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Was bleibt – bist Du

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ISBN 3-928610-45-7<br />

LinguaMed Verlags-GmbH, Neu-Isenburg<br />

Luca-Tales Wolfgang Schulte<br />

<strong>Was</strong> <strong>bleibt</strong> <strong>–</strong> <strong>bist</strong> <strong>Du</strong><br />

Sach, Lach- und Weingeschichten<br />

erzählt von einem<br />

schwerstmehrfach behinderten Säugling<br />

LinguaMed Verlags-GmbH


LinguaMed Verlags-GmbH<br />

Friedensallee 30<br />

63263 Neu-Isenburg<br />

LUCA-TALES<br />

Sach, Lach- und Weingeschichten<br />

erzählt von einem<br />

schwerstmehrfach behinderten Säugling<br />

Danksagung<br />

Wir bedanken uns bei all den lieben Menschen,<br />

die uns mit Engagement, Courage und Zuneigung<br />

in den schwierigen Jahren begleitet haben.<br />

Ein besonderer Dank gilt auch<br />

meinen Helfern am Gelingen dieses Buches:<br />

Dr. Egbert Lang, Coesfeld<br />

Volker und Helma Brockmeier, Dortmund<br />

Andreas Meyer, Dortmund<br />

Manuela Budeus, Münster


2<br />

Nimm den Tod nicht zu ernst.<br />

Ich bin nur in den nächsten Raum hinübergegangen.<br />

Ich bin ich, du <strong>bist</strong> du.<br />

<strong>Was</strong> immer wir füreinander waren, das sind wir jetzt auch<br />

noch.<br />

Nenn mich bei meinem altvertrauten Namen, sprich zu mir<br />

so, wie du das immer getan hast.<br />

Verändere deine Stimme nicht und baue keine Mauer von<br />

Feierlichkeit und Trauer um dich auf.<br />

Bete, lächle, denk an mich, bete für mich.<br />

Lasse meinen Namen den Klang beibehalten, den er immer<br />

hatte; sprich ihn ohne Emotionen aus, ohne eine Spur von<br />

Schatten auf ihm.<br />

Das Leben bedeutet all das, was es immer bedeutet hat.<br />

Es ist dasselbe, was es immer war, es geht ohne Bruch weiter.<br />

Warum soll ich aus deinen Gedanken verschwunden sein,<br />

weil du mich nicht mehr siehst?<br />

Ich warte in der Zwischenzeit auf dich, irgendwo in der<br />

Nähe.<br />

Übersetzung nach Harry Scott Holland (1847 -1929)<br />

Dieses Buch ist der treu sorgenden Mutter<br />

und Ehefrau Birgit gewidmet.<br />

3


Wolfgang Schulte<br />

Gemarkenweg 69<br />

48249 Dülmen<br />

Tel.: 0 25 94 - 79 17 83<br />

ISBN 3-928610-45-7 LinguaMed Verlags-GmbH, Neu-Isenburg 2003<br />

Luca-Tales<br />

Wolfgang Schulte<br />

LinguaMed-Verlags-GmbH,Neu-Isenburg 2003<br />

ISBN 3-928610-45-7<br />

Impressum<br />

Verlag:<br />

LinguaMed Verlags-GmbH<br />

Friedensallee 30<br />

63263 Neu-Isenburg<br />

Druck:<br />

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte der Verbreitung und<br />

Vervielfältigung, auch durch Funk, Fernsehen, Mikroverfilmung, Tonträger<br />

oder der Vervielfältigung auf elektronischen Wegen sowie der Übersetzung,<br />

nur mit Genehmigung des Verlages.<br />

Produkthaftung: Der Verlag übernimmt keine Gewähr für Angaben über<br />

Applikationsanweisungen und Dosierungsangaben. Die Autoren sind für ihre<br />

Beiträge selbst verantwortlich.<br />

INHALT EINES SEHR KURZEN LEBENS<br />

Prolog<br />

Erstes Kapitel<br />

Der Kreißsaal TANGO<br />

Wie man vergaß,<br />

einen bedeutungsschwangeren Knoten zu lösen<br />

Zweites Kapitel<br />

Das Wanderschwein Toot<br />

Wie ein Rucksack tragendes Schwein kein Glück brachte<br />

Drittes Kapitel<br />

Der APGAR-SCORE<br />

Wie man ein Neugeborenes beurteilte,<br />

welches sich kein Urteil bilden durfte<br />

Viertes Kapitel<br />

Die Fledermaus Batolio traf ein Floppy Infant<br />

Wie jemand seine Artgenossen verlor<br />

und einen Freund gewann<br />

Fünftes Kapitel<br />

Der Absäugling<br />

Wie man zum Rotzlöffel der Nation erklärt wurde<br />

Sechstes Kapitel<br />

Der Bunte Kreis<br />

Wie man sich nachsorglich den Weg nach Hause bahnte<br />

5


Siebentes Kapitel<br />

Der Kanalknotenpunkt Datteln<br />

Wie man ein Gehirn mit einem Zugunglück verglich<br />

Achtes Kapitel<br />

Das Ärzte- und Therapeutennest<br />

Wie man ambulant behandelt, verdeckt und versteckt wurde<br />

Neuntes Kapitel<br />

Der Kinderkrankenpflegedienst Klabautz<br />

Wie man in der Pflege Akzente setzte und<br />

FKK eine andere Bedeutung erhielt<br />

Zehntes Kapitel<br />

Die Geschmacksverirrung<br />

Wie man den Vibrationen der Physiotherapeuten begegnete<br />

Elftes Kapitel<br />

Das zauberhafte Materialkörbchen<br />

Wie man durch die Frühförderung zum Genießer wurde<br />

Zwölftes Kapitel<br />

Das visionäre Einkaufszentrum<br />

Wie man Hilfsmittel bekam<br />

und mit den Tücken der Technik haderte<br />

Dreizehntes Kapitel<br />

Der Nummern- und Zahlensalat<br />

Wie man sich Akten zulegte und Statistiken entwarf<br />

Vierzehntes Kapitel<br />

Der Rettungsauflauf<br />

Wie eine Fahrt blau wurde aber nicht ins Blaue führte<br />

Fünfzehntes Kapitel<br />

Die Überraschungseier<br />

Wie man sich über Nachwuchs wunderte<br />

Sechzehntes Kapitel<br />

Der verrückter Kliniksommer<br />

Wie man in der Radiologie eine tolle Ausstrahlung bekam<br />

Siebzehntes Kapitel<br />

Der geniale Ausflugsherbst<br />

Wie man endlich Kind sein durfte<br />

Achtzehntes Kapitel<br />

Die letzten Tage eines kleinen Kämpfers<br />

Wie man mit Nonchalance dem Tod begegnete<br />

Neunzehntes Kapitel<br />

Die Tränen des kleinen Eisbären<br />

Wie Batolio seine Abschiedsworte spricht<br />

6 7


8<br />

Prolog<br />

Ich bin ein Weltbürger , weil man Menschen mit funktionellen<br />

Einschränkungen überall findet.<br />

Ich kenne keine Tabus.<br />

Ich brauche keine Leitkultur .<br />

Für mich sind alle Menschen gleich, egal welche Hautfarbe<br />

sie haben und welche Sprache sie sprechen.<br />

Ich „spreche“ eine Weltsprache, ich kommuniziere mit<br />

jedermann.<br />

Ich bin neutral und liebe es friedlich.<br />

Ich will nicht behindert werden, sondern beanspruche<br />

ein Maximum an Lebensqualität.<br />

Ich werde zum Bruttosozialprodukt nichts beitragen<br />

können.<br />

Ich werde jedoch Arbeitsplätze sichern.<br />

Ich werde in keinen Konsumgüterrausch verfallen und<br />

den Süchten der Welt widerstehen.<br />

Ich bin auf meine Art ein freier kleiner Erdenbürger, der<br />

für seine Einschränkungen auch dankbar sein kann.<br />

Denn ich bekomme viele Arten von Annehmlichkeiten,<br />

von denen andere nur zu träumen wagen.<br />

Ich stehe im Mittelpunkt, weil ich Mensch bin.<br />

Ich bin kein Narzist, kein Egoist. Ich bin einfach nur ich<br />

<strong>–</strong> ein einzigartiges Individuum.<br />

9


10<br />

Erstes Kapitel<br />

Der Kreißsaaltango<br />

Wie man vergaß,<br />

einen bedeutungsschwangeren Knoten zu lösen<br />

„Hallo! Hallo! Halli-hallo!<br />

Kann mich denn dort draußen niemand hören? Ist diese<br />

Gebärmutter denn schalldicht, oder was? Dann trete ich meiner<br />

Kugelblitz-Mama kurzerfuß eine klitzekleine Beule in ihre<br />

Bauchdecke. Hallo, verdammt und zugenäht. Ich mache hier<br />

gleich die Welle im fruchtigen <strong>Was</strong>ser. Ich bin’s doch. Der<br />

Embryo mit den dynamischen Ohren. Ich höre alles. Ich weiß<br />

Bescheid. Bald werde ich ein neuer kleiner Erdenbürger sein.<br />

Ich stürze mich kopfüber in die nahe Welt. Ich werde staunen,<br />

strampeln, weinen, schreien, schlafen und saugen, saugen,<br />

saugen, bis alle Lebensgeister in mir und euch erweckt sind.<br />

Doch wie wird der Sturz ins Ungewisse enden? Werde ich<br />

unsanft auf die Nase fallen oder prompt in die ausgestreckten<br />

Arme meiner Eltern plumpsen?“<br />

Eigentlich hatten diese die Empfängnis eines Kindes gar<br />

nicht auf ihrer Rechnung, bauten immerzu auf eine verläßliche<br />

Verhütung. Daher stellte sich natürlich die entscheidende<br />

Frage nach der Funktion des Knotens im Stofftaschentuch<br />

meines zukünftigen alten Herrn. Eines Tages,<br />

nach ausbleibender Menstruation, schickte Ma meinen Pa<br />

zur Apotheke, um einen Schwangerschaftsteststreifen zu<br />

kaufen. Kurz nachdem er die Apotheke betreten hatte, reizte<br />

ihn sein Riechkolben gar unermesslich. Mit geschickter<br />

Hand fingerte er sein verschnupftes Taschentuch aus der<br />

Hosentasche und begann unter tiefem Nachdenken den<br />

11


12<br />

entdeckten Knoten zu entwirren. Das Ergebnis der Decodierung<br />

war wenig originell: Er hatte schlicht und einfach vergessen<br />

Verhüterlis zu besorgen. Die Vermutungen von Ma<br />

konnten bestimmt nicht mehr in Zweifel gezogen werden. In<br />

seiner abstrusen Gedankenwelt verglich er Ultraschallaufzeichnungen<br />

mit Mondlandschaften oder mit Schlingpflanzen<br />

auf dem Meeresgrund, hörte das Pochen eines wild<br />

schlagenden Herzen in Mamas Bauch, imitierte starke<br />

Presswehen und kaute unentwegt an seinen Fingernägeln.<br />

Ob er hier einen Veitstanz aufführen wolle oder an sonstigen<br />

Störungen leide, wurde er von einer genervten Apothekerin<br />

gefragt. Pa setzte sofort ein Nonchalance-Grinsen auf, zahlte<br />

ungern den horrenden Preis für den Test und verließ das<br />

Pharmaziegeschäft in der Hoffnung auf weiter kinderlose,<br />

ruhige Zeiten. Der Test war garantiert positiv. Die Bestätigung<br />

durch den Frauenarzt erfolgte stante pedes.<br />

Papa in spe latschte daraufhin jeden begehbaren Quadratzentimeter<br />

ihrer 70qm großen Dachgeschosswohnung<br />

in Münster ab, blieb plötzlich stehen, schaute Mama in spe<br />

in ihre glänzend blauen Augen und fragte: „Weißt du was<br />

uns fehlt?“ „Ja!“, erwiderte Ma mit einem verschmitzten<br />

Lächeln, als wäre sie von der Frage keineswegs überrascht.<br />

„Ein Kinderzimmer. <strong>Was</strong> denn sonst?“ Einige Monate später<br />

hatten die beiden eine neue, größere und preisgünstigere<br />

Wohnung in einer Stadt des westlichen Münsterlandes<br />

angemietet. Die Stadt heißt Dülmen, ist freundlich zu seinen<br />

Wildpferden und Fahrradfahrern und gleichzeitig Sitz des<br />

Arbeitgebers von Mutter, einer staatlich anerkannten Werkstatt<br />

für Menschen mit Behinderungen.<br />

Anfang November 1999, knapp vier Monate vor meiner<br />

Geburt, bezogen sie ihr neues Domizil. Voller Stolz betrachteten<br />

sie nun ihr, vielmehr mein, Kinderzimmer, welches auf<br />

seine liebevolle Ausstattung und farbenfrohe Dekoration<br />

wartete.<br />

Sie hatten an jenem Novembersturmtag noch keinen blassen<br />

Schimmer davon, dass mein Zimmer eine kleine Intensivstation<br />

werden würde.<br />

Mein nach innen schwanger wirkender Pa nahm das allerletzte<br />

Herbstblatt vor den Mund und schwieg bis Silvester.<br />

Er schwieg nicht wirklich, gab sich jedoch ein wenig introvertiert,<br />

indem er seltsamen Tagträumen verfiel. Sein Zigarettenkonsum<br />

stieg ins Unermessliche. Doch mir zuliebe inund<br />

exhalierte er die gefährlichen Toxine draußen vor der<br />

Tür. Die von ihm bevorzugte Killermarke hieß Benson &<br />

Hedges und seine Lunge sah wahrscheinlich aus wie ein<br />

goldfarbener Blätterhaufen. Seine Gedanken kreisten um<br />

die Geburtsklinik herum direkt in den Kreißsaal hinein. Er<br />

stützte sich auf den Schultern der Hebamme vor lauter Nervenschwäche<br />

ab, verdammte den Herz-Wehen-Schreiber<br />

mit Zeter und Mordio: „Cardio-toco loco-loco“ rief er und<br />

bekam den Knoten nicht gelöst. Unter seinen Achselhöhlen<br />

verdunstete die Angst. Augen zu und durch! Er war heuer<br />

ein cocolatio <strong>–</strong> ein sensibler Mensch.<br />

Während der Adventszeit wich die Angst der Freude auf ein<br />

in wenigen Wochen bevorstehendes Ereignis, dem Tag meiner<br />

Ankunft in die rauhe, doch hoffentlich auch herzliche<br />

Wirklichkeit. Namenszettel wurden an die Wäscheleine<br />

gehängt, links die Mädchennamen, rechts die der Jungen.<br />

Der Favorit unter den Mädchennamen war Zoe. Sollte es<br />

jedoch ein Bub werden, würde er Luca heißen. Papas Flachbauch<br />

nahm kein Gramm zu, obwohl er doch gedanklich mit<br />

mir schwanger ging. Er betrachtete stillschweigend seinen<br />

Nabel als „Teil der Erinnerung“ an eine gelungene Trennung<br />

von Mutter und Sohn.<br />

13


14<br />

Anschließend setzte er sich an den Schreibtisch und textete<br />

ein Lied für Mama:<br />

Der Kreißsaal-Tango<br />

Ich tapse durch die Stadt mit ´nem Bauch voll Kind<br />

weiche Buggies aus bei Gegenwind<br />

´ne Mutter lacht mich freudig an:<br />

„du siehst so aus, als wärst du dran!“<br />

All die andern ha´m schon wieder<br />

so´n kleenen Fratz in der Pampers-Liga<br />

sie halten ihn schön Perwoll-weich<br />

auf der Wickelkommode im Kinderreich.<br />

Oh, oho <strong>–</strong> oh, oho<br />

wann zieh´ ich in´ Kreißsaal ein?<br />

Kindernamen! <strong>–</strong> die weiß ich schon<br />

Luca heißt der eine <strong>–</strong> und ist mein Sohn<br />

der Mädchenname ist auch o.k.<br />

der haut dich um <strong>–</strong> sie heißt Zoe!<br />

All die andern ha´m auch welche<br />

sie taufen sie wie Kritiker die Elche<br />

sie stillen sie an ihren Busen<br />

und geh´n fortan mit ihnen schmusen<br />

Oh, oho <strong>–</strong> oh, oho<br />

wann zieh´ ich in´ Kreißsaal ein?<br />

Ich lieg´ im Bett und träum´ von Wehen<br />

das Kind klopft an, es will die Welt jetzt sehen<br />

der Weg wird lang, zuviel´ rote Ampeln<br />

das Kind will Grün, fängt an zu strampeln<br />

All die andern sind schon durch<br />

ein Mädchenschrei, oder war´s ein Bursch<br />

sie gebaren ein Kind unter lauten Schmerzen<br />

jetzt tragen sie´s still unter ihren Herzen<br />

Oh, oho <strong>–</strong> oh, oho<br />

wann zieh` ich in´ Kreißsaal ein?<br />

Ist das nicht herzzerreißend? Mit Pauken und Trompeten<br />

ziehen wir in den Kreißsaal ein, und unter der Begleitung<br />

von Querflöten lassen wir uns anschließend ins gemachte<br />

Wochenbett fallen. Hauptsache es begegnet uns nicht der<br />

Mann mit der Mundharmonika. Plötzlich trieb mir die Vorstellung,<br />

dass der notorische Asphalttreter und Autohasser<br />

Papa sich hinter das Steuer klemmen muss, wenn ich meine<br />

Bereitschaft zur Ankunft signalisiere, angstfeuchte Fruchtwasserperlen<br />

auf die Stirn. Im Nachhinein musste ich<br />

jedoch feststellen, dass ich lieber während der Autofahrt<br />

zur Klinik geboren worden wäre. Pa als Geburtshelfer, das<br />

wäre eine wunderbare Nummer geworden. Da wäre ich<br />

nullkommanix sauber abgetrennt im Fond unseres Fords an<br />

Mamas Brust gesprungen.<br />

Doch eine Schlinge hatte sich längst um meinen Hals<br />

gelegt. Ich entdeckte die Langsamkeit meiner Bewegungen.<br />

Derweil schritt die Zeit im Eiltempo voran. Ein ganzes<br />

Jahrtausend wollte sich verabschieden und den Chronisten<br />

das Wort erteilen.<br />

15


16<br />

Silvester verbrachten meine Eltern bei einem befreundeten<br />

Paar, meinem späteren Patenonkel Gottfried und seiner Gattin<br />

Maria. Gegen Mitternacht stieß mein Vater stille Millenniumswünsche<br />

in das unendliche Universum hinaus. Ein auserwählter<br />

Stern, dem er den Namen Isis gab, sollte eine<br />

unkomplizierte, glückliche Geburt begleiten. Der Erziehungsurlaub<br />

möge eine paradiesische Zeit werden. Die<br />

Zukunft wird mit Kindern gemacht. Mit einem gesunden,<br />

mopsfidelen und ausgeglichenen Kind, ganz gleich welchen<br />

Geschlechts. Er hatte wirklich noch keine Vorstellung von<br />

einem baldigen Szenario, welches sich unter einem ungünstigen<br />

Stern abspielen sollte. Auch konnte er noch nichts von<br />

seiner zukünftigen Berufung erahnen, den bevorstehenden<br />

Strapazen aufregender Tage und schlafloser Nächte und den<br />

eigenen individuellen Bedürfnissen, die es gelte für eine längere<br />

Zeit zurückzustellen. Er sollte vielmehr die Rolle seines<br />

Lebens zugewiesen bekommen und würde als der „Drei-P-<br />

Mann“ in die Annalen eingehen:: „Papa <strong>–</strong> Pfleger <strong>–</strong> Pädagoge!“<br />

Letzeres P könnte natürlich auch durch „Pädiater“<br />

ersetzt werden, was jedoch ein medizinisches Studium der<br />

Kinderheilkunde voraussetzt. Dafür blieb aber keine Zeit.<br />

Statt dessen sollte er den Begriff „Erziehungsurlaub“ für<br />

immer verdammen und sich mit dem Gedanken vertraut<br />

machen, ein Vätergenesungswerk für zukünftige Vater-<br />

Kind-Kuren zu gründen. Mutti lehnte gedankenverloren und<br />

mit hochgelegten geschwollenen Beinen im Fernsehgammelsessel,<br />

betrachtete ihre überdimensionale Kugel und<br />

simulierte einen fiktiven Unfall. Die Crash Test <strong>Du</strong>mmies säuselten<br />

„MMMMM“. Ihre müden Augen blickten auf die bald<br />

prallgefüllten Brüste, die sich nach neuen Körbchengrößen<br />

sehnten. Auch sie ahnte in diesem Moment nichts von dem<br />

dramatischen Ereignis, welches das Leben drohte auf den<br />

Kopf zu stellen. „MMMMM“ ertönte der Sound der kanadischen<br />

Band aus dem Radio: „Mamas-Milch-Melk-Maschinen-Melodie“<br />

sollte nur aus tieftraurigen Tönen bestehen.<br />

„Pump-pump-pump-pump-pump“ <strong>–</strong> das kostbare, saugfertige<br />

Trinkgut <strong>–</strong> abgefüllt und als Milcheiswürfel eingefroren.<br />

Ich werde bald den Schweppesflunsch ziehen, wenn mir das<br />

edle Elixier auf eine Art eingeflößt wird, die mir ganz und gar<br />

nicht behagt.<br />

Ich werde niemals schlucken können.<br />

17


18<br />

Zweites Kapitel<br />

Das Wanderschwein Toot<br />

Wie ein Rucksack tragendes Schwein<br />

kein Glück brachte<br />

Und ob ich eine Menge schlucken musste. Ein komplettes<br />

Geburtsdesaster.<br />

Laut Geburtsprotokoll war ich ein leicht übertragener Bub in<br />

der Gewichtsklasse „gut proportioniert“, ansonsten jedoch<br />

furchtbar deprimiert und unglaublich traumatisiert.<br />

Es war tiefe Nacht an einem kalten Februarwochenende.<br />

Papas zu Silvester auserkorener Stern Isis hatte seinen<br />

Begleitschutz verweigert. Es gab keinen Engel. Selbst der<br />

Ersatzengel Clarence, der James Steward alias Georg Bailey<br />

in dem herrlichen Film: „Ist das Leben nicht schön“, so liebenswerte<br />

Dienste erwies, ließ sich nicht blicken.<br />

Man hätte mich mit der Zange nicht anpacken dürfen. Ein<br />

Kaiserschnitt wäre es doch gewesen. Es war leider schon zu<br />

spät für Maßnahmen, die mein Schicksal positiv beeinflusst<br />

hätten. <strong>Was</strong> sollte ich Neugeborenes von der Welt halten, die<br />

einen langen dunklen Schatten voraus warf und in einem<br />

Tunnel endete. Ich wurde im Schatten geboren. Nicht einmal<br />

der Strahl einer Maglite-Taschenlampe hätte mir einen<br />

Lichtlein spendieren können. Papa bekam den Blues. Er hatte<br />

Toot, dem Wanderschwein, ein Geschenk seiner Schwester<br />

Moni <strong>–</strong> Symbol des Glücks <strong>–</strong> erst einmal das Maul<br />

gestopft. Toot war ein kleines Stofftier, trug einen gelben<br />

Pulli mit seinem Namensschriftzug, eine kurze beige Hose<br />

mit zwei Hosentaschen und einen beigen Hut, aus dem seine<br />

putzigen Schweinsohren heraus ragten. Als Wander-<br />

schwein trug er natürlich einen Rucksack. Fortan wurde<br />

Toot zum Lastenschwein, welches die schweren Sorgen<br />

meiner Eltern zu tragen hatte. Tag für Tag, Woche für Woche<br />

wurden mehr davon in sein putziges Säckle gepackt. Man<br />

hätte ihn vorher mehr mästen müssen, um die schwere Bürde<br />

besser aushalten zu können. Toot hielt sich während des<br />

Geburtsvorgangs in der Jackeninnentasche meines Papas<br />

versteckt und hat keinen Quiecker von sich gegeben. Man<br />

hörte auch sonst keinen Schrei in dieser Nacht. Pa hielt<br />

sehnsuchtsvoll Ausschau nach den Augen des verzweifelten<br />

Mädchens auf Edward Munchs Gemälde: „Der Schrei“,<br />

bevor er selbst einen bedrohlichen Urschrei durch das<br />

Krankenhaus in die Stadt hinaus donnerte. Mama, die über<br />

die Dauer der gesamten Schwangerschaft vor Gesundheit<br />

nur so strotzte, hing mit unerträglichen Schmerzen auf dem<br />

Entbindungsbett. Sie sollte schon bald mit der Tatsache<br />

konfrontiert werden, mich in den kommenden 48 Stunden<br />

nicht zu Gesicht zu bekommen, geschweige denn mich an<br />

ihre Brust legen zu dürfen. Keiner von beiden wusste die<br />

Geschehnisse dieser Nacht zu beurteilen oder Voraussagen<br />

über die drastischen Folgen zu machen. Nach meiner<br />

abrupten Abnabelung wurde ich sofort in einen Nebenraum<br />

verbracht. Papa war wie in Trance, aber mit Fotoapparat,<br />

hinterher gestolpert und konnte somit einen Blick auf<br />

mein Geschlecht werfen. „Es ist ein Junge“, stammelte er im<br />

Angesicht zu Ma´s gequälten Zügen, ohne zu wissen, ob Ma<br />

dies wirklich registrierte. Die verdammte Placenta wollte<br />

sich nicht abstoßen lassen. Das Ziehen an der Nabelschnur<br />

blieb ergebnislos. Der Schmerz musste sie doch bald zur<br />

Besinnungslosigkeit treiben. Alles war blutverschmiert.<br />

Pa sollte bald vaterseelenallein auf dem Flur der Entbindungsstation<br />

hocken: irritiert, konsterniert, hirnblockiert.<br />

19


20<br />

Während Daddy dann tatsächlich kurze Zeit später in trauriger<br />

Abwesenheit bei eine Tasse Kaffee allein auf dem langen<br />

Krankenhausflur saß, säuselte es leise in sein Ohr: Pass op,<br />

Jong! Nur Fledermäuse un schlaffe Käls losse sich hänge. Mer<br />

bruche jetz Kraft un Nervenstärke. Un wenn de Naach am Eng<br />

iss, süht de Welt widder janz anders uss. Et ess wie et ess! Et<br />

kütt wie et kütt! Et ess noch immer joot jejange! Wat fott ess,<br />

ess fott! Es war ein Abendseglermännchen aus der Gattung<br />

der hiesigen Fledermäuse, welches versuchte Pa festen Mut<br />

zuzusprechen. Batolio, so hieß der Kleine, wirkte allerdings<br />

ziemlich lädiert und malträtiert, als wäre ihm selbst kurz<br />

zuvor ein trauriges Schicksal widerfahren.<br />

„Irgend su ne Blödschkopp, son vermaledeiter, hätt mich<br />

abrupt uss mingem Winterschlof jerisse, flüsterte die angeschlagene<br />

Fledermaus. Noch vor kurzem hatte er in seinem<br />

Winterquartier bei einer Körpertemperatur von circa fünf<br />

Grad Celsius ausgeharrt. Seine Herzschlagrate lag zu diesem<br />

Zeitpunkt bei ungefähr einem Prozent des Wachzustandes.<br />

Entsprechend war auch die Atemfrequenz verringert.<br />

Jetzt war Batolio Zeuge meiner katastrophalen Geburt<br />

geworden. Doch er sollte mein Freund und Medium werden.<br />

Ich sollte bald erfahren, was es heißt „Abzuhängen“ und wie<br />

man in eine Tagesschlaflethargie verfällt. „Das Licht der Welt<br />

ist blau“, dachte Paps, als ich ihn im Babynotarztwagen verließ,<br />

in Richtung einer Säuglings- und Neugeborenenintensivstation,<br />

intubiert und desillusioniert. Neun Tage vor<br />

Rosenmontag ertönte nur ein gequältes Martinshorn. Papa<br />

wünschte, er wäre blau. Waren die Gynäkologen im Operationssaal<br />

blau gekleidet? Würde Ma zyanotisch werden,<br />

wenn man ihr so eben die Plazenta heraus operiert. Papa<br />

konnte den verdammten Knoten nicht lösen. Es war ein<br />

Nabelschnurknoten. Ein echter voll zugezogener Nabel-<br />

schnurknoten. Es hatte doch keinerlei Anzeichen für eine<br />

derartige krisenhafte Komplikation gegeben.<br />

Einige Stunden vor dem Einsetzen der ersten Wehen waren<br />

wir noch im Krankenhaus zur Doppler-Ultraschalluntersuchung<br />

gewesen. Nix war. Alles unauffällig, wie bei allen vorausgegangenen<br />

Untersuchungen. Alles in bester Ordnung.<br />

Eine Nabelschnur ist verdammt lang. Ein Spring- und Turnseil<br />

für den Embryo. Gab es vielleicht doch irgendwelche<br />

Aufregungen im Verlauf der Schwangerschaft? Oder war<br />

ich einfach nur ein Freudentänzer, der spektakuläre Saltos<br />

springt, wie Miro Klose nach einem erzielten Tor?<br />

Haben Knoten denn nicht andere Funktionen, als einem<br />

neuen Leben die Chance auf normales Reifen und Wachsen<br />

zu nehmen? Alles war dunkel!<br />

Doom and gloom <strong>–</strong> Verhängnis und Finsternis. Die letzte<br />

Kneipe hatte soeben geschlossen.<br />

21


22<br />

Drittes Kapitel<br />

Der APGAR-Score<br />

Wie man ein Neugeborenes beurteilte,<br />

welches sich kein Urteil bilden durfte<br />

Nach dem Zangengriff, der Entbindung mittels der Naegele´schen<br />

Zange, tauchte ich ab in ein dunkel blaues Zwischenreich.<br />

Mein desolater Zustand ließ keinerlei Zweifel<br />

offen, dass ich reif war für meine erste Reanimation. Ich war<br />

schlaff wie Wackelpudding, wurde erst einmal kräftig abgesaugt<br />

und in den Atemwegen frei gemacht. Ein transportables<br />

Absauggerät stand selbstverständlich jetzt schon auf<br />

der Bestelliste für Hilfsmittel. Man sollte meinen Eltern<br />

sowieso den weisen Vorschlag unterbreiten einen medizinisch-pflegerischen<br />

Managementkursus zu besuchen,<br />

würden sie doch schon bald eine Miniklinik betreiben.<br />

Apgar 1<br />

„Ja, schaut nur in das gelbe Kinder-Untersuchungsheft<br />

eures Kindes auf Seite 1: ‘U 1, Punkt 3, Geburt’ nach und legt<br />

euch gefälligst ein klinisches Lexikon, vielleicht den Pschyrembel,<br />

zu. Oder muss ich jetzt extra ein Glossar schreiben,<br />

nur weil ihr möglicherweise zu faul seid, medizinische<br />

Begriffe nachzuschlagen oder kein Geld habt, euch ein<br />

solch eminent wichtiges Buch zuzulegen.“ Egal auch. Ich<br />

überlege es mir noch. Schließlich seid ihr ab sofort meine<br />

Freunde und liebste Leserschaft. Ich habe ehrlich gesagt<br />

null Bock darauf, dass ihr in Trotzphasen <strong>–</strong> die unweigerlich<br />

kommen, wenn man nichts versteht <strong>–</strong> die Seiten dieses kostbaren<br />

Bandes herausreisst und damit Schindluder treibt.<br />

Der erwähnte Pschyrembel ließ jedenfalls durchblicken,<br />

dass der APGAR-Index, von Virginia Apgar entwickelt, ein<br />

Punktschema zur Zustandsbeurteilung eines Neugeborenen<br />

ist.<br />

Ich kam am Samstag, den 26. Februar 2000 um 3.03 Uhr, einen<br />

Tag nach dem errechneten Termin, mit einer Schlinge um den<br />

Hals auf die Welt, wurde von meinem fatalen Nabelschnurknoten<br />

getrennt und leider auch von meinen Eltern. Im<br />

Abstand von ein, fünf und zehn Minuten wurden gecheckt:<br />

A: wie Atembewegungen (spontan hatte ich da längere Zeit<br />

nichts zu bieten)<br />

P: wie Puls (wird zukünftig mein Überwachungsgerät arg<br />

strapazieren)<br />

G: wie Grundtonus (schlaffer geht`s nimmer)<br />

A: wie Aussehen (noch nicht geeignet für ein Casting beim<br />

Babymoderator)<br />

R: wie Reflexe (davon habe ich noch nie etwas gehört)<br />

gecheckt.<br />

Dann wurden für jeden dieser fünf Parameter 0-2 Punkte<br />

vergeben. Bei 8-10 Punkten ist alles in Butter; sie weisen auf<br />

eine normale Entwicklung hin. 5-7 Punkte, naja, eine intensive<br />

Beobachtung ist unbedingt notwendig. Bei weniger als 4<br />

Punkten ist die Kacke am Dampfen. Dann ist eine Akutversorgung,<br />

wie beispielsweise eine sofortige künstliche Beatmung<br />

erforderlich.<br />

Apgar 1<br />

Pa`s blaue Wölkchen seines Zigarettenrauches wurden von<br />

überfallartigen Hustenattacken davon getrieben. Er hätte<br />

liebend gern eine Blutdruckrevolution ausgerufen. Statt<br />

dessen kochte sein Puls auf Sparflamme und seinem Aussehen<br />

nach zu beurteilen, hatte man ihn soeben aus den<br />

23


24<br />

Cliffs of Dover gemeißelt. Von Muskulatur ganz zu schweigen.<br />

Er war der Adonis unter den Fliegengewichten. Mit<br />

einem blitzartigen Reflex schlug er seine tristen Vorahnungen<br />

in den Wind und atmete erst einmal ganz tief durch.<br />

Ich bekam ein Maskenbeatmung und eine zweiminütige<br />

regelmäßige Herzdruckmassage. Ich wurde intubiert und<br />

dauerhaft mit 100 Prozent Sauerstoff versorgt. Man legte mir<br />

einen Zugang zur Infusions- und Azidosetherapie, um meinen<br />

Säure-Basen-Haushalt wieder ins Gleichgewicht zu<br />

bekommen. Danach ging es lalü lala ab auf die Säuglingsintensivstation,<br />

hinein in ein Thermobettchen, zum durchschlafen,<br />

bis meine Stillmutter kommt mit prall gefüllten<br />

Brüsten, die Milch und Honig fließen lassen.<br />

Im Traum spazierte ich mit den britischen Musikern, den<br />

Stranglers, über endlose gelb sandige Strände. Der Frontmann<br />

erhob seine Stimme und schmetterte mit Inbrunst:<br />

„Walking on the beaches, looking at the peaches.“(Ich spazierte<br />

über die Strände und schaute auf die süßen Mädels).<br />

Doch dann wurde es duster und still. Mir stockte der Atem.<br />

Eine Schlinge legte sich um meinen Hals, um mich zu strangulieren.<br />

Jemand knüpfte einen mörderischen Knoten, den er<br />

fest zuzog. Man trachtete mir nach meinen Leben, um den<br />

Urschrei im Keime zu ersticken. Ich bekam nur einen einzigen<br />

beschämenden Punkt von Virginia.<br />

Derweil fuhr Old Daddy, der berühmteste Autofahrer des<br />

westlichen Münsterlandes, als wollte er sich wenigstens<br />

1Punkt in Flensburg abholen (nicht zu verwechseln mit meinem<br />

Apgar-Wert), des morgens um halb sechs mit vereisten<br />

Scheiben und ohne Licht nach Hause. Batolio krallte sich am<br />

Rückspiegel fest und stand Todesängste aus. Kurz zuvor<br />

hatte der Geburtsarzt die beiden aus einer einsamen Ecke<br />

zu sich konsultiert, um sie über die erfolgreiche Operation<br />

von Mama zu unterrichten, die jetzt zur Beobachtung auf<br />

der Intensivstation läge und schliefe. Über meinen komplizierten<br />

Geburtsvorgang konnte er nicht viel sagen. Der<br />

zugezogene Nabelschnurknoten hatte die notwendige<br />

Sauerstoffzufuhr unterbrochen. Daraufhin hatte Pa seine<br />

Frau sofort auf der Intensivstation aufgesucht, um ihr den<br />

batolinischen Mut zuzusprechen. „Nur Fledermäuse und<br />

ich lassen sich hängen. Also Kopf hoch, Augen zu und<br />

durch.“<br />

Zuhause angekommen trank er eine Flasche Bier (ihr wisst<br />

ja, die letzte Kneipe hatte geschlossen), informierte telefonisch<br />

meine Großeltern, speiste Batolio mit einigen Mehlwürmern<br />

ab, schwang sich anschließend auf sein Fahrrad<br />

und war um acht Uhr wieder bei seiner Angetrauten. Papa<br />

musste Mama trösten, weil sie mich noch überhaupt nicht<br />

gesehen hat und Mama musste Papa trösten, weil die eine<br />

Flasche Bier ihre Wirkung verfehlt hatte. Die Zeit bestand<br />

aus tröstlicher Zuwendung. Es war etwas sehr Denkwürdiges,<br />

vor allem sehr Tragisches geschehen.<br />

Ich lag im Koma. Das wahnsinnige Ausmaß meiner hoch<br />

komplizierten Geburt war mir schittegal. Der Schmerz über<br />

die ausweglose Situation sollte noch warten. Die Aktivatmung<br />

leider auch.<br />

Die Druiden konnten keinen ihrer berühmten Zaubertränke<br />

anrühren. Sie wussten schon, dass ich nicht schlucken<br />

würde können.<br />

Die Geister, die ich rief <strong>–</strong> sie alle waren geburtstraumatisiert.<br />

