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ISBN 3-928610-45-7<br />
LinguaMed Verlags-GmbH, Neu-Isenburg<br />
Luca-Tales Wolfgang Schulte<br />
<strong>Was</strong> <strong>bleibt</strong> <strong>–</strong> <strong>bist</strong> <strong>Du</strong><br />
Sach, Lach- und Weingeschichten<br />
erzählt von einem<br />
schwerstmehrfach behinderten Säugling<br />
LinguaMed Verlags-GmbH
LinguaMed Verlags-GmbH<br />
Friedensallee 30<br />
63263 Neu-Isenburg<br />
LUCA-TALES<br />
Sach, Lach- und Weingeschichten<br />
erzählt von einem<br />
schwerstmehrfach behinderten Säugling<br />
Danksagung<br />
Wir bedanken uns bei all den lieben Menschen,<br />
die uns mit Engagement, Courage und Zuneigung<br />
in den schwierigen Jahren begleitet haben.<br />
Ein besonderer Dank gilt auch<br />
meinen Helfern am Gelingen dieses Buches:<br />
Dr. Egbert Lang, Coesfeld<br />
Volker und Helma Brockmeier, Dortmund<br />
Andreas Meyer, Dortmund<br />
Manuela Budeus, Münster
2<br />
Nimm den Tod nicht zu ernst.<br />
Ich bin nur in den nächsten Raum hinübergegangen.<br />
Ich bin ich, du <strong>bist</strong> du.<br />
<strong>Was</strong> immer wir füreinander waren, das sind wir jetzt auch<br />
noch.<br />
Nenn mich bei meinem altvertrauten Namen, sprich zu mir<br />
so, wie du das immer getan hast.<br />
Verändere deine Stimme nicht und baue keine Mauer von<br />
Feierlichkeit und Trauer um dich auf.<br />
Bete, lächle, denk an mich, bete für mich.<br />
Lasse meinen Namen den Klang beibehalten, den er immer<br />
hatte; sprich ihn ohne Emotionen aus, ohne eine Spur von<br />
Schatten auf ihm.<br />
Das Leben bedeutet all das, was es immer bedeutet hat.<br />
Es ist dasselbe, was es immer war, es geht ohne Bruch weiter.<br />
Warum soll ich aus deinen Gedanken verschwunden sein,<br />
weil du mich nicht mehr siehst?<br />
Ich warte in der Zwischenzeit auf dich, irgendwo in der<br />
Nähe.<br />
Übersetzung nach Harry Scott Holland (1847 -1929)<br />
Dieses Buch ist der treu sorgenden Mutter<br />
und Ehefrau Birgit gewidmet.<br />
3
Wolfgang Schulte<br />
Gemarkenweg 69<br />
48249 Dülmen<br />
Tel.: 0 25 94 - 79 17 83<br />
ISBN 3-928610-45-7 LinguaMed Verlags-GmbH, Neu-Isenburg 2003<br />
Luca-Tales<br />
Wolfgang Schulte<br />
LinguaMed-Verlags-GmbH,Neu-Isenburg 2003<br />
ISBN 3-928610-45-7<br />
Impressum<br />
Verlag:<br />
LinguaMed Verlags-GmbH<br />
Friedensallee 30<br />
63263 Neu-Isenburg<br />
Druck:<br />
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte der Verbreitung und<br />
Vervielfältigung, auch durch Funk, Fernsehen, Mikroverfilmung, Tonträger<br />
oder der Vervielfältigung auf elektronischen Wegen sowie der Übersetzung,<br />
nur mit Genehmigung des Verlages.<br />
Produkthaftung: Der Verlag übernimmt keine Gewähr für Angaben über<br />
Applikationsanweisungen und Dosierungsangaben. Die Autoren sind für ihre<br />
Beiträge selbst verantwortlich.<br />
INHALT EINES SEHR KURZEN LEBENS<br />
Prolog<br />
Erstes Kapitel<br />
Der Kreißsaal TANGO<br />
Wie man vergaß,<br />
einen bedeutungsschwangeren Knoten zu lösen<br />
