.byu.edu<br />
4. Auflage 2010
INHALT<br />
Ansprache am Vorabend des Kurses<br />
ERSTER VORTRAG<br />
ZWEITER VORTRAG<br />
DRITTER VORTRAG<br />
VIERTER VORTRAG<br />
FÜNFTER VORTRAG<br />
SECHSTER VORTRAG<br />
SIEBENTER VORTRAG<br />
ACHTER VORTRAG<br />
NEUNTER VORTRAG<br />
ZEHNTER VORTRAG<br />
ELFTER VORTRAG<br />
ZWÖLFTER VORTRAG<br />
DREIZEHNTER VORTRAG<br />
VIERZEHNTER VORTRAG
ANSPRACHE AM VORABEND DES KURSES<br />
STUTTGART, 20. AUGUST 1919<br />
Heute Abend soll nur etwas Präliminarisches gesagt werden.<br />
Die Waldorfschule muss eine wirkliche Kulturtat sein, um eine<br />
Erneuerung unseres Geisteslebens der Gegenwart zu erreichen.<br />
Wir müssen mit Umwandlung in allen Dingen rechnen; die<br />
ganze soziale Bewegung geht ja zuletzt auf Geistiges zurück (die<br />
soziale Bewegung ist zuletzt aufs Geistige zurückgeworfen), und<br />
die Schulfrage ist ein Unterglied der großen geistigen brennenden<br />
Fragen der Gegenwart. Die Möglichkeit der Waldorfschule<br />
muss dabei ausgenützt werden, um reformierend, revolutionierend<br />
im Schulwesen zu wirken.<br />
Das Gelingen dieser Kulturtat ist in Ihre Hand gegeben. Viel ist<br />
damit in Ihre Hand gegeben, um, ein Muster aufstellend, mitzuwirken.<br />
Viel hängt davon ab, dass diese Tat gelingt. Die Waldorfschule<br />
wird ein praktischer Beweis sein für die Durchschlagskraft<br />
der anthroposophischen Weltorientierung. Sie wird<br />
eine Einheitsschule sein in dem Sinne, dass sie lediglich darauf<br />
Rücksicht nimmt, so zu erziehen und zu unterrichten, wie es<br />
der Mensch, wie es die menschliche Gesamtwesenheit erfordert.<br />
Alles müssen wir in den Dienst dieses Zieles stellen.<br />
Aber wir haben es nötig, Kompromisse zu schließen. Kompromisse<br />
sind notwendig, denn wir sind noch nicht so weit, um eine<br />
wirklich freie Tat zu vollbringen. Schlechte Lehrziele,<br />
schlechte Abschlussziele werden uns vom Staat vorgeschrieben.<br />
Diese Ziele sind die denkbar schlechtesten, und man wird sich<br />
das denkbar Höchste auf sie einbilden. Die Politik, die politische<br />
Tätigkeit von jetzt wird sich dadurch äußern, dass sie den Menschen<br />
schablonenhaft behandeln wird, dass sie viel weitergehend<br />
als jemals versuchen wird, den Menschen in Schablonen<br />
einzuspannen. Man wird den Menschen behandeln wie einen<br />
Gegenstand, der an Drähten gezogen werden muss und wird
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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sich einbilden, dass das einen denkbar größten Fortschritt bedeutet.<br />
Man wird unsachgemäß und möglichst hochmütig solche<br />
Dinge einrichten, wie es Erziehungsanstalten sind. Ein Beispiel<br />
und Vorgeschmack davon ist die Konstruktion der russischen<br />
bolschewistischen Schulen, die eine wahre Begräbnisstätte<br />
sind für alles wirkliche Unterrichtswesen. Wir werden einem<br />
harten Kampf entgegengehen, und müssen doch diese Kulturtat<br />
tun.<br />
zwei widersprechende Kräfte sind dabei in Einklang zu bringen.<br />
Auf der einen Seite müssen wir wissen, was unsere Ideale sind,<br />
und müssen doch noch die Schmiegsamkeit haben, uns anzupassen<br />
an das, was weit abstehen wird von unseren Idealen. Wie<br />
diese zwei Kräfte in Einklang zu bringen sind, das wird schwierig<br />
sein für jeden einzelnen von Ihnen. Das wird nur zu erreichen<br />
sein, wenn jeder seine volle Persönlichkeit einsetzt. Jeder<br />
muss seine volle Persönlichkeit einsetzen von Anfang an.<br />
Deshalb werden wir die Schule nicht regierungsgemäß, sondern<br />
verwaltungsgemäß einrichten und sie republikanisch verwalten.<br />
In einer wirklichen Lehrer-Republik werden wir nicht hinter<br />
uns haben Ruhekissen, Verordnungen, die vom Rektorat kommen,<br />
sondern wir müssen hineintragen (in uns tragen) dasjenige,<br />
was uns die Möglichkeit gibt, was jedem von uns die volle<br />
Verantwortung gibt für das, was wir zu tun haben. Jeder muss<br />
selbst voll verantwortlich sein.<br />
Ersatz für eine Rektoratsleitung wird geschaffen werden können<br />
dadurch, dass wir diesen Vorbereitungskurs einrichten und hier<br />
dasjenige arbeitend aufnehmen, was die Schule zu einer Einheit<br />
macht. Wir werden uns das Einheitliche erarbeiten durch den<br />
Kurs, wenn wir recht ernstlich arbeiten.<br />
Für den Kurs ist anzukündigen, dass er enthalten wird: erstens<br />
eine fortlaufende Auseinandersetzung über allgemeinpädagogische<br />
Fragen; zweitens eine Auseinandersetzung über speziellmethodische<br />
Fragen der wichtigsten Unterrichtsgegenstände;<br />
drittens eine Art seminaristisches Arbeiten innerhalb dessen,<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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was unsere Lehraufgaben sein werden. Solche Lehraufgaben<br />
werden wir ausarbeiten und in Disputationsübungen zur Geltung<br />
bringen.<br />
An jedem Tag werden wir vormittags das mehr Theoretische<br />
haben und nachmittags dann das Seminaristische.<br />
Wir werden also morgen um 9 Uhr beginnen mit der allgemeinen<br />
Pädagogik, haben dann um 1/2 11 die speziell-methodische<br />
Unterweisung und am Nachmittag von 3 bis 6 Uhr die seminaristischen<br />
Übungen.<br />
Wir müssen uns voll bewusst sein, dass eine große Kulturtat<br />
nach jeder Richtung hin getan werden soll.<br />
Wir wollen hier in der Waldorfschule keine Weltanschauungsschule<br />
einrichten. Die Waldorfschule soll keine Weltanschauungsschule<br />
sein, in der wir die Kinder möglichst mit anthroposophischen<br />
Dogmen vollstopfen. Wir wollen keine anthroposophische<br />
Dogmatik lehren, Anthroposophie ist kein Lehrinhalt,<br />
aber wir streben hin auf praktische Handhabung der Anthroposophie.<br />
Wir wollen umsetzen dasjenige, was auf anthroposophischem<br />
Gebiet gewonnen werden kann, in wirkliche Unterrichtspraxis.<br />
Auf den Lehrinhalt der Anthroposophie wird es viel weniger<br />
ankommen als auf die praktische Handhabung dessen, was in<br />
pädagogischer Richtung im allgemeinen und im speziell-<br />
Methodischen im besonderen aus Anthroposophie werden<br />
kann, wie Anthroposophie in Handhabung des Unterrichts<br />
übergehen kann.<br />
Die religiöse Unterweisung wird in den Religionsgemein schaften<br />
erteilt werden. Die Anthroposophie werden wir nur betätigen<br />
in der Methodik des Unterrichts. Wir werden also die Kinder<br />
an die Religionslehrer nach den Konfessionen verteilen.<br />
Das ist der andere Teil des Kompromisses. Durch berechtigte<br />
Kompromisse beschleunigen wir unsere Kulturtat.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Wir müssen uns bewusst sein der großen Aufgaben. Wir dürfen<br />
nicht bloß Pädagogen seine sondern wir werden Kulturmenschen<br />
im höchsten Grade, im höchsten Sinne des Wortes sein<br />
müssen. Wir müssen lebendiges Interesse haben für alles, was<br />
heute in der Zeit vor sich geht, sonst sind wir für diese Schule<br />
schlechte Lehrer. Wir dürfen uns nicht nur einsetzen für unsere<br />
besonderen Aufgaben. Wir werden nur dann gute Lehrer sein,<br />
wenn wir lebendiges Interesse haben für alles, was in der Welt<br />
vorgeht. Durch das Interesse für die Welt müssen wir erst den<br />
Enthusiasmus gewinnen, den wir gebrauchen für die Schule und<br />
für unsere Arbeitsaufgaben. Dazu sind nötig Elastizität des Geistigen<br />
und Hingabe an unsere Aufgabe.<br />
Nur aus dem können wir schöpfen, was heute gewonnen werden<br />
kann, wenn Interesse zugewendet wird erstens der großen<br />
Not der Zeit, zweitens den großen Aufgaben der Zeit, die man<br />
sich beide nicht groß genug vorstellen kann.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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ERSTER VORTRAG<br />
21. AUGUST 1919, STUTTGART<br />
Meine lieben Freunde, wir kommen mit unserer Aufgabe nur<br />
zurecht, wenn wir sie nicht bloß betrachten als eine intellektuell-gemütliche,<br />
sondern als eine im höchsten Sinne moralischgeistige;<br />
und daher werden sie es begreiflich finden, dass wir,<br />
indem wir heute diese Arbeit beginnen, uns zunächst besinnen<br />
auf den Zusammenhang, den wir gerade durch diese unsere Tätigkeit<br />
gleich im Anfang herstellen wollen mit den geistigen<br />
Welten. Wir müssen uns bewusst sein bei einer solchen Aufgabe,<br />
dass wir nicht arbeiten bloß als hier auf dem physischen<br />
Plan lebende Menschen; diese Art, sich Aufgaben zu stellen, hat<br />
ja gerade in den letzten Jahrhunderten besonders an Ausdehnung<br />
gewonnen, hat fast einzig und allein die Menschen erfüllt.<br />
Unter dieser Auffassung der Aufgaben ist dasjenige aus Unterricht<br />
und Erziehung geworden, was eben gerade verbessert<br />
werden soll durch die Aufgabe, die wir uns stellen. Daher wollen<br />
wir uns im Beginne dieser unserer vorbereitenden Tätigkeit<br />
zunächst darauf besinnen, wie wir im einzelnen die Verbindung<br />
mit den geistigen Mächten, in deren Auftrag und deren Mandat<br />
jeder einzelne von uns gewissermaßen wird arbeiten müssen,<br />
herstellen. Ich bitte Sie daher, diese einleitenden Worte aufzufassen<br />
als eine Art Gebet zu denjenigen Mächten, die imaginierend,<br />
inspirierend, intuitierend hinter uns stehen sollen, indem<br />
wir diese Aufgabe übernehmen.<br />
(Gebet wurde nicht mitstenographiert)<br />
Meine lieben Freunde! Es obliegt uns, die Wichtigkeit unserer<br />
Aufgabe zu empfinden. Wir werden dies, wenn wir diese Schule<br />
als mit einer besonderen Aufgabe ausgerüstet wissen. Und da<br />
wollen wir unsere Gedanken wirklich konkretisieren, wir wollen<br />
unsere Gedanken wirklich so gestalten, dass wir das Bewusstsein<br />
haben können, dass etwas Besonderes mit dieser<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Schule ausgeführt wird. Wir werden das nur, wenn wir gewissermaßen<br />
nicht in das Alltägliche versetzen dasjenige, was mit<br />
dieser Schulbegründung getan worden ist, sondern wenn wir es<br />
als einen Festesakt der Weltenordnung betrachten. In diesem<br />
Sinne möchte ich als erstes geschehen lassen, dass ich hier im<br />
Namen des guten Geistes, der führen soll die Menschheit aus<br />
der Not und dem Elend heraus, im Namen dieses guten Geistes,<br />
der die Menschheit führen soll zu der höheren Stufe der Entwickelung<br />
in Unterricht und Erziehung, den allerherzlichsten<br />
Dank ausspreche denjenigen guten Geistern gegenüber, die unserem<br />
lieben Herrn Molt den guten Gedanken eingegeben haben,<br />
in dieser Richtung und an diesem Platze für die Weiterentwickelung<br />
der Menschheit dasjenige zu tun, was er mit der<br />
Waldorfschule getan hat. Ich weiß, er ist sich bewusst, dass man<br />
dasjenige, was man für diese Aufgabe tun kann, heute doch nur<br />
mit schwachen Kräften tun kann. Er sieht die Sache so an; aber<br />
er wird gerade dadurch, dass wir mit ihm vereint die Größe der<br />
Aufgabe und den Moment, in dem sie begonnen wird, als einen<br />
feierlichen in die Weltenordnung hineingestellt empfinden, er<br />
wird gerade dadurch mit der rechten Kraft innerhalb unserer<br />
Mitte wirken können. Von diesem Gesichtspunkte aus, meine<br />
lieben Freunde, wollen wir unsere Tätigkeit beginnen. Wir wollen<br />
uns selbst alle betrachten als Menschenwesenheiten, welche<br />
das Karma an den Platz gestellt hat, von dem aus nicht etwas<br />
Gewöhnliches, sondern etwas geschehen soll, was bei den Mittuenden<br />
die Empfindung eines feierlichen Weltenaugenblickes<br />
in sich schließt.<br />
(Kurze Ansprache von Emil Molt.)<br />
Meine lieben Freunde, das erste, womit wir beginnen wollen,<br />
müssen Auseinandersetzungen sein über unsere pädagogische<br />
Aufgabe, Auseinandersetzungen, zu denen ich heute eine Art<br />
von Einleitung zu Ihnen sprechen möchte. Unsere pädagogische<br />
Aufgabe wird sich ja unterscheiden müssen von den pädagogischen<br />
Aufgaben, die sich die Menschheit bisher gestellt hat.<br />
Nicht aus dem Grunde wird sie sich unterscheiden sollen, weil<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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wir in eitlem Hochmut glauben, dass wir gerade von uns aus<br />
gewissermaßen eine neue pädagogische Weltenordnung beginnen<br />
sollen, sondern weil wir aus anthroposophisch orientierter<br />
Geisteswissenschaft heraus uns klar darüber sind, dass die aufeinanderfolgenden<br />
Entwickelungsepochen der Menschheit dieser<br />
Menschheit immer andere Aufgaben stellen werden. Eine andere<br />
Aufgabe hatte die Menschheit in der ersten, eine andere in<br />
der zweiten bis herein in unsere fünfte nachatlantische Entwickelungsepoche.<br />
Und es ist nun einmal so, dass dasjenige, was in<br />
einer Entwickelungsepoche der Menschheit getan werden soll,<br />
dieser Menschheit erst zum Bewusstsein kommt, einige Zeit<br />
nachdem diese Entwickelungsepoche begonnen hat.<br />
Die Entwickelungsepoche, in der wir heute stehen, hat in der<br />
Mitte des 15. Jahrhunderts begonnen. Heute kommt gewissermaßen<br />
aus den geistigen Untergründen heraus erst die Erkenntnis,<br />
was gerade in bezug auf die Erziehungsaufgabe innerhalb<br />
dieser unserer Epoche getan werden soll. Die Menschen<br />
haben bisher, selbst wenn sie mit dem allerbesten Willen pädagogisch<br />
gearbeitet haben, noch im Sinne der alten Erziehung<br />
gearbeitet, noch im Sinne derjenigen der vierten nachatlantischen<br />
Entwickelungsepoche. Vieles wird davon abhängen, dass<br />
wir von vornherein uns einzustellen wissen für unsere Aufgabe,<br />
dass wir verstehen lernen, dass wir uns für unsere zeit eine ganz<br />
bestimmte Richtung zu geben haben; eine Richtung, die nicht<br />
deshalb wichtig ist, weil sie absolut für die ganze Menschheit in<br />
ihrer Entwickelung gelten soll, sondern weil sie gelten soll gerade<br />
für unsere zeit. Der Materialismus hat außer dem anderen<br />
noch das hervorgebracht, dass die Menschen kein Bewusstsein<br />
haben von den besonderen Aufgaben einer besonderen zeit. Als<br />
allererstes aber, bitte, nehmen Sie das in sich auf, dass besondere<br />
Zeiten ihre besonderen Aufgaben haben.<br />
Sie werden zur Erziehung und zum Unterricht Kinder zu übernehmen<br />
haben, allerdings Kinder schon eines bestimmten Alters,<br />
und Sie werden ja dabei bedenken müssen, dass Sie diese<br />
Kinder übernehmen, nachdem sie schon in der allerersten Epo-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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che ihres Lebens die Erziehung, vielleicht oftmals die<br />
Misserziehung der Eltern durchgemacht haben. Vollständig erfüllt<br />
wird dasjenige, was wir wollen, doch erst werden, wenn<br />
wir einmal so weit sind als Menschheit, dass auch die Eltern<br />
verstehen werden, dass schon in der ersten Epoche der Erziehung<br />
besondere Aufgaben der heutigen Menschheit gestellt<br />
sind. Wir werden manches, was verfehlt worden ist in der ersten<br />
Lebensepoche doch noch ausbessern können, wenn wir die<br />
Kinder zur Schule bekommen.<br />
Wir müssen uns aber ganz stark durchdringen von dem Bewusstsein,<br />
aus dem heraus wir, jeder einzelne, unseren Unterricht<br />
und unsere Erziehung auffassen.<br />
Vergessen Sie nicht, indem Sie sich Ihrer Aufgabe widmen, dass<br />
die ganze heutige Kultur, bis in die Sphäre des Geistigen hinein,<br />
gestellt ist auf den Egoismus der Menschheit. Betrachten Sie<br />
unbefangen das geistigste Gebiet, dem sich der Mensch heute<br />
hingibt, betrachten Sie das religiöse Gebiet und fragen Sie sich,<br />
ob nicht unsere heutige Kultur gerade auf dem religiösen Gebiet<br />
hingeordnet ist auf den Egoismus der Menschen. Typisch ist es<br />
gerade für das Predigtwesen in unserer zeit, dass der Prediger<br />
den Menschen angreifen will im Egoismus. Nehmen Sie gleich<br />
dasjenige, was den Menschen am tiefsten erfassen soll: die Unsterblichkeitsfrage,<br />
und bedenken Sie, dass heute fast alles,<br />
selbst im Predigtwesen, darauf hingeordnet ist, den Menschen<br />
so zu erfassen, dass sein Egoismus für das Übersinnliche ins Auge<br />
gefasst wird. Durch den Egoismus hat der Mensch den Trieb,<br />
nicht wesenlos durch die Pforte des Todes hindurchzugehen,<br />
sondern sein Ich zu erhalten. Dies ist ein, wenn auch noch so<br />
verfeinerter, Egoismus. An diesen Egoismus appelliert heute in<br />
weitestem Umfange auch jedes religiöse Bekenntnis, wenn es<br />
sich um die Unsterblichkeitsfrage handelt. Daher spricht vor<br />
allen Dingen das religiöse Bekenntnis so zu den Menschen, dass<br />
es meistens das eine Ende unseres irdischen Daseins vergisst und<br />
nur Rücksicht nimmt auf das andere Ende dieses Daseins, dass<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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der Tod vor allen Dingen ins Auge gefasst wird, dass die Geburt<br />
vergessen wird.<br />
Wenn auch die Dinge nicht so deutlich ausgesprochen werden,<br />
so liegen sie doch zugrunde. Wir leben in der Zeit, in der dieser<br />
Appell an den menschlichen Egoismus in allen Sphären bekämpft<br />
werden muss, wenn die Menschen nicht auf dem absteigenden<br />
Wege der Kultur, auf dem sie heute gehen, immer mehr<br />
und mehr abwärts gehen sollen. Wir werden uns immer mehr<br />
und mehr bewusst werden müssen des anderen Endes der<br />
menschlichen Entwickelung innerhalb des Erdendaseins: der<br />
Geburt. Wir werden in unser Bewusstsein die Tatsache aufnehmen<br />
müssen, dass der Mensch sich entwickelt eine lange zeit<br />
zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, dass er innerhalb<br />
dieser Entwickelung an einen Punkt gelangt ist, wo er für die<br />
geistige Welt gewissermaßen stirbt, wo er unter solchen Bedingungen<br />
in der geistigen Welt lebt, dass er dort nicht mehr weiterleben<br />
kann, ohne in eine andere Daseinsform überzugehen.<br />
Diese andere Daseinsform bekommt er dadurch, dass er sich<br />
umkleiden lässt mit dem physischen und Ätherleib. Dasjenige,<br />
was er bekommen soll durch die Umkleidung des physischen<br />
und Ätherleibes, könnte er nicht bekommen, wenn er sich in<br />
gerader Linie in der geistigen Welt nur weiterentwickeln würde.<br />
Indem wir daher das Kind von seiner Geburt an nur mit<br />
physischen Augen anblicken dürfen, wollen wir uns dabei bewusst<br />
sein: auch das ist eine Fortsetzung. Und wir wollen nicht<br />
nur sehen auf das, was das Menschendasein erfährt nach dem<br />
Tode, also auf die geistige Fortsetzung des Physischen; wir wollen<br />
uns bewusst werden, dass das physische Dasein hier eine<br />
Fortsetzung des Geistigen ist, dass wir durch Erziehung fortzusetzen<br />
haben dasjenige, was ohne unser zutun besorgt worden<br />
ist von höheren Wesen. Das wird unserem Erziehungs- und Unterrichtswesen<br />
allein die richtige Stimmung geben, wenn wir<br />
uns bewusst werden: Hier in diesem Menschenwesen hast du<br />
mit deinem Tun eine Fortsetzung zu leisten für dasjenige, was<br />
höhere Wesen vor der Geburt getan haben.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Man wird heute, wo die Menschen in ihren Gedanken und<br />
Empfindungen den Zusammenhang verloren haben mit den<br />
geistigen Welten, oftmals in abstrakter Art um etwas gefragt,<br />
was eigentlich als Frage einer geistigen Weltauffassung gegenüber<br />
keinen rechten Sinn hat. Man wird gefragt, wie man die<br />
sogenannte vorgeburtliche Erziehung leiten soll. Es gibt viele<br />
Menschen, die nehmen heute die Dinge abstrakt; wenn man die<br />
Dinge konkret nimmt, kann man das Fragen in gewissen Gebieten<br />
nicht in beliebiger Weise weitertreiben. Ich habe einmal das<br />
Beispiel erwähnt: Man sieht auf einer Straße Furchen. Da kann<br />
man fragen: Woher sind sie? - Weil ein Wagen gefahren ist. -<br />
Warum ist der Wagen gefahren? - Weil die, die darin sitzen,<br />
einen bestimmten Ort erreichen wollten. - Warum wollten sie<br />
einen bestimmten Ort erreichen? - Einmal hört in der Wirklichkeit<br />
die Fragestellung auf. Bleibt man im Abstrakten, so<br />
kann man immer weiter fragen: warum? Man kann das Rad des<br />
Fragens immerfort weiter drehen. Das konkrete Denken findet<br />
immer ein Ende, das abstrakte Denken läuft mit dem Gedanken<br />
immer endlos wie ein Rad herum. So ist es auch mit den Fragen,<br />
die über nicht so naheliegende Gebiete gestellt werden. Die<br />
Menschen denken über Erziehung nach und fragen über die<br />
vorgeburtliche Erziehung. Aber, meine lieben Freunde, vor der<br />
Geburt ist das Menschenwesen noch in der Hut über dem Physischen<br />
stehender Wesenheiten. Denen müssen wir die unmittelbare<br />
einzelne Beziehung überlassen zwischen der Welt und<br />
dem einzelnen Wesen. Daher hat die vorgeburtliche Erziehung<br />
noch keine Aufgabe für das Kind selbst. Die vorgeburtliche Erziehung<br />
kann nur eine unbewusste Folge desjenigen sein, was<br />
die Eltern, insbesondere die Mutter, leisten. Verhält sich die<br />
Mutter bis zu der Geburt so, dass sie in sich selbst zum Ausdruck<br />
bringt dasjenige, was im rechten Sinn moralisch und intellektuell<br />
das Richtige ist, so wird ganz von selbst das, was sie<br />
in fortgesetzter Selbsterziehung vollbringt übergehen auf das<br />
Kind. Je weniger man daran denkt, das Kind, schon bevor es das<br />
Licht der Welt erblickt, zu erziehen, und je mehr man daran<br />
denkt, selbst ein entsprechend rechtes Leben zu führen, desto<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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besser wird es für das Kind sein. Die Erziehung kann erst angehen,<br />
wenn das Kind wirklich eingegliedert-ist in die Weltenordnung<br />
des physischen Planes, und das ist dann, wenn das<br />
Kind beginnt die äußere Luft zu atmen.<br />
Wenn nun das Kind auf den physischen Plan herausgetreten ist,<br />
dann müssen wir uns bewusst sein, was eigentlich für das Kind<br />
geschehen ist im Übergang von einem geistigen zu einem physischen<br />
Plan. Sehen Sie, da müssen wir vor allen Dingen uns bewusst<br />
werden, dass sich das Menschenwesen wirklich aus zwei<br />
Gliedern zusammensetzt. Bevor das Menschenwesen die physische<br />
Erde betritt, wird eine Verbindung eingegangen zwischen<br />
dem Geist und der Seele; dem Geist, insofern wir darunter verstehen<br />
dasjenige, was in der physischen Welt heute noch ganz<br />
verborgen ist und was wir anthroposophischgeisteswissenschaftlich<br />
nennen: der Geistesmensch, der Lebensgeist,<br />
das Geistselbst. Mit diesen drei Wesensgliedern des Menschen<br />
ist es ja so, dass sie gewissermaßen in der übersinnlichen<br />
Sphäre vorhanden sind, zu der wir uns nun hindurcharbeiten<br />
müssen, und wir stehen zwischen dem Tod und einer neuen<br />
Geburt schon in einer gewissen Beziehung zu Geistesmensch,<br />
Lebensgeist und Geistselbst. Die Kraft, die von dieser Dreiheit<br />
ausgeht, die durchdringt das Seelische des Menschen: Bewusstseinsseele,<br />
Verstandes- oder Gemütsseele und Empfindungsseele.<br />
Und wenn Sie betrachten würden das Menschenwesen, das sich<br />
anschickt, nachdem es durchgegangen ist durch das Dasein zwischen<br />
Tod und neuer Geburt, in die physische Welt hinunterzusteigen,<br />
dann würden Sie das eben charakterisierte Geistige zusammengebunden<br />
finden mit dem Seelischen. Der Mensch<br />
steigt gewissermaßen als Geistseele oder Seelengeist aus einer<br />
höheren Sphäre in das irdische Dasein. Mit dem irdischen Dasein<br />
umkleidet er sich. Wir können ebenso dieses andere Wesensglied,<br />
das sich mit dem eben gekennzeichneten verbindet,<br />
charakterisieren, wir können sagen: Da unten auf der Erde wird<br />
der Geistseele entgegengebracht dasjenige, was entsteht durch<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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die Vorgänge der physischen Vererbung. Nun wird an den Seelengeist<br />
oder die Geistseele der Körperleib oder der Leibeskörper<br />
so herangebracht, dass wiederum zwei Dreiheiten verbunden<br />
sind. Bei der Geistseele sind verbunden Geistesmensch, Lebensgeist<br />
und Geistselbst mit dem Seelischen, das besteht aus<br />
Bewusstseinsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Empfindungsseele.<br />
Die sind miteinander verbunden und sollen sich<br />
verbinden beim Herabsteigen in die physische Welt mit Empfindungsleib<br />
oder Astralleib, Ätherleib, physischen Leib. Aber<br />
diese sind ihrerseits wiederum verbunden zuerst im Leibe der<br />
Mutter, dann in der physischen Welt mit den drei Reichen der<br />
physischen Welt, dem mineralischen, dem Pflanzen- und dem<br />
Tierreich, so dass auch hier zwei Dreiheiten miteinander verbunden<br />
sind.<br />
Betrachten Sie das Kind, das hereingewachsen ist in die Welt,<br />
mit der genügenden Unbefangenheit, so werden Sie richtig<br />
wahrnehmen: Hier in dem Kind ist noch unverbunden Seelengeist<br />
oder Geistseele mit Leibeskörper oder Körperleib. Die Aufgabe<br />
der Erziehung, im geistigen Sinn erfasst, bedeutet das In-<br />
Einklang-Versetzen des Seelengeistes mit dem Körperleib oder<br />
dem Leibeskörper. Die müssen miteinander in Harmonie kommen,<br />
müssen aufeinander gestimmt werden, denn die passen<br />
gewissermaßen, indem das Kind hereingeboren wird in die physische<br />
Welt, noch nicht zusammen. Die Aufgabe des Erziehers<br />
und auch des Unterrichters ist das Zusammenstimmen dieser<br />
zwei Glieder.<br />
Nun, fassen wir diese Aufgabe etwas mehr im Konkreten. Unter<br />
all diesen Beziehungen, welche der Mensch zur Außenwelt hat,<br />
ist die allerwichtigste das Atmen. Aber das Atmen beginnen wir<br />
ja gerade, indem wir die physische Welt betreten. Das Atmen<br />
im Mutterleib ist noch sozusagen ein vorbereitendes Atmen, es<br />
bringt den Menschen noch nicht in vollkommenen Zusammenhang<br />
mit der Außenwelt. Dasjenige, was im rechten Sinn Atmen<br />
genannt werden soll, beginnt der Mensch erst, wenn er<br />
den Mutterleib verlassen hat. Dieses Atmen bedeutet sehr, sehr<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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viel für die menschliche Wesenheit, denn in diesem Atmen liegt<br />
ja schon das ganze dreigliedrige System des physischen Menschen.<br />
Wir rechnen zu den Gliedern des dreigliedrigen physischen<br />
Menschensystems zunächst den Stoffwechsel. Aber der Stoffwechsel<br />
hängt an dem einen Ende mit dem Atmen innig zusammen;<br />
der Atmungsprozess hängt stoffwechselmäßig mit der<br />
Blutzirkulation zusammen. Die Blutzirkulation nimmt die auf<br />
anderem Wege eingeführten Stoffe der äußeren Welt auf in den<br />
menschlichen Körper, so dass gewissermaßen auf der einen Seite<br />
das Atmen mit dem ganzen Stoffwechselsystem zusammenhängt.<br />
Das Atmen hat also seine eigenen Funktionen, aber es<br />
hängt doch auf der einen Seite mit dem Stoffwechselsystem zusammen.<br />
Auf der anderen Seite hängt dieses Atmen auch zusammen mit<br />
dem Nerven-Sinnesleben des Menschen. Indem wir einatmen,<br />
pressen wir fortwährend das Gehirnwasser in das Gehirn hinein;<br />
indem wir ausatmen, prellen wir es zurück in den Körper.<br />
Dadurch verpflanzen wir den Atmungsrhythmus auf das Gehirn.<br />
Und wie das Atmen zusammenhängt auf der einen Seite<br />
mit dem Stoffwechsel, so hängt es auf der anderen Seite zusammen<br />
mit dem Nerven-Sinnesleben. Wir können sagen: Das Atmen<br />
ist der wichtigste Vermittler des die physische Welt betretenden<br />
Menschen mit der physischen Außenwelt. Aber wir<br />
müssen uns auch bewusst sein, dass dieses Atmen durchaus<br />
noch nicht so verläuft, wie es zum Unterhalt des physischen Lebens<br />
beim Menschen voll verlaufen muss, namentlich nach der<br />
einen Seite nicht: es ist beim Menschen, der das physische Dasein<br />
betritt, noch nicht die richtige Harmonie, der rechte Zusammenhang<br />
hergestellt zwischen dem Atmungsprozess und<br />
dem Nerven-Sinnesprozess.<br />
Betrachten wir das Kind, so müssen wir in bezug auf sein Wesen<br />
sagen: Das Kind hat noch nicht so atmen gelernt, dass das Atmen<br />
in der richtigen Weise den Nerven-Sinnesprozess unterhält.<br />
Da liegt wiederum die feinere Charakteristik desjenigen,<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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was mit dem Kind zu tun ist. Wir müssen zunächst die Menschenwesenheit<br />
anthropologisch-anthroposophisch verstehen.<br />
Die wichtigsten Maßnahmen in der Erziehung werden daher<br />
liegen in der Beobachtung alles desjenigen, was in der rechten<br />
Weise den Atmungsprozess hineinorganisiert in den Nerven-<br />
Sinnesprozess. Im höheren Sinne muss das Kind lernen, in seinen<br />
Geist aufzunehmen dasjenige, was ihm geschenkt werden<br />
kann dadurch, dass es geboren wird zum Atmen. Sie sehen, dieser<br />
Teil der Erziehung wird hinneigen zu dem Geistig-<br />
Seelischen: dadurch, dass wir harmonisieren das Atmen mit dem<br />
Nerven-Sinnesprozeß, ziehen wir das Geistig-Seelische in das<br />
physische Leben des Kindes herein. Grob ausgedrückt, können<br />
wir sagen: Das Kind kann noch nicht innerlich richtig atmen,<br />
und die Erziehung wird darin bestehen müssen, richtig atmen<br />
zu lehren.<br />
Aber das Kind kann noch etwas anderes nicht richtig, und dieses<br />
andere muss in Angriff genommen werden, damit ein Einklang<br />
geschaffen werde zwischen den zwei Wesensgliedern,<br />
zwischen dem Körperleib und zwischen der Geistseele. Was das<br />
Kind nicht richtig kann im Anfang seines Daseins - es wird Ihnen<br />
auffallen, dass gewöhnlich das, was wir geistig betonen<br />
müssen, der äußeren Weltenordnung zu widersprechen scheint<br />
-, was das Kind nicht richtig kann, das ist, den Wechsel zwischen<br />
Schlafen und Wachen in einer dem Menschenwesen entsprechenden<br />
Weise zu vollziehen. Man kann freilich sagen, äußerlich<br />
betrachtet: Das Kind kann ja ganz gut schlafen; es<br />
schläft ja viel mehr als der Mensch im späteren Lebensalter, es<br />
schläft sogar in das Leben herein. - Aber das, was innerlich dem<br />
Schlafen und Wachen zugrunde liegt, das kann es noch nicht.<br />
Das Kind erlebt allerlei auf dem physischen Plan. Es gebraucht<br />
seine Glieder, es isst, trinkt und atmet. Aber indem es so allerlei<br />
macht auf dem physischen Plan, indem es abwechselt zwischen<br />
Schlafen und Wachen, kann es nicht alles dasjenige, was es auf<br />
dem physischen Plan erfährt - was es mit den Augen sieht, den<br />
Ohren hört, den Händchen vollbringt, wie es mit den Beinchen<br />
strampelt -, es kann nicht das, was es auf dem physischen Plan<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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erlebt, hineintragen in die geistige Welt und dort verarbeiten<br />
und das Ergebnis der Arbeit wieder zurücktragen auf den physischen<br />
Plan. Sein Schlaf ist gerade dadurch charakterisiert, dass<br />
er ein anderer Schlaf ist als der Schlaf der Erwachsenen. Im<br />
Schlafe des Erwachsenen wird vorzugsweise das verarbeitet, was<br />
der Mensch erfährt zwischen dem Aufwachen und dem Einschlafen.<br />
Das Kind kann das noch nicht in den Schlaf hineintragen,<br />
was es erfährt zwischen Aufwachen und Einschlafen, und<br />
es lebt sich daher noch so in die allgemeine Weltenordnung mit<br />
dem Schlafen hinein, dass es nicht mitbringt in diese Weltenordnung<br />
während des Schlafes dasjenige, was es äußerlich in der<br />
physischen Welt erfahren hat. Dahin muss es gebracht werden<br />
durch die richtiggehende Erziehung, dass das, was der Mensch<br />
auf dem physischen Plan erfährt, hineingetragen wird in dasjenige,<br />
was der Seelengeist oder die Geistseele tut vom Einschlafen<br />
bis zum Aufwachen. Wir können als Unterrichter und Erzieher<br />
dem Kinde gar nichts von der höheren Welt beibringen.<br />
Denn dasjenige, was in den Menschen von der höheren Welt<br />
hineinkommt, das kommt hinein in der Zeit vom Einschlafen<br />
bis zum Aufwachen. Wir können nur die Zeit, die der Mensch<br />
auf dem physischen Plan verbringt, so ausnützen, dass er gerade<br />
das, was wir mit ihm tun, allmählich hineintragen kann in die<br />
geistige Welt und dass durch dieses Hineintragen wiederum in<br />
die physische Welt zurückfließen kann die Kraft, die er mitnehmen<br />
kann aus der geistigen Welt, um dann im physischen<br />
Dasein ein rechter Mensch zu sein.<br />
So wird zunächst alle Unterrichts- und Erziehungstätigkeit gelenkt<br />
auf ein recht hohes Gebiet, auf das Lehren des richtigen<br />
Atmens und auf das Lehren des richtigen Rhythmus im Abwechseln<br />
zwischen Schlafen und Wachen. Wir werden selbstverständlich<br />
solche Verhaltungsmaßregeln beim Erziehen und<br />
Unterrichten kennenlernen, die nicht etwa auf eine Dressur des<br />
Atmens hinauslaufen oder auf eine Dressur von Schlafen und<br />
Wachen. Das wird alles nur im Hintergrund stehen. Das, was<br />
wir kennenlernen werden, werden konkrete Maßregeln sein.<br />
Aber wir müssen uns bis in die Fundamente hinein bewusst sein<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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dessen, was wir tun. So werden wir uns bewusst werden müssen,<br />
wenn wir einem Kinde diesen oder jenen Lehrgegenstand<br />
beibringen, dass wir dann in der einen Richtung wirken auf das<br />
mehr in den physischen Leib Hineinbringen der Geistseele und<br />
in der anderen Richtung mehr auf das Hereinbringen der Körperleiblichkeit<br />
in die Geistseele.<br />
Unterschätzen wir nicht, dass das wichtig ist, was jetzt gesagt<br />
ist, denn Sie werden nicht gute Erzieher und Unterrichter werden,<br />
wenn Sie bloß auf dasjenige sehen werden, was Sie tun,<br />
wenn Sie nicht auf dasjenige sehen werden, was Sie sind. Wir<br />
haben ja die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft<br />
eigentlich aus dem Grunde, um die Bedeutsamkeit dieser Tatsache<br />
einzusehen, dass der Mensch in der Welt wirkt nicht nur<br />
durch dasjenige, was er tut, sondern vor allem durch dasjenige,<br />
was er ist. Es ist einmal ein großer Unterschied, meine lieben<br />
Freunde, ob der eine Lehrer in die Schule durch die Klassentür<br />
zu einer kleineren oder größeren Anzahl von Schülern hineingeht<br />
oder der andere Lehrer. Es ist ein großer Unterschied, und<br />
der liegt nicht bloß darin, dass der eine Lehrer geschickter ist,<br />
die äußerlichen pädagogischen Handgriffe so oder so zu machen,<br />
als der andere; sondern der hauptsächlichste Unterschied,<br />
der wirksam ist beim Unterricht, rührt her von dem, was der<br />
Lehrer in der ganzen Zeit seines Daseins an Gedankenrichtung<br />
hat, die er durch die Klassentür hereinträgt. Ein Lehrer, der sich<br />
beschäftigt mit Gedanken vom werdenden Menschen, wirkt<br />
ganz anders auf die Schüler als ein Lehrer, der von alledem<br />
nichts weiß, der niemals seine Gedanken dahin lenkt. Denn was<br />
geschieht in dem Augenblick, wo Sie über solche Gedanken<br />
nachdenken, das heißt, wo Sie anfangen zu wissen, welche<br />
kosmische Bedeutung der Atmungsprozess und seine Umwandlung<br />
in der Erziehung hat, welche kosmische Bedeutung der<br />
Rhythmusprozess zwischen Schlafen und Wachen hat? In dem<br />
Augenblick, wo Sie solche Gedanken haben, bekämpft etwas in<br />
Ihnen alles das, was bloßer Persönlichkeitsgeist ist. In diesem<br />
Augenblick werden abgedämpft alle Instanzen, welche dem<br />
Persönlichkeitsgeist zugrunde liegen; es wird etwas von dem<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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ausgelöscht, was gerade am meisten vorhanden ist im Menschen<br />
dadurch, dass er ein physischer Mensch ist.<br />
Und indem Sie in diesem Ausgelöschtsein leben und hineingehen<br />
in das Klassenzimmer, kommt es durch innere Kräfte, dass<br />
sich ein Verhältnis herstellt zwischen den Schülern und Ihnen.<br />
Da kann es sein, dass die äußeren Tatsachen dem anfangs widersprechen.<br />
Sie gehen in die Schule hinein, und vielleicht haben<br />
Sie Rangen und Ranginnen vor sich, die Sie auslachen. Sie müssen<br />
so gestärkt sein durch solche Gedanken, wie wir sie hier<br />
pflegen wollen, dass Sie gar nicht achten dieses Auslachens, dass<br />
Sie es hinnehmen wie eine äußere Tatsache, ich will sagen wie<br />
die Tatsache, dass es, während Sie ohne Regenschirm ausgegangen<br />
sind, plötzlich beginnt zu regnen. Gewiss, das ist eine unangenehme<br />
Überraschung. Aber gewöhnlich macht der Mensch<br />
selbst einen Unterschied zwischen dem Ausgelachtwerden und<br />
dem Überraschtwerden durch den Regen, wenn man keinen<br />
Schirm hat. Es darf kein Unterschied gemacht werden. Wir<br />
müssen so starke Gedanken entwickeln, dass dieser Unterschied<br />
nicht gemacht wird, dass wir dieses Ausgelachtwerden wie einen<br />
Regenguss hinnehmen. Wenn wir durchdrungen sind von<br />
diesen Gedanken, und namentlich den rechten Glauben an sie<br />
haben, dann wird das über uns kommen, was vielleicht erst<br />
nach acht Tagen, vielleicht erst nach vierzehn Tagen, vielleicht<br />
nach noch längerer Zeit eintritt - wenn wir noch so sehr ausgelacht<br />
werden von den Kindern: dass wir ein Verhältnis zu den<br />
Kindern herstellen, das wir für das Wünschenswerte halten.<br />
Wir müssen dieses Verhältnis auch gegen Widerstand herstellen<br />
durch das, was wir aus uns selbst machen. Und wir müssen uns<br />
vor allen Dingen der ersten pädagogischen Aufgabe bewusst<br />
werden, dass wir erst selbst aus uns etwas machen müssen, dass<br />
eine gedankliche, dass eine innere spirituelle Beziehung<br />
herrscht zwischen dem Lehrer und den Kindern, und dass wir<br />
in das Klassenzimmer eintreten in dem Bewusstsein: Diese spirituelle<br />
Beziehung ist da, nicht bloß die Worte, die Ermahnungen,<br />
die ich die Kinder erfahren lasse, die Geschicklichkeit im<br />
Unterrichten wird da sein. Das alles sind Äußerlichkeiten, die<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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wir gewiss pflegen müssen; aber wir werden sie nicht richtig<br />
pflegen, wenn wir nicht als Grundtatsache herstellen das ganze<br />
Verhältnis zwischen den Gedanken, die uns selbst erfüllen, und<br />
den Tatsachen, die während des Unterrichts an Leib und Seele<br />
der Kinder vor sich gehen sollen. Unsere ganze Haltung im Unterrichten<br />
würde nicht vollständig sein, wenn wir nicht das Bewusstsein<br />
in uns tragen würden: der Mensch wurde geboren;<br />
dadurch wurde ihm die Möglichkeit gegeben, dasjenige zu tun,<br />
was er nicht konnte in der geistigen Welt. Wir müssen erziehen<br />
und unterrichten, der Atmung erst die richtige Harmonie geben<br />
zur geistigen Welt. Der Mensch konnte nicht in derselben Weise<br />
den rhythmischen Wechsel vollziehen zwischen Wachen<br />
und Schlafen in der geistigen Welt wie in der physischen Welt.<br />
Wir müssen diesen Rhythmus so regeln durch Erziehung und<br />
Unterricht, dass in der rechten Weise im Menschen eingegliedert<br />
werde Körperleib oder Leibeskörper in Seelengeist oder<br />
Geistseele. Das ist etwas, was wir selbstverständlich nicht so wie<br />
eine Abstraktion vor uns haben und als solche unmittelbar im<br />
Unterricht verwenden sollen, aber als Gedanke von der<br />
menschlichen Wesenheit muss es uns beherrschen.<br />
Das wollte ich Ihnen in dieser Einleitung sagen, und wir wollen<br />
morgen mit der eigentlichen Pädagogik beginnen.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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ZWEITER VORTRAG<br />
22. AUGUST 1919, STUTTGART<br />
Jeder Unterricht in der Zukunft wird gebaut werden müssen auf<br />
eine wirkliche Psychologie, welche herausgeholt ist aus anthroposophischer<br />
Welterkenntnis. Dass der Unterricht und das Erziehungswesen<br />
überhaupt auf Psychologie gebaut werden müsse,<br />
erkannte man selbstverständlich an den verschiedensten Orten,<br />
und Sie wissen ja wohl, dass zum Beispiel die in der Vergangenheit<br />
in sehr weiten Kreisen wirkende Herbartsche Pädagogik<br />
ihre Erziehungsmaßnahmen auf die Herbartsche Psychologie<br />
aufgebaut hat. Nun liegt heute und auch in der Vergangenheit<br />
der letzten Jahrhunderte eine gewisse Tatsache vor,<br />
welche eigentlich eine wirkliche, eine brauchbare Psychologie<br />
gar nicht aufkommen ließ. Das muss darauf zurückgeführt werden,<br />
dass in dem Zeitalter, in welchem wir jetzt sind, in dem<br />
Bewusstseinsseelenzeitalter, bisher noch nicht eine solche geistige<br />
Vertiefung erreicht worden ist, dass man wirklich zu einer<br />
tatsächlichen Erfassung der menschlichen Seele hätte kommen<br />
können. Diejenigen Begriffe aber, die man sich früher auf psychologischem<br />
Gebiete, auf dem Gebiete der Seelenkunde gebildet<br />
hatte aus dem alten Wissen noch des vierten nachatlantischen<br />
Zeitraumes heraus, diese Begriffe sind eigentlich heute<br />
mehr oder weniger inhaltleer, sind zur Phrase geworden. Wer<br />
heute irgendeine Psychologie oder auch nur irgend etwas in die<br />
Hand nimmt, das mit Psychologiebegriffen zu tun hat, der wird<br />
finden, dass ein wirklicher Inhalt heute in solchen Schriftwerken<br />
nicht mehr drinnen ist. Man hat das Gefühl, dass die Psychologen<br />
nur mit Begriffen spielen. Wer entwickelt heute zum<br />
Beispiel einen richtigen deutlichen Begriff von dem, was Vorstellung,<br />
was Wille ist? Sie können heute Definition nach Definition<br />
aus Psychologien und Pädagogiken nehmen über Vorstellung,<br />
über Wille: eine eigentliche Vorstellung über die Vorstellung,<br />
eine eigentliche Vorstellung vom Willen werden Ihnen<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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diese Definitionen nicht geben können. Man hat eben vollständig<br />
versäumt - natürlich aus einer äußeren geschichtlichen<br />
Notwendigkeit heraus, den einzelnen Menschen anzuschließen<br />
auch seelisch an das ganze Weltenall. Man war nicht imstande<br />
zu begreifen, wie das Seelische des Menschen in Zusammenhang<br />
steht mit dem ganzen Weltenall. Erst dann, wenn man den<br />
Zusammenhang des einzelnen Menschen mit dem ganzen Weltenall<br />
ins Auge fassen kann, ergibt sich ja eine Idee von der Wesenheit<br />
Mensch als solcher.<br />
Sehen wir einmal auf das, was man gewöhnlich die Vorstellung<br />
nennt. Wir müssen ja Vorstellen, Fühlen und Wollen bei den<br />
Kindern entwickeln. Also wir müssen zunächst für uns einen<br />
deutlichen Begriff gewinnen von dem, was Vorstellung ist. Wer<br />
wirklich unbefangen das anschaut, was als Vorstellung im Menschen<br />
lebt, dem wird wohl sogleich der Bildcharakter der Vorstellung<br />
auffallen: Vorstellung hat einen Bildcharakter. Und wer<br />
einen Seins-Charakter in der Vorstellung sucht, wer eine wirkliche<br />
Existenz in der Vorstellung sucht, der gibt sich einer großen<br />
Illusion hin. Was sollte für uns aber auch Vorstellung sein,<br />
wenn sie ein Sein wäre? Wir haben zweifellos auch Seins-<br />
Elemente in uns. Nehmen Sie nur unsere leiblichen Seins-<br />
Elemente, nehmen Sie nur das, was ich jetzt sage, ganz grob:<br />
zum Beispiel Ihre Augen, die Seins-Elemente sind, Ihre Nase,<br />
die ein Seins-Element ist, oder auch Ihren Magen, der ein Seins-<br />
Element ist. Sie werden sich sagen, in diesen Seins-Elementen<br />
leben Sie zwar, aber Sie können mit ihnen nicht vorstellen. Sie<br />
fließen mit Ihrem eigenen Wesen in die Seins-Elemente aus, Sie<br />
identifizieren sich mit den Seins-Elementen. Gerade das ergibt<br />
die Möglichkeit, dass wir mit den Vorstellungen etwas ergreifen,<br />
etwas erfassen können, dass sie Bildcharakter haben, dass<br />
sie nicht so mit uns zusammenfließen, dass wir in ihnen sind.<br />
Sie sind also eigentlich nicht, sie sind bloße Bilder. Es ist der<br />
große Fehler gerade im Ausgange der letzten Entwickelungsepoche<br />
der Menschheit in den letzten Jahrhunderten gemacht<br />
worden, das Sein mit dem Denken als solchem zu identifizieren.<br />
«Cogito, ergo sum» ist der größte Irrtum, der an die Spitze der<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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neueren Weltanschauung gestellt worden ist; denn in dem ganzen<br />
Umfange des «cogito» liegt nicht das «sum», sondern das<br />
«non sum». Das heißt, soweit meine Erkenntnis reicht, bin ich<br />
nicht, sondern ist nur Bild.<br />
Nun müssen Sie, wenn Sie den Bildcharakter des Vorstellens ins<br />
Auge fassen, ihn vor allem qualitativ ins Auge fassen. Sie müssen<br />
auf die Beweglichkeit des Vorstellens sehen, müssen sich gewissermaßen<br />
einen nicht ganz zutreffenden Begriff vom Tätigsein<br />
machen, was ja anklingen würde an das Sein. Aber wir müssen<br />
uns vorstellen, dass wir auch im gedanklichen Tätigsein nur eine<br />
bildhafte Tätigkeit haben. Also alles, was auch nur Bewegung<br />
ist im Vorstellen, ist Bewegung von Bildern. Aber Bilder müssen<br />
Bilder von etwas sein, können nicht Bilder bloß an sich sein.<br />
Wenn Sie reflektieren auf den Vergleich mit den Spiegelbildern,<br />
so können Sie sich sagen: Aus dem Spiegel heraus erscheinen<br />
zwar die Spiegelbilder, aber alles, was in den Spiegelbildern<br />
liegt, ist nicht hinter dem Spiegel, sondern ganz unabhängig von<br />
ihm irgend woanders vorhanden, und es ist für den Spiegel<br />
ziemlich gleichgültig, was sich in ihm spiegelt; es kann sich alles<br />
mögliche in ihm spiegeln. –<br />
Wenn wir genau in diesem Sinne von der vorstellenden Tätigkeit<br />
wissen, dass sie bildhaft ist, so handelt es sich darum, zu<br />
fragen: Wovon ist das Vorstellen Bild? Darüber gibt natürlich<br />
keine äußere Wissenschaft Auskunft; darüber kann nur anthroposophisch<br />
orientierte Wissenschaft Auskunft geben. Vorstellen<br />
ist Bild von all den Erlebnissen, die vorgeburtlich beziehungsweise<br />
vor der Empfängnis von uns erlebt sind. Sie kommen<br />
nicht anders zu einem wirklichen Begreifen des Vorstellens, als<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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wenn Sie sich darüber klar sind, dass Sie ein Leben vor der Geburt,<br />
vor der Empfängnis durchlebt haben. Und so wie die gewöhnlichen<br />
Spiegelbilder räumlich als Spiegelbilder entstehen,<br />
so spiegelt sich Ihr Leben zwischen Tod und neuer Geburt in<br />
dem jetzigen Leben drinnen, und diese Spiegelung ist das Vorstellen.<br />
Also Sie müssen sich geradezu vorstellen - wenn Sie es<br />
sich bildhaft vorstellen, Ihren Lebensgang verlaufend zwischen<br />
den beiden horizontalen Linien, begrenzt rechts und links<br />
durch Geburt und Tod. Sie müssen sich dann weiter vorstellen,<br />
dass fortwährend von jenseits der Geburt das Vorstellen hereinspielt<br />
und durch die menschliche Wesenheit selber zurückgeworfen<br />
wird. Und auf diese Weise, indem die Tätigkeit, die Sie<br />
vor der Geburt beziehungsweise der Empfängnis ausgeführt haben<br />
in der geistigen Welt, zurückgeworfen wird durch Ihre<br />
Leiblichkeit, dadurch erfahren Sie das Vorstellen. Für wirklich<br />
Erkennende ist einfach das Vorstellen selbst ein Beweis des vorgeburtlichen<br />
Daseins, weil es Bild dieses vorgeburtlichen Daseins<br />
ist.<br />
Ich wollte dies zunächst als Idee hinstellen - wir kommen auf<br />
die eigentlichen Erläuterungen der Dinge noch zurück - um Sie<br />
darauf aufmerksam zu machen, dass wir auf diese Weise aus den<br />
bloßen Worterklärungen, die Sie in den Psychologien und Pädagogiken<br />
finden, herauskommen und dass wir zu einem wirklichen<br />
Ergreifen dessen, was vorstellende Tätigkeit ist, kommen,<br />
indem wir wissen lernen, dass wir im Vorstellen die Tätigkeit<br />
gespiegelt haben, die vor der Geburt oder Empfängnis von der<br />
Seele in der rein geistigen Welt ausgeübt worden ist. Alles übrige<br />
Definieren des Vorstellens nützt gar nichts, weil man keine<br />
wirkliche Idee von dem bekommt, was das Vorstellen in uns ist.<br />
Nun wollen wir uns in derselben Art nach dem Willen fragen.<br />
Der Wille ist eigentlich für das gewöhnliche Bewusstsein etwas<br />
außerordentlich Rätselhaftes; er ist eine Crux der Psychologen,<br />
einfach aus dem Grunde, weil dem Psychologen der Wille<br />
entgegentritt als etwas sehr Reales, aber im Grunde genommen<br />
doch keinen rechten Inhalt hat. Denn wenn Sie bei den Psycho-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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logen nachsehen, welchen Inhalt sie dem Willen verleihen,<br />
dann werden Sie immer finden: solcher Inhalt rührt vom Vorstellen<br />
her. Für sich selber hat der Wille zunächst einen eigentlichen<br />
Inhalt nicht. Nun ist es wiederum so, dass keine Definitionen<br />
da sind für den Willen; diese Definitionen sind beim Willen<br />
umso schwieriger, weil er keinen rechten Inhalt hat. Was ist<br />
er aber eigentlich? Er ist nichts anderes, als schon der Keim in<br />
uns für das, was nach dem Tode in uns geistig-seelische Realität<br />
sein wird. Also wenn Sie sich vorstellen, was nach dem Tode<br />
geistig-seelische Realität von uns wird, und wenn Sie es sich<br />
keimhaft in uns vorstellen, dann bekommen Sie den Willen. In<br />
unserer Zeichnung endet der Lebenslauf auf der Seite des Todes,<br />
und der Wille geht darüber hinaus.<br />
Wir haben uns also vorzustellen: Vorstellung auf der einen Seite,<br />
die wir als Bild aufzufassen haben vom vorgeburtlichen Leben;<br />
Willen auf der anderen Seite, den wir als Keim aufzufassen<br />
haben für späteres. Ich bitte, den Unterschied zwischen Keim<br />
und Bild recht ins Auge zu fassen. Denn ein Keim ist etwas<br />
Überreales, ein Bild ist etwas Unterreales; ein Keim wird später<br />
erst zu einem Realen, trägt also der Anlage nach das spätere<br />
Reale in sich, so dass der Wille in der Tat sehr geistiger Natur<br />
ist. Das hat Schopenhauer geahnt; aber er konnte natürlich<br />
nicht bis zu der Erkenntnis vordringen, dass der Wille der Keim<br />
des Geistig-Seelischen ist, wie dieses Geistig-Seelische sich nach<br />
dem Tode in der geistigen Welt entfaltet.<br />
Nun haben Sie in einer gewissen Weise das menschliche Seelenleben<br />
in zwei Gebiete zerteilt: in das bildhafte Vorstellen und in<br />
den keimhaften Willen; und zwischen Bild und Keim liegt eine<br />
Grenze. Diese Grenze ist das ganze Ausleben des physischen<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Menschen selbst, der das Vorgeburtliche zurückwirft, dadurch<br />
die Bilder der Vorstellung erzeugt, und der den Willen nicht<br />
sieh ausleben lässt und dadurch ihn fortwährend als Keim erhält,<br />
bloß Keim sein lässt. Durch welche Kräfte, so müssen wir<br />
fragen, geschieht denn das eigentlich?<br />
Wir müssen uns klar sein, dass im Menschen gewisse Kräfte<br />
vorhanden sein müssen, durch welche die Zurückwerfung der<br />
vorgeburtlichen Realität und das Im-Keime-Behalten der nachtodlichen<br />
Realität bewirkt wird; und hier kommen wir auf die<br />
wichtigsten psychologischen Begriffe von den Tatsachen, die<br />
Spiegelung desjenigen sind, was Sie aus dem Buche «Theosophie»<br />
schon kennen: Spiegelungen von Antipathie und Sympathie.<br />
Wir werden - und jetzt knüpfen wir an das im ersten Vortrage<br />
Gesagte an -, weil wir nicht mehr in der geistigen Welt<br />
bleiben können, herunterversetzt in die physische Welt.<br />
Wir entwickeln, indem wir in diese herunterversetzt werden,<br />
gegen alles, was geistig ist, Antipathie, so dass wir die geistige<br />
vorgeburtliche Realität zurückstrahlen in einer uns unbewussten<br />
Antipathie. Wir tragen die Kraft der Antipathie in uns und<br />
verwandeln durch sie das vorgeburtliche Element in ein bloßes<br />
Vorstellungsbild. Und mit demjenigen, was als Willensrealität<br />
nach dem Tode hinausstrahlt zu unserem Dasein, verbinden wir<br />
uns in Sympathie. Dieser zwei, der Sympathie und der Antipathie,<br />
werden wir uns nicht unmittelbar bewusst, aber sie leben<br />
in uns unbewusst und sie bedeuten unser Fühlen, das fortwährend<br />
aus einem Rhythmus, aus einem Wechselspiel zwischen<br />
Sympathie und Antipathie sich zusammensetzt.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Wir entwickeln in uns die Gefühlswelt, die ein fortwährendes<br />
Wechselspiel - Systole, Diastole - zwischen Sympathie und Antipathie<br />
ist. Dieses Wechselspiel ist fortwährend in uns. Die Antipathie,<br />
die nach der einen Seite geht, verwandelt fortwährend<br />
unser Seelenleben in ein vorstellendes; die Sympathie, die nach<br />
der anderen Seite geht, verwandelt uns das Seelenleben in las,<br />
was wir als unseren Tatwillen kennen, in das Keimhafthalten<br />
dessen, was nach dem Tode geistige Realität ist. Hier kommen<br />
Sie zum realen Verstehen des geistig-seelischen Lebens: wir<br />
schaffen den Keim des seelischen Lebens als einen Rhythmus<br />
von Sympathie und Antipathie.<br />
Was strahlen Sie nun in der Antipathie zurück? Sie strahlen Das<br />
ganze Leben, das Sie durchlebt, die ganze Welt, die Sie vor der<br />
Geburt beziehungsweise vor der Empfängnis durchlebt haben,<br />
zurück.<br />
Das hat im wesentlichen einen erkennenden Charakter. Also<br />
Ihre Erkenntnis verdanken Sie eigentlich dem Hereinschauen,<br />
dem Hereinstrahlen Ihres vorgeburtlichen Lebens.<br />
Und dieses Erkennen, das in weit höherem Maße vorhanden ist,<br />
als Realität vorhanden ist vor der Geburt oder der Empfängnis,<br />
wird abgeschwächt zum Bilde durch die Antipathie. Daher<br />
können wir sagen: Dieses Erkennen begegnet der Antipathie<br />
und wird dadurch abgeschwächt zum Vorstellungsbild.<br />
Wenn die Antipathie nun genügend stark wird, dann tritt etwas<br />
ganz Besonderes ein. Denn wir könnten auch im gewöhnlichen<br />
Leben nach der Geburt nicht vorstellen, wenn wir es nicht doch<br />
auch mit derselben Kraft in gewissem Sinn täten, die uns geblieben<br />
ist aus der Zeit vor der Geburt. Wenn Sie heute als physische<br />
Menschen vorstellen, so stellen Sie nicht mit einer Kraft<br />
vor, die in Ihnen ist, sondern mit der Kraft aus der Zeit vor der<br />
Geburt, die noch in Ihnen nachwirkt. Man meint vielleicht, die<br />
habe aufgehört mit der Empfängnis, aber sie ist noch immer tätig,<br />
und wir stellen vor mit dieser Kraft, die noch immer in uns<br />
hereinstrahlt. Sie haben das Lebendige vom Vorgeburtlichen<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
fortwährend in sich, nur haben Sie die Kraft in sich, es zurückzustrahlen.<br />
Die begegnet Ihrer Antipathie. Wenn Sie nun jetzt<br />
vorstellen, so begegnet jedes solche Vorstellen der Antipathie,<br />
und wird die Antipathie genügend stark, so entsteht das Erinnerungsbild,<br />
das Gedächtnis, so dass das Gedächtnis nichts anderes<br />
ist als ein Ergebnis der in uns waltenden Antipathie. Hier haben<br />
Sie den Zusammenhang zwischen dem rein Gefühlsmäßigen<br />
noch der Antipathie, die unbestimmt noch zurückstrahlt, und<br />
dem bestimmten Zurückstrahlen, dem Zurückstrahlen der jetzt<br />
noch bildhaft ausgeübten Wahrnehmungstätigkeit im Gedächtnis.<br />
Das Gedächtnis ist nur gesteigerte Antipathie. Sie könnten<br />
kein Gedächtnis haben, wenn Sie zu Ihren Vorstellungen so<br />
große Sympathie hätten, dass Sie sie «verschlucken» würden; Sie<br />
haben Gedächtnis nur dadurch, dass Sie eine Art Ekel haben vor<br />
den Vorstellungen, sie zurückwerfen - und dadurch sie präsent<br />
machen. Das ist ihre Realität.<br />
Wenn Sie diese ganze Prozedur durchgemacht haben, wenn Sie<br />
bildhaft vorgestellt haben, dies zurückgeworfen haben im Gedächtnis<br />
und das Bildhafte festhalten, dann entsteht der Begriff.<br />
Auf diese Weise haben Sie die eine Seite der Seelentätigkeit, die<br />
Antipathie, die zusammenhängt mit unserem vorgeburtlichen<br />
Leben.<br />
Jetzt nehmen wir die andere Seite, die des Wollens, was Keimhaftes,<br />
Nachtodliches in uns ist. Das Wollen lebt in uns, weil<br />
wir mit ihm Sympathie haben, weil wir mit diesem Keim, der<br />
nach dem Tode sich erst entwickelt, Sympathie haben. Ebenso<br />
wie das Vorstellen auf Antipathie beruht, so beruht das Wollen<br />
auf Sympathie. Wird nun die Sympathie genügend stark - wie es<br />
bei der Vorstellung war, die durch Antipathie zum Gedächtnis<br />
wird, dann entsteht aus Sympathie die Phantasie. Genau ebenso<br />
wie aus der Antipathie das Gedächtnis entsteht, so entsteht aus<br />
Sympathie die Phantasie. Und bekommen Sie die Phantasie genügend<br />
stark, was beim gewöhnlichen Leben nur unbewusst<br />
geschieht, wird sie so stark, dass sie wieder Ihren ganzen Menschen<br />