25


26<br />

Viertes Kapitel<br />

Die Fledermaus Batolio traf ein Floppy Infant<br />

Wie jemand seine Artgenossen verlor<br />

und einen Freund gewann<br />

Luca vollgeschlaucht in Mama’s Arm Mutter Birgit<br />

Auf meinem Namenskärtchen auf der Säuglings- und Neugeborenenintensivstation<br />

im St. Vincenz-Hospital zu Coesfeld<br />

stand geschrieben: „Hallo, ich bin da! Luca Felipe Schulte,<br />

geboren am 26. Februar 2000 um 3.03 Uhr.“ Ab sofort dürft ihr<br />

mich Luca nennen, vielleicht auch Lucabärchen oder ganz<br />

einfach Futti, einen Namen, den ich spontan von meinem<br />

Papa erhielt, was auch immer er sich dabei dachte. Tatsächlich<br />

war ich da. Rein physisch betrachtet war ich da, lag intubiert<br />

und komatös in einem Thermobett, umzingelt von intensivmedizinischen<br />

Geräten. Ich war voll geschlaucht. Kuscheln und<br />

Saugen im Wochenbett und ab durch die Mitte nach Hause<br />

düsen konnte ich mir allerdings ganz schnell von der Backe<br />

putzen. Es bedurfte vielmehr noch gut drei Wochen angestrengter<br />

Wartezeit, bevor ich mit einem klitzekleinen Blinzeln<br />

den ersten Kontakt zu meiner Umwelt herstellen konnte. Ihr<br />

braucht euch deshalb nicht wirklich zu beunruhigen, wenn ihr<br />

vorübergehend einmal nichts von mir hört. Man hatte mich ja<br />

bekanntlich bewusst in einen tiefen Schlaf versetzt <strong>–</strong> doch ich<br />

könnte schwören <strong>–</strong> es sollte der in meinem ersten Lebensjahr<br />

finale big sleep gewesen sein. Kein Lid sollte sich mehr vollends<br />

schließen, ein kleiner Spalt blieb immer offen. Damit<br />

würde ich bereit sein für die Weltneuheiten, Amüsements,<br />

Katastrophen und galaktischen Begegnungen der angenehmen<br />

und unheimlichen Arten. Doch vorerst war ich abgetaucht<br />

und träumte mich durch ein Labyrinth dunkler Phantasien.<br />

Als ich dann während meiner Spätwinterschlafphase<br />

ausnahmsweise nicht von desaströsen Geburtsalbträumen<br />

verfolgt wurde, begegnete ich einem spleenigem Flughund,<br />

der mich mit allerlei Kauderwelsch und sonstigen Albernheiten<br />

zusülzte. Er stellte sich mir als Batolio vor, einem Abendsegler,<br />

der seinen Winterschlaf vorzeitig abgebrochen hätte,<br />

um bei meiner Geburt als Pate und Glücksbote abzuhängen.<br />

27


28<br />

Nunmehr gastiere er selbst in einem Fledermaustherapiezentrum,<br />

wo man ihn kräftig aufpäppeln und auch sonst wie hervorragend<br />

umsorgen täte. Wenn er fit sei würde er seine Mission,<br />

mein zukünftiges Leben und Leiden mit aufopferungsvoller<br />

Fürsorge zu begleiten, erfüllen. Der kleine Batolio wurde<br />

zunehmend melancholisch, derweil er mir sein trauriges Lied<br />

vorsang: Zehn kleine Fledermäuse<br />

Zehn kleine Fledermäuse<br />

hingen in ´ner Scheun<br />

eines hatt´ sich abgeseilt<br />

da waren´s nur noch neun<br />

Acht kleine Fledermäuse<br />

ham sich rumgetrieben<br />

eins hatt´ sich der Uhu gekrallt<br />

da waren’s nur noch sieben<br />

Sechs kleine Fledermäuse<br />

flogen durch die Sümpf<br />

eines steckt im Moor nun fest<br />

da waren’s nur noch fünf<br />

Neun kleine Fledermäuse<br />

hingen in ´nem Schacht<br />

eines war verkohlet worden<br />

da waren’s nur noch acht<br />

Sieben kleine Fledermäuse<br />

waren bei ´ner Hex<br />

eines war verzaubert worden<br />

da waren’s nur noch sechs<br />

Fünf kleine Fledermäuse<br />

streiften durch´s Revier<br />

in Dortmund war eins hängengeblieben<br />

da waren`s nur noch vier<br />

Vier kleine Fledermäuse<br />

waren beim Samurai<br />

eines hatt´ ein Schwert geküsst<br />

da waren´s nur noch drei<br />

Zwei kleine Fledermäuse<br />

liebten sich in Mainz<br />

die Paarung wollte nicht gelingen<br />

jetzt gibt es nur noch eins<br />

Drei kleine Fledermäuse<br />

segelten zur Polizei<br />

eines hing in U-Haft fest<br />

da waren´s nur noch zwei<br />

Eine kleine Fledermaus<br />

trifft den kleinen Luca<br />

nun schaukeln sie in der Hängematte<br />

und hören John Lee Hooker<br />

Der bluesige Song trug den Titel: „The healer“ und sollte<br />

mich ermutigen an die Magie der Wunderheilung zu glauben.<br />

Der große Wunderheiler wird kommen und mir meine<br />

gestohlene Gesundheit zurück schenken. Doch dann verflüchtigten<br />

sich meine Gedanken und sahen sich plötzlich<br />

mit einem akuten W-Problem konfrontiert: „Wo bin ich? <strong>–</strong><br />

Wie bin ich hier hergekommen? <strong>–</strong> Wer bin ich? <strong>–</strong> <strong>Was</strong> soll ich<br />

hier? <strong>–</strong> Und warum ist überhaupt etwas passiert, was nicht<br />

hätte geschehen dürfen?“.<br />

Ma und Pa lebten derweil auch in einer Art Dämmerzustand.<br />

Es war eine gnadenlose Zeit zwischen der ganz normalen<br />

Härte und dem Rotationspalast des systematischen<br />

Wahnsinns. Wie bewegen sich eigentlich 4300 Gramm<br />

Geburtsgewicht bei einer Körperlänge von 56 cm?<br />

Gar nicht! Basta!<br />

29


30<br />

Jeden Tag bekamen meine Eltern eine Dosis fein portionierter<br />

Hiobsbotschaften zu Ohren, von denen sie wünschten,<br />

dass sie taub wären. Sie schluckten bittere Pillen, ich<br />

schlucke nie. Sie trugen vorübergehend dünne Häute. Sie<br />

standen auf einer Brücke und starrten hinab auf einen ausgetrockneten<br />

Flusslauf. Als sich ihre gesammelten Tränen<br />

zu einer megagroßen Wolke vereinten, die anschließend<br />

kübelweise abregnete, entstand ein reissender Fluss, der<br />

die Tristesse ihrer Gedanken mit sich riss. „I want to be back<br />

in my cocoon. Ich will sofort zurück in mein warmes, meinen<br />

gestressten Körper umhüllendes Fruchtwasserbecken.“<br />

„Hypoxischer Cerebralschaden mit Porencephalie nach<br />

peripartaler Asphyxie bei Nabelschnurknoten.“ Das klang<br />

wie ein donnernder Hammerschlag. Bei der Aussprache<br />

dieser Diagnose brach jemand sich die Zunge und rang<br />

dann nach Luft. Verstanden hat er freilich nichts. Kurz<br />

gesagt: Ein offensichtlich extremer Sauerstoffmangel hatte<br />

mein Gehirn geschädigt. Es bildeten sich Höhlen in meinem<br />

noch unreifen, nicht reaktionsfähigem Großhirn- und Kleinhirnmark.<br />

Die Ärzte hatten per Ultraschall die Bildung eines<br />

Hirnödems, Einlagerung von <strong>Was</strong>ser in den Zellen, festgestellt<br />

und schwankten zwischen Unwissenheit und rabenschwarzen<br />

Prognosen. Ein massiver Zellverlust war zu<br />

befürchten, wobei einmal verlorene Gehirnzellen nicht wieder<br />

erneuert werden können. Meine „Hauptverwaltung“ sah<br />

sich ständig mit zentralen Steuerungsproblemen konfrontiert.<br />

Pa konnte seinen „Schenk-Danziger“, ein Buch über<br />

Entwicklungpsychologie im Bücherregal stehen lassen.<br />

Themen wie: Die Verhaltensweisen im ersten Lebensjahr,<br />

die Periode der ersten spezifischen Reaktionen auf die<br />

Umwelt, das Greifen, das erste Lächeln, Vorstufen der Sprache,<br />

Entwicklung der Motorik und sonstiges Gedeihen <strong>–</strong><br />

alles Betrachtungen von geringer Bedeutung. Statt dessen<br />

blätterte er tagein-tagaus in einem Diagnosenschocksammelalbum,<br />

versank oft stundenlang in einem Meer der Hoffnungen<br />

und Enttäuschungen. Jedesmal, wenn er wieder<br />

auftauchte, um nach Luft zu schnappen, spuckte er in<br />

hohen Bogen eine weitere fatale Diagnose aus: „Schluck-<br />

Schlingstörung!“ So eine Diagnose steht außerhalb des<br />

normalen Vorstellungsvermögens eines gesunden Menschen,<br />

der über die Kulturtechniken der Nahrungsaufnahme<br />

verfügt. Ich sollte also nicht in der Lage sein, oder je in<br />

eine solche versetzt werden, Flüssigkeiten und feste Nahrungsmittel<br />

vom Mund in den Magen zu befördern. Ein elementares<br />

Bedürfnis der ess- und trinkfreudigen Mensch-<br />

31


32<br />

heit sollte unbefriedigt bleiben. Bei oraler Nahrungsaufnahme<br />

könnte es zu akuten Erstickungsanfällen kommen, wenn<br />

Speichel und Erbrochenes in der Mundhöhle und in den<br />

Wangentaschen verbleiben oder in die Luftröhre gelangen.<br />

Es bestand eine ständige Aspirationsgefahr. Ich brauchte<br />

keinen Mund, nicht einmal zum Lallen oder Bussis verteilen,<br />

weil es wahrnehmungsmäßige und motorische Funktionsausfälle<br />

gab. „Brust oder Keule?“ <strong>–</strong> Ja, da nehme ich doch<br />

lieber die Keule. Aber wem soll ich sie um die vermaledeiten<br />

Löffel hauen, zumal ich auch zu normalen Bewegungen gar<br />

nicht fähig sein sollte. Außerdem hatte ich an beiden Händen<br />

je einen nach innen eingeschlagenen Daumen, mit<br />

denen ich zwar wütende Fäuste ballte, mehr aber nicht. Alle<br />

waren plötzlich wie gelähmt. „Tetraplegie <strong>–</strong> Lähmung meiner<br />

Arme und Beine“. Infolge dieser spastischen Lähmung kam<br />

es zu einer dauerhaften Erhöhung des Spannungszustandes<br />

meiner Muskeln, die durch passive, vor allem aber durch<br />

ruckartige Bewegungen zusätzlich verstärkt wurden. Alsbald<br />

begrüßten meine Eltern Harm, einen holländischen<br />

Physiotherapeuten, der ihnen einen kleinen Bobath-Kursus<br />

vermittelte. Er führte sie ein ins Handling eines spastischen<br />

Babies und in die Techniken des An- und Auskleiden unter<br />

angespannten Bedingungen, während ich tatsächlich wie<br />

ein gespannter Flitzebogen in meinem Thermobett kauerte<br />

und Muskelschmerzen aushielt. Ich war also ein extrem<br />

schlaffes Kind ohne Spontanbewegungen, mit einem überstrecktem<br />

Rücken und einem zurückgebeugten Kopf. Von<br />

den Angelsachsen wurde ich als floppy infant bezeichnet.<br />

Ein gelähmtes Baby mit guten Aussichten auf wenig Erfolg.<br />

Mein flippiger, anglophiler Pa begab sich alsbald unter die<br />

Liedermacher, um einen mitreißenden Song zu komponieren,<br />

der nachhaltig untermauern sollte, wie es um mich und<br />

meine körperlichen Funktionen bestellt war. Batolio ahnte<br />

jedoch, dass Pa nichts von Noten verstand und auch kein<br />

einziges Musikinstrument spielen konnte. Selbst eine Triangel<br />

erinnerte ihn lediglich an seinen damals so verhassten<br />

Geometrieunterricht. Der folgende Text eignet sich somit<br />

nicht zum Mitsingen, sollte aber trotzdem nicht ignoriert<br />

werden.<br />

FLOPPY INFANT<br />

1. Ich kann nicht schreien<br />

ich kann nicht lachen<br />

ich kann nur Mienenspiele machen<br />

doch bin ich gut in and´ren Dingen<br />

zum Beispiel um mein Leben ringen<br />

Refrain<br />

I am a poor boy<br />

Floppy Infant<br />

but guarenteed a babe that feels<br />

2. Ich kann nicht saugen<br />

ich kann nicht schlucken<br />

ich kann nur brechen und auch spucken<br />

doch sonst bin ich ´ne wilde Nummer<br />

was wär` mein Leben ohne Kummer<br />

3. Ich kann nicht gähnen<br />

ich kann nicht schlafen<br />

ich kann euch nur mit Blicken strafen<br />

doch bin ich stark im Ganztagsträumen<br />

von Sonne, Licht und hellen Räumen<br />

4. Ich kann nicht greifen<br />

ich kann nichts fassen<br />

ich kann so vieles unterlassen<br />

doch lieg ich gern in Positionen<br />

wo sich Massagen richtig lohnen<br />

33


34<br />

5. Ich kann nicht frieren<br />

ich kann nicht schwitzen<br />

ich kühl nur ab um zu erhitzen<br />

denn ich bin Meister Fahrenheit<br />

im Sommer und zur Winterszeit<br />

6. Ich kann nicht krabbeln<br />

ich kann nicht rollen<br />

ich schöpf die Power aus dem Vollen<br />

denn ich bin ein bewegtes Kerlchen<br />

man nennt mich auch slow motion Bärchen<br />

7. Ich kann nicht klatschen<br />

ich kann nicht stampfen<br />

ich kann jedoch sehr heftig krampfen<br />

denn ich bin Held der Pflegeklasse<br />

vor Qualität setz´ ich auf Masse<br />

8. Ich kann nicht weinen<br />

ich kann nicht lallen<br />

ich kann nur in mein Trauma fallen<br />

doch hab ich Charme im Strahl der Sonne<br />

ich bin ein Proppen mit viel Wonne<br />

9. Ich kann nicht sehen<br />

ich kann schwer hören<br />

ich kann euch wundervoll betören<br />

denn ich bin Weltmeister im Schmusen<br />

an Papa´s Brust und Mama´s Busen<br />

10. Ich kann schlecht atmen<br />

ich kann nicht schmecken<br />

ich werde alle Geister wecken<br />

denn ich bin Luca <strong>–</strong> Schicksalsjunge<br />

ich zeig´ der Welt die rote Zunge<br />

Ich hatte den Blues endgültig für mich entdeckt und haderte<br />

als Schicksalsjunge mit meinen funktionellen Einschrän-<br />

kungen. Pa lehnte derweil mit sentimentalem Gemüt am<br />

Tresen einer Pianobar, vor ihm ein Glas Bushmills Malt Irish<br />

Whiskey und das weit aufgeschlagene Diagnosenschocksammelalbum:<br />

„Jede Strophe ist eine Katastrophe,<br />

jede Diagnose versetzt mich in Hypnose.“<br />

Er stand am Knotenpunkt des Lebens, während der edle<br />

Tropfen ihm eisern durch die Kehle rann, und philosophierte:<br />

„Egal welche Richtung wir von nun an gehen. Wir dürfen<br />

niemals, niemals die Orientierung verlieren.“<br />

35


36<br />

Fünftes Kapitel<br />

Der Absäugling<br />

Wie man zum Rotzlöffel der Nation erklärt wurde<br />

Papas olles Diagnosensammelalbum ließ sich einfach nicht<br />

zuschlagen.<br />

Es wäre allerdings auch ein dilettantischer Akt gewesen,<br />

meine geneigte Leserschaft davon abzuhalten, weiterhin<br />

ihre neugierigen Nasen in die erschütternden Geschehnisse<br />

meines ach so jungen Lebens hineinzustecken. Denn nun<br />

komme ich langsam und behutsam zu den Sach-, Lach- und<br />

Weingeschichten meiner Seelen-, Sinnes- und Körperwelt.<br />

Meine Nase, eine stubsige von zartem Format, sollte von<br />

meinen Sinnesorganen das wichtigste in vielfacher Hinsicht<br />

sein. Das ich gut roch, verstand sich ja hoffentlich von selbst.<br />

Schließlich riechen doch alle Babys gut, wenn man ihnen<br />

nicht ihre Häute mit Ölen und Lotions ramponiert. Ob ich<br />

denn meine Liebsten bei meinem ersten Schnupperkurs<br />

auch riechen würde? Es gibt da ja noch eine Nase in meiner<br />

Nase, ein sogenannter Schleimhautschlauch, der darüber<br />

entscheiden soll, ob wir einander riechen können. Dies<br />

behaupten jedenfalls einige Forscher. Der Schleimhautschlauch<br />

ist ein dünner, blind endender Schlauch von<br />

zwei bis acht Millimetern Länge an der rechten und linken<br />

Seite im unteren, vorderen Teil der Nasenscheidewand. Am<br />

Ende des Schlauches befinden sich helle längliche Sinneszellen,<br />

die zahlreiche Nervenfasern enthalten. Die Forscher<br />

vermuten nun, dass Spüldrüsen wasserreiches Sekret<br />

abgeben, in dem sich Pheromone lösen und so zu den Sinneszellen<br />

im Organ gelangen. Da aber unklar ist, ob die hor-<br />

monähnlichen Stoffe an Gehirnstrukturen weitergeleitet<br />

werden und ob letztere überhaupt bei mir vorhanden sind,<br />

lassen wir die Forscher zurück in ihrem Labor und wenden<br />

uns weit ätzenderen Themen zu: dem Schleim, diversen<br />

Schläuchen und tief bewegenden Geräuschen. Ein<br />

Schlauch, eine sogenannte Nasensonde, blieb mir dabei<br />

recht unangenehm in Erinnerung, obwohl er lebensnotwendig<br />

war. Ihr könnt euch vielleicht meine Begeisterung<br />

vorstellen, wenn so ein röhrenförmiges Teil durch die Nase<br />

über die Speiseröhre bis in den Magentrakt geführt wird.<br />

Ma`s abgezapfte Milch wurde dann mittels Spritze durch<br />

den Schlauch in mein Bäuchlein injiziert, wo diese die Magensäfte<br />

kräftig aufmischte, dass ein Teil der Nahrung<br />

prompt wieder hochkam. Das war dann echt geschmackvoll.<br />

Meine Magen- und Darmfunktion hatte offenbar auch<br />

keinen Vertrag mit der Schaltzentrale im Stammhirn. Später<br />

wurde die <strong>Du</strong>rchlaufprozedur dann von einem Perfusor<br />

gesteuert. Das ist eine Infusionsspritzenpumpe mit digitaler<br />

Einstellung der Perfusionsgeschwindigkeit, des Druckes<br />

und des Volumens. Mein kleiner multifunktioneller Riechkolben<br />

durfte echt für alles herhalten. Meine Eltern schauten<br />

zuweilen recht betrüblich in meinen Mund und fragten<br />

sich, ob der wohl Zähne bekäme. Eines Tages sollten<br />

tatsächlich vier schneidige, krumm- und schiefwachsende<br />

Beißerchen herausschießen und ein funktionsloses Dasein<br />

in meinem stets geöffneten Mund verbringen. Kurze Zeit<br />

später wurden die beiden dann mit einem Therapeuten<br />

bekannt gemacht, der eine Methode kannte, um meinen<br />

fehlenden Schluckreflex wieder in Gang zu bringen. Wir<br />

ließen ihn jedoch vorläufig vor der Tür stehen, um ihn bei<br />

passender Gelegenheit zu Wort- und Ideenreichtum kommen<br />

zu lassen. Zunächst aber wurden sie einem Gastrolo-<br />

37


38<br />

gen vorgestellt, einem Facharzt, der mir ganz schön kräftig<br />

auf den Magen schlug. Jedenfalls hatte der die Idee, mir<br />

operativ eine PEG anzulegen. Ich sollte also eine perkutane<br />

endoskopische Gastronomie als Methode zur enteralen<br />

Langzeiternährung über mich ergehen lassen. Vereinfacht<br />

ausgedrückt handelt es sich um einen Schlauch, der durch<br />

die Bauchdecke direkt in den Magen führt. Der Schlauch<br />

wird im Magen und an der Bauchdecke fixiert und hat am<br />

herausragenden Ende ein Adapterstück für Medikamentenspritzen<br />

und den Anschluss einer Ernährungspumpe. Ich<br />

empfand die Idee als eine Riesenschweinerei und bezeichnete<br />

das Teil fortan als pig, den Schweineschlauch. Toot<br />

konnte mir diesbezüglich nur beipflichten, grunzte herzhaft<br />

und trottete gemächlich davon, um sich in seinem Saustall<br />

zu suhlen, nicht ohne sich zuvor von seinem Sorgenrucksäckle<br />

vorübergehend entledigt zu haben. Mein Sorgenrepertoire<br />

als kleiner Erdenbürger war ja hinlänglich<br />

bekannt. Die Verträglichkeit der Nahrung für meinen kleinen<br />

Magen war jedoch eine recht komplizierte Chose. Von<br />

der Krankenkasse bekam ich jetzt eine Ernährungspumpe<br />

bereitgestellt. Diese war so konstruiert, dass man analog der<br />

errechneten Einfüllmenge pro Nahrungsvorgang das Volumen<br />

und die Laufzeit programmieren konnte. Ich möchte<br />

euch die weiteren technischen Details ersparen, hatten diese<br />

doch ihre besonderen Tücken. Für mich hatte man eine<br />

Laufzeit von 100 Millilitern Flüssigkeit pro Stunde festgelegt.<br />

Das nannte ich einen galaktischen Fingerhut-Ernährungsplan.<br />

Ich stellte mir Papas verwirrten Gesichtsausdruck vor,<br />

wenn man ihm in seiner Stammkneipe 1000 mit köstlichem<br />

Gerstensaft gefüllte Fingerhüte vorgesetzt hätte. Ihr kennt ja<br />

bestimmt die berühmte Geste: „Man fasst sich an den Kopf<br />

und greift ins Leere!“ Der mechanische Magenabfüllvor-<br />

gang sah nun vor, dass circa alle zehn bis elf Sekunden<br />

schlappe acht Tropfen Milch <strong>–</strong> später gab es Astronautenkost<br />

<strong>–</strong> aus einem Beutel in ein Auffanggefäß und von dort<br />

weiter durch den Schlauch in mein Bäuchlein gepresst wurden.<br />

So erreichten dann schlappe 43,5 Tropfen nach einer<br />

Minute und circa 2620 Tropfen nach einer geschlagenen<br />

Stunde meinen schier unersättlichen, kleinen Magen.<br />

„Dröppje voor Dröppje“ könnte somit ein waschechter<br />

Luca-Slogan sein. „Hey“ rief Batolio beswingt „die einzig<br />

wahre Alternative zu Burgern und sonstigem Fast Food ist<br />

Luca´s Slow Food“. Dabei appelierte er an alle Opfer einer<br />

übergewichtigen Gesellschaft: „Friss die Hälfte in zehnfacher<br />

Zeit und du brauchst dich bei keinem Bauchtanzkurs<br />

anmelden. Der wäre dann wech, wie bei Luca´s Papa.“ Eine<br />

Weile bekam ich viermal täglich je ein Portion von zweihundert<br />

Millilitern in insgesamt acht Stunden eingeflößt.<br />

Wenn man noch die Nachspülungen zur Schlauchreinigung<br />

je Vorgang, sowie sämtliche Medikamentengaben<br />

inklusive Fencheltee hinzu addierte, kam man auf sage und<br />

schreibe zehn Stunden Flüssigkeitszufuhr. Dabei hatte ich<br />

alles andere als eine Babymodell-Traumfigur, bekam eine<br />

Trichterbrust und konnte mein Gewicht nie über zehn Kilogramm<br />

steigern.<br />

Ich habe ein wenig vorgegriffen, zumal mein Ernährungsplan<br />

mittels Ernährungspumpe erst nach meiner Entlassung<br />

eingeleitet wurde und vielen Veränderungen unterworfen<br />

war. Damit spiele ich auf zuweilen recht denkwürdige<br />

Zwischenfälle an, die absolut nicht nach meinem<br />

Geschmack waren. Sie fielen unter die Rubrik: „<strong>Du</strong>rchfallquote“,<br />

welche allerdings mit Diarrhö und ähnlichen Unannehmlichkeiten<br />

nichts gemein hatte. Sie werden euch an<br />

anderer Stelle dieses kostbaren Buches unter die neugieri-<br />

39


40<br />

ge Nase gerieben. Die Sache mit der pig hatte leider einen<br />

ganz gewaltigen Haken, einmal davon abgesehen, dass ich<br />

quasi ein neues Körperteil besaß, welches ich irgendwann<br />

als solches akzeptieren würde. Der Haken betraf meine<br />

unberechenbaren Vitalfunktionen, die urplötzlich massive<br />

Probleme bereiteten. Man hatte sich offensichtlich zu früh<br />

darüber gefreut, dass der unter Narkose erfolgte operative<br />

Eingriff körperlich gut verkraftet würde. In zwei aufeinanderfolgenden<br />

Nächten wollte mein Körper das soeben unter<br />

wahnsinnigen Anstrengungen errungene Handycap-Leben<br />

aushauchen, indem es während heftiger Krampfanfälle zu<br />

Apnoe- und Zyanoseattacken, also zu Atemstillständen und<br />

bläulichen Verfärbungen der Haut, kam. So musste ich zweimal<br />

erfolgreich reanimiert werden. Dr. Hiob, `tschuldigung,<br />

Dr. Horn und meine Lieblingsschwester Edeltraud schauten<br />

mit tiefen Sorgenfalten aus der weißen Wäsche, nahmen<br />

meine Eltern beiseite und offerierten ihnen die trübe Aussicht,<br />

möglicherweise bald ein schweres Kreuz tragen zu<br />

müssen. In meinem Sinne wurde sodann eine Patientenverfügung<br />

erlassen, welche eine nochmalige Reanimation<br />

unter allen Umständen negierte. Sack und Asche! Toot, mein<br />

bemitleidenswertes Wanderschwein und Sorgenträger,<br />

wäre beinahe unter der tonnenschweren Last zusammen<br />

gebrochen, hätten Pa und Ma ihm nicht sofort einen Teil der<br />

Bürde abgenommen. So schrieb Pa tröstende Worte auf eine<br />

Postkarte, faltete sie zusammen und steckte die Karte in<br />

Toots kleinen Rucksack. Da ich euch als wissbegierige<br />

Leserschaft schätzen gelernt habe, möchte ich euch den<br />

Text garantiert nicht vorenthalten:<br />

„Lieber Luca Felipe,<br />

ich heiße Toot und bin ein kleines rosafarbenes Wander-<br />

schwein. Fortan werde ich dir ein treuer Wegbegleiter sein. In<br />

meinem Rucksack trage ich die Sorgen, Wünsche, Ängste<br />

und Hoffnungen deiner Eltern Birgit und Wolfgang, deiner<br />

Großeltern und aller lieben Menschen, die mit ihren Gedanken<br />

bei dir sind, sowie deiner Paten Gottfried, Ralf und Gabi.<br />

Wenn es dir, Luca, gut geht, trage ich eine Sonne, die dein<br />

Herz erwärmt.<br />

Wenn es dir, Luca, weniger gut geht, trage ich einen Mond. Er<br />

schenkt dir Gehör für deine Nöte und er schenkt dir seine<br />

Stimme, die uns wissen läßt, was du brauchst.“<br />

Die Karte selbst ziert ein Motiv, auf welchem der Betrachter<br />

von einem grünem Grashügel auf einen See hinunter<br />

schaut. Am Horizont leuchten die satten Farbe der untergehenden<br />

Sonne. Mein bis in alle Glieder zutiefst erschütterter<br />

Freund und Leidensgenosse Batolio riet dazu, eine sofortige<br />

Nottaufe zu organisieren, welche am folgenden Tag<br />

stattfinden sollte. Als sich dann alle um mich versammelt<br />

hatten, meine Eltern, Ma´s Eltern, ihr Bruder Ralf, Onkel<br />

Gottfried, Schwester Edeltraud, sowie ein hiesiger Pastor,<br />

erhielt ich mein erstes Sakrament. Ich wurde gesalbt und<br />

bekam kühles <strong>Was</strong>ser über mein Haupt geträufelt. Oh Quelle<br />

des Lebens. Just in diesem sakralen Moment der erfrischenden<br />

Tropfen riss ich meine Augen auf und rief mit meinem<br />

Herzen voller Sehnsucht: „Um Himmels Willen! Fürchtet<br />

euch nicht. Ich bin nicht auf diese Welt gekommen, um<br />

euch gleich wieder zu verlassen. Ich gehe mit euch nach<br />

Hause, auch wenn der Weg ein steiniger sein wird.“ „Steinig“,<br />

lachte Pa inbrünstig, „megagroße Felsen werden sich<br />

vor uns auftürmen. Doch wie solche werden auch wir in der<br />

Brandung stehen, wenn die Fluten uns zu überrollen drohen.“<br />

Ich hatte mich nun endgültig für das irdische Leben<br />

41


42<br />

entschieden. Allerdings wusste ich nicht, wie ich den Fluten<br />

jemals standhalten sollte, die mein Bronchialsystem zu<br />

überschwemmen drohten. So kann ich getrost zu einem<br />

meiner Lieblingswörter überleiten, dem griechischen Wort<br />

„hyper“, was soviel wie „über“ heißt und in Zusammensetzung<br />

mit lateinischen Hauptwörtern dann „super“ bedeutet.<br />

Schaut ruhig nach in einem medizinischen Wörterbuch, falls<br />

ihr es euch mittlerweile angeschafft habt. Das ist hypervoll<br />

mit Begriffen dieser Art. <strong>Was</strong> mein Atemzentrum betraf, so<br />

schaut man nach dem Begriff „Hypersekretion“, was soviel<br />

heißt wie super absondern. So gesehen flutmäßig abrotzen.<br />

Im Kapitel über meine Kinderkrankenschwester werde ich<br />

euch die Aktionen und deren Folgen sehr praxisnah demonstrieren.<br />

Ich bezeichnete meine Hypersekretion als „Secretia<br />

Service“, eine Mobilisationstruppe im ständigen Einsatz.<br />

Habt ihr schon einmal etwas von der Firma Tempo gehört?<br />

Ich könnte dort Dauerbezieher werden oder gleich die<br />

gesamte Produktion auf mich abstellen lassen. Mit Tempo<br />

meine ich aber eher die Schnelligkeit meiner Eltern, wenn<br />

sie heraneilen mussten, um mir den Schnodder mittels blau<br />

eingefärbter Stoffwindeln aus der Nase zu ziehen. Zu meinem<br />

tiefen Bedauern kam nun noch ein weiterer Schlauch<br />

zum Einsatz, der sogenannte Absaugkatheder. Ich wollte<br />

nicht gerade behaupten, dass ich diesen Fremdkörper hasste,<br />

schließlich brachte Absaugen ja auch Linderung. Ich<br />

hielt da schon freiwillig meine Nasenlöcher hin. Dabei<br />

untermalte ich die Rotzerei sehr hingabevoll mit reichlich<br />

gewürzten Geräuschen, die leider die Schmerzensäußerungen<br />

nicht unterdrücken konnten. In meinem Bronchialsystem<br />

war manchmal der Teufel los. Der sorgte für ständigen<br />

Nachschub und ließ mich ganz schön leiden, weil er wusste,<br />

dass ich mich nicht so dolle wehren konnte und ganz viel<br />

Kraft aufbringen musste, um das glitschende und glibbernde<br />

Teufelszeug nach draußen zu befördern. Der Schwall,<br />

der zumeist aus wässriger, weißlicher Flüssigkeit bestand,<br />

ergoss sich dann je nach Liegeposition quer über mein<br />

Gesicht bis hinter beide Ohren und selbstverständlich auch<br />

auf meine schicke Kleidung. Da rotierte der Lavamat unaufhörlich,<br />

bis er eines Tages den Maschinengeist aufgab. Die<br />

ganz tief sitzenden Sekrete wiesen dagegen einen gelblichen<br />

Farbton auf, der die Existenz ganz fieser Erreger pulmonaler<br />

Ärgernisse bewies. Diese Lungenkiller tauchten<br />

plötzlich wie aus dem Nichts auf, eine Armee hochinfektiöser,<br />

unbarmherziger Keime mit der Bezeichnung „Pseudomonas<br />

Aeruginosa“. Sie ergriffen Besitz von einigen meiner<br />

Lungenareale, die, wie ihr noch hören werdet, leidlich ihrer<br />

zunehmenden Zerstörung entgegen fieberten. Sie schlichen<br />

sich heimlich an, verhielten sich erst auffällig still, veränderten<br />

dann zunehmend die Zusammensetzung ihrer<br />

Zellhüllen und produzierten unglaubliche Mengen eines<br />

schleimbildenden Kohlehydrats, dem Alginat. Alsdann bildeten<br />

sie Mikrokolonien, bevor sie zur finalen, brachialen<br />

Attacke übergingen. Ich setzte sofort nach der Devise<br />

„Angriff ist die beste Verteidigung“ zum resoluten Gegenschlag<br />

an, indem ich offensivstarke Fresszellen, die weißen<br />

Blutkörperchen, aktivierte, um die gnadenlosen Pseudos in<br />

Schach zu halten. Der Gegner war jedoch unerbitterlich,<br />

sollte bald das chronische Stadium erreichen, in dem es<br />

unweigerlich, auch unter Einsatz stärkster Waffen, nicht<br />

mehr zu eliminieren sein würde. Der Feind war dabei mein<br />

Lungengewebe radikal zu vernarben, ja geradezu meine<br />

Atemaustauschfläche zu mindern. Die Pseudomonas sollten<br />

mir also eine lang andauernde und immer wieder neue<br />

Antibiose, hochfrequentige Atemtherapien, diverse Lage-<br />

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44<br />

rungsarten zur adäquaten Belüftung sensibler und angegriffener<br />

Flächen, sowie eines Tages einen Sauerstoffkompressor<br />

verschaffen. Allen kräftezehrenden Verteidigungsstrategien<br />

zum Trotze wurde mein Absauggerät, kurz das<br />

Accuvac genannt, mein ständiger Begleiter. Das Absaugen<br />

meines zuweilen unaufhörlich quellenden Schleimes<br />

brachte mir die Bezeichnung „Rotzlöffel der Nation“ ein, was<br />

ich mit einer Prise Humor freundlich entgegennahm.<br />

Weniger komisch, ja eher absonderlich, fand ich dagegen<br />

die Tatsache, auch noch als Absäugling in die Geschichte<br />

tragischer Helden einzugehen. Wäre ich in das Big Brother<br />

Haus eingezogen, hätte man binnen zwei Tagen die Bewohnerschaft<br />

samt Regie weg nominiert. Ihr denkt jetzt vielleicht,<br />

das Kerlchen will euch an der Nase herumführen. No,<br />

no! Wer eben nicht saugt, der wird abgesaugt!<br />

Ich beginn` es zu hassen<br />

und schneide Grimassen<br />

die Fäustchen geballt<br />

leise „Scheiße“ gelallt<br />

knallrot mein Gesicht<br />

alles ist dicht<br />

möchte gern schreien<br />

mich vom Schleim befreien<br />

Der Absäugling<br />

ich fang an zu stöhnen<br />

das Gerät ist am Dröhnen<br />

Schlauch tief nasal<br />

es ist eine Qual<br />

der Sog ist enorm<br />

komm` doch langsam in Form<br />

oh freie Lungen<br />

das ist hyper gelungen.<br />

Es gab Tage, da hatte ich die Nase derart gestrichen voll,<br />

dass ich mich am liebsten auf der schnellsten Spur weggeschleimt<br />

hätte. Mein allseits beliebter Patenonkel Gottfried<br />

verstand etwas von Assoziationen und schenkte mir zur<br />

Geburt eine Schnecke. Dieses rot-gelbfarbige Stofftier trug<br />

einen blauen Hut und war zudem sehr musikalisch, konnte<br />

aber letztlich auch nichts daran ändern, dass eine verstopfte<br />

Nase oder ein vollbesetzter Schleimwaggon nicht auf<br />

Gutenachtlieder reagiert. Jene Tage, von denen es reichlich<br />

gab <strong>–</strong> nicht zu vergessen auch die zahlreichen Nächte <strong>–</strong><br />

waren gekennzeichnet durch massive Probleme. Trotz aller<br />

Anstrengungen war ich meist nicht in der Lage, den meine<br />

Atmung blockierenden Schleim loszuwerden, fehlte es mir<br />

doch auch an einem befreienden Hustenreflex. Da konnte<br />

ich pressen, drücken, stöhnen, wie ich wollte. Der Sekretstau<br />

ließ sich nicht lösen. Da half dann zwischendurch nur<br />

noch das Schnupfenmittel Olynth, wobei ich mich allerdings<br />

fragen musste, wie die Pharmazeuten auf derartige<br />

Namen kommen. Olynth war nämlich eine Stadt auf der Halbinsel<br />

Chalkidiki in Makedonien, welche von Philipp II von<br />

Makedonien erobert, zerstört und nicht wieder aufgebaut<br />

wurde. Wer weiß, was in meiner Nase nicht bereits alles zerstört<br />

wurde, einmal abgesehen von der Tatsache, dass ich<br />

meine Alten doch tatsächlich hyper riechen konnte. So und<br />

jetzt lasst mich in Ruhe. Ich muss jetzt einen, wahrscheinlich<br />

vergeblichen, Versuch unternehmen, meine müden Äuglein<br />

zum Abschnarchen zuzudrücken. Gut`s Nächtle <strong>–</strong> schnorchelnder<br />

Luca.<br />

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46<br />

Sechstes Kapitel<br />

Der Bunte Kreis<br />

Wie man sich nachsorglich den Weg nach Hause bahnte<br />

In jener Zeit, in der ich noch im Rechteck meines Thermobettchen<br />

in Flitzebogenstellung verharrte und von keiner<br />

Seite auch nur annähernd positive Signale gesetzt wurden,<br />

entstand ein illustrer Kreis von Personen, die einen ganz<br />

weltoffenen, gemeinnützigen Verein der freien Wohlfahrtspflege<br />

gründen wollten. Er sollte den Namen: Bunter Kreis<br />

Münsterland e.V. <strong>–</strong> Verein zur Familiennachsorge <strong>–</strong> tragen.<br />

Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen bezüglich der zukünftigen<br />

Arbeit standen Kinder wie ich und Leidgenossen aller<br />

Art. Frühgeborene, Kinder mit Erbkrankheiten, geschädigte<br />

Kinder infolge von Alkohol-, Drogen- und Medikamentenmissbrauchs,<br />

chronisch Erkrankte, von Krebs befallene, verunfallte<br />

und was die betrübliche Palette der bekannten und<br />

weniger bekannten Krankheiten und Behinderungen sonst<br />

noch so hergab. Das Modell der Nachsorge war jedoch keine<br />

neue Erfindung des genannten Personenkreises, sondern<br />

wurde schon als Augsburger Modellprojekt im Jahre<br />

1993 ins Leben gerufen. Das zugrunde liegende Konzept<br />

sollte demnach überall erfolgreich etabliert werden, so auch<br />

in meinem Münsterländle. Ich war jedenfalls einer der<br />

ersten kleinen Patienten, die in das Nachsorgeprogramm<br />

aufgenommen wurden.<br />

Nach den ersten Wochen meines intensivstationären<br />

Aufenthaltes wusste niemand eine rechte Antwort auf die<br />

Frage, welchen Weg ich wohin gehen würde. Quo vadis Bambino<br />

Luca? Vom Thermobett per Kindersarg via Kapelle auf<br />

den Waldfriedhof? Von der Intensivstation via Kinderstation<br />

in eine medizinisch-therapeutische Vollzeiteinrichtung wie<br />

Bethel oder gar nach Hause in den weichen Schoß der<br />

Familie? Bei letztgenannter Alternative würde ich unaufgefordert:<br />

„Give me Five“ abklatschen. Doch mein eingeschlagener<br />

Daumen hinderte mich daran. Ein anderer Daumen<br />

zeigte eher nach unten, meldeten sich doch Zweifel bei den<br />

Betroffenen. Welchen Bedarf an medizinischem Geräte-<br />

Equipment würde ich haben, wer würde die Geräte fachgerecht<br />

bedienen können? Sind meine Eltern nicht ausgesprochene<br />

Laien, die ehrfürchtig vor der Technik auf die<br />

Knie gehen?<br />

Man steckte, so wie auch bei vielen anderen Dingen, nicht<br />

drin, außer in einer Sinnkrise. Das war jedoch kaum mein<br />

Problem. Es ist alles nur eine Frage der Einstellung, des<br />

Zutrauens, der Überwindung von ureigenen, meistens<br />

unbegründeten Ängsten.<br />

Plötzlich stand Winnie in der Tür. Nicht Winnie Pu, der Bär<br />

von geringem Verstand, sondern Winfried, der Mann aus<br />

der Sozialpädiatrie. Ich wusste nicht, ob Batolio ihm die<br />

Message von meinem Aufenthalt gesteckt hatte oder ob<br />

Winnie sich sowieso immer auf den Stationen herumtreibt.<br />

Wie ein Arzt sah er jedenfalls nicht aus, Krankenpfleger war<br />

er auch nicht. Er wirkte eher wie der Papa eines kranken<br />

Kindes, der sich in der Zimmertür vertan hatte. Fakt war<br />

jedoch, dass Winnie immer zur Hilfe gerufen wird, nachdem<br />

die Ärzte die betroffenen Eltern mit dem Diagnoseschock in<br />

apathische Ungläubigkeit versetzt hatten. Winnie wird dann<br />

verständigt, um sie da wieder herauszuholen.<br />

Seelische Wunden lecken nach erschütternden Ereignissen.<br />

Wird die crisis geleugnet? Existieren Ängste und<br />

Furcht? Verhalten sich die Eltern ärgerlich und feindselig?<br />

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48<br />

Werden sie gar depressiv? Winnie musste alles wieder ins<br />

emotionale Gleichgewicht bringen. Verwirrung und psychische<br />

Desorganisation nach der Konfrontation mit den Diagnosen.<br />

Das alles hatte einen unendlichen Knoten gebildet,<br />

der zu entwirren war. Winnie war da und half, wo er helfen<br />

konnte. Er räumte die Steine weg auf dem Weg zum Begreifen,<br />

zum Erkennen, zur Akzeptanz des Geschehenen, zur<br />

Neuorganisation des Alltags, des Lebens. Winnie stand im<br />

Zentrum des Bunten Kreises und bereitete die Nachsorge<br />

vor. Batolio griff ihm dabei schmunzelnd unter die Arme:<br />

„Der eine, der hat vorgesorgt, ein anderer ist rundum versorgt,<br />

ein Dritter, der hat ausgesorgt und Luca, der wird nachgesorgt.<br />

Damit er bloß nicht durch das soziale Netz fällt und in<br />

einer ausgebeulten Hängematte strandet, gelle.“ Hurra! Ich<br />

durfte mich auf zu Hause freuen. Ich wurde entlassen. Ich<br />

freute mich auf meine wundersamen Spielsachen: auf mein<br />

Absauggerät, auf meine Ernährungspumpe, auf mein Pulsoxymeter<br />

und was die Spielesammlung sonst noch so zu<br />

bieten hatte.<br />

Zu Hause angekommen erwartete mich schon die Presse.<br />

Ich war jetzt ein Topkandidat für die Titelseiten der Boulevardmagazine.<br />

In Interviews könnte ich mich wie ein infantiler<br />

Popstar benehmen, ganz im Sinne meiner Titulierung ein<br />

Rotzlöffel der Nation zu sein, der frei auskotzt was er nicht<br />

ertragen kann. „Ob er sich frei in der Pampers präsentieren<br />

könnte?“, fragte Batolio und fügte hinzu: „Luca im Doppelmoppel-Dress<br />

gäbe auch ein hypergrelles Motiv ab“. Die<br />

Dame von der Zeitung kam natürlich erst einige Monate<br />

später und wollte einen exklusiven Report über den Bunten<br />

Kreis verfassen. Wie funktioniert Nachsorge am konkreten<br />

Fallbeispiel Luca Felipe? Der Titel des Zeitungsberichtes<br />

hieß: „Hilfe für Luca <strong>–</strong> und für seine Eltern.“ Der Untertitel<br />

lautete: „Der Bunte Kreis Münsterland unterstützt Familien<br />

schwer kranker Kinder“. Auf dem abgedruckten Foto<br />

betrachteten mich meine Erzeuger und Winnie mit liebevollen<br />

Blicken, wie ich auf einem mit Styroporkugeln gefüllten<br />

Rundkissen lag, derweil mir die schnell erkaltete Milch ins<br />

Bäuchlein rann. Ausdrucksstark war der folgenschwere<br />

Satz von Ma: „Warme Fönluft auf der Haut mag er, Baden,<br />

Musik hören und in der Hängematte schaukeln.“ Casemanager<br />

Winnie hatte ausreichend viel Zeit, um die Aufgaben<br />

und Ziele des neu gegründeten Vereins zu beschreiben:<br />

„Wir begleiten die Familien von der Klinik nach Hause<br />

und bieten ihnen weitgehende Unterstützung an, solange<br />

bis sie ihren schweren Alltag eigenständig und kompetent<br />

meistern können. Wir bieten psychosoziale Beratung und<br />

Betreuung an, wir organisieren einen Kinderkrankenpflegedienst<br />

oder beraten in Pflegefragen. Wir beraten in sozial<br />

rechtlichen Angelegenheiten. Wir bieten seelsorgerische<br />

Betreuung oder Trauerbegleitung. Wir kümmern uns um die<br />

Betreuung von Geschwisterkindern. Wir fördern und unterstützen<br />

Selbsthilfegruppen. Wir bieten unbürokratisch<br />

finanzielle Hilfen in Notlagen und besonderen Härtefällen.“<br />

„Das alles, und noch viel mehr, würd´ ich machen, wenn ich<br />

Casemanager von Deutschland wär“, trällerte Batolio und<br />

freute sich über die umsichtigen und vielseitigen Beratungs-<br />

und Betreuungsangebote, die der Bunte Kreis den<br />

betroffenen Familien anbietet. Pa wurde Mitgründer und<br />

ließ sich in den Vorstand wählen. Dort übt er unter anderem<br />

die Funktion des Schriftführers aus und verfasst die Protokolle<br />

über die Beschlüsse des Vorstandes. „So liebe Freunde!<br />

Bei mir türmen sich schon wieder Meter hohe Berge von<br />

Problemen auf. Deshalb muss ich mich vorübergehend von<br />

euch verabschieden, um die Sachlage mit Winnie erörtern<br />

49


50<br />

zu können. Der hat immer ein offenes Ohr und ihr bekommt<br />

eine Denkpause.“ Es hätte alles so schön sein können, würde<br />

Winnie nicht ständig von seinem Ideenreichtum Sinniges<br />

und Spannendes abschöpfen. „Ich habe hier ein tolles Drehbuch<br />

über ein sehr kurzes und intensives Leben vorliegen.<br />

Die Redaktion vom Lokalfernsehen Münsterland schickt<br />

eine Truppe bei euch vorbei, um einen Filmbeitrag über den<br />

Bunten Kreis zu produzieren. <strong>Du</strong> erhältst selbstverständlich<br />