Zweites Kapitel<br />
Das Wanderschwein Toot<br />
Wie ein Rucksack tragendes Schwein kein Glück brachte<br />
Drittes Kapitel<br />
Der APGAR-SCORE<br />
Wie man ein Neugeborenes beurteilte,<br />
welches sich kein Urteil bilden durfte<br />
Viertes Kapitel<br />
Die Fledermaus Batolio traf ein Floppy Infant<br />
Wie jemand seine Artgenossen verlor<br />
und einen Freund gewann<br />
Fünftes Kapitel<br />
Der Absäugling<br />
Wie man zum Rotzlöffel der Nation erklärt wurde<br />
Sechstes Kapitel<br />
Der Bunte Kreis<br />
Wie man sich nachsorglich den Weg nach Hause bahnte<br />
5
Siebentes Kapitel<br />
Der Kanalknotenpunkt Datteln<br />
Wie man ein Gehirn mit einem Zugunglück verglich<br />
Achtes Kapitel<br />
Das Ärzte- und Therapeutennest<br />
Wie man ambulant behandelt, verdeckt und versteckt wurde<br />
Neuntes Kapitel<br />
Der Kinderkrankenpflegedienst Klabautz<br />
Wie man in der Pflege Akzente setzte und<br />
FKK eine andere Bedeutung erhielt<br />
Zehntes Kapitel<br />
Die Geschmacksverirrung<br />
Wie man den Vibrationen der Physiotherapeuten begegnete<br />
Elftes Kapitel<br />
Das zauberhafte Materialkörbchen<br />
Wie man durch die Frühförderung zum Genießer wurde<br />
Zwölftes Kapitel<br />
Das visionäre Einkaufszentrum<br />
Wie man Hilfsmittel bekam<br />
und mit den Tücken der Technik haderte<br />
Dreizehntes Kapitel<br />
Der Nummern- und Zahlensalat<br />
Wie man sich Akten zulegte und Statistiken entwarf<br />
Vierzehntes Kapitel<br />
Der Rettungsauflauf<br />
Wie eine Fahrt blau wurde aber nicht ins Blaue führte<br />
Fünfzehntes Kapitel<br />
Die Überraschungseier<br />
Wie man sich über Nachwuchs wunderte<br />
Sechzehntes Kapitel<br />
Der verrückter Kliniksommer<br />
Wie man in der Radiologie eine tolle Ausstrahlung bekam<br />
Siebzehntes Kapitel<br />
Der geniale Ausflugsherbst<br />
Wie man endlich Kind sein durfte<br />
Achtzehntes Kapitel<br />
Die letzten Tage eines kleinen Kämpfers<br />
Wie man mit Nonchalance dem Tod begegnete<br />
Neunzehntes Kapitel<br />
Die Tränen des kleinen Eisbären<br />
Wie Batolio seine Abschiedsworte spricht<br />
6 7
8<br />
Prolog<br />
Ich bin ein Weltbürger , weil man Menschen mit funktionellen<br />
Einschränkungen überall findet.<br />
Ich kenne keine Tabus.<br />
Ich brauche keine Leitkultur .<br />
Für mich sind alle Menschen gleich, egal welche Hautfarbe<br />
sie haben und welche Sprache sie sprechen.<br />
Ich „spreche“ eine Weltsprache, ich kommuniziere mit<br />
jedermann.<br />
Ich bin neutral und liebe es friedlich.<br />
Ich will nicht behindert werden, sondern beanspruche<br />
ein Maximum an Lebensqualität.<br />
Ich werde zum Bruttosozialprodukt nichts beitragen<br />
können.<br />
Ich werde jedoch Arbeitsplätze sichern.<br />
Ich werde in keinen Konsumgüterrausch verfallen und<br />
den Süchten der Welt widerstehen.<br />
Ich bin auf meine Art ein freier kleiner Erdenbürger, der<br />
für seine Einschränkungen auch dankbar sein kann.<br />
Denn ich bekomme viele Arten von Annehmlichkeiten,<br />
von denen andere nur zu träumen wagen.<br />