durchdringt bis in die Sinne, dann bekommen Sie die ge-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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wöhnlichen Imaginationen, durch die Sie die äußeren Dinge<br />
vorstellen. Wie der Begriff aus dem Gedächtnis, so geht aus der<br />
Phantasie die Imagination hervor, welche die sinnlichen Anschauungen<br />
liefert. Die gehen aus dem Willen hervor.<br />
Es ist der große Irrtum, dem sich die Menschen hingeben, dass<br />
sie fortwährend in der Psychologie erzählen: Wir schauen die<br />
Dinge an, dann abstrahieren wir und bekommen so die Vorstellung.<br />
Das ist nicht der Fall. Dass wir zum Beispiel die Kreide<br />
weiß empfinden, das ist hervorgegangen aus der Anwendung<br />
des Willens, der über die Sympathie und Phantasie zur Imagination<br />
wird. Wenn wir uns dagegen einen Begriff bilden, so hat<br />
dieser einen ganz anderen Ursprung, denn der Begriff geht aus<br />
dem Gedächtnis hervor.<br />
Damit habe ich Ihnen das Seelische geschildert. Sie können unmöglich<br />
das Menschenwesen erfassen, wenn Sie nicht den Unterschied<br />
ergreifen zwischen dem sympathischen und antipathischen<br />
Element im Menschen. Diese, das sympathische und das<br />
antipathische Element, kommen zum Ausdruck an sich - wie<br />
ich es geschildert habe - in der Seelenwelt nach dem Tode. Dort<br />
herrscht unverhüllt Sympathie und Antipathie.<br />
Alles Seelische drückt sich aus, offenbart sich im Leiblichen, so<br />
dass sich auf der einen Seite alles das im Leiblichen offenbart,<br />
was sich ausdrückt in Antipathie, Gedächtnis und Begriff. Das<br />
ist gebunden an die Leibesorganisation der Nerven. Indem die<br />
Nervenorganisationen gebildet werden im Leibe, wirkt darin für<br />
den menschlichen Leib alles Vorgeburtliche. Das seelisch Vorgeburtliche<br />
wirkt durch Antipathie, Gedächtnis und Begriff<br />
herein in den menschlichen Leib und schafft sich die Nerven.<br />
Das ist der richtige Begriff der Nerven. Alles Reden von einer<br />
Unterscheidung der Nerven in sensitive und motorische ist, wie<br />
ich Ihnen schon öfter auseinandergesetzt habe, nur ein Unsinn.<br />
Und ebenso wirkt Wollen, Sympathie, Phantasie und Imagination<br />
in gewisser Beziehung wieder aus dem Menschen heraus.<br />
Das ist an das Keimhafte gebunden, das muss im Keimhaften<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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bleiben, darf daher eigentlich nie zu einem wirklichen Abschluss<br />
kommen, sondern muss im Entstehen schon wieder vergehen.<br />
Es muss im Keime bleiben, es darf der Keim in der Entwickelung<br />
nicht zu weit gehen; daher muss es im Entstehen<br />
vergehen. Hier kommen wir zu etwas sehr Wichtigem im Menschen.<br />
Sie müssen den ganzen Menschen verstehen lernen: geistig,<br />
seelisch und leiblich. Nun wird im Menschen fortwährend<br />
etwas gebildet, das immer die Tendenz hat, geistig zu werden.<br />
Aber weil man es in großer Liebe, allerdings in egoistischer Liebe,<br />
im Leibe festhalten will, kann es nie geistig werden; es zerrinnt<br />
in seiner Leiblichkeit. Wir haben etwas in uns, was materiell<br />
ist, aber aus dem materiellen Zustand fortwährend in einen<br />
geistigen Zustand übergehen will. Wir lassen es nicht geistig<br />
werden; daher vernichten wir es in dem Moment, wo es geistig<br />
werden will. Es ist das Blut - das Gegenteil der Nerven.<br />
Das Blut ist wirklich ein „ganz besonderer Saft“, denn es ist derjenige<br />
Saft, welcher, wenn wir ihn aus dem menschlichen Leib<br />
entfernen könnten – was innerhalb der irdischen Bedingungen<br />
nicht geht – so dass er noch Blut bliebe und durch die anderen<br />
Agenzien nicht vernichtet würde, als Geist aufwirbeln würde.<br />
Damit nicht das Blut als Geist aufwirble, damit wir es so lange,<br />
als wir auf der Erde sind, in uns behalten können, deshalb muss<br />
es vernichtet werden. Daher haben wir immerwährend in uns:<br />
Bildung des Bluts, Vernichtung des Bluts usw. durch Einatmung<br />
und Ausatmung.<br />
Wir haben einen polarischen Prozess in uns. Wir haben diejenigen<br />
Prozesse in uns, die längs des Blutes, der Blutbahnen laufen,<br />
die fortwährend die Tendenz haben, unser Dasein ins Geistige<br />
hinauszuleiten. Von motorischen Nerven so zu reden, wie dies<br />
üblich geworden ist, ist ein Unsinn, weil die motorischen Ner-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
ven eigentlich die Blutbahnen wären. Im Gegensatz Jun Blut<br />
sind alle Nerven so veranlagt, dass sie fortwährend Absterben,<br />
im Materiellwerden begriffen sind. Was längs Nervenbahnen<br />
liegt, das ist eigentlich ausgeschiedene Materie; der Nerv ist eigentlich<br />
abgesonderte Materie. Das Blut will immer geistiger<br />
werden, der Nerv immer materieller; darin besteht der polarische<br />
Gegensatz.<br />
Wir werden in den späteren Vorträgen diese hiermit gegebenen<br />
Grundprinzipien weiter verfolgen und werden sehen, wie ihre<br />
Verfolgung uns wirklich das geben kann, was uns auch in bezug<br />
auf die hygienische Gestaltung des Unterrichtes dienlich sein<br />
wird, damit wir das Kind zur seelischen und leiblichen Gesundheit<br />
heranerziehen und nicht zur geistigen und seelischen Dekadenz.<br />
Es wird deshalb so viel misserzogen, weil so vieles nicht<br />
erkannt wird. So sehr die Physiologie glaubt, etwas zu haben,<br />
indem sie von sensitiven und motorischen Nerven spricht, so<br />
hat sie darin doch nur ein Spiel mit Worten. Von motorischen<br />
Nerven wird gesprochen, weil die Tatsache besteht, dass der<br />
Mensch nicht gehen kann, wenn gewisse Nerven beschädigt<br />
sind, zum Beispiel die, welche nach den Beinen gehen. Man<br />
sagt, er könne das nicht, weil er die Nerven gelähmt hat, die als<br />
«motorische» die Beine in Bewegung setzen. In Wahrheit ist es<br />
so, dass man in einem solchen Fall nicht gehen kann, weil man<br />
die eigenen Beine nicht wahrnehmen kann. Dieses Zeitalter, in<br />
dem wir leben, hat sich eben notwendigerweise in eine Summe<br />
von Irrtümern verstricken müssen, damit wir wieder die Möglichkeit<br />
haben, uns aus diesen Irrtümern herauszuwinden, selbständig<br />
als Menschen zu werden.<br />
Nun merken Sie schon an dem, was ich jetzt hier entwickelt habe,<br />
dass eigentlich das Menschenwesen nur begriffen werden<br />
kann im Zusammenhange mit dem Kosmischen. Denn indem<br />
wir vorstellen, haben wir das Kosmische in uns. Wir waren im<br />
Kosmischen, ehe wir geboren wurden, und unser damaliges Erleben<br />
spiegelt sich jetzt in uns; und wir werden wieder im Kosmischen<br />
sein, wenn wir die Todespforte durchschritten haben<br />
29
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
werden, und unser künftiges Leben drückt sich keimhaft aus in<br />
dem, was in unserem Willen waltet. Was in uns unbewusst waltet,<br />
das waltet sehr bewusst für das höhere Erkennen im Kosmos.<br />
Wir haben allerdings selbst in der leiblichen Offenbarung einen<br />
dreifachen Ausdruck dieser Sympathie und Antipathie. Gewissermaßen<br />
drei Herde haben wir, wo Sympathie und Antipathie<br />
ineinanderspielen. Zunächst haben wir in unserem Kopf einen<br />
solchen Herd, im Zusammenwirken von Blut und Nerven, wodurch<br />
das Gedächtnis entsteht. Überall, wo die Nerventätigkeit<br />
unterbrochen ist, überall, wo ein Sprung ist, da ist ein solcher<br />
Herd, wo Sympathie und Antipathie ineinanderspielen.<br />
Ein weiterer solcher Sprung findet sich im Rückenmark, zum<br />
Beispiel wenn ein Nerv nach dem hinteren Stachel des Rückenwirbels<br />
hingeht, ein anderer Nerv von dem vorderen Stachel<br />
ausgeht. Dann ist wieder ein solcher Sprung in den Ganglienhäufchen,<br />
die in die sympathischen Nerven eingebettet sind.<br />
Wir sind gar nicht so unkomplizierte Wesen, wie es scheinen<br />
mag. An drei Stellen unseres Organismus, im Kopf, in der Brust<br />
und im Unterleib spielt das hinein, da sind Grenzen, an denen<br />
Antipathie und Sympathie sich begegnen. Es ist mit Wahrnehmen<br />
und Wollen nicht so, dass sich etwas umleitet von einem<br />
sensitiven Nerven zu einem motorischen, sondern ein gerader<br />
Strom springt über von einem Nerven auf den anderen, und dadurch<br />
wird in uns das Seelische berührt: in Gehirn und Rückenmark.<br />
An diesen Stellen, wo die Nerven unterbrochen sind,<br />
sind wir eingeschaltet mit unserer Sympathie und Antipathie in<br />
das Leibliche; und dann sind wir wieder eingeschaltet, wo die<br />
Ganglienhäufchen sich entwickeln im sympathischen Nervensystem.<br />
Wir sind mit unserem Erleben in den Kosmos eingeschaltet.<br />
Ebenso wie wir Tätigkeiten entwickeln, die im Kosmos weiter<br />
zu verfolgen sind, so entwickelt wieder mit uns der Kosmos<br />
fortwährend Tätigkeiten, denn er entwickelt fortwährend die<br />
Tätigkeit von Antipathie und Sympathie. Wenn wir uns als<br />
30
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Menschen betrachten, so sind wir wieder selbst ein Ergebnis<br />
von Sympathien und Antipathien des Kosmos. Wir entwickeln<br />
Antipathie von uns aus: der Kosmos entwickelt mit uns Antipathie;<br />
wir entwickeln Sympathie: der Kosmos entwickelt mit uns<br />
Sympathie.<br />
Nun sind wir ja als Menschen, indem wir uns äußerlich offenbaren,<br />
deutlich gegliedert in das Kopfsystem, in das Brust-System<br />
und in das eigentliche Leibessystem mit den Gliedmaßen. Nun<br />
bitte ich aber zu berücksichtigen, dass diese Einteilung in gegliederte<br />
Systeme sehr leicht angefochten werden kann, weil die<br />
Menschen, wenn sie heute systematisieren, die einzelnen Glieder<br />
hübsch nebeneinander haben wollen. Wenn man also sagt:<br />
Man unterscheidet am Menschen ein KopfSystem, ein Brustsystem<br />
und ein Unterleibssystem mit den Gliedmaßen, dann muss<br />
nach Ansicht der Menschen jedes System eine strenge Grenze<br />
haben. Die Menschen wollen Linien ziehen, wenn sie einteilen,<br />
und das kann man nicht, wenn man von Realitäten spricht. Wir<br />
sind im Kopf hauptsächlich Kopf, aber der ganze Mensch ist<br />
Kopf, nur ist das andere nicht hauptsächlich Kopf. Denn wie wir<br />
im Kopfe die eigentlichen Sinneswerkzeuge haben, so haben wir<br />
über den ganzen Leib ausgebildet zum Beispiel den Tastsinn und<br />
den Wärmesinn; indem wir daher Wärme empfinden, sind wir<br />
ganz Kopf. Wir sind nur im Kopfe hauptsächlich Kopf, sonst<br />
sind wir «nebenbei» Kopf. So gehen also die Teile ineinander,<br />
und wir haben es nicht so bequem mit den Gliedern, wie es die<br />
Pedanten haben möchten. Der Kopf setzt sich also fort; er ist<br />
nur im Kopfe besonders ausgebildet. Ebenso ist es mit der Brust.<br />
Brust ist die eigentliche Brust, ab er nur hauptsächlich, denn der<br />
ganze Mensch ist wiederum Brust. Also auch der Kopf ist etwas<br />
Brust und auch der Unterleib mit den Gliedmaßen. Die Glieder<br />
gehen also ineinander über. Und ebenso ist es mit dem Unterleib.<br />
Dass der Kopf Unterleib ist, haben einige Physiologen bemerkt,<br />
denn die sehr feine Ausbildung des Kopf-Nervensystems<br />
liegt eigentlich nicht in dem, was unser Stolz ist, im Gehirn, in<br />
der äußeren Hirnrinde, sondern die liegt unter der äußeren<br />
Hirnrinde. Ja, der kunstvollere Bau, die äußere Hirnrinde, ist<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
gewissermaßen schon eine Rückbildung; da ist der komplizierte<br />
Bau schon in Rückbildung begriffen; es ist vielmehr schon ein<br />
Ernährungssystem im Gehirnmantel vorliegend. So dass der<br />
Mensch, wenn man das so vergleichsweise ausdrücken will, sich<br />
auf seinen Gehirnmantel gar nichts Besonderes einzubilden<br />
braucht; der ist ein Zurückgehen des komplizierteren Gehirns in<br />
ein mehr ernährendes Gehirn. Wir haben den Gehirnmantel<br />
mit dazu, dass die Nerven, die mit dem Erkennen zusammenhängen,<br />
ordentlich mit Nahrung versorgt werden. Und dass wir<br />
das über das tierische Gehirn hinausgehende bessere Gehirn haben,<br />
das ist nur aus dem Grunde, weil wir die Gehirnnerven<br />
besser ernähren. Nur dadurch haben wir die Möglichkeit, unser<br />
höheres Erkennen zu entfalten, dass wir die Gehirnnerven besser<br />
ernähren, als die Tiere es können. Aber mit dem eigentlichen<br />
Erkennen hat das Gehirn und das Nervensystem überhaupt<br />
nichts zu tun, sondern nur mit dem Ausdruck des Erkennens<br />
im physischen Organismus.<br />
Nun fragt es sich: Warum haben wir den Gegensatz zwischen<br />
Kopfsystem - lassen wir zunächst das mittlere System unberücksichtigt<br />
- und dem polarischen Gliedmaßensystem mit dem Unterleibssystem?<br />
Wir haben ihn, weil das Kopfsystem in einem<br />
bestimmten Zeitpunkte „ausgeatmet“ wird durch den Kosmos.<br />
Der Mensch hat durch die Antipathie des Kosmos seine Hauptesbildung.<br />
Wenn dem Kosmos sozusagen gegenüber dem, was<br />
der Mensch in sich trägt, so stark „ekelt“, dass er es ausstößt, so<br />
entsteht dieses Abbild. Im Kopfe trägt wirklich der Mensch das<br />
Abbild des Kosmos in sich. Das rund geformte menschliche<br />
Haupt ist ein solches Abbild. Durch eine Antipathie des Kosmos<br />
schafft der Kosmos ein Bild von sich außerhalb seiner. Das ist<br />
unser Haupt. Wir können uns unseres Hauptes als eines Organs<br />
zu unserer Freiheit deshalb bedienen, weil der Kosmos dieses<br />
Haupt zuerst von sich ausgestoßen hat. Wir betrachten das<br />
Haupt nicht richtig, wenn wir es etwa in demselben Sinne intensiv<br />
eingegliedert denken in den Kosmos wie unser Gliedmaßensystem,<br />
mit dem die Sexualsphäre ja zusammengehört. Unser<br />
Gliedmaßensystem ist in den Kosmos eingegliedert, und der<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Kosmos zeiht es an, hat mit ihm Sympathie, wie er dem Haupt<br />
gegenüber Antipathie hat. Im Haupte begegnet unsere Antipathie<br />
der Antipathie des Kosmos, die stoßen dort zusammen. Da,<br />
in dem Aufeinanderprallen unserer Antipathien mit denen des<br />
Kosmos, entstehen unsere Wahrnehmungen. Alles Innenleben,<br />
das auf der anderen Seite des Menschen entsteht, rührt her von<br />
dem liebevollen sympathischen Umschlingen unseres Gliedmaßensystems<br />
durch den Kosmos.<br />
So drückt sich in der menschlichen Leibesgestalt aus, wie der<br />
Mensch auch seelisch aus dem Kosmos heraus gebildet ist und<br />
was er in seiner Trennung wiederum aufnimmt aus dem Kosmos<br />
heraus. Sie werden daher auf Grundlage solcher Betrachtungen<br />
leichter einsehen, dass ein großer Unterschied ist zwischen der<br />
Willensbildung und der Vorstellungsbildung. Wirken Sie besonders<br />
auf die Vorstellungsbildung, wirken Sie einseitig auf die<br />
Vorstellungsbildung, so weisen Sie eigentlich den ganzen Menschen<br />
auf das Vorgeburtliche zurück, und Sie werden ihm schaden,<br />
wenn Sie ihn rationalistisch erziehen, weil Sie dann seinen<br />
Willen einspannen in das, was er eigentlich schon absolviert<br />
hat: in das Vorgeburtliche. Sie dürfen nicht zuviel abstrakte Begriffe<br />
in das einmischen, was Sie in der Erziehung an das Kind<br />
heranbringen. Sie müssen mehr Bilder darin einmischen. Warum?<br />
Das können Sie an unserer Zusammenstellung ablesen.<br />
Bilder sind Imaginationen, gehen durch die Phantasie und Sympathie.<br />
Begriffe, abstrakte Begriffe, sind Abstraktionen, gehen<br />
durch das Gedächtnis und durch die Antipathie, kommen vom<br />
vorgeburtlichen Leben. Wenn Sie also beim Kinde viele Abstraktionen<br />
anwenden, werden Sie fördern, dass das Kind sich<br />
besonders intensiv verlegen muss auf den Prozess des Kohlensäurewerdens,<br />
Kohlensäurebildens im Blute, auf den Prozess der<br />
Leibesverhärtung, des Absterbens. Wenn Sie dem Kinde möglichst<br />
viele Imaginationen beibringen, wenn Sie es möglichst so<br />
ausbilden, dass Sie in Bildern zu ihm sprechen, dann legen Sie in<br />
das Kind den Keim zum fortwährenden Sauerstoffbewahren,<br />
zum fortwährenden Werden, weil Sie es auf die Zukunft, auf<br />
das Nachtodliche hinweisen. Wir nehmen gewissermaßen, in-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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dem wir erziehen, die Tätigkeiten, die vor der Geburt mit uns<br />
Menschen ausgeübt werden, wieder auf. Wir müssen uns heute<br />
gestehen: Vorstellen ist eine Bildtätigkeit, die herrührt von dem,<br />
was wir vor der Geburt oder Empfängnis erlebt haben. Da ist<br />
mit uns von den geistigen Mächten so verfahren worden, dass<br />
Bildtätigkeit in uns gelegt wurde, die in uns nachwirkt noch<br />
nach der Geburt. Indem wir den Kindern Bilder überliefern,<br />
fangen wir im Erziehen damit an, diese kosmische Tätigkeit<br />
wieder aufzunehmen. Wir verpflanzen in sie Bilder, die zu<br />
Keimen werden können, weil wir sie hineinlegen in eine Leibestätigkeit.<br />
Wir müssen daher, indem wir uns als Pädagogen die Fähigkeit<br />
aneignen, in Bildern zu wirken. das fortwährende Gefühl haben:<br />
du wirkst auf den ganzen Menschen, eine Resonanz des<br />
ganzen Menschen ist da, wenn du in Bildern wirkst.<br />
Dieses in das eigene Gefühl aufnehmen, dass man in aller Erziehung<br />
eine Art Fortsetzung der vorgeburtlichen übersinnlichen<br />
Tätigkeit bewirkt, dies gibt allem Erziehen die nötige Weihe,<br />
und ohne diese Weihe kann man überhaupt nicht erziehen.<br />
So haben wir uns zwei Begriffssysteme angeeignet: Erkennen,<br />
Antipathie, Gedächtnis, Begriff - Wollen, Sympathie, Phantasie,<br />
Imagination; zwei Systeme, die uns dann im speziellen Anwenden<br />
für alles dienen können, was wir praktisch auszuüben haben<br />
in unserer pädagogischen Tätigkeit. Davon wollen wir dann<br />
morgen weitersprechen.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
DRITTER VORTRAG<br />
23. AUGUST 1919, STUTTGART<br />
Der gegenwärtige Lehrer müsste im Hintergrunde von allem,<br />
was er schulmäßig unternimmt, eine umfassende Anschauung<br />
über die Gesetze des Weltenalls haben. Es ist ja selbstverständlich,<br />
dass gerade der Unterricht in den unteren Klassen, in den<br />
unteren Stufen der Schule, einen Zusammenhang der Seele des<br />
Lehrenden mit den höchsten Ideen der Menschheit fordert. Ein<br />
Krebsschaden der bisherigen Schulkonstitution besteht wohl<br />
darin, dass man den Lehrer der unteren Schulstufen in einer<br />
gewissen, ich möchte sagen, Abhängigkeit gehalten hat, namentlich<br />
dass man ihn in einer Sphäre gehalten hat, wodurch<br />
seine Existenz minderwertiger schien als die Existenz der Lehrer<br />
der höheren Schulstufen. Es obliegt mir hier natürlich nicht,<br />
über diese allgemeine Frage des geistigen Gliedes des sozialen<br />
Organismus zu sprechen. Aber darauf muss doch aufmerksam<br />
gemacht werden, dass in der Zukunft alles, was zur Lehrerschaft<br />
gehört, einander ebenbürtig sein muss, und dass man ein starkes<br />
Gefühl in der Öffentlichkeit dafür wird haben müssen, dass der<br />
Lehrer der unteren Schulstufen durchaus gleichwertig ist, auch<br />
in bezug auf seine geistige Konstitution, dem Lehrer höherer<br />
Schulstufen. Daher wird es Sie nicht verwundern, wenn wir<br />
heute gerade darauf hinweisen, wie im Hintergrunde alles<br />
Unterrichtens - auch auf den untersten Schulstufen - dasjenige<br />
stehen muss, was man natürlich unmittelbar den Kindern gegenüber<br />
nicht verwenden kann, was man aber als Lehrer unbedingt<br />
wissen muss, denn sonst würde der Unterricht nicht ersprießlich<br />
sein können.<br />
Wir bringen im Unterricht an das Kind heran auf der einen Seite<br />
die Naturwelt, auf der anderen Seite die geistige Welt. Wir<br />
sind als Menschen durchaus auf der einen Seite verwandt der<br />
Naturwelt, auf der anderen Seite verwandt der geistigen Welt,<br />
insofern wir eben Menschen hier auf der Erde, auf dem physi-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
schen Plane sind und unser Dasein zwischen Geburt und Tod<br />
vollenden.<br />
Nun ist eben die Psychologie-Erkenntnis durchaus etwas, was in<br />
unserer zeit außerordentlich schwach ausgebildet ist. Namentlich<br />
leidet die psychologische Erkenntnis unter der Nachwirkung<br />
jener kirchlichen dogmatischen Feststellung, die im Jahre<br />
869 gefallen ist und in der eine ältere, auf einer instinktiven Erkenntnis<br />
beruhende Einsicht verdunkelt worden ist: die Einsicht,<br />
dass der Mensch gegliedert ist in Leib, Seele und Geist. Sie<br />
können ja fast überall, wo Sie heute von Psychologie reden hören,<br />
von einer bloßen Zweigliederung des Menschenwesens reden<br />
hören. Sie können davon reden hören, der Mensch bestehe<br />
aus Leib und Seele oder aus Körper und Geist, wie man es dann<br />
nennen will; man betrachtet dann Körper und Leib und ebenso<br />
auch Geist und Seele als ziemlich gleichbedeutend. Fast alle<br />
Psychologien sind auf diesem Irrtum der Zweigliederung des<br />
menschlichen Wesens aufgebaut. Man kann gar nicht zu einer<br />
wirklichen Einsicht in die menschliche Wesenheit kommen,<br />
wenn man sich nur dieser Zweigliederung als einem durchgreifend<br />
Gültigen zuwendet. Daher ist im Grunde genommen fast<br />
alles, was heute als Psychologie auftaucht, durchaus dilettantisch,<br />
manchmal auch nur ein Spiel mit Worten.<br />
Das aber beruht ja im allgemeinen auf jenem großen Irrtum, der<br />
erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so groß geworden<br />
ist, weil misskannt worden ist eine eigentlich große Errungenschaft,<br />
welche die physikalische Wissenschaft zu verzeichnen<br />
hatte. Sie wissen ja, dass die braven Heilbronner dem Manne<br />
inmitten ihrer Stadt ein Denkmal aufgerichtet haben, den sie<br />
zur zeit seines Lebens ins Irrenhaus gesperrt haben: Julius Robert<br />
Mayer. Und Sie wissen, dass diese Persönlichkeit, auf die<br />
heute selbstverständlich die Heilbronner sehr stolz sind, verknüpft<br />
ist mit dem sogenannten Gesetz von der Erhaltung der<br />
Energie oder der Kraft. Dieses Gesetz besagt ja, dass die Summe<br />
aller im Weltenall vorhandenen Energien oder Kräfte eine konstante<br />
ist, dass sich diese Kräfte nur umwandeln, so dass etwa<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
eine Kraft einmal als Wärme, ein andermal als mechanische<br />
Kraft erscheint und dergleichen. In diese Form kleidet man aber<br />
das Gesetz von Julius Robert Mayer nur dann, wenn man ihn<br />
gründlich missversteht! Denn ihm war es zu tun um die Aufdeckung<br />
der Metamorphose der Kräfte, nicht aber um die Aufstellung<br />
eines so abstrakten Gesetzes, wie es das von der Erhaltung<br />
der Energie ist.<br />
Was ist, in einem großen Zusammenhange angesehen, kulturgeschichtlich<br />
dieses Gesetz von der Erhaltung der Energie oder<br />
der Kraft? Es ist das große Hindernis, den Menschen überhaupt<br />
zu verstehen. Sobald man nämlich meint, dass niemals Kräfte<br />
wirklich neu gebildet werden, wird man nicht zu einer Erkenntnis<br />
des wahren Wesens des Menschen gelangen können.<br />
Denn dieses wahre Wesen des Menschen beruht gerade darin,<br />
dass fortwährend durch ihn neue Kräfte gebildet werden. Allerdings<br />
in dem Zusammenhange, in dem wir in der Welt leben, ist<br />
der Mensch das einzige Wesen, in welchem neue Kräfte und -<br />
wie wir später noch hören werden - sogar neue Stoffe gebildet<br />
werden. Aber da die heutige Weltanschauung überhaupt nicht<br />
solche Elemente in sich aufnehmen will, durch welche auch der<br />
Mensch voll erkannt werden kann, so kommt sie dann mit diesem<br />
Gesetz von der Erhaltung der Kraft, das ja in einem gewissen<br />
Sinne nicht stört, wenn man nur die anderen Reiche der Natur<br />
- das Mineralreich, das Pflanzenreich und das Tierreich - ins<br />
Auge fasst, das aber sofort alles von wirklicher Erkenntnis auslöscht,<br />
wenn man an den Menschen herankommen will.<br />
Sie werden als Lehrer die Notwendigkeit haben, auf der einen<br />
Seite Ihren Schülern die Natur verständlich zu machen, auf der<br />
anderen Seite sie hinzuführen zu einer gewissen Auffassung des<br />
geistigen Lebens. Ohne mit der Natur bekannt zu sein, wenigstens<br />
in einem gewissen Grade, und ohne ein Verhältnis zum<br />
geistigen Leben zu haben, kann sich heute der Mensch auch<br />
nicht in das soziale Leben hineinstellen. Wenden wir daher zunächst<br />
einmal unseren Blick der äußeren Natur zu.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Die äußere Natur wendet sich an uns so, dass gegenübersteht<br />
dieser äußeren Natur auf der einen Seite unser Vorstellungs-,<br />
Gedankenleben, das, wie Sie wissen, bildhafter Natur ist, das<br />
eine Art Spiegelung des vorgeburtlichen Lebens ist, und dass auf<br />
der anderen Seite sich der Natur zuwendet alles dasjenige, was<br />
willensartiger Natur ist, was als Keim hinweist auf unser nachtodliches<br />
Leben. In dieser Weise sind wir immer auf die Natur<br />
hingelenkt. Das scheint ja allerdings zunächst eine Hinordnung<br />
auf die Natur in zwei Gliedern zu sein, und sie hat auch hervorgerufen<br />
den Irrtum von der Zweigliederung des Menschen. Wir<br />
werden auf diese Sache noch zurückkommen.<br />
Wenn wir der Natur so gegenüberstehen, dass wir ihr unsere<br />
Denkseite, unsere Vorstellungsseite zuwenden, dann fassen wir<br />
eigentlich von der Natur nur das auf, was in der Natur fortwährendes<br />
Sterben ist. Es ist dies ein außerordentlich gewichtiges<br />
Gesetz. Seien Sie sich ganz klar darüber: Wenn Sie noch so<br />
schöne Naturgesetze erfahren, die mit Hilfe des Verstandes, mit<br />
Hilfe der vorstellenden Kräfte gefunden sind, so beziehen sich<br />
diese Naturgesetze immer auf das, was in der Natur abstirbt.<br />
Etwas ganz anderes als diese Naturgesetze, die sich auf das Tote<br />
beziehen, erfährt der lebendige Wille, der keimhaft vorhanden<br />
ist, wenn er sich auf die Natur richtet. Hier werden Sie, weil Sie<br />
ja wohl noch angefüllt sind mit mancherlei Vorstellungen, die<br />
aus der Gegenwart und den Irrtümern ihrer Wissenschaft entstammen,<br />
eine ziemliche Schwierigkeit Ihres Verständnisses<br />
finden. - Was uns zunächst in den Sinnen, ganz im Umfange der<br />
zwölf Sinne, in Beziehung bringt zur Außenwelt, das ist nicht<br />
erkenntnismäßiger, sondern willensmäßiger Natur. Dem Menschen<br />
der Gegenwart ist davon eigentlich die Einsicht ganz geschwunden.<br />
Daher betrachtet er es als etwas Kindliches, wenn<br />
er bei Plato liest, dass das Sehen eigentlich darauf beruhe, dass<br />
eine Art von Fangarmen aus den Augen ausgestreckt werde zu<br />
den Dingen hin. Diese Fangarme sind allerdings mit sinnlichen<br />
Mitteln nicht zu erkennen; aber dass Plato sich ihrer bewusst<br />
war, das beweist eben, dass er in die übersinnliche Welt einge-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
drungen war. Es ist in der Tat, indem wir die Dinge ansehen,<br />
nichts anderes als nur in feinerer Weise ein Vorgang vorhanden<br />
ähnlich demjenigen, der sich abspielt, wenn wir die Dinge angreifen.<br />
Wenn Sie zum Beispiel ein Stück Kreide anfassen, so ist<br />
dies ein physischer Vorgang ganz ähnlich dem geistigen Vorgange,<br />
der sich abspielt, indem Sie die Ätherkräfte aus Ihrem<br />
Auge senden, um den Gegenstand im Sehen zu erfassen. Wenn<br />
die Menschen überhaupt in der Gegenwart beobachten könnten,<br />
so würden sie aus den Naturbeobachtungen diese Tatsachen<br />
entnehmen können. Wenn Sie sich zum Beispiel die nach auswärts<br />
gestellten Pferdeaugen ansehen, dann werden Sie das Gefühl<br />
bekommen, dass einfach durch die Stellung seiner Augen<br />
das Pferd zu seiner Umgebung in eine andere Lage versetzt ist<br />
als der Mensch.<br />
Was da zugrunde liegt, kann ich Ihnen am besten dadurch klar<br />
machen, dass ich folgendes hypothetisch aufstelle. Denken Sie<br />
sich, Ihre beiden Arme wären so gestaltet, dass Sie in die Unmöglichkeit<br />
versetzt wären, die Arme nach vorn zusammenzubringen,<br />
so dass sie sich niemals übergreifen könnten. Sie müssten<br />
eurythmisch immer bei A stehenbleiben, könnten nie zum<br />
O kommen, es würde durch eine Widerstandskraft Ihnen unmöglich<br />
gemacht, durch die Vorwärtsrichtung der Arme diese<br />
vorne zusammenzubringen. Das Pferd ist nun in bezug auf die<br />
übersinnlichen Fangarme seiner Augen in dieser Lage: es kann<br />
niemals den Fangarm des linken Auges berühren lassen von<br />
dem Fangarm des rechten Auges. Der Mensch ist durch seine<br />
Augenstellung eben in der Lage, fortwährend diese zwei übersinnlichen<br />
Fangarme seiner Augen miteinander sich berühren<br />
zu lassen. Darauf beruht die Empfindung - die übersinnlicher<br />
Natur ist - von dem Ich. Würden wir überhaupt niemals in die<br />
Lage kommen, rechts und links miteinander in Berührung zu<br />
bringen, oder würde die Berührung von rechts und links eine so<br />
geringe Bedeutung haben, wie es bei den Tieren der Fall ist, die<br />
niemals so ganz richtig die Vorderpfoten, sagen wir, zum Gebet<br />
oder zu irgendeinem ähnlichen Geistigen verwenden, dann<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
würden wir auch nicht zu einer vergeistigten Empfindung unseres<br />
Selbstes gelangen.<br />
Was für die Sinnesempfindungen am Auge und Ohr überall<br />
wichtig ist, das ist nicht so sehr das Passive; es ist das Aktive,<br />
das, was wir willentlich den Dingen entgegenbringen. Die neuere<br />
Philosophie hat ja manchmal Ahnungen gehabt von etwas<br />
Richtigem und hat dann allerlei Worte erfunden, die aber in der<br />
Regel beweisen, wie weit man von der Erfassung der Sache entfernt<br />
ist. So sind in den Lokalzeichen der Lotzeschen Philosophie<br />
solche Ahnungen von Erkenntnis der Aktivität des Willens-Sinneslebens<br />
vorhanden. Aber unser Sinnesorganismus, der<br />
ja ganz deutlich in dem Tastsinn, Geschmackssinn, Geruchssinn<br />
sein Verbundensein mit dem Stoffwechsel zeigt, ist bis in die<br />
höheren Sinne mit dem Stoffwechsel verbunden, und der ist<br />
willensartiger Natur.<br />
Daher können Sie sich sagen: Der Mensch steht, indem er der<br />
Natur gegenübersteht, durch sein Verstandesmäßiges der Natur<br />
gegenüber und fasst dadurch alles das von ihr auf, was in ihr tot<br />
ist und eignet sich von diesem Toten Gesetze an. Was aber in<br />
der Natur aus dem Schoße des Toten sich erhebt, um zur Zukunft<br />
der Welt zu werden, das fasst der Mensch auf durch seinen<br />
ihm so unbestimmt erscheinenden Willen, der sich bis in<br />
die Sinne hinein erstreckt.<br />
Denken Sie sich, wie lebendig Ihnen Ihr Verhältnis zur Natur<br />
wird, wenn Sie das eben Gesagte ordentlich ins Auge fassen. Sie<br />
werden sich dann sagen: Wenn ich in die Natur hinausgehe, so<br />
glänzt mir entgegen Licht und Farbe; indem ich das Licht und<br />
seine Farben aufnehme, vereinige ich mit mir das von der Natur,<br />
was sie in die Zukunft hinübersendet, und indem ich dann<br />
in meine Stube zurückkehre und nachdenke über die Natur, Gesetze<br />
über sie ausspinne, da beschäftige ich mich mit dem, was<br />
in der Natur fortwährend stirbt. In der Natur ist fortwährendes<br />
Sterben und Werden miteinander verbunden. Dass wir das<br />
Sterben auffassen, rührt davon her, dass wir in uns tragen das<br />
Spiegelbild unseres vorgeburtlichen Lebens, die Verstandeswelt,<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
die Denkwelt, wodurch wir das der Natur zugrunde liegende<br />
Tote ins Auge fassen können. Und dass wir dasjenige, was in der<br />
Zukunft von der Natur da sein wird, ins Auge fassen können,<br />
rührt davon her, dass wir nicht nur unseren Verstand, unser<br />
Denkleben der Natur entgegenstellen, sondern dass wir ihr dasjenige<br />
entgegenstellen können, was in uns selbst willensartiger<br />
Natur ist.<br />
Wenn der Mensch nicht etwas, was fortwährend ihm bleibt,<br />
retten könnte aus seinem vorgeburtlichen Leben durch sein Erdenleben<br />
hindurch, wenn er nicht etwas retten könnte von<br />
dem, was zuletzt während seines vorgeburtlichen Lebens zum<br />
bloßen Gedankenleben geworden ist, dann würde er niemals<br />
zur Freiheit kommen können. Denn der Mensch würde verbunden<br />
sein mit dem Toten, und er würde in dem Augenblick,<br />
wo er das, was in ihm selbst mit der toten Natur verwandt ist,<br />
zur Freiheit aufrufen wollte, ein Sterbendes zur Freiheit aufrufen<br />
wollen. Er würde, wenn er desjenigen sich bedienen wollte,<br />
was ihn als Willenswesen mit der Natur verbindet, betäubt<br />
werden; denn in dem, was ihn als Willenswesen mit der Natur<br />
verbindet, ist alles noch keimhaft. Er würde ein Naturwesen<br />
sein, aber kein freies Wesen.<br />
Über diesen zwei Elementen - der Erfassung des Toten durch<br />
den Verstand und der Erfassung des Lebendigen, des Werdenden<br />
durch den Willen - steht im Menschen etwas, was nur er,<br />
kein anderes irdisches Wesen, von der Geburt bis zum Tode in<br />
sich trägt: das ist das reine Denken, dasjenige Denken, das sich<br />
nicht auf die äußere Natur bezieht, sondern das sich nur auf<br />
dasjenige Übersinnliche bezieht, was im Menschen selber ist,<br />
was den Menschen zum autonomen Wesen macht, zu etwas,<br />
was noch über demjenigen ist, was im Untertoten und im Überlebendigen<br />
ist. Will man daher von der menschlichen Freiheit<br />
reden, so muss man auf dieses Autonome im Menschen sehen,<br />
auf das reine sinnlichkeitsfreie Denken, in dem immer auch der<br />
Wille lebt.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Wenn Sie aber von diesem Gesichtspunkte aus die Natur selbst<br />
betrachten, werden Sie sich sagen: Ich blicke hin auf die Natur,<br />
der Strom des Sterbens ist in mir und auch der Strom des Neuwerdens:<br />
sterben - wiederum geboren werden. Von diesem Zusammenhang<br />
versteht die neuere Wissenschaft sehr wenig;<br />
denn ihr ist die Natur gewissermaßen eine Einheit, und sie puddelt<br />
fortwährend durcheinander das Sterbende und das Werdende,<br />
so dass alles, was heute vielfach ausgesagt wird über die<br />
Natur und ihr Wesen, etwas ganz Konfuses ist, weil Sterben und<br />
Werden fortwährend durcheinandergemischt werden. Will man<br />
reinlich diese beiden Strömungen in der Natur auseinanderhalten,<br />
so muss man sich schon fragen: Wie stünde es denn mit der<br />
Natur, wenn der Mensch nicht in dieser Natur wäre?<br />
Gegenüber dieser Frage ist im Grunde genommen die neuere<br />
Naturwissenschaft mit ihrer Philosophie in einer großen Verlegenheit.<br />
Denn denken Sie einmal, Sie stellten einem richtigen<br />
neueren Naturforscher die Frage: Was wäre es mit der Natur<br />
und ihrem Wesen, wenn der Mensch nicht darin wäre? Er würde<br />
natürlich zunächst etwas schockiert sein, weil ihm die Frage<br />
sonderbar vorkommen würde. Aber er würde sich dann besinnen,<br />
welche Unterlagen zur Beantwortung dieser Frage ihm seine<br />
Wissenschaft gibt und würde sagen: Dann wären auf der Erde<br />
Mineralien, Pflanzen und Tiere, nur der Mensch wäre nicht<br />
da, und der Erdenverlauf würde von dem Anfange an, wo die<br />
Erde noch im Kant-Laplaceschen Nebelzustande war, sich so<br />
vollzogen haben, dass alles so fortgegangen wäre, wie es gegangen<br />
ist; nur der Mensch wäre in diesem Fortgange nicht drinnen.<br />
- Eine andere Antwort könnte im Grunde genommen nicht<br />
herauskommen. Er könnte vielleicht noch hinzufügen: Der<br />
Mensch gräbt als Ackerbauer den Erdboden um und verändert<br />
so die Erdoberfläche, oder er konstruiert Maschinen und bringt<br />
dadurch Veränderungen hervor; aber das ist nicht so erheblich<br />
gegenüber den anderen Verwandlungen, welche durch die Natur<br />
selbst geschehen. Immer also würde der Naturforscher sagen:<br />
Es würden Mineralien, Pflanzen und Tiere sich entwickeln,<br />
ohne dass der Mensch dabei wäre.<br />
42
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Das ist nicht richtig. Wäre der Mensch nämlich nicht in der Erdenevolution<br />
vorhanden, dann wären die Tiere zum großen<br />
Teile nicht da; denn ein großer Teil, namentlich die höheren<br />
Tiere, ist nur dadurch in der Erdenevolution entstanden, dass<br />
der Mensch genötigt war - ich spreche jetzt natürlich bildlich -<br />
seine Ellenbogen zu verwenden. Er musste auf einer bestimmten<br />
Stufe seiner Erdenentwickelung aus seinem eigenen Wesen,<br />
in dem damals noch ganz anderes war, als jetzt in ihm ist, die<br />
höheren Tiere heraus sondern, musste sie abwerfen, damit er<br />
weiterkommen konnte. Ich möchte dies Abwerfen damit vergleichen,<br />
dass ich sage: Stellen Sie sich ein Gemisch vor, worin<br />
etwas aufgelöst ist, und stellen Sie sich vor, dass dann diese aufgelöste<br />
Substanz sich aussondert und zu Boden setzt. So war der<br />
Mensch in seinen früheren Entwickelungszuständen mit der<br />
Tierwelt zusammen und hat dann später die Tierwelt wie einen<br />
Bodensatz ausgeschieden. Die Tiere wären nicht in der Erdenentwickelung<br />
diese heutigen Tiere geworden, wenn der Mensch<br />
nicht hätte so werden sollen, wie er jetzt ist. Ohne den Menschen<br />
in der Erdenentwickelung würden also die Tierformen<br />
und die Erde ganz anders ausschauen, als es heute der Fall ist.<br />
Aber gehen wir nun über zur mineralischen und pflanzlichen<br />
Welt. Da sollten wir uns darüber klar sein, dass nicht nur die<br />
niederen Tierformen, sondern auch die pflanzliche und die mineralische<br />
Welt längst erstarrt wären, nicht mehr im Werden<br />
wären, wenn der Mensch nicht auf der Erde wäre. Wiederum<br />
ist es notwendig für die heutige, auf einer einseitigen Naturanschauung<br />
fußenden Weltanschauung, zu sagen: Gut, die Menschen<br />
sterben, und ihre Körper werden verbrannt oder begraben<br />
und damit der Erde übergeben; aber das hat für die Erdenentwickelung<br />
keine Bedeutung; denn wenn die Erdenentwickelung<br />
nicht Menschenkörper aufnehmen würde, könnte sie gerade<br />
so verlaufen wie jetzt, da sie Menschenkörper aufnimmt. -<br />
Das heißt aber, man ist sich gar nicht bewusst, dass das fortwährende<br />
Übergehen menschlicher Leichname in die Erde,<br />
gleichgültig ob es durch Verbrennen oder durch Begraben geschieht,<br />
ein realer Prozess ist, der fortwirkt.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Die Bäuerinnen auf dem Lande sind sich noch klarer, als es die<br />
Frauen in der Stadt sind, darüber, dass die Hefe für das Brotbacken<br />
eine gewisse Bedeutung hat, trotzdem nur wenig dem Brote<br />
zugesetzt wird; sie wissen, dass das Brot nicht gedeihen könnte,<br />
wenn nicht Hefe dem Teig zugesetzt würde. Ebenso aber wäre<br />
die Erdenentwickelung längst in ihren Endzustand hineingekommen,<br />
wenn ihr nicht fortwährend die Kräfte des menschlichen<br />
Leichnams, der mit dem Tode von dem Geistig-Seelischen<br />
abgesondert ist, zugeführt würden. Durch diese Kräfte, welche<br />
die Erdenentwickelung durch die Zuführung der menschlichen<br />
Leichname fortwährend bekommt, beziehungsweise der Kräfte,<br />
die in den Leichnamen sind, dadurch wird die Evolution der Erde<br />
unterhalten. Dadurch werden Mineralien dazu veranlasst,<br />
ihre Kristallisationskräfte noch heute zu entfalten,die sie längst<br />
nicht mehr entfalten würden ohne diese Kräfte; sie wären längst<br />
zerbröckelt, hätten sich aufgelöst. Dadurch werden Pflanzen,<br />
die längst nicht mehr wachsen würden, veranlasst, heute noch<br />
zu wachsen. Und auch mit Bezug auf die niederen Tierformen<br />
ist es so. Der Mensch übergibt der Erde in seinem Leibe das<br />
Ferment, gleichsam die Hefe für die Weiterentwickelung.<br />
Daher ist es nicht bedeutungslos, ob der Mensch auf der Erde<br />
lebt oder nicht. Es ist einfach nicht wahr, dass die Erdenentwickelung<br />
in bezug auf das Mineralreich, Pflanzenreich und Tierreich<br />
auch dann vorwärtsgehen würde, wenn der Mensch nicht<br />
dabei wäre! Der Naturprozess ist ein einheitlicher, ein geschlossener,<br />
zu dem der Mensch dazugehört. Der Mensch wird nur<br />
richtig vorgestellt, wenn er selbst noch mit seinem Tode als<br />
drinnenstehend in dem kosmischen Prozess gedacht wird.<br />
Wenn Sie dies bedenken, dann werden Sie sich kaum mehr<br />
wundern, wenn ich auch noch das Folgende sage: Der Mensch<br />
bekommt, indem er aus der geistigen Welt heruntersteigt in die<br />
physische, die Umkleidung seines physischen Leibes. Aber natürlich<br />
ist der physische Leib anders, wenn man ihn als Kind<br />
bekommt, als wenn man ihn in irgendeinem Lebensalter durch<br />
den Tod ablegt. Da ist etwas geschehen mit dem physischen<br />
44
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Leibe. Was da mit ihm geschehen ist, das kann nur dadurch geschehen,<br />
dass dieser Leib durchdrungen ist von den geistig- seelischen<br />
Kräften des Menschen. Nicht wahr, schließlich essen<br />
wir alle dasselbe, was die Tiere auch essen, das heißt, wir verwandeln<br />
die äußeren Stoffe so, wie die Tiere sie verwandeln,<br />
aber wir verwandeln sie unter der Mittätigkeit von etwas, was<br />
die Tiere nicht haben, von etwas, was aus der geistigen Welt<br />
heruntersteigt, um sich mit dem physischen Menschenleib zu<br />
vereinigen. Wir machen dadurch mit den Stoffen etwas anderes,<br />
als die Tiere oder Pflanzen mit ihnen machen. Und die Stoffe,<br />
welche im menschlichen Leichnam der Erde übergeben werden,<br />
sind verwandelte Stoffe, sind etwas anderes, als was der Mensch<br />
empfangen hat, als er geboren worden ist. Daher können wir<br />
sagen: Die Stoffe, welche der Mensch empfängt, und auch die<br />
Kräfte, welche er mit der Geburt empfängt, die erneuert er<br />
während seines Lebens und gibt sie in verwandelter Form an<br />
den Erdenprozess ab. Es sind nicht dieselben Stoffe und Kräfte,<br />
die er bei seinem Tode an den Erdenprozess abgibt, als diejenigen<br />
waren, die er bei seiner Geburt empfangen hat. Er übergibt<br />
damit also dem Erdenprozess etwas, was durch ihn fortwährend<br />
aus der übersinnlichen Welt in den physisch- sinnlichen Erdenprozess<br />
einfließt. Er trägt bei seiner Geburt aus der übersinnlichen<br />
Welt etwas herunter; das bekommt dann, indem er es einverleibt<br />
hat den Stoffen und Kräften, die während seines Lebens<br />
seinen Leib zusammensetzen, mit seinem Tode die Erde. Dadurch<br />
vermittelt der Mensch fortwährend das Herunterträufeln<br />
von Übersinnlichem an Sinnliches, an Physisches. Sie können<br />
sich vorstellen, dass gleichsam fortwährend etwas<br />
herunterregnet aus dem Übersinnlichen ins Sinnliche, dass aber<br />
diese Tropfen ganz unfruchtbar blieben für die Erde, wenn der<br />
Mensch sie nicht aufnehmen würde und sie durch sich der Erde<br />
vermitteln würde. Diese Tropfen, die der Mensch aufnimmt bei<br />
der Geburt, die er abgibt bei seinem Tode, die sind ein fortwährendes<br />
Befruchten der Erde durch übersinnliche Kräfte, und<br />
durch diese befruchtenden, übersinnlichen Kräfte wird der Evo-<br />
45
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
lutionsprozess der Erde erhalten. Ohne menschliche Leichname<br />
wäre daher die Erde längst tot.<br />
Wenn wir das vorausgeschickt haben, können wir nun fragen:<br />
Was machen nun die toten Kräfte mit der menschlichen Natur?<br />
Es wirken ja in die menschliche Natur herein die todbringenden<br />
Kräfte, die draußen in der Natur vorwaltend sind; denn gäbe der<br />
Mensch der äußeren Natur nicht fortwährend Belebung, so<br />
müsste sie absterben. Wie walten also diese todbringenden Kräfte<br />
in der menschlichen Natur? Sie walten so. dass der Mensch<br />
alle diejenigen Organisationen durch sie hervorbringt, die in der<br />
Linie vom Knochensystem bis zum Nervensystem liegen. Was<br />
die Knochen und alles, was mit ihnen verwandt ist, aufbaut, das<br />
ist ganz anderer Natur als dasjenige, was die anderen Systeme<br />
aufbaut. In uns spielen die todbringenden Kräfte herein: wir lassen<br />
sie, wie sie sind, und dadurch sind wir Knochenmenschen.<br />
In uns aber spielen weiter noch die todbringenden Kräfte herein:<br />
wir schwächen sie ab, und dadurch sind wir Nervenmenschen.<br />
- Was ist ein Nerv? Ein Nerv ist etwas, was fortwährend<br />
Knochen werden will, was nur dadurch verhindert wird, Knochen<br />
zu werden, dass es mit nicht knochenmäßigen oder nicht<br />
nervösen Elementen der Menschennatur in Zusammenhang<br />
steht. Der Nerv will fortwährend verknöchern, er ist fortwährend<br />
gedrängt abzusterben, wie der Knochen im Menschen immer<br />
etwas in hohem Grade Abgestorbenes ist. Beim tierischen<br />
Knochen liegen die Verhältnisse anders, er ist viel lebendiger als<br />
der menschliche Knochen. - So können Sie sich die eine Seite<br />
der Menschennatur vorstellen, indem Sie sagen: Die todbrin-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
gende Strömung wirkt im Knochen- und Nervensystem. Das ist<br />
der eine Pol.<br />
Die fortwährend Leben gebenden Kräfte, die andere Strömung,<br />
wirkt im Muskel- und Blutsystem und in allem, was dazugehört.<br />
Nerven sind nur deshalb überhaupt keine Knochen, weil sie mit<br />
dem Blut- und Muskelsystem so im Zusammenhang stehen, dass<br />
der Drang in ihnen, Knochen zu werden, den in Blut und Muskel<br />
wirkenden Kräften entgegensteht. Der Nerv wird nur dadurch<br />
nicht Knochen, weil ihm Blut- und Muskelsystem entgegensteht<br />
und sein Knochenwerden verhindert. Besteht im<br />
Wachstum eine falsche Verbindung zwischen Knochen einerseits<br />
und Blut und Muskeln andererseits, so kommt die Rachitis<br />
zustande, die ein Verhindern des richtigen Absterbens des Knochens<br />
durch die Muskel-Blutnatur ist. Es ist daher außerordentlich<br />
wichtig, dass im Menschen die richtige Wechselwirkung<br />
zustande kommt zwischen dem MuskelBlutsystem auf der einen<br />
Seite und dem Knochen-Nerven- system auf der anderen Seite.<br />
Indem in unser Auge hereinragt das Knochen-Nervensystem<br />
etwas, in der Umhüllung, das Knochensystem sich zurückzieht<br />
und nur seine Abschwächung, den Nerv, hineinschickt, kommt<br />
im Auge die Möglichkeit zustande, die willensartige Wesenheit,<br />
die in Muskel und Blut lebt, mit der vorstellungsmäßigen Tätigkeit,<br />
die im KnochenNervensystem liegt, zu verbinden. Da<br />
kommen wir wieder auf etwas, was in der älteren Wissenschaft<br />
eine große Rolle gespielt hat, was aber von der heutigen Wissenschaft<br />
als kindliche Vorstellung verlacht wird. Doch die neuere<br />
Wissenschaft wird schon wieder darauf zurückkommen, nur<br />
in anderer Form.<br />
Die Alten haben in ihrem Wissen immer eine Verwandtschaft<br />
gefühlt zwischen dem Nervenmark, der Nervensubstanz und<br />
dem Knochenmark oder der Knochensubstanz, und sie sind der<br />
Meinung gewesen, dass man mit dem Knochenteil ebenso denkt<br />
wie mit dem Nerventeil. Das ist auch die Wahrheit. Wir verdanken<br />
alles, was wir an abstrakter Wissenschaft haben, der Fähigkeit<br />
unseres Knochensystems. Warum kann der Mensch zum<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Beispiel Geometrie ausbilden? Die höheren Tiere haben keine<br />
Geometrie; das sieht man ihrer Lebensweise an. Es ist nur ein<br />
Unsinn, wenn manche Leute sagen: Vielleicht haben die höheren<br />
Tiere auch Geometrie, man merkt es vielleicht nur nicht. -<br />
Der Mensch also bildet Geometrie aus. Wodurch aber bildet er<br />
zum Beispiel die Vorstellung eines Dreiecks aus? Wer wirklich<br />
über diese Tatsache nachdenkt, dass der Mensch die Vorstellung<br />
des Dreiecks ausbildet, der muss etwas Wunderbares darin finden,<br />
dass der Mensch das Dreieck, das abstrakte Dreieck, das im<br />
konkreten Leben nirgends vorhanden ist, rein aus seiner geometrisch-mathematischen<br />
Phantasie heraus ausbildet. Es liegt<br />
vieles Unbekannte zugrunde den Geschehnissen der Welt, die<br />
offenbar sind. Denken Sie sich zum Beispiel an einem bestimmten<br />
Platze dieses Zimmers stehend. Sie führen zu gewissen Zeiten<br />
als übersinnliches Menschenwesen merkwürdige Bewegungen<br />
aus, von denen Sie für gewöhnlich nichts wissen, ungefähr<br />
in der Art: Sie gehen ein Stückchen nach der einen Seite, dann<br />
gehen Sie ein Stückchen zurück, und dann kommen Sie wieder<br />
an Ihrem Platze an. Eine unbewusst bleibende Linie im Raume,<br />
die Sie beschreiben, verläuft tatsächlich als eine Dreiecksbewegung.<br />
Solche Bewegungen sind tatsächlich vorhanden, Sie nehmen<br />
sie nur nicht wahr, aber dadurch, dass Ihr Rückgrat in die<br />
Vertikale gerückt ist, sind Sie in der Ebene drinnen, in der diese<br />
Bewegungen verlaufen. Das Tier ist nicht in dieser Ebene drinnen,<br />
es hat sein Rückenmark anders liegen; da werden diese<br />
Bewegungen nicht vollführt. Indem der Mensch sein Rückenmark<br />
vertikal stehen hat, ist er in der Ebene, wo diese Bewegung<br />
ausgeführt wird. Zum Bewusstsein bringt er es sich nicht,<br />
dass er sich sagte: Ich tanze da fortwährend in einem Dreieck. -<br />
Aber er zeichnet ein Dreieck und sagt: Das ist ein Dreieck! - In<br />
Wahrheit ist das eine unbewusst ausgeführte Bewegung, die er<br />
im Kosmos vollführt.<br />
Diese Bewegungen, die Sie in der Geometrie fixieren, indem Sie<br />
geometrische Figuren zeichnen, führen Sie mit der Erde aus. Die<br />
Erde hat nicht nur die Bewegung, welche sie nach der Kopernikanischen<br />
Weltansicht hat: sie hat noch ganz andere, künstleri-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
sche Bewegungen, die werden da fortwährend ausgeführt. Und<br />
noch viel kompliziertere Bewegungen werden ausgeführt, solche<br />
Bewegungen zum Beispiel, die in den Linien liegen, welche<br />
die geometrischen Körper haben: der Würfel, das Oktaeder, das<br />
Dodekaeder, das Ikosaeder und so weiter. Diese Körper sind<br />
nicht erfunden, sie sind Wirklichkeit, nur unbewusste Wirklichkeit.<br />
Es liegen in diesen und in noch anderen Körperformen<br />
merkwürdige Anklänge an dieses für die Menschen unterbewusste<br />
Wissen. Das wird dadurch herbeigeführt, dass unser<br />
Knochensystem eine wesentliche Erkenntnis hat; aber Sie reichen<br />
nicht mit Ihrem Bewusstsein bis zum Knochensystem hinunter.<br />
Das Bewusstsein davon erstirbt, es wird nur reflektiert in<br />
den Bildern der Geometrie, die der Mensch da als Bilder ausführt.<br />
Der Mensch ist recht sehr eingeschaltet in den Kosmos.<br />
Indem er die Geometrie ausbildet, bildet er etwas nach, was er<br />
selbst im Kosmos tut.<br />
Da blicken wir auf der einen Seite in eine Welt hinein, die uns<br />
mitumfasst und die fortwährend im Absterben ist. Auf der anderen<br />
Seite blicken wir in alles das hinein, was in die Kräfte unseres<br />
Blut-Muskelsystems hereinragt: das ist in fortwährender<br />
Bewegung, in fortwährendem Fluktuieren, in fortwährendem<br />
Werden und Entstehen; das ist ganz keimhaft, da ist nichts Totes.<br />
Wir halten in uns den Sterbeprozess auf, und nur wir als<br />
Menschen können ihn aufhalten und bringen in das Sterbende<br />
Werden hinein. Wäre der Mensch nicht hier auf der Erde, so<br />
würde eben längst das Sterben sich ausgebreitet haben über den<br />
Erdenprozess, und die Erde wäre als Ganzes in eine große Kristallisation<br />
übergegangen. Nicht erhalten aber hätten sich die<br />
einzelnen Kristalle. Wir entreißen die einzelnen Kristalle der<br />
großen Kristallisation und erhalten sie, solange wir sie für unsere<br />
Menschenevolution brauchen. Wir erhalten aber damit auch<br />
das Leben der Erde rege. Wir Menschen sind es also, die das Leben<br />
der Erde rege halten, die nicht ausgeschaltet werden können<br />
vom Leben der Erde. Daher war es schon ein realer Gedanke<br />
von Eduard von Hartmann, der aus seinem Pessimismus heraus<br />
wollte, dass die Menschheit einmal eines Tages so reif wäre,<br />
49
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
dass alle Menschen sich selbst mordeten. Man braucht auch gar<br />
nicht das noch hinzuzufügen, was Hartmann aus der Beschränktheit<br />
der naturwissenschaftlichen Weltanschauung<br />
wollte: weil ihm nämlich das nicht genügt hätte, dass alle Menschen<br />
sich eines Tages selbst mordeten, wollte er auch noch die<br />
Erde durch eine großangelegte Unternehmung in die Luft<br />
sprengen. Das hätte er nicht gebraucht. Er hätte nur den Tag des<br />
großen Selbstmordens anordnen brauchen, und die Erde wäre<br />
von selbst langsam in die Luft gegangen! Denn ohne das, was<br />
vom Menschen in die Erde verpflanzt wird, kann die Erdenentwickelung<br />
nicht weitergehen. Von dieser Erkenntnis aus müssen<br />
wir uns wieder gefühlsmäßig durchdringen. Es ist notwendig,<br />
dass in der Gegenwart diese Dinge verstanden werden. Ich<br />
weiß nicht, ob Sie sich erinnern, dass in meinen allerersten<br />
Schriften immer ein Gedanke wiederkehrt, durch den ich die<br />
Erkenntnis auf eine andere Basis stellen wollte, als sie heute<br />
steht. In der äußeren Philosophie, die auf anglo-amerikanisches<br />
Denken zurückgeht, ist der Mensch eigentlich ein bloßer Zuschauer<br />
der Welt; er ist mit seinem inneren Seelenprozess ein<br />
bloßer Zuschauer der Welt. Wenn der Mensch nicht da wäre,<br />
so meint man, wenn er nicht in der Seele wieder erlebte, was in<br />
der Welt draußen vor sich geht, so wäre doch alles so, wie es ist.<br />
Das gilt für die Naturwissenschaft in bezug auf jene Tatsachenentwickelung,<br />
die ich angeführt habe, es gilt aber auch für die<br />
Philosophie. Der heutige Philosoph fühlt sich sehr wohl als Zuschauer<br />
der Welt, das heißt, in dem bloß ertötenden Element<br />
des Erkennens. Aus diesem ertötenden Element wollte ich die<br />
Erkenntnis herausführen. Daher habe ich immer wiederholt:<br />
Der Mensch ist nicht bloß ein Zuschauer der Welt, sondern er<br />
ist Schauplatz der Welt, auf dem sich die großen kosmischen<br />
Ereignisse immer wieder und wieder abspielen. Ich habe immer<br />
wieder gesagt: Der Mensch ist mit seinem Seelenleben der<br />
Schauplatz, auf dem sich Weltgeschehen abspielt. So kann man<br />
das auch in philosophisch-abstrakte Form kleiden. Und besonders,<br />
wenn Sie das Schlusskapitel über Freiheit in meiner Schrift<br />
«Wahrheit und Wissenschaft» lesen, werden Sie finden, dass<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
dieser Gedanke scharf betont ist: dass dasjenige, was sich im<br />
Menschen vollzieht, nicht etwas ist, was der übrigen Natur<br />
gleich ist, sondern dass die übrige Natur hereinragt in den Menschen<br />
und dass dasjenige, was im Menschen sich vollzieht, zugleich<br />
ein kosmischer Vorgang ist, so dass die menschliche Seele<br />
ein Schauplatz ist, auf dem sich ein kosmischer Vorgang abspielt,<br />
nicht bloß ein menschlicher. Damit wird man natürlich<br />
in gewissen Kreisen heute noch schwer verstanden. Aber ohne<br />
dass man sich mit solchen Anschauungen durchdringt, kann<br />
man unmöglich ein richtiger Erzieher werden.<br />
Was geschieht denn tatsächlich in der menschlichen Wesenheit?<br />
Auf der einen Seite steht die Knochen-Nervennatur, auf<br />
der anderen Seite die Blut-Muskelnatur. Durch das Zusammenwirken<br />
beider werden fortwährend Stoffe und Kräfte neu geschaffen.<br />
Die Erde wird vor dem Tode dadurch bewahrt, dass im<br />
Menschen selber Stoffe und Kräfte neu geschaffen werden. Jetzt<br />
können Sie das, was ich eben gesagt habe: dass das Blut durch<br />
seine Berührung mit den Nerven Neuschöpfung von Stoffen und<br />
Kräften bewirkt, zusammenbringen mit dem, was ich im vorigen<br />
Vortrage sagte: dass das Blut fortwährend auf dem Wege zur<br />
Geistigkeit ist und dabei aufgehalten wird. Diese Gedanken, die<br />
wir in diesen zwei Vorträgen gewonnen haben, werden wir<br />
miteinander verbinden und dann weiter darauf aufbauen. Aber<br />
Sie sehen schon, wie irrtümlich der Gedanke der Erhaltung von<br />
Kraft und Stoff ist, wie er gewöhnlich vorgebracht wird: denn<br />
durch das, was im Inneren der Menschennatur geschieht, wird<br />
er widerlegt, und für eine wirkliche Auffassung der Menschenwesenheit<br />
ist er nur ein Hindernis. Erst wenn man wieder den<br />
synthetischen Gedanken bekommen wird, dass tatsächlich zwar<br />
nicht aus Nichts etwas hervorgehen kann, dass aber das eine so<br />
umgewandelt werden kann, dass es vergeht und das andere entsteht<br />
- erst wenn man diesen Gedanken an die Stelle des Gedankens<br />
von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes gestellt haben<br />
wird, wird man etwas Gedeihliches für die Wissenschaft erhalten<br />
können.<br />
51
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Sie sehen, in welcher Richtung manches, was in unserem Denken<br />
lebt, verkehrt ist. Wir stellen etwas auf, wie zum Beispiel<br />
das Gesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes, und<br />
prok1amieren es als ein Weltgesetz. Dem liegt zugrunde ein<br />