die Hauptrolle. „Natürlich nur, wenn du versprichst, nicht<br />

ständig in die Kamera zu rotzen“. „Wow! Das Futtybaby geht<br />

unter die Leinwandhelden und wird als Werbeträger in die<br />

Filmgeschichte der Sozialdramen eingehen. „Ich bin ein<br />

Toyota-Baby. Nichts ist unmöglich!“ An meinem ersten<br />

Drehtag hatten wir schon herzlich viel zu lachen. Die Filmcrew<br />

war so eben eingetrudelt, im Schlepptau die Kamera und<br />

Kabel, Kabel, Kabel. Alle waren sie gekommen: Der Regisseur,<br />

der Kameramann, der Cutter, der gaffer and his best<br />

boy für eine akkurate Beleuchtung, die Maskenbildnerin,<br />

der Bühnendekorateur, die Catering-Firma, das Sandmännchen<br />

und noch weiteres Bodenpersonal. Nur das Drehbuch<br />

hatten sie vergessen. „Stop!“, rief Batolio. „Klappe zu! Übertreib<br />

doch nicht so.“ Es waren lediglich vier Personen vor Ort:<br />

der rasende Reporter und seine Freundin, der Mann mit der<br />

Kamera unter dem Arm und ein weiterer Helfer. Pa, Ma und<br />

Winnie bekamen je ein Sprechrolle, derweil ich das Maul zu<br />

halten hatte. Es gab Fragen und Antworten, wenig Sekretfluss<br />

und nichts zu essen. Statt dessen hielt mir Ma ständig<br />

eine Sauerstoffmaske vor die Nase, in die ich kräftig schnorcheln<br />

konnte. Winnie, der die ganze Zeit über schon im Haus<br />

war, wurde plötzlich vor die Tür geschickt. Als Protagonist<br />

des Bunten Kreises sollte er vortäuschen, auf Visite zu kommen.<br />

Er klingelte also an der Haustür. Pa öffnete und Winnie<br />

fragte: „Wie geht`s?“ Pa erwiderte: „Ganz gut heute!“ Keiner<br />

hatte dabei in die Kamera geschaut. Pa schloss lediglich die<br />

Tür, wegen der Fans und den Paparazzis. Zum Abschluss<br />

gab es noch eine obligatorische Nacktszene. Margret und<br />

ich imitierten eine Atemtherapiesequenz. Zu meinem sonstigen<br />

Outfit kann ich nur hinzufügen: „Dressed to kill. Luca<br />

als Charmeur in edler Pose“. Allerdings hatte die Maskenbildnerin<br />

auf der ganzen Linie versagt. Meine Wangen<br />

waren durch die Sekrete furchtbar aufgerauht und entzündet.<br />

Wieso hatte ich eigentlich die doofe Sauerstoffmaske?<br />

Sorry! Die Antwort findet ihr in einem späteren Kapitel. Ich<br />

schrieb also Filmgeschichte, bekam einen Bambino-Oscar<br />

und freute mich wie Roberto Benigni: Doch der sagte<br />

nur:“It´s a sad damned beautiful world!“, was soviel bedeutet<br />

wie: „Es ist eine verdammte, traurige, schöne Welt.“ Nur<br />

ins Studio des Lokalsenders wurde ich nicht eingeladen. Da<br />

hat mich mein liebenswerter Chefarzt Dr. Egbert Lang würdig<br />

vertreten. Allerdings gab mir die Einleitung des Filmes<br />

ein wenig zu denken, sah ich doch eine recht merkwürdige<br />

Sequenz: Dr. Gerleve, ein weiterer Chefarzt der Kinderabteilung,<br />

stand inmitten der Neugeborenintensivstation vor<br />

einem Thermobettchen, griff mit einer Hand hinein und<br />

befühlte ein Baby, welches nie und nimmer ich war. Da brat<br />

mir doch einer einen Storch, der auch nicht gekommen war,<br />

um gesunde Kinder abzuliefern.<br />

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52<br />

Siebtes Kapitel<br />

Der Kanalknotenpunkt Datteln<br />

Wie man ein Gehirn mit einem Zugunglück verglich<br />

Ich lag tatsächlich nicht in diesem Thermobett. Dr.Gerleve<br />

versorgte in der Filmsequenz ein Frühchen, was bestimmt<br />

doppelt so wenig wog wie ich bei meiner Geburt. Ich war ja<br />

inzwischen nach zehn wöchiger intensiver Pflege durch<br />

Schwester Edeltraud und all den anderen Schwestern und<br />

Ärzten ins Nachsorgeprogramm des Bunten Kreises aufgenommen<br />

worden. Zudem hatte ich einige Zeit vor meiner<br />

Entlassung mein Thermobett gegen ein ordentliches Babypflegebett<br />

mit Plexiglasscheiben eingetauscht. Erstaunlicherweise<br />

hatte mir der nervtötende Pegel vom ewigen<br />

Babygejaller sogar ein Einzelzimmer beschert; soviel Rücksicht<br />

nahm man auf geburtstraumatisierte und Ruhe liebende<br />

Absäuglinge. Die Verlegung hatte leider auch zu Folge,<br />

dass ich meine Herzensdame Isabell aus der Hörweite verlor.<br />

Andererseits war jedoch absehbar, dass meiner Perle<br />

bald eine Herzoperation in einer Spezialklinik bevorstand.<br />

Ihr Herz wird aber trotzdem ganz tüchtig für mich schlagen;<br />

spätestens an dem Tag, wo wir uns wieder begegnen. Vielleicht<br />

bekomme ich dann auch einen Kuss. Schau`n wir mal!<br />

Jetzt hatte ich also die Vertrautheit der stationären Pflege<br />

gegen die Fremdheit einer häuslicher Versorgung getauscht.<br />

Vorerst sollte es keine Schichtwechsel, keine Sonografien,<br />

kein Geheule, Gezeter und Gekreische mehr geben. Bambino<br />

Luca war endlich daheim und verlangte Gesundheitsservice<br />

rund um die Uhr. Batolio freute sich über meine Ankunft<br />

wie ein Nachtwächter, der im Strahl einer Taschenlampe sei-<br />

nen Wachhund wiedererkennt, und säuselte schmunzelnd<br />

in Papi´s Ohr: „Na, Süßer! Hast du heute schon was vor? Wir<br />

machen eine Nachtschicht.“ „Ist ja hyper“, erwiderte Pa mit<br />

einem langgezogenen Lemonenlächeln, schlüpfte in seinen<br />

zerknautschten Pyjama, verkroch sich zur Vorschlafphase<br />

unter eine Decke, träumte sich durch das Diagnosensammelalbum<br />

und kämpfte dabei leidenschaftlich gegen die<br />

Windmühlen meiner unberechenbaren, pathologischen<br />

Hirnfunktionen. In einigen Nächten wurde er selbst unberechenbar,<br />

indem er Ma mit recht absonderlichen Handlungen<br />

mehrfach aus dem Schlaf riss. Einmal erwachte sie, als er<br />

dabei war, das gesamte Ehebett auseinander zu nehmen,<br />

bzw. die Bettdecken zu durchwühlen: „<strong>Was</strong> machst du da?“,<br />

fragte sie ihn schlaftrunken, worauf er erwiderte: „Ich suche<br />

Luca. Den habe ich doch eben noch gewickelt. Und jetzt ist<br />

er spurlos verschwunden.“ War ich aber nicht. Ich lag in meinem<br />

Zimmer mit einem dicken Pomm in der Buchse und<br />

wusste nichts von Papa´s Suchaktionen. In einer weiteren<br />

Nacht fand Ma ihn auf der Terrasse vor, wo er ziellos umherirrte,<br />

auf der Suche nach meiner Ernährungspumpe. „Die<br />

steht doch bei Luca im Zimmer“, flehte Ma ihn an, schleunigst<br />

zurück ins Bett zu kommen. „Da habe ich sie aber nicht<br />

gefunden“, stammelte Pa, zündete sich eine Zigarette an,<br />

erwachte in jenem Augenblick und konnte sich an nichts<br />

mehr erinnern.<br />

Während Pa sich also zwischenzeitlich in nächtlicher Trance<br />

konfuse Wege durch die Wohnung bahnte, wurde ich<br />

zunehmend von schweren epileptischen Anfällen heimgesucht.<br />

Plötzlich schlugen die Blitze an allen Fronten ein, jagten<br />

meinen Puls auf 200 Schläge und mehr. Ein Intercity<br />

geriet aus den Gleisen, raste querfeldein über die Areale<br />

hinweg, riss Hochspannungsleitungen mit und stürzte mit<br />

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54<br />

Mein finales Schlaferlebnis<br />

Spitzengeschwindigkeit ins Nirwana. Mit weit aufgerissenen,<br />

von Panik gezeichneten Augen starrte ich ins Leere,<br />

spürte wie eine Diazepam-Rectiole in meinen After eindrang,<br />

stöhnte ein letztes Mal und versank unter der Wirkung<br />

ins apathische Nichts. Nach einer zunehmenden<br />

Frequenz epileptischer Anfälle, die schon im St. Vincenz-<br />

Hospital ihren Anfang nahmen, fand ich mich in der Epilepsieambulanz<br />

der Vestischen Kinderklinik zwischen den<br />

Kanälen zu Datteln wieder.<br />

Acht lange Wochen hatte ich meinen Eltern zu Hause auf<br />

Trab gehalten, bis alles ein wenig außer Kontrolle geriet.<br />

Nicht nur die Zahl meiner Anfälle nahm zu, sondern auch<br />

ihre zeitliche Dauer. Das Diazepam verfehlte seit einiger<br />

Zeit seine Wirkung, entweder weil ich es ruck zuck wieder<br />

ausschiss oder weil es aufgrund der Intensität der Anfälle<br />

wirkungslos blieb. Jedesmal, wenn Papa ein Klistier auspackte,<br />

rief Batolio süffisant: „Papa zieh dich warm an,<br />

Luca´s Darm, der greift dich scharf an.“ Unbeabsichtigt, aber<br />

zielsicher schied ich das Medikament prompt aus, was fatalerweise<br />

nicht ohne Nebenwirkungen blieb. Ich muss meine<br />

Behauptung, vorläufig keine Schichtwechsel, Sonografien<br />

oder ähnliches über mich ergehen zu lassen, korrigieren.<br />

Statt dessen saß ich auf Pa´s Schoß in Erwartung einer EEG-<br />

Ableitung, eines ElektroEncephaloGramms, welches die<br />

elektrischen Vorgänge in meinem unkomplizierten Gehirn<br />

aufzeichnet. Dafür wurden mir annähernd 25 kleine, mit<br />

Mull überzogene und mit einer Kochsalzlösung befeuchtete<br />

Silberplättchen, die Elektroden, mit einer Haube aus Gummibändern<br />

auf die Kopfhaut gezogen. Die Bänder waren<br />

über dünne Kabel mit dem EEG-Gerät verbunden. Nur gut,<br />

dass ich mich nicht einer Skinheadrasur unterziehen musste.<br />

Jetzt saß ich hier zwanzig lange Minuten mit einem<br />

Elektrodenhut und ließ geringe Spannungen messen. Die<br />

auf Papierstreifen aufgezeichneten extremen Wellen sahen<br />

aus wie das Zugunglück von Brühl, wie es mein Neuropädiater<br />

einmal trefflich, doch voll daneben ausdrückte. Ich<br />

musste dableiben, zur Medikamenteneinstellung. Nach<br />

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56<br />

drei Monaten experimenteller Therapie wurde ich entlassen,<br />

mit scharfen Wellen im Kopf, einem Schrank voller Medikamente<br />

und der ungünstigen Prognose therapieresistenter<br />

Anfälle. Prompt legte ich auch schon wieder los. Mein kleiner<br />

Körper drehte sich unfreiwillig auf die rechte Seite und<br />

meine Arme zuckten in einer Tour, während meine Beine zu<br />

steifen Gliedern wurden. Mein Schädel dröhnte im Gewitter<br />

der Einschläge. Immer wieder kam es zu Atempausen, nach<br />

denen ich kräftig stöhnte. Meine Muskelgruppen, die<br />

ansonsten nur geringfügig im Einsatz sind, waren derart<br />

angespannt, dass sie mir zu reißen drohten. Fortan vernahm<br />

ich die bestimmten, mit leisen, traurigen Untertönen versehenen<br />

Worte: „Ja, dann müssen wir den kleinen Mann leider<br />

wieder abschießen!“ Als wäre ich ein Fasan, eine Tontaube<br />

oder gar ein Moorhuhn. Sie meinten jedoch die Medikamenten-Notfall-Applikation<br />

von mehreren Tropfen Rivotril,<br />

die ich verabreicht bekam, wenn ich, wie in diesem Moment,<br />

schwer tonisch-klonisch krampfte. Rivotril ist ein Antiepileptikum<br />

mit Pfirsich-Aroma und enthält den Wirkstoff Clonazepam.<br />

Man musste schon einige Zeit investieren, um die<br />

erforderliche Anzahl Tropfen aus der Flasche herauszubekommen,<br />

denn das Zeug war derartig zäh, dass man parallel<br />

dazu eine Fünf-Minutenterrine zubereiten konnte.<br />

Währenddessen nervte mein Pulsoxymeter mit seinen<br />

unaufdringlichem Alarmsignalen. Ich zuckte, stöhnte, vergoss<br />

eine dicke Kullerträne. Spätestens nach zehnminütiger<br />

Krampferei sollte das ärztlich indizierte Mittel durch meine<br />

pig in den Magen geflossen sein. Da es nicht so schnell seine<br />

gewünschte Wirkung erzielen konnte wie eine intravenöse<br />

Injektion, hatte ich manchmal genügend Zeit mir eine<br />

Gegenmaßnahme auszudenken. Plötzliches Erbrechen,<br />

eine meiner bekannten Spezialitäten, blieb für meinen Pa<br />

eine immerwährende Horrorvision. Schließlich musste ein<br />

Status Epilepticus unter allen Umständen vermieden werden,<br />

da es mir wegen einer möglichen lebensbedrohlichen<br />

crisis weitere stationäre Aufenthalte eingebracht hätte.<br />

Rivotril hatte sich jedenfalls als klinisch gut wirksames Mittel<br />

herausgestellt, streckte mich aber meistens ganz schön<br />

nieder, abgesehen davon, dass ich eh die meiste Zeit lag.<br />

Wenn das Mittel zu wirken begann, fühlte ich mich tatsächlich<br />

wie abgeschossen. Rivotril machte labil. Die Intensität<br />

meiner Anfälle, die teilweise bis zu einer satten Stunde<br />

andauern konnten, hatten einen unglaublichen Kräfteverschleiß<br />

zur Folge, als hätte mich ein Boxer mit einer wuchtigen<br />

Rechten in die Ringecke befördert.<br />

Knock out! That´s the fact. Als ich aus meinem halbkomatösen<br />

Zustand erwachte entdeckte ich weitere Extreme meiner<br />

Hirnfunktionen. Neben meinen therapieresistenten<br />

Anfällen mit den tonischen Phasen, der gleichbleibenden<br />

Muskelspannung bei einer Muskelkontraktion und den<br />

klonischen Phasen mit den rhythmischen Zuckungen einer<br />

oder mehrerer Muskelgruppen, entwickelte sich das so<br />

genannte West-Syndrom. Ich hatte oftmals den Eindruck,<br />

dass mein Gehirn eine Art Dreh- und Führungskreuz war,<br />

mit dem ein Marionettenspieler seine Puppe bewegt. Luca<br />

hing an seidenen Fäden und bewegte sich durch einen<br />

denkwürdigen Akt der Tragödie „Lunatic“ oder „wie der<br />

Mond mich in seinen Bann zog“. Wie aus heiterem Himmel<br />

kam es zu einer abrupten ruckartigen Zuckung, bei der sich<br />

mein Kopf schlagartig anhob. Desweiteren wurden meine<br />

Arme und Beine ebenso ruckartig hochgeworfen, als würde<br />

ich mich wie ein Igel zusammenrollen wollen. Der Marionettenspieler<br />

hatte die Fäden blitzartig angezogen und wieder<br />

losgelassen und wiederholte das Schauspiel in Serie bis<br />

57


58<br />

zu zwanzig Mal hintereinander. BNS nannte sich diese<br />

Anfallsform und war seinerzeit schon von den Coesfelder<br />

Ärzten prognostiziert worden. Das B steht für Blitz, weil der<br />

Ablauf blitzartig geschieht und durchaus mit einem<br />

schreckhaften Zusammenfahren missdeutet wird. Das N<br />

steht für Nick, welches die Nickbewegung des Kopfes, der<br />

nach vorne schnellt, beschreibt. Das S steht für Salaam, den<br />

orientalischen Gruß, weil das ruckartige Anziehen der Arme<br />

zur Brust hin diesem sehr ähnlich sind. Wenn diese BNS-<br />

Krämpfe in Serie auftreten rotierten meine Pupillen entweder<br />

hin und her oder verdrehten sich nach oben weg. Meiner<br />

verzerrten Mimik konnte man entnehmen, dass mir diese<br />

Art Krämpfe tierisch an die Substanz gingen.<br />

Batolio hatte einmal wieder den Schalk im Nacken und rief:<br />

„Wenn in Lucas Gehirn der Blitz einschlägt, erschreckt sich<br />

der Stammhirn-Chef und zuckt in sich zusammen. Sein Kopf<br />

fällt knallend auf den Schreibtisch und er nickt ein. Die arabischen<br />

Angestellten verabschieden sich höflich in den Feierabend.<br />

Salaam maleikum, Cheffe!“<br />

Der Kerl hat jetzt Prozesse am Hals und ich Rectiolen im<br />

Arsch. In der Kanalstadt Datteln wurden die Bordsteine<br />

hoch geklappt und die Lichter ausgeschaltet. Fremde verließen<br />

fluchtartig die Stadt, weil sie dort nicht tot über einem<br />

Zaun hängen wollten.<br />

Pa saß zwischen den Kanälen und vergeudete seine Zeit,<br />

indem er Limericks dichtete.<br />

Channel-Blues<br />

Der Luca schaut auf den Kanal<br />

und denkt: Der ist aber schmal!<br />

Da trägt eine Welle<br />

ihn fort auf die Schnelle.<br />

Die Kanäle sind wirklich brutal<br />

Achtes Kapitel<br />

Das Ärzte- und Therapeutennest<br />

Wie man ambulant behandelt, verdeckt und versteckt wurde<br />

Der Sommer 2000 schenkte mir lieblose Abschiedsblicke.<br />

Rein klinisch betrachtet und in der Babysprache ausgedrückt<br />

war es ein saublöder „Bäh-Sommer“. Ich hätte die<br />

untergehende Sonne gerne angelächelt, doch wie ihr bereits<br />

wisst, ließen sich meine Lachgesichtsmuskeln kaum motivieren.<br />

Auch meine vom Soor geplagte Zunge ließ sich nicht<br />

ausrollen, um der Welt zu zeigen, dass ich nun endgültig Null<br />

Bock darauf hatte, mich unentwegt in Klinikbetten herumzuräkeln.<br />

Mein liebgewonnener Freund Batolio wünschte<br />

mir nichts sehnlichster als einen gesunden Winterschlaf in<br />

meiner häuslichen Pflegestube. Er selbst würde bald auf<br />

Winterspeckanfresstour fliegen, sowie nach ein paar Kumpels<br />

Ausschau halten, mit denen er zusammen im cluster,<br />

also dicht aneinander hängend, den Winterschlaf in einer<br />

vom Specht gehämmerten Baumhöhle verbringen will.<br />

Zuvor freue er sich aber erst einmal riesig auf die herbstliche<br />

Balzzeit. Papa saß missmutig im Sessel, gebeugt über sein<br />

Diagnosensammelalbum und übte sich im Studium medizinischer<br />

Termini. Mama blätterte unverdrossen Seite für Seite<br />

des Luca`schen Terminkalenders um. Während Batolio freudetrunken<br />

in seiner Baumhöhle den Minnegesang anstimmte,<br />

durfte ich ab sofort diverse Ambulanzen ansteuern.<br />

Als Erstes tauchten wir in der sozialpädiatrischen Sprechstunde<br />

bei Frau Dr.Gerlinde Conrad in Coesfeld auf, wo ich<br />

gewogen, vermessen und sonstwie körperlich durchgecheckt<br />

wurde. Zuvor hatte mich eine Frau auf dem Warte-<br />

59


60<br />

korridor ausgiebig gemustert, hatte doch mein brodelndes<br />

Bronchialsystem sie in den Bann gezogen.<br />

Nach meinem check-up turnten wir noch auf einen Sprung<br />

zur Plauderstunde bei Old Winni herein, bildeten zusammen<br />

den legendären Bunten Kreis und fragten ihn, ob er nicht<br />

einen kompetenten Kinderkrankenpflegedienst kennen<br />

würde. „Och“, triumphierte Winni mit einem Schmunzeln:<br />

„Da hat sich mir soeben ein Pflegedienst aus Haltern vorgestellt.“<br />

Prompt drückte er uns einen Flyer in die Hand, womit<br />

beinahe schon beschlossen war, dass zukünftig „Klabautz“<br />

bei mir auf der Matte stehen würde. Der Zufall schreibt eben<br />

auch Krankengeschichte, wie ihr bald hören werdet, falls<br />

euch jemand das Buch vorliest. Apropos Hören! Letztens<br />

war ich übrigens auf Visite in der Pädaudiologie, um dort<br />

mein Hörvermögen überprüfen zu lassen. Mama und ich<br />

wurden auf einen Stuhl inmitten eines großen Raumes<br />

gesetzt, umgeben von mindestens zehn Lautsprechern. Ich<br />

dachte, ich wär hier bei der Endausscheidung zum Grand<br />

Prix, wo sich ja mittlerweile jeder melden kann, der sein Liedgut<br />

für den Wahnsinn der Europäischen Gesangsvereinigung<br />

hält. Plötzlich wurden mir allerlei Geräusche in die<br />

Ohren gepfeffert: Glockenspiel <strong>–</strong> Telefonklingeln <strong>–</strong> Hundegebell.<br />

Daraufhin habe ich entschieden nach dem unwiderstehlichen<br />

Sound meines Pulsoxymeters verlangt. Mir blieb,<br />

wie immer, nichts erspart. Demnächst sollte ich dann noch<br />

mit stetig anpassbaren Hörgeräten versorgt werden, damit<br />

das, was ich hörte, auch noch verstärkt werden könnte. Das<br />

Ergebnis der Untersuchung war trotz alledem nicht niederschmetternd,<br />

sondern eher wohl klingend. Ich war in der<br />

Lage, zumindest akustisch, einen Teil meiner Umwelt zu<br />

erfassen, vor allem Pop- und Rockmusik. Wenn ich schon<br />

einmal irgendwo zu diversen Untersuchungsterminen auf-<br />

laufen musste <strong>–</strong> eine EEG-Kontrolle im Abstand von drei<br />

Monaten war da sowieso obligatorischer Bestandteil <strong>–</strong> ließ<br />

ich auch gerne weitere Leute der ärztlichen Zunft antanzen.<br />

Eines Tages sprach Pa zu meinem Neuropädiater in der Epilepsieambulanz:<br />

„Ich habe da übrigens einen Augenarzt<br />

von der Praxis „Mit dem Zweiten sieht man besser“, oder so<br />

ähnlich, gebeten, hier mal im Anschluss an das EEG vorbei<br />

zu kieken, um einen Sehtest durchführen zu lassen.“ Dr.<br />

Aguigah lehnte sich laut lachend zurück in seinen Sessel<br />

und polterte: „<strong>Was</strong> haben sie getan? Einen Augenarzt hierher<br />

bestellt. Das ist gut. War das ihre Idee? Ha Ha Ha!“ Nachdem<br />

sich seine Augen dann hoch und `runter, analog zu den<br />

Zacken und Wellen meines Burst-Suspression-Musters auf<br />

dem EEG-Ausdruck, bewegten, stand er auf und verdunkelte<br />

sein Arztzimmer. Er verabschiedete sich lachend und ließ<br />

uns den Augenarzt persönlich in Empfang nehmen. Der<br />

kam, sah, untersuchte und entschied: „Geschätztes Sehvermögen:<br />

Beidseitig nulla lux.“ Es war keine Lichtreaktion<br />

auslösbar. Die Weite meiner Pupillen war ungleich, die linke<br />

Pupille kleiner als die rechte. Meine Augen rollten ungerichtet<br />

hin und her, ein Gesichtsfeld war nicht vorhanden.<br />

Anschließend traf ich mich zu einem blind date mit meinem<br />

balzenden Freund Batolio, der mir auf meine Frage nach seinem<br />

Sehvermögen versicherte, selbst sehen zu können. Er<br />

kicherte und fügte hinzu: „Nachts ist es aber sowieso immer<br />

stock duster. Da verlasse ich mich doch lieber auf die Echolotung“<br />

. Ich sagte: „Mit Ultraschall habe ich ja auch so meine<br />

Erfahrungen. Aber was nützt mir die ganze Angelegenheit,<br />

wenn ich nicht schreien kann, wie du, um so ein Echo zu<br />

erzeugen. „Schreien“, lachte Batolio herzhaft über beide<br />

Ohren, „Schreien. Ich habe seit Tagen orkanartige Balzgesänge<br />

in die weite herbstliche Landschaft geschmettert, bis mir<br />

61


62<br />

mein Baum androhte, die Wohnhöhle zu kündigen. Von den<br />

angeblichen Superweibchen hat sich aber noch keines<br />

blicken lassen. Ebensowenig habe ich bisher meine Kumpel<br />

für die Clusterbildung angetroffen, so dass ich fürchten muss,<br />

mir im Winter den Arsch abzufrieren“ „Ach Batolio“, entgegnete<br />

ich. „Erinnerst du dich denn gar nicht mehr an dein<br />

trauriges Gedicht von den zehn kleinen Fledermäusen, in<br />

dem neun deiner Kumpel auf tragische Art und Weise von<br />

dir gegangen sind?“. Aus Mitleid hängten wir kurzum einen<br />

Zettel an den Baum mit der Aufschrift: „Dieser Baum wird<br />

nach der Fledermauspaarungszeit gefällt.“ Letztlich war es<br />

mir egal, dass ein Baum ein Symbol für das Leben ist. Die<br />

Wurzel als Unterwelt, der Stamm als die Welt und die Krone<br />

als der Himmel. Und alles steht für Wachstum. Ich wollte<br />

Batolio unter allen Umständen bis zum Ende meiner Tage bei<br />

mir haben. Wir werden ihm eine Unterkunft bauen, die seinem<br />

Temperaturhaushalt entgegen kommt, um möglichst<br />

viel Energie zu sparen. Sollte es zeitweise zu Komplikationen<br />

kommen, würden wir ihn sofort ambulant behandeln. Alles<br />

wird wunderbar, gelle.<br />

Ich beschritt weiterhin eine messerscharfe Gratwanderung<br />

zwischen den Ambulanzen und möglichen stationären<br />

Behandlungen, bewegte mich in den Extremen der Temperaturunterschiede.<br />

Das Temperaturregulationssystem in<br />

meinem Stammhirn kannte keine Maßstäbe. Hatte ich<br />

hohes Fieber bestand jeweils die Gefahr eines Infektes, gar<br />

einer Lungenentzündung. Sank dagegen meine Körpertemperatur<br />

drastisch in den Keller bestand die Gefahr der<br />

Unterkühlung. Es gab Tage, an denen meine Temperatur<br />

binnen weniger Stunden von 40.5 °C auf 34.5 °C sank oder<br />

umgekehrt stieg. Mein arg geschundener Popo wurde zur<br />

offenen Messstation. Ständig steckte ein Fieberthermome-<br />

ter in meinem After. Einmal, es war noch während meiner<br />

intensivmedizinischen Behandlung im St. Vincenz, gab ich<br />

einen derartigen Hitzestrahl ab, dass Pa sich beinahe die<br />

Hand versengte. Seit dem bewegt er sich nur noch zwischen<br />

Coolness und Heißblütigkeit. An einem anderen Tag, als das<br />

Thermometer den Tiefstand von 34°C anzeigte, war Pa im<br />

Traum in die grönländische Hauptstadt Nuuk geflogen, um<br />

mir ein paar mollige Robbenfelle zu kaufen. Ich wurde daraufhin<br />

in mindestens 20 qm Stoff gewickelt, als würde ich<br />

auf eine Expedition ins Ewige Eis geschickt. Außer der<br />

Luca auf der Sandwich-Scholle<br />

bewährten Kleidung, bestehend aus Pampers, Body, Pullover<br />

oder Hemd, bekam ich eine baumwollene Strumpfhose,<br />

eine dicke Stoffjacke, einen Skianzug, eine Mütze, einen<br />

Schal, zwei Paar Socken und gefütterte Schuhe verpasst.<br />

63


64<br />

Als man mir jedoch noch Handschuhe überstreifte, begann<br />

ich mich zu wehren. Es gehörte schließlich zu einer meiner<br />

seltenen Eigenheiten, meine Hände, wenn eben möglich,<br />

über der Decke zu halten. Jedesmal, wenn man sie mit<br />

zudeckte, arbeitete ich so lang, bis ich sie wieder oben auflegen<br />

konnte. Ich nannte das: „Fishing for compliments!“<br />

Nach dem missglückten Versuch mir Handschuhe anzuziehen,<br />

legte man mich auf ein, mit Styroporkügelchen ausstaffiertes<br />

rundes Lagerungskissen, auf dessen Oberfläche ein<br />

warmes Schaffell vor sich hingammelte. Weiterhin legte<br />

man mir ein Wärmekissen zu Füßen. Zugedeckt wurde ich<br />

mit diversen Decken und einem Oberbett. Das ganze sah<br />

aus wie eine Sandwichscholle, wobei allerdings niemand<br />

sagen konnte, welche Belegart mir zugedacht war. <strong>Was</strong><br />

würde das auch für eine Rolle spielen? Man konnte mich eh<br />

nicht mehr sehen. Ich trieb babyseelenallein davon ins<br />

Polarmeer, wo ich dem melancholischen See-Elefanten aus<br />

„Urmel aus dem Eis“ begegnete.<br />

Zusammen sangen wir seltsam traurige Balladen:<br />

Luca und Felipe<br />

Luca und Felipe fahren über` s Meer.<br />

Luca sagt: „Felipe <strong>–</strong> mir fällt das Atmen schwer“.<br />

Dann stell` n sich beide auf eine Scholle.<br />

Felipe sagt zu Luca: „ich glaub` jetzt geht`s uns tolle“.<br />

Da taucht ein Eisbär auf aus einer Welle.<br />

Luca sagt: „Felipe <strong>–</strong> der haut ins Eis `ne Delle.<br />

Unter der Scholle bröckelt das Eis.<br />

Felipe sagt zu Luca: „Das ist ein großer Scheiß“.<br />

Luca und Felipe gehen in den Wald.<br />

Luca sagt: „Felipe <strong>–</strong> es ist mir bitterkalt“.<br />

Dann stell`n sich beide unter einen Pilz.<br />

Felipe sagt zu Luca: „ich glaube bald ich schmilz“.<br />

Da setzt ein Vogel sich auf den Hut.<br />

Luca sagt: „Felipe <strong>–</strong> Kerl, was geht`s uns gut“.<br />

Unter der Lamelle weht ein leichter Wind.<br />

Felipe sagt zu Luca: „Ich glaub der Vogel spinnt“.<br />

Nach unserem gelungenen Balladenduett, welches die beiden<br />

Tatort-Strategen Stoevi und Brocki nicht besser hinbekommen<br />

hätten, trennten wir uns im Abschiedsschmerz,<br />

nicht ohne unsere Telecom-Telefonnummern auszutauschen.<br />

Mit hohem Fieber erreichte ich meinen Heimathafen.<br />

Dort ließ sich aber niemand mehr von meinen eklatanten<br />

Temperaturunterschieden beeindrucken. Statt dessen<br />

beschränkten wir uns, einem Gefühl folgend, auf ein Minimum<br />

ambulanter Außentermine. Die Konsequenz der<br />

Überlegungen war, in Zukunft alle VIP`s bei uns auflaufen<br />

zu lassen. Bekam ich also hohes Fieber, blieb mir ein Akuttrip<br />

zur Kinderarztpraxis von Dr. Hermwille erspart. Dann<br />

kam dieser auf Hausvisite, bewaffnet mit einem Stethoskop,<br />

welches er mir sofort auf den Brustkorb setzte, nachdem er<br />

es ein wenig warm angehaucht hatte. Außer meinen brodelnden<br />

Schleimmassen konnte er zumeist nicht viel hören,<br />

was somit wenig Rückschluss auf einen möglichen Infekt<br />

zuließ. Prophylaktisch wurde trotzdem ein neues Antibiotikum<br />

verordnet. Anyway <strong>–</strong> mein Leben war jetzt darauf<br />

ausgerichtet, Menschen aller beruflichen Fachrichtungen,<br />

ob pädagogischer, physiotherapeutischer, krankenpflegerischer<br />

oder medizinischer Profession, in meiner häuslichen<br />

65


66<br />

Umgebung zu empfangen. Wie ihr in den folgenden Kapiteln<br />

erfahrt, kamen also regelmäßig ein Kinderpflegedienst,<br />

eine Pädagogin von der Heilpädagogischen Frühförderstelle<br />

und ein Krankengymnast des Deutschen Roten Kreuzes<br />

auf Visite. Man kann sich unschwer vorstellen, wie heiß<br />

unser Klingelknopf, wie feucht unsere Haustürklinke und<br />

wie staubig unsere Fußmatte wurde. Batolio, sichtlich irritiert<br />

über das ständige Kommen und Gehen, räumte ein,<br />

dass es wohl sinnvoll wäre, eine Kennenlernparty zu veranstalten.<br />

Schließlich sei Zusammenarbeit der verschiedenen<br />

Disziplinen das A und O einer bestmöglichen Versorgung.<br />

Alle auf einen Haufen? <strong>–</strong> das musste erst mal organisiert<br />

sein! Dann kam der Tag X, an dem die interdisziplinären<br />

Fachfreaks aufmarschierten und einen Roundtable bildeten.<br />

Ich war sowieso mittendrin statt nur dabei und konzentrierte<br />

mich andächtig auf das bevorstehende Wirrwarr-<br />

Palaver.<br />

Nebst der just erwähnten Fachleute flegelten sich noch<br />

mein Kinderarzt Doc Hermwille, die Ärztin der Sozialpädiatrie,<br />

Frau Dr. Conrad und der Geschäftsführer des Bunten<br />

Kreises, Winfried auf unserer Psychocouch herum. Zusammen<br />

mit meinen Ollen war das ein runder Kreis von zehn<br />

Köppen, ein bunter Haufen, ein klassisches Ärzte- und Therapeutennest.<br />

So saßen sie da und konzentrierten ihre<br />

medizinischen, pflegerischen, sozialpädagogischen und,<br />

therapeutischen und elterlichen Blicke augenscheinlich nur<br />

auf meine kleine Persönlichkeit. Ich hörte mir das Gelaber<br />

aus einer erhöhten Position im Rehabuggy an. Da ich jedoch<br />

von all der Fachidotie nichts rechtes verstand, drehte ich<br />

meine Pupillen ab und schwelgte in philosophischen<br />

Gedanken. Insgesamt war es eine prima Kennlernparty. Ich<br />

war froh, dass die sich nicht, wie bei pädagogischen<br />

meetings üblich, ein Wollknäuel um die Ohren gepfeffert<br />

haben, wo ein jeder dann sein Selbstportrait abgibt:<br />

„Jo, ich bin der Michael und mache uff Physio.<br />

Ich schaff` für`s Rote Kreuz. Cherrio.<br />

Ich bin die Pia vom Niederrhein,<br />

meine Frühförderung ist dufte und meine Herz ist rein.<br />

Ich bin die Margret, `ne Krankenschwester.<br />

Pass auf, über manchen Arzt ich läster.<br />

Ich bin der Winnie vom Bunten Kreis<br />

und lauf mir oft die Socken heiß.“<br />

Ich war der letzte Kandidat im Kreis der Spezialisten, als das<br />

Knäuel anflog und sich unsanft um meinen Hals legte.<br />

Verdammt! Das hatten wir doch schon einmal.<br />

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68<br />

Neuntes Kapitel<br />

Der Kinderkrankenpflegedienst Klabautz<br />

Wie man in der Pflege Akzente setzte<br />

und FKK eine andere Bedeutung erhielt<br />

Ich hatte es ja bereits angedroht. Klabautz stand jetzt regelmäßig<br />

auf der Matte. Eigentlich hieß sie Margret. Klabautz<br />

war der Name des von ihr vor circa einem Jahr gegründeten<br />

Kinderkrankenpflegedienstes. Margret war nicht nur hyperqualifiziert,<br />

sondern auch außerordentlich gewitzt und sehr,<br />

sehr musikalisch. Ich nannte sie gerne in einem Atemzug mit<br />

Florence Nightingale. „Nachtigall ik hör dir trapsen!“ Dreimal<br />

pro Woche hörte ich am Klingelton was mir blühen sollte,<br />

wenn Margret für jeweils zwei bis drei Stunden alle Register<br />

ihres pflegerischen Könnens ziehen würde. Doch ich<br />

war stets bereit dagegen zu halten und setzte Akzente. Das<br />

behauptete sie jedenfalls. Pflege und Pflege sind eben nicht<br />

immer die gleichen Paar Schuhe. Das wusste Margret nur zu<br />

gut, denn als erste Handlung zog sie sich immer ihre Schuhe<br />

aus. Rein prophylaktisch, verstand sich, und nicht im<br />

übertragenen Sinn. Aus meinem reichhaltigen Repertoire<br />

raffinierter und mitunter gnadenloser Tricks wählte ich am<br />

liebsten Pflegeunterbrechungsmaßnahmen. Mein Pech<br />

nur: Verlorene Zeiten wurden hinten dran gehängt. Nachpflegezeit!<br />

Doch lasst euch jetzt ein wenig von den berühmtberüchtigten<br />

Luca-Felipe-Highlights fesseln. Wie immer<br />

begann ein Pflegetag mit dem schon erwähnten Ton der<br />

Haustürklingel. Verglichen mit dem Sound auf der Intensivstation<br />

war das Schellen ein Furz, hatte jedoch eine folgenschwere<br />

Signalwirkung, die da bedeutete: „Schluss-Aus-<br />

Ende mit der Abhängerei!“ Mein erstes frühmorgendliches<br />

Schockerlebnis war eine stets wenig durchblutete, kalte<br />

Begrüssungshand. Old Daddy erkannte schnell das Wärmebedürfnis<br />

der passionierten Saunagängerin und hatte<br />

zuvor die Heizung auf Hochtouren gebracht, sowie die Wärmelampe<br />

über meinem Wickeltisch angeschaltet. Diese<br />

hatte eine Wahnsinnskraft, als hätte jemand die Sonne in<br />

meinem Kinderzimmer aufgehängt. Wenn Pa seine Pflegeattentate<br />

ausübte, dann nur leicht bekleidet. Margret hatte<br />

meistens eine verflucht gute Laune und machte sich selten<br />

Gedanken über mögliche Pflegedramen und sonstige Kleinigkeiten.<br />

„Na, du Räuber, wie geht’s dir denn heute morgen?<br />

Hast du eine gute Nacht gehabt?“, fragte sie augenzwinkernd<br />

mit Wissen um die Bedeutung eines sogenannten<br />

Sandwich-Schlafes. Pa stand bei diesem Begrüssungsritual<br />

voll daneben, wie immer kräftig ausgeschlafen und<br />

mopsfidel. Es begann ein reger Austausch von reflektierenden<br />

Worten und Transpirationen. Margret nahm die Ladung<br />

vorausgegangener Eklats gelassen in sich auf. Pa zählte seine<br />

Schweißperlen. In den letzten 48 Stunden war doch<br />

nichts außergewöhnliches geschehen, oder? A babylife<br />

less ordinary: ein angestrullertes T-Shirt, ein Häufchen, im<br />

unpassenden Moment an die falsche Stelle abgesetzt, ein<br />

schwerer Krampfanfall mit pfirsicharomatischer Akutversorgung,<br />

ein Temperaturabsturz auf 35.5 ° Celsius <strong>–</strong> kurz<br />

gesagt, alles Banalitäten. Nur die Badeeinlage mit Paps am<br />

gestrigen Abend war hypergenial. Schweben und treiben<br />

lassen. Beide Ohren komplett unter <strong>Was</strong>ser, eine Spezialität<br />

von mir, die ich mit zunehmendem Alter radikal einforderte,<br />

indem ich meinen Dickkopf energisch und kraftvoll gegen<br />

allen Widerstand unter die <strong>Was</strong>seroberfläche drückte.<br />

Baden wurde für mich zum Klassiker unter den events, wel-<br />

69


70<br />

ches nicht mehr zu toppen war. Baden konnte jedoch auch<br />

grausam sein. <strong>Was</strong> das betraf, sei meiner kundigen Leserschaft<br />

nicht vorenthalten, dass Margret mich in einer solchen<br />

Situation kennengelernt hatte, aber so richtig. Mit den<br />

allerbesten Absichten, einen Säugling (hi, hi, hi), wie mich zu<br />

verwöhnen <strong>–</strong> wohl temperiertes <strong>Was</strong>ser ist Balsam für Babyseelen<br />