Ich stehe im Mittelpunkt, weil ich Mensch bin.<br />
Ich bin kein Narzist, kein Egoist. Ich bin einfach nur ich<br />
<strong>–</strong> ein einzigartiges Individuum.<br />
9
10<br />
Erstes Kapitel<br />
Der Kreißsaaltango<br />
Wie man vergaß,<br />
einen bedeutungsschwangeren Knoten zu lösen<br />
„Hallo! Hallo! Halli-hallo!<br />
Kann mich denn dort draußen niemand hören? Ist diese<br />
Gebärmutter denn schalldicht, oder was? Dann trete ich meiner<br />
Kugelblitz-Mama kurzerfuß eine klitzekleine Beule in ihre<br />
Bauchdecke. Hallo, verdammt und zugenäht. Ich mache hier<br />
gleich die Welle im fruchtigen <strong>Was</strong>ser. Ich bin’s doch. Der<br />
Embryo mit den dynamischen Ohren. Ich höre alles. Ich weiß<br />
Bescheid. Bald werde ich ein neuer kleiner Erdenbürger sein.<br />
Ich stürze mich kopfüber in die nahe Welt. Ich werde staunen,<br />
strampeln, weinen, schreien, schlafen und saugen, saugen,<br />
saugen, bis alle Lebensgeister in mir und euch erweckt sind.<br />
Doch wie wird der Sturz ins Ungewisse enden? Werde ich<br />
unsanft auf die Nase fallen oder prompt in die ausgestreckten<br />
Arme meiner Eltern plumpsen?“<br />
Eigentlich hatten diese die Empfängnis eines Kindes gar<br />
nicht auf ihrer Rechnung, bauten immerzu auf eine verläßliche<br />
Verhütung. Daher stellte sich natürlich die entscheidende<br />
Frage nach der Funktion des Knotens im Stofftaschentuch<br />
meines zukünftigen alten Herrn. Eines Tages,<br />
nach ausbleibender Menstruation, schickte Ma meinen Pa<br />
zur Apotheke, um einen Schwangerschaftsteststreifen zu<br />
kaufen. Kurz nachdem er die Apotheke betreten hatte, reizte<br />
ihn sein Riechkolben gar unermesslich. Mit geschickter<br />
Hand fingerte er sein verschnupftes Taschentuch aus der<br />
Hosentasche und begann unter tiefem Nachdenken den<br />
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12<br />
entdeckten Knoten zu entwirren. Das Ergebnis der Decodierung<br />
war wenig originell: Er hatte schlicht und einfach vergessen<br />
Verhüterlis zu besorgen. Die Vermutungen von Ma<br />
konnten bestimmt nicht mehr in Zweifel gezogen werden. In<br />
seiner abstrusen Gedankenwelt verglich er Ultraschallaufzeichnungen<br />
mit Mondlandschaften oder mit Schlingpflanzen<br />
auf dem Meeresgrund, hörte das Pochen eines wild<br />
schlagenden Herzen in Mamas Bauch, imitierte starke<br />
Presswehen und kaute unentwegt an seinen Fingernägeln.<br />
Ob er hier einen Veitstanz aufführen wolle oder an sonstigen<br />
Störungen leide, wurde er von einer genervten Apothekerin<br />
gefragt. Pa setzte sofort ein Nonchalance-Grinsen auf, zahlte<br />
ungern den horrenden Preis für den Test und verließ das<br />
Pharmaziegeschäft in der Hoffnung auf weiter kinderlose,<br />
ruhige Zeiten. Der Test war garantiert positiv. Die Bestätigung<br />
durch den Frauenarzt erfolgte stante pedes.<br />
Papa in spe latschte daraufhin jeden begehbaren Quadratzentimeter<br />
ihrer 70qm großen Dachgeschosswohnung<br />
in Münster ab, blieb plötzlich stehen, schaute Mama in spe<br />