gewisser Hang unseres Vorstellungslebens, unseres Seelenlebens<br />
überhaupt, in einseitiger Weise zu beschreiben, während wir<br />
nur Postulate aufstellen sollten aus dem, was wir in unserem<br />
Vorstellen entwickeln. So finden Sie zum Beispiel in unseren<br />
Physikbüchern das Gesetz von der Undurchdringlichkeit der<br />
Körper als ein Axiom aufgestellt: An der Stelle im Raume, wo<br />
ein Körper steht, kann zu gleicher Zeit kein anderer sein. - Das<br />
wird als allgemeine Eigenschaft der Körper hingestellt. Man<br />
sollte aber nur sagen: Diejenigen Körperlichkeiten oder Wesenheiten,<br />
welche so sind, dass an der Stelle des Raumes, wo sie<br />
sind, zu gleicher Zeit kein anderes Wesen gleicher Natur sein<br />
kann, die sind undurchdringlich. - Man sollte bloß die Begriffe<br />
dazu verwenden, um ein gewisses Gebiet von einem anderen<br />
abzugliedern, man sollte bloß Postulate aufstellen, sollte keine<br />
Definitionen geben, die den Anspruch erheben, universell zu<br />
sein. So sollte man auch kein Gesetz von der Erhaltung der Kraft<br />
und des Stoffes aufstellen, sondern, man sollte aufsuchen, für<br />
welche Wesenheiten dieses Gesetz eine Bedeutung hat. Das war<br />
gerade ein Bestreben im 19. Jahrhundert, dass man ein Gesetz<br />
aufstellte und sagte: Das gilt für alles - statt dass wir unser seelenleben<br />
dazu verwenden, um an die Dinge heranzukommen<br />
und zu beobachten, was wir an ihnen erleben.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
VIERTER VORTRAG<br />
25. AUGUST 1919, STUTTGART<br />
In der Zukunftserziehung und im Zukunftsunterricht muss ein<br />
ganz besonderer Wert gelegt werden auf die Willens- und die<br />
Gemütsbildung. Es wird zwar immer betont, auch von denjenigen,<br />
die an keine Erneuerung des Unterrichts- und Erziehungswesens<br />
denken, dass Wille und Gemüt in der Erziehung besonders<br />
berücksichtigt werden müssen, aber es kann eigentlich von<br />
dieser Seite, trotz allen guten Willens, nicht viel zu dieser Willens-<br />
und Gemütserziehung getan werden. Sie bleiben immer<br />
mehr und mehr dem sogenannten Zufall überlassen, weil keine<br />
Einsicht vorhanden ist in die wirkliche Natur des Willens.<br />
Einleitend möchte ich nun das Folgende bemerken: Erst wenn<br />
man den Willen wirklich erkennt, kann man auch wenigstens<br />
einen Teil der anderen Gemütsbewegungen erkennen, einen<br />
Teil der Gefühle. Wir können uns die Frage stellen: Was ist<br />
denn eigentlich ein Gefühl? Ein Gefühl ist mit dem Willen sehr<br />
verwandt. Wille ist, ich möchte sagen, nur das ausgeführte Gefühl,<br />
und das Gefühl ist der zurückgehaltene Wille. Der Wille,<br />
der sich noch nicht wirklich äußert, der in der Seele zurückbleibt,<br />
das ist das Gefühl; ein abgestumpfter Wille ist das Gefühl.<br />
Daher wird man das Wesen des Gefühls auch erst dann verstehen,<br />
wenn man das Wesen des Willens durchdringt.<br />
Nun können Sie schon aus meinen bisherigen Auseinandersetzungen<br />
sehen, dass alles, was im Willen lebt, sich nicht vollständig<br />
ausgestaltet in dem Leben zwischen Geburt und Tod. Es<br />
bleibt im Menschen, wenn er einen Willensentschluss ausführt,<br />
immer etwas übrig, was sich nicht erschöpft in dem Leben bis<br />
zum Tode hin; es bleibt ein Rest, der im Menschen fortlebt und<br />
der gerade von jedem Willensentschluss und jeder Willenstat<br />
durch den Tod sich fortsetzt. Dieser Rest muss durch das ganze<br />
53
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Leben und insbesondere auch im kindlichen Alter berücksichtigt<br />
werden.<br />
Wir wissen, wenn wir den vollständigen Menschen betrachten,so<br />
betrachten wir ihn nach Leib, Seele und Geist. Der Leib<br />
wird zunächst, wenigstens seinen gröberen Bestandteilen nach,<br />
geboren. Das Genauere darüber finden Sie in meinem Buche<br />
„Theosophie“. Der Leib wird also in die Vererbungsströmung<br />
einbezogen, trägt die vererbten Merkmale usw. Das Seelische ist<br />
schon in der Hauptsache das, was aus dem vorgeburtlichen Dasein<br />
sich verbindet mit dem Leiblichen, hinuntersteigt in das<br />
Leibliche. Aber das Geistige ist im gegenwärtigen Menschen –<br />
in dem Menschen einer ferneren Zukunft wird es ja anders sein<br />
– eigentlich nur seiner Anlage nach vorhanden. Und hier, wo<br />
wir die Grundlagen zu einer guten Pädagogik legen wollen,<br />
müssen wir auf das Rücksicht nehmen, was im Menschen der<br />
heutigen Entwicklungsepoche nur der Anlage nach als Geistiges<br />
vorhanden ist. Machen wir uns zunächst einmal ganz klar, was<br />
als solche Anlagen des Menschen für eine ferne Menschheitszukunft<br />
vorhanden sind.<br />
Da ist zunächst das vorhanden, eben nur der Anlage nach, was<br />
wir nennen das Geistselbst. Das Geistselbst werden wir nicht<br />
unter die Bestandteile, unter die Glieder der menschlichen Natur<br />
ohne weiteres aufnehmen können, wenn wir von dem gegenwärtigen<br />
Menschen sprechen; aber ein deutliches Bewusstsein<br />
vom Geistselbst ist insbesondere bei solchen Menschen<br />
vorhanden, die auf das Geistige zu sehen vermögen. Sie wissen,<br />
dass das gesamte morgenländische Bewusstsein, insofern es gebildetes<br />
Bewusstsein ist, dieses Geistselbst «Manas» nennt und<br />
dass von Manas als etwas im Menschen Lebendem in der morgenländischen<br />
Geisteskultur durchaus gesprochen wird. Aber<br />
auch in der abendländischen Menschheit, wenn sie nicht gerade<br />
«gelehrt» geworden ist, ist ein deutliches Bewusstsein von diesem<br />
Geistselbst vorhanden. Und zwar sage ich nicht ohne Bedacht:<br />
ein deutliches Bewusstsein ist vorhanden; denn man<br />
nennt im Volke - hat wenigstens genannt, bevor das Volk ganz<br />
54
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
ergriffen worden ist von der materialistischen Gesinnung - das,<br />
was vom Menschen übrigbleibt nach dem Tode, die Manen.<br />
Man spricht davon, dass nach dem Tode übrigbleiben die Manen;<br />
Manas = die Manen. Ich sagte: ein deutliches Bewusstsein<br />
hat das Volk davon; denn das Volk gebraucht in diesem Falle<br />
den Plural, die Manen. Wir, die wir wissenschaftlich mehr das<br />
Geistselbst noch auf den Menschen vor dem Tode beziehen,<br />
sagen in der Einzahl: das Geistselbst. Das Volk, das mehr aus der<br />
Realität, aus der naiven Erkenntnis heraus über dieses Geistselbst<br />
spricht, gebraucht die Mehrzahl, indem es von den Manen<br />
redet, weil der Mensch in dem Augenblick, wo er durch die<br />
Pforte des Todes geht, aufgenommen wird von einer Mehrzahl<br />
von geistigen Wesenheiten. Ich habe das schon in einem anderen<br />
Zusammenhang angedeutet: Wir haben unseren persönlichen<br />
führenden Geist aus der Hierarchie der Angeloi; darüberstehend<br />
aber haben wir die Geister aus der Hierarchie der<br />
Archangeloi, die sich sogleich einschalten, wenn der Mensch<br />
durch die Pforte des Todes geht, so dass er dann sofort sein Dasein<br />
in gewisser Beziehung in der Mehrzahl hat, weil viele<br />
Archangeloi in sein Dasein eingeschaltet sind. Das fühlt das<br />
Volk sehr deutlich, weil es weiß, dass der Mensch, im Gegensatz<br />
zu seinem Dasein hier, das als eine Einheit erscheint, sich dann<br />
mehr oder weniger als eine Vielheit wahrnimmt. Also die Manen<br />
sind etwas, was im naiven Volksbewusstsein von diesem der<br />
Mehrzahl nach vorhandenen Geistselbst, von Manas, lebt.<br />
Ein zweiter, höherer Bestandteil des Menschen ist dann das, was<br />
wir den Lebensgeist nennen. Dieser Lebensgeist ist schon sehr<br />
wenig wahrnehmbar innerhalb des gegenwärtigen Menschen.<br />
Er ist etwas sehr geistiger Art im Menschen, was sich in ferner<br />
Menschenzukunft entwickeln wird. Und dann das Höchste, was<br />
im Menschen ist, was gegenwärtig eben nur der ganz geringfügigen<br />
Anlage nach vorhanden ist, das ist der eigentliche Geistesmensch.<br />
Wenn nun aber auch im gegenwärtigen, hier auf der Erde zwischen<br />
Geburt und Tod lebenden Menschen diese drei höheren<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Glieder der Menschennatur nur der Anlage nach vorhanden<br />
sind, so entwickeln sie sich, allerdings unter dem Schutze höherer<br />
geistiger Wesenheiten, zwischen Tod und neuer Geburt<br />
doch sehr bedeutsam. Wenn also der Mensch stirbt und sich in<br />
die geistige Welt wieder hineinlebt, entwickeln sich diese drei<br />
Glieder, gewissermaßen vordeutend ein zukünftiges Menschheitsdasein,<br />
sehr deutlich. Also geradeso wie der Mensch sich in<br />
seinem jetzigen Leben geistig-seelisch zwischen Geburt und Tod<br />
entwickelt, so hat er auch nach dem Tode eine deutliche Entwickelung,<br />
nur dass er dann, gleichsam wie an einer Nabelschnur,<br />
an den geistigen Wesenheiten der höheren Hierarchien dranhängt.<br />
Fügen wir nun jetzt zu den heute kaum wahrnehmbaren höheren<br />
Gliedern der Menschennatur dasjenige hinzu, was wir jetzt<br />
schon wahrnehmen. Das ist zunächst das, was sich ausprägt in<br />
der Bewusstseinsseele, in der Verstandes- oder Gemütsseele und<br />
in der Empfindungsseele. Das sind die eigentlichen Seelenbestandteile<br />
des Menschen. Wollen wir heute beim Menschen von<br />
der Seele sprechen, wie sie im Leibe lebt, so müssen wir von den<br />
eben angeführten drei Seelengliedern sprechen.<br />
Wollen wir von seinem Leibe sprechen, so sprechen wir von<br />
dem Empfindungsleib, dem feinsten Leib, den man auch astralischen<br />
Leib nennt, von dem ätherischen Leib und dem groben<br />
physischen Leib, den wir mit unseren Augen sehen und den die<br />
äußere Wissenschaft zergliedert. Damit haben wir den ganzen<br />
Menschen vor uns.<br />
Nun wissen Sie ja, dass der physische Leib, wie wir ihn an uns<br />
tragen, auch dem Tiere eigen ist. Wir bekommen nur, wenn wir<br />
diesen ganzen Menschen nach diesen neun Gliedern mit der<br />
Tierwelt vergleichen, eine empfindungsgemäße und für die<br />
Auffassung des Willens brauchbare Vorstellung von der Beziehung<br />
des Menschen zu den Tieren, wenn wir wissen: so wie der<br />
Mensch in seiner Seele umkleidet ist mit dem physischen Leib,<br />
so ist auch das Tier mit einem physischen Leib umkleidet, aber<br />
der physische Leib des Tieres ist in vieler Beziehung anders ge-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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staltet als der des Menschen. Der physische Leib des Menschen<br />
ist nicht eigentlich vollkommener als der des Tieres. Denken Sie<br />
an solche aus der Reihe der höheren Tiere, wie an den Biber,<br />
wenn er seinen Biberbau formt. Das kann der Mensch nicht,<br />
wenn er es nicht lernt, wenn er nicht sogar eine sehr komplizierte<br />
Schulung dazu durchmacht, wenn er nicht Architektur<br />
lernt und dergleichen. Der Biber macht seinen Bau aus der Organisation<br />
seines Leibes heraus. Es ist einfach sein äußerer, physischer<br />
Leib so geformt, dass er sich in die äußere physische<br />
Welt so einfügt, dass er das, was in den Formen seines physischen<br />
Leibes lebt, zur Herstellung seines Biberbaues verwenden<br />
kann. Sein physischer Leib selbst ist in dieser Beziehung sein<br />
Lehrmeister. Wir können die Wespen, die Bienen, können auch<br />
die sogenannten niederen Tiere beobachten und werden in der<br />
Form ihrer physischen Leiber finden, dass darin etwas verankert<br />
ist, was im physischen Leibe des Menschen in dieser Ausdehnung,<br />
in dieser Stärke nicht vorhanden ist. Das ist alles das,<br />
was wir umfassen mit dem Begriff des Instinktes; so dass wir den<br />
Instinkt in Wirklichkeit nur studieren können, wenn wir ihn<br />
im Zusammenhange mit der Form des physischen Leibes betrachten.<br />
Studieren wir die ganze Tierreihe, wie sie sich außen<br />
ausbreitet, so werden wir in den Formen der physischen Leiber<br />
der Tiere überall drinnen die Anleitung haben, die verschiedenen<br />
Arten der Instinkte zu studieren. Wir müssen, wenn wir<br />
den Willen studieren wollen, ihn zuerst aufsuchen im Gebiete<br />
des Instinktes und müssen uns bewusst werden, dass wir den<br />
Instinkt auffinden in den Formen der physischen Leiber der<br />
verschiedenen Tiere. Wenn wir die Hauptformen der einzelnen<br />
Tiere ins Auge fassen und aufzeichnen würden, so würden wir<br />
die verschiedenen Gebiete des Instinktes zeichnen können. Was<br />
der Instinkt als Wille ist, das ist im Bilde die Form des physischen<br />
Leibes der verschiedenen Tiere. Sie sehen, dadurch<br />
kommt Sinn in die Welt hinein, wenn wir diesen Gesichtspunkt<br />
anlegen können. Wir überschauen die Formen der physischen<br />
Tierleiber und sehen darin eine Zeichnung, welche die Natur<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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selbst von den Instinkten schafft, durch die sie verwirklichen<br />
will, was im Dasein lebt.<br />
Nun lebt in unserem physischen Leibe, diesen ganz durchgestaltend,<br />
durchdringend, der Ätherleib. Er ist für die äußeren Sinne<br />
übersinnlich, unsichtbar. Aber wenn wir auf die Willensnatur<br />
schauen, dann ist es so, dass ebenso wie der Ätherleib den physischen<br />
Leib durchdringt, so ergreift er auch das, was sich im<br />
physischen Leibe als Instinkt äußert. Dann wird der Instinkt<br />
zum Trieb. Im physischen Leib ist der Wille Instinkt; sobald der<br />
Ätherleib sich des Instinktes bemächtigt, wird der Wille Trieb.<br />
Es ist dann sehr interessant, zu verfolgen, wie in der Beobachtung<br />
der Instinkt, den man in der äußeren Form mehr konkret<br />
erfassen kann, sich verinnerlicht und sich auch mehr vereinheitlicht,<br />
indem man ihn als Trieb betrachtet. Von Instinkt wird<br />
man immer so sprechen, dass er, wenn er sich im Tiere oder in<br />
seiner Abschwächung im Menschen vorfindet, dem Wesen von<br />
außen aufgedrängt ist; beim Trieb ist schon daran zu denken,<br />
dass das, was sich in einer mehr verinnerlichten Form äußert,<br />
auch mehr von innen kommt, weil der übersinnliche Ätherleib<br />
sich des Instinktes bemächtigt und dadurch der Instinkt zum<br />
Trieb wird. Nun hat der Mensch auch noch den Empfindungsleib.<br />
Der ist noch innerlicher. Er ergreift nun wieder den Trieb,<br />
und dann wird nicht nur eine Verinnerlichung erzeugt, sondern<br />
es wird Instinkt und Trieb auch schon ins Bewusstsein heraufgehoben,<br />
und so wird daraus dann die Begierde. Die Begierde<br />
finden Sie auch noch beim Tiere, wie Sie den Trieb bei ihm finden,<br />
weil das Tier ja alle diese drei Glieder, physischen Leib,<br />
Ätherleib, Empfindungsleib, auch hat. Aber wenn Sie von der<br />
Begierde sprechen, so werden Sie schon, ganz instinktiv, sich<br />
herbeilassen müssen, die Begierde als etwas sehr Innerliches anzusehen.<br />
Beim Trieb sprechen Sie so, dass er doch, ich möchte<br />
sagen, von der Geburt bis zum späten Alter sich einheitlich äußert;<br />
bei der Begierde sprechen Sie von etwas, was erkraftet<br />
wird von dem Seelischen, was mehr einmalig erkraftet wird.<br />
Eine Begierde braucht nicht charakterologisch zu sein, sie<br />
braucht nicht dem Seelischen anzuhaften, sondern sie entsteht<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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und vergeht. Dadurch zeigt sich die Begierde als mehr dem Seelischen<br />
eigentümlich, als der bloße Trieb.<br />
Jetzt fragen wir uns: Wenn nun der Mensch - was also beim<br />
Tiere nicht mehr auftreten kann - in sein Ich, das heißt in Empfindungsseele,<br />
Verstandes- oder Gemütsseele und Bewusstseinsseele<br />
dasjenige herein nimmt, was als Instinkt, Trieb und Begierde<br />
in seinem Leiblichen lebt, was wird dann daraus gemacht?<br />
Da unterscheiden wir nicht so streng, wie innerhalb des<br />
Leiblichen, weil Sie in der Seele tatsächlich, namentlich beim<br />
gegenwärtigen Menschen, alles mehr oder weniger durcheinandergemischt<br />
haben. Das ist ja auch das Kreuz der gegenwärtigen<br />
Psychologie, dass die Psychologen nicht wissen, sollen sie die<br />
Glieder der Seele streng auseinanderhalten, oder sollen sie sie<br />
durcheinanderfließen lassen? Da spuken noch bei einzelnen<br />
Psychologen die alten strengen Unterscheidungen zwischen<br />
Wille, Gefühl und Denken; bei anderen, zum Beispiel bei den<br />
mehr Herbartisch gearteten Psychologen, wird alles mehr nach<br />
der Vorstellungsseite hinübergeleitet, bei den Wundtianern<br />
mehr nach der Willensseite. Also man hat keine rechte Vorstellung<br />
davon, was man eigentlich mit der Gliederung der Seele<br />
machen soll. Das kommt davon her, weil im praktischen Leben<br />
in der Tat das Ich alle Seelenfähigkeiten durchsetzt und weil<br />
beim gegenwärtigen Menschen in bezug auf die drei Glieder der<br />
Seele die Unterscheidung auch in der Praxis nicht deutlich<br />
hervortritt. Daher hat die Sprache auch keine Worte, um das,<br />
was in der Seele willensartiger Natur ist - Instinkt, Trieb, Begierde<br />
, wenn es vom Ich erfasst wird, zu unterscheiden. Aber<br />
im allgemeinen bezeichnen wir das beim Menschen, was als<br />
Instinkt, Trieb, Begierde vom Ich erfasst wird, als Motiv, so dass<br />
wir, wenn wir von dem Willensantriebe in dem eigentlichen<br />
Seelischen, in dem «Ichlichen» sprechen, vom Motiv sprechen<br />
und dann wissen: Tiere können wohl Begierden haben, aber<br />
keine Motive. Beim Menschen erst wird die Begierde erhoben,<br />
indem er sie in die Seelenwelt hereinnimmt, und dadurch wird<br />
der starke Antrieb bewirkt, innerlich ein Motiv zu fassen. Bei<br />
ihm erst wird die Begierde zum eigentlichen Willensmotiv. Da-<br />
59
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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durch, dass wir sagen, im Menschen lebt noch von der Tierwelt<br />
her Instinkt, Trieb und Begierde, aber er erhebt diese zum Motiv,<br />
dadurch haben wir, wenn wir vom Willen sprechen, dasjenige,<br />
was beim gegenwärtigen Menschen vorliegt. Das ist deutlich<br />
vorhanden. Und wer überhaupt den Menschen beobachten<br />
wird hinsichtlich seiner Willensnatur, der wird sich sagen:<br />
Weiß ich beim Menschen, was seine Motive sind, so erkenne<br />
ich ihn. Aber nicht ganz!<br />
Denn es klingt leise unten etwas an, wenn der Mensch Motive<br />
entwickelt, und dieses leise Anklingende muss nun sehr, sehr<br />
stark berücksichtigt werden. Ich bitte Sie jetzt, genau zu unterscheiden,<br />
was ich mit diesem Anklingenden beim Willensimpuls<br />
meine, von dem, was mehr vorstellungsgemäß ist. Was<br />
mehr vorstellungsgemäß ist beim Willensimpuls, das meine ich<br />
jetzt nicht. Sie können zum Beispiel die Vorstellung haben: Das<br />
war gut, was ich da gewollt oder getan habe , oder Sie können<br />
auch eine andere Vorstellung haben. Das meine ich nicht, sondern<br />
ich meine jetzt das, was eben willensmäßig noch leise anklingt.<br />
Da ist zunächst eines, das auch, wenn wir Motive haben,<br />
immer noch im Willen wirkt, der Wunsch. Ich meine jetzt<br />
nicht die stark ausgeprägten Wünsche, aus denen dann die Begierden<br />
sich bilden, sondern jenen leisen Anklang von Wünschen,<br />
die alle unsere Motive begleiten. Sie sind immer vorhanden.<br />
Dieses Wünschen nehmen wir besonders dann stark wahr,<br />
wenn wir irgend etwas ausführen, das einem Motive in unserem<br />
Willen entspringt, und wenn wir zuletzt darüber nachdenken<br />
und uns sagen: Was du da ausgeführt hast, das könntest du noch<br />
viel besser ausführen. - Aber gibt es denn etwas, was wir im Leben<br />
tun, bei dem wir nicht das Bewusstsein haben könnten, dass<br />
wir es noch besser ausführen könnten? Es wäre traurig, wenn<br />
wir mit irgend etwas vollständig zufrieden sein könnten, denn<br />
es gibt nichts, was wir nicht auch noch besser machen könnten.<br />
Und dadurch gerade unterscheidet sich der in der Kultur etwas<br />
höherstehende Mensch von dem niedriger stehenden, dass der<br />
letztere immer mit sich zufrieden sein möchte. Der Höherstehende<br />
möchte nie mit sich so richtig zufrieden sein, weil ein<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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leiser Wunsch nach Bessermachen, sogar nach Andersmachen,<br />
immer mitklingt als Motiv. Auf diesem Gebiete wird ja viel gesündigt.<br />
Die Menschen sehen etwas wer weiß wie Großes darin,<br />
wenn sie eine Handlung bereuen. Das ist aber nicht das Beste,<br />
was man mit einer Handlung anfangen kann, denn die Reue beruht<br />
vielfach auf einem bloßen Egoismus: man möchte etwas<br />
besser getan haben, um ein besserer Mensch zu sein. Das ist egoistisch.<br />
Unegoistisch wird unser Streben erst dann, wenn man<br />
nicht die schon vollbrachte Handlung besser haben möchte,<br />
sondern wenn man viel größeren Wert darauf legt, in einem<br />
nächsten Falle dieselbe Handlung besser zu machen. Der Vorsatz,<br />
den man so fasst, die Anstrengung, das nächste Mal eine<br />
Sache besser zu machen, ist das Höchste, nicht die Reue. Und in<br />
diesen Vorsatz klingt der Wunsch noch hinüber, so dass wir uns<br />
wohl die Frage stellen dürfen: Was ist es, was da mitklingt als<br />
Wunsch? - Für den, der die Seele wirklich beobachten kann, ist<br />
es das erste Element von alledem, was nach dem Tode übrigbleibt.<br />
Es ist etwas von dem Rest, was wir fühlen: Wir sollten es<br />
besser gemacht haben, wir wünschten es besser zu machen. -<br />
Das gehört schon dem Geistselbst an: der Wunsch in der Form,<br />
wie ich ihn auseinandergesetzt habe.<br />
Nun kann sich der Wunsch mehr konkretisieren, kann deutlichere<br />
Gestalt annehmen. Dann wird er dem Vorsatz ähnlich.<br />
Dann bildet man sich eine Art Vorstellung davon, wie man die<br />
Handlung, wenn man sie noch einmal machen müsste, besser<br />
machen würde. Aber auf die Vorstellung lege ich nicht den<br />
großen Wert, sondern auf das Gefühls- und Willensmäßige, das<br />
jedes Motiv begleitet, das Motiv: das nächste Mal in ähnlichem<br />
Falle etwas besser zu machen. Da kommt bei uns das sogenannte<br />
Unterbewusste des Menschen zu starker Auswirkung. In Ihrem<br />
gewöhnlichen Bewusstsein werden Sie nicht, wenn Sie heute<br />
aus Ihrem Willen heraus eine Handlung vollführen, immer eine<br />
Vorstellung davon entwerfen, wie Sie das nächste Mal eine ähnliche<br />
Handlung besser ausführen können. Der Mensch aber, der<br />
noch in Ihnen lebt, der zweite Mensch, der entwickelt - allerdings<br />
jetzt nicht vorstellungsgemäß, sondern willensgemäß -<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
immer ein deutliches Bild von dem, wie er die Handlung, wenn<br />
er noch einmal in derselben Lage wäre, ausführen würde. Unterschätzen<br />
Sie ja nicht eine solche Erkenntnis! Unterschätzen<br />
Sie überhaupt nicht diesen zweiten Menschen, der in Ihnen<br />
lebt.<br />
Von diesem zweiten Menschen faselt heute viel jene sogenannte<br />
wissenschaftliche Richtung, welche sich die analytische Psychologie<br />
nennt, die Psychoanalyse. Diese Psychoanalyse geht ja gewöhnlich<br />
von einem Schulbeispiel aus, wenn sie sich darstellt.<br />
Ich habe dieses Schulbeispiel auch schon erzählt, aber es ist ganz<br />
gut, es sich wieder einmal vor die Augen zu rücken.<br />
Es ist das Folgende: Es wird von einem Manne in seinem Hause<br />
eine Abendgesellschaft gegeben, und es ist im Programm vorgesehen,<br />
dass gleich nach Schluss der Gesellschaft die Dame des<br />
Hauses noch abreisen soll, um ins Bad zu fahren. Bei dieser Gesellschaft<br />
sind verschiedene Leute, darunter auch eine Dame.<br />
Die Gesellschaft wird gegeben. Die Dame des Hauses wird zum<br />
Zuge gebracht, um ins Bad zu reisen. Die übrige Gesellschaft<br />
geht fort und mit den anderen auch die eine Dame. Sie wird<br />
ebenso wie die anderen Glieder der Gesellschaft an einer Straßenkreuzung<br />
von einer Droschke überrascht, die gerade von<br />
einer anderen Straße her um die Ecke biegt, so dass man sie erst<br />
sieht, als man ganz nahe davor ist. Was tun die Mitglieder der<br />
Gesellschaft? Sie weichen selbstverständlich der Droschke<br />
rechts und links aus, nur jene eine Dame nicht. Sie läuft, soviel<br />
sie laufen kann, mitten auf der Straße immer vor den Pferden<br />
her. Der Droschkenkutscher hört auch nicht mit fahren auf, und<br />
die anderen Teilnehmer der Gesellschaft sind ganz erschrocken.<br />
Aber die Dame läuft so rasch, dass die anderen ihr nicht folgen<br />
können, läuft, bis sie an eine Brücke kommt. Da fällt es ihr<br />
auch nicht ein, jetzt auszuweichen. Nun fällt sie ins Wasser,<br />
aber sie wird gerettet, und sie wird dann zurückgebracht in das<br />
Haus des Gastgebers. Dort kann sie nun die Nacht zubringen. -<br />
Diese Begebenheit finden Sie als Beispiel in vielen Darstellungen<br />
der Psychoanalyse. Es wird nur überall etwas darin falsch<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
interpretiert. Denn man muss sich fragen: Was liegt dem ganzen<br />
Vorgang zugrunde? Zugrunde liegt das Wollen der Dame. Was<br />
wollte sie nämlich? Sie wollte, nachdem die Dame des Hauses<br />
abgereist sein würde, in das Haus des Gastgebers zurückkehren,<br />
denn sie war in den Mann verliebt. Aber das war kein bewusstes<br />
Wollen, sondern etwas, was ganz im Unterbewusstsein saß. Und<br />
dieses Unterbewusstsein des zweiten Menschen, der im Menschen<br />
sitzt, ist oftmals viel raffinierter als der Mensch in seinem<br />
Oberstübchen. So raffiniert war in diesem Falle das Unterbewusstsein,<br />
dass die Dame die ganze Prozedur angestellt hat bis<br />
zu dem Augenblick, wo sie ins Wasser fiel, um in das Haus des<br />
Gastgebers zurückzukommen. Sie sah sogar prophetisch voraus,<br />
dass sie gerettet werden würde. - Diesen verborgenen Seelenkräften<br />
sucht nun die Psychoanalyse nahezukommen, aber sie<br />
spricht nur im allgemeinen von einem zweiten Menschen. Wir<br />
aber können wissen, dass das, was in den unterbewussten Seelenkräften<br />
wirksam ist und sich oftmals außerordentlich raffiniert<br />
äußert, viel raffinierter als bei normaler Seelenbeschaffenheit,<br />
in jedem Menschen vorhanden ist.<br />
In jedem Menschen sitzt unten, gleichsam unterirdisch, der andere<br />
Mensch. In diesem anderen Menschen lebt auch der bessere<br />
Mensch, der sich immer vornimmt, bei einer Handlung, die<br />
er begangen hat, in einem ähnlichen Falle die Sache das nächste<br />
Mal besser zu machen, so dass immer leise mitklingt der Vorsatz,<br />
der unbewusste, unterbewusste Vorsatz, eine Handlung in<br />
einem ähnlichen Falle besser auszuführen.<br />
Und erst wenn die Seele einmal vom Leibe befreit sein wird,<br />
wird aus diesem Vorsatz der Entschluss. Der Vorsatz bleibt ganz<br />
keimhaft in der Seele liegen; dann folgt der Entschluss später<br />
nach. Und der Entschluss sitzt ebenso im Geistesmenschen, wie<br />
der Vorsatz im Lebensgeist und wie der reine Wunsch im Geistselbst<br />
sitzt. Fassen Sie also den Menschen als wollendes Wesen<br />
ins Auge, so können Sie alle diese Bestandteile finden: Instinkt,<br />
Trieb, Begierde und Motiv, und dann leise anklingend das, was<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
schon im Geistselbst, im Lebensgeist und im Geistesmenschen<br />
lebt als Wunsch, Vorsatz und Entschluss.<br />
Das hat nun für die Entwickelung des Menschen eine große Bedeutung.<br />
Denn was da leise lebt als sich aufbewahrend für die<br />
Zeit nach dem Tode, das lebt sich im Bilde aus beim Menschen<br />
zwischen Geburt und Tod. Da bezeichnet man es dann mit denselben<br />
Worten. Vorstellungsmäßig erleben wir auch da<br />
Wunsch, Vorsatz und Entschluss. Aber nur dann werden wir in<br />
menschlich entsprechender Weise diesen Wunsch, Vorsatz und<br />
Entschluss erleben, wenn diese Dinge in richtiger Art herangebildet<br />
werden. Was Wunsch, Vorsatz und Entschluss eigentlich<br />
in der tieferen Menschennatur sind, das tritt nicht hervor beim<br />
äußeren Menschen zwischen Geburt und Tod. Die Bilder treten<br />
im Vorstellungsleben hervor. Sie wissen ja gar nicht, wenn Sie<br />
nur das gewöhnliche Bewusstsein entwickeln, was Wunsch ist.<br />
Sie haben stets nur die Vorstellung des Wunsches. Daher glaubt<br />
Herbart, es sei überhaupt in der Vorstellung des Wunsches<br />
schon ein Strebendes vorhanden. Beim Vorsatz ist es ebenso;<br />
vor ihm haben Sie auch nur die Vorstellung. Sie wollen so und<br />
so etwas tun, was sich real unten in der Seele abspielt, aber Sie<br />
wissen ja nicht, was da zugrunde liegt. Und nun erst der Entschluss!<br />
Wer weiß denn etwas davon? Nur von einem allgemeinen<br />
Wollen spricht die allgemeine Psychologie. - Und dennoch<br />
muss in alle diese drei Seelenkräfte regelnd und ordnend der<br />
Unterrichter und Erzieher eingreifen. Man muss gerade mit<br />
dem arbeiten, was in den Tiefen unten in der Menschennatur<br />
sich abspielt, wenn man erziehend und unterrichtend arbeiten<br />
will.<br />
Geistesmensch: Entschluss<br />
Lebensgeist: Vorsatz<br />
Geistselbst: Wunsch<br />
Bewusstseinsseele<br />
Verstandesseele Motiv<br />
Empfindungsseele<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Empfindungsleib: Begierde<br />
Ätherleib: Trieb<br />
Physischer Leib: Instinkt<br />
Es ist immer außerordentlich wichtig, dass man sich als Erzieher<br />
und Unterrichter bewusst werde: Es genügt nicht, den Unterricht<br />
einzurichten nach dem gewöhnlichen Menschenverkehr,<br />
sondern man muss diesen Unterricht aus der Erfassung des<br />
inneren Menschen heraus gestalten.<br />
Diesen Fehler, den Unterricht nach dem gewöhnlichen Verkehr<br />
der Menschen einzurichten, möchte gerade der landläufige Sozialismus<br />
machen. Denken Sie sich nur einmal, es würde nach<br />
dem Ideal der gewöhnlichen marxistischen Sozialisten die Schule<br />
der Zukunft gestaltet werden. In Russland ist es schon geschehen;<br />
daher ist dort die Lunatscharskische Schulreform etwas<br />
ganz Fürchterliches. Sie ist der Tod aller Kultur! Und wenn<br />
schon aus dem übrigen Bolschewismus sehr viel Schlimmes hervorgeht<br />
- das Schlimmste aus ihm wird die bolschewistische Unterrichtsmethode<br />
sein! Denn sie wird, wenn sie siegte, gründlich<br />
alles das ausrotten, was aus den früheren Zeiten an Kultur überkommen<br />
ist. Sie wird es nicht gleich in der ersten Generation<br />
erreichen, aber sie wird es bei den kommenden Generationen<br />
um so sicherer können, und dann wird sehr bald jegliche Kultur<br />
vom Erdboden verschwinden. Das müssten einige einsehen.<br />
Denn denken Sie sich, dass wir ja jetzt unter den dilettantischen<br />
Forderungen eines gemäßigten Sozialismus leben. Dahinein<br />
klingen die Klänge, die in der verkehrtesten Art den Sozialismus<br />
ausgestalten wollen. Gutes mit Schlimmem tönt da zusammen.<br />
Sie haben es ja in diesem Raume selbst gehört, haben Menschen<br />
gehört, die ein Loblied auf den Bolschewismus gesungen haben,<br />
und die gar keine Ahnung davon haben, dass dadurch das Teuflische<br />
selbst in den Sozialismus hineingetrieben wird.<br />
Hier muss besonders achtgegeben werden. Es müssen Menschen<br />
da sein, welche wissen, dass der Fortschritt nach der sozialen<br />
Seite ein um so intimeres Erfassen des Menschen von seiten der<br />
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Erziehung fordert. Daher muss man wissen, dass gerade von<br />
dem Zukunftserzieher und -unterrichter das Innerste der Menschennatur<br />
angefasst werden muss, dass man mit diesem Innersten<br />
der Menschennatur leben muss und dass der gewöhnliche<br />
Verkehr, wie er sich zwischen den Erwachsenen abspielt, nicht<br />
im Unterricht angewendet werden darf. Was wollen denn die<br />
gewöhnlichen Marxisten? Sie wollen die Schule sozialistisch<br />
gestalten, wollen das Rektorat abschaffen und nichts an seine<br />
Stelle setzen und wollen möglichst die Kinder durch sich selbst<br />
erziehen lassen. Es kommt etwas Furchtbares heraus!<br />
Wir waren einmal in einem Landerziehungsheim und wollten<br />
uns beim dortigen Unterrichte die erhebendste Stunde ansehen:<br />
die Religionsstunde. Wir kamen in das Unterrichtszimmer. Da<br />
lag auf dem Fensterbrett ein Bengel, der räkelte sich mit seinen<br />
Beinen zum Fenster hinaus; ein zweiter hockte auf dem Fußboden,<br />
ein dritter lag irgendwo auf dem Bauch und hob den Kopf<br />
nach aufwärts. So ungefähr waren alle Schüler in dem Raume<br />
verteilt. Dann kam der sogenannte Religionslehrer und las ohne<br />
besondere Einleitung eine Novelle von Gottfried Kel1er vor.<br />
Dabei begleiteten die Schüler seine Vorlesung wieder mit den<br />
verschiedensten Räkeleien. Dann, als er damit zu Ende war, war<br />
die Religionsstunde aus, und alles ging ins Freie. Mir stieg bei<br />
diesem Erlebnis das Bild auf, dass neben diesem Landerziehungsheim<br />
ein großer Hammelstall war - und einige Schritte<br />
davon entfernt lebte dann diese Schülerschaft. - Gewiss, auch<br />
diese Dinge sollen nicht scharf getadelt werden. Es liegt viel guter<br />
Wille zugrunde, aber es ist eine vollständige Verkennung<br />
dessen, was für die Kultur der Zukunft zu geschehen hat.<br />
Was will man denn heute nach dem sogenannten sozialistischen<br />
Programm? - Man will die Kinder so miteinander in Verkehr<br />
treten lassen, wie es bei den Erwachsenen der Fall ist. Das aber<br />
ist das Falscheste, was man in der Erziehung tun kann. Man<br />
muss sich bewusst sein dessen, dass das Kind noch etwas ganz<br />
anderes an Seelenkräften und auch an Körperkräften zu entwickeln<br />
hat, als die Erwachsenen im Wechselverkehr miteinander<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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zu entwickeln haben. Also auf das, was tief unten in der Seele<br />
sitzt, muss die Erziehung und der Unterricht eingehen können;<br />
sonst kommt man nicht weiter. Daher wird man sich fragen<br />
müssen: Was vom Unterricht und von der Erziehung wirkt auf<br />
die Willensnatur des Menschen? - Diese Frage muss einmal<br />
ernstlich in Angriff genommen werden.<br />
Wenn Sie an das gestern Gesagte denken, werden Sie sich erinnern:<br />
Alles Intellektuelle ist schon greisenhafter Wille, ist schon<br />
der Wille im Alter. Also alle gewöhnliche Unterweisung im verstandesmäßigen<br />
Sinne, alle gewöhnliche Ermahnung, alles, was<br />
für die Erziehung in Begriffe gefasst wird, wirkt in dem Alter,<br />
das für die Erziehung in Betracht kommt, noch gar nicht auf das<br />
Kind. Nun fassen wir die Sache noch einmal zusammen, so dass<br />
wir wissen: Gefühl ist werdender, noch nicht gewordener Wille;<br />
aber im Willen lebt der ganze Mensch, so dass man auch bei<br />
dem Kinde rechnen muss mit den unterbewussten Entschlüssen.<br />
Hüten wir uns nur vor dem Glauben, dass wir mit allem, was<br />
wir meinen gut ausgedacht zu haben, auf den Willen des Kindes<br />
einen Einfluss haben. Wir müssen uns daher fragen: Wie können<br />
wir einen guten Einfluss auf die Gefühlsnatur des Kindes<br />
nehmen? Das können wir nur durch das, was wir einrichten als<br />
das wiederholentliche Tun. Nicht dadurch, dass Sie dem Kinde<br />
einmal sagen, was richtig ist, können Sie den Willensimpuls zur<br />
richtigen Auswirkung bringen, sondern indem Sie heute und<br />
morgen und übermorgen etwas von dem Kinde tun lassen. Das<br />
Richtige liegt gar nicht zunächst darin, dass Sie darauf ausgehen,<br />
dem Kinde Ermahnungen, Sittenregeln zu geben, sondern Sie<br />
lenken es hin auf irgend etwas, von dem Sie glauben, dass es das<br />
Gefühl für das Richtige im Kinde erwecken wird und lassen dies<br />
das Kind wiederholentlich tun. Sie müssen eine solche Handlung<br />
zur Gewohnheit erheben. Je mehr es bei der unbewussten<br />
Gewohnheit bleibt, um so besser ist es für die Entwickelung des<br />
Gefühls; je mehr das Kind sich bewusst wird, die Tat aus Hingabe<br />
in der Wiederholung zu tun, weil sie getan werden soll, weil<br />
sie getan werden muss, desto mehr erheben Sie dies zum wirklichen<br />
Willensimpuls. Also mehr unbewusstes Wiederholen kul-<br />
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tiviert das Gefühl; vollbewußtes Wiederholen kultiviert den eigentlichen<br />
Willensimpuls, denn dadurch wird die Entschlusskraft<br />
erhöht. Und die Entschlusskraft, die sonst nur im Unterbewussten<br />
bleibt, wird angespornt dadurch, dass Sie das Kind<br />
bewusst Dinge wiederholen lassen. Wir dürfen also nicht mit<br />
Bezug auf die Willenskultur auf das sehen, was beim intellektuellen<br />
Leben von besonderer Wichtigkeit ist. Im intellektuellen<br />
Leben rechnen wir immer darauf: man bringt einem Kinde etwas<br />
bei, und es ist um so besser, je besser es die Sache begriffen<br />
hat. Auf das einmalige Beibringen legt man den großen Wert;<br />
dann soll die Sache nur behalten, gemerkt werden. Aber was so<br />
einmal beigebracht und dann behalten werden kann, das wirkt<br />
nicht auf Gefühl und Wille, sondern auf Gefühl und Wille wirkt<br />
das, was immer wieder getan wird und was als das durch die<br />
Verhältnisse Gebotene für richtig getan angesehen wird.<br />
Die früheren, mehr naiv patriarchalischen Erziehungsformen<br />
haben das auch naiv patriarchalisch angewendet. Es wurde einfach<br />
Lebensgewohnheit. In allen diesen Dingen, die so angewendet<br />
wurden, liegt durchaus etwas auch gut Pädagogisches.<br />
Warum lässt man zum Beispiel jeden Tag dasselbe Vaterunser<br />
beten? Wenn der heutige Mensch jeden Tag dieselbe Geschichte<br />
lesen sollte, so würde er es gar nicht tun, das würde ihm viel zu<br />
langweilig fallen. Der heutige Mensch ist eben auf die Einmaligkeit<br />
dressiert. Die Menschen früherer Art haben alle noch das<br />
kennengelernt, dass sie nicht nur dasselbe Vaterunser täglich<br />
gebetet haben, sondern sie haben auch noch ein Buch mit Geschichten<br />
gehabt, die sie jede Woche mindestens einmal gelesen<br />
haben. Dadurch waren sie auch dem Willen nach stärkere Menschen<br />
als diejenigen, welche aus der heutigen Erziehung hervorgehen;<br />
denn auf Wiederholung und bewusster Wiederholung<br />
beruht die Willenskultur. Das muss berücksichtigt werden.<br />
Daher genügt es nicht, in abstracto zu sagen, man muss auch<br />
den Willen erziehen. Denn man wird dann glauben, wenn man<br />
selber gute Ideen für die Willensausbildung hat und diese durch<br />
irgendwelche raffinierte Methoden dem Kinde beibringt, zur<br />
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Ausbildung des Willens etwas beizutragen. Das nützt aber gar<br />
nichts in Wirklichkeit. Es werden doch nur schwache, nervöse<br />
Menschen diejenigen, welche man zur Moral ermahnen will.<br />
Innerlich stark werden die Menschen werden, wenn man zum<br />
Beispiel zu den Kindern sagt: Du tust heute dies, und du tust<br />
heute das, und ihr beide werdet morgen und übermorgen dasselbe<br />
tun. - Da tun sie es auf Autorität hin, weil sie einsehen,<br />
dass einer in der Schule befehlen muss. Also: einem jeden eine<br />
Art Handlung für jeden Tag zuweisen, die sie dann jeden Tag<br />
unter Umständen das ganze Schuljahr hindurch, vollbringen -<br />
das ist etwas, was auf die Willensbildung sehr stark wirkt. Das<br />
schafft erstens einen Kontakt unter den Schülern; dann stärkt es<br />
die Autorität des Unterrichtenden und bringt die Menschen in<br />
eine wiederholentliche Tätigkeit hinein, die stark auf den Willen<br />
wirkt.<br />
Warum wirkt denn ganz besonders das künstlerische Element<br />
auf die Willensbildung? Weil das ja im Üben erstens auf Wiederholung<br />
beruht, zweitens aber auch, weil dasjenige, was sich<br />
der Mensch künstlerisch aneignet, ihm immer wieder Freude<br />
macht. Das Künstlerische genießt man immer wieder, nicht nur<br />
das erste Mal. Es hat schon in sich die Anlage, den Menschen<br />
nicht nur einmal anzuregen, sondern ihn unmittelbar immer<br />
wieder zu erfreuen. Und daher haben wir das, was wir im Unterricht<br />
wollen, in der Tat zusammenhängend mit dem künstlerischen<br />
Element. Darauf wollen wir dann morgen weiter eingehen.<br />
Ich wollte heute zeigen, wie auf die Willensbildung anders gewirkt<br />
werden muss als auf die Ausbildung des Intellektuellen.<br />
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FÜNFTER VORTRAG<br />
26. AUGUST 1919, STUTTGART<br />
Wir haben gestern die Wesenheit des Willens besprochen, insofern<br />
der Wille in den menschlichen Organismus eingegliedert<br />
ist. Wir wollen nun die Beziehungen des Willens zum Menschen,<br />
die wir kennengelernt haben, fruchtbar machen für die<br />
Anschauung der übrigen Wesenheit des Menschen.<br />
Sie werden bemerkt haben, dass ich bei den bisherigen Besprechungen<br />
der menschlichen Wesenheit hauptsächlich Rücksicht<br />
genommen habe auf die intellektuelle, auf die Erkenntnistätigkeit<br />
auf der einen Seite und auf die Willenstätigkeit auf der anderen<br />
Seite. Ich habe Ihnen ja auch gezeigt, wie die Erkenntnistätigkeit<br />
im Zusammenhang steht mit dem Nervenwesen des<br />
Menschen, wie die Willensstärke im Zusammenhang steht mit<br />
der Bluttätigkeit. Sie werden, wenn Sie über die Sache nachdenken,<br />
sich fragen: Wie steht es denn nun mit der dritten Seelenfähigkeit,<br />
mit der Gefühlstätigkeit? - Die haben wir bisher<br />
noch wenig berücksichtigt. Aber gerade indem wir die Gefühlstätigkeit<br />
heute mehr ins Auge fassen, wird sich uns auch die<br />
Möglichkeit bieten, die anderen beiden Seiten der Menschennatur,<br />
die erkennende und die willensmäßige, intensiver zu<br />
durchdringen.<br />
Wir müssen uns nur über eines noch klar werden, das ich ja in<br />
verschiedenen Zusammenhängen schon erwähnt habe. Man<br />
kann nicht die Seelenfähigkeiten so pedantisch nebeneinanderstellen:<br />
Denken, Fühlen, Wollen - weil in der ganzen lebendigen<br />
Seele die eine Tätigkeit immer in die andere übergeht.<br />
Betrachten Sie einmal auf der einen Seite den Willen. Sie werden<br />
sich bewusst sein können, dass Sie nicht zu wollen imstande<br />
sind, was Sie nicht durchdringen mit Vorstellung, also mit erkenntnismäßiger<br />
Tätigkeit. Versuchen Sie in einer, wenn auch<br />
nur oberflächlichen Selbstbesinnung, auf Ihr Wollen sich zu<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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konzentrieren. Sie werden immer finden: in dem Willensakt<br />
steckt immer irgendwie Vorstellen drinnen. Sie würden gar<br />
nicht Mensch sein, wenn Sie in dem Willensakt nicht Vorstellen<br />
drinnen hätten. Sie würden aus einer stumpfen, instinktiven<br />
Tätigkeit heraus alles das vollziehen, was aus Ihrem Willen<br />
strömt, wenn Sie nicht die Handlung, die aus dem Willen<br />
hervorquillt, mit vorstellender Tätigkeit durchdringen würden.<br />
Ebenso nun wie in aller Willensbetätigung das Vorstellen steckt,<br />
so steckt in allem Denken der Wille drinnen. Wieder wird Ihnen<br />
eine, wenn auch nur recht oberflächliche Betrachtung Ihres<br />
eigenen Selbstes die Erkenntnis liefern, dass Sie, indem Sie denken,<br />
immer in das Gedankenbilden den Willen hineinströmen<br />
lassen. Wie Sie Gedanken selber formen, wie Sie einen Gedanken<br />
mit dem anderen verbinden, wie Sie zu Urteil und Schluss<br />
übergehen, das alles ist von einer feineren Willenstätigkeit<br />
durchströmt.<br />
Daher können wir eigentlich nur sagen: Die Willenstätigkeit ist<br />
hauptsächlich Willenstätigkeit und hat in sich die Unterströmung<br />
der Denktätigkeit; die Denktätigkeit ist hauptsächlich<br />
Denktätigkeit und hat in ihrer Unterströmung Willenstätigkeit.<br />
Also ein pedantisches Nebeneinanderstellen ist schon für die<br />
Beobachtung der einzelnen Seelenbetätigungen nicht möglich,<br />
weil eben die eine in die andere überfließt.<br />
Was Sie für die Seele erkennen können: das Ineinanderfließen<br />
der Seelentätigkeiten, das sehen Sie auch ausgeprägt in dem<br />
Leib, in dem sich die Seelentätigkeit offenbart. Betrachten Sie<br />
zum Beispiel das menschliche Auge. In das Auge hinein, wenn<br />
wir es in seiner Ganzheit betrachten, setzen sich fort die Nerven;<br />
aber es setzen sich in das Auge auch die Blutbahnen fort.<br />
Dadurch, dass sich die Nerven in das menschliche Auge hinein<br />
fortsetzen, strömt die Gedanken-, die Erkenntnistätigkeit ins<br />
Auge ein; dadurch, dass sich die Blutbahnen ins Auge fortsetzen,<br />
strömt die Willensbetätigung in das Auge ein. So ist bis in<br />
die Peripherie der Sinnesbetätigungen auch im Leibe Willensgemäßes<br />
und Vorstellungs- oder Erkenntnisgemäßes miteinan-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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der verbunden. Das ist für alle Sinne so, ist aber auch für alle<br />
Bewegungsglieder, die dem Wollen dienen, eben so: in unser<br />
Wollen, in unsere Bewegungen geht durch die Nervenbahnen<br />
das Erkenntnisgemäße und durch die Blutbahnen das Willensgemäße.<br />
Nun müssen wir aber auch die besondere Art der Erkenntnistätigkeit<br />
kennenlernen. Wir haben schon darauf hingewiesen,<br />
aber wir müssen uns voll bewusst werden, was in diesem ganzen<br />
Komplex von menschlicher Tätigkeit, der nach der Erkenntnis-,<br />
der Vorstellungsseite hinneigt, alles liegt. Wir haben<br />
schon gesagt Im Erkennen, im Vorstellen lebt eigentlich Antipathie.<br />
So sonderbar es ist, alles, was nach dem Vorstellen hinneigt,<br />
ist durchdrungen von Antipathie. Sie werden sich sagen:<br />
Ja, wenn ich etwas anschaue, so übe ich in diesem Anschauen<br />
doch nicht Antipathie aus! - Doch, Sie üben sie aus! Sie üben<br />
Antipathie aus, indem Sie einen Gegenstand ansehen. Würde in<br />
Ihrem Auge nur Nerventätigkeit sein, so würde Ihnen jeder Gegenstand,<br />
den Sie mit Ihren Augen ansehen, zum Ekel sein, er<br />
wäre Ihnen antipathisch. Nur dadurch, dass sich in die Augentätigkeit<br />
hinein auch die Willenstätigkeit ergießt, die in Sympathie<br />
besteht, dadurch dass sich leiblich in Ihr Auge hineinerstreckt<br />
das Blutmäßige, nur dadurch wird für Ihr Bewusstsein<br />
die Empfindung der Antipathie im sinnlichen Anschauen ausgelöscht,<br />
und es wird durch einen Ausgleich zwischen Sympathie<br />
und Antipathie der objektive, gleichgültige Akt des Sehens hervorgerufen.<br />
Er wird da hervorgerufen, indem Sympathie und<br />
Antipathie sich ins Gleichgewicht stellen und uns dieses<br />
Ineinanderspielen von Sympathie und Antipathie gar nicht bewusst<br />
wird.<br />
Wenn Sie die Goethesche Farbenlehre, auf die ich in diesem Zusammenhang<br />
schon einmal aufmerksam gemacht habe, studieren,<br />
namentlich in ihrem physiologisch-didaktischen Teil, dann<br />
werden sie sehen: weil Goethe eingeht auf die tiefere Tätigkeit<br />
des Sehens, so kommt dadurch für seine Betrachtung in den<br />
Farbennuancen gleich zum Vorschein das Sympathische und das<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Antipathische. sie brauchen nur ein wenig hineindringen in die<br />
Tätigkeit eines Sinnesorgans, dann finden Sie sogleich das sympathische<br />
und das Antipathische in der Sinnestätigkeit auftauchen.<br />
Es rührt eben auch in der Sinnestätigkeit das Antipathische<br />
her von dem eigentlichen Erkenntnisteil, von dem Vorstellungsteil,<br />
dem Nerventeil, und das Sympathische rührt her von<br />
dem eigentlichen Willensteil, von dem Blutteil.<br />
Es gibt einen bedeutungsvollen Unterschied, den ich auch schon<br />
in den allgemeinen anthroposophischen Vorträgen öfter hervorgehoben<br />
habe, zwischen den Tieren und den Menschen mit<br />
Bezug auf die Einrichtung des Auges. Es ist sehr eigentümlich,<br />
dass das Tier viel mehr von Bluttätigkeit im Auge hat als der<br />
Mensch. Bei gewissen Tieren finden Sie sogar Organe, welche<br />
dieser Bluttätigkeit dienen, wie den «Schwertfortsatz» und den<br />
«Fächer». Daraus können Sie entnehmen, dass das Tier viel<br />
mehr von Bluttätigkeit auch ins Auge hineinsendet, und so ist es<br />
auch bei den übrigen Sinnen, als der Mensch. Das heißt, das<br />
Tier entwickelt in seinen Sinnen viel mehr Sympathie, instinktive<br />
Sympathie mit der Umwelt als der Mensch. Der Mensch hat<br />
in Wirklichkeit mehr Antipathie zu der Umwelt als das Tier,<br />
aber sie kommt im gewöhnlichen Leben nicht zum Bewusstsein.<br />
Sie kommt nur zum Bewusstsein, wenn sich das Anschauen der<br />
Umwelt steigert bis zu dem Eindruck, auf den wir mit dem Ekel<br />
reagieren. Das ist nur ein gesteigerter Eindruck alles sinnlichen<br />
Wahrnehmens: Sie reagieren mit dem Ekel auf den äußeren<br />
Eindruck. Wenn Sie an einen Ort gehen, der übel riecht, und<br />
Sie empfinden in der Sphäre dieses Übelriechens Ekel, so ist dieses<br />
Ekelempfinden nichts anderes als eine Steigerung desjenigen,<br />
was bei jeder Sinnestätigkeit stattfindet, nur bleibt die Begleitung<br />
der Empfindung durch den Ekel in der gewöhnlichen<br />
Sinnesempfindung unter der Bewusstseinsschwelle liegend.<br />
Wenn wir Menschen aber nicht mehr Antipathie hätten zu unserer<br />
Umgebung als das Tier, so würden wir uns nicht so stark<br />
absondern von unserer Umgebung, als wir uns tatsächlich absondern.<br />
Das Tier hat viel mehr Sympathie mit der Umgebung,<br />
ist daher viel mehr mit der Umgebung zusammengewachsen,<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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und es ist deshalb auch viel mehr angewiesen auf die Abhängigkeit<br />
vom Klima, von den Jahreszeiten und so weiter als der<br />
Mensch. Weil der Mensch viel mehr Antipathie hat gegen die<br />
Umgebung, deshalb ist er eine Persönlichkeit. Der Umstand,<br />
dass wir uns durch unsere unter der Schwelle des Bewusstseins<br />
liegende Antipathie absondern können von der Umgebung, diese<br />
Tatsache bewirkt unser gesondertes Persönlichkeitsbewusstsein.<br />
Damit aber haben wir auf etwas hingewiesen, was zur ganzen<br />
Auffassung des Menschen ein sehr Wesentliches beiträgt. Wir<br />
haben gesehen, wie in der Erkenntnis- oder Vorstellungstätigkeit<br />
zusammenfließen: Denken - Nerventätigkeit, leiblich ausgedrückt<br />
und Wollen - Bluttätigkeit, leiblich ausgedrückt.<br />
So aber fließen auch zusammen in der Willensbetätigung vorstellende<br />
und eigentliche Willenstätigkeit. Wir entwickeln immer,<br />
wenn wir irgend etwas wollen, Sympathie mit dem Gewollten.<br />
Aber es würde immer ein ganz instinktives Wollen<br />
bleiben, wenn wir uns nicht auch durch eine in die Sympathie<br />
des Wollens hineingeschickte Antipathie absondern könnten als<br />
Persönlichkeit von der Tat, von dem Gewollten. Nur überwiegt<br />
jetzt eben durchaus die Sympathie zu dem Gewollten, und es<br />
wird nur ein Ausgleich mit dieser Sympathie dadurch geschaffen,<br />
dass wir auch die Antipathie hineinschicken. Dadurch<br />
bleibt aber die Sympathie als solche unter der Schwelle des Bewusstseins<br />
liegend, es dringt nur etwas von dieser Sympathie ein<br />
in das Gewollte. In den ja nicht sehr zahlreichen Handlungen,<br />
die wir nicht bloß aus Vernunft vollbringen, sondern die wir in<br />
wirklicher Begeisterung, in Hingabe, in Liebe ausführen, da<br />
überwiegt die Sympathie so stark im Wollen, dass sie auch<br />
hinaufdringt über die Schwelle unseres Bewusstseins und unser<br />
Wollen selber uns durchtränkt erscheint von Sympathie, während<br />
es uns sonst als ein objektives verbindet mit der Umwelt,<br />
sich uns so offenbart. Geradeso wie uns nur ausnahmsweise,<br />
nicht immer, unsere Antipathie mit der Umwelt ins Bewusstsein<br />
kommen darf im Erkennen, so darf uns unsere immer vorhan-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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dene Sympathie mit der Umwelt nur in Ausnahmefällen, in Fällen<br />
der Begeisterung, der hingebenden Liebe, zum Bewusstsein<br />
kommen. Sonst würden wir alles instinktiv ausführen. Wir<br />
würden uns niemals in das, was objektiv, zum Beispiel im sozialen<br />
Leben, die Welt von uns fordert, eingliedern können. Wir<br />
müssen gerade das Wollen denkend durchdringen, damit dieses<br />
Wollen uns eingliedert in die Gesamtmenschheit und in den<br />
Weltenprozess als solchen.<br />
Sie werden sich das, was dabei geschieht, vielleicht klarmachen<br />
können, wenn Sie bedenken, welche Verheerungen es in der<br />
menschlichen Seele eigentlich anrichten würde, wenn im gewöhnlichen<br />
Leben diese ganze Sache, von der ich jetzt gesprochen<br />
habe, bewusst wäre. Wenn diese Sache im gewöhnlichen<br />
Leben fortwährend in der menschlichen Seele bewusst wäre,<br />
dann wäre dem Menschen ein gut Stück Antipathie bewusst, das<br />
bei allen seinen Handlungen begleitend wäre. Das wäre furchtbar!<br />
Der Mensch ginge dann durch die Welt und fühlte sich<br />
fortwährend in einer Atmosphäre von Antipathie. Das ist weise<br />
eingerichtet in der Welt, dass diese Antipathie als eine Kraft<br />
zwar notwendig ist zu unserem Handeln, dass wir uns ihrer aber<br />
nicht bewusst werden, dass sie unter der Schwelle des Bewusstseins<br />
bleibt.<br />
Nun schauen Sie da, ich möchte sagen, in ein merkwürdiges<br />
Mysterium der menschlichen Natur hinein, in ein Mysterium,<br />
das eigentlich jeder bessere Mensch empfindet, das aber der Erzieher<br />
und Unterrichter sich ganz zum Bewusstsein bringen<br />
sollte. Wir handeln ja, indem wir zuerst Kinder werden, mehr<br />
oder weniger aus bloßer Sympathie. So sonderbar es klingt: aber<br />
alles, was das Kind tut und tobt, ist aus Sympathie zu dem Tun<br />
und Toben vollbracht. Wenn die Sympathie geboren wird in der<br />
Welt, so ist sie starke Liebe, starkes Wollen. Aber sie kann nicht<br />
so bleiben, sie muss durchdrungen werden vom Vorstellen, sie<br />
muss gewissermaßen fortwährend erhellt werden vom Vorstellen.<br />
Das geschieht in umfassender Weise, indem wir eingliedern<br />
in unsere bloßen Instinkte die Ideale, die moralischen Ideale.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Und jetzt werden Sie besser begreifen können, was eigentlich<br />
auf diesem Gebiete die Antipathie bedeutet. Blieben uns die Instinktimpulse,<br />
die wir in dem kleinen Kinde bemerken, durch<br />
das ganze Leben nur sympathisch, wie sie dem Kinde sympathisch<br />
sind, so würden wir uns unter dem Einfluss unserer Instinkte<br />
animalisch entwickeln. Diese Instinkte müssen uns antipathisch<br />
werden, wir müssen Antipathie in sie hineingießen.<br />
Dann, wenn wir Antipathie in sie hineingießen, tun wir das<br />
durch unsere moralischen Ideale, denen die Instinkte antipathisch<br />
sind und die zunächst für unser Leben zwischen Geburt<br />
und Tod Antipathie in die kindliche Sympathie der Instinkte<br />
hineinsetzen. Daher ist moralische Entwickelung immer etwas<br />
Asketisches. Es muss nur dieses Asketische im richtigen Sinne<br />
gefasst werden. Es ist immer ein Üben in der Bekämpfung des<br />
Animalischen.<br />
Das alles soll uns lehren, in wie hohem Grade Wollen nicht nur<br />
Wollen in der praktischen Betätigung des Menschen ist, sondern<br />
inwiefern Wollen durchaus auch von Vorstellen, von erkennender<br />
Tätigkeit durchdrungen ist.<br />
Nun steht zwischen Erkennen, Denken und Wollen mitten<br />
drinnen die menschliche Gefühlstätigkeit. Wenn Sie sich das<br />
vorstellen, was ich jetzt als Wollen und Denken entwickelt habe,<br />
so können Sie sich sagen: Von einer gewissen mittleren<br />
Grenze strömt auf der einen Seite alles das aus, was Sympathie<br />
ist: Wollen; auf der anderen Seite strömt aus alles, was Antipathie<br />
ist: Denken. Aber die Sympathie des Wollens wirkt auch<br />
zurück in das Denken hinein, und die Antipathie des Denkens<br />
wirkt auch in das Wollen hinein. Und so wird der Mensch ein<br />
Ganzes, indem das, was sich auf der einen Seite hauptsächlich<br />
entwickelt, auch in die andere Seite hineinwirkt. Zwischen-<br />
drinnen nun, zwischen Denken und Wollen, liegt das Fühlen,<br />
so dass das Fühlen nach der einen Richtung hin verwandt ist<br />
mit dem Denken, nach der anderen Richtung hin mit dem Wollen.<br />
Wie Sie schon in der ganzen menschlichen Seele nicht<br />
streng auseinanderhalten können erkennende oder denkerische<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Tätigkeit und Willenstätigkeit, so können Sie noch weniger auseinanderhalten<br />
im Fühlen das denkerische Element von dem<br />
Willenselement. Im Fühlen fließen ganz stark ineinander Willenselemente<br />
und Denkelemente.<br />
Auch hier können Sie wieder durch die bloße Selbstbeobachtung,<br />
wenn Sie diese auch nur oberflächlich ausüben, sich von<br />
der Richtigkeit des eben Gesagten überzeugen. Schon was ich<br />
bis jetzt gesagt habe, führt Sie auf die Anschauung von dieser<br />
Richtigkeit, denn ich sagte Ihnen: Das Wollen, das im gewöhnlichen<br />