<strong>–</strong> hatte sie mich bei<br />

ihrem allerersten Einsatz in eine<br />

kleine, mit Warmwasser gefüllte,<br />

auf dem Küchentisch stehende<br />

Babywanne gesetzt.<br />

Kaum hatte ich Platz genommen,<br />

fiel ich sie an, wie das Tier<br />

im ersten Teil des Vornamens<br />

meines Vaters. Allen Übertreibungen<br />

zum Trotz, hatte ich<br />

genau registriert, dass jemand<br />

Fremdes mir auf die Pelle<br />

rücken wollte. Sofort reagierte<br />

ich mit einem Krampfanfall der<br />

ernsten Art, was mir bei ihr<br />

großen Respekt einbrachte. Die<br />

Pflegepremiere ging somit ganz<br />

schön in die Pampers. Margaret<br />

wusste jetzt Bescheid: „Nothing<br />

is with easy nursing!“ Luca setzt<br />

die Akzente. Never mind! Begeben<br />

wir uns zurück in mein Kinderpflegezimmer.<br />

Ich hatte Mar-<br />

Abtauchen bis die Seele baumelt<br />

Vater Wolfgang<br />

gret und Pa bei ihrem schweißtreibenden Informationsaustausch<br />

über die Geschehnisse der letzten 48 Stunden allein<br />

zurückgelassen. Vielmehr fühlte ich mich bei deren<br />

Geschwätz selbst ein wenig zurückgesetzt und forderte,<br />

dass man sich nun endlich um mich kümmern sollte. Als<br />

Motzki unter den Schweigenden hatte ich mir mittlerweile<br />

einige variantenreiche Stöhn- und Meckereinlagen zugelegt,<br />

die überraschend nicht überhört wurden. Während Pa<br />

triefend das Zimmer verließ, freute sich Margret mit infantiler<br />

Begeisterung über die mollig warme Atmosphäre. Ich lag<br />

in Lauerstellung und ersann restriktive Antipflegemaßnahmen.<br />

Margret richtete derweil alles so ein, wie sie es für ihre<br />

Arbeit brauchen würde. Sie entpuppte sich dabei schnell als<br />

Kabelfetischist und fluchte ungemein zärtlich über die Stolperfallen<br />

meines bescheidenen technischen Equipments,<br />

welches Schlingen und Schleifen um ihre zarten Fesseln<br />

legte. Insgesamt zählte man zwölf Steckdosen, aus denen<br />

Kabel unterschiedlicher Länge und Dicke quollen und oft<br />

heillos durcheinander lagen: ein Pulsoxymeter oder Sauerstoffsättigungüberwachungsgerät;<br />

ein Sauerstoff-Kompressor<br />

mit 15 Meter Schlauch, der mit einem Druckminderer<br />

verbunden wurde, von dem aus ein weiterer Schlauch mit<br />

Nasenbrille oder Maske ragte, eine Ernährungspumpe, ein<br />

Absauggerät mit Absaugkatheter, ein Pariboy Inhalationsgerät,<br />

ein Babyphon, eine Wärmelampe (Papas Sonne) über<br />

dem Wickeltisch, eine Tischlampe (nachts muss für mich<br />

immer ein Lichtlein scheinen), ein CD-Player, ein Fön, ein<br />

Sound-Egg (Geräusche-Ei) und ein leuchtendes Mond-<br />

Sterne-Lichterbild von meinem Onkel Gottfried.<br />

Ich unterbreche einmal kurz für eine wichtige Verkehrsdurchsage:<br />

„Vorsicht! Auf den Straßen und Wegen dieser<br />

kleinen Stadt befindet sich ein Fahrradfahrer auf FKK-Tour“<br />

71


72<br />

Pa hatte unterdessen die Wohnung verlassen, um den Vormittag<br />

zu nutzen sehr wichtigen Geschäften nachzugehen,<br />

die da hießen:<br />

Flaschencontainer: Regelmäßig packte Pa die leeren Flaschen<br />

meiner hyperteuren Astronautenkost<br />

in seinen Rucksack, um sie<br />

lautlos zu entsorgen<br />

Kinderarzt: Die weitere Route sah vor, dass mein<br />

Erzeuger von kindlichem Gemüt ebenso<br />

regelmäßig die Praxis meines niedergelassenen<br />

Kinderarztes Dr. Hermwille<br />

aufsuchen musste, um die zuvor<br />

telefonisch georderten Rezepte, Überweisungen<br />

und Verordnungen abzuholen.<br />

Dort saß er dann leger und ungeduldig<br />

auf einer weiß lackierten Bank<br />

im Flur und wartete auf Godot und die<br />

Unterschriften.<br />

Krankenkasse: Die letzte Anlaufstelle seiner Businessroute<br />

führte ihn dann zur Informationsquelle<br />

und Bearbeitungsstelle aller für<br />

mich erforderlichen Maßnahmen einer<br />

guten medizinischen Versorgung und<br />

Behandlungspflege.<br />

Normalerweise aber stellte Pa bei der Krankenkasse lediglich<br />

sein Fahrrad ab und latschte in die Kabine eines nahegelegen<br />

Sonnenstudios, dessen Sonnenbank meinem<br />

bestrahlten Wickeltisch wärmetechnisch in nichts nachstand.<br />

Hier musste er sich tatsächlich entkleiden. Das nannte<br />

ich Parallelität der Ereignisse. Nur wurde er dort nicht<br />

gewaschen und ich musste meine Farbtupfer selber setzen.<br />

Wir ließen ihn konsequent unter der Sonnenbank liegen und<br />

begaben uns wieder in mein Pflegeparadies.<br />

Ich saß hängend im Schoß meiner Kinderkrankenschwester,<br />

welche mir eine Maske vor Mund und Nase hielt, aus<br />

der ein gewaltiger Dampf aufstieg. Margret hatte einen<br />

Cocktail, bestehend aus Kochsalz, den Medikamenten<br />

Apsamol und Atrovent, gemixt und geschaked. Viermal täglich<br />

für jeweils zehn Minuten durfte ich die Nebelschwaden<br />

produzierende Mixtur inhalieren, um mein angegriffenes<br />

Bronchialsystem durchlüften zu lassen. Freies Atmen für<br />

kleine Bürger! Anschließend unterzog ich mich völlig<br />

unfreiwillig einer sekretstimulierenden Atemtherapie. Und<br />

dann... und dann... setzte ich zum grandiosen Befreiungsschlag<br />

an. Der Sekretstau hatte sich in der Nebelbank aufgelöst<br />

und jagte von 0 auf 100 Stundenkilometer durch die<br />

Trachea in meine Mundhöhle. Von dort schossen die ekelig<br />

schleimigen Substanzen im hohen Bogen unter Prusten,<br />

Husten und Stöhnen durch die Nasenlöcher voll auf Margrets<br />

neuen Pulli. Nur in seltenen Fällen war Madame Klabautz<br />

auf meine Sekretattacken vorbereitet und hatte blitzschnell<br />

ein Stoffwindeltuch aus dem Ärmel gezaubert, welches<br />

den Schwall auffing. „<strong>Du</strong> Rotzlöffel der Nation“,<br />

schimpfte sie ein wenig, ohne mir strafende Blicke zu<br />

schenken. Batolio rief hemmungslos: „Das ist Luca´s Status<br />

Quo. And I like... I like it... I like it... I like it... a la la la like it... a la<br />

la la like it ... here we goohoo rotzing all over your shirt.“ Nur<br />

schade, dass Margret nachts nicht da ist. Denn nach einer<br />

sekretreichen Nacht hängt mir der Schleim oft bis über alle<br />

Ohren. Pfui Teufel!!! Die brodelnde Masse war einmal wieder<br />

im Mobilisations-Trainingslager gewesen. Das Absauggerät<br />

stand nicht still. Ständig schoben sich die Katheter<br />

abwechselnd in das linke und das rechte Nasenloch, mehr<br />

oder weniger tief über Rundungen hinweg, in den Rachen-<br />

73


74<br />

raum und saugten, saugten, saugten. Zu guter letzt kämpfte<br />

sich ein Katheder durch meine Mundhöhle, wo sich die<br />

Stoffe mit dem Speichel vermengt hatten und ratzeputz hatte<br />

Margret mittels Vakkuumerzeugung alles abgesaugt. Ich<br />

war nicht unbedingt von der Endreinigung überzeugt und<br />

versuchte weiterhin unter kräftigem Drücken und Pressen<br />

die Restbestände der Quälmasse hervorzubringen. Aber da<br />

war nichts mehr. Wofür also dieser kraftraubende Aufwand?<br />

Margret hatte im Übereifer mit einem Fuß den Druckminderer<br />

meines Sauerstoffkompressors umgekickt. Blitzartig<br />

ergoss sich <strong>Was</strong>ser durch den Schlauch. „Herrgott noch<br />

mal“, fluchte sie, diesmal energischer. Die Gelassenheit war<br />

doch ein klein wenig hektischer Betriebsamkeit gewichen.<br />

Lucas Chaos-Instrumentarium war sowieso immer besonders<br />

effektiv nach einer Nacht der Sammelleidenschaft.<br />

Alles floss! Ich gurgelte, schnorchelte, brodelte, prustete,<br />

zuckte, stöhnte...,derweil Margret wieder für Ordnung<br />

gesorgt hatte und sich der nächsten Pflegemaßnahme widmen<br />

konnte. Sie galten meinen arg in Mitleidenschaft gezogenen<br />

Wangen, die aufgrund des teilweise aggressiv wirkenden<br />

Schleimes neurodermitische Wundstellen aufwiesen.<br />

Prompt wurde eine Wundsalbe aufgetragen, bestehend<br />

aus Ol Jecoris, Zinkoxyd und Eucerinum anhydrium, oder<br />

was zum Teufel auch immer dieses alchemistische Zeug<br />

war. Finally gab es dann noch schnell etwas Bepanthensalbe<br />

auf Nase und Lippen, bis das Lucababy wieder über alle<br />

Backen glänzte <strong>–</strong> oral, nasal, popal. Ich will nicht klagen.<br />

Alles wird gut! Margret klagte auch nicht. Sie wollte schließlich<br />

meine Pflegezeit immer optimal gestalten. Die anderen<br />

Leidensgenossen warteten ja auch auf ihre Unterstützung.<br />

Lieber Alltag, vergiss deine Sorgen und bereite mich nun auf<br />

die Annehmlichkeiten vor. Wenn die nicht gerade unan-<br />

strengenden Pflegeakte, wie die Atemtherapie, ein vorübergehendes<br />

Ende gefunden hatten, war ich derart geschafft,<br />

dass ich mir eine ordentliche Mütze voll Schlaf wünschte.<br />

Statt dessen fand ich mich auf dem Wickeltisch wieder,<br />

unter Papas gleißender Sonnenhitze, derweil dieser immer<br />

noch unter der Sonnenbank schmorte und seine Hautkrebszellen<br />

aktivierte. Als spastisch gelähmtes Baby fand<br />

ich die nun folgende Maßnahme, das Ausziehen meiner<br />

Kleidung, voll zum Erbrechen. Ich wollte Margret aber nicht<br />

vollends den Tag versauen. Nicht immer folgte auf schleimiges<br />

Rotzen ein ergiebiges Kotzen. Zudem sehe ich die<br />

Gefahr, dass es meiner geschätzten Leserschaft gar übel<br />

wird. Wenn diese plötzlich zu würgen beginnt, wären die mit<br />

Liebe und Sorgfalt geschriebenen Seiten diese Buches<br />

nicht mehr wert als eine hypervolle Pampers. Margret hatte<br />

ihr Missgeschick mit dem umgefallenen Druckminderer in<br />

die Schublade der Tücken des Routinealltages gesteckt<br />

und trällerte ein sanftes Kinderlied. Im Gegensatz zu Papa<br />

hatte sie eine wesentlich hübschere Stimme und kannte<br />

auch Lieder zum Herzzerreissen.<br />

Meine Pflege beinhaltete nicht nur Vorsicht, Geduld und<br />

Langsamkeit, sondern auch ritualisierende Praktiken. Auf<br />

meinem Wickeltisch befand sich ein etwa Straußenei<br />

großes Geräusche-Ei mit diversen Knöpfen, insgesamt vier<br />

an der Zahl. Hiermit konnten Naturgeräusche reproduziert<br />

werden, wie beispielsweise das Rauschen des Meeres, der<br />

hinab stürzende <strong>Was</strong>serfall oder das Pochen eines Mutterherzens.<br />

Die Geräusche meines Soundeggs trugen Titel wie<br />

Ocean beach, Gentle stream, Mountain sunrise und soothing<br />

heartbeat. Jeder einzelnen pflegerischen Tätigkeit<br />

wurde ein bestimmter Sound zugeordnet. Während ich ausgezogen<br />

wurde stürzten <strong>Was</strong>sermassen die Klippen hinab,<br />

75


76<br />

während meiner Ganzkörperwaschung<br />

rauschten die Wellen des<br />

Meeres. Schließlich hielt man mich<br />

ja für schlau genug, anhand der<br />

Geräusche zwischen den Aktionen<br />

differenzieren zu können, um auf<br />

alles gut vorbereitet zu sein. Bei Pa<br />

lief allerdings immer alles in umgekehrter<br />

Reihenfolge ab. Damit<br />

meinte ich natürlich nicht, dass er<br />

meschugge sei und mich erst<br />

anzieht, bevor er mich wäscht.<br />

Nein, ich meinte eher seine Wahl<br />

der den Vorgängen zugeordneten<br />

Geräusche. Ma praktizierte wiederum<br />

Zwischenlösungen. So war<br />

das halt mit der Vergesslichkeit der<br />

Erwachsenen. Konditionierte<br />

Schlamperei! Egal <strong>–</strong> hauptsache<br />

Ritual! Nachdem ich die blöde<br />

Ausziehprozedur hinter mir hatte,<br />

konnte ich mich auf meinem wei-<br />

Lucas Begeisterung über ein Tonnenbad<br />

Margret Schämann-Grimm<br />

chen Frotteetuch so richtig nackelig relaxen. Auf vielfachen<br />

Wunsch präsentiere ich jetzt einen langgezogenen Seufzer:<br />

„Aaaahhhhh.....!“ In meinen legendären Seufzer hinein<br />

ertönte ein schriller Schrei von Batolio, der einen politisch<br />

inkorrekten Slogan durch mein Zimmer hallen ließ: „Kinder<br />

statt Inder“. Ein wenig pikiert aktivierte ich daraufhin einen<br />

Teil meiner funktionstüchtigen Gesichtsmuskulatur zur<br />

sogenannten Abnerv-Fratze. Ich war seit einiger Zeit ein<br />

bisschen in der Lage meinen Missmut mimisch auszudrücken,<br />

indem ich mein Gesicht verzog. Es war die Message<br />

vor der Massage, die mich irritierte. „Kinder statt Inder -<br />

Kinder braucht das Land“ <strong>–</strong> selbstverständlich mich mit eingeschlossen.<br />

Ein Echo hallte zurück: „Kinder brauchen<br />

auch Inder“. Ohne Inder müßte ich auf eine der tollsten und<br />

sinnlichsten Dinge der Welt verzichten, die indische Massage<br />

und ihre Weiterentwicklung. Da lag ich also und ließ<br />

mich indisch melken. Während ich die ausgiebige Massage<br />

genoss suchte ich tastend nach Margrets Hand, um ein<br />

Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu bekommen. Da<br />

ich jetzt voll auf Entspannung und Tagduselei eingestellt<br />

bin, kann ich euch hier leider nicht detailliert in die einzelnen<br />

Massagepraktiken dieser Babywellness einführen,<br />

andernfalls verliere ich den Überblick und kann meine einzelnen<br />

Körperregionen nicht spüren. Es gibt ja Fachbücher<br />

und Kurse zu Viala Schneider, mit denen man die Technik<br />

erlernen kann. Eure Kinder werden es euch auf ganz besondere<br />

Weise danken, wenn die Düfte der süßlichen Öle sie<br />

derart becircen, dass ihr spüren werdet, wie sie in das Reich<br />

der Sinnlichkeiten abtauchen. Margrets sanften Hände strichen<br />

Balsam auf meine Seele, mein Körper wurde locker<br />

und leicht, so das die anschließende Anziehprozedur fast<br />

eine Entspannungsübung war. Damals lag ich ja häufig<br />

rücklings gebogen wie ein Bumerang, den Kopf weit über<br />

den Nacken gestreckt. Sobald man mich auch nur leicht<br />

berührte, schossen die Spasmen ein, wurden Arme und<br />

Beine zu extrem steifen Gliedern. Doch nach einer Massage<br />

schlüpfte ich ohne Spasmen und Streckungen meiner<br />

Gliedmaßen flugs in Body, Pampers, Pullover oder Hemd,<br />

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78<br />

Hose, Strümpfe und in meine liebgewonnen blauen Stoffschuhe<br />

mit Klettverschluss. Last, but not least, wurde mir<br />

noch ein Halstuch umgebunden, womit ich fit für ein Casting<br />

beim Babymoderator war und dem Fernsehauftritt gelassen<br />

entgegen sah. „Fesch san mer beinand. I fühl mi sauwohl.<br />

Kein Furz, kein Rotz, kein Schmerz, kein nursery crime!“.<br />

Unter Margrets Pflege, Massage und basaler Stimulation<br />

erlebte ich eine wahrhafte „Renaissance“ meiner vitalen<br />

Ressourcen. Zunehmend bekam ich ein Gefühl für meinen<br />

Körper, auch wenn es nur die Entdeckung der Langsamkeit<br />

war. Schließlich war ich ja hochgradig behindert, was mir die<br />

Diagnose der schwersten globalen Retadierung einbrachte.<br />

Doch ich konnte meine Arme und Beine bewegen, wenn<br />

auch nur sehr unkontrolliert und unkoordiniert.<br />

Ich hatte mittlerweile meine anstrengende Morgentoilette<br />

hinter mich gebracht und freute mich auf die Erholungszeit.<br />

Dafür wurde dann mein Rehabuggy bereitgestellt, indem<br />

ich angeschnallt vom Kinderzimmer in das Wohnzimmer<br />

geschoben wurde. Anschnallen war seit einiger Zeit Pflichtprogramm,<br />

konnten mich doch meine Sekretattacken und<br />

die BNS-Anfälle regelrecht aus dem Sitz schleudern. Hier<br />

saß ich nun einige Stunden lang und schwelgte in den Erinnerungen<br />

an die zurückliegenden Stunden, falls ich nicht<br />

schon längst alles wieder vergessen hatte.<br />

Das zwei- bis dreistündige Pflegeprogramm war eine<br />

Mischung aus Behandlungspflege, Grundpflege, Fitness<br />

und Wellness, Arbeit und Vergnügen. <strong>Was</strong> blieb vom Pflegetag<br />

übrig? <strong>–</strong> ein Haufen Wäsche (verrotzte und bespuckte<br />

Oberbekleidung, Stoff- und Windeltücher, Handtücher und<br />

<strong>Was</strong>chlappen). Und Ma sang: „Ich jon so unwahrscheinlich<br />

jähn mit dir in der <strong>Was</strong>chsalon ... denn du häst Ahnung vun<br />

d`r Technik, vun der ich nix ...“ Lass es gut sein, Mutter. Die<br />

technischen Pannen seien doch an anderer Stelle erwähnt.<br />

Während ich nun in meinem Buggy der Dinge harrte, die da<br />

kommen sollten, begab sich Margret an die Aufräumarbeiten.<br />

In der Zwischenzeit kochte mein, von seiner FKK-Tour<br />

heimgekehrter Papa zwei Tassen Cappuccino. Dieses Heißgetränk<br />

schlürfte Margret genüßlich, während sie dabei<br />

ihre Pflegedokumentation schrieb, eine obligatorische<br />

Rechenschaft für eine eventuelle Einsichtnahme durch den<br />

Medizinischen Dienst der Krankenkassen und natürlich für<br />

die Abrechnung. Margret stöhnte und sagte: „Mir fehlen die<br />

Worte!“ und Pa erwiderte schmunzelnd: „Dann drücken sie<br />

sich doch schlicht in Zahlen aus“.<br />

Körpertemperatur: 39.8 °C = 1 Paracetamolzäpfchen; ein<br />

cerebraler Anfall = 40 Minuten Dauer bei 10 Tropfen Rivotrilgabe<br />

+ 15 ml Fencheltee; eine deftige Stuhlprobe von<br />

fester Konsistenz; 100 ml gelblicher Urin; Pulsfrequenz: 120<br />

leise pochende Schläge; Atmung: 48; Sauerstoffsättigung:<br />

94 Prozent bei 1 l Sauerstoffgabe.<br />

Nun war ich, Luca Bärchen, pflegedokumentiert mit persönlichen<br />

Daten, Kassendaten, Pflegedaten, Anamnese,<br />

Arztberichten, Medikamentenplan, Befunden, Nahrungs-<br />

Bilanzierungsblatt, Anfallsprotokoll, Vitalwertebogen,<br />

Schmerzprotokoll, Beobachtungsbogen, Quickpflegeplan<br />

mit behandlungspflegerischen Maßnahmen und einem<br />

aktuellen Pflegebericht des Einsatztages. Der ultimative<br />

Eintrag lautete dann: „der Patient Luca hat heute folgende<br />

Faxen gemacht ...!, welche eine Nachpflegezeit von mindestens<br />

30 Minuten rechtfertigen. Basta!“<br />

Pa hat übrigens auch mal ein acht Seiten umfassendes 24<br />

Stunden Tage- und Nachtpflegeprotokoll entworfen, für<br />

das er minutiös alle pflegerelevanten Tätigkeiten und Zeiten<br />

notierte. Dies hat er bei Pflegekasse als Nachweis meiner<br />

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Pflegeintensität eingereicht, um dem Antrag auf Einstufung<br />

in eine Pflegestufe Nachdruck zu verleihen. Dabei notierte<br />

er auch akribisch die nächtlichen Einsatzzeiten, um der<br />

nicht wissenden Welt begreiflich zu machen, dass ein Pflegetag<br />

dreißig Stunden umfasst. Apropos Nachtpflegezeit.<br />

Diese hatte wenig zu tun mit Margrets Nachpflegezeit, würde<br />

aber eines Tages auch für Klabautz relevant. Dann, wenn<br />

die Tagespflegezeit einmal nicht ausreicht, mein Gesundheitszustand<br />

sich radikal verschlechtert und der Kräftehaushalt<br />

der Eltern sich erschöpft hat. Batolio freute sich<br />

schon riesig auf jene Nächte, erhoffte er sich doch insgeheim<br />

ebenfalls gut versorgt und vor allem ausreichend verpflegt<br />

zu werden. Wer hat schon Lust des Nachts um die<br />

Laternen zu segeln, um einen Schwarm Mücken zu<br />

käschern. Margret hatte ihren Cappuccino ausgeschlürft,<br />

nachdem sie ein wenig Konversation über ihren spannenden<br />

Berufsalltag betrieb. Dann verabschiedete sie sich, in<br />

der Hoffnung bei den folgenden Einsätzen von etwaigen<br />

Turbulenzen verschont zu bleiben. Pa begab sich sofort in<br />

mein Kinderzimmer, setzte sich auf den Boden und begann<br />

das heillose <strong>Du</strong>rcheinander des von Margret hinterlassenen<br />

Kabelsalates zu entwirren.<br />

Ohne Knoten geht eben nichts.<br />

Zehntes Kapitel<br />

Die Geschmacksverirrung<br />

Wie man den Vibrationen der Physiotherapeuten begegnete<br />

Papa hatte wegen meiner Schluckstörung einen Herrn<br />

Rodolfo Castillo Morales auf einer Hazienda in Patagonien,<br />

Argentinien angerufen, als dieser gerade ein BSE-freies<br />

Angus-Steak vertilgte. Ich fühlte mich mit dem Namen<br />

Castillo spontan sehr familiär, auch wenn mich mit Argentinien<br />

nichts verband und ich mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

niemals in den Genuss dieses leckeren Rindfleisches kommen<br />

würde. Man hielt sich diese Möglichkeit jedenfalls<br />

noch offen, da einige felsenfest an den Erfolg von Rodolfos<br />

entwickeltem Therapiekonzept glaubten. Ihr müßt nämlich<br />

wissen, dass er ein wunderbarer Rehabilitationsarzt und<br />

Physiotherapeut ist, der mit seinem umfassenden sensomotorischen<br />

Behandlungskonzept auf neurophysiologischer<br />

Basis tolle Erfolge erzielte. <strong>Was</strong> auch immer diese<br />

sogenannte Orofaciale Regulationstherapie im einzelnen<br />

beinhaltete <strong>–</strong> ich wollte durch sie reguliert werden. Wie<br />

euch ja mittlerweile bekannt ist hatte ich sensomotorische<br />

Störungen im Gesichts- und Mundbereich, die mir weder<br />

das Saugen, Kauen noch das Schlucken möglich machten.<br />

Dabei hatte ich doch so einen wahnsinnigen Heißhunger<br />

auf das lecker-saftige Stück Rind auf Rodolfos Teller, dass<br />

ich spontan zum Mundräuber hätte werden können. Oh<br />

Rodolfo! Komm und reguliere meinen Muskeltonus, reduziere<br />

meine motorischen Kompensationen und aktiviere<br />

physiologisch angemessene Bewegungen. Viva Argentinia!<br />

Leider entpuppte sich alles einmal wieder als phantastische<br />

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82<br />

Spinnerei, denn als Realität. Papa verfügte über ein kaum<br />

wahrnehmbares Repertoire der spanischen Sprache <strong>–</strong> warum<br />

hat er mir eigentlich den Zweitnamen Felipe gegeben? <strong>–</strong><br />

und brach sich schon bei der Aussprache der Dankesworte<br />

„muchas gratias“ die Zunge, als er diese zwischen seine<br />

Zähne legte, mit der Folge das „aua“ vorläufig sein letzter<br />

Ausruf blieb. Wo immer sich dieser Rudolfo Castillo Morales<br />

auch befand, mir hatte er jedenfalls keine Aufmachung<br />

gemacht. Wenig später machte ich allerdings Bekanntschaft<br />

mit jenem stattlichen Mann, den wir seinerzeit noch<br />

vor der Tür stehen ließen. Er stellte sich mir als ein Physiotherapeut<br />

vor, der das Konzept meines argentinischen<br />

Freundes erlernt hatte und von den Ärzten der St. Vincenz-<br />

Klinik gebeten wurde, sein Wissen und Können bei mir<br />

anzuwenden. Dieser waschechte, münsterländische Krankengymnast<br />

war mir außerordentlich sympathisch, dass ich<br />

ihn in einem Atemzug mit Rudolfo nannte und ihn liebend<br />

gerne als solchen angesprochen hätte. Im wirklichen Leben<br />

hieß er aber Michael und kam vom Deutschen Roten Kreuz.<br />

Apropos Atemzug! Michael war hochkompliziert, t´schuldigung<br />

hochqualifiziert und integrierte so ziemlich alles an<br />

Maßnahmen und Methoden in seine Therapieeinheiten.<br />

Dazu gehörten selbstverständlich Atemübungen und diverse<br />

Lagerungsarten zur Verbesserung meiner Lungenbelüftung,<br />

Zug um Zug. Nur klassische gymnastische Einheiten<br />

blieben mir dankenswerterweise erspart, oder wurden einfach<br />

unbemerkt in das gesamtherapeutische Geschehen<br />

mit einbezogen. Michael erwies sich als Meister der<br />

erklärenden Worte, indem er die praktischen Übungen mit<br />

allerlei theoretischem Hintergrundwissen garnierte. Meine<br />

Eltern sollten schließlich nicht dumm und untätig bleiben,<br />

sondern die gezeigten Übungen auch praktisch anwenden.<br />

Wer auch immer Erfahrungen mit Krankengymnastik und<br />

sonstigen Gemeinheiten gemacht hat, weiß, dass man sich<br />

bestimmt nicht zum Kaffeekränzchen verabredet. <strong>Was</strong> die<br />

seltsamen Übungen der orofacialen Regulationstherapie<br />

betraf, hinterließen diese jedoch mindestens eintausend<br />

Fragezeichen auf den Stirnen der Beobachtenden zurück.<br />

„Wie? Das war schon alles?“, lautete eine der verdutzten<br />

Fragen, die Michael sowieso schon erwartet hatte. Punktuelle<br />

Vibrationen, mal links, mal rechts der Lippen, mal mittig<br />

unter der Nase, überall dort wo sich Nervenpunkte befanden.<br />

Stimuli ... Stimula ...! Batolio, dem die Stimulationen<br />

meiner Nervenpunkte suspekt erschienen, dachte eher an<br />

eine andere therapeutische Variante. Demnach müsste Ma<br />

nur ihre Brust an meine Lippen führen oder umgekehrt meinen<br />

Mund an ihre Brust, derweil der Therapeut solange<br />

irgendwelche delikaten Übungen praktiziert, bis Klein-<br />

Luca drauf los saugt, dass sich die Knospen biegen. Es<br />

geschah dergleichen nix. Nur dezente, punktuelle Stimulationen.<br />

Abschließend beträufelte Michael ein Megawattestäbchen<br />

mit Tee und strich mir damit den Mund von innen<br />

aus. Fenchel blieb meine einzige Geschmacksnuance.<br />

Langsam, aber nicht ohne Vibrationen, strich er entlang<br />

meiner Wangentaschen und pinselte kreisend über meine<br />

Zunge, um sämtliche Geschmacksnerven zum Narren zu<br />

halten. War ich jetzt auf den Geschmack gekommen? Nein,<br />

ganz bestimmt nicht. Denn auf meiner Zunge nistete der<br />

Soor. Dabei handelte es sich um die blöden Hefepilze, die<br />

sich wie Parasiten dort angesiedelt hatten. Zwischenzeitlich<br />

war meine Zunge, von einem den Soor bekämpfenden<br />

Medikament, so lila wie die Milkakuh, womit freilich der<br />

Bezug zur Milch wieder hergestellt war. Doch weder mit<br />

Milch, noch mit Schokolade gedippte Wattestäbchen<br />

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84<br />

erreichten jemals meinen Mund. Nur dieser ekelhafte Fencheltee.<br />

Ja, liebe Freundinnen und Freunde der kulinarischen<br />

Schlemmerei! Wir befanden uns doch erst am Anfang<br />

eines langwierigen Prozesses, der ziemlich abhängig von<br />

Formsachen war. Befand ich mich nämlich in einem Formtief,<br />

beispielsweise in Krampfbereitschaft oder im Fieberwahn,<br />

dann hatte die Sache keinerlei therapeutische Effekte.<br />

Die von Außenstehenden kaum wahrnehmbaren Stimulationen<br />

waren nämlich Reize von ungeheurer Intensität, die<br />

sich im Fall von extremer Befindlichkeit kontraproduktiv<br />

ausgewirkt hätten. Ich behielt mir deswegen das Recht vor,<br />

das Tempo selbst zu bestimmen, derweil die anderen ihre<br />

eigene Langsamkeit entdecken mussten, wollten sie doch<br />

meine physischen Eigenheiten begreifen lernen. Michael<br />

selbst war ein bemerkenswert geduldiger Mensch, der die<br />

Langsamkeit beim Lesen von Sten Nadolnys Buch: „Die Entdeckung<br />

der Langsamkeit“ gefunden hatte. Er erkannte<br />

auch einfühlsam die Müdigkeit in den Augen meines Papas.<br />

Dementsprechend praktizierte und theoretisierte er in einer<br />

passablen Geschwindigkeit, die es meinem Pa ermöglichte<br />

sich sämtliche Fachbegriffe zu merken, um sie anschließend<br />

nachschlagen zu können. In realiter kam er jedoch gar nicht<br />

dazu seinem Wissensdurst zu stillen, denn schließlich hatte<br />

er mich rundum zu versorgen. Darauf bestand ich vehement,<br />

ohne jegliche Rücksicht auf die Erweiterung seiner<br />

Bildung. Insgesamt therapierte mich Michael mit wachsender<br />

Begeisterung, wobei er alles sehr genau registrierte: die<br />

Veränderung meiner Atemfrequenz, mein Mienenspiel bei<br />

unangenehmen oder angenehmen Reizen, meine Seufzer <strong>–</strong><br />

wenn ich sie machte <strong>–</strong> meinen Muskeltonus, meine Pupillenbewegungen<br />

<strong>–</strong> einfach alles. In punkto gegenseitiger<br />

Aufmerksamkeit befanden sich Mr. Physio und ich auf<br />

hohem Niveau, einmal abgesehen von meinen Formschwankungen.<br />

„Hey, ein Seufzer!“ Michael wurde enthusiastisch<br />

und Papa fragte geistesabwesend: „<strong>Was</strong> ist passiert?“<br />

Wahrscheinlich hatte er an Fußball und seine Borussia<br />

gedacht und dabei einmal wieder nichts von meinen<br />

Vitalfunktionen und dessen Eskapaden mitgekriegt. Dabei<br />

hatte ich doch schon im letzten Kapitel einen langgezogenen<br />

Seufzer ausgestoßen, um meine Margret zu beeindrucken.<br />

Andererseits konnte ich es ihm nachfühlen, dass<br />

er sich zwischenzeitlich anderen Gedanken hingab, wusste<br />

er doch nur zu genau, dass er mit mir allenfalls auf dem grünen<br />

Rasen hinter unserer Wohnung liegen konnte. An ein<br />

Ballspiel mit gegenseitigem Zukicken und Fummeln war<br />

nun einmal nicht zu denken. Im Übrigen hatten wir es uns im<br />

Sommer 2000 <strong>–</strong> oder was von diesem übrig geblieben war <strong>–</strong><br />

einmal auf der Wiese in unserem Garten bequem gemacht.<br />

Die Gänseblümchen erzählten mir Geschichten von Düften,<br />

Bienen und Bestäubungen, von Gegenden, wo Milch und<br />

Honig fließen. Der Wind hauchte mir Zufriedenheit ein und<br />

ich begann meine Seele .... HALT! Weg von der Natur <strong>–</strong><br />

zurück ins therapeutische Geschehen. Für meinen Seufzer<br />

lobte mich Michael über den grünen Klee, dass ich mich<br />

spontan in unseren Garten zurücksehnte, um Flora und<br />

Fauna zu inspezieren. Doch ich hatte kein Glück, und das<br />

Pech folgte stante pedes. Michaels individueller Behandlungsplan,<br />

der sich mittlerweile nur noch auf atemtherapeutische<br />

Maßnahmen konzentrierte, kannte keine Gnade.<br />

Nur Konsequenzen, die da bedeuteten: Berührung <strong>–</strong> Streichen<br />

<strong>–</strong> Zug <strong>–</strong> Druck <strong>–</strong> Vibration und... und... und ...! Ich entschied<br />

mich kurzerhand meine Bronchien zu entleeren und<br />

rotzte gar kräftig den Stehkragen seines Flanellhemdes voll.<br />

Somit konnte er jetzt unweigerlich den Solidaritätspakt mit<br />

85


86<br />

Margret eingehen. Michael nahm es sehr gelassen hin,<br />

zumal er darauf vorbereitet war. Vor Beginn der Therapiestunde<br />

hörte er es bei mir pfeifen, brodeln, röcheln, räuspern<br />

und fließen. Er fühlte die Geschwindigkeit meiner Sekretbewegungen<br />

bei jeder Ein- und Ausatmung, ertastete anhand<br />

des vorbeizischenden Luftstroms, wo sich der Schleim versteckt<br />

hielt. Dann versuchte er ihn zu mobilisieren und freute<br />

sich über den großartigen Erfolg.<br />

Die Atemtherapie bekam einen immer gewichtigeren Stellenwert<br />

in meinem Leben. Die orofaciale Regulationstherapie<br />

wurde dagegen bald beendet, um letztlich weiteren<br />

Stress zu vermeiden. Es war alles nur ein Tropfen auf einen<br />

heißen Stein. Einige Zeit später bekam Michael eine neue<br />

Kollegin, die er durch Margret kennengelernt hatte. Sie hieß<br />

Elke und nahm mich anstelle von Michael in ihre Patientenkartei<br />

auf und unter ihre Fittiche. Mr. Physio räumte das Feld<br />

und verabschiedete sich mit den münsterländischen<br />

Worten: „Guet gaohn“.<br />

Elftes Kapitel<br />

Das Zauberhafte Materialkörbchen<br />

Wie man durch die Frühförderung zum Genießer wurde<br />

Immer wenn das Wochenende sich hinter einem grauen<br />

Schleiher der münsterländischen Nebelbänke verzogen<br />

hatte und Ma sich auf den Weg zu ihrem Sekretariat befand,<br />

begann für mich <strong>–</strong> good grief <strong>–</strong> ein verdammt arbeitsreicher<br />

Montag. Ich wurde frühgefördert! Eine schlanke, stets gut<br />

gelaunte Sozialpädagogin namens Pia, die ebenso wie<br />

Margret unter dem Eiszeitsyndrom kühler Extremitäten litt,<br />

schneite montags morgens immer hinein in meine olle Pflegestube.<br />

Batolio, der partout nicht gefördert werden wollte,<br />

verzog sich daraufhin in das Wohnzimmer, hängte sich vor<br />

die Stereoanlage und lauschte dem Song von Bob Geldorf<br />

und seinen Boomtown Rats „Tell me why, I don´t like mondays?“<br />

Einige Leute <strong>–</strong> euch schließe ich da kategorisch aus<br />

<strong>–</strong> vertreten die unsinnige Ansicht, die Frühförderung diene<br />

nur der Bespassung von Babies, kleinen Kindern und deren<br />

Eltern. „Spielen mit Babies ist doch reiner Kinderkram und<br />

hat mit Arbeit im herkömmlichen Sinne absolut nichts zu<br />

tun.“ Mein Zwerchfell hätte gerne protestieren wollen, doch<br />

das Lachen blieb mir nebst Schleim im Halse stecken. Von<br />

wegen Fun und eitler Sonnenschein. Ich musste richtig<br />

malochen, um mir meine Freuden und Annehmlichkeiten zu<br />

verdienen. Die Frühförderer werfen zuvor ihre gesamten<br />

Sinnesblicke auf die motorischen, sensorischen, kognitiven,<br />

sprachlichen, emotionalen und sozialen Entwicklungsmöglichkeiten.<br />

Sie schauen mehrdimensional aus der<br />

Wäsche und rufen dann nach Interdisziplinärität. Mir aller-<br />

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88<br />

dings gingen jegliche Zielformulierungen an der Pampers<br />

vorbei, galt es doch nur, meine Lebensqualität ein wenig zu<br />

verbessern. Ich möchte euch keineswegs mit den verschiedenen<br />

Methoden nerven, sondern lediglich einen Einblick in<br />

meine arbeitsintensiven Wocheneinheiten verschaffen.<br />

Here we go on with the show. Pia brachte jedes Mal ein<br />

Körbchen voller Überraschungen mit. Das Körbchen war mit<br />

zahlreichen Spielmaterialien gefüllt, von denen jedoch nur<br />

jeweils ein Teil herausgenommen wurde und zum Einsatz<br />

kam. Pia war in der Branche der Frühförderer als vergessliche<br />

Frau bekannt, die bei jedem Hausbesuch den betreffenden<br />

Gegenstand liegen ließ. Folglich beschäftigten sich<br />

dann meine Eltern mit dem Material, indem sie mich als Versuchsobjekt<br />

ihrer Neugierde und Obsessionen betrachteten.<br />

Am darauffolgenden Fördermontag lachte Pa Pia<br />

augenzwinkernd an und fragte ganz unverhohlen: „Na, hat<br />

sie letzte Woche nicht etwas vermisst in ihrem Körbchen?“<br />

Pia schaute verdutzt, dann überglücklich: „Da habe ich mir<br />

doch die ganze Woche den Kopf zerbrochen und vergebliche<br />

Suchaktionen gestartet.“ Das nannte ich glatte Arbeitszeitverschwendung.<br />

Manchmal ließ Pia diverse Materialien<br />

auch freiwillig bei uns liegen, ohne sich jedoch später daran<br />

zu erinnern, wem sie diese denn wohl geliehen hatte. Lasst<br />

uns nicht länger aufhalten mit Erinnerungslücken, und<br />

begeben uns in das kollektive Freizeitparadies, in den<br />

Luca`schen Sinnespark. Werfen wir also einen Blick auf die<br />

Materialien zur Förderung meiner Wahrnehmungen und<br />

sinnlichen Begierden. Eines Tages rückte mir so ein elektrisch<br />

betriebener Kosmetikmassagestab zu Leibe. Ich hatte<br />

eher den Eindruck, dass solche Geräte ausschließlich von<br />

Frauen und flotten Teenagern benutzt werden, um ihren erotischen<br />

Outfits neuen Glanz zu verleihen. Weit gefehlte<br />

Denkschiene! Auch Buben meines zarten Alters, die Häute<br />

tragen, welche sich die benannte Damenwelt für das ewige<br />

Jung- und Schönsein wünscht, kamen in den Genuss der<br />

elektrisierenden Vibrationen. Aber bitte mit Vorsicht! Meine<br />

Haut ist ein hoch sensibles Futter. Zu dem Massagegerät<br />

gehörten übrigens noch verschiedene Aufsätze, deren<br />

Reizstimulationseffekte ganz unterschiedlicher Natur<br />

waren. Da gab es Aufsätze, vergleichbar<br />

mit einer Kratzbürste,<br />

sowie ein kugelförmiges Teil,<br />

eines mit zwei Noppen, ein<br />

Glattes und eines mit Schaumstoff<br />

überzogenes. Pia wählte<br />

aus Vorsicht zuerst das glatte<br />

Aufsatzstück und drückte das<br />

Startprogramm. Ich hatte keine<br />

Chance, meinen Dermatologen<br />

oder Apotheker ob der Verträglichkeit<br />

zu fragen und bin flugs<br />

aus der Haut gesprungen. Die<br />

Vibrationen waren so gigantisch,<br />

dass mir der Urin abging.<br />

Pia hatte aber alle Risiken und<br />

Nebenwirkungen bedacht und<br />

ein gefaltetes Handtuch als<br />

Dämmungsunterlage benutzt,<br />

um den direkten Hautkontakt<br />

zu vermeiden. Ich war hellwach<br />

und registrierte die kleinste<br />

Sekretstimulation mit Massageball<br />

Vater Wolfgang<br />

89


90<br />

Bewegung. Einmal hatte man mich bäuchlings auf einen<br />

Pezzyball gelegt. Das ist ein riesiger, hohler Plastikball für<br />

ergonomische Sitzhaltungen oder gymnastische Schikanen.<br />

Während ich wie ein nasser Sack nahezu überhing,<br />

wurde das Massagegerät an irgendeiner Stelle des Balles<br />

positioniert, natürlich eingeschaltet. Prompt ging die Lucy<br />

ab, als wäre ich ein Achterbahnjunkie. Die Chose war derart<br />

Sekret-stimulierend, bis sich der Pezzyball auf der eigenen<br />

Schleimspur überrollte. Ich konnte mich des Eindruckes<br />

nicht erwehren, dass mittlerweile jeder, der mich besuchen<br />

kam, in die Praktiken der Atemtherapie eingeweiht war.<br />

Trotzdem war die Massage-Vibrationseinheit eine ultragrelle<br />

Show. Ich trug fortan einen rosa Teint und fühlte mich<br />

porentief rein. Pa hatte sich zwischenzeitlich seinen Ellbogen<br />

mit dem Noppenaufsatz massiert und verstand jetzt<br />

etwas von Musikalität.<br />

„... Every other day, every other day of the week is fine. But<br />

whenever monday comes, but whenever monday come, I<br />

feel ... .“<br />

The Mamas & Papas und Pia hatten eine rettende Idee, wie<br />

sie einen weiteren Montag vormittag gestalten könnten. Pia<br />

hatte sich in die Rolle einer Rettungsassistentin versetzt,<br />

derweil ich nackig und missgelaunt auf meiner Wickelkommode<br />

kauerte. „Ihr könnt mich mal am Futti lecke <strong>–</strong> Pia<br />

kommt mit einer Rettungsdecke!“ Tatsächlich entfaltete sie<br />

eine Decke mit den Maßen 160 x 120 Zentimeter, deren eine<br />

Hälfte silber- und die andere Hälfte goldfarben war. Die<br />

Goldseite verwendet man zum Hitzeschutz, wonach durch<br />

Reflexion des Sonnenlichtes die Hitze vom Körper abgehalten<br />

wird. Die Silberseite verhindert die Gefahr der Unterkühlung,<br />

weil die Körperwärme reflektiert wird. Die Spannung<br />

knisterte, als mein Körper in die Goldseite der Plane einge-<br />

wickelt wurde. Kerl, war das aufregend. Mein Strullermann<br />

zeigte sich spontan erkenntlich. Könnt ihr euch vorstellen,<br />

in Alufolie eingewickelt zu werden? Mit welchem praktischen<br />

Nutzen? By the way! Die Einwickelaktion geschah<br />

nicht an irgendeinem x-beliebigen Montag, sondern am<br />

Rosenmontag, der zudem auch noch mein erster Geburtstag<br />

war. Da stellte sich unweigerlich die zentrale Frage:<br />

Wurde ich hier als mein eigenes Geschenk verpackt, oder<br />

diente die Knisterfolie zum Zweck der Faschingskostümierung<br />

für den Rosenmontagszug? Rosen kommt von Rasen.<br />

Zur Raserei kam es jedoch nicht. Mittlerweile hatte ich mich<br />

an meine zweite Haut gewöhnt. Sie schien mir gar passabel<br />

und erzeugte eine mollige Wärme. Es raschelte, knisterte,<br />

knackte und knirschte, die Schweißperlensuppe kochte. Es<br />

war sicherlich ein anderes Hauterlebnis wie beim Streicheln,<br />

Liebkosen oder Schmusen, aber doch einzigartig,<br />

zumal es auch ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und<br />

Wohlbefinden erzeugte. Animalisch gesprochen ging es<br />

tierisch unter die Haut. Potzblitz! Habe ich da nicht gerade<br />

jemanden unter meiner Leserschaft erwischt, wie er sich an<br />

den Kopf greift und ruft: „<strong>Was</strong> machen diese Grützköpfe<br />

denn da mit wehrlosen Kindern, zum Kuckuck?“ „Nichts<br />

aufregendes“, erwiderte Batolio, der sich mittlerweile Bob<br />

Geldorf leid gehört hatte. „Sie regeln nur Lucas Körpertemperaturen.“<br />

Nachdem man mich aus meiner Rettungsfolie<br />

wieder ausgewickelt hatte, stand ein weiterer Montag vor<br />

der Tür. Plötzlich steckte mein Kopf in einem Schwarzlichtkasten,<br />

welcher eine abnehmbare Plexiglasfrontscheibe<br />

hatte. Mein übriger Körper hing noch dran, aber außerhalb.<br />

Dann wurde der Kasten an das Stromnetz angeschlossen,<br />

so das sich im Inneren Schwarzlicht ausbreitete. Die Farbenpracht<br />

der Innenwände waren der Ozeanwelt nach-<br />

91


92<br />

empfunden. Auf dem Meeresgrund, dem Boden, befanden<br />

sich verschiedenfarbige Gegenstände - wie beispielsweise<br />

kleine und große, gelb- und orangefarbene Bälle, Kordel<br />

und Tücher. Ich war tief beeindruckt. „Ich will mehr Meer <strong>–</strong><br />

ich will ihn ganz <strong>–</strong> den Ozean.“ Offensichtlich waren meine<br />