in ihre glänzend blauen Augen und fragte: „Weißt du was<br />
uns fehlt?“ „Ja!“, erwiderte Ma mit einem verschmitzten<br />
Lächeln, als wäre sie von der Frage keineswegs überrascht.<br />
„Ein Kinderzimmer. <strong>Was</strong> denn sonst?“ Einige Monate später<br />
hatten die beiden eine neue, größere und preisgünstigere<br />
Wohnung in einer Stadt des westlichen Münsterlandes<br />
angemietet. Die Stadt heißt Dülmen, ist freundlich zu seinen<br />
Wildpferden und Fahrradfahrern und gleichzeitig Sitz des<br />
Arbeitgebers von Mutter, einer staatlich anerkannten Werkstatt<br />
für Menschen mit Behinderungen.<br />
Anfang November 1999, knapp vier Monate vor meiner<br />
Geburt, bezogen sie ihr neues Domizil. Voller Stolz betrachteten<br />
sie nun ihr, vielmehr mein, Kinderzimmer, welches auf<br />
seine liebevolle Ausstattung und farbenfrohe Dekoration<br />
wartete.<br />
Sie hatten an jenem Novembersturmtag noch keinen blassen<br />
Schimmer davon, dass mein Zimmer eine kleine Intensivstation<br />
werden würde.<br />
Mein nach innen schwanger wirkender Pa nahm das allerletzte<br />
Herbstblatt vor den Mund und schwieg bis Silvester.<br />
Er schwieg nicht wirklich, gab sich jedoch ein wenig introvertiert,<br />
indem er seltsamen Tagträumen verfiel. Sein Zigarettenkonsum<br />
stieg ins Unermessliche. Doch mir zuliebe inund<br />
exhalierte er die gefährlichen Toxine draußen vor der<br />
Tür. Die von ihm bevorzugte Killermarke hieß Benson &<br />
Hedges und seine Lunge sah wahrscheinlich aus wie ein<br />
goldfarbener Blätterhaufen. Seine Gedanken kreisten um<br />
die Geburtsklinik herum direkt in den Kreißsaal hinein. Er<br />
stützte sich auf den Schultern der Hebamme vor lauter Nervenschwäche<br />
ab, verdammte den Herz-Wehen-Schreiber<br />
mit Zeter und Mordio: „Cardio-toco loco-loco“ rief er und<br />
bekam den Knoten nicht gelöst. Unter seinen Achselhöhlen<br />
verdunstete die Angst. Augen zu und durch! Er war heuer<br />
ein cocolatio <strong>–</strong> ein sensibler Mensch.<br />
Während der Adventszeit wich die Angst der Freude auf ein<br />
in wenigen Wochen bevorstehendes Ereignis, dem Tag meiner<br />
Ankunft in die rauhe, doch hoffentlich auch herzliche<br />
Wirklichkeit. Namenszettel wurden an die Wäscheleine<br />
gehängt, links die Mädchennamen, rechts die der Jungen.<br />
Der Favorit unter den Mädchennamen war Zoe. Sollte es<br />
jedoch ein Bub werden, würde er Luca heißen. Papas Flachbauch<br />
nahm kein Gramm zu, obwohl er doch gedanklich mit<br />
mir schwanger ging. Er betrachtete stillschweigend seinen<br />
Nabel als „Teil der Erinnerung“ an eine gelungene Trennung<br />
von Mutter und Sohn.<br />
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14<br />
Anschließend setzte er sich an den Schreibtisch und textete<br />
ein Lied für Mama:<br />
Der Kreißsaal-Tango<br />
Ich tapse durch die Stadt mit ´nem Bauch voll Kind<br />
weiche Buggies aus bei Gegenwind<br />
´ne Mutter lacht mich freudig an:<br />
„du siehst so aus, als wärst du dran!“<br />
All die andern ha´m schon wieder<br />