Leben objektiv verläuft, steigert sich bis zur Tätigkeit aus<br />
Enthusiasmus, aus Liebe heraus. Da sehen Sie ganz deutlich ein<br />
sonst von der Notwendigkeit des äußeren Lebens hervorgebrachtes<br />
Wollen durchströmt vom Fühlen.<br />
Wenn Sie etwas Enthusiastisches oder Liebevolles tun, so tun<br />
Sie das, was aus dem Willen fließt, indem Sie es durchdrungen<br />
sein lassen von einem subjektiven Gefühl. Aber auch bei der<br />
Sinnestätigkeit können Sie sehen, wenn Sie genauer zusehen -<br />
eben durch die Goethesche Farbenlehre -, wie sich in die Sinnestätigkeit<br />
hineinmischt das Fühlen. Und wenn sich die Sinnestätigkeit<br />
bis zum Ekel steigert oder auf der anderen Seite bis<br />
zum Einsaugen des angenehmen Blumenduftes, so haben Sie<br />
auch dabei die Gefühlstätigkeit in die Sinnestätigkeit ohne weiteres<br />
überfließend.<br />
Aber auch in die Denktätigkeit fließt die Gefühlstätigkeit hinein.<br />
Es war einmal ein, äußerlich wenigstens, sehr bemerkenswerter<br />
philosophischer Streit - es gab ja in der Geschichte der<br />
Weltanschauungen viele philosophische Streitigkeiten - zwi-<br />
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schen dem Psychologen Franz Brentano und dem Logiker<br />
Sigwart in Heidelberg. Die beiden Herren stritten miteinander<br />
über das, was in der Urteilstätigkeit des Menschen liegt. Sigwart<br />
meinte: Wenn der Mensch urteilt, sagen wir, er fällt das Urteil:<br />
Der Mensch soll gut sein -,so spräche in einem solchen Urteil<br />
immer ein Gefühl mit; die Entscheidung trifft das Gefühl. -<br />
Brentano meinte: Urteilstätigkeit und Gefühlstätigkeit, die in<br />
Gemütsbewegungen bestehen, seien so verschieden, dass die Urteilsfunktion,<br />
die Urteilsbetätigung gar nicht begriffen werden<br />
könnte, wenn man nur glaube, das Gefühl spiele da hinein. Er<br />
meinte, dadurch käme etwas Subjektives in das Urteil hinein,<br />
während doch unser Urteil objektiv sein wolle.<br />
Ein solcher Streit zeigt dem Einsichtigen nur, dass weder die<br />
Psychologen noch die Logiker auf das gekommen sind, worauf<br />
sie kommen sollten: auf das lneinanderfließen der Seelentätigkeiten.<br />
Bedenken Sie, was hier wirklich beobachtet werden<br />
muss. Wir haben auf der einen Seite die Urteilsfähigkeit, die natürlich<br />
entscheiden muss über etwas ganz Objektives. Dass der<br />
Mensch gut sein muss, darf nicht von unserem subjektiven Gefühl<br />
abhängen. Also der Inhalt des Urteils muss objektiv sein.<br />
Aber wenn wir urteilen, kommt ja noch etwas ganz anderes in<br />
Betracht. Die Dinge, die objektiv richtig sind, sind ja deshalb<br />
noch nicht bewusst in unserer Seele. Wir müssen sie erst bewusst<br />
in unsere Seele hereinbekommen. Und bewusst bekommen<br />
wir kein Urteil in unsere Seele herein, ohne dass die Gefühlstätigkeit<br />
mitwirkt. Daher müssen wir sagen, Brentano und<br />
Sigwart hätten sich dahin einigen müssen, dass sie beide gesagt<br />
hätten: Ja, der objektive Inhalt des Urteils steht außerhalb der<br />
Gefühlstätigkeit fest; damit aber in der subjektiven Menschenseele<br />
die Überzeugung von der Richtigkeit des Urteils zustande<br />
komme, muss die Gefühlstätigkeit sich entwickeln.<br />
sie sehen daraus, wie schwer es ist bei der ungenauen Art der<br />
philosophischen Betrachtungen, wie sie gegenwärtig gepflogen<br />
werden, überhaupt zu genauen Begriffen zu kommen. Zu solchen<br />
genauen Begriffen muss man sich ja erst erheben, und es<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
gibt heute keine andere Erziehung zu genauen Begriffen als die<br />
durch Geisteswissenschaft. Die äußere Wissenschaft meint, sie<br />
habe genaue Begriffe, und sie ergeht sich sehr hochnäsig über<br />
das, was anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft liefert,<br />
weil sie keine Ahnung hat, dass die von dieser Seite gelieferten<br />
Begriffe gegenüber den heute gebräuchlichen viel genauer<br />
und exakter sind, weil sie aus der Wirklichkeit hergeholt<br />
sind, nicht aus dem bloßen Spiel mit den Worten.<br />
Indem sie so das gefühlsmäßige Element nach der einen Seite<br />
verfolgen in dem Erkennenden, in dem Vorstellenden, und auf<br />
der anderen Seite in dem Willensgemäßen, werden Sie sich sagen:<br />
Das Gefühl steht als die mittlere Seelenbetätigung zwischen<br />
Erkennen und Wollen drinnen und strahlt seine Wesenheit<br />
nach den beiden Richtungen aus. - Gefühl ist sowohl noch nicht<br />
ganz gewordene Erkenntnis, wie noch nicht ganz gewordener<br />
Wille, zurückgehaltene Erkenntnis und zurück gehaltener Wille.<br />
Daher auch ist das Fühlen zusammengesetzt aus Sympathie<br />
und Antipathie, die sich nur verstecken, wie Sie gesehen haben,<br />
sowohl im Erkennen wie im Wollen. Beide, Sympathie und Antipathie,<br />
sind im Erkennen und Wollen vorhanden, indem leiblich<br />
Nerventätigkeit und Bluttätigkeit zusammenwirken, aber<br />
sie verstecken sich. Im Fühlen werden sie offenbar.<br />
Wie schauen denn daher die leiblichen Offenbarungen des Fühlens<br />
aus? Sie werden ja im menschlichen Leibe überall finden,<br />
wie die Blutbahnen mit den Nervenbahnen in irgendeiner Weise<br />
sich berühren. Und überall dort, wo Blutbahnen mit Nervenbahnen<br />
sich berühren, entsteht eigentlich Gefühl. Nur ist, in<br />
den Sinnen zum Beispiel, sowohl der Nerv wie das Blut so verfeinert,<br />
dass wir nicht mehr das Gefühl spüren. Von einem leisen<br />
Gefühl ist all unser Sehen und Hören durchzogen, aber wir<br />
spüren es nicht; wir spüren es um so weniger, als das Sinnesorgan<br />
abgegrenzt, abgetrennt ist von dem übrigen Leib. Beim Sehen,<br />
bei der Augentätigkeit, spüren wir das gefühlsmäßige<br />
Sympathisieren und Antipathisieren fast gar nicht, weil das Auge,<br />
in der Knochenrundung eingebettet, fast ganz vom übrigen<br />
79
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Organismus abgesondert ist. Und sehr verfeinert sind die Nerven,<br />
die sich ins Auge hineinerstrecken und auch die Blutbahnen,<br />
die sich ins Auge hineinerstrecken. Es ist das gefühlsmäßige<br />
Empfinden im Auge sehr unterdrückt. - Weniger unterdrückt<br />
ist das Gefühlsmäßige beim Sinn des Hörens. Das Hören<br />
steht viel mehr als das Schauen mit der Gesamttätigkeit des Organismus<br />
in einem organischen Zusammenhang. Indem sich<br />
zahlreiche Organe im Ohre befinden, die ganz andersgeartet<br />
sind als die Organe des Auges, ist das Ohr in vieler Beziehung<br />
ein getreues Abbild desjenigen, was im ganzen Organismus vor<br />
sich geht. Daher wird das, was im Ohr als Sinnestätigkeit vor<br />
sich geht, sehr stark begleitet von Gefühlstätigkeit. Und hier<br />
wird es selbst Menschen, die sich gut auf das verstehen, was gehört<br />
wird, schwer, wirklich zur Klarheit zu kommen, was im<br />
Gehörten, besonders beim künstlerisch Gehörten, bloßes Erkennen<br />
und was Gefühlsmäßiges ist. Darauf beruht eine sehr<br />
interessante Erscheinung der neueren Zeit, die auch in die unmittelbare<br />
künstlerische Produktion hineingespielt hat.<br />
Sie kennen alle in Richard Wagners «Meistersinger» die Figur<br />
des Beckmesser. Was sollte Beckmesser eigentlich darstellen? Er<br />
sollte darstellen einen musikalisch Auffassenden, der ganz vergisst,<br />
wie auch das gefühlsmäßige Element des ganzen Menschen<br />
in das Erkenntnismäßige der Gehörtätigkeit hineinwirkt<br />
Wagner, der seine eigene Auffassung in dem Walther dargestellt<br />
hat, war wiederum ganz einseitig davon durchdrungen, dass<br />
hauptsächlich das Gefühlsmäßige im Musikalischen leben müsse.<br />
Was da im Walther und im Beckmesser aus einer missverständlichen<br />
Auffassung - ich meine: bei beiden missverständliche<br />
Auffassung - sich gegenübergestellt wird, im Gegensatz zu<br />
der richtigen Auffassung, wie Gefühlsmäßiges und Erkenntnismäßiges<br />
im musikalischen Hören zusammenwirken, das kam in<br />
einer historischen Erscheinung dadurch zum Ausdruck, dass die<br />
Wagnersche Kunst bei ihrem Auftreten, namentlich aber bei<br />
ihrem Bekanntwerden einen Gegner fand in der Person von<br />
Eduard Hanslick in Wien, der alles, was in der Gefühlssphäre<br />
aufströmt in der Wagnerschen Kunst, als unmusikalisch ansah.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Es gibt vielleicht wenig psychologisch so interessante Schriften<br />
auf dem Gebiete des Künstlerischen wie die «Vom musikalisch<br />
Schönen» von Eduard Hanslick. Darin wird hauptsächlich ausgeführt,<br />
dass der kein wahrer Musiker ist, keinen wahren musikalischen<br />
Sinn hat, der alles vom Gefühlsmäßigen in der Musik<br />
herholen möchte, sondern nur derjenige, der in der objektiven<br />
Verbindung von Ton zu Ton den eigentlichen Nerv des Musikalischen<br />
sieht, in der alles Gefühlsmäßige entbehrenden Arabeske,<br />
die sich zusammenfügt von Ton zu Ton. Mit einer wunderbaren<br />
Reinlichkeit wird da die Forderung, dass das höchste Musikalische<br />
nur im Tonbilde, in der Tonarabeske bestehen darf,<br />
ausgeführt in dem Buche «Vom musikalisch Schönen» von Eduard<br />
Hanslick, und es wird aller mögliche Spott über das ergossen,<br />
was gerade den Nerv des Wagnertums ausmacht als das<br />
Schaffen des Tonlichen aus dem Gefühlselemente heraus. Dass<br />
überhaupt ein solcher Streit wie der zwischen Hanslick und<br />
Wagner auftreten konnte auf dem Gebiete des Musikalischen,<br />
das bezeugt eben, dass psychologisch die Ideen über die Seelenbetätigungen<br />
in der neueren Zeit durchaus im unklaren waren,<br />
sonst hätte gar nicht eine solch einseitige Neigung, wie sie bei<br />
Hanslick hervortrat, entstehen können. Durchschaut man aber<br />
das Einseitige und gibt man sich dann hin den philosophisch<br />
starken Auseinandersetzungen von Hanslick, dann wird man<br />
sagen: das Büchelchen „Vom musikalisch Schönen“ ist ein sehr<br />
geistreiches.<br />
Sie sehen daraus, dass bei dem einen Sinne mehr, bei dem anderen<br />
weniger von dem ganzen Menschen, der zunächst als Gefühlswesen<br />
lebt, in die Peripherie hineindringt, erkenntnismäßig.<br />
Das wird und muss auch Sie gerade zum Behufe pädagogischer<br />
Einsicht auf etwas aufmerksam machen, was eine große Verheerung<br />
im wissenschaftlichen Denken der Gegenwart anrichtet.<br />
Hätten wir hier nicht vorbereitend gesprochen und sprächen<br />
wir nicht vorbereitend über das, was Sie hinüberleiten soll zu<br />
einer reformatorischen Tätigkeit, so müssten Sie aus den jetzi-<br />
81
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
gen vorhandenen Pädagogiken, aus den bestehenden Psychologien<br />
und Logiken und aus den Erziehungspraktiken sich das zusammensetzen,<br />
was Sie in Ihrer Schultätigkeit ausüben wollen.<br />
Sie müssten das, was außen üblich geworden ist, in die Schultätigkeit<br />
hineintragen. Nun leidet aber das, was heute üblich geworden<br />
ist, von vornherein an einem großen Übelstand schon<br />
mit Bezug auf die Psychologie. sie finden ja in jeder Psychologie<br />
zunächst eine sogenannte Sinneslehre. Indem man untersucht,<br />
worauf die Sinnestätigkeit beruht, gewinnt man die Sinnestätigkeit<br />
des Auges, des Ohres, der Nase und so weiter. Man fasst alles<br />
in einer großen Abstraktion «Sinnestätigkeit» zusammen.<br />
Das ist ein großer Fehler, ist ein beträchtlicher Irrtum. Denn<br />
nehmen Sie nur diejenigen Sinne, die zunächst dem heutigen<br />
Physiologen oder Psychologen bekannt sind, so werden Sie,<br />
wenn Sie zunächst nur auf das Leibliche sehen, beobachten<br />
können, dass eigentlich der Sinn des Auges etwas ganz anderes<br />
ist als der Sinn des Ohres. Auge und Ohr sind zwei ganz verschiedene<br />
Wesen. Und dann erst die Organisation des Tastsinnes,<br />
die überhaupt noch gar nicht erforscht ist, auch nicht in<br />
nur so befriedigender Weise, wie es beim Auge und Ohr der Fall<br />
ist! Aber bleiben wir beim Auge und 0hr stehen. Sie sind zwei<br />
ganz verschiedene Tätigkeiten, so dass die Zusammenfassung<br />
des Sehens und Hörens in eine «allgemeine Sinnestätigkeit» eine<br />
graue Theorie ist. Man müsste, wollte man richtig hier zu Werke<br />
gehen, mit einem konkreten Anschauungsvermögen zunächst<br />
überhaupt nur sprechen von der Betätigung des Auges,<br />
von der Betätigung des Ohres, von der Betätigung des Geruchsorgans<br />
und so weiter. Dann wurde man eine so große Verschiedenheit<br />
finden, dass einem die Lust verginge, eine allgemeine<br />
Sinnesphysiologie, wie sie die heutigen Psychologien haben,<br />
aufzustellen.<br />
Man kommt in der Betrachtung der menschlichen Seele nur zu<br />
einer Einsicht, wenn man auf dem Gebiete stehenbleibt, das ich<br />
zu begrenzen versuchte in meinen Auseinandersetzungen sowohl<br />
in «Wahrheit und Wissenschaft» wie in der «Philosophie<br />
82
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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der Freiheit». Dann kann man von der einheitlichen Seele sprechen,<br />
ohne dass man dabei in Abstraktionen verfällt. Denn da<br />
steht man auf einem sicheren Boden; da geht man davon aus,<br />
dass der Mensch sich in die Welt hineinlebt und nicht die ganze<br />
Wirklichkeit hat. Sie können das in «Wahrheit und Wissenschaft»<br />
und in der «Philosophie der Freiheit» nachlesen. Der<br />
Mensch hat anfangs nicht die ganze Wirklichkeit. Er entwickelt<br />
sich erst weiter, und im Weiterentwickeln wird ihm das, was<br />
vorher noch nicht Wirklichkeit ist, durch das Ineinandergehen<br />
von Denken und Anschauung erst zur wahren Wirklichkeit.<br />
Der Mensch erobert sich erst die Wirklichkeit. In dieser Beziehung<br />
hat der Kantianismus, der sich in alles eingefressen hat,<br />
die furchtbarsten Verheerungen angerichtet. Was tut denn der<br />
Kantianismus? Er sagt von vornherein dogmatisch: Die Welt,<br />
die uns umgibt, haben wir zunächst anzuschauen, und in uns<br />
lebt eigentlich nur das Spiegelbild von dieser Welt. So kommt er<br />
zu allen seinen anderen Deduktionen. Kant ist sich nicht im klaren<br />
darüber, was in der wahrgenommenen Umgebung des Menschen<br />
ist. Denn die Wirklichkeit ist nicht in der Umgebung, ist<br />
auch nicht in der Erscheinung, sondern es ist so, dass die Wirklichkeit<br />
erst nach und nach auftaucht durch unser Erobern dieser<br />
Wirklichkeit, so dass das Letzte, was an uns herantritt, die<br />
Wirklichkeit erst ist. Im Grunde genommen wäre das die richtige<br />
Wirklichkeit, was der Mensch in dem Augenblicke erschaut,<br />
wo er sich nicht mehr aussprechen kann, in jenem Augenblicke<br />
nämlich, wo er durch die Pforte des Todes geht.<br />
Es sind sehr viele falsche Elemente eingeflossen in die neuere<br />
Geisteskultur, und das wirkt am entscheidendsten auf dem Gebiete<br />
der Pädagogik. Daher müssen wir bestrebt sein, an die<br />
Stelle der falschen Begriffe die richtigen zu setzen. Dann werden<br />
wir das, was wir für den Unterricht zu tun haben, auch in<br />
der richtigen Weise ausüben können.<br />
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SECHSTER VORTRAG<br />
27. AUGUST 1919, STUTTGART<br />
Wir haben bisher versucht, den Menschen zu begreifen, insofern<br />
uns dieses Begreifen für die Erziehung des Kindes notwendig<br />
ist, vom seelischen Standpunkte aus. Wir werden ja die drei<br />
Standpunkte auseinanderhalten müssen - den geistigen, den seelischen<br />
und den physischen Standpunkt - und werden, um eine<br />
vollständige Anthropologie zu bekommen, von jedem dieser<br />
Standpunkte aus den Menschen betrachten. Es liegt am nächsten,<br />
die seelische Betrachtung zu vollziehen, weil dem Menschen<br />
im gewöhnlichen Leben eben das Seelische am nächsten<br />
liegt. Und sie werden auch empfunden haben, dass wir, indem<br />
wir zu diesem Begreifen des Menschen als Hauptbegriffe verwendet<br />
haben Antipathie und Sympathie, damit auf das Seelische<br />
hingezielt haben. Es wird sich für uns nicht entsprechend<br />
erweisen, wenn wir vom seelischen gleich auf das Leibliche<br />
übergehen, denn wir wissen aus unseren geisteswissenschaftlichen<br />
Betrachtungen heraus, dass das Leibliche nur gefasst werden<br />
kann, wenn es als eine Offenbarung des Geistigen und auch<br />
des seelischen aufgefasst wird. Daher werden wir zu der seelischen<br />
Betrachtung, die wir in allgemeinen Linien skizziert haben,<br />
jetzt hinzufügen eine Betrachtung des Menschen vom geistigen<br />
Gesichtspunkte aus, und wir werden dann erst auf die eigentliche,<br />
jetzt so genannte Anthropologie, auf die Betrachtung<br />
des Menschenwesens, wie es sich in der äußeren physischen<br />
Welt zeigt, näher eingehen.<br />
Wenn Sie von irgendeinem Gesichtspunkt aus den Menschen<br />
zweckmäßig betrachten wollen, so müssen sie immer wieder<br />
und wieder zurückgehen auf die Gliederung der menschlichen<br />
Seelentätigkeiten in Erkennen, das im Denken verläuft, in Fühlen<br />
und in Wollen. Wir haben bis jetzt Denken oder Erkennen,<br />
Fühlen und Wollen in die Atmosphäre von Antipathie und<br />
Sympathie gerückt. Wir wollen jetzt einmal eben vom geistigen<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Gesichtspunkte aus Wollen, Fühlen und Erkennen ins Auge fassen.<br />
Sie werden auch vom geistigen Gesichtspunkte aus einen Unterschied<br />
finden zwischen Wollen, Fühlen und denkendem Erkennen.<br />
Betrachten Sie nur das Folgende. Indem Sie denkend erkennen,<br />
müssen Sie empfinden - wenn ich mich zunächst bildlich ausdrücken<br />
darf, aber das Bildliche wird uns zu Begriffen verhelfen<br />
-, dass Sie gewissermaßen im Lichte leben. Sie erkennen und<br />
fühlen sich ganz drinnen mit Ihrem Ich in dieser Tätigkeit des<br />
Erkennens. Gewissermaßen jeder Teil, jedes Glied derjenigen<br />
Tätigkeit, die Sie Erkennen nennen, ist drinnen in alledem, was<br />
Ihr Ich tut; und wieder: was Ihr Ich tut, ist drinnen in der Tätigkeit<br />
des Erkennens. Sie sind ganz im Hellen, Sie leben in einer<br />
vollbewussten Tätigkeit, wenn ich mich begrifflich ausdrücken<br />
darf. Es wäre auch schlimm, wenn Sie beim Erkennen<br />
nicht in einer vollbewussten Tätigkeit wären. Denken Sie einmal,<br />
wenn Sie das Gefühl haben müssten: während Sie ein Urteil<br />
fällen, geht mit Ihrem Ich irgendwo im Unterbewussten etwas<br />
vor, und das Ergebnis dieses Vorganges sei das Urteil! Nehmen<br />
Sie an, Sie sagen: Dieser Mensch ist ein guter Mensch , fällen<br />
also ein Urteil. Sie müssen sich bewusst sein, dass das, was<br />
Sie brauchen, um dieses Urteil zu fällen - das Subjekt «der<br />
Mensch», das Prädikat «er ist ein guter» -, Glieder sind eines<br />
Vorganges, der Ihnen ganz gegenwärtig ist, der für Sie ganz vom<br />
Lichte des Bewusstseins durchzogen ist. Müssten Sie annehmen,<br />
irgendein Dämon oder ein Mechanismus der Natur knäuele zusammen<br />
den «Menschen» mit dem<br />
Nicht so ist es beim Wollen. Sie wissen ganz gut, wenn Sie das<br />
einfachste Wollen, das Gehen, entwickeln, so leben Sie eigentlich<br />
vollbewusst nur in der Vorstellung von diesem Gehen. Was<br />
innerhalb Ihrer Muskeln sich vollzieht, während Sie ein Bein<br />
nach dem anderen vorwärts bewegen, was da im Mechanismus<br />
und Organismus Ihres Leibes vorgeht, von dem wissen Sie<br />
nichts. Denken Sie nur, was Sie alles zu lernen haben würden<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
von der Welt, wenn Sie alle die Vorrichtungen bewusst vollziehen<br />
müssten, welche beim Wollen des Gehens notwendig<br />
sind! Sie müssten dann genau wissen, wie viel von den Tätigkeiten,<br />
welche die Nahrungsstoffe in den Muskeln Ihrer Beine und<br />
in den anderen Körpermuskeln hervorrufen, verbraucht wird,<br />
während Sie sich anstrengen, zu gehen. Sie haben das nie ausgerechnet,<br />
wie viel Sie von dem verbrauchen, was Ihnen die Nahrung<br />
zuführt. Sie wissen ganz gut: Das alles geschieht in Ihrer<br />
Körperlichkeit sehr, sehr unbewusst. Indem wir wollen, mischt<br />
sich fortwährend in unsere Tätigkeit ein tiefes Unbewusstes<br />
hinein. Das ist nicht etwa bloß so, wenn wir das Wesen des<br />
Wollens an unserem eigenen Organismus betrachten. Auch was<br />
wir vollbringen, wenn wir unser Wollen auf die äußere Welt<br />
erstrecken, auch das umfassen wir keineswegs vollständig mit<br />
dem Lichte des Bewusstseins.<br />
Nehmen Sie an, Sie haben zwei säulenartige Pflöcke. Sie nehmen<br />
sich vor, Sie legen einen dritten Pflock quer darüber. Unterscheiden<br />
Sie jetzt genau, was in alledem, was Sie da getan haben,<br />
als vollbewusste erkennende Tätigkeit lebt, von dem,<br />
was in Ihrer vollbewussten Tätigkeit lebt, wenn Sie das Urteil<br />
fällen: Ein Mensch ist gut -, wo Sie mit Ihrem Erkennen ganz<br />
drinnenstecken.<br />
Unterscheiden Sie bitte, was darin als erkennende Tätigkeit lebt,<br />
von dem, wovon Sie nichts wissen, trotzdem Sie es mit Ihrem<br />
vollen Willen zu tun hatten: Warum stützen diese zwei Säulen<br />
durch gewisse Kräfte diesen darüberliegenden Balken? Dafür<br />
hat ja die Physik bis heute nur Hypothesen. Und wenn die Menschen<br />
glauben, dass sie wissen, warum die beiden Pflöcke den<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Balken tragen, so bilden sie es sich nur ein. Alles, was man hat<br />
als Begriffe der Kohäsion, der Adhäsion, der Anziehungs- und<br />
Abstoßungskraft, sind im Grunde genommen für das äußere<br />
Wissen nur Hypothesen. Wir rechnen mit diesen äußeren Hypothesen,<br />
indem wir handeln; wir rechnen damit, dass die beiden<br />
Pflöcke, die den Balken tragen sollen, nicht zusammenknicken<br />
werden, wenn sie eine gewisse Dicke haben. Aber durchschauen<br />
können wir den ganzen Vorgang, der damit zusammenhängt,<br />
nicht, geradesowenig wie wir unsere Beinbewegungen<br />
durchschauen können, wenn wir vorwärts streben. So<br />
mischt sich auch hier in unser Wollen ein nicht in unser Bewusstsein<br />
hineinreichendes Element hinein. Das Wollen hat im<br />
weitesten Umfange ein Unbewusstes in sich.<br />
Und das Fühlen steht zwischen Wollen und denkendem Erkennen<br />
mitten drinnen. Beim Fühlen ist es auch so, dass es zum Teil<br />
von Bewusstsein durchzogen wird, zum Teil von einem Unbewussten.<br />
Das Fühlen nimmt auch in dieser Weise teil an der Eigenschaft<br />
eines erkennenden Denkens, auf der anderen Seite an<br />
der Eigenschaft eines fühlenden oder gefühlten Wollens. Was<br />
liegt denn nun da eigentlich vom geistigen Gesichtspunkte aus<br />
vor?<br />
Sie kommen nur zurecht, wenn Sie sich vom geistigen Gesichtspunkte<br />
aus die oben charakterisierten Tatsachen in der folgenden<br />
Art zum Begreifen bringen. Wir reden in unserem gewöhnlichen<br />
Leben vom Wachen, von dem wachen Bewusstseinszustande.<br />
Aber wir haben diesen wachen Bewusstseinszustand nur<br />
in der Tätigkeit des erkennenden Denkens. Wenn Sie also ganz<br />
genau davon reden wollen, inwiefern der Mensch wacht, so<br />
müssen Sie sagen: Wirklich wachend ist der Mensch nur, solange<br />
und insofern er ein denkender Erkenner von irgend etwas ist.<br />
Wie steht es nun mit dem Wollen? Sie kennen alle den Bewusstseinszustand<br />
- nennen Sie es meinetwillen auch<br />
Bewusstseinslosigkeitszustand - des Schlafes. Sie wissen, während<br />
wir schlafen, vom Einschlafen bis zum Aufwachen, ist das,<br />
was wir erleben, nicht in unserem Bewusstsein drinnen. Gera-<br />
87
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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deso ist es aber auch mit alledem, was als Unbewusstes unser<br />
Wollen durchzieht. Insofern wir wollende Wesen sind als Menschen,<br />
schlafen wir, auch wenn wir wachen. Wir tragen immer<br />
mit uns einen schlafenden Menschen, nämlich den wollenden<br />
Menschen, und begleiten ihn mit dem wachenden, mit dem<br />
denkend erkennenden Menschen; wir sind, insofern wir wollende<br />
Wesen sind, auch vom Aufwachen bis zum Einschlafen<br />
schlafend. Es schläft immer etwas in uns mit, nämlich die innere<br />
Wesenheit des Wollens. Der sind wir uns nicht stärker bewusst,<br />
als wir uns derjenigen Vorgänge bewusst sind, die sich<br />
mit uns abspielen während des Schlafes. Man erkennt den Menschen<br />
nicht vollständig, wenn man nicht weiß, dass das Schlafen<br />
in sein Wachen hereinspielt, indem der Mensch ein Wollen-<br />
der ist.<br />
Das Fühlen steht in der Mitte, und wir dürfen uns jetzt fragen:<br />
Wie ist das Bewusstsein im Fühlen? - Das steht nun auch in der<br />
Mitte zwischen Wachen und Schlafen. Gefühle, die in Ihrer<br />
Seele leben, kennen Sie gerade so, wie Sie Träume kennen, nur<br />
dass Sie die Träume erinnern und die Gefühle unmittelbar erleben.<br />
Aber die innere Seelenverfassung und Seelenstimmung die<br />
Sie haben, indem Sie von Ihren Gefühlen wissen, ist keine andere<br />
als die, welche Sie gegenüber Ihren Träumen haben. Sie sind<br />
im Wachen nicht nur ein wachender Mensch, indem Sie denkend<br />
erkennen, und ein schlafender, insofern Sie wollen, Sie<br />
sind auch ein träumender, insofern Sie fühlen. So sind also tatsächlich<br />
drei Bewusstseinszustände während unseres Wachens<br />
über uns ergossen: das Wachen im eigentlichen Sinne im denkenden<br />
Erkennen, das Träumen im Fühlen, das Schlafen im<br />
Wollen. Der gewöhnliche traumlose Schlaf ist vom geistigen<br />
Gesichtspunkte aus angesehen nichts anderes als die Hingabe<br />
des Menschen mit seiner ganzen Seelenwesenheit an das, woran<br />
er hingegeben ist mit seinem Wollen, während er seinen Tageslauf<br />
vollbringt. Es ist nur der Unterschied, dass wir im eigentlichen<br />
Schlafen mit unserem ganzen Seelenwesen schlafen, dass<br />
wir im Wachen nur schlafen mit unserem Wollen. Beim Träumen,<br />
was man im gewöhnlichen Leben so nennt, ist es so, dass<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
wir mit unserem ganzen Menschen an den Seelenzustand hingegeben<br />
sind, den wir Traum nennen, und dass wir im Wachen<br />
nur als fühlender Mensch an diesen träumerischen Seelenzustand<br />
hingegeben sind.<br />
Pädagogisch betrachtet werden Sie sich jetzt nicht mehr verwundern,<br />
wenn Sie die Sache so ansehen, dass die Kinder verschieden<br />
sind mit Bezug auf die Wachheit ihres Bewusstseins.<br />
Denn Sie werden finden, dass Kinder, bei denen das Gefühlsleben<br />
der Anlage gemäß überwiegt, träumerische Kinder sind, so<br />
dass solche Kinder, bei denen in der Kindheit eben das volle<br />
Denken noch nicht aufgewacht ist, leicht hingegeben sein werden<br />
an ein träumerisches Wesen. Das werden Sie dann zum<br />
Anlass nehmen, um durch starke Gefühle auf ein solches Kind<br />
zu wirken. Und Sie werden dann die Hoffnung haben können,<br />
dass diese starken Gefühle bei ihm auch das helle Erkennen erwecken<br />
werden, denn alles Schlafen hat dem Lebensrhythmus<br />
gemäß die Tendenz, nach einiger Zeit aufzuwachen. Wenn wir<br />
nun ein solches Kind, das träumerisch im Gefühlsleben<br />
dahinbrütet, mit starken Gefühlen angehen, dann werden diese<br />
in das Kind versetzten starken Gefühle nach einiger Zeit von<br />
selbst als Gedanken aufwachen.<br />
Kinder, die noch mehr brüten, die sogar stumpf sind gegenüber<br />
dem Gefühlsleben, die werden Ihnen offenbaren, dass sie besonders<br />
im Willen stark veranlagt sind. Sie sehen da: wenn Sie<br />
dies bedenken, können Sie erkennend vor manchem Rätsel im<br />
kindlichen Leben stehen. Sie können ein Kind in die Schule<br />
hereinbekommen, das sich ausnimmt wie ein echter Stumpfling.<br />
Wenn Sie da gleich das Urteil fällen: Das ist ein schwachsinniges,<br />
ein stumpfsinniges Kind -, wenn Sie es mit experimenteller<br />
Psychologie untersuchen würden, schöne Gedächtnisprüfungen<br />
vornähmen und allerlei, was ja jetzt auch schon in psychologisch-pädagogischen<br />
Laboratorien gemacht wird und dann sagen<br />
würden: Stumpfes Kind seiner ganzen Anlage nach, gehört<br />
in die Schwachsinnigen-Schule oder auch in die jetzt beliebte<br />
Wenigerbefähigten-Schule, so würden Sie mit solchem Urteil<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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nicht dem Wesen des Kindes nahekommen. Vielleicht aber ist<br />
dieses Kind besonders stark im Willen veranlagt, vielleicht ist es<br />
eines jener Kinder, die im späteren Leben aus ihrer Cholerik zu<br />
tatkräftigem Handeln übergehen. Aber der Wille schläft zunächst.<br />
Und wenn das denkende Erkennen bei diesem Kinde<br />
verurteilt ist, später erst hervorzutreten, dann muss es auch in<br />
der entsprechenden Weise behandelt werden, damit es dann<br />
später berufen sein kann, etwas Tatkräftiges zu vollbringen.<br />
Vorerst erscheint es als ein rechter Stumpfling, der ist es aber<br />
vielleicht gar nicht. Und man muss dann den Blick dafür haben,<br />
bei einem solchen Kinde den Willen zu erwecken; das heißt,<br />
man muss so in seinen wachen Schlafzustand hineinwirken,<br />
dass es nach und nach dahin kommt - weil ja jeder Schlaf die<br />
Tendenz hat, zum Erwachen zu kommen einen Schlaf als Willen,<br />
der vielleicht sehr stark ist, der aber nur jetzt schläft, vom<br />
schlafenden Wesen übertönt wird, im späteren Lebensalter aufzuwecken.<br />
Ein solches Kind muss so -handelt werden, dass Sie<br />
möglichst wenig auf sein Erkenntnisvermögen, auf sein Begreifen<br />
bauen, sondern ihm gewissermaßen einhämmern einige<br />
recht stark auf den Willen wirkende Sachen, dass Sie es, indem<br />
es spricht, zu gleicher Zeit gehen lassen. Sie nehmen ein solches<br />
Kind, Sie werden ja nicht sehr viele davon haben, aus der Klasse<br />
heraus und - für die anderen Kinder wird es anregend sein, für<br />
dieses Kind ist es bildend - lassen es, indem es Sätze spricht, die<br />
Worte mit Bewegungen begleiten. Also: Der (Schritt) - Mensch<br />
(Schritt) - ist (Schritt) - gut! - Auf diese Weise verbinden Sie den<br />
ganzen Menschen im Willenselement mit dem bloß Intellektuellen<br />
m Erkennen, und Sie können es nach und nach dahin<br />
bringen, dass bei einem solchen Kinde der Wille zum Gedanken<br />
erwacht. Erst die Einsicht, dass man es im wachenden Menschen<br />
schon zu tun hat mit verschiedenen Bewusstseinszuständen<br />
- mit machen, Träumen und Schlafen -, erst diese Einsicht<br />
bringt ins zu einer wirklichen Erkenntnis unserer Aufgaben gegenüber<br />
dem werdenden Menschen.<br />
Wir können aber jetzt etwas fragen. Wir können fragen: Wie<br />
verhält sich das eigentliche Zentrum des Menschen, das Ich, zu<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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diesen verschiedenen Zuständen? Sie kommen am leichtesten<br />
dabei zurecht, wenn Sie zunächst, was ja unleugbar ist, voraussetzen:<br />
Was wir Welt, was wir Kosmos nennen, das ist eine<br />
Summe von Tätigkeiten. Für uns drücken sich diese Tätigkeiten<br />
aus auf den verschiedenen Gebieten des elementaren Lebens.<br />
Wir wissen, dass in diesem elementaren Leben Kräfte walten.<br />
Die Lebenskraft waltet zum Beispiel um uns herum. Und zwischen<br />
den elementaren Kräften und der Lebenskraft eingesponnen<br />
ist alles, was zum Beispiel die Wärme und das Feuer bewirkt.<br />
Denken Sie nur, wie sehr wir in einer Umgebung stehen,<br />
in der durch das Feuer sehr vieles bewirkt wird.<br />
In gewissen Gegenden der Erde, zum Beispiel in Süditalien,<br />
brauchen Sie nur eine Papierkugel anzuzünden, und in demselben<br />
Augenblick fängt es an, aus der Erde heraus mächtig zu rauchen.<br />
Warum geschieht das? Es geschieht, weil Sie durch das<br />
Anzünden der Papierkugel und die sich dadurch entwickelnde<br />
Wärme die Luft an dieser Stelle verdünnen, und das, was sonst<br />
unter der Erdoberfläche an Kräften waltet, wird durch den<br />
nach aufwärts gerichteten Rauch nach oben gezogen, und in<br />
dem Augenblick, wo Sie die Papierkugel anzünden und auf die<br />
Erde werfen, stehen Sie in einer Rauchwolke. Das ist ein Experiment,<br />
das jeder Reisende machen kann, der in die Gegend von<br />
Neapel kommt. Das habe ich als ein Beispiel dafür angeführt,<br />
dass wir, wenn wir die Welt nicht oberflächlich betrachten, uns<br />
sagen müssen: Wir leben in einer Umgebung, die überall von<br />
Kräften durchzogen ist.<br />
Nun gibt es auch höhere Kräfte als die Wärme. Die sind auch in<br />
unserer Umgebung. Durch sie gehen wir immer durch, indem<br />
wir als physische Menschen durch die Welt gehen. Ja, unser<br />
physischer Körper, ohne dass wir es im gewöhnlichen Erkennen<br />
wissen, ist so geartet, dass wir das vertragen. Mit unserem physischen<br />
Körper können wir so durch die Welt schreiten.<br />
Mit unserem Ich, das die jüngste Bildung unserer Evolution ist,<br />
könnten wir nicht durch diese Weltenkräfte schreiten, wenn<br />
dieses Ich sich unmittelbar an diese Kräfte hingeben sollte. Die-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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ses Ich könnte nicht an alles sich hingeben, was in seiner Umgebung<br />
ist und worin es selbst drinnen ist. Dieses Ich muss jetzt<br />
noch davor bewahrt werden, sich ergießen zu müssen in die<br />
Weltenkräfte. Es wird sich einmal dazu entwickeln, in die Weltenkräfte<br />
hinein aufgehen zu können. Jetzt kann es das noch<br />
nicht. Deshalb ist es notwendig, dass wir für das völlig wache<br />
Ich nicht versetzt werden in die wirkliche Welt, die in unserer<br />
Umgebung ist, sondern nur in das Bild der Welt. Daher haben<br />
wir in unserem denkenden Erkennen eben nur die Bilder der<br />
Welt, was wir vom seelischen Gesichtspunkte aus schon angeführt<br />
haben.<br />
Jetzt betrachten wir es auch vom geistigen Gesichtspunkte aus.<br />
Im denkenden Erkennen leben wir in Bildern; und wir Menschen<br />
auf der gegenwärtigen Entwickelungsstufe innerhalb von<br />
Geburt und Tod können mit unserem vollwachenden Ich nur in<br />
Bildern von dem Kosmos leben, noch nicht in dem wirklichen<br />
Kosmos. Daher muss, wenn wir wachen, unser Leib uns zuerst<br />
die Bilder des Kosmos hervorbringen. Dann lebt unser Ich in<br />
den Bildern von diesem Kosmos.<br />
Die Psychologen geben sich furchtbar viel Mühe, die Beziehungen<br />
zwischen Leib und Seele zu konstatieren. Sie reden von<br />
Wechselwirkung zwischen Leib und Seele, reden vom psychophysischen<br />
Parallelismus und auch von anderen Dingen noch.<br />
Alle diese Dinge sind im Grunde genommen kindliche Begriffe.<br />
Denn der wirkliche Vorgang dabei ist der: Wenn das Ich des<br />
Morgens in den Wachzustand übergeht, so dringt es in den Leib<br />
ein, aber nicht in die physischen Vorgänge des Leibes, sondern<br />
in die Bilderwelt, die bis in sein tiefstes Inneres der Leib von<br />
den äußeren Vorgängen erzeugt. Dadurch wird dem Ich das<br />
denkende Erkennen übermittelt.<br />
Beim Fühlen ist es anders. Da dringt schon das Ich in den wirklichen<br />
Leib ein, nicht bloß in die Bilder. Wenn es aber bei diesem<br />
Eindringen voll bewusst wäre, dann würde es - nehmen Sie<br />
das jetzt seelisch - buchstäblich seelisch verbrennen. Wenn Ihnen<br />
dasselbe passierte beim Fühlen, was Ihnen passiert beim<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Denken, indem Sie in die Bilder, die Ihnen Ihr Leib erzeugt, mit<br />
Ihrem Ich eindringen, dann würden Sie seelisch verbrennen. Sie<br />
würden es nicht aushalten. Sie können dieses Eindringen, welches<br />
das Fühlen bedeutet, nur träumend, im herabgedämpften<br />
Bewusstseinszustande erleben. Nur im Traume halten Sie das<br />
aus, was beim Fühlen in Ihrem Leib eigentlich vor sich geht.<br />
Und was beim Wollen sich abspielt, das können Sie überhaupt<br />
nur erleben, indem Sie schlafen. Das wäre etwas ganz Schreckliches,<br />
was Sie erleben würden, wenn Sie im gewöhnlichen Leben<br />
alles miterleben müssten, was mit Ihrem Wollen vor sich geht.<br />
Der entsetzlichste Schmerz ergriffe Sie zum Beispiel, wenn Sie,<br />
was ich schon andeutete, wirklich erleben müssten, wie sich die<br />
durch die Nahrungsmittel dem Organismus zugeführten Kräfte<br />
beim Gehen verbrauchen in Ihren Beinen. Es ist schon Ihr<br />
Glück, dass Sie das nicht erleben beziehungsweise nur schlafend<br />
erleben. Denn wachend dies erleben, würde den denkbar größten<br />
Schmerz bedeuten, einen furchtbaren Schmerz. Man könnte<br />
sogar sagen: das Erwachen ins Wollen besteht darin, dass für<br />
den Menschen, insofern er ein wollender ist, der Schmerz, der<br />
nur latent bleibt, betäubt wird durch den Schlafzustand im<br />
Wollen.<br />
Daher werden Sie verstehen, wenn ich Ihnen jetzt das Leben<br />
des Ich charakterisiere während dessen, was man im gewöhnlichen<br />
Leben Wachzustand nennt - was also umfasst: voll Wachen,<br />
träumend Wachen, schlafend Wachen -, wenn ich charakterisiere,<br />
was das Ich, indem es im gewöhnlichen Wachzustande<br />
im Leibe lebt, eigentlich in Wirklichkeit durchlebt. Dieses<br />
Ich lebt im denkenden Erkennen, indem es aufwacht in den<br />
Leib; da ist es voll wach. Es lebt darin aber nur in Bildern, so<br />
dass der Mensch in seinem Leben zwischen Geburt und Tod,<br />
wenn er nicht solche Übungen macht, wie sie in meinem Buche<br />
«Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» angedeutet<br />
sind, fortwährend nur in Bildern durch sein denkendes Erkennen<br />
lebt.<br />
93
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Dann senkt sich erwachend das Ich auch ein in die Vorgänge,<br />
die das Fühlen bedingen. Fühlend leben: da sind wir nicht voll<br />
wach, sondern da sind wir träumend wach. Wie erleben wir<br />
denn eigentlich das, was wir da im träumenden Wachzustande<br />
fühlend durchmachen? Das erleben wir tatsächlich in dem, was<br />
man immer genannt hat Inspirationen, inspirierte Vorstellungen,<br />
unbewusst inspirierte Vorstellungen. Da ist der Herd von<br />
alledem, was aus den Gefühlen beim Künstler hinaufsteigt in das<br />
wache Bewusstsein. Dort wird es zuerst durchgemacht. Dort<br />
wird auch alles das durchgemacht, was beim wachen Menschen<br />
oftmals als Einfälle hinaufsteigt ins Wachbewusstsein und dann<br />
zu Bildern wird.<br />
Was in meinem Buche: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren<br />
Welten?» Inspirationen genannt wird, das ist nur das zur<br />
Helligkeit, zum Vollbewusstsein heraufgehobene Erleben desjenigen,<br />
was bei jedem Menschen unten im Gefühlsleben unbewusst<br />
an Inspirationen vorhanden ist.<br />
Und wenn besonders veranlagte Leute von ihren Inspirationen<br />
sprechen, so sprechen sie eigentlich von dem, was die Welt in<br />
ihr Gefühlsleben hineingelegt hat und durch ihre Anlagen heraufkommen<br />
lässt in ihr volles Wachbewusstsein. Es ist das ebenso<br />
Weltinhalt, wie der Gedankeninhalt Weltinhalt ist. Aber in<br />
dem Leben zwischen Geburt und Tod spiegeln diese unbewussten<br />
Inspirationen solche Weltenvorgänge, die wir nur träumend<br />
erleben können; sonst würde unser Ich in diesen Vorgängen<br />
sich verbrennen, oder es würde ersticken, namentlich ersticken.<br />
94
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Dieses Ersticken beginnt auch manchmal beim Menschen in abnormen<br />
Zuständen. Denken Sie nur einmal, Sie haben Alpdruck.<br />
Dann will ein Zustand, der sich abspielt zwischen Ihnen<br />
und der äußeren Luft, wenn bei einem Menschen in diesem<br />
Wechselverhältnis nicht alles in Ordnung ist, in abnormer Weise<br />
übergehen in etwas anderes. Indem das übergehen will in Ihr<br />
Ich-Bewusstsein, wird es Ihnen nicht als eine normale Vorstellung<br />
bewusst, sondern als eine Sie quälende Vorstellung: als der<br />
Alpdruck. Und so qualvoll wie das abnorme Atmen im Alpdruck,<br />
so qualvoll wäre das gesamte Atmen, wäre jeder Atemzug,<br />
wenn der Mensch das Atmen vollbewusst erleben würde.<br />
Er würde es fühlend erleben, aber qualvoll wäre es für ihn. Es<br />
wird daher abgestumpft, und so wird es nicht als physischer<br />
Vorgang, sondern nur in dem träumerischen Gefühl erlebt.<br />
Und gar die Vorgänge, die sich beim Wollen abspielen, ich habe<br />
es Ihnen schon angedeutet: furchtbarer Schmerz wäre das! Daher<br />
können wir weiter sagen als drittes: Das Ich im wollenden<br />
Tun ist schlafend. Da wird das erlebt, was erlebt wird mit stark<br />
herabgedämpftem Bewusstsein - eben im schlafenden Bewusstsein<br />
- in unbewussten Intuitionen. Unbewusste Intuitionen hat<br />
der Mensch fortwährend; aber sie leben in seinem Wollen. Er<br />
schläft in seinem Wollen. Daher kann er sie auch nicht im gewöhnlichen<br />
Leben heraufholen. Sie kommen nur in Glückszuständen<br />
des Lebens herauf; dann erlebt der Mensch ganz dumpf<br />
die geistige Welt mit.<br />
Nun ist etwas Eigentümliches beim gewöhnlichen Leben des<br />
Menschen vorhanden. Das Vollbewusstsein im vollen Wachen<br />
beim denkenden Erkennen, das kennen wir ja alle. Da sind wir<br />
sozusagen in der Helligkeit des Bewusstseins, darüber wissen<br />
wir Bescheid. Manchmal fangen dann die Menschen an, wenn<br />
sie über die Welt etwas nachdenken, zu sagen: Wir haben Intuitionen.<br />
Unbestimmt Gefühltes bringen die Menschen dann aus<br />
diesen Intuitionen heraus vor. Was sie da sagen, kann manchmal<br />
etwas sehr Verworrenes sein, aber es kann auch unbewusst<br />
geregelt sein. Und schließlich, wenn der Dichter von seinen In-<br />
95
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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tuitionen spricht, so ist das durchaus richtig, dass er sie zunächst<br />
nicht herausholt aus dem Herd, wo sie ihm am nächsten liegen,<br />
aus den inspirierten Vorstellungen des Gefühlslebens, sondern<br />
er holt hervor seine ganz unbewussten Intuitionen aus der Region<br />
des schlafenden Wollens.<br />
Wer in diese Dinge hineinsieht, der sieht selbst in scheinbaren<br />
Zufälligkeiten des Lebens tiefe Gesetzmäßigkeiten. Man liest<br />
zum Beispiel den zweiten Teil von Goethes «Faust», und man<br />
möchte sich ganz gründlich davon unterrichten, wie gerade diese<br />
merkwürdigen Verse in ihrem Bau hervorgebracht werden<br />
konnten. Goethe war schon alt, als er den zweiten Teil seines<br />
«Faust» schrieb, wenigstens den größten Teil davon. Er schrieb<br />
ihn so, dass John, sein Sekretär, am Schreibtische saß und das<br />
schrieb, was Goethe diktierte. Hätte Goethe selber schreiben<br />
müssen, so hätte er wahrscheinlich nicht so merkwürdig ziselierte<br />
Verse für den zweiten Teil seines «Faust» hervorgebracht.<br />
Goethe ging, während er diktierte, in seiner kleinen Weimarer<br />
Stube fortwährend auf und ab, und dieses Auf- und Abgehen<br />
gehört mit zur Konzeption des zweiten Teiles des «Faust». Indem<br />
Goethe dieses unbewusste wollende Tun im Gehen entwickelte,<br />
drängte aus seinen Intuitionen etwas herauf, und in seiner<br />
äußeren Tätigkeit offenbarte sich dann dasjenige, was er<br />
durch einen anderen auf das Papier schreiben ließ.<br />
Wenn Sie sich ein Schema machen wollen von dem Leben des<br />
Ich im Leibe, und Sie machen es sich in der folgenden Weise:<br />
I. wachend - bildhaftes Erkennen<br />
II. träumend - inspiriertes Fühlen<br />
III. schlafend - intuitierendes oder intuitiertes Wollen<br />
dann werden Sie sich nicht recht begreiflich machen können,<br />
warum das Intuitive, von dem die Menschen instinktiv sprechen,<br />
leichter heraufkomme ins bildhafte Erkennen des Alltags<br />
als das näherliegende inspirierte Fühlen. Wenn Sie sich nun das<br />
Schema jetzt richtig zeichnen - denn hier oben ist es falsch gezeichnet<br />
-, wenn Sie es in der Weise machen, wie in der Zeich-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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nung, dann werden Sie die Sache leichter begreifen. Denn dann<br />
werden Sie sich sagen: In der Richtung des Pfeils (1) steigt das<br />
bildhafte Erkennen hinunter in die Inspirationen, und es<br />
kommt wieder herauf aus den Intuitionen (Pfeil 2). Aber dieses<br />
Erkennen, das mit dem Pfeil 1 angedeutet ist, ist das Hinuntersteigen<br />
in den Leib. Und jetzt betrachten Sie sich; Sie sind zunächst<br />
ganz ruhig, sitzend oder stehend, geben sich nur dem<br />
denkenden Erkennen hin, der Betrachtung der Außenwelt. Da<br />
leben Sie im Bilde. Was sonst das Ich erlebt an den Vorgängen,<br />
steigt hinunter in den Leib, erst ins Fühlen, dann ins Wollen.<br />
Was im Fühlen ist, beachten Sie nicht, was im Wollen ist, beachten<br />
Sie zunächst auch nicht. Nur wenn Sie anfangen zu gehen,<br />
wenn Sie anfangen zu handeln, dann betrachten Sie äußerlich<br />
nicht zuerst das Fühlen, sondern das Wollen. Und da, beim<br />
Hinuntersteigen in den Leib und beim Wiederheraufsteigen,<br />
was in der Richtung des Pfeiles 2 vor sich geht, da hat das intuitive<br />
Wollen es näher, zum bildhaften Bewusstsein zu kommen<br />
als das träumende inspirierte Fühlen. Daher werden Sie finden,<br />
dass die Menschen so oft sagen: Ich habe eine unbestimmte Intuition.<br />
- Da wird dann das, was in meinem Buche „Wie erlangt<br />
man Erkenntnisse der höheren Welten“ Intuitionen genannt<br />
wird, mit der oberflächlichen Intuition des gewöhnlichen Bewusstseins<br />
verwechselt.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Jetzt werden Sie etwas begreifen von der Gestalt des menschlichen<br />
Leibes. Denken Sie sich jetzt einmal einen Augenblick gehend,<br />
aber die Welt betrachtend. Denken Sie sich: Nicht Ihr<br />
Unterleib müsste mit den Beinen gehen, sondern Ihr Kopf würde<br />
direkt die Beine haben und müsste gehen. Da würde in eins<br />
verwoben sein Ihr Weltbetrachten und Ihr Wollen, und die<br />
Folge wäre, dass Sie nur schlafend gehen könnten. Indem Ihr<br />
Kopf aufgesetzt ist auf die Schultern und auf den übrigen Leib,<br />
ruht er auf dem übrigen Leibe. Er ruht, und Sie tragen Ihren<br />
Kopf, indem Sie sich nur mit dem anderen Leib bewegen. Der<br />
Kopf muss aber auf dem Leibe ruhen können, sonst könnte er<br />
nicht das Organ des denkenden Erkennens sein. Er muss dem<br />
schlafenden Wollen entzogen werden, denn in dem Augenblick,<br />
wo Sie ihn in die Bewegung überführen, wo Sie ihn aus der relativen<br />
Ruhe in eine selbstgemachte Bewegung überführen würden,<br />
da würde er zum Schlafen kommen. Das eigentliche Wollen<br />
lässt er den Leib vollziehen, und er lebt in diesem Leibe<br />
drinnen wie in einer Kutsche und lässt sich von diesem Wagen<br />
weiterbefördern. Nur dadurch, dass sich der Kopf wie in einer<br />
Kutsche von dem Wagen des Leibes weiterbefördern lässt und<br />
während dieses Weiterbeförderns, während dieses Rubens handelt,<br />
ist der Mensch wachend handelnd. Nur wenn Sie die Dinge<br />
so zusammenhalten, kommen Sie auch zu einem wirklichen Begreifen<br />
der Gestalt des menschlichen Leibes.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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SIEBENTER VORTRAG<br />
28. AUGUST 1919, STUTTGART<br />
Es kommt für Sie darauf an zu durchschauen, was das Menschenwesen<br />
eigentlich ist. Wir haben auf unserem bisherigen<br />
Gange durch die allgemeine Pädagogik versucht, zunächst vom<br />
seelischen, dann vom geistigen Gesichtspunkte aus dieses Menschenwesen<br />
zu begreifen. Das letztere wollen wir heute etwas<br />
fortsetzen. Wir werden uns selbstverständlich fortwährend beziehen<br />
müssen auf Begriffe, die über Pädagogisches, auch über<br />
Seelisches, Psychologisches in der Welt gang und gäbe sind;<br />
denn Sie werden sich ja durch Lektüre im Laufe der zeit mit pädagogischer<br />
und psychologischer Literatur auseinanderzusetzen<br />
haben, soweit Sie dazu Zeit und Muße haben.<br />
Betrachten wir vom seelischen Gesichtspunkte aus den Menschen,<br />
so legen wir das Hauptgewicht darauf, Antipathien und<br />
Sympathien innerhalb der Weltgesetzmäßigkeit zu entdecken;<br />
betrachten wir aber vom geistigen Gesichtspunkte aus den Menschen,<br />
so müssen wir das Hauptgewicht darauf legen, Bewusstseinszustände<br />
zu entdecken. Und wir haben uns ja gestern mit<br />
den im Menschen waltenden drei Bewusstseinszuständen beschäftigt:<br />
mit dem Vollwachsein, mit dem Träumen und mit<br />
dem Schlafen - und haben gezeigt, wie das Vollwachsein eigentlich<br />
nur im denkenden Erkennen vorhanden ist, das Träumen<br />
aber im Fühlen waltet und das Schlafen im Wollen.<br />
Es ist alles Begreifen eigentlich ein Beziehen des einen auf das<br />
andere. Begreifen können wir aber in der Welt nicht anders, als<br />
dass wir das eine auf das andere beziehen. Diese methodische<br />
Bemerkung möchte ich vorausschicken. Indem wir uns zur<br />
Welt erkennend in Beziehung setzen, beobachten wir zunächst.<br />
Entweder beobachten wir mit unseren Sinnen, wie wir das im<br />
gewöhnlichen Leben tun, oder wir entwickeln uns etwas weiter<br />
und beobachten mit Seele und Geist, wie wir das im Imaginie-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
ren, in der Inspiration und in der Intuition können. Aber auch<br />
das geistige Beobachten ist eben ein Beobachten, und notwendig<br />
ist zur Ergänzung alles Beobachtens, dass wir begreifen. Begreifen<br />
aber können wir nur, wenn wir das eine auf das andere im<br />
Weltenall, in unserer Umgebung beziehen.<br />
Sie können sich gute Begriffe verschaffen von Leib, Seele und<br />
Geist, wenn sie den ganzen menschlichen Lebenslauf ins Auge<br />
fassen. Nur müssen sie berücksichtigen, dass Sie bei solchem Beziehen,<br />
wie ich es jetzt andeuten werde, immer nur die allerersten<br />
Anfangsgründe des Begreifens haben. sie müssen dann die<br />
Begriffe, welche Sie auf diese Art bekommen, weiter ausbilden.<br />
Betrachten Sie nämlich das erst in die Welt gekommene Kind,<br />
betrachten sie es in seinen Formen, in seinen Bewegungen, in<br />
seinen Lebensäußerungen, im schreien, im Lallen und so weiter,<br />
dann bekommen sie ein Bild mehr des Menschenleibes. Aber sie<br />
bekommen dieses Bild des Menschenleibes auch nur vollständig,<br />
wenn sie es beziehen auf das mittlere und auf das greise Lebensalter<br />
des Menschen. Im mittleren Lebensalter ist der Mensch<br />
mehr seelisch, im Greisenalter ist er am meisten geistig. Das<br />
letztere könnte leicht angefochten werden. selbstverständlich<br />
werden da manche sagen: Aber viele Greise werden doch wieder<br />
ganz schwachgeistig! - Das ist insbesondere ein Einwand des<br />
Materialismus gegen das Seelisch- Geistige, dass man im Alter<br />
wieder schwachgeistig wird, und mit einer wahren Beharrlichkeit<br />
dozieren ja die Materialisten, dass selbst ein so großer Geist<br />
wie Kant in seinem Alter schwachsinnig geworden wäre. Dieser<br />
Einwand der Materialisten und diese Tatsache sind richtig. Allein,<br />
was sie beweisen wollen, beweisen sie nicht. Denn auch<br />
Kant war, als er vor der Todespforte stand, weiser, als er in seiner<br />
Kindheit war; nur war in seiner Kindheit sein Leib imstande,<br />
alles aufzunehmen, was aus seiner Weisheit kam; dadurch<br />
konnte es bewusst werden im physischen Leben. Im Greisenalter<br />
dagegen war der Leib unfähig geworden, das auch aufzunehmen,<br />
was der Geist ihm lieferte. Es war der Leib kein richtiges<br />
Werkzeug des Geistes mehr. Daher konnte auf dem physi-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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schen Plan Kant nicht mehr zum Bewusstsein dessen kommen,<br />
was in seinem Geiste lebte. Trotz der scheinbaren Tragkraft des<br />
eben gekennzeichneten Einwandes muss man sich ja doch klar<br />
darüber sein, dass man im Alter weise, geistvoll wird, dass man<br />
sich den Geistern nähert. Daher wird man bei solchen Greisen,<br />
die sich bis ins hohe Alter hinein Elastizität und Lebenskraft für<br />
ihren Geist bewahren, die Eigenschaften des Geistigen in ihrem<br />
Anfange erkennen müssen. Es gibt ja auch solche Möglichkeiten.<br />
In Berlin waren einmal zwei Professoren. Der eine war Michelet,<br />
der Hegelianer, der schon über neunzig Jahre war. Er hatte<br />
es, da er ziemlich geistvoll war, nur zum Honorarprofessor gebracht,<br />
aber er hielt noch, als er schon so alt war, seine Vorträge.<br />
Da war dann ein anderer, Zeller, der Geschichtsschreiber der<br />
griechischen Philosophie. Der war gegen Michelet ein Jüngling,<br />
denn er war erst siebzig Jahre. Von dem hörte man überall, dass<br />
er die Last des Alters fühle, dass er nicht mehr seine Vorlesungen<br />
halten könne, dass er vor allem aber seine Vorlesungen eingeschränkt<br />
wissen wollte. Dazu sagte Michelet immer: Ich begreife<br />
den Zeller nicht; ich könnte noch den ganzen Tag Vorlesungen<br />
halten, der Zeller aber in seiner Jugend redet immer davon,<br />
dass ihm das zu viel Anstrengung verursacht!<br />
Also Sie sehen, man wird schon vielleicht nur in einzelnen<br />
Exemplaren äußerlich physisch das bewahrheitet finden, was<br />
hier über den Geist des Alters zugrunde gelegt wird. Aber es ist<br />
so.<br />
Betrachten wir dagegen den Menschen in seinen Lebensäußerungen<br />
mehr in seinem mittleren Alter, so bekommen wir die<br />
Anfangsgründe für das Beobachten des Seelischen. Daher kann<br />
auch der Mensch in seinem mittleren Lebensalter, man möchte<br />
sagen, das Seelische mehr verleugnen. Er kann seelenlos oder<br />
sehr beseelt erscheinen. Denn das Seelische steht in der Freiheit<br />
des Menschen, auch in der Erziehung. Dass manche Menschen<br />
sehr seelenlos sind in ihrer mittleren Lebenszeit, beweist daher<br />
nichts dagegen, dass die mittlere Lebenszeit die eigentlich seeli-<br />
101
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
sche ist. Wenn man vergleicht die mehr zappelnde, unbewusst<br />
sich betätigende Leibesnatur des Kindes mit der beschaulichen,<br />
ruhigen Leibesnatur des Alters, so hat man auf der einen Seite<br />
einen Leib, der besonders seinen Leib hervorkehrt im Kinde,<br />
und einen Leib, der den Leib als solchen zurücktreten lässt, der<br />
sich gewissermaßen als Leib selbst verleugnet, im Greisenalter.<br />
Wenn wir diese Betrachtung mehr auf das Seelische anwenden,<br />
dann werden wir sagen: Der Mensch trägt in sich denkendes<br />
Erkennen, Fühlen und Wollen. Schauen wir das Kind an, dann<br />
haben wir in dem Bilde, das uns das Kind seelisch darbietet, eine<br />
enge Verknüpfung zwischen Wollen und Fühlen. Man möchte<br />
sagen, Wollen und Fühlen sind im Kinde zusammengewachsen.<br />
Wenn das Kind zappelt, strampelt, so macht es genau die Bewegungen,<br />
die seinem Fühlen in diesem Augenblicke entsprechen;<br />
es ist nicht imstande, die Bewegungen etwa von dem Gefühl<br />
auseinanderzuhalten.<br />
Anders wird das beim Greise. Bei ihm ist das Entgegengesetzte<br />
der Fall: denkendes Erkennen und Fühlen sind zusammengewachsen,<br />
und das Wollen tritt in einer gewissen selbständigen<br />
Art auf. Es verläuft also der menschliche Lebensgang in der<br />
Weise, dass das Fühlen, welches zuerst an das Wollen gebunden<br />
ist, sich allmählich im Laufe des Lebens vom Wollen loslöst.<br />
Und damit haben wir es gerade vielfach im Erziehen zu tun: mit<br />
dem Loslösen des Fühlens vom Wollen. Dann verbindet sich das<br />
vom Wollen losgelöste Fühlen mit dem denkenden Erkennen.<br />
Damit hat es dann das spätere Leben zu tun. Wir haben das<br />
Kind für das spätere Leben nur dann richtig vorbereitet, wenn<br />
wir in ihm bewirken, dass das Fühlen sich gut loslösen kann von<br />
dem Wollen; dann wird es in einer späteren Lebensära als Mann<br />
oder Frau auch das losgelöste Fühlen mit dem denkenden Erkennen<br />
verbinden können und wird so dem Leben gewachsen<br />
sein. Warum hören wir dem Greise zu, auch wenn er uns von<br />
seinen Lebenserfahrungen erzählt? Weil er im Laufe seines Lebens<br />
sein persönliches Empfinden verbunden hat mit seinen Begriffen<br />
und Ideen. Er erzählt uns nicht Theorien, er erzählt uns<br />
das, was er persönlich an Gefühlen hat anknüpfen können an<br />
102
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
die Ideen und Begriffe. Bei dem Greise, der wirklich sein Fühlen<br />
mit dem denkenden Erkennen verbunden hat, klingen daher die<br />
Begriffe und Ideen warm, klingen wirklichkeitsgesättigt, konkret,<br />
persönlich; während bei dem Menschen, der mehr im<br />
Mannes- oder Frauenalter stehengeblieben ist, die Begriffe und<br />
Ideen theoretisch, abstrakt, wissenschaftlich klingen. Das gehört<br />
einmal zum menschlichen Leben, dass von den menschlichen<br />
Seelenfähigkeiten ein gewisser Gang durchgemacht wird, indem<br />
sich das fühlende Wollen des Kindes entwickelt zu dem fühlenden<br />
Denken des Greises. Dazwischen liegt das menschliche Leben,<br />
und wir werden zu diesem menschlichen Leben nur gut<br />