Augen in der Lage, zumindest auf intensive Lichtreize zu<br />

reagieren. Es war jedenfalls ein tolles Erlebnis, welches sich<br />

nach Wiederholung sehnte. Pia ließ in ihrem kreativen Eifer<br />

aber auch nichts aus und entnahm ihrem Überraschungskorb<br />

auch Ton-erzeugende Materialien und Instrumente,<br />

wie chinesische Klangkugeln, Klangschalen, ein Xylophon<br />

und ein kleines Keyboard. Ab sofort durfte ich meine musikalische<br />

Genialität unter Beweis stellen und mich als Mozart<br />

unter den schwerstbehinderten Babies feiern lassen. Der<br />

Hammer war jedoch eine sogenannte Ocean Drum. Dabei<br />

handelte es sich um eine durchsichtige Trommel, die am<br />

Innenrand und auf dem Boden mit Meerestieren verziert<br />

war. Die Trommel war mit hunderten von kleinen Metallkügelchen<br />

gefüllt. Wenn man sie leicht kippte, setzte sich die<br />

Kugelmasse in Bewegung und erzeugte somit das Geräusch<br />

einer Welle. Je intensiver die Bewegungen ausgeführt<br />

wurden desto stärker entstand der Eindruck, dass eine<br />

wogende und tosende Brandung alles überfluten würde. Ich<br />

klappte einfach meine Muscheln zu. Mein kaufsüchtiger<br />

Papa, der Mamas hart verdiente Bembel so gerne in Spielmaterialien<br />

für meine Frühförderung investierte <strong>–</strong> Pia´s Materialkörbchen<br />

hatte ihn dazu verlockt <strong>–</strong> bestellte natürlich<br />

sofort diese Trommel via Internet. Fortan hockte er Abend<br />

für Abend auf dem Fußboden mit der Drum in den Händen,<br />

erzeugte hohe Wellen, die seine Gedankenwelt umspülten,<br />

und phantasierte: „Ich habe doch noch eine Sehnsucht“.<br />

Petrus wies ihn in die Technik der Fischereiknoten ein. Da er<br />

jedoch bis heute noch keinen Fisch gefangen hat, blieb die<br />

Frage, warum man ihn nicht früh gefördert hat?<br />

Nachdem ihn der Ozean wieder ausgespuckt hatte, bugsierte<br />

man mich in den Snoezelraum der Werkstatt für<br />

Behinderte, wo Mutter ihren Arbeitsplatz hat. Dort wogten<br />

wir gemeinsam auf einem <strong>Was</strong>serbett hin und her, kreuz<br />

und quer. Zuhause angekommen legte man mich nicht<br />

etwa in die Badewanne, sondern in meine Hängematte.<br />

Statt Erholung sollte ich mir nun auch noch die Welt überhalb<br />

erschließen und mich der Frage zuwenden, was die<br />

Menschen sich in ihren Wohnungen unter die Decke hängen.<br />

Mir fielen Lampen, Kronleuchter, Mobiles, Knoblauchzehen<br />

und Spinnengewebe ein. Unter unserer Wohnzimmerdecke<br />

befand sich allerdings ein Grillrost, an dessen<br />

Stäben wiederum bunte, seidene Fäden hingen. Sie waren<br />

zum Greifen nah, sozusagen zum Abreißen. Da ich aber leider<br />

nicht greifbereit war, zappelte das Gedöns vor meinem<br />

Gesicht herum, kitzelte mir Nase und Wangen und zerzauste<br />

meine gold-lockige Haarpracht. Pa hatte nichts Besseres<br />

zu tun, als jetzt bloß nicht zu rauchen. Somit hatte er<br />

zuviel Puste, um die ollen Fäden wie ein Orkan hin und her<br />

wirbeln zu lassen. Es fühlte sich an wie ein Herbststurm.<br />

Gleich liege ich unter dem Blattwerk begraben.<br />

Ach du dickes Ei! Pia brachte am heutigen Montag eine mit<br />

Bohnen gefüllte Wanne mit. Dabei handelte es sich weder<br />

um die grünen noch um die dicken Bohnen aus Nachbars<br />

Garten, sondern um gelbe und rote Teile, welche die Form<br />

von dicken Bohnen hatten. Wenig später, nachdem man<br />

mich mit dem Rücken auf mein Rundkissen gelegt hatte,<br />

ergossen sich ungelogen mindestens zehntausend Bohnen<br />

über meinen Körper. Ich badete sozusagen in den roten und<br />

gelben Teilen, fand diese Art der Hautstimulation aber<br />

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94<br />

Luca nimmt ein Bohnenbad<br />

durchaus prickelnd. Spannend fand ich auch die Aktion an<br />

jenen Montag, an dem meine Extremitäten in den Genuss<br />

von Kartoffelpüree kamen. Zuerst verteilte man mir die<br />

Pampe über die Hände, später über die Füße. Als hätte ich<br />

kaum andere Sorgen, als mir noch Püreebandagen anlegen<br />

lassen zu müssen. Jetzt fehlt nur noch ein Gipsbett, um das<br />

Chaos perfekt zu machen. Statt dessen bekam ich es dann<br />

mit Gries zu tun, wonach ich endgültig zu der Überzeugung<br />

kam, dass Nahrungsmittel in der Frühförderung einen<br />

grundsätzlich anderen Zweck verfolgten, als kleine hungrige<br />

Mägen zu füllen.<br />

In Pia`s Reich der Sinne entwickelte ich zunehmend einen<br />

wahren Genusscharakter, sehnte mich nach Hand- und<br />

Fußmassagen, sowie nach Gesangeseinlagen aller Art. Ich<br />

konsumierte leidenschaftlich gerne Streicheleinheiten am<br />

ganzen Körper, während ich anmutig irischen Balladen und<br />

bluesigen Songs lauschte, oder einfach nur Pia`s anrührigem<br />

Elefantenlied. Papa waren die Aktionen der Frühförderung<br />

derart ans Herz gewachsen, dass er seine Förderaktivitäten<br />

auf so manchen Nachmittag verlegte. Wenn wir<br />

dann Musik hörten, nahm er auch gerne meine Händchen<br />

in die seinen und gemeinsam swingten wir in eine längst<br />

vergessene Welt. Die Welt, wo ich noch im Mutterleib lebte.<br />

Ich war auch hin und weggerissen, wenn Pa „Summertime“<br />

aus Gershwin`s Porgy und Bess trällerte, auch wenn er nicht<br />

gerade ein Sänger von höheren Weihen war. Mein charismatischer<br />

Dad war meinem grazilen Charme erlegen, so<br />

dass er, seinem edlen Charakter entsprechend, unendliche<br />

Fantasiereisen mit mir unternahm.<br />

Cha-cha-cha <strong>–</strong> my life is cool <strong>–</strong> sometimes.<br />

But the cooler it comes the harder it gets.<br />

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96<br />

Zwölfter Akt<br />

Das visionäre Einkaufszentrum<br />

Wie man Hilfsmittel bekam<br />

und mit den Tücken der Technik haderte<br />

Pa hatte kürzlich eine seltsame Vision oder einen Anflug von<br />

geistiger Umnachtung. In einem seiner häufigen Tagträume<br />

<strong>–</strong> ihr wisst ja, dass er sich die Nachtträume ersparen konnte,<br />

beziehungsweise unsinnige Kapriolen fabrizierte, um andere<br />

vom Schlafen abzuhalten <strong>–</strong> konstruierte er ein riesiges<br />

Einkaufscenter, welches Hilfsmittel aller Art feilbot. Ein<br />

gigantisches Gesundheitscenter sozusagen, welches er<br />

Body & Soul-Mall nannte. Im Klartext hieß das, mit einem<br />

Stapel Blankorezepte vom Kinderarzt shoppen zu gehen.<br />

Hintergrund dieser Idee war die anfänglich teilweise große<br />

Verärgerung über einige Hilfsmittelversorgungsfirmen, die<br />

trotz frühzeitiger Einreichung der ärztliche Rezepte mit der<br />

Lieferung der Artikel schlampten. Dann stand Pa buchstäblich<br />

auf einem meiner Schläuche, was mir beinahe die existentielle<br />

Sauerstoffzufuhr kappte. „<strong>Was</strong> kostet denn ein<br />

krankes Kind?“, fragte Batolio neugierig. Pa erwiderte: „Nerven“,<br />

womit er nur die Drahtseilakte meinte, bei denen er<br />

sich akrobatisch ins Zeug legen musste, um die möglichen<br />

akuten Notversorgungsprobleme in den Griff zu bekommen.<br />

Mit meiner Hilfsmittelversorgung lief es später summa<br />

summarum recht passabel. <strong>Was</strong> allerdings den Gebrauch<br />

und Verbrauch anderer Produkte betraf, konnte ich nur konstatieren,<br />

dass ich wohl niemals den Verlockungen der bunten<br />

Werbewelt mit ihren zweifelhaften Gefühlsbotschaften<br />

widerstehen würde. Solange meine Ollen nicht einem juve-<br />

nilen Konsumrausch verfallen würden, konnte ich sicher<br />

sein, kaum nach Artikeln einer „das-muss-ich-haben-dasmuss-ich-tragen-Welt“<br />

zu verlangen. Da schlug ich Nike<br />

einen Haken, streifte mir Addidas ab und machte auf den<br />

Benneton-Pulli einen kolossalen Rotzer, bis sich die united<br />

colours von selbst verwaschen. Ich dagegen „kaufte“ bei<br />

Nellcor Puritan Bennett, Weinmann, Kendall, Fresenius,<br />

Hartmann, Johnson + Johnson, Braun, Sherwood Medical,<br />

Dahlhausen, Beiersdorf und was-weiß-der-Kuckuck bei<br />

welchen sonstigen medical global players ein. Nachdem<br />

Papa meine Versorgungswarenkörbchen-Einkaufsliste<br />

akkurat zusammengestellt hatte wurde ich in<br />

meinen Rehabuggy gesetzt, den ich ungefähr<br />

im zarten Alter von 15 Monaten<br />

bekam. Mein Buggy war ein hypergrandioses<br />

Gefährt mit einer nach meinen<br />

Körpermaßen entwickelten Sitzschale.<br />

Im Fachjargon der Rehatechniker<br />

hieß ich darum Schalenkind,<br />

wofür diese einen<br />

geschmetterten Satz heiße<br />

Ohren verdient hätten. Die<br />

grellste Show war allerdings<br />

mein Rückspiegel. Da mein<br />

Blick entsprechend<br />

der Sitzhaltung nach<br />

vorne ausgerichtet<br />

war, mussten meine<br />

schiebenden Eltern ja<br />

eine Möglichkeit<br />

haben in meine Visage<br />

kieken zu können, um Mein rasantes Gefährt<br />

97


98<br />

rechtzeitig auf meine Schleimattacken vorbereitet zu sein.<br />

Ich fühlte mich sauwohl in meinem Shopper, war fast so cool<br />

wie Dennis Hopper. Er fuhr zwar eine Harley und ich nur<br />

einen ollen Buggy. Doch der ging ab wie ein Paracetamolzäpfchen.<br />

Easy Rider Luca auf Shopping-tour. Nachdem<br />

wir das Einkaufscenter erreicht hatten fühlte ich mich ein<br />

wenig anders als sauwohl, hatte ich doch unterwegs die<br />

Schattenseite meines coolen Gefährts ziemlich vollgerotzt.<br />

Das hielt Papa aber nicht davon ab, den Hilfsmittelparcour<br />

zu durchstreifen. In der Abteilung Lunge fischten wir Sauerstoffbrillen<br />

und -masken aus den Regalen, sackten sterile<br />

Kochsalzflaschen ein und schauten nach Ersatzteilen für<br />

den Sauerstoff-Konzentrator. Beim Pariboy erhielten wir ein<br />

Ventilset, eine Einatemmaske und einen Anschlussschlauch<br />

für das Inhalationsgerät. Danach begaben wir uns in die<br />

Abteilung für Absäuglinge, wo wir Absaugkatheter und<br />

Mini-Yankauer OP-Sauger bestellten, sowie ein komplettes<br />

Ersatzset für das Accuvac-Absauggerät, bestehend aus<br />

Sekretdeckel, Kugel, Bakterienfilter, Dichtungsring, Filterdeckel,<br />

Sekretsammelbehälter, Absaugschlauch und ein<br />

Endstück mit einem Fingertip, erhielten. Selbstverständlich<br />

ließen wir das komplette Gerät vom Reparaturdienst warten<br />

und reparieren, um derart unliebsame Überraschungen zu<br />

vermeiden, die Pa einst zwangen, den schönen Dülmener<br />

Asphalt voll zu rotzen. Einmal blieb mein Spuck- und Rotzdilemma<br />

ihm förmlich im Halse stecken, als er unterwegs feststellen<br />

musste, dass ihm mein Absauggerät den Dienst versagte.<br />

Der Druckmechanismus war einfach nicht zu kontrollieren,<br />

kein Vakuum wurde erzeugt, nichts ließ sich absaugen.<br />

Pa´s unwiderstehlicher Spontaneität war es zu<br />

verdanken, dass ich nicht in Erstickungsnot geriet. Für alle<br />

Fälle hatte er einen Mundschleimabsauger mitgenommen,<br />

den er jetzt schnell aus der Verpackung riss und tief in meinen<br />

Rachen einführte. Dann saugte er mit dem anderen<br />

Schlauchende mit kräftigen Zügen, während der Schleim in<br />

einen kleinen Plastikbehälter floss. So war es normalerweise<br />

vorgesehen. Doch irgendwo im System gab es anscheinend<br />

einen kleinen Defekt. Folglich vermischte sich mein<br />

Schleim mit seinem Speichel zu einer ekligen Masse, die<br />

sich auf den oben erwähnten Stück Bürgersteig unserer<br />

sauberen Stadt ergoss. Iggittigitt! War das eine Riesenschweinerei.<br />

Weit weniger aufregend wurde es dann in der<br />

für mich bedeutungslosen Nahrungskette, wo wir uns mit<br />

trinkfertiger Hippmilch, und Frebini-Sondennahrung eindeckten.<br />

Die Firma Fresenius empfahl uns für meine<br />

Ernährungspumpe das Flaschensystem Sondomat anstelle<br />

eines von uns bisher benutzten Beutelsystems, um einerseits<br />

Kosten für das arg strapazierte Gesundheitssystem zu<br />

reduzieren, sowie andererseits bessere Bedingungen für<br />

eine hygienische Reinigung zu bieten. Für meine PEG-Sonde<br />

erhielt ich zahlreiche Discofix-Dreiwegehähne, die als<br />

Ansatzstücke am äußeren Schlauchende befestigt wurden<br />

und der Nahrungs- sowie der Medikamentenzufuhr dienten.<br />

Anschließend ließen wir meine Ernährungspumpe<br />

inspizieren, hatte diese doch in der Vergangenheit etwaige<br />

technische Tücken aufgewiesen. Egal ob die Nahrung zu<br />

dick war, oder ob sich Luftbläschen gebildet hatten, ein<br />

hoch komplizierter Sensor spielte dann verrückt und löste<br />

Nerv-raubenden Daueralarm aus. Dadurch wurde logischerweise<br />

meine Nahrungszufuhr unterbrochen, was<br />

unweigerlich zu Verzögerungen meines Sättigungsgrades<br />

führte. Einmal hieß die Devise: „Wir können auch anders!“<br />

Normalerweise meldet sich die Pumpe am Ende der programmierten<br />

Nahrungsdurchlaufzeit mit einem Signalton.<br />

99


100<br />

Eines Tages ertönte dieses Signal plötzlich schon circa fünf<br />

Minuten nach der Inbetriebnahme. Ma stand wie angewurzelt<br />

vor meinem Bett und schaute kopfschüttelnd auf eine<br />

leere Flasche. Binnen kürzester Zeit waren ungefähr 200<br />

Milliliter Milch in meinen kleinen Magen gepumpt worden,<br />

weil meine technisch versierten Eltern vergessen hatten,<br />

den Rotor fachgerecht zu verschließen. Mit der Situation<br />

war auch der Sensor überfordert, ließ den Inhalt ungebremst<br />

passieren und meinen Magen überfluten. Ma saugte<br />

auf Teufel komm raus, derweil Pa von einem genialen Geistesblitz<br />

getroffen wurde. Er griff sich eine 20 Milliliter-Spritze,<br />

setzte sie an den Dreiwegehahn an und zog mir die Flüssigkeit<br />

aus dem Magen heraus. Jetzt war ich Absäugling<br />

und Abpumpling zugleich. Flatternase Batolio konnte sich<br />

vor Aufregung kaum an meinem Bett festkrallen. „Junge,<br />

Junge“, sagte er: „war das eine <strong>Du</strong>rchfallquote. 200 Milliliter<br />

in fünf Minuten statt in zwei Stunden. Ein Rekord für das<br />

Guinness-Buch. Da musste einem ja kotzübel werden. Heiliges<br />

Mägle. Dagegen ist das große Fressen ja ein Imbiss vom<br />

Hungertuch“. <strong>Was</strong> an jenem ergiebigen Tag meinen Magen<br />

in Rekordgeschwindigkeit füllte, erreichte diesen an einem<br />

anderen Tag erst gar nicht. Ich schob stundenlang einen<br />

gewaltigen Kohldampf vor mir her, ehe Ma bemerkte, dass<br />

der komplette Flascheninhalt beckenwärts eine feuchtfröhliche<br />

Milchlache gebildet hatte. Diese Mal entpuppte sich<br />

der Dreiwegehahn als Problem, welcher derart eingestellt<br />

war, dass sich die Flüssigkeit unmöglich einen Weg durch<br />

den Schlauch bahnen konnte und statt dessen durch einen<br />

anderen Hahn voll daneben floss. Zu allem Überfluss musste<br />

ich nun auch noch komplett umgezogen werden. Bei<br />

dieser Gelegenheit zitierte Pa den von ihm einst entdeckten<br />

Tippfehler auf einem Rezept der Kinderarztpraxis, worauf<br />

stand: „10 x Dreiwegeharn“. Ich badete förmlich in einem<br />

Meer flüssiger Substanzen, hatte man auch noch die Pampers<br />

unfachgerecht verschlossen. Der Dreiwegehahn wurde<br />

dann sinniger Weise gegen ein Y-Stück ausgetauscht,<br />

welches derartige Pannen aufgrund besserer Verschlussmöglichkeiten<br />

ausschloss.<br />

Dann ging es weiter auf Spritztour in die Injektionsabteilung,<br />

wo wir ein paar Kartons von 5, 10 und 20 Milliliter-<br />

Spritzen, sowie diverse Kanülen einpackten. In der Abteilung<br />

Wund- und Verbandmaterialien bekamen wir sterile<br />

und unsterile Kompressen, Pehahaft-Rollen, Fixomull und<br />

sonstige Verbandmaterialien. In der Überwachungsabteilung<br />

ließen wir meinen Pulsoxymeter checken, indem ich<br />

einen neuen Sensor um einen Fuß gebunden bekam. Auf<br />

dem Display erschien links die Zahl, die meinen Sauerstoffsättigungsgehalt<br />

im Blut aufzeigte, rechts die Zahl mit meiner<br />

Pulsfrequenz. Mein sportbegeisterter Papa verwechselte<br />

das Display immer mit der Anzeigetafel in einer Basketballarena,<br />

ohne dass ihm klar wurde, dass die Heimmannschaft<br />

das Spiel in der Regel verlieren musste. Schließlich<br />

konnten die ja gemäß der Einstellung des Gerätes nie mehr<br />

als 100 Punkte machen, aber auch nicht weniger als 85.<br />

Dagegen konnten die pulsierenden Gäste gut und gerne<br />

200 Punkte erzielen, z.B. bei einem Krampfanfall. Bei Untertemperatur<br />

waren sie allerdings manchmal unterlegen.<br />

BSC Oxygen vs. Baskets Pulserers: Endresultat: 95 <strong>–</strong> 112.<br />

Ungeachtet solcher Phantasien hasste mein Papa Basketballer,<br />

weil die im Kino immer vor ihm sitzen. Wenn wir eines<br />

Tages einmal eine Filmvorführung besuchen, werden wir<br />

mit Sicherheit in der letzten Reihe Platz nehmen und energisch<br />

darauf bestehen, dass vor uns nur Kinder sitzen dürfen,<br />

allerdings ohne nervtötende Chipstüten. Von Überwa-<br />

101


102<br />

chungskameras verfolgt, schoben wir ab in die Kinderbekleidungsabteilung.<br />

Dort ließen wir Schlitze in meine Bodys<br />

einnähen, um das Problem mit meinem zusätzlichen Körperteil,<br />

dem modischen Pig-Schlauch, sinnvoll zu lösen. Man<br />

hätte mich ja sonst bei jedem Nahrungsvorgang halb ausziehen<br />

müssen. Zudem bekam ich noch ein paar Kollektionen<br />

der Firma Doppelmoppel, ohne dies als eine Anspielung<br />

auf meine properen Körpermaße missverstanden zu wissen.<br />

Danach führte uns der Weg in die pharmazeutische Abteilung,<br />

wo ich mich sehr, sehr unwohl fühlte, wimmelte es dort<br />

doch von Produkten, die mir letztlich das Attribut eines viel<br />

zu jungen „Drogenkonsumenten“ verliehen. <strong>Was</strong> sollte ich<br />

denn machen? Ich war doch schließlich auf die Wirkstoffe<br />

der bunten Palette von Präparaten angewiesen. Fragt doch<br />

meine Ärzte und Apotheker, lest aber niemals die Beipackzettel.<br />

Medi-Stillleben<br />

Nachdem wir zügig die bitteren Pillen, Fläschchen, Pasten,<br />

Gels, Salben, Öle, Inhalate, Suspensionen und sonstige<br />

Mixturen aufgefüllt hatten, rollten wir ein Türchen weiter in<br />

die Abteilung Homöopathie. Dort schlugen wir nochmals<br />

gnadenlos zu, erhielten aufregende Produkte mit allerlei<br />

kuriosen Namen, wie beispielsweise Quassia Similiaplex,<br />

Juniperus Similiarplex, Pulmo Ferrum und Pulmo Mercuris.<br />

Ob mir noch eine Metallvergiftung drohte? Wir ließen die<br />

Pharmazie samt ihrer Beipackzettel links liegen und zockelten<br />

weiter in das Schlafparadies, wickelten uns ein in mollige<br />

Daunendecken, räkelten uns auf Schaffellen, hingen in<br />

Hängematten und Airchairs. Mein begeisterter Blick fiel auf<br />

das Pflegebett Timmy, mit seinen absenkbaren vier Gitterseiten,<br />

einem motorisch höherverstellbaren Einlegerahmen,<br />

sowie manuell verstellbaren Kopf- und Fußteilen.<br />

Das Bett ersetzte schließlich meine bisherige provisorische<br />

Schlaf- und Liegestätte, eine herkömmliche Sonnenliege.<br />

Diese wurde mir untergejubelt, weil ich einerseits meine<br />

Babywiege, aus was für welchen Gründen auch immer, niemals<br />

akzeptierte und andererseits ein Höhen-verstellbares<br />

Rücken- und Kopfteil für die adäquate Belüftung meiner<br />

Lungen benötigte. Zuvor hatte ich auch so manche Nacht<br />

im Maxicosi verbringen müssen, der mir wegen seiner Enge<br />

wesentlich angenehmer war als die blöde Wiege, die noch<br />

nicht einmal Plexiglasscheiben hatte. Ferner bekam ich<br />

noch ein Vakuumslagerungskissen, bei dem mittels einer<br />

Vakuum-Handpumpe die Luft heraus gesaugt und es somit<br />

fester wurde. Umgekehrt ließ sich das Kissen beliebig verformen<br />

und zurecht drücken, je mehr Luft noch darin enthalten<br />

war. Auf diese Weise konnte man perfekte Abdrücke<br />

der aufliegenden Körperteile erzeugen, um entsprechende<br />

Lagerungshaltungen zu erzielen. Abschließend führte uns<br />

103


104<br />

die Shopping-Meile noch in das Kuscheltier-Center, wo ich<br />

Bekanntschaft mit einer schwarzweißen Handpuppenkuh<br />

machte. Diese erwies mir zukünftig außerordentliche<br />

Dienste, indem es entweder meine Inhalationsmaske oder<br />

abwechselnd meine Sauerstoffmaske mit seinem Maul festhielt.<br />

Bequemlichkeit regiert die Welt. Zu guter Letzt bekam<br />

ich zu meiner größten Freude noch eine quietschgelbe,<br />

sanfte Stofftierente in die Hand gedrückt. Diese trug ein<br />

orange farbiges Halstuch, welches mit den Buchstaben<br />

meines ersten Vornamen bestickt war. Diese, meine Lucaente,<br />

wurde mir lieb und teuer, galt sie doch als eines meiner<br />

Markenzeichen. Mit unserem prall gefüllten Warenkörbchen<br />

begaben wir uns dann endlich auf den Weg nach Hause,<br />

wo ich mich mit all meinen Errungenschaften ausgiebig<br />

beschäftigen durfte.<br />

Dreizehntes Kapitel<br />

Der Nummern- und Zahlensalat<br />

Wie man sich Akten anlegt und Statistiken entwarf<br />

Als Pa sich die beiden filmischen Glanzstücke von Paul Auster<br />

und Wayne Wang: „Smoke“ und „Blue in the face“ im<br />

Kino angesehen hatte, blieb ihm ein genialer Ausspruch in<br />

Erinnerung:“Wir sind hier in Brooklyn ! Da geht´s nicht nach<br />

Nummern.“ Beide Filme spielten übrigens im Herzen von<br />

Brooklyn, in und um die Brooklyn Cigar Company herum.<br />

Dieser Tabak- und Klönladen wurde von Auggie Wren (Harvey<br />

Keitel) geführt. Wie die jeweiligen Titel verraten, drehte<br />

sich alles um das Rauchen, eine Leidenschaft, die ich Pa nie<br />

verzeihen konnte. Blue in the face erinnerte mich ja unweigerlich<br />

an meine zyanotische Lebenseintrittsphase. Überhaupt<br />

konzentrierte sich bei mir buchstäblich alles um das<br />

Organ „Lunge“. Während ich also Kochsalz und diverse<br />

Ingredienzen inhalierte, um meine Sekrete zu verflüssigen,<br />

zog sich Paps Toxine rein, die sein Lungenepithel auf Dauer<br />

in Nichts auflösen. Damit leistete er einem möglichen Karzinom<br />

enormen Vorschub. Nicht umsonst nennt man die<br />

Fluppen ja auch Krebsspargel. Dies alles soll aber wahrlich<br />

nicht mein zentrales Thema sein. Vielmehr geht es um Nummern<br />

und gläserne Babies. Von Geburt an war ich eine<br />

Nummer. In der Geburtsklinik war ich der soundsovielte<br />

Neugeborene des Jahres 2000, bekam anschließend eine<br />

Patientenaufnahmenummer für die Neugeborenenintensivstation<br />

des St. Vincenz-Hospitals. Ich wurde beim Standesamt<br />

registriert und bekam eine Abstammungsnummer.<br />

Die Krankenkasse erteilte mir eine Krankenversicherungs-<br />

105


106<br />

nummer, das Arbeitsamt <strong>–</strong> Abteilung Kindergeld <strong>–</strong> eine Kindergeldnummer<br />

und die Erziehungsgeldkasse des Versorgungsamtes<br />

einer Erziehungsgeldnummer. Batolio strahlte<br />

im Angesicht des Paragraphenzeichen, an dem es sich so<br />

herrlich abhängen ließ und verkündete: „Hast du sozialrechtlichen<br />

Kummer <strong>–</strong> stell´ oin Ontrog, kriagst a Nummer!“<br />

Daraufhin folgten Anträge beim Versorgungsamt zur Ausstellung<br />

einer Schwerbehinderten-Nummer (Schwerbehindertenausweis),<br />

bei der Straßenverkehrsbehörde zur Ausstellung<br />

einer Parkerleichterungs-Nummer (Parkausweis),<br />

beim Landschaftsverband, Abteilung Sozialhilfe, eine Blindennummer<br />

(Blindengeld), bei der Deutschen Telekom eine<br />

Kundennummer für die Inanspruchnahme des Sozialtarifes,<br />

beim Wohnungsamt eine Wohngeldnummer, beim örtlichen<br />

Sozialamt eine Hilfe zur Pflege-Sozialhilfenummer und beim<br />

Landschaftsverband, Abteilung Soziales, Pflege und Rehabilitation,<br />

eine Eingliederungsnummer für die Kostendeckung<br />

von Kurzzeitpflegemaßnahmen. Für jede stationäre<br />

Aufnahme gab es eine neue Patientennummer. Bei Einlieferung<br />

per Notarztwagen erhielt ich eine Rettungsnummer<br />

und eine Kontonummer für die Überweisungen der Eigenbeteiligung<br />

zu den Rettungsfahrtkosten. Nach einer meldepflichtigen<br />

Infektion gab es zusätzlich eine Infektionsnummer<br />

beim Gesundheitsamt. Von den Hilfsmittelversorgungsunternehmen<br />

wurden mir jeweils eine Kundennummer<br />

und reichlich Bestellnummern zugeteilt. Das galt<br />

auch für meine Hausapotheke, von der ich eine Kundenkartennummer<br />

erhielt. Ich kam mir vor wie der berühmte bunte<br />

Hund, ausgestattet mit Nummern, Akten- und Geschäftszeichen.<br />

Luca, ein amtlicher Vorgang mit Laufakten. Es gab<br />

Leute, die behaupteten, dass so manche Antragstellung auf<br />

sozialrechtliche Leistungen einem bürokratischen Hürden-<br />

lauf gleiche. Wenn sich dann die amtlichen Hürden als unüberwindbar<br />

erwiesen, dass einem der Geduldsfaden zu<br />

reißen drohte, erhielt man zuweilen einen dezenten Ratschlag.<br />

„Wenn sie bei einem Amt auf taube Ohren stossen,<br />

legen sie dem Sachbearbeiter doch einfach das Lucababy<br />

auf den Schreibtisch.“ Batolio malte sich daraufhin folgende<br />

Situation aus: „Pa sagt: ‘Es ist mir ein dringliches Bedürfnis,<br />

ihr amtliches Bürgerklo benutzen zu dürfen’, zeigt dabei mit<br />

dem rechten Zeigefinger unmissvertsändlich auf seine mit<br />

Cappuccino prall gefüllte Harnblase. Prompt landet Lucababy<br />

mit seinem wunden Popo auf dem Tisch des Verwaltungsmenschen,<br />

dem erstaunlicherweise keine Flucht- und Vermeidungsstrategie<br />

in den entgeisterten Sinn kommt. Wenn<br />

sich Lucas Hypersekretionsstau dann plötzlich auflöst, noch<br />

bevor die Finger des Sachbearbeiters die Antragsformulare<br />

vor der vollkommenen Unbrauchbarkeit retten können, ist der<br />

erste surprise-coup gelungen. Wenn Pa dann von seinem<br />

Besuch beim Urologen zurückkommt, stellt er mit erstaunten<br />

Blicken fest: ‘Na Luca. Hast du schon wieder eine deftige<br />

Schleimspur hinterlassen!’ Folge: Ablehnungsbescheid. ‘Ihr<br />

Antrag wird abgelehnt, sie Rüpel!’ Da hatte aber einer von den<br />

Bürgerbegehrlichkeiten die Nase gestrichen voll. Folglich<br />

dürfen wir uns in Widersprüchen verrennen, oder anders ausgedrückt,<br />

die Hacken ablaufen.“<br />

Ganz entrüstet, entsetzt oder gar wutentbrannt reagierte so<br />

mancher, als er die Antwort auf seine Frage nach meiner<br />

Einstufung in die Pflegeversicherung hörte. Pflegestufe I!<br />

Das gibt es doch gar nicht. Die haben ja ein Rad ab. Das ist<br />

ja der Hammer. Soeben hatte einer den Nagel auf den Kopf<br />

getroffen. Unsereiner hatte daraufhin seine rechte Augenbraue<br />

hochgezogen, so wie er das immer tut, wenn er<br />

krampfhaft überlegen muss, wer, wo, wann und warum mit<br />

107


108<br />

ihm in einen Dialog eintreten will. Ich stelle klar: „Ich, der<br />

kleine Luca, bin ein Säugling, der nicht saugen kann. Ich<br />

werde gereinigt, bekleidet, gewickelt, wie auch alle anderen<br />

Säuglinge, an deren Zeitaufwand ich gemessen werde. Die<br />

Versorgung meiner cerebralen Anfälle, die Gabe meiner<br />

Medikamente, das Inhalieren von Kochsalz und viele andere<br />

Aktionen sind jedoch keine Maßnahmen im Sinne der<br />

Grundpflege, sondern behandlungspflegerische Aufgaben.<br />

Folglich werden die nicht unerheblichen Minuten, ja Stunden<br />

dieser Behandlungspflege, nicht anerkannt. Capito!“<br />

Batolio erinnerte sich an Papas minutiöses Pflegeprotokoll,<br />

welches vorsah, den Pflegetag auf 30 Stunden zu erhöhen,<br />

da meine Nahrungsdurchlaufquote im ersten Lebensjahr,<br />

wie bekannt, täglich nahezu zehn Stunden andauerte.<br />

„Da können wir doch noch was heraus schlagen“, scherzte er.<br />

Es nützte vorläufig alles nichts.<br />

Pa hatte mittlerweile reichlich Akten für mich angelegt,<br />

dokumentierte alles haargenau: Daten ... Fakten ... Thesen ...<br />

Titel ... Temperamente ..., bis er im Labyrinth des Nummernsalates<br />

zunehmend den Überblick verlor. Dies inspirierte ihn<br />

allerdings zu neuen aufregenden Taten, indem er sich statt<br />

Nummern jetzt Zahlen zuwendete.<br />

Er führte ein Anfallsprotokoll mit den Zeiten und der Dauer<br />

meiner Anfälle, einen Medikamentenplan mit Dosierungssangaben,<br />

eine Strichliste über die Absaugvorgänge und<br />

eine Liste über das nächtliche Aufstehen. Dann wandte er<br />

sich meiner Lebensstatistik zu. Laut seiner entwickelten<br />

Statistik verbrachte ich von meinen insgesamt 729 Lebenstagen<br />

480 Tage zu Hause, 155 Tage im St. Vincenz-Hospital<br />

zu Coesfeld, 75 Tage in der Vestischen Kinderklinik in der<br />

Kanalstadt Datteln, 3 Tage im Clemens-Hospital zu Münster,<br />

1Tag im St. Marien-Hospital in der verbotenen Stadt und<br />

15 Tage in der Kurzzeitpflegeeinrichtung Arche Noah im<br />

vorgenannten Ort. Während meiner häuslichen Zeit schellte<br />

ungefähr 650 Mal unsere Haustürklingel, wovon Madame<br />

Klabautz´s Finger annähernd 300 Mal am Knopf klebte.<br />

Unberücksichtigt blieben dabei Besuche der Verwandtschaft,<br />

von Freunden, Nachbarn, Bekannten oder Arbeitskollegen<br />

meiner Ma. An dieser Stelle möchte ich auch noch<br />

einige mir unvergessene Menschen namentlich erwähnen,<br />

welche im Rahmen der Verhinderungspflege meine sorgsamen<br />

Babysitter waren. Mit ihrer Hilfe und Unterstützung<br />

hatten meine Eltern einige Male die seltene Gelegenheit,<br />

gemeinsame Freizeitaktivitäten zu gestalten. Da gab es<br />

Sabine Berkenkopf, die später eine Anstellung im St. Vincenz-Hospital<br />

auf der Kinderstation, wo ich des öfteren verweilte,<br />

bekam. Dort hatte ich auch die kurz vor ihrem<br />

Examen stehende Schwesternschülerin Daniela Neuhaus<br />

kennengelernt. Daniela hatte mich sofort in ihr Herz<br />

geschlossen und meinen Eltern das spontane Angebot<br />

gemacht, mich zwischenzeitlich zu hüten. Ferner ist Eva<br />

Breuer, eine Schwesternschülerin der Vestischen Kinderklinik,<br />

zu nennen. Sie war einmal mein Babysitter, als Ma im<br />

Urlaub weilte und Pa sehr ungern darauf verzichten wollte,<br />

ein Spiel seiner geliebten Borussia in Dortmund zu sehen.<br />

Henning, ein liebenswerter Rettungsassistent, und seine<br />

Freundin Karin haben mir ebenfalls unvergessliche und<br />

zärtliche Stunden beschert. <strong>Was</strong> sollte bei der Berufung<br />

auch schon passieren? Last but not least gilt mein Dank<br />

auch der Nachbarsfamilie, unseren Vermietern Wolfgang<br />

und Irmgard Kissenkötter, sowie ihrer Tochter Judith, die<br />

immer zur Stelle waren, wenn Pa und Ma etwas wichtiges zu<br />

erledigen hatten. Der Lucatourismus boomte gnadenlos<br />

und mit ihm die Frequenz der Streicheleinheiten und Lieb-<br />

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kosungen, die meinem Leben einen Hauch von Glück verliehen.<br />