so´n kleenen Fratz in der Pampers-Liga<br />
sie halten ihn schön Perwoll-weich<br />
auf der Wickelkommode im Kinderreich.<br />
Oh, oho <strong>–</strong> oh, oho<br />
wann zieh´ ich in´ Kreißsaal ein?<br />
Kindernamen! <strong>–</strong> die weiß ich schon<br />
Luca heißt der eine <strong>–</strong> und ist mein Sohn<br />
der Mädchenname ist auch o.k.<br />
der haut dich um <strong>–</strong> sie heißt Zoe!<br />
All die andern ha´m auch welche<br />
sie taufen sie wie Kritiker die Elche<br />
sie stillen sie an ihren Busen<br />
und geh´n fortan mit ihnen schmusen<br />
Oh, oho <strong>–</strong> oh, oho<br />
wann zieh´ ich in´ Kreißsaal ein?<br />
Ich lieg´ im Bett und träum´ von Wehen<br />
das Kind klopft an, es will die Welt jetzt sehen<br />
der Weg wird lang, zuviel´ rote Ampeln<br />
das Kind will Grün, fängt an zu strampeln<br />
All die andern sind schon durch<br />
ein Mädchenschrei, oder war´s ein Bursch<br />
sie gebaren ein Kind unter lauten Schmerzen<br />
jetzt tragen sie´s still unter ihren Herzen<br />
Oh, oho <strong>–</strong> oh, oho<br />
wann zieh` ich in´ Kreißsaal ein?<br />
Ist das nicht herzzerreißend? Mit Pauken und Trompeten<br />
ziehen wir in den Kreißsaal ein, und unter der Begleitung<br />
von Querflöten lassen wir uns anschließend ins gemachte<br />
Wochenbett fallen. Hauptsache es begegnet uns nicht der<br />
Mann mit der Mundharmonika. Plötzlich trieb mir die Vorstellung,<br />
dass der notorische Asphalttreter und Autohasser<br />
Papa sich hinter das Steuer klemmen muss, wenn ich meine<br />
Bereitschaft zur Ankunft signalisiere, angstfeuchte Fruchtwasserperlen<br />
auf die Stirn. Im Nachhinein musste ich<br />
jedoch feststellen, dass ich lieber während der Autofahrt<br />
zur Klinik geboren worden wäre. Pa als Geburtshelfer, das<br />
wäre eine wunderbare Nummer geworden. Da wäre ich<br />
nullkommanix sauber abgetrennt im Fond unseres Fords an<br />
Mamas Brust gesprungen.<br />
Doch eine Schlinge hatte sich längst um meinen Hals<br />
gelegt. Ich entdeckte die Langsamkeit meiner Bewegungen.<br />
Derweil schritt die Zeit im Eiltempo voran. Ein ganzes<br />
Jahrtausend wollte sich verabschieden und den Chronisten<br />
das Wort erteilen.<br />
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16<br />
Silvester verbrachten meine Eltern bei einem befreundeten<br />
Paar, meinem späteren Patenonkel Gottfried und seiner Gattin<br />
Maria. Gegen Mitternacht stieß mein Vater stille Millenniumswünsche<br />
in das unendliche Universum hinaus. Ein auserwählter<br />
Stern, dem er den Namen Isis gab, sollte eine<br />
unkomplizierte, glückliche Geburt begleiten. Der Erziehungsurlaub<br />
möge eine paradiesische Zeit werden. Die<br />
Zukunft wird mit Kindern gemacht. Mit einem gesunden,<br />
mopsfidelen und ausgeglichenen Kind, ganz gleich welchen<br />
Geschlechts. Er hatte wirklich noch keine Vorstellung von<br />
einem baldigen Szenario, welches sich unter einem ungünstigen<br />
Stern abspielen sollte. Auch konnte er noch nichts von<br />
seiner zukünftigen Berufung erahnen, den bevorstehenden<br />