erziehen, wenn wir eine solche Sache psychologisch ins Auge zu<br />
fassen vermögen.<br />
Nun müssen wir darauf Rücksicht nehmen, dass bei aller unserer<br />
Beobachtung der Welt etwas zuerst auftritt, auch alle<br />
Psychologien beschreiben es als das erste, das bei der Weltbeobachtung<br />
auftritt: das ist die Empfindung. Wenn irgendeiner<br />
unserer Sinne in Zusammenhang kommt mit der Umwelt, so<br />
empfindet er. Wir empfinden die Farbe, die Töne, Wärme und<br />
Kälte. So tritt in unserem Wechselverkehr mit der Umwelt die<br />
Empfindung auf.<br />
So wie die Empfindung gewöhnlich in den landläufigen Psychologien<br />
beschrieben wird, bekommen Sie keine richtige Vorstellung<br />
von dem, was Empfindung eigentlich ist. Wenn die<br />
Psychologien von der Empfindung sprechen, so sagen sie: Draußen<br />
geht ein gewisser physischer Vorgang vor sich, Vibrationen<br />
im Lichtäther oder Schwingungen in der Luft, das strömt an unser<br />
Sinnesorgan, reizt dieses Sinnesorgan. - Man spricht dann<br />
wohl von dem Reiz, und man schwingt sich dann auf zu einem<br />
Ausdruck, den man bildet, aber nicht zum Verständnis bringen<br />
will. Denn der Reiz löst aus durch das Sinnesorgan in unserer<br />
Seele die Empfindung, die ganz qualitative Empfindung, welche<br />
zustande kommt aus dem physischen Vorgang, zum Beispiel<br />
durch Schwingungen der Luftwellen beim Hören. Wie das zustande<br />
kommt, darüber kann die Psychologie, kann die gegen-<br />
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wärtige Wissenschaft überhaupt noch keine Auskunft geben.<br />
Das steht ja gewöhnlich in den Psychologien.<br />
Näher als durch solche psychologischen Betrachtungen werden<br />
Sie dem Verständnis dieser Dinge kommen, wenn Sie durch die<br />
Einsicht in die Natur der Empfindungen selber sich die Frage<br />
beantworten können: Welcher der Seelenkräfte ist denn eigentlich<br />
die Empfindung am meisten verwandt? - Die Psychologen<br />
machen sich die Sache 'leicht; sie rechnen die Empfindung<br />
glattweg zu dem Erkennen und sagen: Erst empfinden wir, dann<br />
nehmen wir wahr, dann machen wir uns Vorstellungen, bilden<br />
uns Begriffe und so weiter. - So scheint ja auch der Vorgang zunächst<br />
zu sein. Nur nimmt man dann darauf keine Rücksicht,<br />
welcher Wesenheit eigentlich die Empfindung ist.<br />
Wenn man die Empfindung wirklich in genügender Selbstbeobachtung<br />
durchschaut, so erkennt man: die Empfindung ist<br />
willensartiger Natur mit einem Einschlag von gefühlsmäßiger<br />
Natur. Sie ist zunächst nicht verwandt mit dem denkenden Erkennen,<br />
sondern mit dem fühlenden Wollen oder dem wollenden<br />
Fühlen. Ich weiß nicht, wie viele Psychologien - man kann<br />
natürlich nicht alle die unzähligen Psychologien, die es in der<br />
Gegenwart gibt, kennen - irgend etwas von der Verwandtschaft<br />
der Empfindung mit dem wollenden Fühlen oder dem fühlenden<br />
Wollen eingesehen haben. Wenn man sagt, dass die Empfindung<br />
mit dem Wollen verwandt ist, so ist das nicht genau gesprochen,<br />
denn sie ist mit dem wollenden Fühlen und dem fühlenden<br />
Wollen verwandt. Aber dass sie mit dem Fühlen verwandt<br />
ist, hat wenigstens ein Psychologe, der sich durch eine<br />
besonders gute Beobachtung auszeichnete, Moriz Benedikt in<br />
Wien, in seiner Psychologie erkannt.<br />
Diese Psychologie wird von den Psychologen allerdings weniger<br />
berücksichtigt. Es ist auch etwas Eigentümliches mit ihr. Erstens<br />
ist Moriz Benedikt seiner Fachstempelung nach Kriminalanthropologe;<br />
der schreibt nun eine Psychologie. zweitens ist er Naturforscher,<br />
und er schreibt über die Wichtigkeit dichterischer<br />
Kunstwerke bei der Erziehung, analysiert sogar dichterische<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Kunstwerke, um zu zeigen, wie man sie in der Erziehung verwenden<br />
kann. Es ist etwas Schreckliches: der Mann will Wissenschaftler<br />
sein und hält etwas davon, dass die Psychologen<br />
etwas lernen können von den Dichtern! Und drittens: Dieser<br />
Mann ist jüdischer Naturforscher und schreibt eine Psychologie<br />
und widmet diese ausgerechnet dem Priester, dem katholischen<br />
Philosophen der Theologischen Fakultät an der Wiener Universität<br />
- das war er damals noch -, Laurenz Mülner. Drei furchtbare<br />
Dinge, die unmöglich die Fachpsychologen veranlassen<br />
können, den Mann ernst zu nehmen. Aber Sie würden, wenn<br />
Sie seine Psychologie durchlesen würden, so viele wirklich treffende<br />
Apercus im einzelnen finden, dass Sie davon viel hätten,<br />
trotzdem Sie den ganzen Aufbau dieser Psychologie, die ganze<br />
materialistische Denkweise Moriz Benedikts - denn in der steckt<br />
er doch - ablehnen müssen. Von dem Ganzen des Buches haben<br />
Sie nicht das geringste, aber von den einzelnen Beobachtungen<br />
sehr viel. So muss man sich das Beste in der Welt dort suchen,<br />
wo es vorhanden ist. Wenn einer ein guter Beobachter im einzelnen<br />
ist, und es ekelt einen vor der Gesamttendenz, die man<br />
bei Moriz Benedikt finden kann, dann braucht man darum nicht<br />
seine guten Beobachtungen im einzelnen abzulehnen.<br />
Die Empfindung ist also, wie sie im Menschen auftritt, wollendes<br />
Fühlen oder fühlendes Wollen. Daher müssen wir sagen:<br />
Da, wo sich äußerlich die menschliche Sinnessphäre ausbreitet -<br />
die Sinne tragen wir ja an der Außenseite unseres Leibes, wenn<br />
man sich grob ausdrücken darf , da ist im Menschen in gewisser<br />
Weise fühlendes Wollen, wollendes Fühlen vorhanden. zeichnen<br />
wir uns skizzenhaft den Menschen schematisch auf, so<br />
können wir sagen: An der äußeren Oberfläche des Menschen -<br />
ich bitte zu berücksichtigen, dass das alles schematisch gemeint<br />
ist -, da haben wir die Sinnessphäre, da ist wollendes Fühlen,<br />
fühlendes Wollen vorhanden. (Siehe Zeichnung S. 119.) Was<br />
tun wir denn an dieser Oberfläche, wenn fühlendes Wollen,<br />
wollendes Fühlen vorhanden ist, soweit diese Körperoberfläche<br />
Sinnessphäre ist? Wir verüben eine Tätigkeit, die halb Schlafen<br />
und halb Traum ist; ein träumendes Schlafen, ein schlafendes<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Träumen könnten wir es auch nennen. Denn wir schlafen nicht<br />
nur in der Nacht, wir schlafen fortwährend an der Peripherie,<br />
an der äußeren Oberfläche unseres Leibes, und wir durchschauen<br />
als Menschen deshalb die Empfindungen nicht ganz, weil wir<br />
in diesen Gegenden, wo die Empfindungen sind, nur schlafend<br />
träumen und träumend schlafen. Die Psychologen ahnen gar<br />
nicht, dass es derselbe Grund ist, warum sie die Empfindungen<br />
nicht erfassen können, der uns auch hindert, wenn wir des<br />
Morgens erwachen, die Träume uns klar zum Bewusstsein zu<br />
bringen. Sie sehen, die Begriffe von Schlafen und Träumen haben<br />
eine ganz andere Bedeutung noch als die, welche wir im<br />
gewöhnlichen Leben anwenden würden. Wir kennen das Schlafen<br />
im gewöhnlichen Leben nur dadurch, dass wir wissen: in<br />
der Nacht, wenn wir im Bette liegen, schlafen wir. Wir wissen<br />
gar nicht, dass dieses Schlafen etwas ist, was eine viel größere<br />
Verbreitung hat, was wir fortwährend auch tun an unserer Körperoberfläche;<br />
nur mischen sich an unsere Körperoberfläche in<br />
das Schlafen fortwährend Träume hinein. Diese<br />
Sie müssen die Willens- und Fühlenssphäre beim Kinde auch in<br />
seinen Sinnen aufsuchen. Deshalb betonen wir so stark, dass<br />
wir, indem wir das Kind intellektuell erziehen, auch auf den<br />
Willen fortwährend wirken müssen; denn in allem, was das<br />
Kind anschauen muss, was es wahrnehmen muss, müssen wir<br />
auch den Willen und das Fühlen pflegen, sonst widersprechen<br />
wir ja eigentlich dem kindlichen Empfinden. Wir können erst<br />
zum Greise, erst am Lebensabend des Menschen so zu ihm sprechen,<br />
dass wir auch die Empfindungen auffassen als schon<br />
metamorphosiert. Beim Greise ist es so, dass auch schon die<br />
Empfindung übergegangen ist vom fühlenden Wollen zum fühlenden<br />
Denken oder denkenden Fühlen. Bei ihm ist die Empfindung<br />
etwas anderes geworden. Da haben die Empfindungen<br />
mehr Gedankencharakter und entbehren des unruhigen Willenscharakters,<br />
tragen größere Ruhe in sich. Beim Greise können<br />
wir erst sagen, die Empfindungen haben sich dem Begriffe,<br />
dem Ideencharakter angenähert.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Diesen feinen Unterschied in der Empfindung machen gewöhnlich<br />
die Psychologen nicht. Für sie ist Greisesempfindung dasselbe,<br />
was Kindesempfindung ist, denn Empfindung ist für sie<br />
Empfindung. Das ist ungefähr eine solche Logik, als wenn Sie<br />
ein Rasiermesser vor sich haben und sagen: Das Rasiermesser ist<br />
ein Messer, also schneiden wir damit das Fleisch, denn Messer<br />
ist Messer. - Da nimmt man von der Worterklärung den Begriff.<br />
Das sollte man aber niemals machen, sondern man sollte den<br />
Begriff von den Tatsachen nehmen. Bei der Empfindung würden<br />
wir finden, dass sie auch lebt, dass sie auch ein Werden im<br />
Leben durchmacht, dass sie beim Kinde mehr willensartigen<br />
Charakter hat, beim Greise mehr verstandesmäßig intellektuellen<br />
Charakter. Natürlich ist es für den Menschen leichter, alles<br />
aus den Worten herauszuklauben; daher haben wir so viele<br />
Worterklärer, und es kann manches ganz entsetzlich auf einen<br />
wirken.<br />
Ich war einmal in der Lage, einem Mitschüler zuzuhören, nachdem<br />
wir beide etwas auseinandergekommen waren. Wir hatten<br />
dieselbe Volksschule besucht; ich kam auf die Realschule, er auf<br />
das Lehrerseminar, noch dazu auf ein ungarisches, und das wollte<br />
in den siebziger Jahren etwas heißen. Wir trafen uns nach<br />
einigen Jahren und besprachen uns über das Licht. Ich hatte<br />
schon gelernt, was man in der regulären Physik lernen konnte,<br />
dass also das Licht etwas zu tun habe mit Schwingungen im<br />
Äther und so weiter. Das konnte man wenigstens als eine Ursache<br />
des Lichtes ansehen. Mein ehemaliger Mitschüler sagte dazu:<br />
Wir haben auch gelernt, was das Licht ist: Licht ist die Ursache<br />
des Sehens! - Ein Wortgeplänkel! So werden die Begriffe zu<br />
bloßen Worterklärungen. Und man kann sich vorstellen, was<br />
damit den Schülern gegeben wurde, wenn man weiß, dass dieser<br />
betreffende Herr später selbst als Lehrer an zahlreiche Schüler<br />
den Unterricht zu erteilen hatte, bis er pensioniert worden<br />
ist. - Wir müssen von den Worten loskommen und müssen an<br />
den Geist der Dinge herankommen. Wir müssen nicht gleich,<br />
wenn wir etwas begreifen wollen, jedesmal an das Wort denken,<br />
sondern wir müssen die tatsächlichen Beziehungen aufsu-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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chen. Wenn wir bei dem Worte «Geist» die Ursprünge dafür in<br />
Fritz Mauthners Sprachgeschichte aufsuchen und fragen: Wie<br />
tritt zuerst das Wort «Geist» auf? - so werden wir die Verwandtschaft<br />
des Wortes Geist mit «Gischt», mit «Gas» finden. Diese<br />
Verwandtschaften bestehen, aber es würde nichts Besonderes<br />
dabei herauskommen, wenn man bloß darauf bauen wollte. Leider<br />
wird gerade manchmal diese Methode kaschiert, umfassend<br />
kaschiert in der Bibelforschung angewendet. Daher ist die Bibel<br />
dasjenige Buch, das von den meisten Menschen, besonders von<br />
den gegenwärtigen Theologen, am allerschlechtesten verstanden<br />
wird.<br />
Worum es sich handelt, das ist, dass wir überall sachgemäß vorgehen,<br />
dass wir also versuchen, nicht von der Wortgeschichte<br />
aus einen Begriff vom Geiste zu bekommen, sondern dadurch,<br />
dass wir die kindliche Leibesauslebung vergleichen mit der greisenhaften<br />
Leibesauslebung. Durch dieses Tatsachenaufeinander-Beziehen<br />
bekommen wir reale Begriffe.<br />
Und so bekommen wir auch nur einen realen Begriff von der<br />
Empfindung, wenn wir wissen: sie entsteht als wollendes Fühlen<br />
oder fühlendes Wollen beim Kinde noch in der Körperperipherie<br />
dadurch, dass diese Körperperipherie beim Kinde gegenüber<br />
dem mehr menschlichen Inneren schläft und dabei träumt.<br />
Sie sind also nicht nur im denkenden Erkennen voll wach, sondern<br />
Sie sind überhaupt nur im Inneren Ihres Leibes voll wach.<br />
An der Körperperipherie, an der Leibesoberfläche schlafen Sie<br />
auch fortwährend. Und weiter: Was da in der Umgebung des<br />
Leibes oder, besser gesagt, an der Oberfläche des Leibes stattfindet,<br />
das findet in ähnlicher Weise auch statt im Kopf, und am<br />
stärksten findet es statt, je weiter wir in das Innere des Menschen<br />
hineinkommen, in das Muskelhafte, das Bluthafte. Da<br />
drinnen schläft der Mensch wiederum und träumt dabei. An der<br />
Oberfläche schläft und träumt der Mensch, und auch mehr gegen<br />
sein Inneres zu schläft er und träumt wiederum dabei.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Daher bleibt in unserem Inneren dasjenige, was mehr seelischwollendes<br />
Fühlen, fühlendes Wollen ist, unser Wunschleben<br />
und so weiter wiederum in einem träumenden Schlaf. Wo sind<br />
wir denn also nur voll wachend? In der Zwischenzone, wenn<br />
wir ganz wach sind.<br />
Sie sehen, wir gehen jetzt vom geistigen Gesichtspunkte aus,<br />
indem wir die Tatsachen des Wachens und des Schlafens auch<br />
räumlich auf den Menschen anwenden und dies auf seine Gestaltung<br />
beziehen, so dass wir uns sagen können: Der Mensch ist<br />
vom geistigen Gesichtspunkte angesehen so, dass er an seiner<br />
Oberfläche und in seinen Innenorganen schläft und nur in der<br />
Zwischenzone im Leben zwischen Geburt und Tod jetzt wirklich<br />
ganz wach sein kann. Was für Organe sind denn in dieser<br />
Zwischenzone am meisten ausgebildet? Diejenigen Organe, besonders<br />
im Kopfe, die wir die Nerven nennen, der Nervenapparat.<br />
Dieser Nervenapparat sendet seine Ausläufer in die äußere<br />
Oberflächenzone hinein und wieder in das Innere; da verlaufen<br />
die Nerven, und zwischendrinnen sind solche Mittelzonen wie<br />
das Gehirn, namentlich das Rückenmark, auch das Bauchmark.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Da ist uns Gelegenheit gegeben, so eigentlich recht wach zu<br />
sein. Wo die Nerven am meisten ausgebildet sind, da sind wir<br />
am meisten wach. Aber das Nervensystem hat zum Geiste eine<br />
eigentümliche Beziehung. Es ist ein Organsystem, das durch die<br />
Funktionen des Leibes fortwährend die Tendenz hat zu verwesen,<br />
mineralisch zu werden. Wenn Sie beim lebenden Menschen<br />
sein Nervensystem von der übrigen Drüsen-Muskel-<br />
Blutwesenheit und Knochenwesenheit loslösen könnten - das<br />
Knochensystem könnten Sie sogar beim Nervensystem<br />
dabeilassen -, so wäre das beim lebenden Menschen schon<br />
Leichnam, fortwährend Leichnam. Im Nervensystem geht fortwährend<br />
das Sterben des Menschen vor sich. Das Nervensystem<br />
ist das einzige System, welches gar keine unmittelbare Beziehung<br />
zum Geistig-Seelischen hat. Blut, Muskeln und so weiter<br />
haben immer direkte Beziehungen zum Geistig-Seelischen, das<br />
nervöse System hat unmittelbar dazu gar keine Beziehungen; es<br />
hat nur dadurch Beziehungen zum Geistig-Seelischen, dass es<br />
sich fortwährend aus der menschlichen Organisation ausschaltet,<br />
dass es nicht da ist, weil es fortwährend verwest. Die anderen<br />
Glieder leben; deshalb bilden sie direkte Beziehungen aus<br />
zum Geistig-Seelischen. Das Nervensystem stirbt fortwährend<br />
ab; es sagt fortwährend zum Menschen: Du kannst dich entwickeln,<br />
weil ich dir kein Hindernis biete, weil ich mache, dass<br />
ich gar nicht da bin mit meinem Leben! - Das ist das Eigenartige.<br />
In der Psychologie und Physiologie finden Sie dargestellt:<br />
das vermittelnde Organ des Empfindens, des Denkens, des Geistig-Seelischen<br />
überhaupt ist das Nervensystem. Wodurch ist es<br />
aber dieses vermittelnde Organ? Nur dadurch, dass es sich fortwährend<br />
aus dem Leben herausdrückt, dass es dem Denken und<br />
Empfinden gar keine Hindernisse bietet, dass es gar keine Beziehungen<br />
zum Denken und Empfinden anstiftet, dass es den<br />
Menschen leer sein lässt in bezug auf das Geistig-Seelische da,<br />
wo es ist. Für das Geistig-Seelische sind einfach dort, wo die<br />
Nerven sind, Hohlräume. Daher kann das Geistig-Seelische dort<br />
hinein, wo die Hohlräume sind. Wir müssen dem Nervensystem<br />
dankbar sein, dass es sich nicht kümmert um das Geistig-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Seelische, dass es all das nicht tut, was ihm die Physiologen und<br />
Psychologen zuschreiben. Täte es das, geschähe nur fünf Minuten<br />
lang das, was die Nerven nach den Beschreibungen der Physiologen<br />
und Psychologen tun sollen, so würden wir gar nichts<br />
in diesen fünf Minuten von der Welt und von uns wissen: wir<br />
würden eben schlafen. Denn die Nerven machten es dann so<br />
wie jene Organe, die das Schlafen vermitteln, die das fühlende<br />
Wollen, das wollende Fühlen vermitteln.<br />
Ja, es ist schon so, dass man es heute etwas hart hat, wenn man<br />
darauf kommt, was in der Physiologie und Psychologie die<br />
Wahrheit ist, denn die Leute sagen immer: Du stellst ja die Welt<br />
auf den Kopf. - Die Wahrheit ist nur, dass sie auf dem Kopfe<br />
steht und dass man sie durch Geisteswissenschaft auf die Beine<br />
zu stellen hat. Die Physiologen sagen: Die Organe des Denkens<br />
sind die Nerven, insbesondere das Gehirn. - Wahr ist, dass Gehirn-<br />
und Nervensystem gerade nur dadurch mit dem denkenden<br />
Erkennen etwas zu tun haben, weil sie sich immerfort aus<br />
der Organisation des Menschen ausschließen, und weil dadurch<br />
das denkende Erkennen sich entfalten kann. Jetzt betrachten Sie<br />
etwas ganz genau und nehmen Sie, bitte, Ihre Verstandeskräfte<br />
gut zusammen. In der Umgebung des Menschen, wo die Sinnessphäre<br />
ist, geschehen reale Vorgänge, die sich immerfort hineinstellen<br />
in das Weltgeschehen. Nehmen Sie an, Licht wirke auf<br />
den Menschen durch das Auge. Im Auge, das heißt in der Sinnessphäre,<br />
geschieht ein realer Vorgang, es geschieht etwas, ein<br />
physisch-chemischer Vorgang. Der setzt sich fort in das Innere<br />
des menschlichen Leibes, und er kommt dann auch bis in jenes<br />
Innere hinein (das dunkel Schraffierte der Zeichnung), wo wiederum<br />
physisch-chemische Vorgänge vor sich gehen. Jetzt denken<br />
Sie sich, Sie stehen einer beleuchteten Fläche gegenüber,<br />
und Lichtstrahlen fallen von dieser beleuchteten Fläche aus in<br />
Ihr Auge. Dort entstehen wieder physisch-chemische Vorgänge,<br />
die sich fortsetzen in die Muskel-Blutnatur im Inneren des<br />
Menschen. Dazwischen bleibt eine leere Zone. In dieser leeren<br />
Zone, die durch das nervöse Organ leer gelassen ist, entwickeln<br />
sich keine solchen Vorgänge wie im Auge oder im Inneren des<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Menschen, die selbständige Vorgänge sind, sondern da hinein<br />
setzt sich fort, was draußen ist: die Natur des Lichtes, die Natur<br />
der Farben selber und so weiter. Wir haben also an unserer<br />
Körperoberfläche, wo die Sinne sind, reale Vorgänge, welche<br />
vom Auge, vom Ohr, vom Wärmeaufnahmeorgan und so weiter<br />
abhängen. Ähnliche Vorgänge sind auch im Inneren des Menschen.<br />
Aber dazwischen nicht, wo die Nerven sich eigentlich<br />
ausbreiten; die machen den Raum frei, dort können wir leben<br />
mit dem, was draußen ist. Das Auge verändert Ihnen Licht und<br />
Farbe. Dort aber, wo Sie Nerven haben, wo Sie hohl sind in bezug<br />
auf das Leben, da verändern sich Licht und Farbe nicht, da<br />
leben Sie Licht und Farbe mit. Sie sind nur in bezug auf die Sinnessphäre<br />
abgesondert von einer äußeren Welt, aber innen leben<br />
Sie, wie in einer Schale, die Außenvorgänge mit. Da werden<br />
Sie selbst zum Licht, da werden Sie selbst zum Ton, da breiten<br />
sich die Vorgänge aus, weil die Nerven dafür kein Hindernis<br />
sind, wie das Blut und der Muskel.<br />
Jetzt bekommen wir ein Gefühl davon, was das für eine Bedeutung<br />
hat: Wir wachen da mit Bezug auf einen im Verhältnis<br />
zum Leben in uns vorhandenen Hohlraum, während wir an der<br />
äußeren Oberfläche und im Inneren schlafend träumen und<br />
träumend schlafen. Wir wachen nur in einer Zone, die zwischen<br />
dem Äußeren und dem Inneren liegt, vollständig auf. Das<br />
mit Bezug auf den Raum.<br />
Dir müssen aber, wenn wir den Menschen vom geistigen Gesichtspunkt<br />
betrachten, auch sein zeitliches in Beziehung bringen<br />
zum Wachen und Schlafen und Träumen.<br />
Sie lernen etwas; das nehmen Sie auf so, dass es hereingeht in<br />
Ihr Vollwachen. Während Sie sich damit beschäftigen und<br />
wenn Sie daran denken, ist es in Ihrem Vollwachen. Dann gehen<br />
Sie an das andere Leben. Anderes nimmt Ihr Interesse, Ihre<br />
Aufmerksamkeit in Anspruch. Was tut nun das, was Sie vordem<br />
gelernt haben und womit Sie sich beschäftigt haben? Es fängt an<br />
einzuschlafen, und wenn Sie sich wieder daran erinnern, dann<br />
wacht es wieder auf. Sie kommen mit allen diesen Dingen nur<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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zurecht, wenn Sie all das Wortgeplänkel, das Sie in den Psychologien<br />
als Erinnern und Vergessen haben, ersetzen durch die<br />
realen Begriffe. Was ist Erinnern? Es ist das Aufwachen eines<br />
Vorstellungskomplexes. Und was ist das Vergessen? Das Einschlafen<br />
des Vorstellungskomplexes. Da können Sie Reales mit<br />
real Erlebtem vergleichen, da haben Sie keine bloßen Worterklärungen.<br />
Wenn Sie immer reflektieren auf Wachen und<br />
Schlafen, wenn Sie sich selber einschlafend erleben oder einen<br />
anderen einschlafen sehen, so haben Sie einen realen Vorgang.<br />
Sie beziehen das Vergessen, diese innere Seelentätigkeit, auf diesen<br />
realen Vorgang - nicht auf irgendein Wort -, vergleichen die<br />
beiden und sagen sich: Vergessen ist nur ein Einschlafen auf einem<br />
anderen Gebiete, und auch Erinnern ist nur ein Aufwachen<br />
auf einem anderen Gebiete. Nur dadurch kommen Sie zum geistigen<br />
Weltbegreifen, dass Sie Reales mit Realem vergleichen.<br />
Wie Sie das kindliche Lebensalter mit dem Greisenalter vergleichen<br />
müssen, um Leib und Geist wirklich aufeinander beziehen<br />
zu können, wenigstens in den ersten Rudimenten, so vergleichen<br />
Sie Erinnern und Vergessen, indem Sie es auf ein Reales,<br />
auf Einschlafen und Aufwachen beziehen.<br />
Das ist es, was für die Zukunft der Menschheit so unendlich<br />
notwendig werden wird: dass die Menschen sich bequemen, in<br />
die Realität, in die Wirklichkeit sich hineinzubegeben. Die<br />
Menschen denken heute fast nur in Worten, sie denken nicht in<br />
Wirklichkeit. Wo käme einem heutigen Menschen das Reale,<br />
was wir haben können, wenn wir vom Erinnern sprechen, das<br />
Aufwachen in den Sinn? Er wird im Umkreise der Worte alles<br />
mögliche hören können, um das Erinnern zu definieren, aber er<br />
wird nicht daran denken, aus der Wirklichkeit, aus der Sache<br />
heraus diese Dinge zu finden.<br />
Daher werden Sie es begreiflich finden, wenn man so etwas wie<br />
die Dreigliederung, was ganz aus der Wirklichkeit, nicht aus<br />
abstrakten Begriffen, herausgeholt ist, an die Menschen heranbringt,<br />
dass diese Menschen es zunächst unverständlich finden,<br />
weil sie gar nicht gewöhnt sind, die Dinge aus der Wirklichkeit<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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herauszuholen. Sie verbinden gar keine Begriffe mit dem Herausholen<br />
der Dinge aus der Wirklichkeit. Und am wenigsten<br />
Begriffe mit dem Herausholen der Dinge aus der Wirklichkeit<br />
verbinden zum Beispiel die sozialistischen Führer in ihren Theorien;<br />
sie stellen das letzte Ende, die letzte Dekadenzerscheinung<br />
des Worterklärens dar. Die Leute glauben am allermeisten,<br />
etwas von der Wirklichkeit zu verstehen; wenn sie aber anfangen<br />
zu sprechen, dann kommen sie mit den allerleersten Worthülsen.<br />
Das war nur eine Zwischenbemerkung, die namentlich mit dem<br />
Wesen unserer gegenwärtigen Zeitströmung zusammenhängt.<br />
Aber der Pädagoge muss auch die zeit begreifen, in der er steht,<br />
weil er die Kinder begreifen muss, die ihm aus dieser Zeit heraus<br />
zum Erziehen übergeben werden.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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ACHTER VORTRAG<br />
29. AUGUST 1919, STUTTGART<br />
Wir haben gestern gesehen, dass wir so etwas wie Gedächtnis,<br />
Erinnerungskraft, nur begreifen können, wenn wir es in ein<br />
Verhältnis bringen zu, ich möchte sagen, für die äußere Beobachtung<br />
durchsichtigeren Vorgängen: zu schlafen und Wachen.<br />
Sie werden daraus sehen, dass es das pädagogische Bestreben<br />
sein muss, immer mehr und mehr das Unbekanntere an das<br />
Bekanntere auch in bezug auf geistige Ideenbildung heranzubringen.<br />
Sie können sagen: Ja, schlafen und Wachen sind doch eigentlich<br />
noch dunkler als das Erinnern und Vergessen, und daher wird<br />
man für die Behandlung von Erinnern und Vergessen nicht viel<br />
gewinnen können durch schlafen und Wachen. - Dennoch aber:<br />
Wer sorgfältig beobachtet, was dem Menschen verlorengeht<br />
durch einen gestörten Schlaf, der wird daraus eine Erkenntnis<br />
schöpfen können für das, was wie störend sich in das ganze<br />
menschliche Seelenleben hineinstellt, wenn Vergessen nicht in<br />
das richtige Verhältnis gebracht wird zum Erinnern. Wir wissen<br />
aus dem äußeren Leben, dass schon ein gehörig langer Schlaf<br />
notwendig ist, wenn nicht das Ich-Bewusstsein immer unkräftiger<br />
und unkräftiger gemacht werden soll, wenn es nicht den<br />
Charakter annehmen soll, den man so bezeichnen könnte, dass<br />
es durch einen gestörten Schlafzustand zu stark hingegeben<br />
wird an die Eindrücke der Außenwelt, an alles mögliche, was<br />
von der Außenwelt an das Ich herankommt. Selbst schon bei<br />
verhältnismäßig geringfügiger Störung durch den Schlaf oder,<br />
besser gesagt, durch die Schlaflosigkeit können Sie bemerken,<br />
wie das der Fall ist. Nehmen wir an, Sie haben einmal während<br />
einer Nacht nicht gut geschlafen. Ich setze voraus, dass Sie nicht<br />
dadurch nicht gut geschlafen haben, dass sie einmal besonders<br />
fleißig waren und die Nacht zum Arbeiten verwendet haben; da<br />
verhält sich die Sache etwas anders. Aber nehmen wir an, Sie<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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seien durch irgendeinen körperlichen Zustand oder durch die<br />
Moskitos, kurz, für das Seelische mehr von außen, in Ihrem<br />
Schlafe gestört worden. Da werden Sie sehen, dass Sie vielleicht<br />
schon am nächsten Tage in einer unangenehmeren Weise berührt<br />
werden von den Dingen, die auf Sie Eindruck machen, als<br />
Sie sonst berührt werden. Sie sind gewissermaßen in Ihrem Ich<br />
dadurch empfindlich geworden.<br />
So ist es auch, wenn wir in einer unrichtigen Weise in das<br />
menschliche Seelenleben hereinspielen haben Vergessen und<br />
Erinnerung. Wann aber haben wir dies? Dann, wenn wir nicht<br />
willkürlich unser Vergessen und Erinnern regeln können. Es<br />
gibt ja sehr viele Menschen - und diese Anlage zeigt sich auch<br />
schon in früher Kindheit , die duseln so durch das Leben dahin.<br />
Äußeres macht auf sie Eindruck, sie geben sich den Eindrücken<br />
hin, sie verfolgen aber die Eindrücke nicht ordentlich, sondern<br />
lassen sie so vorüberhuschen; sie verbinden sich gewissermaßen<br />
nicht ordentlich durch ihr Ich mit den Eindrücken. Dann aber<br />
duseln sie auch wieder in den frei aufsteigenden Vorstellungen,<br />
wenn sie nicht richtig dem äußeren Leben hingegeben sind. Sie<br />
suchen nicht durch Willkür den Schatz ihrer Vorstellungen bei<br />
irgendeiner Veranlassung zu heben, den sie nötig haben, um<br />
dies oder jenes gut zu verstehen, sondern sie lassen die Vorstellungen,<br />
die aus dem Inneren aufsteigen wollen, von selbst aufsteigen.<br />
Da kommt bald diese, bald jene Vorstellung; da hat die<br />
Willkür keinen besonderen Einfluss darauf. Man kann schon<br />
sagen, dass in vieler Beziehung dies der Seelenzustand für viele<br />
Menschen ist, der insbesondere beim kindlichen Alter in dieser<br />
Art hervortritt.<br />
Man wird Abhilfe schaffen und das Erinnern und Vergessen<br />
immer mehr und mehr in die Sphäre der Willkür stellen, wenn<br />
man weiß, dass Schlafen und Wachen auch ins Wachleben<br />
hereinspielen bei diesem Erinnern und Vergessen. Denn man<br />
wird sich dann sagen: Woher kommt das Erinnern? - Es kommt<br />
davon her, dass der Wille, in dem wir ja schlafen, eine Vorstellung<br />
unten im Unbewussten ergreift und sie heraufträgt ins Be-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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wusstsein. Geradeso wie das menschliche Ich und der menschliche<br />
astralische Leib, wenn sie vom Einschlafen bis zum Aufwachen<br />
aus dem physischen Leib und Ätherleib heraus sind, Kraft<br />
sammeln in der geistigen Welt, um den physischen Leib und<br />
Ätherleib aufzufrischen, so kommt von der Kraft des schlafenden<br />
Willens das, was vom Erinnerungsvorgang bewirkt wird.<br />
Nun ist aber der Wille gerade schlafend und Sie können daher<br />
nicht unmittelbar im Kinde bewirken, dass es lerne, seinen<br />
Willen zu gebrauchen. Denn wenn Sie im Kinde bewirken wollten,<br />
dass es seinen Willen gebrauche, so wäre das gerade so, als<br />
wenn Sie den Menschen ermahnen wollten, er solle im Schlafe<br />
nur recht brav sein, damit er sich diese Bravheit ins Leben mitbringe,<br />
wenn er morgens aufwacht. Man kann also auch diesem<br />
schlafenden Teil, der im Willen schläft, nicht zumuten, dass er<br />
sich unmittelbar im Einzelakt aufraffe, um die Erinnerung zu<br />
regeln. Was ist da zu tun? Nun, das kann man natürlich dem<br />
Menschen nicht zumuten, dass er sich im Einzelakt aufraffe, um<br />
die Erinnerung zu regeln, aber man kann den ganzen Menschen<br />
so erziehen, dass er seelische, leibliche und geistige Lebensgewohnheiten<br />
entwickelt, die zu einem solchen Aufraffen des<br />
Willens im Einzelfalle führen. Betrachten wir die Sache einmal<br />
mehr im einzelnen.<br />
Nehmen wir an, wir erwecken durch besondere Behandlungsarten<br />
in dem Kinde ein lebendiges Interesse zum Beispiel für die<br />
Tierwelt. Dieses Interesse für die Tierwelt werden wir natürlich<br />
nicht in einem Tage entwickeln können. Wir werden den ganzen<br />
Unterricht so zu veranlagen haben, dass allmählich das Interesse<br />
für die Tierwelt immer mehr und mehr sich einstellt und<br />
erwacht. Ist ein Kind durch einen solchen Unterricht durchgegangen,<br />
dann geht dieser Unterricht, je lebendigere Interessen<br />
er erweckt, um so mehr über auf den Willen, und dieser Wille<br />
bekommt dann im allgemeinen die Eigenschaft, wenn in einem<br />
geordneten Leben für die Erinnerung Tiervorstellungen gebraucht<br />
werden, diese aus dem Unterbewusstsein, aus der Vergessenheit<br />
heraufzuholen. Nur dadurch, dass Sie auf das Habituelle<br />
des Menschen, auf das Gewohnheitsmäßige wirken, bringen<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Sie seinen Willen und damit auch seine Erinnerungskraft in<br />
Ordnung. Das heißt mit anderen Worten: Sie müssen auf diese<br />
Art durchschauen, warum alles, was beim Kinde ein intensives<br />
Interesse erweckt, auch dazu beiträgt, sein Gedächtnis tatkräftig<br />
zu stärken. Denn die Gedächtniskraft muss man heben vom Gefühl<br />
und Willen aus, nicht etwa durch bloße intellektuelle Gedächtnisübungen.<br />
Sie sehen gerade aus dem, was ich auseinandergesetzt<br />
habe, wie in der Welt und insbesondere in der<br />
menschlichen Welt alles in einem gewissen Sinne getrennt ist,<br />
wie aber das Getrennte auch wieder zusammenwirkt. Wir können<br />
den Menschen in bezug auf sein Seelisches nicht begreifen,<br />
wenn wir nicht das Seelische trennen, gliedern nach Denken<br />
oder denkendem Erkennen, Fühlen und Wollen. Aber nirgends<br />
ist denkendes Erkennen, Fühlen und Wollen rein vorhanden,<br />
immer wirken die drei ineinander zu einer Einheit, verweben<br />
sich.<br />
Und so ist es in der ganzen menschlichen Wesenheit bis in das<br />
Leibliche hinein.<br />
Ich habe Ihnen angedeutet, dass der Mensch hauptsächlich Kopf<br />
ist im Kopfteil, dass er aber eigentlich ganz Kopf ist. Er ist<br />
hauptsächlich Brust als Brustmensch, aber eigentlich ist er ganz<br />
Brustmensch, denn auch der Kopf hat Anteil an der Brustnatur<br />
und ebenso auch der Gliedmaßenmensch. Und auch der Gliedmaßenmensch<br />
ist hauptsächlich Gliedmaßenmensch, aber eigentlich<br />
ist der ganze Mensch Gliedmaßenmensch, aber auch<br />
die Gliedmaßen haben Anteil an der Kopfnatur und ebenso an<br />
der Brustnatur; sie nehmen zum Beispiel auch an der Hautatmung<br />
teil und so weiter.<br />
Man kann sagen: Will man sich der Wirklichkeit nähern, insbesondere<br />
der Wirklichkeit der Menschennatur, dann muss man<br />
sich klar sein, dass alle Gliederung vorgenommen wird in einem<br />
Einheitlichen; würde man nur auf das abstrakt Einheitliche gehen,<br />
so würde man überhaupt nichts kennenlernen. Würde man<br />
niemals gliedern, so bliebe die Welt immer in einem Unbestimmten,<br />
wie in der Nacht alle Katzen grau sind. Menschen,<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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die daher alles in abstrakten Einheiten erfassen wollen, sehen<br />
die Welt grau in grau. Und würde man nur gliedern, nur trennen,<br />
alles auseinanderhalten, so würde man niemals zu einer<br />
wirklichen Erkenntnis kommen, denn dann würde man nur<br />
Verschiedenes erfassen, und die Erkenntnis bliebe aus.<br />
So ist alles, was im Menschen ist, zum Teil erkennender, zum<br />
Teil fühlender, zum Teil wollender Natur. Und was erkennend<br />
ist, das ist hauptsächlich erkennend, aber auch gefühlsmäßig<br />
und willensmäßig; was fühlend ist, das ist hauptsächlich fühlend,<br />
aber auch erkennend und willensmäßig, und ebenso ist es<br />
mit dem Wollenden. Dies können wir nun schon auf das anwenden,<br />
was wir gestern als die Sinnessphäre charakterisiert<br />
haben. Sie müssen, indem Sie ein solches Kapitel wie das, was<br />
ich jetzt bringen werde, begreifen wollen, wirklich, ich möchte<br />
sagen, alles Pedantentum ablegen, sonst werden Sie den krassesten<br />
Widerspruch vielleicht gerade mit dem finden, was ich im<br />
gestrigen Vortrag gesagt habe. Aber aus Widersprüchen besteht<br />
die Wirklichkeit. Wir begreifen die Wirklichkeit nicht, wenn<br />
wir nicht die Widersprüche in der Welt schauen.<br />
Der Mensch hat im ganzen zwölf Sinne. Dass man nur fünf,<br />
sechs oder sieben Sinne in der gewöhnlichen Wissenschaft unterscheidet,<br />
rührt allein davon her, dass diese fünf, sechs oder<br />
sieben Sinne besonders auffällig sind und die anderen, welche<br />
die Zwölfzahl dann vollenden, weniger auffällig sind. Ich habe<br />
diese zwölf Sinne des Menschen öfter erwähnt, wir wollen sie<br />
uns heute noch einmal vor die Seele führen. Gewöhnlich redet<br />
man ja vom Hörsinn, Wärmesinn, Sehsinn, Geschmackssinn,<br />
Geruchssinn, Tastsinn, wobei es sogar noch vorkommt, dass der<br />
Wärmesinn und der Tastsinn in eins zusammengeschoben werden,<br />
was ungefähr so wäre, wie wenn man bei der äußeren Beobachtung<br />
der Dinge «Rauch» und «Staub» in eins zusammenzählte,<br />
weil es äußerlich nämlich gleich ausschaut. Dass Wärmesinn<br />
und Tastsinn zwei durchaus verschiedene Arten des<br />
Menschen sind, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen, sollte<br />
man nicht mehr zu erwähnen brauchen. Diese Sinne und<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
höchstens vielleicht noch, wie manche angeben, den Gleichgewichtssinn,<br />
unterscheiden die heutigen Psychologen. Mancher<br />
fügt noch einen Sinn dazu, aber zur Vollständigkeit einer Sinnesphysiologie<br />
und Sinnespsychologie kommt man dabei nicht,<br />
weil man einfach nicht beachtet, dass der Mensch ein ähnliches<br />
Verhältnis zu seiner Umwelt hat, wenn er das Ich eines anderen<br />
Menschen wahrnimmt, wie er es hat, wenn er eine Farbe wahrnimmt<br />
durch den Sehsinn.<br />
Die Menschen sind ja heute geneigt, alles durcheinanderzuwerfen.<br />
Wenn einer an die Ich-Vorstellung denkt, so denkt er zunächst<br />
an seine eigene Seelenwesenheit; dann ist er gewöhnlich<br />
zufrieden. Fast machen es die Psychologen auch so. Sie bedenken<br />
gar nicht, dass es etwas völlig Verschiedenes ist, ob ich<br />
durch das Zusammennehmen dessen, was ich an mir selbst erlebe,<br />
zuletzt die Summe dieses Erlebens als «Ich» bezeichne, oder<br />
ob ich einem Menschen gegenübertrete und durch die Art, wie<br />
ich mich zu ihm in Beziehung setze, auch diesen Menschen als<br />
ein «Ich» bezeichne. Das sind zwei ganz verschiedene geistigseelische<br />
Tätigkeiten. Das eine Mal, wenn ich meine Lebenstätigkeiten<br />
in der umfassenden Synthesis «Ich» zusammenfasse,<br />
habe ich etwas rein innerliches; das andere Mal, wenn ich dem<br />
anderen Menschen gegenübertrete und durch meine Beziehung<br />
zu ihm zum Ausdruck bringe, dass er auch so etwas ist, wie<br />
mein ich, habe ich eine Tätigkeit vor mir, die im Wechselspiel<br />
zwischen mir und dem anderen Menschen verfließt. Daher<br />
muss ich sagen: Die Wahrnehmung meines Ich in meinem Inneren<br />
ist etwas anderes, als wenn ich den anderen Menschen als<br />
ein Ich erkenne. Die Wahrnehmung des anderen Ich beruht auf<br />
dem Ich-Sinn, so wie die Wahrnehmung der Farbe auf dem<br />
Sehsinn, die des Tones auf dem Hörsinn beruht. Die Natur<br />
macht es dem Menschen nicht so leicht, beim «Ichen» das Organ<br />
des Wahrnehmens so offen zu sehen wie beim Sehen. Aber man<br />
könnte gut das Wort «Ichen» gebrauchen für das Wahrnehmen<br />
anderer Iche, wie man das Wort Sehen gebraucht beim Wahrnehmen<br />
der Farbe. Das Organ der Farbwahrnehmung ist außen<br />
am Menschen, das Organ der Wahrnehmung der Iche ist über<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
den ganzen Menschen ausgebreitet und besteht in einer sehr<br />
feinen Substantialität, und daher reden die Menschen nicht vom<br />
Ich-Wahrnehmungsorgan. Dieses Ich-Wahrnehmungsorgan ist<br />
etwas ganz anderes als das, was bewirkt, dass ich mein eigenes<br />
Ich erlebe. Es ist sogar ein gewaltiger Unterschied zwischen<br />
dem erleben des eigenen Ich und dem Wahrnehmen des Ich bei<br />
einem anderen. Denn das Wahrnehmen des Ich bei einem anderen<br />
ist im wesentlichen ein Erkenntnisvorgang, wenigstens ein<br />
der Erkenntnis ähnlicher Vorgang. Das Erleben des eigenen Ich<br />
dagegen ist ein Willensvorgang.<br />
Nun kommt das, wobei sich ein Pedant behaglich fühlen könnte.<br />
Er könnte sagen: Im letzten Vortrag hast du doch gesagt, dass<br />
alle Sinnesbetätigung vorzugsweise Willensbetätigung sei; jetzt<br />
konstruierst du den Ich-Sinn und sagst, er sei hauptsächlich ein<br />
Erkenntnissinn. - Aber wenn Sie den Ich-Sinn charakterisieren,<br />
so wie ich es in der Neuauflage meiner «Philosophie der Freiheit»<br />
versucht habe, so werden Sie darauf kommen, dass dieser<br />
Ich-Sinn in der Tat recht kompliziert arbeitet. Worauf beruht<br />
eigentlich das Wahrnehmen des Ich des anderen Menschen?<br />
Die heutigen Abstraktlinge sagen da ganz sonderbare Dinge. Sie<br />
sagen: Eigentlich sieht man vom äußeren Menschen seine Gestalt,<br />
man hört seine Töne, und dann weiß man, dass man selbst<br />
so menschlich ausschaut wie der andere Mensch, dass man<br />
drinnen in sich ein Wesen hat, das denkt und fühlt und will, das<br />
also auch seelisch-geistig ein Mensch ist. - Und so schließt man<br />
durch Analogie: Wie in mir selbst ein denkendes, fühlendes,<br />
wollendes Wesen ist, so ist es auch beim anderen. - Ein Analogieschluss<br />
von mir selbst auf den anderen wird vollzogen. Dieser<br />
Analogieschluss ist nichts weiter als eine Torheit. Das Wechselverhältnis<br />
zwischen dem einen Menschen und dem anderen<br />
schließt etwas ganz anderes in sich. Stehen Sie einem Menschen<br />
gegenüber, dann verläuft das folgendermaßen: Sie nehmen den<br />
Menschen wahr eine kurze zeit; da macht er auf sie einen Eindruck.<br />
Dieser Eindruck stört Sie im Inneren: Sie fühlen, dass der<br />
Mensch, der eigentlich ein gleiches Wesen ist wie Sie, auf Sie<br />
einen Eindruck macht wie eine Attacke. Die Folge davon ist,<br />
121
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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dass Sie sich innerlich wehren, dass Sie sich dieser Attacke widersetzen,<br />
dass Sie gegen ihn innerlich aggressiv werden. sie erlahmen<br />
im Aggressiven, das Aggressive hört wieder auf; daher<br />
kann er nun auf Sie wieder einen Eindruck machen. Dadurch<br />
haben Sie Zeit, Ihre Aggressivkraft wieder zu erhöhen, und sie<br />
führen nun wieder eine Aggression aus. Sie erlahmen darin<br />
wieder, der andere macht wiederum einen Eindruck auf Sie und<br />
so weiter. Das ist das Verhältnis, das besteht, wenn ein Mensch<br />
dem anderen, das Ich wahrnehmend, gegenübersteht: Hingabe<br />
an den Menschen - innerliches Wehren; Hingabe an den anderen<br />
innerliches Wehren; Sympathie - Antipathie; Sympathie -<br />
Antipathie. Ich rede jetzt nicht von dem gefühlsmäßigen Leben,<br />
sondern nur von dem wahrnehmenden Gegenüberstehen. Da<br />
vibriert die Seele; es vibrieren: Sympathie - Antipathie, Sympathie<br />
- Antipathie, Sympathie - Antipathie. Das können Sie in<br />
der neuen Auflage der «Philosophie der Freiheit» nachlesen.<br />
Aber es ist noch etwas anderes der Fall. Indem die Sympathie<br />
sieh entwickelt, schlafen Sie in den anderen Menschen hinein;<br />
indem die Antipathie sich entwickelt, wachen Sie auf und so<br />
weiter. Das ist ein sehr kurz dauerndes Abwechseln zwischen<br />
Wachen und Schlafen in Vibrationen, wenn wir dem anderen<br />
Menschen gegenüberstehen. Dass es ausgeführt werden kann,<br />
verdanken wir dem Organ des Ich-Sinnes. Dieses Organ des Ich-<br />
Sinnes ist also so organisiert, dass es nicht in seinem wachenden,<br />
sondern in einem schlafenden Willen das Ich des anderen<br />
erkundet - und dann rasch diese Erkundung, die schlafend vollzogen<br />
wird, in die Erkenntnis hinüberleitet, das heißt, in das<br />
Nervensystem hinüberleitet. So ist, wenn man die Sache richtig<br />
betrachtet, die Hauptsache beim Wahrnehmen des anderen<br />
doch der Wille, aber eben gerade der Wille, wie er sich nicht<br />
wachend, sondern schlafend entwickelt; denn wir spinnen<br />
fortwährend schlafende Augenblicke in den Wahrnehmungsakt<br />
des anderen Ich ein. Und was dazwischen liegt, ist schon Erkenntnis;<br />
das wird rasch abgeschoben in die Gegend, wo das<br />
Nervensystem haust, so dass ich nennen kann die Wahrnehmung<br />
des anderen wirklich einen Erkenntnisvorgang, aber wis-<br />
122
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
sen muss, dass dieser Erkenntnisvorgang nur eine Metamorphose<br />
eine: schlafenden Willensvorganges ist. So ist also auch dieser<br />
Sinnesvorgang ein Willensvorgang, nur erkennen wir ihn nicht<br />
als solchen. Wir leben nicht bewusst alles Erkennen, das wir im<br />
Schlafe erleben.<br />
Dann haben wir als nächsten Sinn, aber getrennt von dem Ich-<br />
Sinn und von allen übrigen Sinnen, denjenigen zu beachten,<br />
den ich bezeichne als Gedankensinn. Gedankensinn ist nicht<br />
der Sinn für die Wahrnehmung eigener Gedanken, sondern für<br />
das Wahrnehmen der Gedanken der anderen Menschen. Darüber<br />
entwickeln auch wieder die Psychologen ganz groteske Vorstellungen.<br />
Vor allen Dingen sind die Leute so sehr von der Zusammengehörigkeit<br />
von Sprache und Denken beeinflusst, dass<br />
sie glauben, mit der Sprache wird immer auch das Denken aufgenommen.<br />
Das ist ein Unding. Denn Sie könnten die Gedanken<br />
durch Ihren Gedankensinn ebenso als liegend in äußeren<br />
Raumesgebärden wahrnehmen wie in der Lautsprache. Die<br />
Lautsprache vermittelt nur die Gedanken. Sie müssen die Gedanken<br />
für sich selbst durch einen eigenen Sinn wahrnehmen.<br />
Und wenn einmal für alle Laute die eurythmischen Zeichen<br />
ausgebildet sind, so braucht Ihnen der Mensch nur<br />
vorzueurythmisieren und Sie lesen aus seinen eurythmischen<br />
Bewegungen ebenso die Gedanken ab, wie Sie in der Lautsprache<br />
sie hörend aufnehmen. Kurz, der Gedankensinn ist etwas<br />
anderes, als was im Lautsinn, in der Lautsprache wirkt. - Dann<br />
haben wir den eigentlichen Sprachsinn.<br />
Dann haben wir weiter den Hörsinn, den Wärmesinn, den Sehsinn,<br />
den Geschmackssinn, den Geruchssinn. Dann den Gleichgewichtssinn.<br />
Wir haben ein sinnlich geartetes Bewusstsein davon,<br />
dass wir im Gleichgewicht sind. Ein solches Bewusstsein<br />
haben wir. Wir wissen durch ein gewisses innerliches sinnliches<br />
Wahrnehmen, wie wir uns zu rechts und links, zu vorn und<br />
rückwärts verhalten, wie wir uns im Gleichgewicht verhalten,<br />
damit wir nicht umfallen. Und wenn das Organ unseres Gleichgewichtsinnes<br />
zerstört wird, fallen wir um; dann können wir<br />
123
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
uns nicht ins Gleichgewicht setzen, wie wir uns zu den Farben<br />
nicht in Beziehung bringen können, wenn das Auge zerstört ist.<br />
Und so wie wir für die Wahrnehmung des Gleichgewichtes einen<br />
Sinn haben, so haben wir auch einen Sinn für die eigene<br />
Bewegung, durch den wir unterscheiden, ob wir in Ruhe oder<br />
in Bewegung sind, ob unsere Muskeln gebeugt sind oder nicht.<br />
Wir haben also neben dem Gleichgewichtssinn einen Bewegungssinn,<br />
und wir haben außerdem noch für die Wahrnehmung<br />
des Gestimmtseins unseres Leibes im weitesten Sinne den<br />
Lebenssinn. Von diesem Lebenssinn sind sogar sehr viele Menschen<br />
sehr abhängig. Sie nehmen wahr, ob sie zuviel oder zuwenig<br />
gegessen haben, und dadurch fühlen sie sich behaglich<br />
oder unbehaglich, oder sie nehmen wahr, ob sie ermüdet sind<br />
oder nicht, und dadurch fühlen sie sich behaglich oder unbehaglich.<br />
Kurz, die Wahrnehmung der Zustände des eigenen Leibes<br />
spiegelt sich im Lebenssinn. So bekommen Sie die Tafel der<br />
Sinne als zwölf Sinne. Tatsächlich hat der Mensch zwölf solcher<br />
Sinne.<br />
Nachdem wir nun die Möglichkeit hinweggeräumt haben, pedantisch<br />
Einwendungen zu machen gegen das Erkenntnisgemäße<br />
mancher Sinne, weil wir ja erkannt haben, dass dieses Erkenntnisgemäße<br />
doch in geheimer Weise auf dem Willen beruht,<br />
können wir jetzt die Sinne weiter gliedern. Da haben wir<br />
zunächst vier Sinne: Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn,<br />
Gleichgewichtssinn. Diese Sinne sind hauptsächlich durchdrungen<br />
von Willenstätigkeit. Der Wille wirkt hinein in das Wahrnehmen<br />
durch diese Sinne. Fühlen Sie doch, wie in das Wahrnehmen<br />
von Bewegungen, selbst wenn Sie diese Bewegungen<br />
im Stehen ausführen, der Wille hineinwirkt! Der ruhende Wille<br />
wirkt auch in die Wahrnehmung Ihres Gleichgewichtes hinein.<br />
In den Lebenssinn wirkt er ja sehr stark hinein, und in das Tasten<br />
wirkt er auch hinein: denn wenn Sie irgend etwas betasten,<br />
so ist das im Grunde genommen eine Auseinandersetzung zwischen<br />
Ihrem Willen und der Umgebung. Kurz, Sie können sagen:<br />
Gleichgewichtssinn, Bewegungssinn, Lebenssinn und Tastsinn<br />
sind Willenssinne im engeren Sinne. Beim Tastsinn sieht<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
der Mensch äußerlich, dass er zum Beispiel seine Hand bewegt,<br />
wenn er etwas betastet: daher ist es für ihn offenbar, dass dieser<br />
Sinn für ihn vorhanden ist. Beim Lebenssinn, Bewegungssinn<br />
und Gleichgewichtssinn ist es nicht so offenbar, dass diese Sinne<br />
vorhanden sind. Da sie aber im besonderen Sinne Willenssinne<br />
sind, so verschläft der Mensch diese Sinne, weil er ja im Willen<br />
schläft. Und in den meisten Psychologien finden Sie diese Sinne<br />
gar nicht angeführt, weil die Wissenschaft in bezug auf viele<br />
Dinge den Schlaf des äußeren Menschen behaglich mitschläft.<br />
Die nächsten Sinne: Geruchssinn, Geschmackssinn, Sehsinn,<br />
Wärmesinn, sind hauptsächlich Gefühlssinne. Das naive Bewusstsein<br />
empfindet ja ganz besonders beim Riechen und<br />
Schmecken die Verwandtschaft mit dem Fühlen. Dass man es<br />
beim Sehen und der Wärme nicht so empfindet, hat eben seine<br />
besonderen Gründe. Beim Wärmesinn beachtet man nicht, dass<br />
er mit dem Gefühl sehr nahe verwandt ist, sondern wirft ihn<br />
mit dem Tastsinn zusammen. Man konfundiert zugleich unrichtig<br />
und unterscheidet zugleich unrichtig. Der Tastsinn ist in<br />
Wahrheit viel mehr willensmäßig, während der Wärmesinn<br />
nur gefühlsmäßig ist. Dass der Sehsinn auch Gefühlssinn ist, dahinter<br />
kommen die Menschen deshalb nicht, weil sie nicht solche<br />
Betrachtungen anstellen wie sie in Goethes Farbenlehre zu<br />
finden sind. Dort haben Sie alles Verwandte der Farben mit dem<br />
Gefühl, was zuletzt dann sogar zu Willensimpulsen führt, deutlich<br />
ausgesprochen. Aber warum merkt dann der Mensch so<br />
wenig, dass beim Sehsinn hauptsächlich eigentlich ein Fühlen<br />
vorhanden ist?<br />
Wir sehen ja im Grunde genommen die Dinge fast immer so,<br />
dass sie uns, indem sie uns die Farben zuordnen, auch die Grenzen<br />
der Farben zeigen: Linien, Formen. Wir werden aber gewöhnlich<br />
nicht darauf aufmerksam, wie wir da eigentlich<br />
wahrnehmen, wenn wir zugleich Farbiges und Formen wahrnehmen.<br />
Wenn der Mensch einen farbigen Kreis wahrnimmt,<br />
sagt er grob: Ich sehe die Farbe, ich sehe auch die Rundung des<br />
Kreises, die Kreisform. Da werden aber doch zwei ganz ver-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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schiedene Dinge durcheinandergeworfen. Durch die eigentliche<br />
Tätigkeit des Auges, durch die abgesonderte Tätigkeit des Auges<br />
sehen Sie zunächst überhaupt nur die Farbe. Die Kreisform sehen<br />
Sie, indem Sie sich in Ihrem Unterbewusstsein des Bewegungssinnes<br />
bedienen und unbewusst im Ätherleib, im astralischen<br />
Leibe eine Kreiswindung ausführen und dies dann in die<br />
Erkenntnis hinaufheben. Und indem der Kreis, den Sie durch<br />
Ihren Bewegungssinn aufgenommen haben, in die Erkenntnis<br />
heraufkommt, verbindet sich der erkannte Kreis erst mit der<br />
wahrgenommenen Farbe. Sie holen also die Form aus Ihrem<br />
ganzen Leibe heraus, indem Sie appellieren an den über den<br />
ganzen Leib ausgebreiteten Bewegungssinn. Das kleiden Sie in<br />
etwas, was ich schon auseinandergesetzt habe, wo ich sagte:<br />
Der Mensch vollzieht eigentlich die Formen der Geometrie im<br />
Kosmos und hebt sie dann in die Erkenntnis hinauf.<br />
Zu so feiner Art des Beobachtens, dass der Unterschied herauskommt<br />
zwischen dem Farbensehen und dem Formenwahrnehmen<br />
mit Hilfe des Bewegungssinnes, schwingt sich heute die<br />
offizielle Wissenschaft überhaupt nicht auf, sondern sie wirft<br />
alles durcheinander. Erziehen wird man aber in der Zukunft<br />
nicht können durch solches Durcheinanderwerfen. Denn wie<br />
soll man erziehen zum Sehen, wenn man nicht weiß, dass in<br />
den Sehakt hinein der ganze Mensch mit seinem Wesen auf<br />
dem Umwege durch den Bewegungssinn sich ergießt? Aber jetzt<br />
kommt etwas anderes zum Vorschein. Sie betrachten den Sehakt,<br />
indem Sie farbige Formen wahrnehmen. Es ist ein komplizierter<br />
Akt, dieser Sehakt, das Wahrnehmen farbiger Formen.<br />
Aber indem Sie ein einheitlicher Mensch sind, können Sie das,<br />
was Sie auf den zwei Umwegen wahrnehmen, auf dem Wege<br />
durch das Auge und auf dem Wege durch den Bewegungssinn,<br />
wieder in sich vereinigen. Sie würden stumpf hinschauen auf<br />
einen roten Kreis, wenn Sie nicht auf einem ganz anderen Wege<br />
das Rote und auf einem ganz anderen Wege das Kreisförmige<br />
wahrnehmen würden. Aber Sie schauen nicht stumpf hin, weil<br />
Sie von zwei Seiten her - die Farbe durch das Auge, die Form<br />
mit Hilfe des Bewegungssinnes - wahrnehmen und im Leben<br />
126
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
innerlich genötigt sind, diese beiden Dinge zusammenzufügen.<br />
Da urteilen Sie. Und jetzt begreifen Sie das Urteilen als einen<br />
lebendigen Vorgang in Ihrem eigenen Leibe, der dadurch zustande<br />
kommt, dass die Sinne Ihnen die Welt analysiert in Gliedern<br />
entgegenbringen. In zwölf verschiedenen Gliedern bringt<br />
Ihnen die Welt das entgegen, was Sie erleben, und in Ihrem Urteilen<br />
fügen Sie die Dinge zusammen, weil das einzelne nicht<br />
bestehen will als Einzelnes. Die Kreisform lässt es sich zunächst<br />
nicht gefallen, bloß Kreisform zu sein nach der Art, wie sie in<br />
den Bewegungssinn gekommen ist; die Farbe lässt es sich nicht<br />
gefallen, bloß Farbe zu sein, wie sie im Auge wahrgenommen<br />
wird. Die Dinge zwingen Sie innerlich, sie zu verbinden, und<br />
Sie erklären sich innerlich bereit, sie zu verbinden. Da wird die<br />
Urteilsfunktion zu einer Äußerung Ihres ganzen Menschen.<br />
Sie sehen jetzt hinein in den tieferen Sinn unseres Verhältnisses<br />
zur Welt. Hätten wir nicht zwölf Sinne, würden wir wie<br />
Stumpflinge auf unsere Umgebung hinschauen, würden nicht<br />
innerlich das Urteilen erleben können. Da wir aber zwölf Sinne<br />
haben, so haben wir damit eine ziemlich große Anzahl von<br />
Möglichkeiten, das Getrennte zu verbinden. Was der Ichsinn<br />
erlebt, können wir mit den elf anderen Sinnen verbinden, und<br />
das gilt so für jeden Sinn. Wir bekommen dadurch eine große<br />
Anzahl von Permutationen für die Zusammenhänge der Sinne.<br />
Aber außerdem bekommen wir auch noch eine große Anzahl<br />
von Möglichkeiten in dieser Beziehung, indem wir zum Beispiel<br />
den Ich-Sinn mit dem Gedankensinn und dem Sprachsinn zusammen<br />
verbinden und so weiter. Da sehen wir, in wie geheimnisvoller<br />
Weise der Mensch mit der Welt verbunden ist. Durch<br />
seine zwölf Sinne zerlegen sich die Dinge in ihre Bestandteile,<br />
und der Mensch muss in die Lage kommen können, dass er sich<br />
die Dinge aus den Bestandteilen wieder zusammensetzt. Dadurch<br />
nimmt er teil an dem inneren Leben der Dinge. Daher<br />
werden Sie begreifen, wie unendlich wichtig es ist, dass der<br />
Mensch so erzogen werde, dass vieles in gleichmäßiger Pflege in<br />
dem einen Sinn entwickelt wird wie in dem anderen Sinn, da<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
dann ganz bewusst systematisch, die Beziehungen zwischen den<br />
Sinnen, den Wahrnehmungen, aufgesucht werden.<br />
Ich habe noch hinzuzufügen, dass Ich-Sinn, Gedankensinn,<br />
Hörsinn und Sprachsinn mehr Erkenntnisse sind, weil der Wille<br />
darin eben der schlafende Wille ist, der wirklich schlafende<br />
Wille, der in seinen Äußerungen vibriert mit einer Erkenntnistätigkeit.<br />
So lebt schon in der Ich-Zone des Menschen Wille,<br />
Gefühl und Erkenntnis, und sie leben mit Hilfe von Wachen<br />
und Schlafen.<br />
Seien Sie sich also klar darüber, dass Sie den Menschen nur dadurch<br />
erkennen können, dass Sie ihn immer von drei Gesichtspunkten<br />
aus betrachten, indem Sie seinen Geist betrachten.<br />
Aber es genügt nicht, wenn man immer nur sagt: Geist! Geist!<br />
Geist! Die meisten Menschen reden immer von Geist und wissen<br />
nicht das vom Geiste Gegebene zu behandeln. Man behandelt<br />
es nur richtig, wenn man mit Bewusstseinszuständen operiert.<br />
Der Geist muss ergriffen werden durch Bewusstseinszustände,<br />
wie Wachen, Schlafen und Träumen. Das Seelische wird<br />
ergriffen durch Sympathie und Antipathie, das heißt durch Lebenszustände;<br />
das tut sogar die Seele fortwährend im Unterbewussten.<br />
Die Seele haben wir eigentlich im astralischen Leib,<br />
das Leben im ätherischen Leib, und zwischen beiden ist eine<br />
fortwährende Korrespondenz im Inneren, so dass sich von selbst<br />
das Seelische in den Lebenszuständen des ätherischen Leibes<br />
auslebt. Und der Leib wird wahrgenommen durch Formzustände.<br />
Ich habe gestern die Kugelform für den Kopf, die Mondform<br />
für die Brust, die Linienform für die Gliedmaßen angewendet,<br />