Ich, Luca Felipe, war die unumstrittene Number One in<br />

allen Lebenslagen.<br />

Handpuppenkuh und Luca-Ente unterstützen die Sauerstoffeingabe<br />

Vierzehntes Kapitel<br />

Der Rettungsauflauf<br />

Wie eine Fahrt blau wurde, aber nicht ins Blaue führte<br />

Es sollte wieder einmal einer dieser mysteriösen Nächte<br />

bevorstehen, in denen Lucababy nicht auf die unmittelbare<br />

Anwesenheit seines Daddys verzichten wollte. Also wurde<br />

kurzerhand die Wohnzimmercouch zum Bett umfunktioniert<br />

und das wichtigste Gerät, das Accuvac-Absaugemonster<br />

schnell erreichbar auf einem Beistelltisch positioniert.<br />

Pa hatte längst die Schnauze voll vom Dauerlaufen im<br />

Schweinsgalopp, heraus aus dem Wohnzimmer, hinein ins<br />

Kinderzimmer und zurück. Der Abendkrimi bestand nur aus<br />

Werbeblocks. Manchmal, wenn er Glück hatte, sah er den<br />

Mord, aber nicht dessen Aufklärung - oder umgekehrt. Das<br />

war mir jedoch völlig schnuppe. Mir ging es nämlich überhaupt<br />

nicht gut. Mein körperlicher Zustand glich einem<br />

Inferno aus quälenden Reizen, Schmerzen und Atemnot.<br />

Meine Sekreteproduktionsanlage lief auf Hochtouren, was<br />

meinen Pa unweigerlich dazu zwang, den Schlaf um Aufschub<br />

zu bitten. „Porca miseria!“, fluchte er unmissverständlich.<br />

Sehe ich da gerade ein breites Grinsen auf dem<br />

geplagten Gesicht einer Leserin, welche vor einiger Zeit ein<br />

Baby bekommen hat, welches sich mit dem Urschrei nicht<br />

begnügte und den Nachtschrei als Dauerzustand einführte.<br />

Ich weiß nicht mit welchen Flüchen einige Babies überzogen<br />

werden, wenn sich die Nerven blank legen und sich<br />

megaschwarze Augenringe bilden. Man nannte mich den<br />

Nachtschlafräuber, Pa war der Nachtwächter. Er blätterte in<br />

seinem Katalog der wüsten Flüche, ballte seine Hände zu<br />

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112<br />

Fäusten, wurde übellaunig, mürbe und wirkte überhaupt<br />

recht seltsam. Das Wetter war sowieso in einem jämmerlichen<br />

Zustand. Der November hatte Einzug gehalten, und<br />

mit ihm kam die graue Tristeste. Nebelschwaden umhüllten<br />

meinen Körper, der sich anfühlte wie von Tautropfen überzogen.<br />

Batolio hatte sich am Fußende der Hängematte eingehakt<br />

und hing minder schlaff herum, als wollte er um eine<br />

Jagdpause betteln. Es verstand sich allerdings von selbst,<br />

bei derartigen Witterungsverhältnissen auf Beutefang zu<br />

verzichten. Die Insekten waren irgendwelche Tode gestorben<br />

oder hatten sich sonstwohin verpisst. Ich wünschte mir<br />

einen batolionischen Energiehaushalt.<br />

Statt dessen wurde ich zunehmend atmungs-inaktiver. Die<br />

Nacht vom sechsten auf den siebten November sollte in die<br />

Annalen eingehen, meine Sauerstoffsättigungsabfälle auf<br />

ein Rekordniveau ansteigen. Ich kam mir vor wie ein Marathonrotzer.<br />

In meiner Atmung war keinerlei Rhythmus. Alle<br />

paar Minuten ratterten die Schleimwaggons durch den Tracheltrakt<br />

und spien ihre Ladung aus, wie der Vulkan seine<br />

Lavamasse. Das Pulsoxymeter steigerte seine Alarmfunktion<br />

in Ekstase. Pa wurde langsam meschugge von den ständig<br />

sich wiederholenden Bewegungsabläufen : Hinlegen <strong>–</strong><br />

Aufstehen <strong>–</strong> an mich herantreten <strong>–</strong> Absaugen <strong>–</strong> Hinlegen ...<br />

in einer Tour und so fort. Er saugte gegen Windmühlen.<br />

Möglicherweise hatte er den Ernst der Lage nicht begriffen.<br />

Vielleicht fehlte es ihm an einer zündenden Idee, meinem<br />

Dilemma zu begegnen. Gegen acht Uhr morgens erschien<br />

mein unwiderstehlicher Freund und Physiotherapeut Michael<br />

termingerecht zur Atemtherapie. Ein Blick in Pa´s<br />

übernächtigte Augen verriet ihm sofort: Achtung, Crisis! Alle<br />

seine Bemühungen, mich sättigungsmäßig auf Vordermann<br />

zu bringen, schlugen jedoch fehl. Der Sauerstoffgehalt blieb<br />

konstant unter achtzig Prozent, ein schlechtes Omen.<br />

Michael versprach, sich unterwegs mit dem Kinderarzt telefonisch<br />

in Verbindung zu setzen, um eine sofortige Sauerstofftherapie<br />

einleiten zu lassen. Nachdem er mich verlassen<br />

hatte, rief Papa Margret an und schilderte ihr das dramatische<br />

Szenario der vergangenen Nacht. Einige Zeit später<br />

stand sie auf der Matte mit einer Verordnung für ein<br />

Sauerstoffgerät. Diese hatte sie kurzerhand beim Kinderarzt<br />

besorgt. Nach einem kurzen Check-up meines gar jämmerlichen<br />

Zustandes griff sie zum Telefon, um eine Hilfsmittelfirma<br />

ausfindig zu machen, die schnellstmöglich in der<br />

Lage wäre, einen Sauerstoffkonzentrator für Kinder zu liefern.<br />

Schließlich fand sie eine Firma, die Abhilfe schaffen<br />

konnte, jedoch nicht binnen der nächsten Stunden. Später<br />

nachmittag sollte es wohl werden, da das Gerät aus einer<br />

weiter gelegenen Stadt geliefert werden müßte. Musste<br />

jetzt der Kathastrophennotstand ausgerufen werden?<br />

Margret rief die Kinderklinik in Coesfeld an und erfragte, ob<br />

diese imstande wäre, kurzfristig ein Sauerstoffgerät bereit<br />

zustellen. Konnten sie aber leider nicht, weil alle ihre Klinikgeräte<br />

fest installiert seien. Alternativ sollte ich sofort per<br />

Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden, um<br />

einige Stunden, mit Sauerstoff versorgt, auf der Station zu<br />

überbrücken. Da waren sie, die nackten Tatsachen. Einweisungs-<br />

und Transportschein wurden vom Kinderarzt ausgestellt.<br />

Kurze Zeit später kam die Mannschaft vom Rettungsdienst.<br />

Es schellte kurz und eindringlich. Zwei Rettungsassistenten<br />

in Begleitung einer Notärztin jagten über die<br />

Schwelle hinein ins Wohnzimmer. Sie stierten auf ein Häuflein<br />

Elend und stellten Fragen an Pa, die er nicht beantworten<br />

konnte, weil ein Ruf: „Hallo, wo seid ihr?“ aus dem Hin-<br />

113


114<br />

terhalt ertönte. Ehe wir uns alle versahen, standen zwei weitere<br />

Sanitäter im Wohnzimmer. Es war der reinste Rettungsauflauf.<br />

Kurzerhand wurde ich nun halb sitzend, halb liegend<br />

in meinem Maxicosi in den Rettungswagen verfrachtet<br />

und an ein Sauerstoffgerät angehängt. Derweil war Papa<br />

in Margrets Auto eingestiegen, um mit ihr die Verfolgungsjagd<br />

des Rettungswagens Richtung Klinik aufzunehmen.<br />

An der ersten Ampelkreuzung hatten sie schon verloren.<br />

Der Rettungswagen hatte plötzlich das Martinshorn angestellt<br />

und brauste über Rot davon. Margret hatte kein Martinshorn<br />

und blieb folglich, die Verkehrsregeln achtend,<br />

stehen. Verdutzte Gesichter betrachteten sich und verschmolzen<br />

zu einem Fragezeichen. Offensichtlich hatten die<br />

Retter den Sauerstoff auf volle Pulle gedreht und sich damit<br />

einen eigenen Schrecken eingejagt. Als Margret und Pa die<br />

Klinik erreichten, war ich längst im Untersuchungszimmer<br />

auf der Station. Nachdem ich also erst einmal mit allem<br />

medizinisch Notwendigen versorgt war, stellte Pa die<br />

keineswegs absonderliche Frage, welche Firma denn nun<br />

aus welchem Ort, welches Sauerstoffgerät, wohin bringen<br />

würde. Schließlich läge ja die Verordnung in der Wohnung,<br />

deren Adresse der Firma als Anlieferungsort bekannt sei.<br />

Dahingegen sei die Klinik als solcher Bestimmungsort nicht<br />

bekannt. The answer was blowing in the wind! Niemand<br />

kannte eine Antwort, keiner hatte eine Ahnung. Die Firma<br />

hat ihren Sitz in Dortmund, nicht mehr und nicht weniger.<br />

Margret bremste alle Sorgen aus und versprach sich darum,<br />

unterwegs zu ihrem Büro, zu kümmern. Das Gerät werde auf<br />

jeden Fall zum Krankenhaus geliefert. Pa ging derweil ins<br />

Städtchen, um sein mittlerweile revoltierendes Hungergefühl<br />

in einer Pommesbude zu stillen. Als er gegen drei Uhr<br />

nachmittags wieder die Station betrat, berichtete ihm die<br />

Stationsärztin, dass das Gerät aus Köln geliefert werden<br />

würde. Der Firmenwagen sei soeben losgefahren und träfe,<br />

unter Berücksichtigung sowieso immer existierender Staus,<br />

so ungefähr gegen sechs Uhr abends hier auf der Station<br />

ein. Sodann wurden Ma und Margret telefonisch über den<br />

Lieferzeitpunkt unterrichtet. Ich befand mich immer noch in<br />

der Erholungsphase, hatte die Nacht doch reichlich Spuren<br />

hinterlassen. Als die Firma endlich eintraf, stand Paps allein<br />

und vor allem ratlos in meinem Zimmer herum. Die Servicemitarbeiter<br />

erklärten ihm die Funktion des Sauerstoffkompressors<br />

sachlich kompetent. Er zeigte ihnen eine verständnisvolle<br />

Miene und hatte alles begriffen. Als Ma und Margret<br />

eintrafen war die Firma weg, die Frage nach der<br />

Betriebsanleitung allerdings da. Letztere war erst gar nicht<br />

vorhanden. Das angeeignete Wissen über die Inbetriebnahme<br />

war in Pa´s hintersten Hirnregionen verschüttet.<br />

Pa hatte nunmehr seit gut 36 Stündchen keinen Schlaf<br />

bekommen und war völlig durch den Wind. Er stammelte<br />

nur: “Hey Lord, don´t ask me questions!“ Zwei Ärzte wurden<br />

nun konsultiert, um den Patienten Kompressor zu begutachten<br />

und nach Möglichkeit auch in Funktion zu bringen.<br />

Am Ende blieb jedoch pure Ratlosigkeit. „Wisse mer net,<br />

könne mer net!“ Nur gut, dass so eine Firma auch eine Notrufnummer<br />

hat Jetzt bekamen wir eine exakte Instruktion<br />

via Telefon. Das Ding war funktionstüchtig, aber, zapperlot,<br />

wahnsinnig laut. Inzwischen wurde ein Rettungswagen für<br />

den Rücktransport bestellt. Wenig später tauchten zwei<br />

gutgelaunte Schnarchhähne auf der Station auf, hatten<br />

jedoch kein Sauerstoffgerät für meinen Transport von der<br />

Station bis zum Wagen mitgebracht. Sie schlenderten<br />

gemächlichen Schrittes davon und kamen einstweilen nicht<br />

wieder. Folglich mutmaßten wir, dass sie zurück zur Wache<br />

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116<br />

gefahren seien, um ein Gerät zu besorgen. Der Humor war<br />

wieder eingekehrt; die Rettung wurde zum Spaßfaktor.<br />

Nach gut einer halben Stunden war es dann endlich soweit.<br />

Futti fährt nach Hause. Ma hatte sich schon auf den Weg<br />

gemacht, Pa und Margret sollten den Transport mit begleiten.<br />

Nicht zu vergessen war mein Kompressor, der mit aufgeladen<br />

wurde. Wir waren vielleicht knappe zehn Minuten<br />

auf der Spur, als der Wagen in eine etwas schärfere Kurve<br />

gelenkt wurde. Mein sichtlich mitgenommener Pa, der sich<br />

kurzweilig mit dem Fahrer unterhalten hatte, wurde abrupt<br />

von einem knallend-fallendem Geräusch aus seinen<br />

Gedanken gerissen. „<strong>Was</strong> ist passiert?“, rief der Fahrer seinem<br />

Kollegen zu. Der erwiderte barsch: „Wat fährst du auch<br />

so schnell um die Kurve!“ „Ick glob meen Hamster pfeift mer<br />

Zoten“, winselte Batolio, der sich krampfhaft am Kompressor<br />

festgehalten hatte und jetzt am Boden lag. „<strong>Was</strong> ist passiert?“,<br />

wiederholte der Fahrer seine Frage etwas münsterländisch<br />

rustikaler. „Das Sauerstoffgerät ist umgefallen!<br />

<strong>Was</strong> fährst du auch so schnell um die Kurve.“ Der Fahrer<br />

brachte den Wagen zum Stehen. Der unbefestigte Kompressor<br />

war tatsächlich umgestürzt. Dabei war ein Plastikverschluss<br />

am Befeuchter abgebrochen. Nach einem<br />

kurzen Wortgefecht unter den Beteiligten musste zwangsläufig<br />

der Entschluss gefasst werden, zurück in die Klinik zu<br />

fahren. Alle Hoffnungen ruhten darauf, ein entsprechendes<br />

Ersatzteil im Krankenhaus zu finden. Diese Hoffnung teilten<br />

allerdings nur die sichtlich genervten Rettungsassistenten.<br />

Während diese nun auf der Suche nach einem Ersatzteil<br />

durchs Haus streiften, versuchte Paps Ma zu erreichen.<br />

„Besetzt, zum Kuckuck.“ Die Aufregungen der letzten Stunden<br />

hatten Pa derart in Mitleidenschaft gezogen, dass er<br />

sich gar in der Klinik verirrte und die Tür zum Rettungspark-<br />

platz nicht fand. Nach einem weiteren Fehlversuch Ma zu<br />

erreichen, dackelte er um das gesamte Klinikgebäude herum.<br />

Am Rettungswagenparkplatz angekommen, erreichte<br />

ihn nur die läppische Meldung, dass ein entsprechendes<br />

Teil nicht aufzufinden war. Folglich wurde erneut die Notrufnummer<br />

der Lieferfirma kontaktiert. Nur gut, dass es einen<br />

sehr, sehr verständnisvollen Mitarbeiter gab. Nur gut, dass<br />

man nicht sehen konnte, wie dieser sich an den Kopf griff,<br />

um sich die Haare auszureißen und dabei vom Stuhl stürzte.<br />

Unter dem Tisch liegend murmelte er nur noch folgende<br />

Worte: „Ja, ja es kommt einer raus. Aber von Lindlar im<br />

Oberbergischen. Das dauert sicherlich gute zwei Stunden.“<br />

Ein Servicetechniker machte sich also auf den Weg zu uns<br />

nach Hause. Ob ich meine Schlafstätte jemals erreichen<br />

werde? Überhaupt! <strong>Was</strong> macht eigentlich Muttern? Spielten<br />

sich in ihrem Kopf Szenerien über einen Unfall oder über<br />

irgendwelche Irrfahrten ab? Noch nie war der Blick aus dem<br />

Fenster von so stark erwartungsvoller Gespanntheit. Pa<br />

schickte Batolio auf Nachtflugstreife, um Ma die Botschaft<br />

zu überbringen, dass wir sicherlich noch kommen würden.<br />

Es wäre nur eine Frage des Zeitpunktes. Die Assistenten<br />

wirkten plötzlich sehr nachdenklich, hatte sich doch ein<br />

neues, nicht unwesentlich schwieriges Problem eingeschlichen.<br />

Es war doch nicht denkbar, zwei Stunden mit mir zu<br />

überbrücken. Im Rettungswagen vor der Haustür stehen.<br />

Plötzlich kommt ein Notruf und der Einsatz kann nicht<br />

gefahren werden, weil Lucabärchen auf der Pritsche<br />

schnorchelt. Doch wo Probleme auftauchen, gibt es auch<br />

Lösungen. So kam ihnen die glänzende Idee, die Kollegen in<br />

meiner Heimatstadt um Mithilfe zu bitten. Die hiesige Feuerwehr<br />

sollte also bei meiner Ankunft eine Sauerstoffflasche<br />

bereithalten, so lange, bis der Servicetechniker den<br />

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Schaden behoben hat. Heiliges Blechle! War das ein großer<br />

Stein, der vom Herzen meiner Mutter zu Boden plumpste, als<br />

ich endlich daheim war. Batolio, diese Flatternase, hatte ihr<br />

keine Nachricht von meiner abenteuerlichen Fahrt übermittelt.<br />

Der war, wer weiß wohin, in den Abend gesegelt. Als die<br />

Feuerwehr kam, herrschte Explosionsgefahr in der Bude.<br />

Die Jungs bangten ein wenig um die Fähigkeit des Servicetechnikers<br />

aus Lindlar, sollte dieser doch die Bombe fachgerecht<br />

verschließen. Die Helfer in der Not verließen das Haus,<br />

nicht ohne die Bitte, die Sauerstofflasche noch heute zur<br />

Wache zurück zubringen. Wir warteten ungeduldig auf das<br />

Ersatzteil. Unterdessen war eine von Margret engagierte<br />

Nachtwachenschwester eingetroffen. Die Familie über uns,<br />

unsere Vermieter, hatten sich derweil auch versammelt,<br />

blieben sie doch von dem Spektakel nicht unbeeindruckt.<br />

Das gab unserem Vermieter, einem gelernten Elektriker,<br />

noch schnell die Gelegenheit, einen Defekt im Badezimmer<br />

zu reparieren. Hurra! Der Servicetechniker war da! Er hatte<br />

sogar das richtige Ersatzteil mitgebracht, dafür jedoch die<br />

falsche Laune. Missmutig und skeptisch gegenüber den,<br />

seiner Ahnung nach, herrschenden Chaosprinzipien, machte<br />

er sich ans Werk. Mit der vollbrachten guten Tat stieg auch<br />

sein Stimmungsbarometer wieder auf ein humorvolles<br />

Level. Gegen elf Uhr nachts war der ganze Spuk endlich vorbei.<br />

Die Feuerwehr freute sich darüber, eine intakte Sauerstoffbombe<br />

zurückerhalten zu haben. Margret freute sich<br />

auf ihre Familie, Ma auf ihr Bett und Pa auf eine Flasche Bier.<br />

Ich wurde nacht gewacht, Spätheimkehrer Batolio gab als<br />

Entschuldigung an, er habe sich an Papas Knotenpunkt des<br />

Lebens aus Kapitel 4 verirrt und wäre orientierungslos herumgesegelt.<br />

„Scheiß Echolot!“<br />

Fünfzehntes Kapitel<br />

Die Überraschungseier<br />

Wie man sich über Nachwuchs wunderte<br />

An jenem kuriosem Novembertag wurde die Diagnose<br />

Pneunomie gestellt. Es war nicht meine erste und wird nicht<br />

meine letzte Lungenentzündung sein. Ich wurde von Sauerstoff<br />

abhängig. Entweder legte man mir eine Maske direkt<br />

vor den Mund oder man quetschte mir eine Sauerstoffbrille<br />

Luca wird ein wenig selbstständig<br />

in die lädierten Nasenlöcher. Der Flow wurde jeweils abhängig<br />

von meine Oxymetrie zwischen 0,5 l und 2,0 l reguliert.<br />

Niemand schien ausschließen zu wollen, dass ich möglicherweise<br />

eines Tages auch noch künstlich beatmet werden<br />

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120<br />

könnte. Ich ignorierte derartige Spekulationen und besann<br />

mich auf meine kämpferischen Tugenden und Kraftreserven.<br />

Mein Konzentrator donnerte nahezu lautlos wie ein Presslufthammer,<br />

wenn er die Raumluft in Sauerstoff umwandelte.<br />

Pa sperrte das Gerät kurzerhand weg <strong>–</strong> hinein in die Abstellkammer.<br />

Ein 15 Meter langer Schlauch ragte in mein Zimmer<br />

hinein, wo dieser mit dem Druckminderer verbunden wurde.<br />

Tag und Nacht brummte das Monstrum und wurde nur ganz<br />

selten abgestellt. Da freuten sich auch die Energieversorger,<br />

als sie meinen Eltern eine tüchtig hohe Stromjahresabrechnung<br />

präsentierten, die im Vergleich zum Vorjahr um schlappe<br />

fünfzig Prozent gestiegen war. „Kruzifix“, jellerte Pa, marschierte<br />

bei den Stadtwerken auf, die das Problem zwar<br />

erkannten, jedoch keine geeignete Lösung bereit hielten.<br />

Schließlich hatten wir ja ein Nachtstromabkommen. Das sei<br />

eh der günstigste Tarif. Batolio amüsierte sich köstlich und<br />

wandelte den Begriff in Nachtabkommen um. Das habe er ja<br />

auch mit den Mücken und sonstigem Gefleusch. Pa reichte<br />

die Stromrechnung bei der Pflegekasse ein, die sich anständig<br />

verhielt und einen Teil der Summe überwies. Meine verdammte<br />

Lungenentzündung raubte mir jeglichen Nerv und<br />

Schlaf. Batolio flachste: „Na, Luca, kannst du auch nicht schlafen!“<br />

Ich erwiderte mit einem andauernden Singultus,<br />

schluck ab <strong>–</strong> schluck auf. Einmal abgesehen von meiner<br />

komatösen Zeit in den ersten Lebenswochen, hatte ich in den<br />

ersten eineinhalb Jahre kaum ein Auge zu bekommen.<br />

Andererseits bekam ich sie auch nie richtig auf. Es sei denn,<br />

es war gerade Panikzeit. Wenn mich je einer hat gähnen<br />

sehen, muss er dies wohl geträumt haben. Ich war zumeist in<br />

einer Art Dämmerzustand. Eine REM-Schlafphase werde ich<br />

wohl nie erreichen. Rapid eye movement <strong>–</strong> schnelle Augenbewegungen<br />

unter geschlossenen Lidern <strong>–</strong> niemals. Also<br />

auch keine Träume, die unter diesem paradoxen Schlaf<br />

geschlummert werden. Es war eh alles nur ein böser Alptraum.<br />

Batolio säuselte mir in Schlechtwetternächten, wenn<br />

er nicht auf Jagd fliegen konnte, krude Geschichten in die<br />

Ohrmuscheln. Es gäbe da Artgenossen in Mittel- und Südamerika,<br />

die mit ihren Fangzähnen die Haut von Pferden,<br />

Kühen, gelegentlich von Menschen durchbohren und<br />

genüßlich das auslaufende Blut schlürfen. Fliegende Kobolde!<br />

Flughundsgemeine Vampire! Ich war mir ziemlich sicher,<br />

dass er eher von Ärzten berichtete, die mir diverse Kanülen<br />

in die Venen jagten und vergnügt „a zapft´s isses“ riefen,<br />

dabei ratlos drein schauten, weil nix kam. Irgendwann einmal<br />

stach mich ein erfahrener Pädiater in die Fußarterie und<br />

konnte sein Unglück nicht fassen: „Alle Kinder haben hier<br />

eine Arterie. Nur Luca nicht“, rief er quer durch den Untersuchungsraum.<br />

Venöses Blut hatte ich sowieso nicht anzubieten.<br />

Das war fatal. Eines Tages würde ich keine Infusionen<br />

und Transfusionen erhalten können, weil meine desaströsen<br />

Venenverhältnisse nicht geeignet waren, einen Zugang zu<br />

legen. Ich werde nie in eine Blutspendedatei aufgenommen.<br />

Aber bluten, das werde ich.<br />

Meine Sauerstoff abhängige Phase dauerte ungefähr sieben<br />

lange Monate. Nur an wenigen Tagen schaffte ich es<br />

ohne Zufuhr frei zu atmen. In jener Zeit geschahen keine<br />

weltbewegenden Dinge, von denen ich euch nicht schon<br />

genügend berichtet hatte. Zum Beispiel mein Auftritt im<br />

Lokalfernsehen. Insgesamt war ich die längste Dauer meines<br />

bescheidenen Dasein ununterbrochen daheim, auch<br />

wenn es immer wieder Anlässe gegeben hatte, mich stationär<br />

aufnehmen zu lassen. Wir konnten uns aber sowieso<br />

immer auf Margrets Scharfsinnigkeit und Krankenbeobachtungsgabe<br />

verlassen.<br />

121


122<br />

An meinem ersten Weihnachtsfest machte ich Bekanntschaft<br />

mit dem Jesusbaby, welches auf Stroh gebettet in<br />

unserer schönen Krippe lag, derweil ich es mir auf meinem<br />

Rundkissen bequem gemacht hatte, um die Szenerie in<br />

Bethlehem zu observieren. Ob Jesus wohl temperiert war?<br />

Welche Lebenssäfte saugte er aus den Brüsten Marias?<br />

Honig, Kakao, Jordanwasser? Bald bekommt er Besuch von<br />

den Heiligen drei Königen, welche ihm reichlich Geschenke<br />

mitbringen, die so gar nicht als Spielsachen geeignet sind.<br />

Ich bekam nach wie vor Besuche von meinen drei Quälgeistern<br />

Margret, Pia und Michael, die mich mit Massagen, Bohnenbädern<br />

und Atemtherapien beglückten. Als Geschenk<br />

erhielt ich ein wolliges, weißes Stofftierschäfchen mit einem<br />

Glöckchen um den Hals. Ansonsten erlitt ich weiterhin meine<br />

schweren cerebralen Anfälle, blitzte, nickte und grüßte<br />

im arabischen Stil, behielt meinen Status Quo als Rotzlöffel<br />

der Nation, war mal erhitzt wie der Backofen, mal kalt wie<br />

Eis. Jesus hatte gerade Josef angestrullert. Die Hirten kringelten<br />

sich vor Lachen. Da hatten die Schafe ihre Chance<br />

gewittert und waren davongelaufen. Jetzt dienten sie mir als<br />

Einschlafhilfen. Da Schäfchenzählen jedoch stupide und<br />

langweilig war, subtrahierte ich sie. Am Ende blieb nur noch<br />

eines übrig, das mit dem Glöckchen. Mit der Folge, dass ich<br />

weiterhin nicht schlafen konnte.<br />

Mittlerweile befanden wir uns im Frühling des Jahres 2001.<br />

Eines milden Maitages <strong>–</strong> ich lag gerade auf unserer Terrasse<br />

unter meinem Kirschbaum <strong>–</strong> rauschte Batolio vorbei, im<br />

Schlepptau eine Bagage von fünf jungen, wilden Fledermäusen<br />

mit den Namen Poldi, Pinkus, Sunny, Trixiane und<br />

Desiree. „Hi there, Lucababe! Ich hatte im Spätsommer doch<br />

noch reichlich Damenbesuch in meiner Baumhöhle. Ich war<br />

während der Balzzeit dermaßen im Minnegesangsfieber, dass<br />

sich die Baumkronen bogen und die holde Weiblichkeit scharenweise<br />

in mein Harem kam. Wir vergnügten und nächtelang,<br />

bis das es meinen Baum aus der Wurzelverankerung<br />

riss“. An jenem siebten Mai kam auch meine Mami zurück<br />

aus ihrem einwöchigen Urlaub, den sie zusammen mit ihrer<br />

Freundin Maria auf der ägäischen Insel Samos verbrachte.<br />

Pa und ich waren sozusagen Strohwitwer & Söhnchen. Wir<br />

verlebten eine aufregende Woche. <strong>Was</strong> aber hatte Ma<br />

erlebt, die sich bei zwischenzeitlichen Telefonanrufen recht<br />

seltsam in Schweigen gehüllt hatte? Sie hatte, wie seinerzeit<br />

Paps, Maria in eine Apotheke geschickt. Maria hatte vor<br />

der Apothekerin von Alpha bis Omega gestikuliert, bis diese<br />

das uralt griechische Wort „Baby“ in die sonnige Inselwelt<br />

hinaus posaunierte. Maria erwartete also ein Baby.<br />

„Nee, nee“, stammelte Ma. „Ich bin diejenige, welche<br />

schwanger geht. Zweifelsohne!“ Batolio fletsche seine spitzen<br />

Beißerchen triumphierend und krakelte: „Dann aber<br />

zügig und flott in die Wochenstube. Meine geflügelten<br />

Damen treffen sich immer im Dachstuhl einer großen Kirche.<br />

Da finden sich jährlich so an die 500 Weibchen ein und bilden<br />

eine fröhliche Kolonie“ . „Hör mir auf mit Kolonie!“, flehte ich<br />

ihn an, „das regt doch nur meine leidigen Pseudomonas an,<br />

mein Lunge zu kolonialisieren. Die ist schließlich kein<br />

Dachstuhl, sondern mein Atemzentrum.“ Pa schaute Ma ein<br />

wenig hilflos an: „Hat sich da etwa jemand eingeschlichen,<br />

ungewollt und ungefragt?“ „Ja“, sagte Ma. „obwohl mir die<br />

Fruchtbarkeitsgöttin versichert hatte, dass es keinerlei<br />

Bedenken gäbe. Es ist wohl trotzdem geschehen. „Da brat<br />

mir doch endlich einer diesen verdammten Storch, der<br />

bekanntlich damals nicht gekommen war, um gesunde Kinder<br />

abzuliefern. Jetzt legt er mir einen Quäkhannes an die<br />

Seite“, kommentierte ich. „Ich werde großer Bruder sein,<br />

123


124<br />

beim Manitu.“ Da flüsterte Pa mir ins Ohr: „Man kann Frauen<br />

nicht allein auf Reisen schicken. Die kommen garantiert mit<br />

einem Überraschungsei wieder.“ Batolio hatte derweil seine<br />

Jungs aufgefordert, die große Flatter zu machen.<br />

„Bei der Sachlage besteht heute keine Aussicht mehr auf<br />

Mehlwürmer“, rief er beim Abflug.<br />

Sechzehntes Kapitel<br />

Der verrückte Kliniksommer<br />

Wie man in der Radiologie eine tolle Ausstrahlung bekam<br />

Margret freute sich auf den kommenden Sommer wie ein<br />

Kleinkind auf sein Himbeereis. „Ich möchte mit dir, lieber<br />

Luca, im Sommer so gerne in der Hängematte liegen.“ „Da<br />

wird sich aber die Krankenkasse herzlichst bedanken, wenn<br />

sie in der Pflegedokumentation entdeckt, dass eine halbe<br />

Stunde „Abhängen“ als therapeutische Nummer deklariert<br />

wird. Basale Stimulation und Sonnenbrandpflege! Hi-hi-hi“,<br />

freute sich Batolio köstlich über den Scherz des Tages. Ich<br />

mochte Margrets frommen Wünschen ungern widersprechen,<br />

war ich doch ein ausgesprochener Hängemattenfetischist.<br />

Doch mein Repertoire an Verhinderungsmaßnahmen<br />

ist meiner kundigen Leserschaft sicherlich keineswegs<br />

entgangen. „Ich freue mich ja so unglaublich auf die<br />

Hängematte“, strahlte Madame Klabautz den puren Optimismus<br />

aus. Batolio glänzte weiter mit seinem brillanten<br />

Sarkasmus: „Stell dir vor, der Bundeskanzler mit seiner ruhigen<br />

Hand stiefelt mit Fortschrittsgedanken durch die Stube<br />

und findet Lucabärchen in der sozialen Hängematte vor. Luca<br />

grient ihn verschmitzt an, mit dem Charme seines unverdorbenen<br />

Gemüts, und sagt: ‘Ätsch Cheffe! Für einen Aufschwung<br />

bin ich aber in der Zukunft nicht zu gebrauchen!’“.<br />

Lassen wir den Kanzler seine Krisen ins Kanzleramt tragen<br />

und wenden uns statt dessen doch lieber meinen Problemen<br />

zu. Am Weltlachtag, dem sechsten Mai 2001, kam der<br />

Aufschwung in Form von gnadenlosen Fieberzacken bis<br />

hinauf auf 40,5° Celsius. Meine Augen waren tief geschwol-<br />

125


126<br />

len, nachdem die Nacht einmal mehr aus den viel zitierten<br />

Sekretattacken und krassen Sättigungsabfällen bestand.<br />

Am elften Mai wiederholte sich die Tortur, begleitet von<br />

ständigen epileptischen Anfällen. Einen Tag zuvor war ich ja<br />

noch zur EEG-Kontrolle in der Verstischen Kinderklinik zu<br />

Datteln. Vorsichtshalber hatten wir dort auch noch um einen<br />

schnellen Termin in der Röntgenabteilung gebeten. Meine<br />

teuren Freunde, die Pseudomonas Aeruginosa, hatten sich in<br />

letzter Zeit verdächtig still benommen, schienen die Zeit zu<br />

nutzen, meine Lunge zu überwuchern. Die Thorax-Aufnahme<br />

gab wenig Aufschluss. Trotz alledem wurde eine neuerliche<br />

Antibiotikumtherapie empfohlen. Ab sofort bekam ich<br />

eine pure Dosis Ciprobay, ein Medikament, welches der<br />

Welt in Zusammenhang mit den Terrorattacken auf Amerika<br />

und den Anthrax-Briefchen bekannt wurde. Normalerweise<br />

ist die Gabe von Chinolonen für Kinder ungeeignet, da man<br />

erst einmal den Abschluss des Knochenwachstums abwarten<br />

sollte. Bei mir gab es allerdings nicht viel abzuwarten,<br />

von Wachstum ganz zu schweigen. Konnte ich mich<br />

während der Therapie in den folgenden vierzehn Tagen<br />

nicht recht beklagen, folgte plötzlich Schlag auf Fall eine<br />

Pulsraserei, Fieber und der leidige Rotzmarathon, begleitet<br />

von Übermüdungsanfällen meiner Eltern. Batolio machte<br />

den Vorschlag, sich dringend Nachtwachen verordnen zu<br />

lassen. Schließlich müßte man seine Kräfte bündeln, sowie<br />

den Energiehaushalt regulieren. Davon kannte er ja was. Dr.<br />

Hermwille, mein Kinderarzt, kam auf Visite und verordnete<br />

Nachtwachen. Doch leider, leider, leider... waren die gesunden<br />

Mitarbeiter der Krankenkasse nicht wirklich davon zu<br />

überzeugen, dass die teuren Nachtwachen einen Sinn<br />

machen würden. Man sprach zwar von unbürokratischen<br />

Hilfen und sprudelte vor genialer Ideen fast über, doch aku-<br />

te Hilfen wurden vorläufig nicht gewährt. Eine Lösung hieß<br />

zwar: „Bewilligung der Nachtwachen nach Leistungsgruppen.<br />

Eine Stunde Absaugen wird mit 21,40 DM<br />

veranschlagt, ein weiterer Teil des Stundenkontingents wird<br />

von der Pflegekasse gezahlt und der Rest soll aus Mitteln<br />

der Bundessozialhilfe (Hilfe zur Pflege) beglichen werden“.<br />

Pa staunte Bauklötze, die sich vor ihm auftürmten und nach<br />

einem radikalen Umsturz verlangten. Man hatte also eine<br />

Lösung gefunden: Die passte aber garantiert nicht zum Problem.<br />

Hintergrund der Geschichte war ein fehlender Versorgungsvertrag<br />

zwischen der Kasse und Klabautz. Somit<br />

fehlte die Grundlage für die Finanzierung. Ich war viel zu<br />

sehr geschafft, um mich da unnachgiebig einzumischen.<br />

Meine Eltern waren ebenso geschafft, um mich wieder aufzufrischen.<br />

Wenn man eine Luca`sche Krankengeschichte<br />

schreibt, muss man sich wohl oder übel damit abfinden, den<br />

beginnenden Sommer mit einem Krankenhausaufenthalt<br />

einzuleiten. Schwerkrank, wie ich nun einmal war, gehörte<br />

ich in geschulte Hände, von denen ich allerdings leidvoll<br />

erfahren musste, dass sie gerne pieksen und manchmal vor<br />

ungelösten Rätseln stehen. Luca <strong>–</strong> ein Gordischer Knoten!<br />

Der Juni begann gnadenlos, und ich blieb nicht virenlos.<br />

Denn zu allem Überfluss fing ich mir noch den berühmtberüchtigten<br />

Rotavirus ein, ein saublöder Erreger der infektiösen<br />

Gastroenteritis. Das war keine besondere Härte,<br />

durfte ich doch ein wenig länger bleiben. Nunmehr konnte<br />

ich einen dieser Verlängerungstage für ein Foto-Shooting<br />

nutzen, bei dem der Bunte Kreis seine neue T-Shirt-Kollektion<br />

vorstellte. Die Damen des Inner-Wheel Clubs Coesfeld,<br />

Ehefrauen der Rotarier, planen in jedem Jahr diverse Aktionen,<br />

deren Erlöse einem sozialen Zweck zur Verfügung<br />

gestellt werden. Die Präsidentin des Clubs hatte von ihrem<br />

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128<br />

Textilunternehmen peppige Shirts mit dem Logo des Bunten<br />

Kreises herstellen lassen, die Interessierten zum Verkauf<br />

angeboten wurden. Diese Verkaufserlöse flossen wiederum<br />

in die Arbeit der Familienbegleiterinnen, um Kindern wie mir<br />

helfen zu können. Ich fand die Fotoaktion gelungen, konnte<br />

ich doch endlich einmal wieder mein Krankenzimmer verlassen.<br />

Das hatte ich ja sowieso vor. Frühestens dann, wenn<br />

ich die Rotaviren jemand anderem überlassen konnte. Wer<br />

sie letztendlich bekommen hat, war mir schnuppe. Ich wurde<br />

am fünften Juli nach Hause gefahren. Dort wartete Margret,<br />

die in der Zwischenzeit von der Krankenkasse aufgefordert<br />

worden war, ein 24-Stundenprotokoll über meine<br />

Pflege zu schreiben. Batolio hatte ihr sofort vorgeschlagen,<br />

doch vorübergehend bei uns einzuziehen. Für einen Pflegeroman<br />

benötigt man schließlich einen ordentlichen<br />

Schreibtisch mit Personalcomputer und allerlei Schnickschnack.<br />

Nachts wiederum würde sie sich nahtlos einreihen<br />

in die fröhliche Gemeinschaft der drei Nichtschläfer Batolio,<br />

Luca und Papa. Apropos Papa! Der alte Schlawiner hatte die<br />

Gunst der Stunde meines Klinikaufenthaltes schamlos ausgenutzt,<br />

schwang sich in einen hypermodernen Reisebus,<br />

der nach 18-stündiger Fahrt den Balaton im feurigen<br />

Ungarn erreichte. Ich dagegen folgte dem Irrglauben, er sei<br />

in Sachen therapeutischer Aufklärung unterwegs, um beispielsweise<br />

einmal beim Peto Andras Intezet in Budapest<br />

Infos über die Petotherapie für motorisch beeinträchtigte<br />

Kinder einzuholen. Hatte er aber strikt unterlassen und sich<br />

statt dessen die verschatteten Augen peelen lassen.<br />

Nach diesem Kurzurlaub schaute er wieder etwas zuversichtlicher<br />

aus der Wäsche, rief sodann den Abteilungsleiter<br />

der Krankenkasse an, vereinbarte einen persönlichen<br />

Gesprächstermin in meiner Anwesenheit, und verspeiste<br />

reichlich Gulasch. Beim örtlichen Sozialamt hat er auch vorgesprochen,<br />

sogar einen Antrag gestellt. Dabei prognostizierte<br />

er viele Wochen langen Wartens, um anschließend<br />

einen Ablehnungsbescheid in den Händen zu halten.<br />

Schließlich müsse man zuvor sein Vermögen bis zu einem<br />

gesetzlich festgelegten Schonbetrag verbraten. So geschah<br />

es. Ablehnungsbescheid! Eine Handvoll Dollars zu viel.<br />

Rechtsbehelfsbelehrung - süßes Wort - und einen schönen<br />

Gruß an den Pflegefall. Der Pflegefall fightete seine Kämpfe<br />

weiter, war nachts mit Batolio und den Alarmsignalen des<br />

Pulsoxymeters beschäftigt. Ich fand Gefallen daran das<br />

Überwachungsgerät nach Lust und Laune zu manipulieren.<br />

Wenn man nicht schreien und weinen kann, aber trotzdem<br />

will, dass einer kommt und nach dem Rechten sieht,<br />

bespricht man sich konspirativ mit seinem Blutkreislauf.<br />

„Nun lass mal langsam gehen, transportiere nicht soviel<br />

Sauerstoff.“ Schon rutscht der Sättigungswert unter den<br />

eingestellten Level von achtzig Prozent. Alarm, Alarm! Meine<br />

gepeinigten Erzeuger gerieten allmählich an ganz andere<br />

Grenzen, die da hießen: physische Belastbarkeit = „0“,<br />

psychische Belastbarkeit = „0“ und geistige Frische = „Null<br />

komma nix“. Das Aushaltbarkeitsdatum war abgelaufen.<br />

Der Gedanke an einen gemeinsamen Urlaub zur absoluten<br />

Regeneration von Körper, Geist und Seele wurde laut und<br />

lauter, ja bald unüberhörbar. Gleichzeitig sollte auch ich in<br />

den Genuss kommen, gute sechzehn Tage in einer neuen,<br />

fremden Umgebung zu verbringen. Kurzzeitpflege lautete<br />

das Reizwort. Pa hatte eine Telefonaktion gestartet und bald<br />

darauf die Kindervilla Dorothee in Kreuztal im Kreis Siegen<br />

ausfindig gemacht. Dort sollte ich in der Zeit vom 12. bis<br />

zum 28. September im Einzelzimmer bei Vollpension in einer<br />

5Sterne-Villa einen Eltern-freien Kurzurlaub verbringen.<br />

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130<br />

Echt pfiffige Idee. Urlaub im Siegerland. Da soll es doch<br />

Hunde und Katzen regnen, und die Leute dort sollen das „R“<br />

derart rollen, als kämen ihre Kehlköpfe aus einer Gusseisenfabrik.<br />

Egal! Die Ferien wurden gebucht. Es wurde<br />

nicht geflucht. Die beiden sollten ruhig in die Sonne nach<br />

Rhodos fliegen, während ich die A 45 südwärts kutschiert<br />

werden würde.<br />

Zwei Tage nach der Buchung krümmte ich mich vor Schmerzen.<br />

An einem saublöden Freitag nachmittag trat plötzlich<br />

rot gefärbte Flüssigkeit aus meiner Bauchdecke, dort wo der<br />

pig-Schlauch meiner Wundstelle entspringt. Mich plagte<br />

jedoch etwas anderes, welches ich nicht zu identifizieren,<br />

geschweige denn ein Wehklagen von mir zu geben vermochte.<br />

Die Besorgnis erregenden Mienen meiner Eltern<br />

ließen aber nur erahnen, dass sie sich alsbald zum aktiven<br />

Handeln genötigt sahen. Ich hatte mal wieder meine krasse<br />

„Berühr-mich-bloß-nicht-Phase“, die mich bei Missachtung<br />

unwillkürlich zwang, meine Beine anzuziehen. Die Beiden<br />

avancierten auf einmal zu Schmerzdiagnostikern, was<br />

bei einer elterlichen Beobachtungsgabe nicht verwunderlich<br />

war. Schließlich kennen Eltern ihre Kinder so gut, wie<br />

keine anderen. Habe ich recht? Zur Verifizierung ihrer Wahrnehmungen<br />

streichelte Pa mir über das rechte Knie, wonach<br />

ich prompt die Beine anzog, wie es andere tun, wenn Pamperstime<br />

ist. Das brachte den Stein ins Rollen. Natürlich<br />

nicht den Nierenstein. Nein! Sie entschieden auf Bauchschmerzen.<br />

Abnormes abdominales Befinden. Pa checkte<br />

schnell via Telefon die Aufnahmekapazität im Hospital ab<br />

und interviewte vorab meinen damaligen Operateur, den<br />

Gastrologen, der mir die PEG verpasste. Der riet, aus dem<br />

Bauch heraus, zur ambulanten Vorstellung. Flugs saß ich<br />

Luca-Bärchen mit meinem Arsch im Römerking im Fond<br />

unserer rappeligen Kiste, in Erwartung neuerlicher medizinischer<br />

Ungereimtheiten, die mein Leben so sehr prägten.<br />

Der diensthabende Assistenzarzt hatte etwaige Instruktionen,<br />

auch zeichnerische, vom Gastrologen erhalten und<br />

tastete meine Bauchdecke ein wenig unsensibel ab. Er<br />

empfand meinen Bauch als weich, elastisch, unempfindlich,<br />

ja letztlich ohne jeden Befund. Mir war ein wenig zum<br />

Kötzerln zumute, obwohl ich, abdominal gesprochen, ganz<br />

schön erleichtert war, einem möglichen Eingriff aus dem<br />

Weg gegangen zu sein. Ganz ehrlich gesagt, wunderte es<br />

mich nicht. Denn Bauchschmerzen hatte ich keine. Aber<br />

was sollte ich auch schon sagen? Ich schwieg und zog<br />

abrupt meine unteren Extremitäten an. Verdammte<br />

Schmerzen, diese. Der hinzugezogene Chefarzt Dr. Egbert<br />

Lang kam dann auf die blendende Idee, eine erneute Thorax-Röntgenaufnahme<br />

anzuordnen. Vom abdominalen<br />

Check-up zur pulmonalen Diagnostizierung. Hauptsache,<br />

die hängen mich nicht wieder in so ein komisches Korsett,<br />

wie anno dazumal in der Dattelner Kinderklinik. Lieber eine<br />

eiskalte Platte unter dem Kreuz als wie ein abgehangenes<br />

Schwein in luftigen Höhen zu schweben!<br />

Als läge der Schatten auf der Seele! Mein rechter Lungenflügel<br />

war mal wieder atmungsaktiv wie eine abgenutzte<br />

Slipeinlage. Die Lungenaufnahme ergab die Diagnose:<br />

Pneunomie, sowie den Verdacht auf eine Luftröhrendeformation.<br />

„Da behalten wir den Luca doch gleich hier, gelle!“<br />

Es ist ja erst Ende Juli. Der Sommer ist noch lang. Margret<br />

brauchte ihren Traum von der gemeinsamen Hängemattenaktion<br />

noch nicht aufgeben. Gott sei dank wurde das Sommerloch<br />

durch eine super gute Nachricht gefüllt, eine sogenannte<br />

Hypernews. Die Vertreter der Krankenkasse waren<br />

offensichtlich sonnig gut gelaunt, hatten offene Ohren für<br />

131


132<br />

komplexe Pflegesituationen und boten erfreuliche Lösungen<br />

an: Höherstufung in Pflegestufe II mit 1800 DM Sachleistung<br />

von der Pflegekasse, Restfinanzierung der Behandlungspflege<br />

durch die Krankenkasse; Bewilligung von<br />

Nachtwachen im akuten Bedarfsfall; Beitragszahlung zur<br />

gesetzlichen Rentenversicherung für den Pflegefall Papa<br />

und einen Einzelversorgungsvertrag zwischen Klabautz und<br />

der Kasse. Das ausführliche 24-stündige Pflegeprotokoll<br />

hatte tief beeindruckende Spuren hinterlassen. Alle freuten<br />

sich jetzt auf eine zuverlässige Zusammenarbeit, in dessen<br />

Mittelpunkt meine souveräne Pflege stand. Jetzt war sie mir<br />

nicht mehr zu nehmen, meine Madame Klabautz, ihre Krankenbeobachtung,<br />

das Schmerzprotokoll und das Teilen der<br />

Hängematte. Am 30 Juli, bei 30° Grad im Schatten, lag ich<br />

einmal wieder beim Radiologen auf Platte. Kontrolle! Thorax-Aufnahme,<br />

die ... na, die wievielte denn schon? Wer<br />

noch mitzählt, wird gequält. „... Ik glob`, mein Hamster pfeift<br />

mer Zoten...!“ Statt einer zufriedenstellenden Prognose nach<br />

erfolgreicher antibiotischer Behandlung und einem winkewinke-bye-bye-Abschiedszeremoniell<br />