und wir werden von der wirklichen Morphologie des menschlichen<br />
Leibes noch zu sprechen haben. Aber wir reden nicht<br />
richtig von dem Geist, wenn wir nicht beschreiben, wie er sich<br />
in Bewusstseinszuständen auslebt; wir reden nicht richtig von<br />
der Seele, wenn wir nicht zeigen, wie sie zwischen Sympathie<br />
und Antipathie sich auslebt, und wir reden nicht richtig vom<br />
Leibe, wenn wir ihn nicht in wahrhaften Formen erfassen. Davon<br />
wollen wir morgen weitersprechen.<br />
128
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
NEUNTER VORTRAG<br />
30. AUGUST 1919, STUTTGART<br />
Wenn sie selbst ein gut entwickeltes, von Ihrem Willen und Ihrem<br />
Gemüt durchzogenes Wissen haben vom Wesen des werdenden<br />
Menschen, dann werden Sie auch gut unterrichten und<br />
gut erziehen. sie werden auf die einzelnen Gebiete durch einen<br />
pädagogischen Instinkt der in Ihnen erwachen wird, dasjenige<br />
anwenden, was sich Ihnen aus diesem willentlichen Wissen<br />
vom werdenden Kinde ergibt. Aber es muss dieses Wissen eben<br />
auch ein ganz reales sein, das heißt, auf wirklicher Erkenntnis<br />
der Tatsachenwelt beruhen.<br />
Nun haben wir ja versucht, um zu einem wirklichen Wissen<br />
vom Menschen zu kommen, diesen Menschen zuerst vom seelischen,<br />
dann vom geistigen Gesichtspunkte aus ins Auge zu fassen.<br />
Wir wollen uns vor Augen stellen, dass die geistige Erfassung<br />
des Menschen notwendig macht, auf die verschiedenen<br />
Bewusstseinszustände zu reflektieren, zu wissen, dass es, zunächst<br />
wenigstens, darauf ankommt, dass unser Leben geistig<br />
verläuft in Wachen, Träumen und Schlafen, und dass die einzelnen<br />
Lebensäußerungen so zu charakterisieren sind, dass man<br />
sie entweder als vollwachende, als träumerische oder als schlafende<br />
Lebenszustände ins Auge fasst. Nun werden wir versuchen,<br />
wiederum nach und nach hinunterzusteigen vom Geiste<br />
durch die Seele zum Leib, damit wir den ganzen Menschen vor<br />
uns haben können und zuletzt diese Betrachtungen auch auslaufen<br />
lassen können in eine gewisse Hygiene des werdenden Kindes.<br />
Sie wissen ja, dass jenes Lebensalter, welches beim Unterricht<br />
und bei der Erziehung als Ganzes für uns in Betracht kommt,<br />
dasjenige ist, das die zwei ersten Lebensjahrzehnte in sich<br />
schließt. Wir wissen weiter, dass das Gesamtleben des Kindes<br />
mit Bezug auf diese zwei ersten Lebensjahrzehnte des jungen<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Menschen auch dreigeteilt ist. Bis zum Zahnwechsel trägt das<br />
Kind einen ganz bestimmten Charakter an sich, der sich namentlich<br />
dadurch ausspricht, dass es ein nachahmendes Wesen<br />
sein will; alles, was es in der Umgebung sieht, will es nachahmen.<br />
Vom siebenten Jahre bis zur Geschlechtsreife haben wir<br />
es zu tun mit dem Kinde, das auf Autorität hin dasjenige aufnehmen<br />
will, was es wissen, fühlen und wollen soll; und erst<br />
mit der Geschlechtsreife beginnt die Sehnsucht des Menschen,<br />
aus dem eigenen Urteil heraus sich mit der Umwelt in eine Beziehung<br />
zu setzen. Daher müssen wir fortwährend darauf Rücksicht<br />
nehmen, dass wir ja, wenn wir Kinder im Volksschulalter<br />
vor uns haben, den Menschen entwickeln, der gewissermaßen<br />
aus dem innersten Wesen seiner Natur heraus nach Autorität<br />
strebt. Wir werden schlecht erziehen, wenn wir nicht in der<br />
Lage sind, Autorität gerade in diesem Lebensalter zu halten.<br />
Nun handelt es sich aber darum, dass wir die Gesamtlebenstätigkeit<br />
des Menschen auch geistig charakterisierend überschauen<br />
können. Diese Gesamtlebenstätigkeit des Menschen umfasst,<br />
wie wir von den verschiedensten Gesichtspunkten her gekennzeichnet<br />
haben, das erkennende Denken auf der einen Seite, das<br />
Wollen auf der anderen Seite; Fühlen liegt zwischendrin. Nun<br />
ist der Mensch als Erdenmensch zwischen Geburt und Tod darauf<br />
angewiesen, dasjenige, was als erkennendes Denken sich<br />
äußert, allmählich zu durchdringen mit der Logik, mit alledem,<br />
was ihn befähigt logisch zu denken. Nur werden Sie selbst, was<br />
Sie über Logik als Lehrer und Erzieher zu wissen haben, im<br />
Hintergrunde halten müssen. Denn natürlich ist Logik etwas<br />
ausgeprägt Wissenschaftliches; das soll man als solches nur<br />
durch sein ganzes Verhalten zunächst an das Kind heranbringen.<br />
Aber als Lehrer muss man das Wichtigste der Logik doch in<br />
sich tragen.<br />
Indem wir uns logisch, das heißt, denkend-erkennend betätigen,<br />
haben wir in dieser Betätigung immer drei Glieder. Erstens<br />
haben wir immerfort dasjenige in unserem denkenden Erkennen<br />
drinnen, was wir Schlüsse nennen. Für das gewöhnliche<br />
Leben äußert sich ja das Denken in der Sprache. Wenn Sie das<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Gefüge der Sprache überblicken, werden Sie finden: indem Sie<br />
sprechen, bilden Sie fortwährend Schlüsse aus. Diese Tätigkeit<br />
des Schließens ist die allerbewussteste im Menschen. Der<br />
Mensch würde sich durch die Sprache nicht äußern können,<br />
wenn er nicht fortwährend Schlüsse sprechen würde; er würde<br />
nicht das, was der andere zu ihm sagt, verstehen können, wenn<br />
er nicht fortwährend Schlüsse in sich aufnehmen könnte. Die<br />
Schullogik zergliedert gewöhnlich die Schlüsse; dadurch verfälscht<br />
sie sie schon, insofern die Schlüsse im gewöhnlichen Leben<br />
vorkommen. Die Schullogik bedenkt nicht, dass wir schon<br />
einen Schluss ziehen, wenn wir ein einzelnes Ding ins Auge fassen.<br />
Denken Sie sich, Sie gehen in eine Menagerie und sehen<br />
dort einen Löwen. Was tun Sie denn zuallererst, indem Sie den<br />
Löwen wahrnehmen? Sie werden zuallererst das, was Sie am<br />
Löwen sehen, sich zum Bewusstsein bringen, und nur durch<br />
dieses sich-zum-Bewusstsein-Bringen kommen Sie mit Ihren<br />
Wahrnehmungen gegenüber dem Löwen zurecht. Sie haben im<br />
Leben gelernt, ehe Sie in die Menagerie gegangen sind, dass solche<br />
Wesen, die sich so äußern wie der Löwe, den Sie jetzt sehen,<br />
«Tiere» sind. Was Sie da aus dem Leben gelernt haben,<br />
bringen Sie schon mit in die Menagerie. Dann schauen Sie den<br />
Löwen an und finden: der Löwe tut eben auch das, was Sie bei<br />
den Tieren kennengelernt haben. Dies verbinden Sie mit dem,<br />
was Sie aus der Lebenserkenntnis mitgebracht haben, und bilden<br />
sich dann das Urteil: Der Löwe ist ein Tier. - Erst wenn Sie<br />
dieses Urteil sich gebildet haben, verstehen Sie den einzelnen<br />
Begriff «Löwe». Das erste, was Sie ausführen, ist ein Schluss; das<br />
zweite, was Sie ausführen, ist ein Urteil; und das letzte, wozu Sie<br />
im Leben kommen, ist ein Begriff. Sie wissen natürlich nicht,<br />
dass Sie diese Betätigung fortwährend vollziehen; aber würden<br />
Sie sie nicht vollziehen, so würden Sie kein bewusstes Leben<br />
führen, das Sie geeignet macht, sich durch die Sprache mit anderen<br />
Menschenwesen zu verständigen. Man glaubt gewöhnlich,<br />
der Mensch komme zuerst zu den Begriffen. Das ist nicht<br />
wahr. Das erste im Leben sind die Schlüsse. Und wir können<br />
sagen: Wenn wir nicht unsere Wahrnehmung des Löwen, wenn<br />
131
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
wir in die Menagerie gehen, aus der gesamten übrigen Lebenserfahrung<br />
herausschälen, sondern wenn wir sie in unsere ganze<br />
übrige Lebenserfahrung hineinstellen, so ist das erste, was wir in<br />
der Menagerie vollbringen, das ziehen eines Schlusses. - Wir<br />
müssen uns klar sein: dass wir in die Menagerie gehen und den<br />
Löwen sehen, ist nur eine Einzelhandlung und gehört zum ganzen<br />
Leben hinzu. Wir haben nicht angefangen zu leben, als wir<br />
die Menagerie betreten und den Blick auf den Löwen gerichtet<br />
haben. Das schließt sich an das vorherige Leben an, und das<br />
vorherige Leben spielt da hinein, und wiederum wird das, was<br />
wir aus der Menagerie mitnehmen, hinausgetragen in das übrige<br />
Leben. -<br />
Wenn wir aber nun den ganzen Vorgang betrachten, was ist<br />
dann der Löwe zuerst? Er ist zuerst ein Schluss. Wir können<br />
durchaus sagen: Der Löwe ist ein Schluss. Ein bisschen später:<br />
Der Löwe ist ein Urteil. Und wieder ein bisschen später: Der<br />
Löwe ist ein Begriff.<br />
Wenn Sie Logiken aufschlagen, namentlich solche älteren Kalibers,<br />
dann werden Sie unter den Schlüssen gewöhnlich den allerdings<br />
berühmt gewordenen Schluss angeführt finden: Alle<br />
Menschen sind sterblich; Cajus ist ein Mensch; also ist Cajus<br />
sterblich. - Cajus ist ja die allerberühmteste logische Persönlichkeit.<br />
Nun, dieses Auseinanderschälen der drei Urteile:<br />
«Alle Menschen sind sterblich», «Cajus ist ein Mensch», «also ist<br />
Cajus sterblich», findet in der Tat nur beim Logikunterricht<br />
statt. Im Leben weben diese drei Urteile ineinander, sind eins,<br />
denn das Leben verläuft fortwährend denkend-erkennend. Sie<br />
vollziehen immer alle drei Urteile gleichzeitig, indem Sie an einen<br />
Menschen<br />
Nun haben diese drei Dinge - Schluss, Urteil, Begriff - ihr Dasein<br />
im Erkennen, das heißt im lebendigen Geiste des Menschen.<br />
Wie verhalten sie sich im lebendigen Geiste des Menschen?<br />
132
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Der Schluss kann nur leben im lebendigen Geiste des Menschen,<br />
nur dort hat er ein gesundes Leben; das heißt, der Schluss ist<br />
nur ganz gesund, wenn er verläuft im vollwachenden Leben.<br />
Das ist sehr wichtig, wie wir noch sehen werden. Daher ruinieren<br />
Sie die Seele des Kindes, wenn Sie darauf hinarbeiten, dass<br />
fertige Schlüsse dem Gedächtnis anvertraut werden sollen. Was<br />
ich jetzt für den Unterricht sage, das ist, wie wir es noch im einzelnen<br />
auszuführen haben, von ganz fundamentaler Wichtigkeit.<br />
Sie werden in der Waldorfschule Kinder aller Altersstufen<br />
bekommen mit den Ergebnissen vorangehenden Unterrichtes.<br />
Es wird mit den Kindern gearbeitet worden sein - Sie werden<br />
das Ergebnis davon schon vorfinden im Schluss, Urteil, Begriff.<br />
Sie werden ja aus den Kindern das Wissen wieder heraufholen<br />
müssen, denn Sie können nicht mit jedem Kinde von neuem<br />
beginnen. Wir haben ja das Eigentümliche, dass wir die Schule<br />
nicht von unten aufbauen können, sondern gleich mit acht<br />
Klassen beginnen. Sie werden also präparierte Kinderseelen vorfinden<br />
und werden in der Methode in den allerersten Zeiten<br />
darauf Rücksicht nehmen müssen, dass Sie möglichst wenig die<br />
Kinder damit plagen, fertige Schlüsse aus dem Gedächtnis herauszuholen.<br />
Sind diese fertigen Schlüsse zu stark in die Seelen<br />
der Kinder gelegt, dann lasse man sie lieber unten liegen und<br />
bemühe sich, das gegenwärtige Leben des Kindes im Schließen<br />
leben zu lassen.<br />
Das Urteil entwickelt sich ja zunächst auch, selbstverständlich,<br />
im vollwachenden Leben. Aber das Urteil kann schon hinuntersteigen<br />
in die Untergründe der menschlichen Seele, da, wo die<br />
Seele träumt. Der Schluss sollte nicht einmal in die träumende<br />
Seele hinunterziehen, sondern nur das Urteil kann in die träumende<br />
Seele hinunterziehen. Also alles, was wir uns als Urteil<br />
über die Welt bilden, zieht in die träumende Seele hinunter.<br />
Ja, was ist denn diese träumende Seele eigentlich? Sie ist mehr<br />
das Gefühlsmäßige, wie wir gelernt haben. Wenn wir also im<br />
Leben Urteile gefällt haben und dann über die Urteilsfällung<br />
hinweggehen und das Leben weiterführen, so tragen wir unsere<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Urteile durch die Welt; aber wir tragen sie im Gefühl durch die<br />
Welt. Das heißt aber weiter: das Urteilen wird in uns eine Art<br />
Gewohnheit. Sie bilden die Seelengewohnheiten des Kindes aus<br />
durch die Art, wie Sie die Kinder urteilen lehren. Dessen müssen<br />
Sie sich durchaus bewusst sein. Denn der Ausdruck des Urteils<br />
im Leben ist der Satz, und mit jedem Satze, den Sie zu dem<br />
Kinde sprechen, tragen Sie ein Atom hinzu zu den Seelengewohnheiten<br />
des Kindes. Daher sollte der ja Autorität besitzende<br />
Lehrer sich immer bewusst sein, dass das, was er spricht, haften<br />
werde an den Seelengewohnheiten des Kindes.<br />
Und kommen wir vom Urteil zum Begriff, so müssen wir uns<br />
gestehen: was wir als Begriff ausbilden, das steigt hinunter bis in<br />
die tiefste Tiefe des Menschenwesens, geistig betrachtet, steigt<br />
hinunter bis in die schlafende Seele. Der Begriff steigt hinunter<br />
bis in die schlafende Seele, und dies ist die Seele, die fortwährend<br />
am Leibe arbeitet. Die wachende Seele arbeitet nicht am<br />
Leibe. Ein wenig arbeitet die träumende Seele am Leibe; sie erzeugt<br />
das, was in seinen gewohnten Gebärden liegt. Aber die<br />
schlafende Seele wirkt bis in die Formen des Leibes hinein. Indem<br />
Sie Begriffe bilden, das heißt, indem Sie Ergebnisse der Urteile<br />
bei den Menschen feststellen, wirken Sie bis in die schlafende<br />
Seele oder, mit anderen Worten, bis in den Leib des Menschen<br />
hinein. Nun ist ja der Mensch in hohem Grade dem Leibe<br />
nach fertig gebildet, indem er geboren wird, und die Seele hat<br />
nur die Möglichkeit, das, was durch die Vererbungsströmung<br />
den Menschen überliefert wird, feiner auszubilden. Aber sie<br />
bildet es feiner aus. Wir gehen durch die Welt und schauen uns<br />
Menschen an. Diese Menschen treten uns entgegen mit ganz<br />
bestimmten Gesichtsphysiognomien. Was ist in diesen Gesichtsphysiognomien<br />
enthalten? Es ist in ihnen unter anderem<br />
enthalten das Ergebnis aller Begriffe, welche die Lehrer und Erzieher<br />
während der Kindheit in den Menschen hineingebracht<br />
haben. Aus dem Gesicht des reifen Menschen strahlt uns wieder<br />
das entgegen, was an Begriffen in die Kinderseele hineingegossen<br />
ist, denn die schlafende Seele hat die Physiognomie des<br />
Menschen unter anderem auch nach den feststehenden Begrif-<br />
134
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
fen gebildet. Hier sehen wir die Macht des Erzieherischen und<br />
Unterrichtlichen von uns auf den Menschen. Seinen Siegelabdruck<br />
bekommt der Mensch bis in den Leib hinein durch das<br />
Begriffebilden.<br />
Heute ist die auffälligste Erscheinung in der Welt die, dass wir<br />
Menschen mit so wenig ausgeprägten Physiognomien finden.<br />
Recht geistreich hat einmal Hermann Bahr in einem Berliner<br />
Vortrage etwas erzählt aus seinen Lebenserfahrungen. Er meinte,<br />
wenn man so an den Rhein oder in die Gegend von Essen<br />
komme, in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts<br />
schon, und man ginge durch die Straßen und es begegneten einem<br />
die Menschen, die aus den Fabriken kämen, da hätte man<br />
so still das Gefühl: Ja, keiner unterscheidet sich vom anderen, es<br />
ist eigentlich nur ein einziger Mensch, der einem dort begegnet,<br />
wie durch einen Vervielfältigungsapparat im Bilde sich zeigend;<br />
man kann die Menschen eigentlich gar nicht voneinander unterscheiden.<br />
- Eine sehr wichtige Beobachtung! Und noch eine<br />
andere Beobachtung hat Hermann Bahr angeführt, die auch<br />
ganz wichtig ist. Er meinte: Wenn man in den neunziger Jahren<br />
in Berlin irgendwo eingeladen war zum Souper, man hatte<br />
rechts und links seine Tischdame, man konnte sie eigentlich<br />
nicht voneinander unterscheiden, aber man hatte wenigstens<br />
den Unterschied: die eine ist rechts, die andere ist links. Nun<br />
war man dann auch wieder woanders eingeladen, und es konnte<br />
einem dann passieren, dass man nicht unterscheiden konnte: ist<br />
das nun die Dame von gestern, oder ist es die von vorgestern?<br />
Kurz, eine gewisse Uniformität ist in die Menschheit eingezogen.<br />
Das ist aber ein Beweis dafür, dass in den Menschen nichts<br />
heranerzogen worden ist in der vorhergehenden Zeit. An solchen<br />
Dingen muss man lernen, was notwendig ist in bezug auf<br />
die Umwandlung unseres Erziehungswesens, denn die Erziehung<br />
greift tief ein in das ganze Kulturleben. Daher können wir<br />
sagen: Wenn der Mensch durch das Leben geht und nicht gerade<br />
einer einzelnen Tatsache gegenübersteht, so leben im Unbewussten<br />
seine Begriffe.<br />
135
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Begriffe können also im Unbewussten leben. Urteile können nur<br />
leben als Urteilsgewohnheiten im halbbewussten, im träumerischen<br />
Leben, und Schlüsse sollen eigentlich nur im vollbewussten,<br />
wachen Leben herrschen. Das heißt, man soll recht viel<br />
Rücksicht darauf nehmen, dass man alles, was sich auf die<br />
Schlüsse bezieht, mit den Kindern bespricht und sie nicht fertige<br />
Schlüsse immer gerade bewahren lässt, sondern nur das bewahren<br />
lässt, was zum Begriff ausreift. Aber was ist dazu notwendig?<br />
Denken Sie sich, Sie bilden Begriffe, und diese Begriffe sind tot.<br />
Dann impfen Sie den Menschen Begriffsleichname ein. Bis in<br />
seinen Leib hinein impfen Sie dem Menschen Begriffsleichname<br />
ein, wenn Sie ihm tote Begriffe einimpfen. Wie muss der Begriff<br />
sein, den wir dem Menschen beibringen? Er muss lebendig sein,<br />
wenn der Mensch mit ihm soll leben können. Der Mensch muss<br />
leben, also muss der Begriff mitleben können. Impfen Sie dem<br />
Kinde im neunten, zehnten Jahre Begriffe ein, die dazu bestimmt<br />
sind, dass sie der Mensch im dreißigsten, vierzigsten<br />
Jahre noch ebenso hat, dann impfen Sie ihm Begriffsleichname<br />
ein, denn der Begriff lebt dann nicht mit dem Menschen mit,<br />
wenn dieser sich entwickelt. Sie müssen dem Kinde solche Begriffe<br />
beibringen, die sich im Laufe des weiteren Lebens des<br />
Kindes umwandeln können. Der Erzieher muss darauf bedacht<br />
sein, solche Begriffe dem Kinde zu übermitteln, welche der<br />
Mensch dann im späteren Leben nicht mehr so hat, wie er sie<br />
einmal bekommen hat, sondern die sich selbst umwandeln im<br />
späteren Leben. Wenn Sie das machen, dann impfen Sie dem<br />
Kinde lebendige Begriffe ein. Und wann impfen Sie ihm tote<br />
Begriffe ein? Wenn Sie dem Kinde fortwährend Definitionen<br />
geben, wenn Sie sagen: Ein Löwe ist...und so weiter und das<br />
auswendig lernen lassen, dann impfen Sie ihm tote Begriffe ein;<br />
dann rechnen Sie damit, dass das Kind, wenn es dreißig Jahre<br />
ist, noch ganz genau so diese Begriffe hat, wie Sie sie ihm einmal<br />
beigebracht haben. Das heißt: das viele Definieren ist der Tod<br />
des lebendigen Unterrichtes.<br />
136
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Was müssen wir also tun? Wir sollten im Unterricht nicht definieren,<br />
wir sollten versuchen zu charakterisieren. Wir charakterisieren,<br />
wenn wir die Dinge unter möglichst viele Gesichtspunkte<br />
stellen. Wenn wir einfach in der Naturgeschichte dem<br />
Kinde das beibringen, was zum Beispiel in den heutigen Naturgeschichten<br />
von den Tieren steht, so definieren wir ihm eigentlich<br />
nur das Tier. Wir müssen versuchen, in allen Gliedern des<br />
Unterrichtes das Tier von anderen Seiten aus zu charakterisieren,<br />
zum Beispiel von der Seite, wie die Menschen allmählich<br />
dazu gekommen sind, dieses Tier kennenzulernen, sich seiner<br />
Arbeit zu bedienen und so weiter. Aber schon ein rationell eingerichteter<br />
Unterricht selber wirkt charakterisierend, wenn Sie<br />
nicht einfach nur - wenn die betreffende Etappe des Unterrichtes<br />
gerade an der Reihe ist - naturgeschichtlich den Tintenfisch<br />
beschreiben, dann wieder, wenn es drankommt, die Maus, und<br />
dann wieder den Menschen, wenn er drankommt, sondern<br />
wenn Sie nebeneinanderstellen Tintenfisch, Maul und Menschen<br />
und diese aufeinander beziehen. Dann sind diese Beziehungen<br />
so vielgliedrig, dass nicht eine Definition herauskommt,<br />
sondern eine Charakteristik. Ein richtiger Unterricht arbeitet<br />
daher von vornherein nicht auf die Definition hin, sondern auf<br />
die Charakteristik.<br />
Das ist von ganz besonderer Wichtigkeit, dass man sich stets<br />
bewusst ist: man ertöte nichts in dem werdenden Menschen,<br />
sondern man erziehe und unterrichte ihn so, dass er lebendig<br />
bleibt, dass er nicht vertrocknet, nicht erstarrt. Sie werden daher<br />
sorgfältig unterscheiden müssen bewegliche Begriffe, die Sie<br />
dem Kinde beibringen, und solche - es gibt auch solche - die<br />
eigentlich einer Veränderung nicht zu unterliegen brauchen.<br />
Diese Begriffe werden beim Kinde eine Art Skelett seiner Seele<br />
geben können. Darauf werden Sie allerdings auch bedacht sein<br />
müssen, dass Sie dem Kinde etwas mitgeben müssen, was doch<br />
wieder für das ganze Leben bleibt. - Sie werden ihm nicht über<br />
die Einzelheiten des Lebens tote Begriffe geben dürfen, die<br />
nicht bleiben dürfen; Sie werden ihm lebendige Begriffe über<br />
die Einzelheiten des Lebens und der Welt geben müssen, die<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
sich mit ihm selber organisch entwickeln. Aber Sie werden alles<br />
auf den Menschen beziehen müssen. Zuletzt wird alles in der<br />
Auffassung des Kindes zusammenströmen müssen in der Idee<br />
vom Menschen. Diese Idee vom Menschen darf bleiben. Alles,<br />
was Sie dem Kinde mitgeben, wenn Sie ihm eine Fabel erzählen<br />
und sie anwenden auf den Menschen, wenn Sie in der Naturgeschichte<br />
Tintenfisch und Maus auf den Menschen beziehen,<br />
wenn sie beim Morsetelegraph ein Gefühl erregen von dem<br />
Wunder, das sich durch die Erdleitung vollzieht - alles das sind<br />
Dinge, welche die ganze Welt in ihren Einzelheiten verbinden<br />
mit dem Menschen. Das ist etwas, was bleiben kann. Aber man<br />
baut den Begriff vom Menschen ja erst allmählich auf, man<br />
kann dem Kinde nicht einen fertigen Begriff vom Menschen<br />
beibringen. Hat man ihn aber aufgebaut, dann darf er bleiben.<br />
Es ist sogar das Schönste, was man dem Kinde von der Schule<br />
ins spätere Leben mitgeben kann, die Idee, die möglichst vielseitige,<br />
möglichst viel enthaltene Idee vom Menschen.<br />
Das, was im Menschen lebt, hat die Tendenz, sich im Leben<br />
wirklich auch lebendig umzuwandeln. Bringen Sie es dahin bei<br />
dem Kind, dass es Begriffe hat von Ehrfurcht, von Verehrung,<br />
Begriffe von alledem, was wir in einem umfassenderen Sinn<br />
nennen können die Gebetsstimmung, dann ist eine solche Vorstellung<br />
in dem Kinde, das mit der Gebetsstimmung durchdrungen<br />
ist, eine lebendige, reicht bis ins höchste Alter und wandelt<br />
sich um im höchsten Alter in die Fähigkeit zu segnen, bei anderen<br />
wieder die Ergebnisse der Gebetsstimmung auszuteilen. Ich<br />
habe es einmal so ausgedrückt, dass ich sagte: Kein Greis, noch<br />
eine Greisin, werden im Alter wirklich gut segnen können, die<br />
nicht als Kind richtig gebetet haben. Hat man als Kind richtig<br />
gebetet, so kann man als Greis oder Greisin richtig segnen, das<br />
heißt mit stärkster Kraft.<br />
Also solche Begriffe beibringen, die mit dem Intimsten des<br />
Menschen zusammenhängen, heißt den Menschen ausstatten<br />
mit lebendigen Begriffen; und das Lebendige geht Metamorpho-<br />
138
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
sen ein, wandelt sich um; mit dem Leben des Menschen selbst<br />
wandelt es sich um.<br />
Betrachten wir einmal noch von einem etwas anderen Gesichtspunkte<br />
aus diese Dreigliederung des jugendlichen Lebensalters.<br />
Bis zum Zahnwechsel will der Mensch nachahmen, bis zur Geschlechtsreife<br />
will er unter Autorität stehen; dann will er sein<br />
Urteil auf die Welt anwenden.<br />
Man kann das auch noch anders ausdrücken. Wenn der Mensch<br />
aus der geistig-seelischen Welt heraustritt, sich mit einem Leibe<br />
umkleidet, was will er da eigentlich? Er will das Vergangene,<br />
das er im Geistigen durchlebt hat, in der physischen Welt verwirklichen.<br />
Der Mensch ist gewissermaßen vor dem Zahnwechsel<br />
ganz auf das Vergangene noch eingestellt. Von jener Hingabe,<br />
die man in der geistigen Welt entwickelt, ist der Mensch<br />
noch erfüllt. Daher gibt er sich auch in seine Umgebung hin,<br />
indem er die Menschen nachahmt. Was ist denn nun der<br />
Grundimpuls, die noch ganz unbewusste Grundstimmung des<br />
Kindes bis zum Zahnwechsel? Diese Grundstimmung ist eigentlich<br />
eine sehr schöne, die auch gepflegt werden muss. Es ist die,<br />
welche von der Annahme, von der unbewussten Annahme ausgeht:<br />
Die ganze Weft ist moralisch. Es ist bei den heutigen Seelen<br />
nicht umfassend so; aber es ist im Menschen veranlagt,<br />
wenn er die Welt betritt, dadurch dass er ein physisches Wesen<br />
wird, von der unbewussten Annahme ausgehen: Die Welt ist<br />
moralisch. Daher ist es gut für die ganze Erziehung bis zum<br />
Zahnwechsel und noch darüber hinaus, dass man etwas Rechnung<br />
trage dieser unbewussten Annahme: Die Welt ist moralisch.<br />
Ich habe darauf Rücksicht genommen, indem ich Ihnen<br />
zwei Lesestücke vorgeführt habe, für die ich zuerst die Vorbereitung<br />
gezeigt habe, und diese Präparation lebte ganz unter der<br />
Annahme, dass man moralisch charakterisiert. Ich versuchte zu<br />
charakterisieren bei dem Stück, wo es sich um das Hirtenhündchen,<br />
das Fleischerhündchen und das Polsterhündchen handelt,<br />
wie im Tierreiche Menschenmoral widergespiegelt sein kann.<br />
Und ich versuchte es auch, in dem Gedicht über das Veilchen<br />
139
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
von Hoffmann von Fallersleben, ohne Pedanterie Moral auch<br />
über das siebente Lebensjahr hinaus an das kindliche Leben heranzubringen,<br />
damit man dieser Annahme, die Welt ist moralisch,<br />
entgegenkommt. Das ist ja das Erhebende und Große im<br />
Anblick der Kinder, dass die Kinder eine Menschenrasse sind,<br />
die an die Moral der Welt glaubt und daher glaubt, dass man die<br />
Welt nachahmen dürfe. - Das Kind lebt so in der Vergangenheit<br />
und ist auch vielfach ein 0ffenbarer der vorgeburtlichen Vergangenheit,<br />
nicht der physischen, sondern der geistigseelischen.<br />
Indem der Mensch als Kind durch den Zahnwechsel durchgeht,<br />
lebt er bis zur Geschlechtsreife fortwährend eigentlich in der<br />
Gegenwart und interessiert sich für das Gegenwärtige. Und darauf<br />
muss beim Unterrichten und Erziehen fortwährend Rücksicht<br />
genommen werden, dass eigentlich der Volksschüler fortwährend<br />
in der Gegenwart leben will. Wie lebt man denn in<br />
der Gegenwart? In der Gegenwart lebt man, wenn man in einer<br />
nicht animalischen, sondern menschlichen Weise die Welt um<br />
sich her genießt. Tatsächlich, das Kind als Volksschüler will<br />
auch im Unterricht die Welt genießen. Wir sollen daher nicht<br />
versäumen, so zu unterrichten, dass nicht im animalischen, aber<br />
im höheren menschlichen Sinne der Unterricht wirklich für das<br />
Kind eine Art Genießen ist, und nicht etwa, was ihm Antipathie<br />
und Ekel hervorruft. Auf diesem Gebiete hat ja die Pädagogik<br />
allerlei gute Anläufe gemacht. Aber es ist etwas Gefährliches auf<br />
diesem Gebiete. Das Gefährliche besteht darin, dass man dieses<br />
Prinzip, den Unterricht zu einem Quell der Freude und des Genießens<br />
zu machen, sehr leicht ins Hausbackene verzerren<br />
kann. Das sollte nicht geschehen. Es kann aber nur Abhilfe geschaffen<br />
werden, wenn der Lehrer, der Unterrichtende, sich<br />
selbst fortwährend herausheben will aus dem Hausbackenen,<br />
Pedantischen, Philiströsen. Das kann er eigentlich nur dadurch,<br />
dass er nie versäumt, seine Beziehung zur Kunst recht lebendig<br />
sein zu lassen. Denn man geht von einer bestimmten Voraussetzung<br />
aus, wenn man menschlich - nicht animalisch - die Welt<br />
genießen will, von der Voraussetzung, dass die Welt schön ist.<br />
140
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Und von dieser unbewussten Voraussetzung geht eigentlich das<br />
Kind von seinem Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife aus, dass<br />
es die Welt schön finden dürfe. Dieser unbewussten Annahme<br />
des Kindes, dass die Welt schön ist, dass also auch der Unterricht<br />
schön sein müsse, dem kommt man wahrhaftig nicht entgegen,<br />
wenn man die oftmals so banalen, rein vom Nützlichkeitsstandpunkte<br />
aus zugerichteten Regeln für den Anschauungsunterricht<br />
beobachtet, sondern wenn man selbst versucht,<br />
einzutauchen in künstlerisches Erleben, damit der Unterricht<br />
gerade in dieser Zeit durchkunstet werde. Es tut einem<br />
manchmal fürchterlich leid, wenn man die Didaktiken der Gegenwart<br />
liest und sieht, wie der gute Ansatz, dass man den Unterricht<br />
zu einem Quell der Freude machen möchte, dadurch<br />
nicht zu seinem Rechte kommt, dass das, was der Lehrer mit<br />
seinen Schülern bespricht, einen unästhetischen, einen hausbackenen<br />
Eindruck macht. Es ist ja heute beliebt, mit den Kindern<br />
Anschauungsunterricht zu treiben so nach sokratischer Methode.<br />
Aber die Fragen, welche da an die Kinder gestellt werden,<br />
tragen einen äußersten Nützlichkeitscharakter, nicht einen<br />
Charakter, der etwas in Schönheit lebt. Da nützt dann auch alles<br />
Aufstellen von Musterbeispielen nichts. Nicht darauf kommt es<br />
an, dass man dem Lehrer aufträgt: du sollst diese oder jene Art<br />
beim Auswählen deiner Musterbeispiele für den Anschauungsunterricht<br />
einhalten, sondern dass der Lehrer selbst dafür sorgt<br />
durch sein Leben in der Kunst, dass die Dinge geschmackvoll<br />
sind, die er mit den Kindern durchspricht.<br />
Das erste Kindesleben bis zum Zahnwechsel geht mit der unbewussten<br />
Annahme vor sich: Die Welt ist moralisch. Das zweite<br />
Lebensalter, vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, verläuft<br />
in der unbewussten Voraussetzung: Die Welt ist schön. Und erst<br />
mit der Geschlechtsreife beginnt dann so recht die Anlage dafür,<br />
auch das in der Welt zu finden: Die Welt ist wahr. Erst dann<br />
kann daher der Unterricht damit einsetzen, „wissenschaftlichen“<br />
Charakter zu bekommen. Vor der Geschlechtsreife ist es<br />
nicht gut, dem Unterricht einen bloß systematischen oder wissenschaftlichen<br />
Charakter zu geben, denn einen richtigen inne-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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ren Begriff von der Wahrheit bekommt der Mensch erst dann,<br />
wenn er geschlechtsreif geworden ist.<br />
Auf diese Art werden Sie zu einer Einsicht kommen, dass sich<br />
mit dem werdenden Kinde aus höheren Welten herunter lebt in<br />
diese physische Welt hinein das Vergangene, dass, in dem das<br />
Kind seinen Zahnwechsel vollzogen hat, sich in dem eigentlichen<br />
Volksschüler die Gegenwart auslebt, und dass dann der<br />
Mensch in jenes Lebensalter eintritt, wo sich in seiner Seele die<br />
Zukunftsimpulse festsetzen. Vergangenheit, Gegenwart und<br />
Zukunft und das Leben darinnen: das steckt auch in dem werdenden<br />
Menschen.<br />
Hier wollen wir halten und übermorgen mit dieser Betrachtung<br />
fortsetzen, die dann immer mehr ins praktische Unterrichten<br />
einlaufen wird.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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ZEHNTER VORTRAG<br />
1. SEPTEMBER 1919, STUTTGART<br />
Wir haben das Wesen des Menschen von dem seelischen und<br />
geistigen Gesichtspunkte aus besprochen. Wir haben wenigstens<br />
einige Streiflichter darauf geworfen, wie der Mensch zu betrachten<br />
ist vom geistigen, vom seelischen Gesichtspunkte aus.<br />
Wir werden dasjenige, was so von den zwei Gesichtspunkten<br />
aus betrachtet worden ist, dadurch zu ergänzen haben, dass wir<br />
zunächst verbinden die Gesichtspunkte des Geistigen, des Seelischen,<br />
des Leiblichen, damit wir einen vollständigen Überblick<br />
über den Menschen bekommen und dann übergehen können<br />
auf ein Erfassen, auf ein Begreifen auch der äußeren Leiblichkeit.<br />
Zuerst wollen wir uns noch einmal ins Gedächtnis rufen, was<br />
uns von verschiedenen Seiten her aufgefallen sein muss dass der<br />
Mensch in den drei Gliedern seines Wesens verschiedene Formen<br />
hat. Wir haben darauf aufmerksam gemacht, wie im wesentlichen<br />
die Kopfform die Form des Kugeligen ist, wie in dieser<br />
kugeligen Kopfform das eigentliche leibliche Wesen des<br />
menschlichen Hauptes liegt. Wir haben dann darauf aufmerksam<br />
gemacht, dass der Brustteil des Menschen ein Fragment einer<br />
Kugel ist, so dass also, wenn wir schematisch zeichnen, wir<br />
dem Kopfe eine Kugelform, dem Brustteil eine Mondenform geben<br />
und dass wir uns klar sind, dass in dieser Mondenform ein<br />
Kugelfragment, ein Teil einer Kugel enthalten ist. Daher werden<br />
wir uns sagen müssen: Wir können ergänzen die Mondform des<br />
menschlichen Brustgliedes. Und Sie werden nur dann dieses<br />
Mittelglied der menschlichen Wesenheit, die menschliche<br />
Brustform, richtig ins Auge fassen können, wenn Sie sie auch als<br />
eine Kugel betrachten, aber als eine Kugel, von der nur ein Teil,<br />
ein Mond sichtbar ist und der andere Teil unsichtbar ist. Sie sehen<br />
daraus vielleicht, dass in denjenigen älteren Zeiten, in denen<br />
man mehr die Fähigkeit gehabt hat als später, Formen zu<br />
143
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
sehen, man nicht unrecht hatte, von Sonne dem Kopf entsprechend,<br />
von Mond der Brustform entsprechend zu sprechen. Und<br />
wie man dann, wenn der Mond nicht voll ist, von dem Mond<br />
eben nur ein Kugelfragment sieht, so sieht man von dem<br />
menschlichen Mittelgliede in der Brustform eigentlich nur ein<br />
Fragment. Daraus können Sie ersehen, dass die Kopfform des<br />
Menschen hier in der physischen Welt etwas verhältnismäßig<br />
Abgeschlossenes ist. Die Kopfform zeigt sich physisch als etwas<br />
Abgeschlossenes. Sie ist gewissermaßen ganz dasjenige, als was<br />
sie sich gibt. Sie verbirgt am allerwenigsten von sich.<br />
Der Brustteil des Menschen verbirgt schon sehr viel von sich; er<br />
lässt etwas von seiner Wesenheit unsichtbar. Es ist sehr wichtig<br />
für die Erkenntnis der Wesenheit des Menschen, das ins zu fassen,<br />
dass vom Brustteil ein gut Stück unsichtbar sind so können<br />
wir sagen: Der Brustteil zeigt uns nach der Seite, nach rückwärts,<br />
seine Leiblichkeit; nach vorwärts geht er in das Seelische<br />
über. Der Kopf ist ganz Leib; der Brustteil des Menschen ist Leib<br />
nach rückwärts, Seele nach vorwärts. Wir tragen also einen<br />
wirklichen Leib nur an uns, indem wir unser Haupt auf den<br />
Schultern ruhen haben. Wir haben an uns Leib und Seele, indem<br />
wir unsere Brust herausgliedern aus dem übrigen Brustteil<br />
und sie durcharbeiten, durchwirken lassen von dem Seelischen.<br />
Nun sind eingesetzt in diese beiden Glieder des Menschen, namentlich<br />
zunächst für die äußere Betrachtung, in den Brustteil<br />
die Gliedmaßen. Das dritte ist ja der Gliedmaßenmensch. Nun,<br />
wie können wir den Gliedmaßenmenschen eigentlich verste-<br />
144
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
hen? Den Gliedmaßenmenschen können wir nur verstehen,<br />
wenn wir ins Auge fassen, dass andere Stücke übriggeblieben<br />
sind von der Kugelform als beim Brustteil.<br />
Beim Brustteil ist ein Stück von der Peripherie übriggeblieben.<br />
Bei den Gliedmaßen ist mehr übriggeblieben etwas von dem<br />
Inneren, von den Radien der Kugel, so dass also die inneren Teile<br />
der Kugel angesetzt sind als Gliedmaßen. Man kommt eben<br />
nicht zurecht, wie ich Ihnen schon oftmals gesagt habe, wenn<br />
man nur schematisch eins ins andere gliedert. Man muss immer<br />
das eine mit dem anderen verweben, denn darin besteht das Lebendige.<br />
Wir sagen: Wir haben den Gliedmaßenmenschen, der<br />
besteht aus den Gliedmaßen. Aber sehen Sie, auch der Kopf hat<br />
seine Gliedmaßen. Wenn Sie sich den Schädel ordentlich ansehen,<br />
dann finden Sie, dass zum Beispiel angesetzt sind an den<br />
Schädel die Knochen der hinteren und der vorderen Kinnlade.<br />
Sie sind richtig eingesetzt wie Gliedmaßen. Der Schädel hat<br />
auch seine Gliedmaßen, und obere und untere Kinnlade sind als<br />
Gliedmaßen am Schädel angebracht. Sie sind nur am Schädel<br />
verkümmert. Sie sind richtig groß ausgebildet beim übrigen<br />
Menschen, am Schädel sind sie verkümmert, sind eigentlich nur<br />
Knochengebilde. Und noch einen Unterschied gibt es: wenn Sie<br />
die Gliedmaßen des Schädels betrachten, also obere und untere<br />
Kinnlade, so werden Sie sehen, dass es bei ihnen ankommt im<br />
wesentlichen darauf, dass der Knochen seine Wirksamkeit ausführt.<br />
Wenn Sie die Gliedmaßen, die an unserem gesamten Leib<br />
angesetzt sind, also die eigentliche Wesenheit des Gliedmaßenmenschen<br />
ins Auge fassen, dann werden Sie in der Umkleidung<br />
mit Muskeln und mit Blutgefäßen das Wesentliche suchen müssen.<br />
Gewissermaßen sind unserem Muskel- und Blutsystem für<br />
Arme und Beine, Hände und Füße nur eingesetzt die Knochen.<br />
Und gewissermaßen sind an der oberen und unteren Kinnlade<br />
als Gliedmaßen des Kopfes ganz verkümmert die Muskeln und<br />
die Blutgefäße. Was bedeutet das? - Sehen Sie, in Blut und Muskeln<br />
liegt die Organik des Willens, wie wir schon gehört haben.<br />
Daher sind ausgebildet für den Willen hauptsächlich Arme und<br />
Beine, Hände und Füße. Das, was dem Willen vorzugsweise<br />
145
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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dient, Blut und Muskeln, das ist ja bis zu einem gewissen Grade<br />
genommen den Gliedmaßen des Hauptes, weil in ihnen ausgebildet<br />
sein soll dasjenige, was zum Intellekt, zum denkerischen<br />
Erkennen hinneigt. Wollen Sie daher studieren, wie sieh in den<br />
äußeren Leibesformen der Wille der Welt offenbart, so studieren<br />
Sie Arme und Beine, Hände und Füße.<br />
Wollen Sie studieren, wie sich das Intelligente der Welt offenbart,<br />
dann studieren Sie das Haupt als Schädel, als Knochengerüst,<br />
und wie sich dem Haupt angliedert obere Kinnlade, untere<br />
Kinnlade und auch anderes, was gliedmaßenähnlich aussieht am<br />
Haupte. Sie können nämlich überall die äußeren Formen als<br />
0ffenbarungen des Inneren ansehen. Und Sie verstehen nur<br />
dann die äußeren Formen, wenn Sie sie als Offenbarungen des<br />
Inneren ansehen.<br />
Nun, sehen Sie, ich habe immer gefunden, dass für die meisten<br />
Menschen eine große Schwierigkeit darin liegt, wenn sie begreifen<br />
sollen, welche Beziehung zwischen den Röhrenknochen<br />
der Arme und Beine und zwischen den Schalknochen des Kopfes,<br />
des Hauptes besteht. Es ist nun gerade für den Lehrer gut,<br />
hier sich einen Begriff anzueignen, der dem gewöhnlichen Leben<br />
fernliegt. Und wir kommen dabei an ein sehr, sehr schwieriges<br />
Kapitel, vielleicht das schwierigste für die Vorstellung, das<br />
wir zu überschreiten haben in diesen pädagogischen Vorträgen.<br />
Sie wissen, Goethe hat zuerst seine Aufmerksamkeit zugewendet<br />
der sogenannten Wirbeltheorie des Schädels. Was ist damit<br />
gemeint? Damit ist gemeint die Anwendung des Metamorphosengedankens<br />
auf den Menschen und seine Gestalt. Wenn man<br />
die menschliche Wirbelsäule betrachtet, so liegt ja ein Knochenwirbel<br />
über dem anderen. Wir können 50 einen Knochenwirbel<br />
mit seinen Fortsätzen, in dem dann das Rückenmark<br />
durchgeht, herausnehmen (es wird gezeichnet). Nun hat Goethe<br />
an einem Schöpsenschädel in Venedig zuerst beobachtet, wie<br />
alle Kopfknochen umgebildete Rückenwirbelknochen sind. Das<br />
heißt, wenn man sich irgendwelche Organe aufgeplustert und<br />
andere zurückgegangen denkt, so bekommt man aus dieser<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Wirbelform den schalgeformten Kopfknochen. Auf Goethe hat<br />
das einen großen Eindruck gemacht, denn er hat daraus den<br />
Schluss ziehen müssen - was für ihn sehr bedeutungsvoll war -,<br />
dass der Schädel eine umgebildete, eine höhergebildete Wirbelsäule<br />
ist.<br />
Man kann nun verhältnismäßig leicht einsehen, dass die Schädelknochen<br />
durch Umwandlung, durch Metamorphose aus den<br />
Wirbelknochen des Rückgrats hervorgehen. Aber nun wird es<br />
sehr schwierig, auch die Gliedmaßenknochen, schon die Gliedmaßenknochen<br />
des Kopfes, obere und untere Kinnlade - Goethe<br />
hat es versucht, aber auf äußerliche Weise noch - als Umformung,<br />
als Metamorphose der Wirbelknochen beziehungsweise<br />
der Kopfknochen aufzufassen. Warum ist das so? Ja, sehen Sie,<br />
das beruht darauf, dass ja allerdings ein röhriger Knochen, den<br />
Sie irgendwo haben, auch eine Metamorphose, eine Umwandlung<br />
des Kopfknochens ist, aber auf ganz besondere Art. Sie<br />
können verhältnismäßig leicht den Rückgratwirbel sich umgewandelt<br />
denken zum Kopfknochen, indem Sie sich einzelne<br />
Teile vergrößert, andere verkleinert denken. Aber Sie kriegen<br />
nicht so leicht aus dem Röhrenknochen der Arme oder der Beine<br />
heraus die Kopfknochen, die schaligen Kopfknochen. Da<br />
müssen Sie nämlich zuerst eine gewisse Prozedur vornehmen,<br />
wenn Sie die herausbekommen wollen. Sie müssen mit dem<br />
Röhrenknochen der Arme oder der Beine dieselbe Prozedur<br />
vornehmen, die Sie vornehmen würden, wenn Sie beim Anziehen<br />
eines Strumpfes oder eines Handschuhes das Innere zuerst<br />
nach außen wenden würden, also wenn Sie es umwenden wür-<br />
147
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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den. Nun ist es verhältnismäßig leicht, sick vorzustellen, wie ein<br />
Handschuh oder ein Strumpf aussieht, wenn das Innere nach<br />
außen gewendet wird. Aber der Röhrenknochen ist nicht<br />
gleichmäßig. Er ist nicht so dünn, dass er gleichmäßig im Inneren<br />
und außen gebaut wäre. Er ist verschieden im Inneren und<br />
außen gebaut. Würden Sie Ihren Strumpf so konstruieren und<br />
dann elastisch machen, dass Sie ihm äußerlich eine künstlerische<br />
Form geben würden mit allerlei Vorsprüngen und Einbuchtungen<br />
und ihn dann wenden, dann würden Sie nach außen<br />
nicht mehr dieselbe Form erhalten, wie die, die dann im<br />
Inneren ist, wenn Sie ihn umgewendet haben. Und so ist es bei<br />
dem Röhrenknochen. Man muss das Innere nach außen und das<br />
Äußere nach innen kehren, dann kommt die Form des Kopfknochens<br />
heraus, so dass die menschlichen Gliedmaßen nicht<br />
nur umgewandelte Kopfknochen sind, sondern außerdem noch<br />
umgewendete Kopfknochen. Woher rührt das? Das rührt davon<br />
her, dass der Kopf seinen Mittelpunkt irgendwo im Inneren hat;<br />
er hat ihn konzentrisch. Nicht hat in der Mitte der Kugel die<br />
Brust ihren Mittelpunkt die Brust hat den Mittelpunkt sehr weit<br />
weg.<br />
Das ist hier in der Zeichnung nur fragmentarisch angesetzt,<br />
denn es wäre sehr groß, wenn es ganz gezeichnet würde. Also<br />
weit weg hat die Brust den Mittelpunkt. Und wo hat denn das<br />
Gliedmaßensystem den Mittelpunkt? Jetzt kommen wir auf die<br />
zweite Schwierigkeit. Das Gliedmaßensystem hat den Mittelpunkt<br />
im ganzen Umkreis. Der Mittelpunkt des Gliedmaßensystems<br />
ist überhaupt eine Kugel, also das Gegenteil von einem<br />
Punkt. Eine Kugelfläche. Überall ist der Mittelpunkt eigentlich;<br />
148
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
daher können Sie sich überallhin drehen und von überallher<br />
strahlen die Radien ein. Sie vereinigen sich mit Ihnen.<br />
Was im Kopfe ist, geht vom Kopfe aus; was durch die Gliedmaßen<br />
geht, vereinigt sich in Ihnen. Deshalb musste ich auch in<br />
den anderen Vorträgen sagen: Sie müssen sich die Gliedmaßen<br />
eingesetzt denken. Wir sind wirklich eine ganze Welt, nur dass<br />
dasjenige, was da von außen in uns herein will, an seinem Ende<br />
sich verdichtet und sichtbar wird.<br />
Ein ganz winziger Teil von dem, was wir sind, wird in unseren<br />
Gliedmaßen sichtbar, so dass die Gliedmaßen etwas Leibliches<br />
sind, das aber nur ein ganz winziges Atom ist von dem, was eigentlich<br />
da ist im Gliedmaßensystem des Menschen: Geist. Leib,<br />
Seele und Geist ist im Gliedmaßensystem des Menschen. Der<br />
Leib ist in den Gliedmaßen nur angedeutet; aber in den Gliedmaßen<br />
ist ebenso das Seelische drinnen (siehe Zeichnung Seite<br />
162), und es ist drinnen das Geistige, das im Grunde genommen<br />
die ganze Welt umfasst.<br />
Nun könnte man auch noch eine andere Zeichnung vom Menschen<br />
machen. Man könnte sagen: Der Mensch ist zunächst eine<br />
riesengroße Kugel, die die ganze Welt umfasst, dann eine kleinere<br />
Kugel, und dann eine kleinste Kugel. Nur die kleinste Kugel<br />
wird ganz sichtbar; die etwas größere Kugel wird nur zum<br />
Teil sichtbar; die größte Kugel wird nur in ihren Einstrahlungen<br />
am Ende hier sichtbar, das übrige bleibt unsichtbar. So ist der<br />
Mensch aus der Welt heraus gebildet in seiner Form.<br />
149
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Und wiederum im mittleren System, im Brustsystem, haben wir<br />
die Vereinigung des Kopfsystems und des Gliedmaßensystems.<br />
Wenn Sie das Rückgrat mit den Ansätzen der Rippen betrachten,<br />
so werden Sie sehen, dass das der Versuch ist, sich abzuschließen<br />
nach vorne. Nach rückwärts ist das Ganze abgeschlossen,<br />
nach vorne ist nur der Versuch gemacht des Abschließens;<br />
er gelingt nicht ganz. Je mehr die Rippen dem Kopfe zugeneigt<br />
sind, desto mehr gelingt es ihnen, sich abzuschließen, aber je<br />
weiter nach unten gelegen, desto mehr misslingt es ihnen. Die<br />
letzten Rippen kommen nicht mehr zusammen, weil ihnen da<br />
entgegenwirkt diejenige Kraft, die dann in den Gliedmaßen von<br />
außen kommt.<br />
Von diesem Zusammenhang des Menschen mit dem ganzen<br />
Makrokosmos haben die Griechen noch ein sehr starkes Bewusstsein<br />
gehabt. Und die Ägypter wussten das sehr gut, nur<br />
wussten sie es etwas abstrakt. Daher können Sie sehen, wenn<br />
Sie ägyptische oder überhaupt ältere Plastiken anschauen, dass<br />
dieser Gedanke des Kosmos zum Ausdruck kommt. Sie verstehen<br />
sonst nicht, was die Menschen in alten Zeiten gemacht haben,<br />
wenn Sie nicht wissen, dass sie das gemacht haben, was ihrem<br />
Glauben entsprach: Der Kopf ist eine kleine Kugel, ein<br />
Weltkörper im Kleinen; die Gliedmaßen sind ein Stück vom<br />
großen Weltenkörper, wo er sich überall mit den Radien hineindrängt<br />
in die menschliche Gestalt. Die Griechen haben eine<br />
schöne, in sich harmonisch ausgebildete Vorstellung davon gehabt,<br />
daher waren sie gute Plastiker, gute Bildhauer. Und heute<br />
kann noch niemand die plastische Kunst der Menschen wirklich<br />
durchdringen, der sich nicht bewusst wird dieses Zusammenhanges<br />
des Menschen mit dem Weltall. Sonst patzt er immer<br />
nur äußerlich die Naturformen nach.<br />
Nun werden Sie gerade aus dem, was ich Ihnen so gesagt habe,<br />
erkennen, meine lieben Freunde, dass die Gliedmaßen eben<br />
mehr der Welt zugeneigt sind, der Kopf mehr dem einzelnen<br />
Menschen zugeneigt ist. Wozu werden dann also die Gliedmaßen<br />
besonders neigen? Sie werden zur Welt neigen, in der der<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Mensch sich bewegt und selbst seine Stellung immerfort verändert.<br />
Sie werden zur Bewegung der Welt Beziehung haben. Fassen<br />
Sie das gut auf: die Gliedmaßen haben Beziehung zur Bewegung<br />
der Welt.<br />
Indem wir in der Welt herumgehen, indem wir handelnd auftreten<br />
in der Welt, sind wir der Mensch der Gliedmaßen. Was<br />
hat doch nun der Bewegung der Welt gegenüber der Kopf, unser<br />
Haupt, für eine Aufgabe? Er ruht auf den Schultern, das habe<br />
ich Ihnen ja von einem anderen Gesichtspunkte aus gesagt. Er<br />
hat auch die Aufgabe, in sich fortwährend die Bewegung der<br />
Welt zur Ruhe zu bringen.<br />
Wenn Sie sich mit Ihrem Geiste in den Kopf hineinversetzen, so<br />
können Sie sich wirklich von diesem Sich-Versetzen ein Bild<br />
machen dadurch, dass Sie sich denken für eine Weile, Sie säßen<br />
in einem Eisenbahnzug; er bewegt sich vorwärts, Sie sitzen ruhig<br />
drinnen. So sitzt Ihre Seele im Kopf, der sich von den<br />
Gliedmaßen weiterbefördern lässt, ruhig drinnen und bringt die<br />
Bewegung innerlich zur Ruhe. Wie Sie sich sogar hinstrecken<br />
können, wenn Sie in dem Eisenbahnwagen Platz haben, und<br />
ruhen können, trotzdem diese Ruhe eigentlich eine Unwahrheit<br />
ist, denn Sie sausen ja in dem Zuge, vielleicht im Schlafwagen,<br />
durch die Welt; dennoch, Sie haben das Gefühl der Ruhe - so<br />
beruhigt in Ihnen der Kopf dasjenige, was die Gliedmaßen als<br />
Bewegung vollbringen können in der Welt. Und der Brustteil<br />
steht mitten darinnen. Der vermittelt die Bewegung der Außenwelt<br />
mit dem, was das Haupt, der Kopf zur Ruhe bringt.<br />
Denken Sie sich jetzt: es geht geradezu unsere Absicht als<br />
Mensch darauf hin, die Bewegung der Welt durch unsere<br />
Gliedmaßen nachzuahmen, aufzunehmen. Was tun wir denn<br />
da? Wir tanzen. Sie tanzen in Wirklichkeit; das andere Tanzen<br />
ist nur ein fragmentarisches Tanzen. Alles Tanzen ist davon ausgegangen,<br />
Bewegungen, die die Planeten, die anderen Weltenkörper<br />
ausführen, die die Erde selbst ausführt, in den Bewegungen,<br />
in den Gliederbewegungen der Menschen zur Nachahmung<br />
zu bringen.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Aber wie ist denn das nun mit dem Kopfe und mit der Brust,<br />
wenn wir die kosmischen Bewegungen tanzend nachbilden in<br />
unseren Bewegungen als Mensch? Sehen Sie, da ist es so, im<br />
Kopfe und in der Brust, als wenn sich die Bewegungen, die wir<br />
in der Welt ausführen, stauen würden. Sie können sich nicht<br />
fortsetzen durch die Brust in den Kopf hinein, denn der Kerl<br />
ruht auf den Schultern, der lässt die Bewegungen nicht sich<br />
fortsetzen in die Seele hinein. Die Seele muss in Ruhe an den<br />
Bewegungen teilnehmen, weil der Kopf auf den Schultern ruht.<br />
Was tut sie daher? Sie fängt an, von sich aus dasjenige zu reflektieren,<br />
was die Glieder tanzend ausführen. Sie fängt an zu<br />
brummen, wenn die Glieder unregelmäßige Bewegungen ausführen;<br />
sie fängt an zu lispeln, wenn die Glieder regelmäßige<br />
Bewegungen ausführen, und sie fängt gar an zu singen, wenn<br />
die Glieder ausführen die harmonischen kosmischen Bewegungen<br />
des Weltalls. So setzt sich um die tanzende Bewegung nach<br />
außen in den Gesang und in das Musikalische nach innen.<br />
Die Sinnesphysiologie wird es, wenn sie den Menschen nicht als<br />
kosmisches Wesen nimmt, nie dahin bringen, die Empfindung<br />
zu begreifen; sie wird immer sagen: Draußen sind die Bewegungen<br />
der Luft, im Inneren nimmt der Mensch den Ton wahr. Wie<br />
die Bewegungen der Luft mit dem Ton zusammenhängen, das<br />
kann man nicht wissen. - Das steht in den Physiologien und in<br />
den Psychologien, in den einen am Ende, in den anderen am<br />
Anfang; das ist der ganze Unterschied.<br />
Woher rührt denn das? Das rührt davon her, dass die Leute, die<br />
Psychologie oder Physiologie ausüben, nicht wissen, dass das,<br />
was der Mensch äußerlich in Bewegungen hat, im Inneren der<br />
Seele zur Ruhe gebracht wird und dadurch anfängt, in Töne<br />
überzugehen. Und so ist es mit allen anderen Sinnesempfindungen<br />
auch. Weil die Hauptesorgane nicht mitmachen die äußeren<br />
Bewegungen, strahlen sie diese Bewegung in die Brust zurück<br />
und machen sie zum Ton, zur anderen Sinnesempfindung.<br />
Da liegt der Ursprung der Empfindungen. Da liegt aber auch der<br />
Zusammenhang der Künste. Die musischen, die musikalischen<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Künste entstehen aus den plastischen und architektonischen<br />
Künsten, indem das, was plastische und architektonische Künste<br />
nach außen sind, die musikalischen Künste nach innen sind. Die<br />
Reflexion der Welt von innen nach außen, das sind die musikalischen<br />
Künste. - So steht der Mensch drinnen im Weltenall.<br />
Empfinden Sie eine Farbe als zur Ruhe gekommene Bewegung.<br />
Die Bewegung nehmen Sie äußerlich nicht wahr, wie wenn Sie<br />
in einem Eisenbahnzug hingestreckt liegen und die Illusion haben<br />
könnten, Sie seien in Ruhe. Sie lassen den Zug draußen sich<br />
bewegen. So lassen Sie Ihren Leib durch feine Bewegungen der<br />
Gliedmaßen, die Sie nicht wahrnehmen, mitmachen die äußere<br />
Welt, und Sie selbst nehmen drinnen die Farben und Töne<br />
wahr. Sie verdanken das dem Umstand, dass Sie Ihr Haupt als<br />
Form tragen lassen in Ruhe von dem Gliedmaßenorganismus.<br />
Ich sagte Ihnen, es ist das, was ich Ihnen da mitteilte, eine gewisse<br />
schwierige Sache. Es ist das aus dem Grunde besonders<br />
schwierig, weil für das Begreifen dieser Dinge ja in unserer Zeit<br />
überhaupt nichts getan wird. Es wird durch alles das, was wir<br />
heute als Zeitbildung aufnehmen, dafür gesorgt dass die Menschen<br />
über so etwas unwissend bleiben, wie es die Dinge sind,<br />
die ich Ihnen heute vorgebracht habe. Was geschieht denn eigentlich<br />
durch unsere heutige Bildung? Ja, der Mensch lernt<br />
wirklich nicht einen Strumpf oder Handschuh ganz kennen,<br />
wenn er ihn nicht einmal auch umdreht, denn er weiß dann<br />
nie, was eigentlich vom Strumpf oder vom Handschuh seine<br />
Haut berührt; er weiß nur dasjenige, was nach außen gewendet<br />
ist. So weiß durch unsere heutige Bildung der Mensch auch nur,<br />
was nach außen gewendet ist. Er bekommt nur Begriffe für den<br />
halben Menschen. Denn nicht einmal die Gliedmaßen kann er<br />
begreifen. Denn die hat schon der Geist umgewendet.<br />
Wir können dasjenige, was wir heute dargestellt haben, auch so<br />
bezeichnen, wir können sagen: Betrachten wir den ganzen, vollen<br />
Menschen, wie er in der Welt vor uns steht, zunächst als<br />
Gliedmaßenmenschen, so zeigt er sich als solcher nach Geist,<br />
Seele und Leib. Betrachten wir ihn als Brustmenschen, so zeigt<br />
153
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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er sich uns als Seele und Leib. Die große Kugel (siehe Zeichnung):<br />
Geist, Leib, Seele; die kleinere Kugel: Leib, Seele; die<br />
kleinste Kugel: bloß Leib. Auf dem Konzil des Jahres 869 haben<br />
die Bischöfe der katholischen Kirche der Menschheit verboten,<br />
etwas über die große Kugel zu wissen. Sie haben dazumal erklärt,<br />
es sei Dogma der katholischen Kirche, dass nur vorhanden<br />
sei die mittlere Kugel und die kleinste Kugel, dass der Mensch<br />
nur bestehe aus Leib und Seele, dass die Seele nur als ihre Eigenschaft<br />
etwas Geistiges enthalte; die Seele sei nach der einen Seite<br />
auch geistartig. Geist gibt es seit dem Jahre 869 für die vom<br />
Katholizismus ausgehende Kultur des Abendlandes nicht mehr.<br />
- Aber mit der Beziehung zum Geiste ist abgeschafft worden die<br />
Beziehung des Menschen zur Welt. Der Mensch ist mehr und<br />
mehr in seine Egoität hineingetrieben worden. Daher wurde die<br />
Religion selbst immer egoistischer und egoistischer, und heute<br />
leben wir in einer Zeit, wo man, ich möchte sagen, wiederum<br />
aus der geistigen Beobachtung heraus die Beziehung des Menschen<br />
zum Geiste und damit zur Welt kennenlernen muss. Wer<br />
hat denn eigentlich die Schuld, dass wir einen naturwissenschaftlichen<br />
Materialismus bekommen haben? Dass wir einen<br />
naturwissenschaftlichen Materialismus bekommen haben, daran<br />
hat die Hauptschuld die katholische Kirche, denn sie hat im<br />
Jahre 869 auf dem Konzil von Konstantinopel den Geist abgeschafft.<br />
Was ist damals eigentlich geschehen? Betrachten Sie<br />
den menschlichen Kopf. Er hat sich innerhalb der Tatsachenwelt<br />
des Weltgeschehens so ausgebildet, dass er heute das älteste<br />
Glied an dem Menschen ist. Der Kopf ist entsprungen zuerst aus<br />
höheren, dann weiter zurückgehend aus niederen Tieren. Mit<br />
Bezug auf unseren Kopf stammen wir ab von der Tierwelt Da ist<br />
nichts zu sagen - der Kopf ist nur ein weiter ausgebildetes Tier.<br />
Wir kommen zur niederen Tierwelt zurück, wenn wir die Ahnen<br />
unseres Kopfes suchen wollen. Unsere Brust ist erst später<br />
dem Kopf angesetzt worden; die ist nicht mehr so tierisch wie<br />
der Kopf. Die Brust haben wir erst in einem späteren Zeitalter<br />
bekommen. Und die Gliedmaßen haben wir Menschen als die<br />
spätesten Organe bekommen; die sind die allermenschlichsten<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Organe. Die sind nicht umgebildet von den tierischen Organen,<br />
sondern die sind später angesetzt. Die tierischen Organe sind<br />
selbständig gebildet aus dem Kosmos zu den Tieren hin, und die<br />
menschlichen Organe sind später selbständig hinzugebildet zu<br />
der Brust. Aber indem die katholische Kirche das Bewusstsein<br />
des Menschen von seiner Beziehung zum Weltall, von der eigentlichen<br />
Natur seiner Gliedmaßen also, hat verbergen lassen,<br />
hat sie nur ein bisschen überliefert den folgenden Zeitaltern von<br />
der Brust und hauptsächlich vom Kopf, vom Schädel. Und da ist<br />
der Materialismus darauf gekommen, dass der Schädel von den<br />
Tieren abstammt. Und nun redet er davon, dass der ganze<br />
Mensch von den Tieren abstammt, während sich die Brustorgane<br />
und die Gliedmaßenorgane erst später hinzugebildet haben.<br />
Gerade indem die katholische Kirche dem Menschen verborgen<br />
hat die Natur seiner Gliedmaßen, seinen Zusammenhang mit<br />
der Welt, hat sie verursacht, dass die spätere materialistische<br />
Zeit verfallen ist in die Idee, die nur für den Kopf eine Bedeutung<br />
hat, die sie aber für den ganzen Menschen anwendet. Die<br />
katholische Kirche ist in Wahrheit die Schöpferin des Materialismus<br />
auf diesem Gebiet der Evolutionslehre. Es geziemt insbesondere<br />
dem heutigen Lehrer der Jugend, solche Dinge zu wissen.<br />
Denn er soll sein Interesse verknüpfen mit dem, was in der<br />
Welt geschehen ist. Und er soll die Dinge, die in der Welt geschehen,<br />
aus den Fundamenten heraus wissen.<br />
Wir haben heute versucht, uns klarzumachen, wie es kommt,<br />
dass unsere Zeit materialistisch geworden ist, indem wir begonnen<br />
haben mit etwas ganz anderem: mit der Kugelform und<br />
Mondenform und mit der Radienform der Gliedmaßen.<br />
Du heißt, wir haben mit dem scheinbar ganz Entgegengesetzten<br />
begonnen, um eine große, gewaltige, kulturhistorische Tatsache<br />
uns klarzumachen. Das ist aber notwendig, dass insbesondere<br />
der Lehrer, der sonst mit dem werdenden Menschen gar nichts<br />
machen kann, die Kulturtatsachen aus den Fundamenten heraus<br />
zu erfassen in der Lage ist. Dann wird er etwas in sich aufnehmen,<br />
was notwendig ist, wenn er aus seinem Inneren heraus<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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durch die un- und unterbewussten Beziehungen zum Kinde in<br />
der richtigen Weise erziehen will. Denn dann wird er vor dem<br />
Menschengebilde die richtige Achtung haben. Er wird in dem<br />
Menschengebilde überall die Beziehungen zur großen Welt sehen.<br />
Er wird anders an dieses menschliche Gebilde herantreten,<br />
als wenn er nur so etwas wie ein besser ausgebildetes<br />
Viehchelchen, einen besser ausgebildeten Tierleib im Menschen<br />
sieht. Heute tritt der Lehrer im Grunde genommen, wenn er<br />
sich auch manchmal in seinem Oberstübchen Illusionen darüber<br />
hingibt, er tritt mit dem deutlichen Bewußt.cin vor den anderen<br />
Menschen hin, dass der aufwachsende Mensch ein kleines<br />
Viehchelchen, ein Tierlein ist, und dass er dieses Tierlein zu<br />
entwickeln hat etwas weiter, als es die Natur schon entwickelt<br />
hat. Anders wird er fühlen, wenn er sagt: Da ist ein Mensch,<br />
von dem gehen Beziehungen aus zur ganzen Welt, und in jedem<br />
einzelnen aufwachsenden Kind habe ich etwas, wenn ich daran<br />
etwas arbeite, tue ich etwas, was in der ganzen Welt eine Bedeutung<br />
hat. Wir sind da im Schulzimmer: in jedem Kinde liegt<br />
ein Zentrum von der Welt aus, vom Makrokosmos aus. Dieses<br />
Schulzimmer ist der Mittelpunkt, ja viele Mittelpunkte für den<br />
Makrokosmos. - Denken Sie sich, lebendig das gefühlt, was das<br />
bedeutet! Wie da die Idee vom Weltenall und seinem Zusammenhang<br />
mit dem Menschen übergeht in ein Gefühl, welches<br />
durchheiligt alle einzelnen Vornahmen des Unterrichtes. Ohne<br />
dass wir solche Gefühle vom Menschen und vom Weltenall haben,<br />
kommen wir nicht dazu, ernsthaftig und richtig zu unterrichten.<br />
In dem Augenblick, wo wir solche Gefühle haben,<br />
übertragen sich diese durch unterirdische Verbindungen auf die<br />
Kinder. Ich habe Ihnen in anderem Zusammenhange gesagt,<br />
dass es auf einen immer wunderbar wirken muss, wenn man<br />
sieht, wie die Drähte in die Erde hinein zu Kupferplatten gehen<br />
und die Erde die Elektrizität ohne Drähte weiterleitet. Gehen<br />
Sie in die Schule hinein nur mit egoistischen Menschengefühlen,<br />
dann brauchen Sie alle möglichen Drähte - die Worte -, um<br />
sich mit den Kindern zu verständigen. Haben Sie die großen<br />
kosmischen Gefühle, wie sie entwickeln solche Ideen, wie wir<br />
156
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
sie eben entwickelt haben, dann geht eine unterirdische Leitung<br />
zu dem Kinde. Dann sind Sie mit den Kindern eins. Darin liegt<br />
etwas von geheimnisvollen Beziehungen von Ihnen zum Schulkinder-<br />
ganzen. Aus solchen Gefühlen heraus muss auch das<br />
aufgebaut sein, was wir Pädagogik nennen. Die Pädagogik darf<br />
nicht eine Wissenschaft sein, sie muss eine Kunst sein. Und wo<br />
gibt es eine Kunst, die man lernen kann, ohne dass man fortwährend<br />
in Gefühlen lebt? Die Gefühle aber, in denen man leben<br />
muss, um jene große Lebenskunst auszuüben, die Pädagogik<br />
ist, diese Gefühle, die man haben muss zur Pädagogik, die feuern<br />
sich nur an an der Betrachtung des großen Weltalls und seines<br />
Zusammenhanges mit dem Menschen.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
ELFTER VORTRAG<br />
2. SEPTEMBER 1919, STUTTGART<br />
Können Sie von dem im vorigen Vortrag geltend gemachten Gesichtspunkte<br />
aus überschauen zunächst wie vom Geiste und von<br />
der Seele aus die menschliche Leibeswesenheit, dann werden<br />
Sie rasch eingliedern können all dasjenige in den Aufbau und<br />
die Entwickelung dieser menschlichen Leibeswesenheit, was Sie<br />
brauchen. Wir werden daher, bevor wir dann in den restlichen<br />
Vorträgen übergehen zu der körperlichen Beschreibung des<br />
Menschen, diese Beleuchtung von der geistig-seelischen Seite<br />
her fortsetzen.<br />
Sie haben ja gestern erkennen können, wie der Mensch dreigegliedert<br />
ist: als Kopfmensch, als Rumpfmensch, als Gliedmaßenmensch.<br />
Und Sie haben gesehen, dass die Beziehungen jedes<br />
dieser drei Glieder zu der Welt des Seelischen und des Geistigen<br />
verschieden sind.<br />
Betrachten wir einmal zunächst die Kopfbildung des Menschen.<br />
Da haben wir ja gestern gesagt: der Kopf ist vorzugsweise Leib.<br />
Den Brustmenschen haben wir als «leibig» und seelisch anzusehen<br />
gehabt. Und den Gliedmaßenmenschen als «leibig», seelisch<br />
und geistig. Aber damit ist natürlich die Kopfwesenheit nicht<br />
erschöpft, wenn wir sagen: der Kopf ist vorzugsweise Leib. Es ist<br />
ja schon einmal in der Wirklichkeit so, dass die Dinge nicht<br />
scharf voneinander getrennt sind, und wir dürfen daher ebenso<br />
gut sagen: der Kopf ist nur in anderer Weise seelisch und geistig<br />
als die Brust und die Gliedmaßen. Der Kopf ist schon, wenn der<br />
Mensch geboren wird, vorzugsweise Leib, das heißt, es hat sich<br />
gewissermaßen dasjenige, was ihn als Kopf zunächst zusammensetzt,<br />
in der Form des leiblichen Kopfes ausgeprägt. Daher sieht<br />
der Kopf so aus - er ist ja auch das erste, was sich in der menschlichen<br />
Embryonalentwickelung ausbildet , dass das allgemein<br />
Menschliche geistig-seelisch zunächst im Kopfe zum Vorschein<br />
158
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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kommt. Welche Beziehung hat der Leib Kopf zu dem Seelischen<br />
und zu dem Geistigen? Weil der Kopf ein möglichst schon vollkommen<br />
ausgebildeter Leib ist, weil er alles, was zur Ausbildung<br />
notwendig ist, durch das Tierische zum Menschen hindurch<br />
schon durchgemacht hat in früheren Entwickelungsstadien,<br />
deshalb kann er in leiblicher Beziehung am vollkommensten<br />
ausgebildet sein. Das Seelische ist so verbunden mit diesem<br />
Kopfe, dass das Kind, indem es geboren wird und auch noch<br />
während es sich entwickelt in den ersten Lebensjahren, im Kopfe<br />
alles Seelische träumt. Und der Geist schläft im Kopfe.<br />
Jetzt haben wir eine merkwürdige Zusammengliederung von<br />
Leib, Seele und Geist im menschlichen Haupte. Wir haben einen<br />
sehr, sehr ausgebildeten Leib als Kopf. Wir haben darin eine<br />
träumende Seele, eine deutlich träumende Seele und einen<br />
noch schlafenden Geist. Nun handelt es sich darum, mit der<br />
ganzen Entwickelung des Menschen diese eben charakterisierte<br />
Tatsache in Einklang zu sehen. Diese Entwickelung ist ja bis<br />
zum Zahnwechsel hin so, dass der Mensch vorzugsweise ein<br />
nachahmendes Wesen ist. Es tut der Mensch alles dasjenige, was<br />
er seiner Umgebung absieht. Dass er das tun kann, verdankt er<br />
eben gerade dem Umstande, dass sein Kopfgeist schläft. Dadurch<br />
kann er mit diesem Kopfgeiste außerhalb des Kopfleibes weilen.<br />
Er kann sich in der Umgebung aufhalten. Denn wenn man<br />
schläft, so ist man mit seinem Geistig-Seelischen außerhalb des<br />
Leibes. Das Kind ist mit seinem Geistig-Seelischen, mit seinem<br />
schlafenden Geiste und mit seiner träumenden Seele außerhalb<br />
des Kopfes. Es ist bei denen, die in seiner Umgebung sind, es<br />
lebt mit denen, die in seiner Umgebung sind. Daher ist das Kind<br />
ein nachahmendes Wesen. Daher entwickelt sich auch aus der<br />
träumenden Seele heraus die Liebe zur Umgebung, vorzugsweise<br />
die Liebe zu den Eltern. Wenn nun der Mensch die zweiten<br />
Zähne bekommt, wenn er den Zahnwechsel durchmacht, so bedeutet<br />
das in seiner Entwickelung eigentlich den letzten Abschluss<br />
der Kopfentwickelung. Wenn der Kopf auch vollständig<br />
schon als Leib geboren wird, so macht er doch eine letzte Entwickelung<br />
erst durch in den ersten sieben Lebensjahren des<br />
159
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Menschen. Was er da durchmacht, das findet seinen Abschluss,<br />
setzt sich gewissermaßen seinen Schlusspunkt mit dem Zahnwechsel.<br />
Was ist denn da eigentlich abgeschlossen? Sehen Sie,<br />
da ist abgeschlossen die Formbildung. Da hat der Mensch dasjenige,<br />
was ihn erhärtet, was ihn vorzugsweise zur Form macht,<br />
in seinen Leib hineingegossen. Sehen wir die zweiten Zähne aus<br />
dem Menschen herauskommen, so können wir sagen: Es ist die<br />
erste Auseinandersetzung mit der Welt vollendet. - Der Mensch<br />
hat dasjenige getan, was zu seiner Formgebung, zu seiner Gestaltung<br />
gehört. Indem der Mensch vom Kopf aus sich in dieser<br />
Zeit seine Form, seine Gestalt eingliedert, geschieht mit ihm als<br />
Brustmensch etwas anderes.<br />
In der Brust, da liegen die Dinge wesentlich anders als für den<br />
Kopf. Die Brust ist ein Organismus, der von vorneherein, wenn<br />
der Mensch geboren wird, leiblich-seelisch ist. Die Brust ist<br />
nicht bloß leiblich wie der Kopf; die Brust ist leiblich-seelisch,<br />
nur den Geist hat sie noch als einen träumenden außer sich.<br />
Wenn wir das Kind also in seinen ersten Jahren beobachten, so<br />
müssen wir die größere Wachheit, die größere Lebendigkeit der<br />
Brustglieder gegenüber den Kopfgliedern scharf ins Auge fassen.<br />
Es wäre durchaus nicht richtig, wenn wir den Menschen zusammengeworfen<br />
als einziges chaotisches Wesen ansehen würden.<br />
Bei den Gliedmaßen liegt die Sache wieder anders. Da ist von<br />
dem ersten Augenblick des Lebens an Geist, Seele und Leib miteinander<br />
innig verbunden; sie durchdringen sich gegenseitig. Da<br />
ist auch das Kind am allerfrühesten ganz wach. Das merken diejenigen,<br />
die das zappelnde, das strampelnde Wesen zu erziehen<br />
haben in den ersten Jahren. Da ist alles wach, nur dass alles<br />
unausgebildet ist. Das ist überhaupt das Geheimnis des Menschen:<br />
sein Kopfgeist ist, wenn er geboren wird, sehr, sehr ausgebildet<br />
schon, aber er schläft. Seine Kopfseele ist, wenn er geboren<br />
wird, sehr ausgebildet, aber sie träumt nur. Sie müssen<br />
erst nach und nach erwachen. Als Gliedmaßenmensch ist der<br />
160
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Mensch, indem er geboren wird, zwar ganz wach, aber noch<br />
unausgebildet, unentwickelt.<br />
Eigentlich brauchen wir nur den Giiedmaßenmenschen auszubilden<br />
und einen Teil des Brustmenschen. Denn der Gliedmaßenmensch<br />
und der Brustmensch, die haben dann die Aufgabe ,<br />
den Kopfmenschen aufzuwecken, so dass Sie also hier eigentlich<br />
erst die wirkliche Charakteristik des Erziehens und Unterrichtens<br />
bekommen. Sie entwickeln den Gliedmaßenmenschen und<br />
einen Teil des Brustmenschen, und Sie lassen von dem Gliedmaßenmenschen<br />
und einem Teil des Brustmenschen den anderen<br />
Teil des Brustmenschen und den Kopfmenschen aufwecken.<br />
Daraus sehen Sie, dass Ihnen das Kind schon etwas Beträchtliches<br />
entgegenbringt. Es bringt Ihnen das entgegen, was<br />
es in seinem vollkommenen Geiste und in seiner relativ vollkommenen<br />
Seele durch die Geburt trägt. Und Sie haben nur<br />
auszubilden dasjenige, was es Ihnen entgegen bringt an unvollkommenem<br />
Geist und noch unvollkommenerer Seele.<br />
Wenn das anders wäre, dann wäre das Erziehen, das wirkliche<br />
Erziehen und Unterrichten überhaupt unmöglich. Denn denken<br />
Sie, wenn wir den ganzen Geist, den ein Mensch mit auf die<br />
Welt bringt in der Anlage, heranerziehen und<br />
heranunterrichten wollten, dann müssten wir ja immer als Erzieher<br />
vollkommen gewachsen sein dem, was aus einem Menschen<br />
werden kann. Nun, da könnten Sie bald das Erziehen aufgeben,<br />
denn Sie könnten ja nur so gescheite und so geniale<br />
Menschen heranerziehen, als Sie selber sind. Sie kommen<br />
selbstverständlich in die Lage, viel gescheitere und viel genialere<br />
Menschen heranerziehen zu müssen auf irgendeinem Gebiete,<br />
als Sie selber sind. Das ist nur möglich, weil wir es in der Erziehung<br />
eben nur mit einem Teil des Menschen zu tun haben; mit<br />
jenem Teil des Menschen, den wir auch dann heranerziehen<br />
können, wenn wir nicht so gescheit und nicht so genial sind<br />
und vielleicht nicht einmal 50 gut sind, als er selbst zur Genialität,<br />
zur Gescheitheit, zur Güte veranlagt ist. Dasjenige, was Wir<br />
als das Beste der Erziehung bewirken können, das ist eben die<br />
161
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Willenserziehung und ein Teil der Gemütserziehung. Denn das,<br />
was wir durch den Willen erziehen, das heißt durch die Gliedmaßen,<br />
was wir durch das Gemüt erziehen, das heißt durch einen<br />
Teil des Brustmenschen, das können wir bis zu dem Grade<br />
von Vollkommenheit bringen, den wir selbst haben. Und wie<br />
sich schließlich nicht nur der Diener, sondern auch die<br />
Weckeruhr abrichten lässt, einen viel gescheiteren Menschen<br />
als er selbst ist, aufzuwecken, so kann auch ein viel weniger genialer<br />
und sogar viel weniger guter Mensch einen Menschen<br />
erziehen, der zu besserem als er selbst veranlagt ist. Allerdings,<br />
darüber werden wir uns klar sein müssen, dass mit Bezug auf<br />
alles Intellektuelle wir dem sich entwickelnden Menschen<br />
durchaus nicht gewachsen zu sein brauchen; dass wir aber, weil<br />
es auf die Willensentwickelung ankommt - wie wir jetzt auch<br />
aus diesem Gesichtspunkte sehen -, in dem Gutsein alles mögliche<br />
anstreben müssen, was wir nur anstreben können. Der Zögling<br />
kann besser werden als wir selber, wird es aber höchstwahrscheinlich<br />
nicht, wenn nicht zu unserer Erziehung eine<br />
andere durch die Welt oder durch andere Menschen dazukommt.<br />
Ich habe Ihnen in diesen Vorträgen angedeutet, dass in der<br />
Sprache ein gewisser Genius lebt. Der Genius der Sprache ist,<br />
sagte ich, genial; er ist gescheiter als wir selbst. Wir können viel<br />
lernen von der Art, wie die Sprache gefügt ist, wie die Sprache<br />
ihren Geist enthält.<br />
Aber Genius ist auch noch in anderem in unserer Umgebung, als<br />
in der Sprache. Bedenken wir das, was wir uns eben angeeignet<br />
haben: dass der Mensch eintritt in die Welt mit schlafendem<br />
Geiste, mit träumender Seele in bezug auf den Kopf dass wir also<br />
eigentlich nötig haben, schon von ganz früh ab, von der Geburt<br />
ab, den Menschen durch den Willen zu erziehen, weil wir,<br />
wenn wir nicht durch den Willen auf ihn wirken könnten, wir<br />
an seinen schlafenden Kopfgeist gar nicht herankommen könnten.<br />
Wir würden aber eine große Lücke in der menschlichen<br />
Entwickelung schaffen, wenn wir nicht an seinen Kopfgeist ir-<br />
162
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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gendwie herankommen könnten. Der Mensch würde geboren<br />
werden, sein Kopfgeist wäre schlafend. Wir können noch nicht<br />
das Kind mit den zappelnden Beinen veranlassen, etwa zu turnen<br />
oder Eurythmie zu treiben. Das geht nicht. Wir können<br />
ihm auch noch nicht gut, wenn es erst mit den Beinen zappelt<br />
und höchstens mit dem Munde etwas brüllt, eine musikalische<br />
Erziehung angedeihen lassen. Mit der Kunst können wir auch<br />
noch nicht heran. Wir finden noch nicht eine deutlich ausgesprochene<br />
Brücke von dem Willen zu dem schlafenden Geiste<br />
des Kindes hin. Später, wenn wir irgendwie herankommen an<br />
den Willen des Kindes, dann können wir auf den schlafenden<br />
Geist wirken, wenn wir nur ihm die ersten Worte vorsprechen<br />
können, denn da ist schon ein Angriff auf den Willen da. Dann<br />
setzt sich dasjenige, was wir durch die ersten Worte in den<br />
Stimmorganen loslösen, schon als Willensbetätigung in den<br />
schlafenden Kopfgeist hinein fort und beginnt ihn aufzuwecken.<br />
Aber in der allerersten Zeit haben wir gar keine rechte Brücke<br />
zunächst. Es geht nicht ein Strom hinüber von den Gliedmaßen,<br />
in denen der Wille wach ist, der Geist wach ist, zum schlafenden<br />
0eist des Kopfes. Da braucht es einen anderen Vermitt1er<br />
noch.<br />
Da können wir als menschliche Erzieher in der ersten Zeit des<br />
Menschen nicht viele Mittel schaffen.<br />
Da tritt etwas auf, was auch Genius ist, was auch Geist ist außerhalb<br />
unser. Die Sprache enthält ihren Genius, aber wir können<br />
in den allerersten Zeiten der kindlichen Entwickelung noch<br />
gar nicht an den Sprachgeist appellieren. Aber es enthält die Natur<br />
selber ihren Genius, ihren Geist. Hätte sie ihn nicht, müssten<br />
wir Menschen durch die Lücke, die in unserer Entwickelung<br />
geschaffen wird erzieherisch in den allerersten Kinderzeiten,<br />
wir müssten verkümmern. Da schafft der Genius der Natur<br />
etwas, was diese Brücke bilden kann. Er lässt aus der Gliedmaßenentwickelung<br />
heraus, aus dem Gliedmaßenmenschen heraus<br />
eine Substanz entstehen, welche, weil sie auch mit dem Gliedmaßenmenschen<br />
in ihrer Entwickelung verbunden ist, etwas<br />
163
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
von diesem Gliedmaßenmenschen in sich hat - das ist die Milch.<br />
Die Milch entsteht ja im weiblichen Menschen zusammenhängend<br />
mit den oberen Gliedmaßen, mit den Armen. Die milcherzeugenden<br />
Organe sind gleichsam dasjenige, was sich nach innen<br />
von den Gliedmaßen aus fortsetzt. Die Milch ist im Tier-<br />
und Menschenreich die einzige Substanz, welche innere Verwandtschaft<br />
hat mit der Gliedmaßenwesenheit, welche gewissermaßen<br />
aus der Gliedmaßenwesenheit heraus geboren ist,<br />
welche daher auch die Kraft der Gliedmaßenwesenheit in sich<br />
noch enthält. Und indem wir dem Kinde die Milch geben, wirkt<br />
die Milch als die einzige Substanz, wenigstens im wesentlichen,<br />
weckend auf den schlafenden Geist. Das ist, meine lieben<br />
Freunde, der Geist, der in aller Materie ist, der sich äußert da,<br />
wo er sich äußern soll. Die Milch trägt ihren Geist in sich, und<br />
dieser Geist hat die Aufgabe, den schlafenden Kindesgeist zu<br />
wecken. Es ist kein bloßes Bild, sondern es ist eine tiefbegründete<br />
naturwissenschaftliche Tatsache, dass der in der Natur sitzende<br />
Genius, der aus dem geheimnisvollen Untergrund der Natur<br />
heraus die Substanz Milch entstehen lässt, der Wecker des<br />
schlafenden Menschengeistes im Kinde ist. Solche tief geheimnisvollen<br />
Zusammenhänge im Weltendasein müssen durchschaut<br />
werden. Dann begreift man erst, was für wunderbare Gesetzmäßigkeiten<br />
in diesem Weltenall eigentlich enthalten sind.<br />
Dann begreift man nach und nach, dass wir eigentlich entsetzlich<br />
unwissend werden, wenn wir uns Theorien ausbilden von<br />
der materiellen Substanz so, als ob diese materielle Substanz nur<br />
ein gleichgültig Ausgedehntes wäre, das in Atome und Moleküle<br />
zerfällt. Nein, das ist diese Materie nicht. Diese Materie ist so<br />
etwas, dass ein solches Glied dieser Materie, wie die Milch, indem<br />
sie erzeugt wird, das innigste Bedürfnis hat, den schlafenden<br />
Menschengeist zu wecken. Wie wir im Menschen und im<br />
Tiere von Bedürfnis reden können, das heißt von der Kraft, die<br />
dem Willen zugrunde liegt, so können wir auch bei der Materie<br />
im allgemeinen von «Bedürfnis» reden. Und wir schauen die<br />
Milch umfassend nur dann an, wenn wir sagen: Die Milch, indem<br />
sie erzeugt wird, begehrt der Auferwecker des kindlichen<br />
164
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Menschengeistes zu sein. So belebt sich alles dasjenige, was in<br />
unserer Umgebung ist, wenn wir es recht anschauen. So kommen<br />
wir eigentlich niemals frei von der Beziehung von allem,<br />
was da ist in der Welt draußen, zum Menschen. Sie sehen daraus,<br />
dass für die erste Zeit der menschlichen Entwickelung gesorgt<br />
ist durch den Genius der Natur selbst. Und wir nehmen,<br />
indem wir das Kind weiterentwickeln und erziehen, dem Genius<br />
der Natur in einer gewissen Weise seine Arbeit ab. Indem wir<br />
beginnen, durch die Sprache und durch unser Tun, welche das<br />
Kind nachmacht, auf das Kind durch den Willen zu wirken, setzen<br />
wir jene Tätigkeit fort, welche wir den Genius der Natur<br />
haben ausführen sehen, indem er das Kind mit der Milch nährt<br />
und den Menschen nur Mittel sein lässt, diese Ernährung auszuführen.<br />
Damit sehen Sie aber auch, dass die Natur natürlich erzieht.<br />
Denn ihre Ernährung durch die Milch ist das erste Erziehungsmittel.<br />
Die Natur erzieht natürlich. Wir Menschen beginnen,<br />
indem wir durch die Sprache und durch unser Tun auf das<br />
Kind erzieherisch wirken, wir Menschen beginnen seelisch zu<br />
erziehen. Daher ist es so wichtig, dass wir im Unterricht und in<br />
der Erziehung uns bewusst werden: wir können eigentlich als<br />
Erzieher und Unterrichter mit dem Kopf selbst nicht allzu viel<br />
anfangen. Der bringt uns das, was er werden soll in der Welt,<br />
schon durch die Geburt in diese Welt herein. Wir können wecken<br />
dasjenige, was in ihm ist, aber wir können es nicht durchaus<br />
in ihn hineinversetzen.<br />
Da beginnt aber natürlich die Notwendigkeit, sich klarzuwerden<br />
darüber, dass nur ganz Bestimmtes durch die Geburt in das<br />
physische Erdendasein hereingebracht werden kann. Was nur<br />
im Laufe der Kulturentwickelung durch äußere Konvention<br />
entstanden ist, damit gibt sich die geistige Welt nicht ab. Das<br />
heißt, unsere konventionellen Mittel zum Lesen, unsere konventionellen<br />
Mittel zum Schreiben - ich habe das von anderen<br />
Gesichtspunkten aus schon ausgeführt , die bringt natürlich das<br />
Kind nicht mit. Die Geister schreiben nicht. Die Geister lesen<br />
auch nicht. In Büchern lesen sie nicht, und mit der Feder<br />
schreiben sie nicht. Das ist nur eine Erfindung der 5piritisten,<br />
165
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
dass die Geister eine menschliche Sprache führen und sogar<br />
schreiben. Dasjenige, was in der Sprache und im Schreiben enthalten<br />
ist, ist Kulturkonvention. Das lebt hier auf der Erde. Und<br />
nur dann, wenn wir nicht bloß diese Kulturkonvention, dieses<br />
Lesen und Schreiben, dem Kinde beibringen durch den Kopf,<br />
sondern wenn wir dem Kinde dieses Lesen und Schreiben beibringen<br />
auch durch Brust und Gliedmaßen, dann tun wir ihm<br />
Gutes.<br />
Natürlich, wenn das Kind sieben Jahre alt geworden ist und zur<br />
Volksschule kommt - wir haben es ja nicht immer in die Wiege<br />
gelegt, sondern es hat etwas getan, es hat sich selbst durch<br />
Nachahmung der Alten fortgeholfen, es hat dafür gesorgt, dass<br />
sein Kopfgeist aufgewacht ist in einer gewissen Beziehung -,<br />
dann können wir das, was es sich selbst im Kopfgeist aufgeweckt<br />
hat, dazu benützen, um ihm Lesen und Schreiben in konventioneller<br />
Weise beizubringen; aber dann beginnen wir, diesen<br />
Kopfgeist durch unseren Einfluss zu schädigen. Deshalb habe<br />
ich Ihnen gesagt: Es darf der Lese- und Schreibunterricht nicht<br />
anders erteilt werden, im guten Unterrichten, als von der Kunst<br />
her. - Die ersten Elemente des Zeichnens und Malens, die ersten<br />
Elemente des Musikalischen, die müssen vorangehen. Denn die<br />
wirken auf den Gliedmaßen- und auf den Brustmenschen und<br />
nur mittelbar auf den Kopfmenschen. Dann aber wecken sie<br />
dasjenige auf, was im Kopfmenschen drinnen ist. Sie maiträtieren<br />
nicht den Kopfmenschen, wie wir ihn malträtieren, wenn<br />
wir bloß das Lesen und Schreiben so, wie sie konventionell geworden<br />
sind, auf intellektuelle Weise dem Kinde beibringen.<br />
Lassen wir das Kind erst zeichnen und dann aus dem, was es gezeichnet<br />
hat, die Schriftformen entwickeln, so erziehen wir es<br />
durch den Gliedmaßenmenschen zum Kopfmenschen hin. Wir<br />
machen dem Kinde vor, sagen wir ein F. Muss es dann das F<br />
anschauen und nachfahren, dann wirken wir im Anschauen zunächst<br />
auf den Intellekt, und dann dressiert sich der Intellekt<br />
den Willen. Das ist der verkehrte Weg. Der richtige Weg ist,<br />
soviel als möglich durch den Willen den Intellekt zu wecken.<br />
Das können wir nur, wenn wir vom Künstlerischen übergehen<br />
166
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
in die intellektuelle Bildung. So müssen wir schon in diesen ersten<br />
Jahren des Unterrichts, wo uns das Kind übergeben wird, so<br />
verfahren, dass wir Schreiben und Lesen in künstlerischer Art<br />
dem Kinde beibringen.<br />
Sie müssen bedenken, dass ja das Kind, während Sie es unterrichten<br />
und erziehen, auch noch etwas anders zu tun hat als<br />
dasjenige, was Sie mit ihm machen. Das Kind hat allerlei zu tun,<br />
was gewissermaßen nur indirekt in Ihr Ressort gehört. Das Kind<br />
muss wachsen. Wachsen muss es, und Sie müssen sich klar darüber<br />
sein, dass, während Sie erziehen und unterrichten, das<br />
Kind richtig wachsen muss. Was heißt das aber? Das heißt: Sie<br />
dürfen durch Ihren Unterricht und durch Ihr Erziehen das<br />
Wachstum nicht stören. Sie dürfen nicht störend in das Wachstum<br />
eingreifen. Sie dürfen nur so erziehen und unterrichten,<br />
dass sie mit diesem Erziehen und Unterrichten neben dem Bedürfnis<br />
des Wachstums einhergehen. Das, was ich jetzt sage, ist<br />
von ganz besonderer Wichtigkeit für die Volksschuljahre. Denn,<br />
ist zunächst die Formbildung da bis zum Zahnwechsel vom<br />
Kopfe ausgehend, so ist während der Volksschulzeit da die Lebensentwickelung,<br />
das heißt, das Wachstum und alles, was damit<br />
zusammenhängt bis zur Geschlechtsreife, also gerade während<br />
der Volksschulzeit. Die Geschlechtsreife bildet erst den<br />
Abschluss der Lebensentwickelung, die von dem Brustmenschen<br />
ausgeht. Sie haben es daher sogar während der<br />
Volksschulentwickelung vorzugsweise mit dem Brustmenschen<br />
zu tun. Sie kommen nicht anders zurecht, als wenn Sie wissen:<br />
während Sie das Kind unterrichten und erziehen, wächst es und<br />
entwickelt sich durch seinen Brustorganismus. Sie müssen gewissermaßen<br />
der Kamerad der Natur werden, denn die Natur<br />
entwickelt das Kind durch die Brustorganisation, durch Atmung,<br />
Ernährung, Bewegung und so weiter. Und Sie müssen ein<br />
guter Kamerad der Naturentwickelung werden. Aber wenn Sie<br />
diese Naturentwickelung gar nicht kennen, wie sollen Sie ein<br />
guter Kamerad der Naturentwickelung werden? Wenn Sie zum<br />
Beispiel gar nicht wissen, wodurch Sie seelisch im Unterricht<br />
oder in der Erziehung das Wachstum verlangsamen oder be-<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
schleunigen, wie können Sie gut erziehen und unterrichten? Bis<br />
zu einem gewissen Grade haben Sie es sogar seelisch in der<br />
Hand, diejenigen Kräfte des Wachstums im heranwachsenden<br />
Kinde zu stören, so dass sie es aufschießen lassen zum Rixen,<br />
was unter Umständen schädlich sein könnte. Bis zu einem gewissen<br />
Grade haben Sie es in der Hand, das Wachstum des Kindes<br />
ungesund zu hemmen, so dass es klein und stupsig bleibt,<br />
allerdings nur bis zu einem gewissen Grade, aber Sie haben es in<br />
der Hand. Sie müssen also Einsieht haben gerade in die Wachstumsverhältnisse<br />
des Menschen. Sie müssen diese Einsicht haben<br />
vom Seelischen und auch vom Leiblichen aus. Wie können<br />
wir nun vom Seelischen aus Einblick haben in die Wachstumsverhältnisse?<br />
Da müssen wir uns eben an eine bessere Psychologie<br />
wenden, als die gewöhnliche Psychologie ist. Die bessere<br />
Psychologie sagt uns, dass mit alledem, was die Wachstumskräfte<br />
des Menschen beschleunigt, was die Wachstumskräfte des<br />
Menschen so gestaltet, dass der Mensch rixig aufschießt, mit<br />
alledem zusammenhängt dasjenige, was in gewisser Beziehung<br />
Gedächtnisbildung ist. Muten wir nämlich dem Gedächtnis zuviel<br />
zu, dann machen wir den Menschen innerhalb gewisser<br />
Grenzen zum schmalaufschießenden Wesen.<br />
Und muten wir der Phantasie zuviel zu, dann halten wir den<br />
Menschen in seinem Wachstum zurück. Gedächtnis und Phantasie<br />
stehen mit den Lebensentfaltungskräften des Menschen in<br />
einem geheimnisvollen Zusammenhang. Und wir müssen uns<br />
die Augen dafür aneignen, diesen Zusammenhängen etwas<br />
Aufmerksamkeit zuzuwenden.<br />
Der Lehrer muss zum Beispiel in der Lage sein, folgendes zu tun:<br />
er muss eine Art zusammenfassenden Blick über seine Schülerzahl<br />
am Beginn des Schuljahres werfen, insbesondere im Beginn<br />
der Lebensepochen, die ich Ihnen angegeben habe, die mit dem<br />
neunten und zwölften Jahr zusammenhängen. Da muss er gewissermaßen<br />
Revue halten über die leibliche Entwickelung,<br />
und er muss sich merken, wie seine Kinder ausschauen. Und<br />
dann am Ende des Schuljahres oder einer anderen Periode muss<br />
168
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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er wiederum Revue halten und die Veränderung sich anschauen,<br />
die sich da vollzogen hat. Und das Ergebnis dieser zwei Revuen<br />
muss das sein, dass er weiß: das eine Kind ist nicht so gut<br />
gewachsen während der Zeit, wie es hätte wachsen sollen; das<br />
andere ist ein Stück aufgeschossen. Dann muss er sich fragen:<br />
Wie richte ich im nächsten Schuljahr oder in der nächsten<br />
Schulperiode das Gleichgewicht zwischen Phantasie und Gedächtnis<br />
ein, damit ich der Anomalie entgegenarbeite?<br />
Sehen Sie, deshalb ist es auch so wichtig, dass man die Schüler<br />
behält durch alle Schuljahre hindurch, und deshalb ist es eine so<br />
wahnsinnige Einrichtung, jedes Jahr die Schüler einem anderen<br />
Lehrer in die Hand zu geben. Aber die Sache ist auch umgekehrt.<br />
Der Lehrer lernt nach und nach im Beginn des Schuljahres<br />
und am Anfang der Entwickelungsepochen (siebenten,<br />
neunten, zwölften Jahr) seine Schüler kennen. Er lernt solche<br />
Schüler kennen, die ausgesprochen den Typus von Phantasiekindern<br />
haben, die alles umgestalten. Und er lernt solche Schüler<br />
kennen, die ausgesprochen den Typus von Gedächtniskindern<br />
haben, die sich gut alles merken können. Auch damit muss<br />
sich der Lehrer bekanntmachen. Er macht sich ja bekannt durch<br />
die beiden Revuen, die ich angeführt habe. Aber er muss diese<br />
Bekanntschaft noch in der Weise ausbauen, dass er nicht nur<br />
durch das Wachstum äußerlich-leiblich, sondern wiederum<br />
durch Phantasie und Gedächtnis selbst kennenlernt, ob das Kind<br />
droht, zu schnell aufzuschießen - das würde es tun, wenn es ein<br />
zu gutes Gedächtnis hat -, oder ob es droht, zu untersetzt zu<br />
werden, wenn es zuviel Phantasie hat. Man muss nicht nur<br />
durch allerlei Redensarten und Phrasen den Zusammenhang<br />
von Leib und Seele anerkennen, sondern man muss auch im<br />
werdenden Menschen das Zusammenwirken von Leib und Seele<br />
und Geist beobachten können. Phantasievolle Kinder wachsen<br />
anders, als gedächtnisbegabte Kinder wachsen.<br />
Heute ist für die Psychologen alles fertig; das Gedächtnis ist da,<br />
das wird dann in den Psychologien beschrieben; die Phantasie<br />
ist da, die wird dann beschrieben; während in der wirklichen<br />
169
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Welt alles in gegenseitiger Beziehung ist. Und wir lernen diese<br />
gegenseitigen Beziehungen nur kennen, wenn wir uns auch ein<br />
bisschen anbequemen mit unserer Auffassungsgabe diesen gegenseitigen<br />
Beziehungen. Das heißt, wenn wir diese Auffassungsgabe<br />
nicht so gebrauchen, dass wir alles richtig definieren<br />
wollen, sondern dass wir diese Auffassung selbst beweglich machen,<br />
so dass sie das, was sie erkannt hat, auch wiederum ändern<br />
kann, innerlich, begrifflich ändern kann.<br />
Sie sehen, das Geistig-Seelische führt von selbst hinüber ins<br />
Körperlich-Leibliche. Es führt sogar in dem Grade hinüber, dass<br />
wir sagen können: Durch Leibeseinwirkung, durch die Milch,<br />
erzieht der Genius der Natur in der allerersten Zeit das Kind. So<br />
erziehen wir dann, indem wir Kunst volksschulmäßig dem Kinde<br />
einträufeln, von dem Zahnwechsel ab das Kind. Und indem<br />
das Ende der Volksschulzeit herannaht, ändert sich das wieder<br />
in einer gewissen Weise. Da schillert schon immer mehr und<br />
mehr hinein aus der späteren Zeit die selbständige Urteilskraft,<br />
das Persönlichkeitsgefühl, der selbständige Willensdrang. Dem<br />
tragen wir Rechnung, indem wir den Lehrplan so ausgestalten,<br />
dass wir das, was da hereinkommen soll. auch wirklich benützen.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
ZWÖLFTER VORTRAG<br />
3. SEPTEMBER 1919, STUTTGART<br />
Wenn wir den menschlichen Leib betrachten, müssen wir ihn<br />
in Beziehung bringen zu unserer physisch-sinnlichen Umwelt,<br />
denn mit der steht er in einem fortwährenden Wechselverhältnis,<br />
durch die wird er unterhalten. Wenn wir hinausblicken in<br />
unsere physisch-sinnliche Umwelt, dann nehmen wir in dieser<br />
physisch-sinnlichen Umwelt wahr mineralische Wesen, pflanzliche<br />
Wesen, tierische Wesen. Mit den Wesen des Mineralischen,<br />
des Pflanzlichen, des Tierischen ist unser physischer Leib<br />
verwandt. Aber die besondere Art der Verwandtschaft wird<br />
nicht ohne weiteres durch eine Oberflächenbetrachtung klar,<br />
sondern es ist notwendig, da tiefer in das Wesen der Naturreiche<br />
überhaupt einzudringen, wenn man die Wechselbeziehung<br />
des Menschen mit seiner physisch-sinnlichen Umgebung kennenlernen<br />
will.<br />
Wir nehmen am Menschen, insofern er physisch-leiblich ist,<br />
wahr zunächst sein festes Knochengerüst, seine Muskeln. Wir<br />
nehmen dann, wenn wir weiter in ihn eindringen, den Blutkreislauf<br />
wahr mit den Organen, die zum Blutkreislauf gehören.<br />
Wir nehmen die Atmung wahr. Wir nehmen die Ernährungsvorgänge<br />
wahr. Wir nehmen wahr, wie aus den verschiedensten<br />
Gefäßformen - wie man es in der Naturlehre nennt - die Organe<br />
sich herausbilden. Wir nehmen wahr Gehirn und Nerven, die<br />
Sinnesorgane, und es entsteht die Aufgabe, diese verschiedenen<br />
Organe des Menschen und die Vorgänge, die sie vermitteln, in<br />
die äußere Welt, in der er drinnensteht, hineinzugliedern.<br />
Gehen wir da aus von demjenigen, was am Menschen zunächst<br />
als das vollkommenste erscheint - wie es sich in Wirklichkeit<br />
damit verhält, haben wir ja schon gesehen , gehen wir aus von<br />
seinem Gehirn-Nervensystem, das sich zusammengliedert mit<br />
den Sinnesorganen. Wir haben ja darin diejenige Organisation<br />
171
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
des Menschen, die die längste zeitliche Entwickelung hinter<br />
sich hat, so dass sie hinausgeschritten ist über die Form, welche<br />
die Tierwelt entwickelt hat. Der Mensch ist gewissermaßen<br />
durchgeschritten durch die Tierwelt in bezug auf dieses sein eigentliches<br />
Hauptsystem, und er ist hinweggeschritten über das<br />
Tiersystem zu dem eigentlich menschlichen System, das ja am<br />
deutlichsten in der Hauptesbildung zum Ausdruck kommt.<br />
Nun haben wir gestern davon gesprochen, inwiefern unsere<br />
Hauptesbildung an der individuellen menschlichen Entwickelung<br />
teilnimmt, inwiefern die Formung, die Gestaltung des<br />
menschlichen Leibes ausgeht von den Kräften, die im Haupte,<br />
im Kopfe veranlagt sind. Und wir haben gesehen, dass gewissermaßen<br />
dem Kopfwirken eine Art Schlusspunkt gesetzt wird<br />
mit dem Zahnwechsel gegen das siebente Jahr zu. Wir sollten<br />
uns klar werden, was da eigentlich geschieht, indem der<br />
menschliche Kopf in Wechselwirkung steht mit den Brustorganen<br />
und mit den Gliedmaßenorganen. Wir sollten die Frage beantworten:<br />
Was tut denn eigentlich der Kopf indem er seine<br />
Arbeit verrichtet in Zusammenhang mit dem BrustRumpfsystem<br />
und dem Gliedmaßensystem? Er formt, er gestaltet fortwährend.<br />
Unser Leben besteht eigentlich darin, dass in den ersten<br />
sieben Lebensjahren eine starke Gestaltung ausgeht, die sich<br />
auch bis in die physische Form hineinergießt, dass dann aber<br />
der Kopf immer noch nachhilft, die Gestalt erhält, die Gestalt<br />
durchseelt, die Gestalt durchgeistigt.<br />
Der Kopf hängt mit der Gestaltbildung des Menschen zusammen.<br />
Ja aber - bildet der Kopf unsere eigentliche Menschengestalt?<br />
Das tut er nämlich nicht. Sie müssen sich schon bequemen<br />
zu der Anschauung, dass der Kopf fortwährend im geheimen<br />
etwas anderes aus Ihnen machen will, als Sie sind. Da gibt es<br />
Augenblicke, in denen Sie der Kopf so gestalten möchte, dass Sie<br />
aussehen wie ein Wolf. Da gibt es Augenblicke, in denen Sie der<br />
Kopf so gestalten möchte, dass Sie aussehen wie ein Lamm, dann<br />
wiederum, dass Sie aussehen wie ein Wurm; zum Wurm, zum<br />
Drachen möchte er Sie machen. All die Gestaltungen, die ei-<br />
172
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
gentlich Ihr Haupt mit Ihnen vorhat, die finden Sie ausgebreitet<br />
draußen in der Natur in den verschiedenen Tierformen. Schauen<br />
Sie das Tierreich an, so können Sie sich sagen: Das bin ich<br />
selbst, nur erweist mir mein Rumpfsystem und mein Gliedmaßensystem<br />
die Gefälligkeit, fortwährend, indem vom Kopf ausgeht<br />
zum Beispiel die Wolfsgestalt, diese Wolfsgestalt umzuwandeln<br />
zur Menschenform. Sie überwinden den sich fortwährend<br />
das Animalische. Sie bemächtigen sich seiner so, dass Sie es<br />
in sich nicht ganz zum Dasein kommen lassen, sondern es<br />
metamorphosieren, umgestalten. Es ist also der Mensch durch<br />
sein Kopfsystem mit der tierischen Umwelt in einer Beziehung,<br />
aber so, dass er in seinem leiblichen Schaffen über diese tierische<br />
Umwelt fortwährend hinausgeht. Was bleibt denn da eigentlich<br />
in Ihnen? Sie können einen Menschen anschauen. Stellen<br />
Sie sich den Menschen vor. Sie können die interessante Betrachtung<br />
anstellen, dass Sie sagen: Da ist der Mensch. Oben hat<br />
er seinen Kopf. Da bewegt sich eigentlich ein Wolf, aber es wird<br />
kein Wolf; er wird gleich durch den Rumpf und die Gliedmaßen<br />
aufgelöst. Da bewegt sich eigentlich ein Lamm; es wird<br />
durch den Rumpf und die Gliedmaßen aufgelöst.<br />
Fortwährend bewegen sich da übersinnlich die tierischen Formen<br />
im Menschen und werden aufgelöst. Was wäre es denn,<br />
wenn es einen übersinnlichen Photographen gäbe, der diesen<br />
Prozess festhielte, der also diesen ganzen Prozess auf die Photographenplatte<br />
oder auf fortwährend wechselnde Photographenplatten<br />
brächte? Was würde man denn da auf der Photographenplatte<br />
sehen? Die Gedanken des Menschen würde sehen.<br />
Diese Gedanken des Menschen sind nämlich das übersinnliche<br />
Korrelat desjenigen, was sinnlich nicht zum Ausdruck kommt.<br />
Sinnlich kommt nicht zum Ausdruck diese fortwährende Metamorphose<br />
aus dem Tierischen, vom Kopfe nach unten strömend,<br />
aber übersinnlich wirkt sie im Menschen als der Gedankenprozess.<br />
Als ein übersinnlich realer Prozess ist das durchaus<br />
vorhanden. Ihr Kopf ist nicht nur der Faulenzer auf den Schultern,<br />
sondern er ist derjenige, der Sie eigentlich gerne in der<br />
Tierheit erhalten möchte. Er gibt Ihnen die Formen des ganzen<br />
173
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Tierreiches, er möchte gerne, dass fortwährend Tierreiche entstehen.<br />
Aber Sie lassen es durch Ihren Rumpf und die Gliedmaßen<br />
nicht dazu kommen, dass durch Sie ein ganzes Tierreich im<br />
Laufe Ihres Lebens entsteht, sondern Sie verwandeln dieses<br />
Tierreich in Ihre Gedanken. So stehen wir zum Tierreich in Beziehung.<br />
Wir lassen übersinnlich dieses Tierreich in uns entstehen<br />
und lassen es dann nicht zur sinnlichen Wirklichkeit kommen,<br />
sondern halten es im Übersinnlichen zurück. Rumpf und<br />
Gliedmaßen lassen diese entstehenden Tiere in ihr Gebiet nicht<br />
herein. Wenn der Kopf zu sehr die Neigung hat, etwas von diesem<br />
Tierischen zu erzeugen, dann sträubt sich der übrige Organismus,<br />
das aufzunehmen, und dann muss der Kopf zur Migräne<br />
greifen, um es wiederum auszurotten, und zu ähnlichen Dingen,<br />
die sich im Kopfe abspielen.<br />
Auch das Rumpfsystem steht zur Umgebung in Beziehung.<br />
Aber es steht nicht zu dem Tiersystem der Umgebung in Beziehung,<br />
sondern es steht in Beziehung zu dem gesamten Umfang<br />
der Pflanzenwelt. Eine geheimnisvolle Beziehung ist zwischen<br />
dem Rumpfsystem des Menschen, dem Brustsystem und der<br />
Pflanzenwelt. In dem Rumpfsystem, in dem Brustsystem,<br />
Rumpf-Brustsystem spielt sich ja ab das Hauptsächlichste des<br />
Blutkreislaufes, die Atmung, die Ernährung. All diese Prozesse<br />
sind in einer Wechselbeziehung zu dem, was draußen in der<br />
physisch-sinnlichen Natur, in der Pflanzenwelt vor sich geht,<br />
aber in einer sehr eigenartigen Beziehung.<br />
Nehmen wir zunächst die Atmung. Was tut der Mensch, indem<br />
er atmet? Sie wissen, er nimmt den Sauerstoff auf, und er verwandelt<br />
durch seinen Lebensprozess den Sauerstoff, indem er<br />
ihn verbindet mit dem Kohlenstoff, zur Kohlensäure. Der Kohlenstoff<br />
ist im Organismus durch die umgewandelten Ernährungsstoffe.<br />
Dieser Kohlenstoff nimmt den Sauerstoff auf. Dadurch,<br />
dass sich der Sauerstoff mit dem Kohlenstoff verbindet,<br />
entsteht die Kohlensäure. Ja, jetzt wäre eine schöne Gelegenheit<br />
in dem Menschen, wenn er die Kohlensäure da in sich hat, diese<br />
nicht herauszulassen, sondern sie drinnen zu behalten. Und<br />
174
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
wenn er jetzt den Kohlenstoff wiederum loslösen könnte vom<br />
Sauerstoff - ja, was würde denn dann geschehen? Wenn der<br />
Mensch zunächst durch seinen Lebensprozess den Sauerstoff<br />
einatmet und ihn da drinnen sich verbinden lässt mit dem Kohlenstoff<br />
zur Kohlensäure, und wenn der Mensch jetzt in der Lage<br />
wäre, innerlich den Sauerstoff wieder fortzuschaffen, auszuschalten,<br />
aber den Kohlenstoff drinnen zu verarbeiten, was<br />
würde denn da im Menschen entstehen? Die Pflanzenwelt. Im<br />
Menschen würde plötzlich die ganze Vegetation wachsen. Sie<br />
könnte wachsen. Denn wenn Sie die Pflanze ansehen, was tut<br />
sie denn? Die atmet nämlich nicht in derselben regelmäßigen<br />
Weise wie der Mensch den Sauerstoff ein, sondern sie assimiliert<br />
die Kohlensäure. Die Pflanze ist bei Tage erpicht auf die<br />
Kohlensäure, den Sauerstoff gibt sie ab. Es wäre schlimm, wenn<br />
sie es nicht tun würde; wir hätten ihn dann nicht, und auch die<br />
Tiere hätten ihn nicht. Aber den Kohlenstoff behält sie zurück.<br />
Daraus bildet sie sich Stärke und Zucker und alles was in ihr ist;<br />
daraus baut sie sich ihren ganzen Organismus auf. Die Pflanzenwelt<br />
entsteht eben dadurch, dass sie sich aufbaut aus dem<br />
Kohlenstoff, den sich die Pflanzen durch ihre Assimilation absondern<br />
von der Kohlensäure. Wenn Sie die Pflanzenwelt ansehen,<br />
ist sie metamorphosierter Kohlenstoff, der abgesondert ist<br />
aus dem Assimilationsprozess, der dem menschlichen Atmungsprozess<br />
entspricht. Die Pflanze atmet auch etwas, aber das ist<br />
etwas anderes als beim Menschen. Nur eine äußerliche Betrachtung<br />
sagt, die Pflanze atme auch. Sie atmet zwar ein wenig, namentlich<br />
in der Nacht; aber das ist gerade so, wie wenn einer<br />
sagt: Da ist ein Rasiermesser, ich werde Fleisch damit schneiden.<br />
- Der Atmungsprozess ist bei den Pflanzen anders als beim Menschen<br />
und bei den Tieren, wie das Rasiermesser etwas anderes<br />
ist als das Tischmesser. Dem menschlichen Atmungsprozesse<br />
entspricht bei den Pflanzen der umgekehrte Prozess, der Assimilationsprozess.<br />
Daher werden Sie es begreifen: wenn Sie in sich den Prozess<br />
fortsetzen, wodurch Kohlensäure entstanden ist, das heißt,<br />
wenn Sauerstoff wieder weggegeben würde und die Kohlensäu-<br />
175
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
re in Kohlenstoff umgewandelt würde, wie die Natur es draußen<br />
macht - die Stoffe hätten Sie auch dazu in sich - dann<br />
könnten Sie in sich die ganze Vegetation wachsen lassen. Sie<br />
könnten es bewirken, dass Sie plötzlich aufgingen als Pflanzenwelt.<br />
Sie verschwänden und die ganze Pflanzenwelt entstünde.<br />
Diese Fähigkeit ist nämlich im Menschen, dass er fortwährend<br />
eine Pflanzenwelt erzeugt; er lässt es nur nicht dazu kommen.<br />
Sein Rumpfsystem hat stark die Neigung, fortwährend die<br />
Pflanzenwelt zu erzeugen. Kopf und Gliedmaßen lassen es nicht<br />
dazu kommen; sie wehren sich dagegen. Und so treibt der<br />
Mensch die Kohlensäure heraus und lässt das Pflanzenreich in<br />
sich nicht entstehen. Er lässt draußen das Pflanzenreich entstehen<br />
aus der Kohlensäure.<br />
Es ist das eine merkwürdige Wechselbeziehung zwischen dem<br />
Brust-Rumpfsystem und der sinnlich-physischen Umgebung,<br />
dass da draußen das Reich der Vegetabilien ist, und dass der<br />
Mensch fortwährend genötigt ist, damit er nicht zur Pflanze<br />
wird, den Vegetationsprozess nicht in sich aufkommen zu lassen,<br />
sondern wenn er entsteht, ihn gleich nach außen zu schicken.<br />
Wir können also sagen: Mit Bezug auf das Brust-<br />
Rumpfsystem ist der Mensch in der Lage, das Gegenreich des<br />
Pflanzlichen zu schaffen. Wenn Sie sich das Pflanzenreich vorstellen<br />
als positiv, so erzeugt der Mensch das Negativ vom<br />
Pflanzenreich. Er erzeugt gewissermaßen ein umgekehrtes<br />
Pflanzenreich.<br />
Und was ist es denn, wenn das Pflanzenreich in ihm beginnt,<br />
sich schlecht aufzuführen und Kopf und Gliedmaßen nicht die<br />
Kraft haben, sein Entstehen im Keime gleich zu ersticken, es<br />
wegzuschicken? Dann wird der Mensch krank! Und im Grunde<br />
genommen bestehen die inneren Erkrankungen, die herrühren<br />
vom Brust-Rumpfsystem, darin, dass der Mensch zu schwach<br />
ist, um die in ihm entstehende Pflanzlichkeit sogleich zu verhindern.<br />
In dem Augenblick, wo nur ein bisschen in uns entsteht,<br />
was nach dem Pflanzenreich hintendiert, wo wir nicht in<br />
der Lage sind, gleich dafür zu sorgen, dass das, was als Pflanzen-<br />
176
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
reich in uns entstehen will, herauskommt und draußen sein<br />
Reich aufrichtet, in dem Augenblick werden wir krank. So dass<br />
man das Wesen der Erkrankungsprozesse darin suchen muss,<br />
dass Pflanzen im Menschen anfangen zu wachsen. Sie werden<br />
natürlich nicht zu Pflanzen, weil schließlich für die Lilie das<br />
menschliche Innere keine angenehme Umgebung ist. Aber die<br />
Tendenz kann durch eine Schwäche der anderen Systeme sich<br />
ergeben, dass das Pflanzenreich entsteht, und dann wird der<br />
Mensch krank. Richten wir daher unseren Blick auf die ganze<br />
pflanzliche Umwelt unserer menschlichen Umgebung, so müssen<br />
wir uns sagen: In einem gewissen Sinne haben wir in der<br />
pflanzlichen Umwelt auch die Bilder unserer sämtlichen<br />
Krankheiten. Das ist das merkwürdige Geheimnis im Zusammenhang<br />
des Menschen mit der Naturumwelt, dass er nicht nur,<br />
wie wir bei anderen Gelegenheiten ausgeführt haben, in den<br />
Pflanzen zu sehen hat Bilder seiner Entwickelung bis zur Geschlechtsreife,<br />
sondern dass er in den Pflanzen draußen, namentlich<br />
insofern diese Pflanzen in sich die Anlage tragen zum<br />
Fruchtwerden, die Bilder zu sehen hat seiner Erkrankungsprozesse.<br />
Das ist etwas, was vielleicht der Mensch gar nicht gerne<br />
hört, weil er selbstverständlich die Pflanzenwelt ästhetisch liebt<br />
und weil, wenn die Pflanzenwelt ihr Wesen außerhalb des<br />
Menschen entfaltet, der Mensch mit dieser Ästhetik recht hat.<br />
In dem Augenblick aber, wo die Pflanzenwelt innerhalb des<br />
Menschen ihr Wesen entfalten will, in dem Augenblick, wo es<br />
im Menschen anfangen will zu vegetarisieren, in dem Augenblick<br />
wirkt das, was draußen in der farbenschönen Pflanzenwelt<br />
wirkt, im Menschen als Krankheitsursache. Die Medizin wird<br />
dann einmal eine Wissenschaft sein, wenn sie jede einzelne<br />
Krankheit in Parallele bringen wird zu irgendeiner Form der<br />
Pflanzenwelt. Es ist einmal so, dass, indem der Mensch die Kohlensäure<br />
ausatmet, er im Grunde genommen um seines eigenen<br />
Daseins willen die ganze Pflanzenwelt fortwährend ausatmet,<br />
die in ihm entstehen will. Daher braucht es Ihnen auch nicht<br />
verwunderlich zu sein, dass dann, wenn die Pflanze beginnt,<br />
über ihr gewöhnliches Pflanzendasein hinauszugehen und Gifte<br />
177
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
in sich zu erzeugen, dass diese Gifte auch zusammenhängen mit<br />
den Gesundheitsund Erkrankungsprozessen des Menschen.<br />
Aber es hängt ja auch mit dem normalen Ernährungsprozess zusammen.<br />
Ja, meine lieben Freunde, die Ernährung, die sich ebenso vollzieht<br />
im Brust-Rumpfsystem, wenigstens ihrem Ausgangspunkt<br />
nach, wie der Atmungsvorgang, sie muss in einer ganz ähnlichen<br />
Art betrachtet werden wie die Atmung. Bei der Ernährung<br />
nimmt der Mensch auch die Stoffe seiner Umwelt in sich auf,<br />
aber er lässt sie nicht so, wie sie sind; er verwandelt sie. Er verwandelt<br />
sie gerade mit Hilfe des Sauerstoffes der Atmung. Es<br />
verbinden sich die Stoffe, die der Mensch durch seine Ernährung<br />
aufnimmt, nachdem er sie verwandelt hat, mit dem Sauerstoff.<br />
Das sieht so aus wie ein Verbrennungsprozess, und es sieht<br />
aus, als ob der Mensch in seinem Inneren fortwährend brennen<br />
würde. Das sagt auch vielfach die Naturwissenschaft, dass im<br />
Menschen ein Verbrennungsprozess wirke. Es ist aber nicht<br />
wahr. Es ist kein wirklicher Verbrennungsprozess, was da im<br />
Menschen vorgeht, sondern es ist ein Verbrennungsprozess -<br />
beachten Sie das wohl, dem der Anfang und das Ende fehlt. Es<br />
ist bloß die mittlere Stufe des Verbrennungsprozesses; es fehlt<br />
ihm der Anfang und das Ende. Im menschlichen Leibe darf<br />
niemals Anfang und Ende des Verbrennungsprozesses vor sich<br />
gehen, sondern nur das Mittelstück des Verbrennungsprozesses.<br />
Es ist für den Menschen zerstörend, wenn die allerersten Stadien<br />
eines Verbrennungsprozesses, wie er in der Fruchtbereitung<br />
vor sich geht, im menschlichen Organismus vollzogen werden;<br />
zum Beispiel, wenn der Mensch ganz unreifes Obst genießt.<br />
Diesen Anfangsprozess, der der Verbrennung ähnlich ist, den<br />
kann der Mensch nicht durchmachen. Das gibt es nicht in ihm,<br />
das macht ihn krank. Und kann er viel unreifes Obst essen, wie<br />
die starken Landleute zum Beispiel, dann muss er schon sehr,<br />
sehr viel von Verwandtschaft mit der umgebenden Natur haben,<br />
dass er die unreifen Äpfel und Birnen in sich so verdauen kann,<br />
wie er das schon von der Sonne reifgekochte Obst verdaut. Also<br />
nur den mittleren Prozess kann er mitmachen. Von allen Ver-<br />
178
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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brennungsprozessen kann der Mensch im Ernährungsvorgang<br />
nur den mittleren Prozess mitmachen. Wird der Prozess zu seinem<br />
Ende getrieben, kommt es dahin, wohin es zum Beispiel<br />
das reife Obst draußen bringt, dass es fault, das darf der Mensch<br />
nicht mehr mitmachen. Also das Ende darf er auch nicht mitmachen;<br />
da muss er vorher die Ernährungsstoffe ausscheiden.<br />
Der Mensch vollzieht tatsächlich nicht die Naturprozesse so,<br />
wie sie sich in der Umgebung abspielen, sondern er vollzieht<br />
nur das Mittelstück; Anfang und Ende kann er nicht in sich<br />
vollziehen. Und jetzt sehen wir etwas höchst Merkwürdiges.<br />
Betrachten Sie die Atmung. Sie ist das Gegenstück zu alledem,<br />
was in der Pflanzenwelt draußen vor sich geht. Sie ist gewissermaßen<br />
das Anti-Pflanzenreich. Die Atmung des Menschen<br />
ist das Anti-Pflanzenreich, und sie verbindet sich innerlich mit<br />
dem Ernährungsprozess, der ein Mittelstück zu dem Prozess<br />
draußen ist. Sehen Sie, da lebt zweierlei in unserem leiblichen<br />
Brust-Rumpfsystem: dieser Anti-Pflanzenprozess, der sich da<br />
abspielt durch die Atmung, wirkt immer zusammen mit dem<br />
Mittelstück der übrigen Naturprozesse draußen. Das wirkt<br />
durcheinander. Da, sehen Sie, hängen zusammen Seele und<br />
Leib. Da ist der geheimnisvolle Zusammenhang zwischen Seele<br />
und Leib. Indem sich dasjenige, was sich durch den Atmungsprozess<br />
abspielt, verbindet mit den übrigen Naturprozessen, deren<br />
Ausführung nur in ihrem Mittelstück erfolgt, da verbindet<br />
sich das Seelische, das der Anti-Pflanzenprozess ist, mit dem<br />
menschlich gewordenen Leiblichen, das immer das Mittelstück<br />
ist der Naturprozesse. Die Wissenschaft kann lange nachdenken,<br />
welches die Wechselbeziehung zwischenLeib und Seele ist,<br />
wenn sie sie nicht sucht in dem geheimnisvollen Zusammenhange<br />
zwischen dem seelisch gewordenen Atmen und dem leiblich<br />
gewordenen Dasein des Mittelstückes der Naturprozesse.<br />
Diese Naturprozesse entstehen im Menschen nicht und vergehen<br />
im Menschen nicht.<br />
Ihr Entstehen lässt er außerhalb; ihr Vergehen darf erst sein,<br />
wenn er sie ausgeschieden hat. Der Mensch verbindet sich leib-<br />
179
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
lich nur mit einem mittleren Teil der Naturprozesse, und er<br />
durchseelt diese Naturprozesse im Atmungsprozess.<br />
Hier entsteht jenes feine Gewebe von Vorgängen, welches die<br />
Zukunftsmedizin, die Zukunftshygiene ganz besonders wird<br />
studieren müssen. Die Zukunftshygiene wird sich fragen müssen:<br />
Wie wirken im Weltall draußen die verschiedenen Wärmeabstufungen<br />
ineinander? Wie wirkt die Wärme beim Übergang<br />
von einem kühleren Ort zu einem wärmeren und umgekehrt?<br />
Und wie wirkt das, was da draußen wirkt als Wärmevorgang,<br />
im menschlichen Organismus, wenn er in diesen Wärmevorgang<br />
hineingestellt ist? - Ein Zusammenspiel von Luft und<br />
Wasser findet der Mensch im äußeren Vegetationsprozess. Er<br />
wird studieren müssen, wie das auf den Menschen wirkt, wenn<br />
der Mensch da hineingestellt ist und so weiter. Mit Bezug auf<br />
solche Dinge ist die Medizin von heute ein ganz klein wenig im<br />
Anfang, aber kaum noch im Anfang. Die Medizin von heute legt<br />
zum Beispiel viel größeren Wert darauf, dass sie, wenn irgend<br />