gab es weit über den<br />

Horizont langgezogene Gesichter. Zunehmende Verschattung<br />

und weitere Verschlechterung der rechten pulmonalen<br />

Belüftung mit Atelektasenbildung des rechten Unterlappens<br />

und Überblähung der linken Lungenareale, welche<br />

sich darüber hinaus auch noch in die rechte Brusthälfte verschoben<br />

hatten. Es war, als hätte ich es schon immer gewusst.<br />

Der liebe Gott hatte sich wohl im Aktienspekulationsgeschäft<br />

verrannt und als Konsequenz sämtliche mich bewachenden<br />

Schutzengel abgezogen oder entlassen. Statt dessen<br />

hockte jetzt über meinem Kopfende der<br />

Substitute-Global-Player Hiob und quasselt unaufhörlich<br />

über Fakten aus seinem „Frohe-Botschaft-weiß-ich-nichts-<br />

von-Abrisskalender“. Lungenbläschen <strong>–</strong> I´m killing you<br />

softly. Ich hatte wirklich nichts gegen ein hitchcockche Dramaturgie<br />

mit viel suspense und gnadenlosen plots. Doch<br />

irgendwann einmal läuft jedes Faß über.<br />

Meine medizinischen Freunde wollten mich nicht nur weiterhin<br />

stationär behalten. Vielmehr konsultierten sie ihre<br />

Kollegen von der Fachabteilung Pulmonologie in einer<br />

anderen Klinik, e-mailten Thorax-Röntgenbilder und spekulierten<br />

über den Nutzen einer Bronchoskopie. Einige<br />

Tage später wurde ich erneut in die Radiologische geschoben.<br />

Wie ein Brathühnchen, wurde ich jetzt in eine Röhre<br />

geschoben, um computerthomographische Bilder meiner<br />

Lunge aufzuzeichnen zu lassen. Die Aufnahmen wurden<br />

dann wiederum der anderen Klinik übermittelt, ob per Email<br />

oder Airmail, war mir ganz egal. Ich fieberte der Bronchoskopie<br />

entgegen, fragte mich allerdings, wie ich dort<br />

wohl hin gelangen würde. Mit dem Rettungswagen, natürlich!<br />

Oh! oh! Ich spürte Ärger im rechten Oberschenkel. Der<br />

war mittlerweile ganz schön angeschwollen, ebenso mein<br />

rechtes Knie. Jegliche Untersuchungen, ob Thrombose,<br />

Leber- oder Nierenfunktionsprüfungen und ähnliches<br />

brachten keine neuen Erkenntnisse, abgesehen davon,<br />

dass mir ständig Blut abgezapft wurde. Ich wünschte mir<br />

nichts lieber, als einen zarten Biss von Batolio anstelle dieser<br />

blöden Kanülenstechereien. Alles schwoll an. <strong>Was</strong>ser,<br />

welches ich nicht ausweinen durfte, sammelte sich buchstäblich<br />

in meinen Extremitäten. Diejenigen mit den seelischen<br />

Problemen finden sich ständig auf der Psychocouch<br />

wieder. Unsereins hatte nur noch Termine beim Radiologen.<br />

Ich musste ja eine tolle Ausstrahlung haben. Röntgenbild<br />

der Beine: Oberschenkelfraktur rechts, circa vierzehn Tage<br />

alt. Callusbildung. Erinnert ihr euch noch an meine angebli-<br />

133


134<br />

chen Bauchschmerzen und meine damalige ergebnislose<br />

Untersuchung? Nein! Dann blättert halt ein paar Seiten<br />

zurück. Habt ihr es? Na wunderbar. Da staunte die Fachund<br />

Laienwelt. Einer, mit einem Bewegungsdrang eines<br />

Guinnessrekordhalters im Dauerliegen, bricht sich das Bein.<br />

Und keiner hat es bemerkt. Die Ungläubigen unter der Ärzteschaft,<br />

konnten sich etwaige Fragen nicht verkneifen. Wie<br />

ist es denn zu dieser Fraktur gekommen? Versehentlich auf<br />

das Kind getreten? ... vom Wickeltisch gefallen? ... im Gitterbett<br />

verhakt? Ein Sozialarbeiter, Arbeitskollege meiner Ma,<br />

hatte gemutmaßt, meine Rabeneltern hätten mich misshandelt.<br />

Pa hatte daraufhin meiner Oma mütterlicherseits telefonisch<br />

die Diagnose übermittelt und nebenbei bemerkt,<br />

dass das Jugendamt auch schon auf der Matte stünde. Das<br />

hatte Oma einen ziemlichen Schock versetzt. Der leichte<br />

Glaube folgt halt schnell der Ungläubigkeit über nackte Tatsachen.<br />

Schnelle Korrektur der gemeinen Aussage war nun<br />

angebracht. Denn wer weiß schon, wie Omaherzen ticken. In<br />

einer Hinsicht waren meine Beiden doch Rabeneltern. Auf<br />

meine Kosten Witze zu reißen, ist wahrlich ungebührlich. Ich<br />

werde mich schon rächen und ganz, ganz übel foulen.<br />

„Oh, nein, nein!“, rief Batolio entrüstet. „Es war doch alles<br />

ganz anders“. Er hing sich mit sportlichem Enthusiasmus vor<br />

ein Mikrophon und polterte los. „Soeben erteilte der Trainer<br />

und Fußballphilosoph Papa Wolfgang seinem Schützling eine<br />

kurze, eindringliche Aufforderung: Maach et Luca! Maach et!<br />

Luca also raus aus den Federn, mit schwarz-gelben<br />

Ringelsöckchen um die zarten Fesseln und abgehakten Nike-<br />

Tretern, hinaus durch die Tür über die kieselsteinige Terrasse<br />

hinweg, querfeldein über den grünen Rasen, den Footballplayground.<br />

Den schon zurecht gelegten Ball mit Eleganz<br />

angetippt. Wechsel auf die rechte Außenbahn. Zehn ... zwan-<br />

zig Meter Spurt, die Pille eng am Fuß. Dann, Orientierung ins<br />

Zentrum, alle Gegenspieler abgehängt ... allein auf das Tor zu<br />

... er wird gleich im Netz zappeln ... eine satte Granate mit Pike<br />

und Schmackes, gleich der Jubel der Menge: GOL <strong>–</strong> GOL <strong>–</strong><br />

GOL!!! Der Torwart, ein Häuflein Elend: Doch dann, von rechts<br />

... ein kantiger Koloss, das Tier mit der 4, eine Blutgrätsche, ein<br />

Tritt, ein Knacken, ein Sturz, ein Koma, eine erschreckende<br />

Diagnose. Die Beendigung einer verheißungsvollen Karriere.<br />

Femurfraktur rechts. Hammerhart. Die Knoten im Netz des<br />

Tores hätten dem mit brachialer Gewalt getretenen Schuss<br />

nicht standhalten können. <strong>Du</strong>rchbruch.“ Batolio hatte sich in<br />

Ekstase kommentiert und dabei die Tatsache außer Acht<br />

gelassen, dass man sich auch eine Fraktur ohne Einfluss<br />

äußerer Gewalt zuziehen kann. Zu diesen Raritäten zählte<br />

ich. Spontanfraktur bei erhöhter Muskelkontraktion. Muskeln<br />

spielen eine erhebliche Rolle beim Aufbau der Knochen.<br />

Sie leisten die Knochenarbeit im Regelfall, zu dem ich<br />

ja nicht gehörte, weil mir sämtliche Bewegungsabläufe der<br />

kindlichen körperlichen Entwicklung fehlten. Doch Muskelkontraktionen<br />

hatte ich en mas. Bei jedem cerebralen<br />

Anfall spannten sich meine Muskeln extrem an. Spontanfraktur.<br />

Einfach unglaublich.<br />

Statomotorisch hatte ich halt nix zu bieten: Kopfdrehen <strong>–</strong><br />

Strampeln <strong>–</strong> Kopfheben <strong>–</strong> Hochziehen zum Sitzen <strong>–</strong> Hand-<br />

Mund-Kontakt <strong>–</strong> Handstütz -Füßlerstand <strong>–</strong> Krabbeln <strong>–</strong> Wippen<br />

<strong>–</strong> Freies Gehen <strong>–</strong> Salto ala Miro Klose <strong>–</strong> Fallrückzieher <strong>–</strong><br />

absolutley nothing. Einen Tag später <strong>–</strong> wieder beim Bestrahler.<br />

Thorax CT und Lungenröntgenaufnahme. Nix neues!<br />

Das Clemens-Hospital wartete schon. Am achten August<br />

starteten wir mit dem Krankentransport-Express durch bis<br />

nach Münster. Am dritten Tage meines Aufenthaltes in<br />

einer fremden Umgebung sollte nun der Eingriff unter Voll-<br />

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136<br />

narkose erfolgen. Margret <strong>–</strong> ich war ihr ewig dankbar <strong>–</strong> hatte<br />

sich am Morgen auf der Station eingefunden, um mich in<br />

vertrauter Manier zurecht zu pflegen. Sie kannte den Chefarzt<br />

aus einer früheren Tätigkeit und hatte von diesem das<br />

Placet erhalten, als Beobachterin und natürlich als meine<br />

persönliche Wegbegleiterin, an der Operation teilzunehmen.<br />

Da ich mich unter der Narkose endlich auf ein verloren<br />

geglaubtes Schlaferlebnis freuen konnte, möchte ich es<br />

nicht versäumen, euch kurz mit einer anderen Begebenheit<br />

vom Vortag zu erheitern. An jenem Tag hatte ich nämlich die<br />

Begegnung mit einem seltsamen Zeitgenossen der Oberärztezunft,<br />

der anscheinend meinte, in mir ein schrecklich<br />

aufregendes Objekt seiner medizinischen Begierde entdeckt<br />

zu haben. Ich hatte ihm wohl mustergültige Zuckungen,<br />

BNS und was-weiß-ich für Krampfanfälle geboten, die<br />

ihn zu einer spontanen Anordnung eines EEG animierten.<br />

Eines Tages hau ich auch dem Hippokrates was aufs Maul.<br />

Die ärztliche Fürsorge des asiatischen Doktors stand jedenfalls<br />

nicht im Einklang mit dem Auftrag meiner mich überweisenden<br />

Klinik. Nun stand Signore Dottore von Angesicht<br />

zu Angesicht mit meinen verblüfften Eltern und verkündetet<br />

mit wild entschlossener Tonlage: „Das ist ein Katastrophen-<br />

EEG! Der krampft ja den ganzen Tag. Da könnte man ja einmal<br />

über neue Therapievorschläge nachdenken. Ist er mal<br />

mit ACTH behandelt worden?“ Pa widersprach ganz vehement<br />

und verwies auf die Zuständigkeit meines allzu lachfreudigen,<br />

etwas rundlichen Freund in der Vestischen Kinderklinik,<br />

wo sowieso demnächst ein Kontroll-EEG terminiert<br />

war. Der schlitzäugige Doktor war wohl ein wenig<br />

pikiert, als wollte man seinen ärztliche Sachverstand in Frage<br />

stellen und verließ beleidigt raunend mein Krankenzimmer.<br />

Wir wollen jedoch nicht allzu hart mit ihm ins Gericht<br />

gehen, hat er uns doch einen weiteren aufregenden und<br />

stressvollen Tag erspart. Wenn er so frei ist, die Dokumentation<br />

an die Kinderklinik zu schicken. Nach dieser Exkursion<br />

befanden wir uns im Operationssaal. Die nötige Rückendeckung<br />

von Margret und Batolio war mir gewiss. Leider<br />

hatte sich der <strong>Du</strong>mmschwätzer Hiob unter dem Operationstisch<br />

breit gemacht. Ich dagegen kriegte das Maul nicht<br />

auf. Soviel zu meiner absoluten Sprachlosigkeit in Anwesenheit<br />

ungebetener Gäste. Batolio wies ihn sofort in die<br />

Schranken: „Hau ab! Nui ci! Piss off! Schleich di, verdammt<br />

noch eins.“ Die Ärzte hatten ernste Schwierigkeiten meinen<br />

Mund zu öffnen, so dass ihnen eine reguläre Intubation mit<br />

dem ursprünglich verwendeten starren Instrumentarium<br />

nicht möglich war. <strong>Du</strong>rch Abknickung des Tubus gelang es<br />

schließlich, durch Mund und Luftröhre vorzudringen. Über<br />

dem liegenden Tubus erfolgte dann die flexible Endoskopie.<br />

Endlich wurde ich mal abgesaugt, ohne etwas davon zu<br />

merken. Mal dünnflüssiges Sekret aus dem linken Bronchialsystem,<br />

mal rahmiges aus dem rechten. Liebe Leserschaft!<br />

Ich weiß nicht, wie es euch geht? Aber ich hatte so<br />

langsam die Faxen dicke, wie man im Ruhrgebiet sagt. In<br />

dem Teil unseres Landes hat es schon so manchen Kumpel<br />

erwischt, mit Staublunge und anderen bösen Atemwegserkrankungen.<br />

Ich war bildlich gesprochen einige Zeit unter<br />

Tage. Jetzt war ich aus der Narkose erwacht. Ich litt unter<br />

einer sogenannten „organisierten Lungenentzündung“, bei<br />

der es nicht zu erwarten wäre, dass sich meine Lunge wieder<br />

entfaltet. Zum jetzigen Zeitpunkt war mein rechter Lungenflügel<br />

hin, der linke musste alles kompensieren. Es war<br />

der Lauf der Dinge, wenn man über ein Immunsystem verfügt,<br />

welches diesen Namen nicht verdient hatte. Eine Operation<br />

wäre sinnlos, hieß es. Wenn er sich bewegen und<br />

137


138<br />

über den Rasen laufen könnte, wäre eine Regeneration der<br />

Lunge möglich. „Rasen“, dachte Pa, während er vergeblich<br />

ein vierblättriges Kleeblatt suchte. „Der Rasen sieht heute<br />

aus wie ein unendlicher grüner Knoten. Dieser vermaledeite<br />

Sommer.“ Er schlug sein Liederbuch auf und sang:<br />

„Summertime, when the living is heavy<br />

sorrow is growing, and the fever is high<br />

my daddy´s down and my mummy´s sad looking<br />

so hush little Luca and cry.“<br />

Da riss ich ihn aus seiner Melancholie und rief: „Los, Alter.<br />

Abmarsch. Ich wurde noch am Tag meinem Eingriffs in mein<br />

Coesfelder Krankenhaus zurück verlegt. Der Chefarzt hatte<br />

uns mit den folgenschweren Worten verabschiedet: „Ich<br />

wünsche Ihnen und vor allem dem kleinen Luca, dass er entweder<br />

einen plötzlichen Hirntod erleidet oder an einer Kohlenmonoxydvergiftung<br />

verstirbt. Unter keinen Umständen<br />

sollte er einen jämmerlichen Erstickungstod erleiden“ Im<br />

Übrigen bin ich sehr erstaunt über die gute Pflege. Alle Achtung!<br />

Cherrio!“<br />

Im Coesfelder Krankenhaus angekommen, trat ich erst einmal<br />

in Dialog mit meinem Freund St. Vincenz. Der steht als<br />

Skulptur vor dem Haupteingang der Klinik und streckt mir<br />

immer seine Arme entgegen. „Lieber, Heiliger Vincenz. Meine<br />

Organe sind auf Wanderschaft. Bei mir ist alles verzogen<br />

und verschattet. Mein Herz hat sich auf den Weg gemacht,<br />

um ganz woanders zu schlagen. Mein Mediastinum, das<br />

sogenannte Mittelfell, der mittlere Raum in der Brusthöhle,<br />

in der sich das Herz, die Speiseröhre, die Luftröhre, die Bronchien,<br />

der Thymus, sowie herznahe Blut- und Lymphgefäße<br />

befinden, ist stark nach rechts verzogen. Ich verziehe mich<br />

jetzt auf mein Krankenzimmer. Danke für das Gespräch.“ Am<br />

14. August durfte ich zurück in den elterlichen Schoß, berei-<br />

chert um eine erhöhte Schlagzahl von Atemtherapieeinheiten.<br />

In der Folgezeit verbesserte sich mein Zustand ein<br />

wenig. Ich erlitt deutlich weniger cerebrale Anfälle. Meine<br />

linke Lungenhälfte schien tatsächlich ihre Kompensationsaufgabe<br />

zu bewältigen. Die Pseudomonas ließen nichts von<br />

sich hören. Die Bronchoskopie hat einen guten Zweck<br />

erfüllt. <strong>Du</strong>rch das Absaugen der fiesen Sekrete war ich, pulmonal<br />

gesprochen, freier. Meine Therapeuten waren sich<br />

einig: Lebensqualität verbessern war das A und O ihrer<br />

Bemühungen. Atemtherapie, diverse Lagerungstechniken,<br />

basale Stimulation. Alles sollte mir möglichst viel Linderung<br />

verschaffen. Eine Sache fand ich allerdings hypergeil. Ich<br />

konnte endlich, endlich schlafen, sehr zum Leidwesen von<br />

Batolio. „Wenn der Winter kommt, werde ich mit ihm ins<br />

Winterquartier fliegen und tüchtig Winterschlaf halten. Versprochen<br />

Batolio, gelle.“ Bis dato hatte ich schon eine Menge<br />

ertragen und vertragen müssen. Fortan ließ dann meine<br />

Ernährung zu wünschen übrig. Ich vertrug nur noch schlappe<br />

350 ml Frebini, verteilt auf drei Mahlzeiten täglich. Daher<br />

sollte ich eine andere Astronautenkost erhalten, mit mehr<br />

Ballaststoffen und Kalorien. Nur wenige Tage nach der<br />

Umstellung trat erneut Flüssigkeit aus meiner Bauchdecke<br />

aus. Gleichzeitig stieg das Fieber auf gute 40° Celsius. Am<br />

31. August hatte ich nachmittags den puren Stress mit<br />

Brustschmerzen oder was weiß der Kuckuck, wo es mir<br />

schmerzen tat. Jetzt bekam ich alle sechs Stunden fünf ml<br />

Paracetamol. Batolio war ernsthaft besorgt. „Luca wirkt<br />

kraftlos, saftlos, mutlos“. Die Temperatur stieg und fiel, wie<br />

sie wollte. Das Stammhirn konnte ganz gehörig nerven mit<br />

seinen Fissimatenten. Es folgten enorme Sättigungsabfälle.<br />

Am 1. September kam Margret, spontan ihrer sensationellen<br />

Intuition folgend, auf einen Sprung vorbei. Sie fand mich<br />

139


140<br />

im Zustand der Apathie und Flachatmung. Ein enormer<br />

Flüssigkeitsverlust war vorausgegangen. Mein ganzer Body<br />

war klitschnass. Sozusagen war nichts in mir drin. Ich drohte<br />

auszutrocknen. Es roch nach Aceton. Meine Stühle waren<br />

grün-wässrig, stanken zum Himmel. Next exit: Coesfeld, St.<br />

Vincenz-Hospital. Dieses Mal diagnostizierte man eine<br />

Gastroenteritis, Entzündung der Magen- und Darmschleimhaut,<br />

zuwenig Kalium, noch weniger Kalzium und vor allem<br />

ziemlich wenig Thrombos. Letztere sind die Blutplättchen,<br />

die für die Blutgerinnung zuständig sind. Sie werden mir<br />

eines Tages sehr, sehr fehlen. Man setzte mich auf Nahrungskarenz,<br />

versorgte mich statt dessen mit Infusionen<br />

und später mit Tee. Mein Leben schien ausgehaucht. Die<br />

Ärzte wirkten mutlos. „Wir wissen nicht, ob er diese Nacht ...“.<br />

Batolio war schwer zu beneiden und wirkte ein wenig überfordert,<br />

mir Mut zuzusprechen. „Lieber, lieber Freund der<br />

Nacht“, sprach er. „Erinnere dich doch. Deine Mama trägt ein<br />

Kind im Bauch, ein Brüderchen oder ein Schwesterchen. Es<br />

will dich kennenlernen, bald, am Ende dieses Jahres. Heiße es<br />

willkommen in einer Welt, die dich so leiden läßt. Doch sei<br />

getrost. Es wird per Kaiserschnitt gesund zur Welt gebracht,<br />

ganz ohne Nabelschnurkomplikationen.“ Da rief ich lauthals:<br />

„Ich will es auch. Ich will es fühlen. Ich will es hören. Ich will<br />

es spüren. Ich will es berühren.“ <strong>Du</strong> hast keine Chance, also<br />

nutze sie! heißt ein markanter Slogan, der auf mich zutrifft,<br />

wie die bekannte Faust aufs Auge. Welche Hoffnungen hatten<br />

wir alle noch? In dem Glauben, tatsächlich Abschied<br />

nehmen zu müssen, waren meine Eltern schweren Herzens<br />

zu einem Bestattungsunternehmen gegangen. Sie haben<br />

dort einen kleinen blauen Kindersarg mit Mond- und Sterne-Motiven<br />

ausgewählt. Alle Formalitäten für den <strong>Was</strong>-<br />

Wäre-Wenn-Fall, den worst case, wurden erledigt. Die Kin-<br />

derseelsorgerin Schwester Paula stellte einen Wortgottesdienst<br />

zusammen, machte Ma und Pa mit einem Kaplan<br />

bekannt, der mit einer schwierigen Mission vertraut wurde.<br />

Pa hatte meinen geplanten Urlaub im Siegerland abgesagt<br />

und eine Telefonliste mit den Namen der zu benachrichtigten<br />

Leute erstellt. Der geplante Rhodos Ferientrip stand<br />

hoch im Stornokurs. „Ich bin der Luca, ein kleiner Kämpfer.<br />

Ich stabilisiere mich. Ich atme. Mein Herz schlägt rhythmisch.<br />

Ich blute nicht. Ich erleide keinen Anfall mehr. Ich<br />

vertrage meine Nahrung. Ich verziehe mein Gesicht wie in<br />

guten Tagen, um euch mitzuteilen, dass ich warten werde.<br />

Ich werde niemals von Euch fortgehen, wenn ihr nicht bei<br />

mir seid. Ich setze Zeichen!“ Tatsächlich stabilisierte sich<br />

mein Zustand, bis die Ärzte meinen Eltern zuversichtlich<br />

signalisierten, ihre verdiente Urlaubsreise anzutreten. Die<br />

Eltern sagten ja. Sie sagten: „Wir brauchen dringend Erholung.<br />

Die Seele baumeln lassen. Das Meer rauschen hören.<br />

Nach Genuss von Ouzo und Metaxa selig ins Apartment<br />

rauschen.“ Batolio sagte: „Lass sie fahren. Wir haben alles<br />

organisiert. Nichts kann passieren. Wir sorgen für Lucas<br />

Wohlergehen.“ Sie waren reif für die Insel und verlebten entspannte<br />

Ferien bei täglich 30 Grad im Sonnenschein. Derweil<br />

lehnte ich mich ebenso relaxt zurück und wartete auf<br />

ihre Rückkunft. Batolio hatte ich auf Quartiersinspektion<br />

geschickt. Er sollte sich eine ordentliche Höhle suchen und<br />

reichlich Nahrung sammeln. Der Winter kommt bestimmt.<br />

141


142<br />

Siebzehntes Kapitel<br />

Der Geniale Ausflugsherbst<br />

Wie man endlich einmal Kind sein durfte<br />

Ich konnte es nicht fassen. Die Alten waren wieder da. Vom<br />

Kopf bis zu den Zehen mit knackiger Bräune überzogen.<br />

Austausch von Meeresblicken. Alter Grieche grüßt Bleichgesicht.<br />

Die alte Flatternase Batolio kam ebenfalls kurz darauf<br />

wieder von seinem Höhlentrip. „Eh, det war dufte. Ne<br />

Grotte zum Verlieben“ juchzte er. „Abhängen, bis der Frühling<br />

kommt. Kann allerdings nicht genau sagen, wo die Höhle liegt.<br />

Werde sie aber bestimmt wiederfinden.“ Ich selbst hatte mich<br />

vom Kliniksommer unglaublich gut erholt. Viel besser als<br />

gedacht. Der Stress mit der Krampferei war beendet. Vielleicht<br />

wollte es der Zufall so. Mehr jedoch mein zwischenzeitlicher<br />

Mangel an Thrombozyten. Der Doc hat eines<br />

der Antikonvulsiva, den roten Orfirilsaft abgesetzt, weil dieses<br />

Medikament laut Beipackzettel tatsächlich einen solchen<br />

Mangel hervorrufen kann. Am liebsten hätte er alle<br />

Medis zum Teufel verbannt. Statt dessen bekam ich fortan<br />

das beruhigende Diazepam in Tropfenform verabreicht. Das<br />

weckte arge Erinnerungen an damals, als man mir häufig<br />

Diazepamrektiolen in den wunden Pöter steckte. Na ja <strong>–</strong> die<br />

verfehlten ja eh immer ihre Wirkung, weil ich sie direkt wieder<br />

ausschied. Such is life. Ich war also gut drauf. So hatte<br />

ich mir vorgenommen, in der kommenden Zeit einiges<br />

nachzuholen, etwas zu erleben. Ja! Die Dinge kommen lassen<br />

und alles mitnehmen, wo gibt. Die Hängemattenaktion<br />

mit Margret sollten wir aber auf den nächsten Sommer verschieben.<br />

„Oh! Goldener Oktober. Ik liebe dir. Da will ich<br />

draußen sein und Buggy fahren.“ Reibt euch nur verwundert<br />

eure Glubscher. Ihr habt es richtig gelesen. Völlig ernst<br />

und unerwartet akzeptierte ich nun Ausflugsfahrten in meinem<br />

Sportgefährt. Ich krampfte ja nicht mehr. Ich hatte es<br />

nicht mehr nötig, die Fahrten zu unterbrechen. Buggy fahren<br />

war jetzt eine hypergeile Show, bei dem mir der olle<br />

Wind nette Geschichten erzählen konnte.<br />

Ferienpark Waldvelen<br />

Normalerweise war mein Alltag ja ritualisiert und vor allem<br />

voll durch strukturiert, mit festen Zeiten, die sich stark an<br />

Medikamentenabgaben und Nahrungsdurchlaufquoten<br />

orientierten. Business as usual <strong>–</strong> immer unter der Prämisse,<br />

alles erdenkliche für mein Wohlergehen zu tun. Ausflüge<br />

waren eher die Ausnahme, einmal abgesehen von den<br />

bekannten Routineuntersuchungsterminen, wie die EEG-<br />

Kontrolle oder Platteliegen in der Radiologie. Ferner gab es<br />

diese unsäglichen Spontanaktionen, denen stets eine hektische<br />

Betriebsamkeit vorausging. Es waren jene events, bei<br />

denen die Ärzte- und Schwesternschaft aufgeregt nach mir<br />

Charmebolzen Ausschau hielten und begeistert ausriefen:<br />

„Der Luca kommt! Der Luca kommt! Das Echo hallt zurück:<br />

„Er tommt ... prompt ... prompt ... prompt ...“ und <strong>bleibt</strong>!<br />

Doch in diesem Goldenen Oktober stand mir ein wahrhafter<br />

Ausflugsmarathon bevor. Ungebremst flitzten wir in das<br />

kollektive Freizeitparadies und stoppten abrupt am Ferienpark<br />

Waldvelen, unweit der holländischen Grenze. Ma´s<br />

Eltern hatten sich dort vor einiger Zeit ein mobiles Freizeitheim<br />

gekauft. Sozusagen ein Haus, von dem man nicht<br />

weiß, ob es noch da ist, wenn man das nächste Mal kommt.<br />

Es stand jedoch auf festem Boden, ohne Räder. Nach einer<br />

gemeinsamen Kaffeetafel, bei der ich wie immer leer aus-<br />

143


144<br />

ging, warteten die lang ersehnten Attraktionen auf mich.<br />

Zuerst sind wir zur Pferdekoppel abgeschoben. Zwei Pferde<br />

waren sofort auf galoppiert, um mich neugierig zu bestaunen.<br />

Pa hob mich auf seinen Arm, nahm meine Hand und<br />

führte sie, damit ich eines der Pferde sanft streicheln konnte.<br />

Der Gaul wieherte vor Freude und hatte sich nur ganz<br />

nebenbei ein wenig erschrocken. Diese Tiere haben einen<br />

wahrhaft sensitiven Charakter, so dass ich keine Angst zu<br />

haben brauchte. „Wenn ich einmal älter bin, dann wünsche<br />

ich mir eine Hippotherapie“, sinnierte ich über den Traum<br />

vom therapeutischen Reiten. Anschließend schob man<br />

mich hinüber zum Wildgehege, um dort die Rehe zu füttern.<br />

Vor dem Zaun stand ein niedlicher roter Kinderplastikstuhl<br />

mit Armlehnen. Nie zuvor hatte ich jemals in einem Stuhl mit<br />

gestrecktem Rücken gesessen. Ich kam mir unwiderstehlich<br />

königlich vor: „Luca Felipe His Royal Majesty of the animals“.<br />

Ein Korb voller Kastanien lud uns förmlich zur Fütterung<br />

der hungrigen Rehe ein. Pa, der mich ein wenig von<br />

hinten festhielt, legte mir eine Kastanie in die rechte Hand.<br />

Apropos Hände! Seit einiger Zeit hielt ich meine Hände nicht<br />

mehr krampfhaft zu Fäustchen geballt, sondern offen. Alle<br />

Fingerchen waren ausgestreckt und locker. Damals hatte<br />

ich ja partout nicht verraten wollen, was ich darin festhielt.<br />

Es war ein kleines Kirschkernkissen. Nunmehr wurde mir<br />

klar, warum man mich stundenlang im Kinderwagen unter<br />

meinem Kirschbaum, dessen Äste über einen Teil unserer<br />

Terrasse ragten, verweilen ließ. Während die einen die wohlschmeckenden<br />

Früchte genossen, bekam unsereiner lediglich<br />

die Kerne, eingenäht in motivreiche Stoffsäckchen. Ich<br />

war jedenfalls froh über meine offenen Hände, die jetzt häufig<br />

etwas zum Greifen bekamen. Ich hielt es solange fest, bis<br />

es hindurch rutschte. Sollte ich jetzt diesem Reh die Hand<br />

mit der Kastanie reichen? Pa hatte mächtiges Fracksausen,<br />

wollte er sobald kein Krankenhaus mehr von Innen sehen.<br />

Angst essen Babies auf. Wir warfen die Kastanie durch den<br />

Zaun, direkt vor die Beine des zahmen Rehs. Dies ignorierte<br />

unsere wohlwollenden Absichten und schlich behäbig<br />

davon. „Wenn ich einmal älter bin, wünsche ich mir eine<br />

Dammwildtherapie“, flüsterte ich. Die nächste Etappe führte<br />

uns zum Kinderspielplatz. Hier erwartete mich die Attraktion<br />

des Tages. Eine klassische Rutschpartie. Pa nahm mich<br />

wiederholt in seine Arme, kletterte mit mir die Stufen hinauf,<br />

setzte mich in seinem Schoß und rutschte mit mir, heissassa,<br />

die Bahn hinunter. Bei meiner Rutschpremiere hatte ich<br />

doch reichlich Bammel, zeigte Anzeichen eines Anfalls. Der<br />

zweite Abgang <strong>–</strong> nicht zu verwechseln mit dem Angstschiss<br />

<strong>–</strong> war dann hypercool. Futti, der unerschrockene Ritter, mit<br />

Schmackes die Rutsche hinab. Endlich war ich Kind. Endlich<br />

durfte ich einmal etwas von der faszinierenden Welt, die<br />

mir sonst verschlossen blieb, erleben. Ich konnte „sehen“.<br />

Mit weit geöffneten Augen konnte ich Licht und Freundlichkeit<br />

in mich aufnehmen. Ich war ein glücklicher Bub, ein<br />

infantiler König mit langem goldenem lockigem Haar.<br />

Figaro<br />

Der Papa schaute mich kritisch von der Seite an und sprach:<br />

„Nein, nein, mein lieber Sohn. <strong>Du</strong> siehst ja aus wie der Müsli-Mann<br />

als Punk. Ein echter Campino unter den Blagen. Es<br />

roch nach ultimativen Entscheidungen. „Entweder wir<br />

flechten Pippi-Langstrumpf-Zöpfe im Stile eines infant-girlie<br />

oder du bekommst den Kaiserschnitt“. „Die-was-wärewenn-gewesen-Spekulation“<br />

betrachten wir an dieser heiklen<br />

Passage als en passe und wenden uns lieber dem<br />

bevorstehenden Ausflug zu einem Friseurgeschäft zu.<br />

145


146<br />

Unterwegs stellte sich wiederholt heraus, dass mein heiß<br />

geliebtes Gefährt, der Rehabuggy, grandiose atemtherapeutische<br />

Funktionen und Wirkungen hatte. Unter den<br />

enormen Vibrationen beim Schuckeln über den Asphalt,<br />

lösten sich meine tiefsten Sekrete des Brochialsystems und<br />

schossen wie Torpedos aus meinen Nasenlöchern heraus.<br />

Stunden später <strong>–</strong> die Strecke wurde leidlich abgesaugt <strong>–</strong><br />

erreichten wir schweißgebadet den Frisiersalon. Kaum hatte<br />

Pa die Bremsen meines Flitzers festgestellt, konnte ich<br />

eine erneute Kostprobe mit meiner „Schluck-auf-abernicht-hinunter-Attacke“<br />

unter Beweis stellen. Ich wollte<br />

damit lediglich den dezenten Hinweis geben, dass sich Vordrängen<br />

nicht lohnt. Pa musste sich zwangsläufig mit mir<br />

beschäftigen. Als ich jedoch nichts mehr zu bieten hatte,<br />

wurde Pa endlich salonfähig. Die Friseurmeisterin haderte<br />

schon mit ihrem Schicksal, zwei gerade gewonnene Neukunden<br />

wieder verloren zu haben, bevor auch nur ein Haarspitzchen<br />

ihrer Schere zum Opfer falle. Sie beäugte mich mit<br />

Skepsis, hatte große Zweifel, ob ich denn unter den beobachteten<br />

Umständen fit genug für einen Faconschnitt wäre.<br />

Für Old Daddy war der strapaziöse Weg jedoch mit dem einzigen<br />

Ziel verbunden, mir meine Mähne scheren zu lassen.<br />

Meine blonde Pracht stand kurz vor einer Ratze-putz-weg-<br />

Aktion. Nachdem Pa den Stuhl mit seinem neuen summerlook<br />

verließ, sollte nun ein Scherenwerk an mir verübt werden.<br />

Ich bestand beharrlich darauf, in meinem Buggy gestylt<br />

zu werden, andernfalls drohte ich mit einer Sabotage. Pa<br />

brachte mich in eine aufrechte Sitzposition, indem er mich<br />

am Nacken und am Rücken festhielt. Ich bekam eine gute<br />

Haltungsnote. „The first cut is the deepest!“ In meiner Position<br />

fühlte ich mich unerwartet locker und entspannt, genoss<br />

meinen allerersten Haarschnitt mit stoischer Gelassenheit.<br />

Meine Pupillen rollten ein wenig hin und her. Wie schon in<br />

Waldvelen, betrachtete ich das Szenario mit intensiver Aufmerksamkeit.<br />

Meine Haare wurden mit <strong>Was</strong>ser ein<br />

gesprüht und schnipp-schnapp waren sie ab. Ich fand das<br />

voll cool, gewann nicht nur eine neue spannende Impression,<br />

sondern einen Faible für beauty und wellness. Selbst<br />

Pa war von meiner Gelassenheit hin und her gerissen und<br />

sprach: „Die Premiere ist gelungen.“ Das veranlasste die<br />

Frau mit den Scherenhänden zu dem Ausspruch: „Na, dann<br />

mal bis nächste Woche!“ <strong>Was</strong> hatte das zu bedeuten? Entweder<br />

wachsen meine Haare binnen einer Woche auf<br />

Rapunzellänge, oder die gute Frau hat in mir einen Freund<br />

gefunden, der schnittiger nicht sein kann. Bei allem Respekt<br />

hatten mir die Atmosphäre und die Düfte einen new sense<br />

of comfort gegeben. Areviderci figaro!<br />

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148<br />

Cinema Paradiso<br />

Am Sonntag scheint mir die Sonne auf den Pelz<br />

da trotz` ich dem Leben, bin stark wie ein Fels<br />

Am Montag bin ich ein gepflegter Monsigneur<br />

da laß` ich mich baden bis unter die Öhr<br />

Am Dienstag laß ich mich ganz kräftig verwöhnen<br />

Massagen, Drainagen und Körperföhnen<br />

Am Mittwoch bin ich Mittendrin<br />

denn nur dabei macht doch keinen Sinn<br />

Am Donnerstag erschallen ganz wuchtige Lieder<br />

es treibt mir den Blues in alle Glieder<br />

Am Freitag naht das Wochenende<br />

dann klatsch` ich eifrig in die Hände<br />

Am Samstag sitz´ ich im Cinema<br />

Herr Taschenbier und das Sams sind auch schon da.<br />

Wir schlenderten gemächlich über den Hollywood Boulevard,<br />

überrollten Stars und Sternchen und standen plötzlich inmitten<br />

des Bistros unseres neuen Kinopalastes. Pa checkte die<br />

Akustik und bat den Kinobetreiber um eine rücksichtsvolle<br />

Sounddosierung, um meinen Ohrmuscheln nicht die Gelegenheit<br />

zu geben, das Filmereignis zu sabotieren. Der<br />

Betreiber willigte spontan ein. Er versprach uns freundlicherweise<br />

sogar Ersatzkarten, falls es tatsächlich zum<br />

Sabotageakt käme und wir den Saal frühzeitig verlassen<br />

müßten. Faxen hin und Faxen her. Ich wollte mir meine Kinopremiere<br />

unter keinen Umständen versauen lassen. Wir<br />

standen vor der Theke, wo allerlei Süßigkeiten, die mir für<br />

immer und ewig vergönnt blieben, feilgeboten wurden. Da<br />

kam ich auf die geniale Idee, das Vorprogramm mit einer<br />

heißen Runde Frühförderung zu starten. Damals hießen die<br />

Aktionen bei Pia noch „Bohnenbad“ oder „Kartoffelbreibad“.<br />

Die jüngste Kreation basalstimulierender Hautverarschung<br />

hieß jetzt Popcornbad. Anschließend schob<br />

man mich in den Kinosaal, bugsierte mich über einige Stufen<br />

hinauf bis hin zur obersten Reihe. Dort stellte man mich<br />

auf dem Gang ab, sogar mit dem Gesicht zur Leinwand. An<br />

das Popcorn hatten sie jedoch nicht gedacht, diese vermaledeiten<br />

Ignoranten. Plötzlich geschah Mysteriöses. Der<br />

Vorhang ging auf, es wurde zunehmend dunkler, der<br />

Adrenalinspiegel stieg, mir fielen die Augen zu. Damit hatte<br />

sich das Experiment „Reaktionen auf Lichtreize und Dolby-<br />

Surroundverfahren“ erledigt. Ich schlief, schnorchelte,<br />

träumte und vergaß alles um mich herum. Das arme Sams<br />

mühte sich derweil von Plot zu Plot, um all meine Aufmerksamkeit<br />

auf sich zu lenken, indem es seine Umwelt in allerlei<br />

Chaos stürzte. Schließlich waren wir beim letzten<br />

Wunschpunkt angelangt: Ich durfte nach Hause. Einige<br />

Tage später bekam ich von Papas Freund Andreas eine Hörspielkassette<br />

geschenkt. Ihr dürft ruhig erraten, wer sich da<br />

in meine Ohren einschlich. Natürlich das Sams. Es wurde<br />

mein Freund. Wir unterschieden uns ja nur wenig in unseren<br />

Essgewohnheiten. Während das Sams genüßlich alles, was<br />

nicht niet- und nagelfest war, in sich hinein schob, füllte<br />

man mir gar merkwürdiges Zeugs in den Magen, dass es<br />

einem schlecht wurde. Folglich kötzelte ich entschieden<br />

häufiger und mehr. Schließlich ließen wir Herrn<br />

Taschenbier förmlich im Regen stehen, Herrn Mohn und<br />

Frau Rotkohl auf dem überdimensionalen Tisch Unmengen<br />

an Würstchen futtern, begaben uns auf Tauchstation und<br />

krochen in die Tonne des Diogenes.<br />

149


150<br />

Diogenes und sonstige Kneipentouren<br />

Es kam jetzt häufiger vor, dass meine Eltern auf die Idee<br />

kamen, zwischen meinen beiden letzten Mahlzeiten, der um<br />

18.30 und der um 21.45, ein Restaurant aufzusuchen. Die<br />

Verfressenen, der Griechischen Küche Frönenden, nannten<br />

das ironisch Zwischenmahlzeit. Wir begaben uns also in das<br />

Lieblingsrestaurant der Beiden, das Diogenes Palace. Dort<br />

war ich ausnahmslos auf eine undankbare Zuschauerrolle<br />

reduziert, las mit jedem Bissen, den die beiden zu ihren<br />

Mündern führten, meine Sehnsucht nach einem der genüßlichsten<br />

Dingen des menschlichen Lebens von ihren Lippen<br />

ab. Von den Essgewohnheiten meiner Erzeuger möchte ich<br />

mir allerdings eine Berichterstattung ersparen. „Oh, lieber<br />

Castillo Morales, warum musste ich auf deine Orofaciale<br />

Regulationstherapie verzichten?“ Ich hätte mich wahrlich<br />

gerne in der Tonne des Diogenes verstecken wollen und nie,<br />

nie wieder heraus kommen wollen. Dann verließen wir den<br />

Diogenes Palace und kehrten in eine andere Gaststätte ein.<br />

Wie gesagt, meine Eltern nahmen dort nur eine Zwischenmahlzeit<br />

ein. Wir begaben uns nach Billerbeck zu<br />

einer Familienfeier, der Rubinhochzeit von Mamas Eltern.<br />

Hier hatte ich erneut die Möglichkeit den zahlreichen Familienmitglieder<br />

in die Mäuler zu schauen. Dazu kam es<br />

jedoch nicht. Mein elfjähriger Cousin Rene hielt mich davon<br />

ab. Er hatte so ein merkwürdiges Spielzeug, einen kleinen,<br />

mit <strong>Was</strong>ser gefüllten, durchsichtigen Plastikkasten, ähnlich<br />

einer Schneekugel. In diesem Kasten befanden sich oberhalb<br />

zwei gegenüberliegende Tore mit je einem Torhüter und<br />

unterhalb zwei Feldspieler. Per Druckknopf bewegten sich<br />

die Beine und Arme der Spieler ähnlich wie beim Tipp-Kick.<br />

Das Spiel war sozusagen ein Unterwasser-Fußball-Tipp-<br />

Kick. Der arg getretene Ball musste sich wellenförmig durch<br />

das <strong>Was</strong>ser bewegen, um ins gegnerische Tor zu gelangen,<br />

was der hütende Torwart zu verhindern versuchte. Mein<br />

enthusiastischer Cousin spielte nun stundenlang gegen<br />

einen schier übermächtigen Gegner, gegen mich. David<br />

gegen Goliath. Jedes Spiel war dann beendet, wenn ein<br />

Spieler zehn Tore erzielt hat. Ich hatte so an die zwanzig<br />

Spiele gewonnen, alle, ohne je ein Gegentor erhalten zu<br />

haben. Ich war der unbezwingbare King of Watersoccer, ein<br />

Kahn unter <strong>Was</strong>ser. Rene kommentierte meine Siege wie<br />

ein sich vor Begeisterung kaum rettender Sportreporter. Es<br />

wurde ihm nicht bange um seine eigenen katastrophalen<br />

Leistungen. „Luca gewinnt immer“, rief er völlig fassungslos.<br />

Nachdem sich alle einen Knoten in ihre Speiseröhren<br />

gegessen hatten, freute ich mich nur noch auf eines <strong>–</strong> auf<br />

mein Bett!<br />

151


152<br />

Achtzehntes Kapitel<br />

Die letzten Tage eines kleinen Kämpfers<br />

Wie man mit Nonchalance dem Tod begegnete<br />

Der Zeitpunkt nahte unweigerlich. Eine neuerliche Trennung<br />

stand bevor. Eine Trennung, die mit dem Begriff der<br />

Kurzzeitpflege verbunden war. Damals konnte ich einen<br />

Urlaub in der Villa Dorothee ja noch erfolgreich abwenden.<br />

Aber jetzt? „ Batolio, Batolio! Ich will nicht fort. Ich will nicht<br />

in die Kinderlandverschickung.“ „Ach Luca, mein treuer Spezi.<br />

Es geht doch gar nicht aufs Land. Es geht doch in die Großstadt.<br />

Es geht in die Verbotene Stadt. Gelsenkirchen. Ich kann<br />

es kaum aussprechen, so merkwürdig klinkt es.“ „ Ich willll<br />

abbber nich`!“ „Komm mit! Komm mit ins Kurzeitpflegeland.“<br />

„Nie, nie, nimmer, niemals segle ich über die Gelsenkirchen,<br />

geschweige denn, dass ich dort landen und das Boot betreten<br />

werde,“ „<strong>Du</strong> wirst sehen, mein lieber Kamerad. Es werden<br />

happy Holidays. Mit der Arche Noah über die Emscher schippern<br />

und der großen weiten Welt den eingeknickten Daumen<br />

zeigen.“ „Aber ich bin so allein. Allein wie ein Stein.“ „Futti<br />

baby! <strong>Du</strong> <strong>bist</strong> nicht allein. <strong>Du</strong> wirst nicht allein sein. <strong>Du</strong><br />

bekommst doch Zuwachs. <strong>Du</strong> bekommst ein Geschwisterchen.<br />

Am 27. Dezember wird es in den frühen Morgenstunden<br />

zur Welt kommen. Ein prachtvolles Kind wird dir zur Seite<br />

gestellt. Ein Bruder Yorick oder eine Schwester Zoe. Es wird<br />

weinen, schreien, glucksen, dich eines Tages mit süßen Grübchen<br />

und zarten Lippen anlächeln. <strong>Du</strong> wirst der große Bruder<br />

sein und wir werden dein stolzes Strahlen sehen.“ Am Tag, an<br />

dem die Bevölkerung <strong>–</strong> oder zumindest ein Teil dieser <strong>–</strong> den<br />

Stephanus steinigte, wurde ich getrennt. Pate Gottfried und<br />

seine Angetraute Maria, Ma, Paps und Old Flatternase<br />

chauffierten mich in den Pott, für einen Tag und eine Nacht<br />

ins Marien-Hospital, sowie für fünfzehn Tage und Nächte in<br />

die Arche Noah. Es wurde ein wehmütiger Abschied. Mein<br />

Bett füllte sich mit einer einzigen, riesigen Kullerträne. Ferien<br />

vom ich. Ferien vom Familienalltag. Ferien ohne Batolio.<br />

Mit der Arche in See stechen und allen Unwettern trotzen.<br />

Mit meinem Buggy vorbei an den in meeresblau leuchtenden<br />

Gängen, wo die Fußleisten sich in Wellen entlang der<br />

Wände bewegen, wo die Lampen Bullaugen gleichen. Wenn<br />

ich nun seekrank würde, mein Zustand sich verschlechtern<br />

würde, der Regenbogen am Horizont seine satten Farben<br />

verlieren würde? Dann bietet die Arche Hospiz. „Schau, der<br />

Ozean blutet. Ich treibe. Der Ozean schluckt meine Worte.<br />

Ich bin allein.“ Noch am selben Abend wurde Ma von Pa<br />

getrennt. Ma kam auf die Entbindungsstation von meinem<br />

Freund St. Vincenz. Sie wurde getrennt von der Nabelschnur<br />

meines Geschwisterkindes; getrennt ohne Knoten,<br />

Schlingen und Ösen. Er war da, wohl proportioniert gesund<br />

und mopsfidel. Mein kleiner Bruder Yorick Noah. Welch ein<br />

wundervoller Tag. Ich weilte in der Ferne in Gelsenkirchen-<br />

Ückendorf, wo sich alle liebevoll um mein Wohlergehen<br />

sorgten. Doch ich hatte Heimweh. Margret war am Morgen<br />

der Geburt meines Bruders nach GE-Town gekommen und<br />

hatte mich vom Hospital zum Kutter geschleppt. Vertraute<br />

Personen sind etwas sehr Beruhigendes, denn ich war<br />

reichlich durch den Wind. Danach fühlte ich mich besser,<br />

ich akklimatisierte mich. Doch dann sammelte sich plötzlich<br />

reichlich Meerwasser in meinem Körper an. Als meine<br />

Eltern und Yorick mich an einem Samstag im Januar 2002<br />

besuchten, schauten sie auf einen aufgedunsenen, schläfrigen,<br />

seekranken Buben. Kapitän Luca bekam seine Kieker<br />

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nicht auf und hatte auch sonst nichts zu melden. Nach einigen<br />

Stunden fuhren sie wieder fort, zurück in meine Heimatstadt.<br />

Warum hatten sie mich nicht mitgenommen? Sie<br />

konnten doch immer aus meinem Gesicht lesen, wie es mir<br />

ging. Sie hätten doch erkennen müssen, dass ich eine Sehnsucht<br />

hatte, so groß wie der Atlantische Ozean. Es fing an zu<br />

bluten. Mein Popo <strong>–</strong> wieder einmal eine rot-fetzige Hautlandschaft.<br />

Meine Lippen <strong>–</strong> aufgerissen, blut verkrustet.<br />

Dann schöpfte ich neuen Mut. Batolio trudelte ein und verkündete<br />

den 10. Januar als meinen Abholtermin. Das ist<br />

schon bald. Ich fühlte mich erleichtert. Meine Ferien waren<br />

gut, aber etwas zu lang. Zwischenzeitlich hatte ich einmal<br />

eine bessere Phase. Ich durfte sogar in das Schwimmbad.<br />

Endlich war es soweit. Papa kam mit seinem Kumpel Detlef.<br />

Wir packten seinen Bulli mit meinem Krempel voll und steuerten<br />

mit einigen satten Knoten meinen Heimathafen an.<br />

Batolio hatte kein Seemannsgarn gesponnen, so wie es<br />

Kapitän Blaubär immer tat. Der Segeltörn war beendet.<br />

Zuhause angekommen, habe ich erst einmal tüchtig ausgeschlafen<br />

und von Margret geträumt. Als sie mich dann am<br />

folgenden Morgen in die Arme schloss, war ich wieder ganz<br />

der Alte. Futti, das Kind mit dem faustdickem Charme hinter<br />

den Ohren. Margret legte meine CD von der Augsburger<br />

Puppenkiste in den Player. Ich jubelte, da der Seeelefant von<br />

der Scholle ins Meer geplumpst war und aufgehört hatte<br />

traurige Balladen zu röhren. Ich war glücklich zurück im<br />

Schoß meiner Familie gelandet. Doch die Landung hatte<br />

einen Knoten. Ich sollte noch sechs mal in diesem Jahr in<br />

Urlaub fahren. Kurzzeitpflege in der Kinderheilstätte Nordkirchen.<br />

Sechs Einheiten von jeweils fünf Tagen. Ich bekam<br />

eine Krise. Es war Batolios Besonnenheit zu verdanken, dass<br />

die erste Einheit, die schon im Februar angestanden hätte,<br />

kurzerhand abgesagt wurde.<br />

Jetzt hatte ich ein wenig Zeit für Yorick, die olle Plärrnase.<br />

Wo war der überhaupt? Oje! Der lag plötzlich auf mir und<br />

staunte sich die Glubscher aus dem Kopf. Er war gut drauf,<br />

hyper ausgeglichen und hatte eine pfiffige Mimik. Zudem<br />

hatte er einen Saugstil drauf, dass sich die Knospen bogen.<br />

Voll der Säugling, für den es sich lohnen würde, ein 50-Liter-<br />

Faß feinster Muttermilch zu spendieren. Der verputzte die<br />

edlen Tropfen, dass ich vor Neid erblasste. Erblassen tat ich<br />

dann sowieso zunehmend. Gegenüber dem leicht<br />

gelbsüchtig koloriertem Teint meines Bruders sah ich aus<br />

wie der Inhalt eines Persilkartons. Alle sahen blass aus.<br />

Mama wurde krank <strong>–</strong> Brustentzündung. Kaputt gesaugt.<br />

Papa wurde krank <strong>–</strong> Halswirbelsäulen-Syndrom. Mamis<br />

Hebamme verteilte Kügelchen aus ihrer homöopathischen<br />

Hausapotheke. Pa konnte sich plötzlich noch weniger<br />

bewegen als ich, hätte beinahe meinen gesamten Bestand<br />

an Paracetamol, Novalgin und Diazepam geschluckt. Er<br />

kauerte die ganze Nacht in einer schonenden Position auf<br />

der Wohnzimmercouch, regungslos mit den Schmerzen ringend.<br />

Am nächsten Morgen rief er den Notarzt an und ließ<br />

sich eine Schmerz lösende Injektion verpassen. Alle hingen<br />

in den Seilen. Der Haushalt brach Stück für Stück zusammen,<br />

oder drohte sich sogar aufzulösen. Eine Haushaltshilfe<br />

namens Irmgard wurde engagiert, um alles wieder<br />

zurecht zu flicken. Margret und Brigitte, eine weitere Mitarbeiterin<br />

von Klabautz, kamen jetzt abwechselnd morgens<br />

und abends. Pa war derart außer Gefecht gesetzt, dass er<br />

mich in den folgenden drei Wochen nicht mehr ins Bett bringen<br />

konnte.<br />

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Das geflügelte Wort des Rückenschonprogrammes machte<br />

die Runde. Mein Kinderpflegezimmer sollte mit einer Hubbadewanne<br />

ausgestattet werden, weil unser Badezimmer<br />

für Umbaumaßnahmen ungeeignet war. Obwohl ich kaum<br />

an Gewicht zunahm <strong>–</strong> zehn Kilogramm hatte ich nie überschritten<br />

<strong>–</strong> sah sich keiner mehr in der Lage, mich auf Dauer<br />

hin und her zu tragen. Statt dessen würde ich bald per<br />

Deckenlift aus dem Bett heraus direkt ins das wohl temperierte<br />

<strong>Was</strong>ser plumpsen. Herrliche Zeiten standen bevor,<br />

gäbe es nicht diese verdammten Fieberzacken und Antibiotika.<br />

Papa lag derweil im Fangobett und glühte wie das<br />

Weißbrot im Toaster. Es folgten sich ständig abwechselnde<br />

Phasen mit Fieber und Untertemperatur, die nur kurzzeitig<br />

durch eine sensationelle Meldung unterbrochen wurden.<br />

Meine Uroma war aus ihrem Altenheim in Rodenkirchen<br />

getürmt, fuhr ein paar Stationen mit der U-Bahn in ihre ehemalige<br />

Heimatstadt, gönnte sich eine Taxifahrt zum Rheinufer<br />

und marschierte zu den Rheinwiesen, die vom Hochwasser<br />

reichlich getränkt waren. Dann der Rheinfall. Ein 13jähriger,<br />

aufgeweckter, Bub mit einer Rettungsausbildung<br />

fischte sie couragiert aus dem <strong>Was</strong>ser, kurz bevor sie drohte<br />

Richtung Köln abzudriften. Die Aktuelle Stunde berichtete.<br />

Nichts als Aufregungen in der Familie. Oma bekam weder<br />

eine Lungenentzündung, noch eine Erkältung. Unsereiner<br />

konnte sich da vor Lungenentzündungen kaum retten. Der<br />

Februar kam mit frühlingshaften Temperaturen. Walking<br />

time. „Everywhere you go, always take the wheather with you“,<br />

summte Batolio vor Freude über das geniale Ausflugswetter.<br />

Darauf erwiderte ich: „Ich bräuchte mal eine neue Sitzschale,<br />

sonst hängt mir der Kopp beim Ausflug schräg“, derweil<br />

mein Kopf tatsächlich über hing. Mein zweiter Geburtstag<br />

stand bevor. Am 17. Februar trafen wir uns bei Diogenes in<br />

der Tonne. Es wird mein letzter Restaurantbesuch mit der<br />

Familie, Gottfried und Maria sein. Am darauf folgenden Tag<br />

wäre ich für fünf Tage nach Nortkirchen gefahren. War ja<br />

Gott sei dank gecancelt. In der Nacht vom 19. Auf den 20.<br />

Februar bekam ich Nasenbluten. Ma führte dies auf eine<br />

mögliche Verletzung mit dem Absaugkatheter zurück. Margret<br />

hatte ganz andere Sorgen. Mein Hämoglobinwert schien<br />

abgestürzt zu sein. Kinderarzt Hans-Josef kam zur Blutentnahme.<br />

Meine Venen verweigerten sich. Viermal hatte<br />

er vergeblich zu gestochen und war mit keinem einzigen<br />

Tropfen davon gedackelt. Kein Blut, kein Labortest, keine<br />

Erkenntnis, keine Maßnahme. Mittlerweile war das Hochwasser<br />

abgelaufen, volle Kanüle in meine Hände, Füße und<br />

Beine. Ich hatte scheinbar mehr <strong>Was</strong>ser als Blut. Margret<br />

verdächtigte mein Herz. Es könnte nicht intakt sein. Dottore<br />

Hubert vom St. Vincenz-Hospital sollte schon einmal das<br />

Herz-Ultraschallgerät bereitstellen. Wir bekamen einen Termin<br />

um zwei Uhr nachmittags am folgenden Donnerstag,<br />

den 21. Februar, fünf Tage vor meinem Geburtstag. Ich<br />

blickte in die Welt, mit kranken, geschwollenen Augen.<br />

Batolio hing ängstlich zusammengekauert am Fußende<br />

meines Bettes und röchelte Worte der Bedeutungslosigkeit.<br />

Es gab nicht viel Zeit zu verlieren. Wir müssen jetzt schon<br />

los. Margret hatte es am Donnerstag morgen die Sprache<br />

verschlagen. Stoneface Klabautz. Sie begleitete uns in Hospital,<br />

wo St. Vincent´s Hände verrieten, dass er mich diesmal<br />

nicht da behalten würde. Dr. Hubert Gerleve schaute verwundert<br />

in die Runde, als er den Ultraschallkopf auf meiner<br />

eng gezogenen Trichterbrust hin und herbewegte. „Ja!<br />

Schlägt denn kein Herz in seiner Brust, zum Kuckuck?“,<br />

fragte er mit sorgenvoller Mimik. „ Doch, sicher doch! Mein<br />

Herz ist klein. Mein Herz ist rein. Doch verrate ich euch nicht,<br />

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wo es ist“, gab ich den Beobachteten Rätsel auf. Hubert<br />

schien zugleich fasziniert und irritiert zu sein. „Normalerweise<br />

halte ich den Kopf des Gerätes an diese Stelle hier <strong>–</strong> er<br />

zeigte auf die betreffende Stelle links neben meinem Brustbein<br />

<strong>–</strong> um es auf dem Bildschirm zu sehen. Jetzt halte ich den<br />

Kopf hier hin und habe es gefunden.“ Mein Herz lag in meiner<br />

rechten Achselhöhle und pochte gemächlich vor sich<br />

hin. Es hatte sich einfach verzogen, dieses verschlagene<br />

Organ. Es hatte den Zusammenbruch der rechten Lunge<br />

abgewartet, und war dann flugs ab durch die Mitte in die<br />

kuschelige Höhle gewandert. Jetzt konnte ich auch meinen<br />

Kinderarzt verstehen. Der hatte sich, nach meiner Bronchoskopie,<br />

stets über sein Stethoskop gewundert, hatte dies<br />

ihm doch Geräusche in seine Ohren übermittelt, die darauf<br />

hätten schließen können, dass sich meine Lunge erholt<br />

anhörte. Es war mein Herzschlag, gepaart mit meiner inneren<br />

Brodelmasse. Verarscht, verarscht! Plötzlich hätte ich zu<br />

treten können. Irgendwer stach brutal in meinen Fuß ein<br />

und stocherte herum, als suchte er eine Ölquelle zu entdecken.<br />

„Alle Kinder haben hier eine Blutquelle, nur Luca<br />

nicht“, rief Hubert leicht entnervt. Er meinte natürlich eine<br />

Arterie. An meine Venen traute er sich eh nicht mehr heran.<br />

Dann floss mein Blut doch noch ins Labor. Der HB-Wert war<br />

erschreckend niedrig. Sauerstoff wird nicht ausreichend<br />

transportiert. Margret hatte schon intuitiv mein mobiles<br />

Sauerstoffgerät mitgenommen, da sie schon unterwegs mit<br />

Problemen rechnete. Nur 8000 Thrombozyten, bei einem<br />

Normalwert zwischen 150000 und 250000. „Batolio, Batolio<br />

<strong>–</strong> du hast mir doch von deinen Blut saugenden Artgenossen<br />

in Süd- und Mittelamerika erzählt. „Hol sie her, aber pronto.<br />

Ich brauche dringend eine Transfusion.“ Batolio war<br />

unglücklich: „No chance! Die Flugzeit ist zu lang.“ „Wir könn-<br />

ten ihm eine Transfusion verabreichen. Das hat jedoch nur<br />

eine aufschiebende Wirkung. Und überhaupt, das Problem<br />

mit der Zugangslegung“, hieß es aus ärztlicher Sicht. Mir<br />

kamen böse Vorahnungen: „Ich stehe überhaupt nicht mehr<br />

auf Quälerei. Die Sterbeuhr tickt. Das Blut läuft. Die Thrombozythenarmee<br />

ist schwach und reichlich dezimiert, um<br />

den Blutfluss zu stillen. Ich will zurück in mein Bett. Ich will<br />

in Ruhe sterben. Ich will nach Hause, zu meinen Lieben. Ich<br />

brauche Vertrautheit, Nähe, Wärme, Geborgenheit, Zuneigung,<br />

Begleitung, Frieden. Ich brauche eine rationelle, von<br />

Würde und Courage getragene Entscheidung, hier und<br />

gleich und jetzt sofort.“<br />

Batolio fasste all seinen Mut zusammen: „Dein letzter Wille<br />

soll geschehen“. Wir fuhren nach Hause. Ich wurde in mein<br />

geliebtes Bett gelegt. Alles wurde liebevoll hergerichtet.<br />

Meine Lieblingswolldecke, mein buntes Oberbett, das meinen<br />

kleinen Körper umschließende, Schutz gebende Stillkissen<br />

und mein Corpomedring zur Lagerung meiner von<br />

Ödemen gepeinigten Beine. Ich bekam meine Lucaente in<br />

die eine und das Kirschkernkissen in die andere Hand<br />

gedrückt. Aus dem CD-Player ertönte wohltuende, meditative<br />

Musik, Töne die mich immer beruhigten. Margret hatte<br />

sich vorgenommen, vorläufig nicht mehr zu schlafen. Sie<br />

wollte mein Nacht wachender Schutzengel sein. Batolio<br />

und ich hörten Pink Floyd´s Longplayer „Echoes“ von der<br />

1971 erschienen Platte „Meddle:<br />

„Droben hängt der Albatros<br />

bewegungslos in der Luft<br />

und tief unter den rollenden Wellen<br />

in Labyrinthen aus Korallenhöhlen<br />

weht ein Echo aus einer fernen Zeit<br />

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über den Sand<br />

und alles ist grün und submarin (Erste übersetzte Strophe)<br />

Alles war rot. Es blutete. Plötzlich blockierte das Absauggerät.<br />

Eine Firma musste dringend ein Ersatzgerät liefern.<br />

Das Blut, es lief mir aus Nase und Mund. Ich war hellwach,<br />

jammerte und stöhnte. Panik stand mir im Gesicht geschrieben.<br />

„Margret leg` die Hände auf. Ich will Kontakt. Oh, ja <strong>–</strong> das<br />

beruhigt“<br />

Bloody Friday<br />

Es bildeten sich Petechien unter meiner Stirnhaut und den<br />

Schläfen. „Berührt mich bitte nicht zu sehr. Ich bin so sehr<br />

schmerzempfindlich.“ Ich bekam ein Hämatom am Hals und<br />

eines in der rechten Leiste. „Legt mir ein Kissen unter den<br />

Kopf. Ja, das tut gut. Die Nacht wird wieder anstrengend,<br />

schlaflos, blutig.“ Alle Maßnahmen wurden vorsichtig ausgeführt.<br />

Kontaktatmung, Nasen-, Lippen- und Mundpflege,<br />

alles hypersensibel. Ab jetzt war es besser, mich nur noch zu<br />

zweit zu pflegen. Ich würde sonst schreien, wenn ich es doch<br />

nur könnte. Ma half Margret beim Ausziehen, <strong>Was</strong>chen und<br />

Anziehen. Stärkere Schmerzmittel werden eingesetzt. Ich<br />

kämpfte weiter, presste, stöhnte, erduldete Schmerzen.<br />

War mein gesamter Organismus einem konstanten<br />

Schmerz ausgesetzt?<br />

Oder war der Schmerz nur partiell und wechselte von<br />

Körperregion zu Körperregion? Ich ging davon aus, dass ich<br />

den Schmerz als Bestandteil meines Lebens von Geburt an<br />

erleiden musste. Ich fühlte den Schmerz. Also bin ich !<br />

Wo immer sich der Schmerz auch lokalisierte <strong>–</strong> mir fehlte es<br />

schlicht an Ausdrucksmöglichkeiten. Die Schmerzdiagnostiker<br />

waren ratlos, wortlos, machtlos.<br />

Nach einem epileptischen Anfall war ich ein Kopfschmerz.<br />

Während und nach der Nahrungsaufnahme war ich ein<br />

Bauchschmerz.<br />

Nach einer Oberschenkelfraktur war ich ein Knochenschmerz.<br />

Aufgrund meines Schiefwachstums war ich ein Wirbelsäulenschmerz.<br />

Nach erhöhten Muskelkontraktionen war ich ein Muskelund<br />

Gelenkschmerz.<br />

Nach <strong>Was</strong>sereinlagerungen war ich ein Gewebeschmerz.<br />

Nach anfallsartigen Sekretattacken war ich ein Bronchialschmerz.<br />

Ich war ein Hals-Nasen-Ohren-Schmerz.<br />

Ich war ein Augenschmerz.<br />

Ich war ein Lippen-Kiefer-Gaumen-Schmerz.<br />

Ich war ein Zahnschmerz.<br />

Ich war ein rasender, pochender, schlagender, stechender<br />

Akutschmerz.<br />

Ich war ein chronisches Weh.<br />

Mir schmerzte der Arsch und ich musste es aussitzen.<br />

Wo immer ich auch gelagert und gebettet wurde <strong>–</strong> der<br />

Schmerz war schon da.<br />

Und wenn die Nacht am tiefsten und der Morgen am nächsten,<br />

lag ich wach, mit ängstlichen Augen, und spürte den<br />

Schmerz.<br />

Dann stieg meine Körpertemperatur ganz lautlos, wie die<br />

Stille der <strong>Du</strong>nkelheit, an:<br />

36.0 <strong>–</strong> 36.3 <strong>–</strong> 36.9 <strong>–</strong> 37.2 <strong>–</strong> 37.5 <strong>–</strong> 37.8 <strong>–</strong> 38.1 <strong>–</strong> 38.4 <strong>–</strong> 38.7<br />

39.0 <strong>–</strong> 39.3 <strong>–</strong> 39.6 <strong>–</strong> 39.9 <strong>–</strong> 40.2 <strong>–</strong> 40.5 <strong>–</strong> 40.8 <strong>–</strong> 41.1<br />

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Am Samstag kommt der Eisbär<br />

Nach einer unruhigen Nacht mochte ich morgens weder<br />

angefasst werden, noch war mir nach meiner meditativen<br />

Musik zumute. Im Laufe des Vormittages ging es mir dann<br />

wieder ein wenig besser. Margret, die nach der, auch für sie<br />

anstrengenden Nacht, eine Mütze voll gutem Schlaf<br />

benötigte, wurde von Brigitte abgelöst. Ich wurde gemeinsam<br />

von ihr und Pa versorgt. Anschließend machte Brigitte<br />

mein Bett neu zurecht, derweil ich für einige Minuten auf<br />

Pa`s Arm durfte. Das allerletzte Mal durfte ich diesen engen<br />

Körperkontakt erleben. Später kam Ma und legte mir<br />

Eispads auf die geschwollenen Lider. Meine Ödeme<br />

nahmen rasant zu. Dann legte man mir das Hörspiel: „Der<br />

kleine Eisbär“ in den Player. Ich war noch einmal ganz Ohr,<br />

verfolgte aufmerksam die Geschichte des Eisbären. Es wurde<br />

Abend. Ich hatte meine vorletzte Nahrung ausgebrochen.<br />

Meine Kleidung war teilweise arg verschmutzt und<br />

nass. Eine Umziehprozedur hätte ich nicht über mich ergehen<br />

lassen können. Ich wurde trocken gefönt. Mein Po blutete.<br />

Er wurde mit Salbeitee und Papier getupft. Meine letzte<br />

Nacht brach an, leidvoll und unbarmherzig. Pressen und<br />

Stöhnen, Blut, Schleim und Nahrung ergossen sich. Man<br />

hörte dumpfes Schreien. Mein Pulsschlag erhöhte sich, es<br />

kam immer häufiger zu Sauerstoffsättigungsabfällen.<br />

Den Bären-Traum tanzen<br />

Wenn ein Mensch krank ist,<br />

Verwandle ich mich in einen Bären<br />

Den Großen Bären der Ersten Schöpfung<br />

Mein Pelz ist weiß -<br />

Doch nicht, weil ich ein Eisbär wäre.<br />

Ich bin der Bär der Ersten Schöpfung.<br />

Ich lecke sorgsam meine Tatzen,<br />

Umschließe den Menschen mit meinen Armen,<br />

Drücke ihn an mich mit all seinen Schmerzen.<br />

Dann blase ich über seinen Leib<br />

Meinen heilenden Atem -<br />

Den Geist-Atem der Ersten Schöpfung<br />

Bärenlied „Spirit Spirit“ des Eskimo-Schamanen Reindeer Chukcl<br />

Das Fieber war auf 40° Celsius angestiegen. Ma half Margret<br />

beim Umlagern. Ich war total schlapp und widerstandslos.<br />

Die Hämatome am Kopf und am rechten Auge<br />

wurden größer. Meine Oberschenkel und Füße waren prall<br />

mit <strong>Was</strong>ser gefüllt. Ich schied nichts mehr aus. Der Tag verlief<br />

ruhig. Ich konnte ein wenig schlafen. Gegen fünf Uhr<br />

nachmittags kam Margret von ihrem Tagesschlaf zurück.<br />

Die vierte Nachtwache in Folge? Als ich ihre Stimme hörte<br />

und ihre Berührung spürte, wusste ich, das ich gehen durfte.<br />

Ich hatte sie alle beisammen, meine liebgewonnen Menschen.<br />

Meine Atmung beschleunigte sich rasant. Es folgten<br />

längere Atempausen. Ich begann zu röcheln. Zunehmend<br />

kam es zu heftigeren Sättigungsabfällen. Ich bekam eine<br />

Sauerstoffvorlage von 0,5 Litern. Meine Haut sah gelblichblass<br />

bis grau aus. Man bestellt Polamidon, ein morphinähnliches<br />

Schmerzmittel. Gegen sieben Uhr wurde<br />

meine Sterbezeit eingeläutet. Es folgten weitere Sätti-<br />

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gungsabfälle. Ich spuckte Magensäfte. Meine Atmung hieß<br />

jetzt Cheyne-Stokes-Atmung, eine periodisch an- und<br />

abschwellende Atmung mit Atempausen. Mein Kopf war<br />

heiß, Hände und Füße kalt. Ich bekam Eispads auf Kopf und<br />

Lider. Dann setzte Tachycardie und Schnappatmung ein. Es<br />

war jetzt halb acht. Margret hatte Ma noch kurz zuvor bei<br />

einem Gespräch in der Küche erzählt, dass alle Kinder kurz<br />

vor ihrem Tod noch einmal die Augen öffnen. Pa saß derweil<br />

mit Winnie im Wohnzimmer. Winnie, der über das letzte<br />

Untersuchungsergebnis vom Donnerstag unterrichtet wurde,<br />

blieb seither im steten Kontakt. Er hatte sich für den morgigen<br />

Montag zu Besuch angemeldet, hielt es aber letztlich<br />

nicht mehr zu Hause aus. Seine Frau begriff seine Unruhe<br />

und schickte ihn fort.<br />

Ich fiel zunehmend ins Koma. Eine viertel Stunde nach acht<br />

war ich weggetreten, meine Augen waren geschlossen.<br />

Mein Zustand verschlechterte sich dramatisch. Pa wurde<br />

schnell hinzu gerufen. Ma und Pa standen an meiner linken<br />

Betthälfte und hielten je eines meiner Hände. Sie warteten<br />

traurig auf mein leises Servus. Beim rasanten Abfall meines<br />

Sauerstoffgehaltes auf unter dreißig Prozent wurde die<br />

Maschine abgestellt. Um 20.40 Uhr öffnete ich mein linkes<br />

Auge um einen Spalt. Alle waren da. Ich konnte gehen. Noch<br />

zwei, drei Atemzüge <strong>–</strong> ich schloss die Augen.<br />

Neunzehnter Akt<br />

Die Tränen des kleinen Eisbären<br />

Wie Batolio seine Abschiedsworte spricht<br />

Stumm liegst du da. Regungslos mit geschlossenen Augen.<br />

<strong>Du</strong> siehst friedlich aus, als wäre dir der schlafende Übergang<br />

vom irdischen Leben in eine neue Dimension sehr<br />

leicht gefallen. <strong>Du</strong> hast viel Blut verloren, es trat kaum eine<br />

Leichenstarre ein.<br />

Selbst ihm Tod hast du, mein lieber Freund Luca, eine ausdrucksstarke<br />

Würde.<br />

Ebenso würdevoll haben deine Mutter Birgit und deine liebgewonnene<br />

Krankenschwester Margret dich gewaschen<br />

und umgezogen.<br />

Jetzt liegst du auf dem Rücken mit dem Kopf zu deiner<br />

geliebten rechten Seite.<br />

Deine farbenfrohe Wolldecke umhüllt deinen Körper bis<br />

zum Sternum, die Arme liegen entspannt nach außen. Deine<br />

rechte Hand umfasst die gelbe Lucaente mit dem orange<br />

farbigen Halstuch. Deine linke Hand umfasst das Kirschkernkissen.<br />

In deiner rechten Armbeuge befindet sich eine<br />

Rassel. Die Schneckenspieluhr von Patenonkel Gottfried<br />

blickt vom Kopfende auf dein Gesicht herab. Aus dem CD-<br />

Player ertönt deine Lieblingsmusik.<br />

Dann herrscht Stille im Raum.<br />

Am folgenden Morgen benachrichtigen wir den Bestatter,<br />

bitten ihn darum, dich bis einschließlich Dienstag nachmittag<br />

bei uns behalten zu dürfen.<br />

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Am Mittwoch wollen wir dich feierlich beisetzen, dich auf die<br />

letzte Reise in das Paradies schicken.<br />

Vater Wolfgang und Margret kleiden dich festlich für diese<br />

Reise zurecht.<br />

Etliche Freunde, Großeltern und andere liebe Menschen, die<br />

dich begleitet haben, erweisen dir an deinem Bett die allerletzte<br />

Ehre.<br />

Wir sind traurig, dass du zu früh von uns gegangen <strong>bist</strong>.<br />

Wir sind traurig, dass du deinen zweiten Geburtstag nicht<br />

mehr erleben durftest.<br />

Wir sind traurig, dass wir dich bald nicht mehr sehen.<br />

Wir sind froh, dass du auf deinen Bruder Yorick gewartet hat.<br />

Wir sind froh, dass dein schweres Leiden ein Ende hat.<br />

Wir sind froh, dass deine Seele unsere Räume erhellt und<br />

unsere Herzen erwärmt.<br />

Wir stellten eine große, von unseren guten Freunden Manuela<br />

und Christoph selbst hergestellte Kerze mit dem Schriftzug<br />

deines Namen auf. Die Kerze trägt die Symbole deiner<br />

Kraft, deines Charmes und deines Leidens.<br />

Eine gelbe Sonne, einen Regenbogen und viele Regentropfen.<br />

Am Dienstag nachmittag gegen drei Uhr haben Papa und<br />

der Bestatter deinen Leichnam in deinen kleinen, blauen<br />

Sarg gelegt und aus dem Haus getragen.<br />

Wir sagen leise: „Servus“.<br />

Pia ist am späten Abend des selben Tages zu uns gekommen,<br />

um dich in der Aufbewahrungshalle zu sehen; um<br />

Abschied von dir zu nehmen. Sie hat für dich eine Fortbildungsveranstaltung<br />

in Süddeutschland abgebrochen, hat<br />

sich in den nächsten Zug gesetzt, um noch einmal nahe bei<br />

dir zu sein.<br />

Wir schauen ein letztes Mal auf dich, voller Sehnsucht,<br />

Liebe und Trauer.<br />

Am Tag deiner Abschiedszeremonie zählen wir 85 Personen,<br />

die alle gekommen sind, um dir ein letztes Geleit zu<br />

geben.<br />

Nach Tagen endlosen Regens ist es heute trocken und heiter.<br />

Nach einem beeindruckendem Wortgottesdienst, begleitet<br />

von Orgelmusik und Lisas Flötenspiel, stehen wir vor deinem<br />

Grab, anmutig und traurig in unseren Herzen.<br />

Freunde kommen und trösten deine Eltern mit zärtlichen<br />

Umarmungen.<br />

Wir stehen in einem Ozean voller Tränen.<br />

Auf deinem Grab steht ein tönerner Eisbär. Auf dem dazugehörigen<br />

Trauerflor steht geschrieben:<br />

„Luca <strong>–</strong> stark wie ein Eisbär“<br />

Am späten nachmittag, nachdem die meisten der 25 Trauergäste,<br />

die noch mit zu uns nach Hause gekommen sind, sich<br />

verabschiedet haben, fahren wir mit Papas Eltern nochmals<br />

zu deiner Grabstätte.<br />

Anschließend bringen wir sie zum Bahnhof. Beim Abschied<br />

hat sich der Himmel mit schwarzen Wolken verhangen. Es<br />

fängt an zu regnen.<br />

Als wir vor unserer Wohnung stehen, erscheint uns ein<br />

großer Regenbogen in satt leuchtenden Farben am Horizont.<br />

Wir entzünden deine Kerze und wissen: Es ist geschehen.<br />

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Noch am Abend gehen dein Papa, deine Mama, dein Bruder<br />

Yorick, dein Patenonkel Gottfried und dessen Frau Maria in<br />

das dir so vertraute Restaurant Diogenes. Sie nehmen am<br />

selben Tisch Platz, wo wir mit dir noch eine Woche zuvor<br />

gesessen haben.<br />

<strong>Du</strong> bleibst uns ewig in Erinnerung.<br />

Ich, dein treuer Weg- und Leidensgefährte Batolio, habe mir<br />

vom Specht ein neues Domizil bauen lassen. Es befindet<br />

sich in einem Baum in der Nähe deiner Grabstätte.<br />

Hier werde ich wachen und die Vögel bitten, dir spirituelle<br />

Lieder zu singen.

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