so etwas da ist wie eine Krankheitsform, den Krankheitserreger<br />
aus der Bazillen- oder Bakterienform findet. Dann, wenn sie ihn<br />
hat, ist sie zufrieden. Es kommt aber viel mehr darauf an, zu erkennen,<br />
wie es kommt, dass der Mensch imstande ist, in einem<br />
Augenblick seines Lebens ein klein wenig einen Vegetationsprozess<br />
in sich zu entwickeln, so dass die Bazillen darin dann<br />
einen angenehmen Aufenthaltsort wittern. Es kommt darauf an,<br />
dass wir unsere Leibeskonstitution so erhalten, dass für all das<br />
vegetabilische Gezücht kein angenehmer Aufenthaltsort mehr<br />
da ist; wenn wir das tun, dann werden diese Herrschaften nicht<br />
allzu große Verheerungen bei uns selbst anrichten können.<br />
Nun bleibt uns noch die Frage: Wie stehen nun eigentlich Knochengerüst<br />
und Muskeln zum gesamten menschlichen Lebensprozess,<br />
wenn wir den Menschen betrachten leiblich in seiner<br />
Beziehung zur Außenwelt?<br />
Sehen Sie, da kommen wir auf etwas, was Sie unbedingt begreifen<br />
müssen, wenn Sie den Menschen verstehen wollen, worauf<br />
aber in der gegenwärtigen Wissenschaft fast gar nicht gesehen<br />
180
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
wird. Beachten Sie einmal, was geschieht, indem Sie den Arm<br />
beugen. Da bewirken Sie ja durch die Muskelanziehung, die den<br />
Vorderarm beugt einen ganz maschinellen Vorgang. Stellen Sie<br />
sich jetzt vor, das wäre einfach dadurch geschehen, dass Sie zuerst<br />
gehabt hätten eine Stellung wie diese (siehe erste Zeichnung).<br />
Sie würden nun ein Band spannen (c) und würden es zusammenrollen;<br />
dann würde diese Stange diese Bewegung ausführen<br />
(siehe zweite Zeichnung). Es ist eine ganz maschinelle Bewegung.<br />
Solche maschinelle Bewegungen führen Sie auch aus,<br />
wenn Sie Ihr Knie beugen und auch, wenn Sie gehen. Denn<br />
beim Gehen kommt fortwährend die ganze Maschinerie Ihres<br />
Leibes in Bewegung, und fortwährend wirken Kräfte. Es sind<br />
vorzugsweise Hebelkräfte, aber es wirken eben Kräfte. Denken<br />
Sie sich jetzt einmal, Sie könnten durch irgendeinen kniffligen<br />
photographischen Vorgang bewirken, dass, wenn der Mensch<br />
geht, vom Menschen nichts photographiert würde, aber all die<br />
Kräfte, die er anwendet, photographiert würden. Also die Kräfte,<br />
die er anwendet, um das Bein zu heben, es wieder aufzustellen,<br />
das andere Bein nachzusetzen. Vom Menschen würde also<br />
nichts photographiert als nur die Kräfte. Es würde da zunächst,<br />
wenn Sie diese Kräfte sich würden entwickeln sehen, ein<br />
Schatten photographiert und beim Gehen sogar ein ganzes<br />
Schattenband. Sie sind groß im Irrtum, wenn Sie glauben, dass<br />
Sie mit Ihrem Ich in Muskeln und Fleisch leben. Sie leben mit<br />
ihrem Ich, auch wenn Sie wachen, nicht in Muskeln und<br />
181
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Fleisch, sondern Sie leben mit Ihrem Ich hauptsächlich in diesem<br />
Schatten, den Sie da abphotographieren, in den Kräften,<br />
durch die Ihr Leib seine Bewegungen ausführt. So grotesk es Ihnen<br />
klingt: wenn Sie sich setzen, dann drücken Sie Ihren Rücken<br />
an die Stuhllehne an; mit Ihrem Ich leben Sie in der Kraft,<br />
die sich in diesem Zusammendrücken entwickelt. Und wenn Sie<br />
stehen, leben Sie in der Kraft, mit der Ihre Füße auf die Erde<br />
drücken. Sie leben fortwährend in Kräften. Es ist gar nicht<br />
wahr, dass wir in unserem sichtbaren Körper mit unserem Ich<br />
leben. Wir leben mit unserem Ich in Kräften. Unseren sichtbaren<br />
Körper tragen wir nur mit; den schleppen wir nur mit während<br />
unseres physischen Erdenlebens bis zum Tode. Wir leben<br />
aber auch im wachen Zustand lediglich in einem Kräfteleib.<br />
Und was tut denn eigentlich dieser Kraftleib? Er setzt sich fortwährend<br />
eine sonderbare Aufgabe.<br />
Nicht wahr, indem Sie sich ernähren, nehmen Sie auch auf allerlei<br />
mineralische Stoffe. Auch wenn Sie sich nicht stark Ihre<br />
Suppe salzen - das Salz ist ja in den Speisen drinnen - nehmen<br />
Sie mineralische Stoffe auf. Sie haben auch das Bedürfnis, mineralische<br />
Stoffe aufzunehmen. Was tun Sie denn mit diesen mineralischen<br />
Stoffen? Ja, sehen Sie, Ihr Kopfsystem kann nicht<br />
viel mit diesen mineralischen Stoffen anfangen. Ihr Rumpf-<br />
Brust-System auch nicht. Aber Ihr Gliedmaßensystem; das verhindert,<br />
dass diese mineralischen Stoffe in Ihnen die ihnen eigene<br />
Kristallform annehmen. Wenn Sie nicht die Kräfte Ihres<br />
Gliedmaßensystems entwickeln, so würden Sie, wenn Sie Salz<br />
essen, zum Salzwürfel werden. Ihr Gliedmaßensystem, das Knochengerüst<br />
und das Muskelsystem haben die fortwährende Tendenz,<br />
der Mineralbildung der Erde entgegenzuwirken, das<br />
heißt, die Minerale aufzulösen. Die Kräfte, die die Mineralien<br />
auflösen im Menschen, die kommen vom Gliedmaßensystem.<br />
Wenn der Krankheitsprozess über das bloß Vegetative hinausgeht,<br />
das heißt, wenn der Körper die Tendenz hat, nicht nur das<br />
Pflanzliche in sich beginnen zu lassen, sondern auch den mineralischen<br />
Kristallisationsprozess, dann ist eine höhere, sehr zer-<br />
182
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
störerische Form von Krankheit vorhanden, zum Beispiel Zuckerkrankheit.<br />
Dann ist der menschliche Leib nicht in der Lage,<br />
aus der Kraft seiner Gliedmaßen heraus, die er von der Welt<br />
aufnimmt, das Mineral, das er fortwährend auflösen soll, wirklich<br />
aufzulösen. Und wenn heute die Menschen gerade jener<br />
Krankheitsformen, die vielfach von krankhaftem Mineralisieren<br />
im Menschenleibe herrühren, nicht Herr werden können, so<br />
rührt das vielfach davon her, dass wir nicht genügend anwenden<br />
können, die Gegenmittel gegen diese Erkrankungsform, die<br />
wir alle hernehmen müssten aus den Zusammenhängen der<br />
Sinnesorgane oder des Gehirns, der Nervenstränge und dergleichen.<br />
Wir müssten die Scheinstoffe - ich nenne sie aus gewissen<br />
Gründen Scheinstoffe -, die in den Sinnesorganen sind, die in<br />
Gehirn und Nerven sind, diese zerfallende Materie, die müssten<br />
wir in irgendeiner Form verwenden, um solcher Krankheiten<br />
Herr zu werden, wie Gicht, Zuckerkrankheit und dergleichen.<br />
Auf diesem Gebiete kann erst das wirklich der Menschheit Heilsame<br />
erreicht werden, wenn einmal der Zusammenhang des<br />
Menschen mit der Natur ganz durchschaut wird von dem Gesichtspunkte<br />
aus, den ich Ihnen heute angegeben habe.<br />
Der Leib des Menschen wird auf keine andere Weise erklärlich,<br />
als indem man zuerst seine Vorgänge, seine Prozesse kennt, indem<br />
man weiß, dass der Mensch in sich auflösen muss das Mineral,<br />
in sich umkehren muss das Pflanzenreich, über sich hinausführen<br />
muss, das heißt, vergeistigen muss das Tierreich. Und<br />
alles dasjenige, was der Lehrer wissen soll über die Leibesentwickelung,<br />
das hat zur Grundlage eine solche anthropologische,<br />
anthroposophische Betrachtung, wie ich sie hier mit Ihnen angestellt<br />
habe. Was nun pädagogisch darauf aufgebaut werden<br />
kann, das wollen wir morgen weiterbesprechen.<br />
183
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
DREIZEHNTER VORTRAG<br />
4. SEPTEMBER 1919, STUTTGART<br />
Wir können den Menschen in seinem Verhalten zur Außenwelt<br />
begreifen und können Einblick gewinnen, wie wir uns zum<br />
Kinde bezüglich seines Verhaltens zur Außenwelt verhalten<br />
sollen, wenn wir solche Einsichten zugrunde legen, wie wir sie<br />
in diesen Vorträgen uns verschafft haben. Es handelt sich nur<br />
darum, diese Einsichten in entsprechender Weise im Leben anzuwenden.<br />
Bedenken Sie, dass wir geradezu ein zweifaches<br />
Verhalten des Menschen zur Außenwelt ins Auge fassen müssen<br />
dadurch, dass wir sprechen können von einer ganz entgegengesetzten<br />
Gestaltung des Gliedmaßenmenschen zum Kopfmenschen.<br />
Wir müssen uns die schwierige Vorstellung aneignen, dass wir<br />
die Formen des Gliedmaßenmenschen nur begreifen, wenn wir<br />
uns vorstellen, dass die Kopfformen wie ein Handschuh oder<br />
wie ein Strumpf umgestülpt werden. Das, was damit zum Ausdruck<br />
kommt, ist von einer großen Bedeutung im ganzen Leben<br />
des Menschen. Wenn wir es schematisch hinzeichnen, so ist es<br />
so, dass wir uns sagen können: Die Kopfform wird so gebildet,<br />
dass sie gewissermaßen von innen nach außen gedrücktwird,<br />
dass sie aufgeplustert wird von innen nach außen. Wenn wir<br />
uns die Gliedmaßen des Menschen denken, so können wir uns<br />
184
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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vorstellen, dass sie von außen nach innen gedrückt werden,<br />
durch die Umstülpung - das bedeutet sehr viel im Leben des<br />
Menschen - an Ihrer Stirne. Und vergegenwärtigen Sie sich,<br />
dass Ihr inneres Menschliches hinstrebt von innen aus nach Ihrer<br />
Stirne. Besehen Sie sich Ihre innere Handfläche und besehen<br />
Sie sich Ihre innere Fußfläche: es wird auf diese fortwährend<br />
eine Art von Druck ausgeübt, der gleich ist dem Druck, der auf<br />
Ihre Stirne von innen ausgeübt wird, nur in der entgegengesetzten<br />
Richtung. Indem Sie also Ihre Handfläche der Außenwelt<br />
entgegenhalten, indem Sie Ihre Fußsohlenfläche auf den Boden<br />
aufsetzen, strömt von außen durch diese Sohle dasselbe ein, was<br />
von innen strömt gegen die Stirne zu. Das ist eine außerordentlich<br />
wichtige Tatsache. Es ist deshalb so wichtig, weil wir dadurch<br />
sehen, wie es eigentlich mit dem Geistig-Seelischen im<br />
Menschen ist. Dieses Geistig-Seelische, das sehen Sie ja daraus,<br />
ist eine Strömung. Es geht eigentlich dieses Geistig-Seelische als<br />
Strömung durch den Menschen durch. Und was ist denn der<br />
Mensch gegenüber diesem Geistig-Seelischen? Denken Sie sich,<br />
ein Wasserstrom fließt hin und wird durch ein Wehr aufgehalten,<br />
so dass er sich staut und in sich zurückwellt. So übersprudelt<br />
das Geistig-Seelische sich im Menschen. Der Mensch ist ein<br />
Stauapparat für das Geistig-Seelische. Es möchte eigentlich ungehindert<br />
durch den Menschen durchströmen, aber er hält es<br />
zurück und verlangsamt es. Er lässt es in sich aufstauen. Nun ist<br />
aber allerdings diese Wirkung, die ich als Strömung bezeichnet<br />
habe, eine sehr merkwürdige. Ich habe Ihnen diese Wirkung<br />
des Geistig-Seelischen, das da den Menschen durchströmt, als<br />
eine Strömung bezeichnet, aber was ist es eigentlich gegenüber<br />
der äußeren Leiblichkeit? Es ist ein fortwährendes Aufsaugen<br />
des Menschen.<br />
Der Mensch steht der Außenwelt gegenüber. Das Geistig-<br />
Seelische strebt danach, ihn fortwährend aufzusaugen. Daher<br />
blättern wir außen fortwährend ab, schuppen ab. Und wenn der<br />
Geist nicht stark genug ist, müssen wir uns Stücke, wie zum Beispiel<br />
die Fingernägel, abschneiden, weil der Geist sie, von außen<br />
kommend, saugend zerstören will. Er zerstört alles, und der Leib<br />
185
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
hält diese Zerstörung des Geistes auf. Und es muss im Menschen<br />
ein Gleichgewicht geschaffen werden zwischen dem zerstörenden<br />
Geistig-Seelischen und dem fortwährenden Aufbauenden<br />
des Leibes. Es ist eingeschoben in diese Strömung das Brust-<br />
Bauchsystem. Und das Brust-Bauchsystem ist dasjenige, welches<br />
sich entgegenwirft der Zerstörung des eindringenden Geistig-<br />
Seelischen und welches von sich aus den Menschen durchdringt<br />
mit Materiellem. Daraus aber ersehen Sie, dass die Gliedmaßen<br />
des Menschen, die hinausragen über das Brust-Bauchsystem,<br />
wirklich auch das Geistigste sind, denn da in den Gliedmaßen<br />
wird noch am wenigsten der Materie erzeugende Prozess im<br />
Menschen vorgenommen. Nur dasjenige, was vom Bauch-<br />
Brustsystem hineingeschickt wird an Stoffwechselvorgängen in<br />
die Glieder, das macht, dass unsere Glieder materiell sind. Unsere<br />
Glieder sind in hohem Grade geistig, und sie sind es, welche<br />
an unserem Leib zehren, wenn sie sich bewegen. Und der Leib<br />
ist darauf angewiesen, in sich dasjenige zu entwickeln, wozu der<br />
Mensch eigentlich veranlagt ist von seiner Geburt an. Bewegen<br />
sich die Glieder zuwenig, oder bewegen sie sich nicht entsprechend,<br />
dann zehren sie nicht genug am Leibe. Das Brust-<br />
Bauchsystem ist dann in der glücklichen Lage - in der für es<br />
glücklichen Lage -, dass ihm nicht genügend weggezehrt wird<br />
von den Gliedern. Das, was es so übrig behält, verwendet es dazu,<br />
um überschüssige Materialität im Menschen zu erzeugen.<br />
Diese überschüssige Materialität durchdringt dann dasjenige,<br />
was im Menschen veranlagt ist von seiner Geburt aus, was er<br />
also eigentlich haben sollte zu der Leiblichkeit, weil er als seelisch-geistiges<br />
Wesen geboren wird. Es durchdringt das, was er<br />
haben sollte, mit etwas, was er nicht haben sollte, was er nur als<br />
irdischer Mensch hat materiell, was nicht geistig-seelisch veranlagt<br />
ist im wahren Sinne des Wortes; es durchdringt ihn immer<br />
mehr und mehr mit Fett. Wenn aber dieses Fett in abnormer<br />
Weise eingelagert wird in den Menschen, dann stellt sich ja eigentlich<br />
dem geistig-Seelischen Prozess, der als ein Saugprozess,<br />
als ein verzehrender Prozess eindringt, zuviel entgegen, und<br />
dann wird ihm sein Weg erschwert zum Kopfsystem hin. Daher<br />
186
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
ist es nicht richtig, wenn man den Kindern erlaubt, zuviel fetterzeugende<br />
Nahrung zu nehmen. Dadurch wird ihr Kopf abgegliedert<br />
vom Geistig-Seelischen. Denn das Fett legt sich in den<br />
Weg des Geistig-Seelischen, und der Kopf wird leer. Es handelt<br />
sich darum, dass man den Takt entwickelt, so zusammenzuwirken<br />
mit der gesamten sozialen Lage des Kindes, dass das Kind in<br />
der Tat nicht zu fett wird. Später im Leben hängt ja das Fettwerden<br />
von allerlei anderen Dingen ab, aber in der Kindheit hat<br />
man es bei nicht abnorm gebildeten, das heißt besonders<br />
schwach gebildeten Kindern, die, weil sie schwach sind, leicht<br />
fett werden, also bei normal gebildeten Kindern immerhin in<br />
der Hand, nachzuhelfen durch eine entsprechende Ernährung<br />
gegen das zu starke Fettwerden. Aber man wird diesen Dingen<br />
gegenüber nicht die rechte Verantwortlichkeit haben, wenn<br />
man nicht ihre ganz große Bedeutung ermisst; wenn man nicht<br />
ermisst, dass man in dem Fall, wo man dem Kinde erlaubt, zuviel<br />
Fett ansammeln zu lassen, dem Weltenprozess, der etwas<br />
vorhat mit dem Menschen, was er zum Ausdruck bringt dadurch,<br />
dass er sein Geistig-Seelisches durchströmen lässt durch<br />
den Menschen, dass man da diesem Weltenprozess ins Handwerk<br />
pfuscht. Man pfuscht tatsächlich dem Weltenprozess ins<br />
Handwerk, wenn man das Kind zu fett werden lässt.<br />
Denn, sehen Sie, in diesem Haupt des Menschen, da geschieht<br />
etwas höchst Merkwürdiges: indem da sich alles staut im Menschen<br />
von dem Geistig-Seelischen, spritzt es zurück wie das<br />
Wasser, wenn es an ein Wehr kommt. Das heißt, es spritzt dasjenige,<br />
was das Geistig-Seelische von der Materie mitträgt, so<br />
wie der Mississippi den Sand, auch im Inneren des Gehirns zurück,<br />
so dass da sich überschlagende Strömungen im Gehirn<br />
sind, wo das Geistig-Seelische sich staut. Und im zurückschlagen<br />
des Materiellen, da fällt im Gehirn fortwährend Materie in<br />
sich selbst zusammen. Und wenn Materie, die noch vom Leben<br />
durchdrungen ist, in sich selbst zusammenfällt, also so zurückschlägt,<br />
wie ich es Ihnen gezeigt habe, dann entsteht der Nerv.<br />
Der Nerv entsteht immer, wenn vom Geiste durch das Leben<br />
getriebene Materie in sich selbst zusammenfällt und im lebendi-<br />
187
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
gen Organismus drinnen abstirbt. Deshalb ist der Nerv im lebendigen<br />
Organismus drinnen abgestorbene Materie, so dass<br />
sich also das Leben verschiebt, sich in sich selbst staut, Materie<br />
abbröckelt, zusammenfällt. So entstehen Kanäle im Menschen,<br />
die überall hingehen, die ausgefüllt sind von erstorbener Materie,<br />
die Nerven; da kann dann das Geistig- Seelische zurücksprudeln<br />
in den Menschen. Längs der Nerven sprudelt das Geistig-Seelische<br />
durch den Menschen durch, weil das Geistig-<br />
Seelische die zerfallende Materie braucht. Es lässt die Materie an<br />
der Oberfläche des Menschen zerfallen, bringt sie zum Abschuppen.<br />
Dieses Geistig-Seelische lässt sich nur darauf ein, den<br />
Menschen zu erfüllen, wenn in ihm die Materie zuerst erstirbt.<br />
Längs der materiell erstorbenen Nervenbahnen bewegt sich im<br />
Inneren das Geistig-Seelische des Menschen.<br />
Auf diese Weise sieht man hinein in die Art, wie das Geistig-<br />
Seelische eigentlich im Menschen arbeitet. Man sieht es herandringen<br />
von außen, saugende, zehrende Tätigkeit entwickelnd.<br />
Man sieht es eindringen; man sieht, wie es gestaut wird, wie es<br />
zurückbrodelt, wie es die Materie ertötet. Man sieht, wie die<br />
Materie zerfällt in den Nerven und dadurch von innen heraus<br />
das Geistig-Seelische nun auch an die Haut dringen kann, indem<br />
es sich selbst Wege bereitet, durch die es durch kann. Denn<br />
durch das, was organisch lebt, geht das Geistig-Seelische nicht<br />
durch.<br />
Wie können Sie sich denn also das Organische, das Lebendige<br />
vorstellen? Sehen Sie, das Lebendige können Sie sich auch vorstellen<br />
wie etwas, was das Geistig-Seelische aufnimmt, was es<br />
nicht durchlässt. Das Tote, Materielle, das Mineralische können<br />
Sie sich vorstellen wie etwas, was das Geistig-Seelische durchlässt,<br />
so dass Sie eine Art Definition des Leiblich-Lebendigen<br />
und eine Definition des Knöcherig-Nervösen, wie überhaupt des<br />
Mineralisch-Materiellen bekommen können: Das Lebendig-<br />
Organische ist geistundurchlässig; das Physisch-Tote ist geistdurchlässig.<br />
- «Blut ist ein ganz besonderer Saft», denn es ist so<br />
gegenüber dem Geiste, wie undurchsichtige Materie gegenüber<br />
188
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
dem Lichte ist; es lässt den Geist nicht durch, es behält ihn in<br />
sich. Nervensubstanz ist eigentlich auch eine ganz besondere<br />
Substanz. Sie ist wie durchsichtiges Glas gegenüber dem Lichte.<br />
Wie durchsichtiges Glas das Licht durchlässt, so lässt materiell<br />
physische Materie, auch Nervenmaterie, den Geist durch.<br />
Sehen Sie, da haben Sie den Unterschied zwischen zwei Bestandteilen<br />
des Menschen: zwischen dem, was in ihm Mineral<br />
ist, was geistdurchlässig ist, und dem, was in ihm mehr tierisch,<br />
mehr organisch-lebendig ist, was den Geist aufhält in ihm, was<br />
den Geist veranlasst, die Formen hervorzubringen, die den Organismus<br />
gestalten.<br />
Nun folgt aber daraus für die Behandlung des Menschen allerlei.<br />
Wenn der Mensch, sagen wir, körperlich arbeitet, so bewegt er<br />
seine Glieder, das heißt, er schwimmt ganz und gar im Geiste<br />
herum. Das ist nicht der Geist, der sich in ihm schon gestaut<br />
hat; das ist der Geist, der draußen ist. Ob Sie Holz hacken, ob<br />
Sie gehen, wenn Sie nur Ihre Glieder bewegen, indem Sie Ihre<br />
Glieder zur Arbeit bewegen, zur nützlichen oder unnützlichen<br />
Arbeit bewegen, plätschern Sie fortwährend im Geiste herum,<br />
haben es fortwährend mit dem Geiste zu tun. Das ist sehr wichtig.<br />
Und wichtig ist ferner, sich zu fragen: Wenn wir nun geistig<br />
arbeiten, wenn wir denken oder lesen oder dergleichen, wie ist<br />
es dann? - Ja, da haben wir es mit dem Geistig-Seelischen zu<br />
tun, das in uns drinnen ist. Da plätschern nicht wir mit unseren<br />
Gliedern im Geiste, da arbeitet das Geistig-Seelische in uns und<br />
bedient sich fortwährend unseres Leiblichen, das heißt, es<br />
kommt ganz in uns in einem leiblich-körperlichen Prozess zum<br />
Ausdruck. Da wird fortwährend drinnen durch dieses Stauen<br />
Materie in sich zurückgeworfen. Bei der geistigen Arbeit ist unser<br />
Leib in einer übermäßigen Tätigkeit; bei der körperlichen<br />
Arbeit ist dagegen unser Geist in einer übermäßigen Tätigkeit.<br />
Wir können nicht geistig-seelisch arbeiten, ohne dass wir fortwährend<br />
mit unserem Leib innerlich mitarbeiten. Wenn wir<br />
körperlich arbeiten, da ist höchstens, indem wir uns durch die<br />
Gedanken die Richtung zum Gehen geben, durch die Gedanken<br />
189
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
orientierend wirken, unser Geistig-Seelisches im Inneren beteiligt;<br />
aber das Geistig-Seelische von außen ist beteiligt. Wir arbeiten<br />
fortwährend in den Geist der Welt hinein. Wir verbinden<br />
uns fort während mit dem Geiste der Welt, indem wir körperlich<br />
arbeiten. Körperliche Arbeit ist geistig, geistige Arbeit<br />
ist leiblich, am und im Menschen. Dieses Paradoxon muss man<br />
sich an eignen und es verstehen, dass körperliche Arbeit geistig<br />
und geistige Arbeit leiblich ist im Menschen und am Menschen.<br />
Der Geist umspült uns, indem wir körperlich arbeiten. Die Materie<br />
ist bei uns tätig, rege, indem wir geistig arbeiten.<br />
Diese Dinge muss man wissen in dem Augenblick, wo man verständnisvoll<br />
denken will über Arbeit, sei es nun geistige oder<br />
leibliche Arbeit, über Erholung und Ermüdung. Man kann nicht<br />
verständig denken über Arbeit und Erholung und Ermüdung,<br />
wenn man nicht das wirklich verständig durchschaut, was wir<br />
eben besprochen haben. Denn denken Sie einmal, meine lieben<br />
Freunde, ein Mensch arbeite zuviel mit seinen Gliedern, er arbeitet<br />
zuviel körperlich, was wird denn das für eine Folge haben?<br />
Das bringt ihn in eine zu große Verwandtschaft mit dem<br />
Geiste. Es umspült ihn ja der Geist fortwährend, wenn er körperlich<br />
arbeitet. Die Folge davon ist, dass der Geist über den<br />
Menschen eine zu große Gewalt gewinnt, der Geist, der von<br />
außen an den Menschen herankommt. Wir machen uns zu geistig,<br />
wenn wir zuviel körperlich arbeiten. Von außen machen<br />
wir uns zu geistig. Die Folge davon ist: wir müssen uns zu lange<br />
dem Geiste übergeben, das heißt, wir müssen zu lange schlafen.<br />
Arbeiten wir zuviel körperlich, so müssen wir zu lange schlafen.<br />
Und zu langer Schlaf fördert wiederum zu stark die leibliche<br />
Tätigkeit, die vom Brust-Bauch- System ausgeht, die nicht vom<br />
Kopfsystem ausgeht. Sie wirkt zu stark das Leben anregend, wir<br />
werden zu fiebrig, zu heiß. Das Blut wallt zu sehr in uns, es<br />
kann nicht verarbeitet werden in seiner Tätigkeit im Leibe,<br />
wenn wir zuviel schlafen. Demnach erzeugen wir die Lust, zuviel<br />
zu schlafen, durch übermäßige körperliche Arbeit.<br />
190
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
Aber die Trägen, die schlafen doch so gerne und schlafen so viel;<br />
woher kommt denn das? Ja, das kommt davon her, dass der<br />
Mensch eigentlich gar nicht die Arbeit unterlassen kann. Er<br />
kann sie gar nicht unterlassen. Der Träge hat seinen Schlaf nicht<br />
davon, weil er zu wenig arbeitet, denn der Träge muss ja auch<br />
den ganzen Tag seine Beine bewegen, und irgendwie fuchtelt er<br />
doch mit seinen Armen herum. Er tut auch etwas, der Träge; er<br />
tut eigentlich, äußerlich angeschaut, gar nicht weniger als der<br />
Fleißige, aber er tut es sinnlos. Der Fleißige wendet sich an die<br />
Außenwelt; er verbindet mit seinen Tätigkeiten einen Sinn.<br />
Und das ist der Unterschied. Sinnloses Sich-Betätigen, wie es<br />
der Träge tut, das ist dasjenige, was mehr zum Schlaf verleitet,<br />
als sinnvolles Sich-Betätigen. Denn sinnvolles Sich-Betätigen<br />
lässt uns nicht nur im Geiste herumplätschem, sondern indem<br />
wir uns sinnvoll bewegen mit unserer Arbeit, ziehen wir den<br />
Geist auch allmählich hinein. Indem wir die Hand ausstrecken<br />
zu sinnvoller Arbeit, verbinden wir uns mit dem Geiste, und der<br />
Geist braucht wiederum nicht zuviel unbewusst arbeiten im<br />
Schlafe, weil wir bewusst mit ihm arbeiten. Also nicht darauf<br />
kommt es an, dass der Mensch tätig ist, denn das ist auch der<br />
Träge, sondern darauf kommt es an, inwiefern der Mensch<br />
sinnvoll tätig ist. Sinnvoll tätig - diese Worte müssen uns auch<br />
schon durchdringen, indem wir Erzieher des Kindes werden.<br />
Wann ist der Mensch sinnlos tätig? Sinnlos tätig ist er, wenn er<br />
nur so tätig ist, wie es sein Leib erfordert. Sinnvoll tätig ist er,<br />
wenn er so tätig ist, wie es seine Umgebung erfordert, wie es<br />
nicht bloß sein eigener Leib erfordert. Darauf müssen wir beim<br />
Kinde Rücksicht nehmen. Wir können auf der einen Seite die<br />
äußere Leibestätigkeit des Kindes immer mehr und mehr überführen<br />
zu dem, was bloß nach dem Leiblichen hin liegt, nach<br />
dem physiologischen Turnen, wo wir bloß den Leib fragen:<br />
Welche Bewegungen sollen wir ausführen lassen? - Und wir<br />
können die äußere Bewegung des Kindes hinführen zu sinnvollen<br />
Bewegungen, zu sinndurchdrungenen Bewegungen, so dass<br />
es mit seinen Bewegungen nicht plätschert im Geiste, sondern<br />
dem Geiste in seinen Richtungen folgt. Dann entwickeln wir die<br />
191
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Leibesbewegungen hinüber nach der Eurythmie. Je mehr wir<br />
bloß leiblich turnen lassen, desto mehr verleiten wir das Kind<br />
dazu, eine übermäßige Schlafsucht zu entfalten, eine übermäßige<br />
Tendenz nach der Verfettung zu entfalten. Je mehr wir<br />
abwechseln lassen dieses Hinüberschwingen nach dem Leiblichen<br />
- was wir natürlich nicht ganz vernachlässigen dürfen,<br />
weil der Mensch im Rhythmus leben muss -, je mehr wir dieses<br />
Hinüberschwingen nach dem Leibe wiederum zurückschwingen<br />
lassen nach dem sinnvollen Durchdrungensein der Bewegungen<br />
wie in der Eurythmie, wo jede Bewegung einen Laut<br />
ausdrückt wo jede Bewegung einen Sinn hat: je mehr wir abwechseln<br />
lassen das Turnen mit der Eurythmie, desto mehr rufen<br />
wir Einklang hervor zwischen dem Schlaf- und Wachbedürfnis;<br />
desto normaler erhalten wir von der Willensseite her,<br />
von der Außenseite her das Leben auch des Kindes. Dass wir<br />
allmählich auch das Turnen bloß sinnlos gemacht haben, zu einer<br />
Tätigkeit, die bloß dem Leibe folgt, das war eine Begleiterscheinung<br />
des materialistischen Zeitalters. Dass wir es gar erhöhen<br />
wollen zum Sport, wo wir nicht bloß sinnlose Bewegungen,<br />
bedeutungslose, bloß vom Leibe hergenommene Bewegungen<br />
sich auswirken lassen, sondern auch noch den Widersinn, den<br />
Gegensinn hineinlegen - das entspricht dem Bestreben, den<br />
Menschen nicht nur bis zum materiell denkenden Menschen,<br />
sondern ihn herunterzuziehen bis zum viehisch empfindenden<br />
Menschen. Übertriebene Sporttätigkeit ist praktischer Darwinismus.<br />
Theoretischer Darwinismus heißt behaupten, der<br />
Mensch stamme vom Tier ab. Praktischer Darwinismus ist Sport<br />
und heißt, die Ethik aufstellen, den Menschen wiederum zum<br />
Tiere zurückzuführen.<br />
Man muss diese Dinge heute in dieser Radikalität sagen, weil<br />
der heutige Erzieher sie verstehen muss, weil er sich nicht bloß<br />
zum Erzieher der ihm anvertrauten Kinder machen muss, sondern<br />
weil er auch sozial wirken soll, weil er zurückwirken soll<br />
auf die ganze Menschheit, damit nicht solche Dinge mehr und<br />
mehr aufkommen, welche eigentlich auf die Menschheit nach<br />
und nach wirklich vertierend wirken müssen. Das ist nicht fal-<br />
192
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
sche Askese, das ist etwas, was aus dem Objektiven der wirklichen<br />
Einsicht herausgeholt ist, und was durchaus so wahr ist<br />
wie irgendeine andere naturwissenschaftliche Erkenntnis.<br />
Wie ist es denn mit der geistigen Arbeit? Mit der geistigen Arbeit,<br />
also mit Denken, Lesen und so weiter ist es so, dass sie<br />
fortwährend begleitet ist Von leiblich-körperlicher Tätigkeit,<br />
von fortwährendem innerem Zerfall der organischen Materie,<br />
von Totwerden der organischen Materie. Wir haben daher, indem<br />
wir uns zuviel geistig-seelisch beschäftigen, zerfallende organische<br />
Materie in uns. Verbringen wir unseren Tag restlos nur<br />
in gelehrter Tätigkeit, so haben wir am Abend zuviel zerfallene<br />
Materie in uns, zerfallene organische Materie. Die wirkt in uns.<br />
Die stört uns den ruhigen Schlaf. Übertriebene geistig-seelische<br />
Arbeit zerstört ebenso den Schlaf, wie übertriebene körperliche<br />
Arbeit einen schlaftrunken macht. Aber wenn wir uns zu stark<br />
geistig-seelisch anstrengen, wenn wir Schwieriges lesen, so dass<br />
wir beim Lesen auch denken müssen - was ja bei den heutigen<br />
Menschen nicht gerade beliebt ist -, wenn wir also zuviel denkend<br />
lesen wollen, schlafen wir darüber ein. Oder wenn wir<br />
nicht dem wasserklaren Geschwafle der Volksredner oder anderer<br />
Leute zuhören, die nur das sagen, was man schon weiß sondern<br />
wenn wir zuhören denjenigen Leuten, deren Worten man<br />
mit seinem Denken folgen muss, weil sie einem etwas sagen,<br />
was man noch nicht weiß, dann wird man müde und schlaftrunken.<br />
Es ist ja eine bekannte Erscheinung, dass die Menschen,<br />
wenn sie, weil es „sich so gehört“, in Vorträge, in Konzerte<br />
gehen und nicht gewohnt ist, wirklich denkend und empfindend<br />
das zu erfassen, was ihnen geboten wird, beim ersten<br />
Ton oder beim ersten Wort einschlafen. Sie verschlummern oft<br />
den ganzen Vortrag oder das ganze Konzert, dem sie pflichtgemäß<br />
oder standesgemäß beigewohnt haben.<br />
Nun, da ist wiederum ein Zweifaches vorhanden. Wie ein Unterschied<br />
ist zwischen der sinnvollen äußeren Tätigkeit und der<br />
sinnlosen äußeren Geschäftigkeit, so ist auch ein Unterschied<br />
zwischen der mechanisch verlaufenden inneren Denk- und An-<br />
193
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
schauungstätigkeit und zwischen der fortwährend mit Gefühlen<br />
begleiteten inneren Denk- und Anschauungstätigkeit. Wird unsere<br />
geistig-seelische Arbeit so getrieben, dass wir fortwährendes<br />
Interesse mit ihr verbinden, dann belebt das Interesse, belebt<br />
die Aufmerksamkeit unsere Brusttätigkeit und lässt die<br />
Nerven nicht im Übermaße absterben. Je mehr Sie bloß<br />
dahinlesen, je weniger Sie sich bemühen, das Gelesene in sich<br />
mit tiefgehendem Interesse aufzunehmen, desto mehr fördern<br />
Sie das Absterben Ihrer inneren Materie. Je mehr sie mit Interesse,<br />
mit Wärme alles verfolgen, desto mehr fördern Sie die<br />
Bluttätigkeit, das Lebendigerhaltenwerden der Materie, desto<br />
mehr verhindern Sie auch, dass Ihnen die geistige Tätigkeit den<br />
Schlaf stört. Wenn man dem Examen entgegenbüffeln muss -<br />
man kann auch ochsen sagen, je nach dem Klima -, nimmt man<br />
eben viel auf gegen das Interesse. Denn würde man nur nach<br />
seinem Interesse aufnehmen, dann würde man - nach den heutigen<br />
Zeitverhältnissen mindestens - durchfallen. Die Folge ist,<br />
dass einem das Büffeln oder Ochsen zum Examen den Schlaf<br />
zerstört, dass es in unser normales Menschendasein Unordnung<br />
hineinbringt. Das muss insbesondere bei Kindern beachtet werden.<br />
Daher ist es bei Kindern am allerbesten, und es wird dem<br />
Ideal der Erziehung am meisten entsprechen, wenn wir überhaupt<br />
das sich aufstauende Lernen, das immer vor dem Examen<br />
getrieben wird, ganz weglassen, das heißt, die Examina ganz<br />
weglassen; wenn das Ende des Schuljahres geradeso verläuft wie<br />
der Anfang. Wenn wir uns als Lehrer die Verpflichtung auferlegen,<br />
uns zu sagen: Wozu soll denn das Kind geprüft werden?<br />
Ich habe das Kind ja immer vor Augen gehabt und weiß ganz<br />
gut, was es weiß oder nicht weiß. - Natürlich kann das unter<br />
den heutigen Verhältnissen vorläufig bloß ein Ideal sein, wie<br />
ich Sie überhaupt bitte, nicht Ihre Rebellennatur zu stark nach<br />
außen zu kehren. Kehren Sie zunächst dasjenige, was Sie vorzubringen<br />
haben gegen unsere gegenwärtige Kultur, wie Stacheln<br />
nach innen, damit Sie langsam dahin wirken - denn auf diesem<br />
Gebiet können wir nur langsam wirken -, dass die Menschen<br />
194
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
___________________________________________________<br />
anders denken lernen, dann werden auch die äußeren sozialen<br />
Verhältnisse in andere Formen eintreten, als sie jetzt sind.<br />
Aber man muss alles im Zusammenhang denken. Man muss<br />
wissen, dass Eurythmie, von Sinn durchzogene äußere Tätigkeit,<br />
Vergeistigen der körperlichen Arbeit, und Interessant- machen<br />
des Unterrichts in nicht banaler Weise, Beleben - wörtlich genommen<br />
-, Beleben, Durchbluten der intellektuellen Arbeit ist.<br />
Wir müssen die Arbeit nach außen vergeistigen; wir müssen die<br />
Arbeit nach innen, die intellektuelle Arbeit, durchbluten! Denken<br />
Sie über diese zwei Sätze nach, dann werden Sie sehen, dass<br />
der erstere eine bedeutsame erzieherische und auch eine bedeutsame<br />
soziale Seite hat; dass der letztere eine bedeutsame erzieherische<br />
und auch eine bedeutsame hygienische Seite hat.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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VIERZEHNTER VORTRAG<br />
5. SEPTEMBER 1919, STUTTGART<br />
Wenn wir den Menschen in der Art betrachten, wie wir das<br />
bisher zur Ausbildung einer wirklichen pädagogischen Kunst<br />
getan haben, dann fällt uns ja durch das Allerverschiedenste<br />
auch die äußere leibliche Dreigliederung des Menschen in die<br />
Augen. Wir unterscheiden deutlich alles dasjenige, was mit der<br />
Kopfbildung, der Kopfgestaltung des Menschen zusammenhängt<br />
von dem, was mit der Brustbildung und Rumpfbildung überhaupt<br />
zusammenhängt, und wiederum von dem, was mit der<br />
Gliedmaßenbildung zusammenhängt, wobei wir uns aber allerdings<br />
vorzustellen haben, dass die Gliedmaßenbildung viel<br />
komplizierter ist, als man sich gewöhnlich vorstellt, weil das,<br />
was in den Gliedmaßen veranlagt ist und, wie wir gesehen haben,<br />
eigentlich von außen nach innen gebildet ist, sich in das<br />
Innere des Menschen fortsetzt, und wir daher beim Menschen<br />
zu unterscheiden haben dasjenige, was von innen nach außen<br />
gebaut ist und dasjenige, was von außen nach innen gewissermaßen<br />
in den menschlichen Leib hineingeschoben ist.<br />
Wenn wir diese Dreigliederung des menschlichen Leibes ins<br />
Auge fassen, dann wird es uns ganz besonders deutlich werden,<br />
wie das Haupt, der Kopf des Menschen, ein ganzer Mensch<br />
schon ist, ein aus der Tierreihe heraufgehobener ganzer<br />
Mensch.<br />
Wir haben am Kopfe den eigentlichen Kopf. Wir haben am<br />
Kopf den Rumpf: das ist alles dasjenige, was zur Nase gehört.<br />
Und wir haben am Kopf den Gliedmaßenteil, der sich in die<br />
Leibeshöhle fortsetzt: das ist alles dasjenige, was den Mund umschließt.<br />
So dass wir am menschlichen Haupte sehen können,<br />
wie da der ganze Mensch leiblich vorhanden ist. Nur ist die<br />
Brust des Kopfes schon verkümmert. Sie ist so verkümmert, dass<br />
gewissermaßen alles, was zur Nase gehört, nur noch undeutlich<br />
196
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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erkennen lässt, wie es mit dem Lungenartigen zusammenhängt.<br />
Aber es hängt dasjenige, was zur Nase gehört, mit dem Lungenartigen<br />
zusammen. Es ist gewissermaßen diese menschliche Nase<br />
etwas wie eine metamorphosierte Lunge. Sie gestaltet daher<br />
auch den Atmungsprozess so um, dass sie ihn mehr nach dem<br />
Physischen hin ausbildet. Dass Sie die Lunge vielleicht als weniger<br />
geistig ansehen als die Nase, das ist ein Irrtum. Die Lunge ist<br />
kunstvoller gebaut. Sie ist mehr vom Geistigen, wenigstens vom<br />
Seelischen durchdrungen als die Nase, die eigentlich, wenn man<br />
die Sache wirklich richtig auffasst, mit einer großen Unverschämtheit<br />
sich nach außen hin in das menschliche Antlitz<br />
stellt, während die Lunge ihr Dasein, trotzdem sie seelischer ist<br />
als die Nase, viel keuscher verbirgt. Verwandt mit allem, was<br />
dem Stoffwechsel, was der Verdauung und Ernährung angehört<br />
und sich aus den Gliedmaßenkräften in den Menschen herein<br />
fortsetzt, verwandt mit alledem ist dasjenige, was zum menschlichen<br />
Munde gehört, der ja auch seine Verwandtschaft mit der<br />
Ernährung und mit alledem, was zu den menschlichen Gliedmaßen<br />
gehört, nicht verleugnen kann. So ist das Haupt, der<br />
Kopf des Menschen ein ganzer Mensch, bei dem nur das Nichtkopfliche<br />
verkümmert ist. Brust und Unterleib sind am Kopfe,<br />
aber sie sind am Kopfe verkümmert.<br />
Wenn wir im Gegensatz dazu den Gliedmaßenmenschen ansehen,<br />
so ist der in alledem, was er uns äußerlich darbietet, in seiner<br />
äußerlichen gestaltlichen Bildung im wesentlichen die Umgestaltung<br />
der beiden Kinnladen des Menschen, der oberen und<br />
unteren Kinnlade. Was unten und oben Ihren Mund einschließt,<br />
das ist, nur verkümmert, dasjenige, was Ihre Beine und<br />
Füße und Ihre Arme und Hände sind. Nur müssen Sie sich die<br />
Sache richtig gelagert denken. Sie können nun sagen: Wenn ich<br />
mir nun vorstelle, dass meine Arme und Hände seien obere<br />
Kinnlade, meine Beine und Füße untere Kinnlade, dann muss<br />
ich die Frage aufwerfen: Ja, wohin richtet sich denn dasjenige,<br />
was in diesen Kinnladen ausgesprochen ist? Wo beißt es denn?<br />
Wo ist denn der Mund? - Und da müssen Sie sich die Antwort<br />
erteilen: Da, wo Ihr Oberarm auf Ihrem Leib aufsitzt, und da,<br />
197
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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wo Ihre Oberbeine, die Oberschenkelknochen an Ihrem Leibe<br />
aufsitzen. So dass, wenn Sie sich vorstellen wollen, das sei der<br />
menschliche Rumpf (es wird gezeichnet), so müssen Sie sich<br />
vorstellen, da draußen irgendwo sei das eigentliche Haupt; es<br />
öffne nach der oberen Seite den Mund und es öffne nach der<br />
unteren Seite den Mund, so dass Sie sich vorstellen können eine<br />
merkwürdige Tendenz dieses unsichtbaren Kopfes, der seine<br />
Kiefer nach Ihrer Brust und nach Ihrem Bauche hin öffnet.<br />
Was tut denn dieser unsichtbare Kopf? Er frisst Sie ja fortwährend,<br />
er sperrt sein Maul gegen Sie auf. Und hier haben Sie in<br />
der äußeren Gestalt ein wunderbares Bild des Tatsächlichen.<br />
Während der richtige Kopf des Menschen ein leiblichmaterieller<br />
Kopf ist, ist der Kopf, der zu den Gliedmaßen dazugehört,<br />
der geistige Kopf. Aber er wird ein Stückchen materiell,<br />
damit er fortwährend den Menschen verzehren kann.<br />
Und im Tode, wenn der Mensch stirbt, hat er ihn ganz aufgezehrt.<br />
Das ist in der Tat der wunderbare Prozess, dass unsere<br />
Gliedmaßen so gebaut sind, dass sie uns fortwährend aufessen.<br />
Wir schlüpfen fortwährend mit unserem Organismus in den<br />
aufgesperrten Mund unserer Geistigkeit hinein. Das Geistige<br />
verlangt von uns fortwährend das Opfer unserer Hingabe. Und<br />
auch in unserer Leibesgestaltung ist dieses Opfer unserer Hingabe<br />
ausgedrückt. Wir verstehen die menschliche Gestalt nicht,<br />
wenn wir nicht dieses Opfer der Hingabe an den Geist schon<br />
ausgedrückt finden in der Beziehung der menschlichen Glieder<br />
zu dem übrigen menschlichen Leib. So dass wir sagen können:<br />
198
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Kopf- und Gliedmaßennatur des Menschen sind entgegengesetzt,<br />
und die Brust- oder Rumpfnatur des Menschen, die in der<br />
Mitte liegt, ist in gewisser Beziehung dasjenige, was zwischen<br />
diesen beiden Gegensätzen die Waage hält.<br />
In der Brust des Menschen ist in der Tat ebenso viel Kopf- wie<br />
Gliedmaßennatur. Gliedmaßennatur und Kopfnatur vermischen<br />
sich miteinander in der Brustnatur. Die Brust hat nach oben<br />
hin fortwährend die Anlage, Kopf zu werden und nach unten<br />
hin fortwährend die Anlage, den entgegengestreckten Gliedmaßen,<br />
der Außenwelt, sich anzuorganisieren, sich anzupassen,<br />
also, mit anderen Worten, Gliedmaßennatur zu werden. Der<br />
obere Teil der Brustnatur hat fortwährend die Tendenz, Kopf zu<br />
werden, der untere Teil hat fortwährend die Tendenz, Gliedmaßenmensch<br />
zu werden. Also der obere Teil des menschlichen<br />
Rumpfes will fortwährend Kopf werden, er kann es nur nicht.<br />
Der andere Kopf verhindert ihn daran. Daher bringt er nur<br />
fortwährend ein Abbild des Kopfes hervor, man möchte sagen,<br />
etwas, was ausmacht den Beginn der Kopfbildung. Können wir<br />
nicht deutlich erkennen, wie im oberen Teil der Brustbildung<br />
der Ansatz gemacht wird zur Kopfbildung? Ja, da ist der Kehlkopf<br />
da, der ja aus der naiven Sprache heraus sogar Kehlkopf<br />
genannt wird. Der Kehlkopf des Menschen ist ganz und gar ein<br />
verkümmertes Haupt des Menschen, ein Kopf, der nicht ganz<br />
Kopf werden kann und der daher seine Kopfesnatur auslebt in<br />
der menschlichen Sprache. Die menschliche Sprache ist der<br />
fortwährend vom Kehlkopf in der Luft unternommene Versuch,<br />
Kopf zu werden. Wenn der Kehlkopf versucht, der oberste Teil<br />
des Kopfes zu werden, da kommen zum Vorschein diejenigen<br />
Laute, welche deutlich zeigen, dass sie am stärksten von der<br />
menschlichen Natur zurückgehalten werden. Wenn der<br />
menschliche Kehlkopf versucht, Nase zu werden, da kann er<br />
nicht Nase werden, weil ihn die wirklich vorhandene Nase daran<br />
verhindert. Aber er bringt hervor in der Luft den Versuch,<br />
Nase zu werden, in den Nasenlauten. Die vorhandene Nase staut<br />
also die Luftnase, die da entstehen will, in den Nasenlauten. Es<br />
ist außerordentlich bedeutungsvoll, wie der Mensch, indem er<br />
199
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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spricht, fortwährend in der Luft den Versuch macht, Stücke von<br />
einem Kopf hervorzubringen, und wie sich wiederum diese Stücke<br />
von dem Kopf in welligen Bewegungen fortsetzen, die sich<br />
dann stauen an dem leiblich ausgebildeten Kopf. Da haben Sie<br />
dasjenige, was die menschliche Sprache ist.<br />
Sie werden sich daher nicht wundern, dass in dem Augenblick,<br />
wo der Kopf gewissermaßen leiblich fertig geworden ist, so gegen<br />
das siebente Jahr hin, mit dem Zahnwechsel dann schon die<br />
Gelegenheit geboten ist, den seelischen Kopf, der aus dem<br />
Kehlkopf hervorgetrieben wird, mit einer Art von Knochensystem<br />
zu durchsetzen. Es muss nur ein seelisches Knochensystem<br />
sein. Das tun wir, indem wir nicht mehr bloß wild durch Nachahmung<br />
die Sprache entwickeln, sondern indem wir angehalten<br />
werden, die Sprache durch das Grammatikalische zu entwickeln.<br />
Haben wir doch, meine lieben Freunde, das Bewusstsein,<br />
dass wir, wenn das Kind uns zur Volksschule übergeben wird,<br />
seelisch bei ihm eine ähnliche Tätigkeit auszuüben haben wie<br />
der Leib ausgeübt hat, indem er die zweiten Zähne in diese Organisation<br />
hineingetrieben hat! So machen wir fest, aber nur<br />
seelisch fest, die Sprachbildung, indem wir in vernünftiger Weise<br />
das Grammatikalische hineinbringen: dasjenige, was aus der<br />
Sprache hineinwirkt in Schreiben und Lesen. Wir werden zu<br />
dem menschlichen Sprechen das richtige Gemütsverhältnis bekommen,<br />
wenn wir wissen, dass die Worte, die der Mensch<br />
formt, in der Tat veranlagt sind, Haupt zu werden.<br />
Nun, so wie der menschliche Brustteil nach oben die Tendenz<br />
hat, Haupt zu werden, so hat er nach unten die Tendenz,<br />
Gliedmaßen zu werden. So wie dasjenige, was als Sprache aus<br />
dem Kehlkopf hervorgeht, ein verfeinerter Kopf ist, ein noch<br />
luftig gebliebener Kopf, so ist alles dasjenige, was nach unten<br />
von dem Brustwesen des Menschen ausgeht und sich nach den<br />
Gliedmaßen hin organisiert, vergröberte Gliedmaßennatur.<br />
Verdichtete, vergröberte Gliedmaßennatur ist dasjenige, was die<br />
Außenwelt gewissermaßen in den Menschen schiebt.<br />
200
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Und wenn einmal die Naturwissenschaft dazu kommen wird,<br />
das Geheimnis zu ergründen, wie Hände und Füße, Arme und<br />
Beine vergröbert und mehr nach innen geschoben sind in den<br />
Menschen, als sie nach außen hervortreten, dann wird diese Naturwissenschaft<br />
das Rätsel der Sexualität erkundet haben. Und<br />
dann wird der Mensch erst den richtigen Ton finden, über so<br />
etwas zu sprechen. Es ist daher gar nicht zu verwundern, dass<br />
all das Gerede, das heute getrieben wird über die Art, wie sexuelle<br />
Aufklärung gepflogen werden soll, ziemlich wesenlos ist.<br />
Denn man kann nicht gut dasjenige erklären, was man selber<br />
nicht versteht. Was die Wissenschaft der Gegenwart ganz und<br />
gar nicht versteht, das ist dasjenige, was nur angedeutet wird,<br />
wenn man so den Gliedmaßenmenschen im Zusammenhang<br />
mit dem Rumpfmenschen charakterisiert, wie ich es eben getan<br />
habe. Aber man muss dann wissen, dass eben so, wie man gewissermaßen<br />
in den ersten Volksschuljahren dasjenige in das<br />
Seelische hineingeschoben hat, was sich in die Zahnnatur hineindrängt<br />
vor dem siebenten Lebensjahre, so hat man in den<br />
letzten Jahren der Volksschule alles dasjenige, was aus der<br />
Gliedmaßennatur stammt, und was erst nach der Geschlechtsreife<br />
voll zum Ausdruck kommt, hineingeschoben in das kindliche<br />
Seelenleben.<br />
Und so wie sich anzeigt in der Fähigkeit, Schreiben und Lesen<br />
zu lernen in den ersten Schuljahren, das seelische Zahnen, so<br />
kündigt sich an in alledem, was Phantasietätigkeit ist und was<br />
von innerer Wärme durchzogen ist, alles dasjenige, was die Seele<br />
entwickelt am Ende der Volksschuljahre vom zwölften, dreizehnten,<br />
vierzehnten und fünfzehnten Lebensjahre an. Da tritt<br />
ganz besonders hervor alles dasjenige, was an seelischen Fähigkeiten<br />
darauf angewiesen ist, von innerer seelischer Liebe<br />
durchströmt zu werden, das heißt also dasjenige, was als Phantasiekraft<br />
sich zum Ausdruck bringt. Die Kraft der Phantasie, an<br />
sie müssen wir appellieren insbesondere in den letzten Jahren<br />
des Volksschulunterrichts. Wir dürfen dem Kinde viel mehr<br />
zumuten, wenn es durch das siebente Jahr in die Volksschule<br />
eintritt, an Schreiben und Lesen die Intellektualität zu entwi-<br />
201
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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ckeln, als wir unterlassen dürfen, in die herankommende Urteilskraft<br />
- denn die Urteilskraft kommt dann langsam heran<br />
vom zwölften Jahr ab - die Phantasie fortwährend hineinzubringen.<br />
Die Phantasie des Kindes anregend, so müssen wir an<br />
das Kind heranbringen alles dasjenige, was es in diesen Jahren<br />
lernen muss; so müssen wir an das Kind alles heranbringen, was<br />
zum geschichtlichen, zum geographischen Unterricht gehört.<br />
Und auch dann appellieren wir ja eigentlich an die Phantasie,<br />
wenn wir zum Beispiel dem Kinde beibringen: Sieh, du hast gesehen<br />
die Linse, die Sammellinse, welche das Licht ansammelt;<br />
solch eine Linse hast du in deinem Auge. Du kennst die Dunkelkammer,<br />
in der äußere Gegenstände abgebildet werden;<br />
solch eine Dunkelkammer ist dein Auge. - Auch da, wenn wir<br />
zeigen, wie hineingebaut ist die äußere Welt durch die Sinnesorgane<br />
in den menschlichen Organismus, auch da appellieren<br />
wir eigentlich an die Phantasie des Kindes. Denn dasjenige, was<br />
da hineingebaut ist, es wird ja nur in seiner äußeren Totheit<br />
gesehen, wenn wir es aus dem Körper herausnehmen; das können<br />
wir ja am lebenden Körper nicht sehen.<br />
Ebenso muss der ganze Unterricht, der dann erteilt wird in bezug<br />
auf Geometrie, sogar in bezug auf Arithmetik, nicht unterlassen,<br />
an die Phantasie zu appellieren. Wir appellieren an die<br />
Phantasie, wenn wir uns immer bemühen, so wie wir es versucht<br />
haben im praktisch-didaktischen Teil, dem Kinde Flächen<br />
nicht nur für den Verstand begreiflich zu machen, sondern die<br />
Flächennatur wirklich so begreiflich zu machen, dass das Kind<br />
seine Phantasie anwenden muss selbst in der Geometrie und<br />
Arithmetik. Deshalb sagte ich gestern, ich wunderte mich, dass<br />
niemand darauf gekommen ist, den pythagoreischen Lehrsatz<br />
auch so zu erklären, dass er gesagt hätte: Nehmen wir an, da wären<br />
drei Kinder. Das eine Kind hat so viel Staub zu blasen, dass<br />
das eine der Quadrate mit Staub überdeckt ist; das zweite Kind<br />
hat so viel Staub zu blasen, dass das zweite Quadrat mit Staub<br />
bedeckt ist und das dritte so viel, dass das kleine Quadrat mit<br />
Staub überdeckt ist. Da würde man dann der Phantasie des Kin-<br />
202
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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des nachhelfen, indem man ihm zeigte: die große Fläche, die<br />
muss mit so viel Staub bepustet werden, dass der Staub, der zu<br />
der kleinsten Fläche und der, der zur größeren Fläche gehört,<br />
ganz gleich ist dem Staub, der in der ersten Fläche ist. Da würde<br />
dann, wenn auch nicht mit mathematischer Genauigkeit, aber<br />
mit phantasievoller Gestaltung, das Kind seine Auffassekraft in<br />
den ausgepusteten Staub hineinbringen. Es würde die Fläche<br />
verfolgen mit seiner Phantasie. Es würde den pythagoreischen<br />
Lehrsatz durch den fliegenden und sich setzenden Staub, der<br />
auch noch quadratförmig gepustet werden müsste - das kann<br />
natürlich nicht in Wirklichkeit geschehen, die Phantasie muss<br />
angestrengt werden -, es würde das Kind mit der Phantasie den<br />
pythagoreischen Lehrsatz begreifen.<br />
So muss man fortwährend darauf Rücksicht nehmen, dass insbesondere<br />
in diesen Jahren noch anregend ausgebildet werden<br />
muss, was, die Phantasie gebärend, von dem Lehrer auf den<br />
Schüler übergeht. Der Lehrer muss in sich selber lebendig erhalten<br />
den Unterrichtsstoff, muss ihn mit Phantasie durchdringen.<br />
Das kann man nicht anders, als indem man ihn durchdringt mit<br />
gefühlsmäßigem Willen. Das wirkt manchmal noch in späteren<br />
Jahren ganz merkwürdig.<br />
Was gesteigert werden muss in den letzten Volksschulzeiten,<br />
was ganz besonders wichtig ist, das ist das Zusammenleben, das<br />
ganz zusammenstimmende Leben zwischen dem Lehrer und<br />
den Schülern. Daher wird keiner ein guter Volksschullehrer<br />
werden, der nicht sich immer wiederum bemüht, phantasievoll<br />
seinen ganzen Lehr-Stoff zu gestalten, immer neu und neu seinen<br />
Lehrstoff zu gestalten. Denn in der Tat, es ist so: wenn man<br />
dasjenige, was -an einmal phantasievoll gestaltet hat, nach Jahren<br />
genau so wiedergibt, dann ist es verstandesmäßig eingefroren.<br />
Die Phantasie muss notwendig fortwährend lebendig erhalten<br />
werden, sonst frieren ihre Produkte verstandesmäßig ein.<br />
Das aber wirft ein Licht auf die Art, wie der Lehrer selber sein<br />
muss. Er darf in keinem Momente seines Lebens versauern. Und<br />
zwei Begriffe gibt es, die nie zusammenpassen, wenn das Leben<br />
203
ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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gedeihen soll, das ist Lehrerberuf und Pedanterie. Wenn jemals<br />
im Leben zusammenkommen würden Lehrerberuf und Pedanterie,<br />
so gäbe diese Ehe ein größeres Unheil, als sonst irgendwie<br />
im Leben entstehen könnte. Ich glaube nicht, meine lieben<br />
Freunde, dass man das Absurde anzunehmen hat, dass jemals im<br />
Leben sich vereinigt haben Lehrerberuf und Pedanterie! Sie sehen<br />
daraus auch, dass es eine gewisse innere Moralität des<br />
Unterrichtens gibt, eine innere Verpflichtung des Unterrichtens.<br />
Ein wahrer kategorischer Imperativ für den Lehrer! Und<br />
dieser kategorische Imperativ für den Lehrer ist der: Halte deine<br />
Phantasie lebendig. Und wenn du fühlst, dass du pedantisch<br />
wirst, dann sage: Pedanterie mag für die anderen Menschen ein<br />
Übel sein - für mich ist es eine Schlechtigkeit, eine Unmoral! -<br />
Das muss Gesinnung für den Lehrer werden.<br />
Wenn es nicht Gesinnung für den Lehrer wird, dann, meine lieben<br />
Freunde, dann müsste eben der Lehrer daran denken, dasjenige,<br />
was er für den Lehrerberuf sich erworben hat, für einen<br />
anderen Beruf im Leben nach und nach anwenden zu lernen.<br />
Natürlich können diese Dinge im Leben nicht dem vollen Ideal<br />
gemäß durchgeführt werden, aber man muss das Ideal doch<br />
kennen.<br />
Sie werden aber nicht den richtigen Enthusiasmus für diese pädagogische<br />
Moral gewinnen, wenn Sie sich nicht durchdringen<br />
lassen wiederum von Fundamentalem: von der Erkenntnis, wie<br />
schon der Kopf selber ein ganzer Mensch ist, dessen Gliedmaßen<br />
und Brust nur verkümmert sind; wie jedes Glied des Menschen<br />
ein ganzer Mensch ist, nur dass beim Gliedmaßenmenschen<br />
der Kopf ganz verkümmert ist und im Brustmenschen<br />
Kopf und Gliedmaßen sich das Gleichgewicht halten. Wenn Sie<br />
dieses Fundamentale anwenden, dann bekommen Sie aus diesem<br />
Fundamentalen heraus jene innere Kraft, die Ihnen durchdringen<br />
kann Ihre pädagogische Moral mit dem nötigen Enthusiasmus.<br />
Dasjenige, was der Mensch als Intellektualität ausbildet, das hat<br />
einen starken Hang, träge, faul zu werden. Und es wird am<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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faulsten, wenn der Mensch es nur immer fort und fort speist mit<br />
materialistischen Vorstellungen. Es wird aber beflügelt, wenn<br />
der Mensch es speist mit aus dem Geiste gewonnenen Vorstellungen.<br />
Die bekommen wir aber nur in unsere Seele hinein auf<br />
dem Umweg durch die Phantasie.<br />
Was hat die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gewettert gegen<br />
das Hereindringen der Phantasie in das Unterrichtswesen! Wir<br />
haben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts solche leuchtende<br />
Gestalten wie zum Beispiel Schelling; Menschen, die auch<br />
in Pädagogik gesunder gedacht haben. Lesen Sie die schöne, anregende<br />
Ausführung Schellings über die Methode des akademischen<br />
Studiums - was allerdings nicht für die Volksschule, was<br />
für die höhere Schule ist -, worin aber der Geist der Pädagogik<br />
von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebt. Er ist dann im<br />
Grunde genommen in einer etwas maskierten Form in der zweiten<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts begeifert worden, wo man alles<br />
dasjenige verschimpfte, was irgendwie auf dem Umweg durch<br />
die Phantasie in die menschliche Seele einziehen will, weil man<br />
feige geworden war in bezug auf das seelische Leben, weil man<br />
glaubte, in dem Augenblick, wo man sich irgendwie der Phantasie<br />
hingibt, werde man gleich der Unwahrheit in die Arme fallen.<br />
Man hatte nicht den Mut, selbständig zu sein, frei zu sein<br />
im Denken und dennoch der Wahrheit sich zu vermählen statt<br />
der Unwahrheit. Man fürchtete, sich frei zu bewegen im Denken,<br />
weil man glaubte, dann würde man gleich die Unwahrheit<br />
in seine Seele aufnehmen. So muss der Lehrer zu dem, was ich<br />
eben gesagt habe, zu dem phantasievollen Durchdringen seines<br />
Unterrichtsstoffes, hinzufügen Mut zur Wahrheit. Ohne diesen<br />
Mut zur Wahrheit kommt er mit seinem Willen im Unterrichte,<br />
insbesondere bei den größer gewordenen Kindern, nicht aus.<br />
Das, meine lieben Freunde, was sich als Mut zur Wahrheit entwickelt,<br />
muss aber auch gepaart sein auf der anderen Seite mit<br />
einem starken Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der Wahrheit.<br />
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ALLGEMEINE MENSCHENKUNDE ALS GRUNDLAGE DER PÄDAGOGIK<br />
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Phantasiebedürfnis, Wahrheitssinn, Verantwortlichkeitsgefühl,<br />
das sind die drei Kräfte, die die Nerven der Pädagogik sind. Und<br />
wer Pädagogik in sich aufnehmen will, der schreibe sich vor<br />
diese Pädagogik als Motto:<br />
Durchdringe dich mit Phantasiefähigkeit,<br />
habe den Mut zur Wahrheit,<br />
schärfe dein Gefühl für seelische Verantwortlichkeit.<br />
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