Strapazen aufregender Tage und schlafloser Nächte und den<br />
eigenen individuellen Bedürfnissen, die es gelte für eine längere<br />
Zeit zurückzustellen. Er sollte vielmehr die Rolle seines<br />
Lebens zugewiesen bekommen und würde als der „Drei-P-<br />
Mann“ in die Annalen eingehen:: „Papa <strong>–</strong> Pfleger <strong>–</strong> Pädagoge!“<br />
Letzeres P könnte natürlich auch durch „Pädiater“<br />
ersetzt werden, was jedoch ein medizinisches Studium der<br />
Kinderheilkunde voraussetzt. Dafür blieb aber keine Zeit.<br />
Statt dessen sollte er den Begriff „Erziehungsurlaub“ für<br />
immer verdammen und sich mit dem Gedanken vertraut<br />
machen, ein Vätergenesungswerk für zukünftige Vater-<br />
Kind-Kuren zu gründen. Mutti lehnte gedankenverloren und<br />
mit hochgelegten geschwollenen Beinen im Fernsehgammelsessel,<br />
betrachtete ihre überdimensionale Kugel und<br />
simulierte einen fiktiven Unfall. Die Crash Test <strong>Du</strong>mmies säuselten<br />
„MMMMM“. Ihre müden Augen blickten auf die bald<br />
prallgefüllten Brüste, die sich nach neuen Körbchengrößen<br />
sehnten. Auch sie ahnte in diesem Moment nichts von dem<br />
dramatischen Ereignis, welches das Leben drohte auf den<br />
Kopf zu stellen. „MMMMM“ ertönte der Sound der kanadischen<br />
Band aus dem Radio: „Mamas-Milch-Melk-Maschinen-Melodie“<br />
sollte nur aus tieftraurigen Tönen bestehen.<br />
„Pump-pump-pump-pump-pump“ <strong>–</strong> das kostbare, saugfertige<br />
Trinkgut <strong>–</strong> abgefüllt und als Milcheiswürfel eingefroren.<br />
Ich werde bald den Schweppesflunsch ziehen, wenn mir das<br />
edle Elixier auf eine Art eingeflößt wird, die mir ganz und gar<br />
nicht behagt.<br />
Ich werde niemals schlucken können.<br />
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18<br />
Zweites Kapitel<br />
Das Wanderschwein Toot<br />
Wie ein Rucksack tragendes Schwein<br />
kein Glück brachte<br />
Und ob ich eine Menge schlucken musste. Ein komplettes<br />
Geburtsdesaster.<br />
Laut Geburtsprotokoll war ich ein leicht übertragener Bub in<br />
der Gewichtsklasse „gut proportioniert“, ansonsten jedoch<br />
furchtbar deprimiert und unglaublich traumatisiert.<br />
Es war tiefe Nacht an einem kalten Februarwochenende.<br />
Papas zu Silvester auserkorener Stern Isis hatte seinen<br />
Begleitschutz verweigert. Es gab keinen Engel. Selbst der<br />
Ersatzengel Clarence, der James Steward alias Georg Bailey<br />
in dem herrlichen Film: „Ist das Leben nicht schön“, so liebenswerte<br />
Dienste erwies, ließ sich nicht blicken.<br />
Man hätte mich mit der Zange nicht anpacken dürfen. Ein<br />
Kaiserschnitt wäre es doch gewesen. Es war leider schon zu<br />
spät für Maßnahmen, die mein Schicksal positiv beeinflusst<br />
hätten. <strong>Was</strong> sollte ich Neugeborenes von der Welt halten, die<br />
einen langen dunklen Schatten voraus warf und in einem<br />
Tunnel endete. Ich wurde im Schatten geboren. Nicht einmal<br />
der Strahl einer Maglite-Taschenlampe hätte mir einen<br />
Lichtlein spendieren können. Papa bekam den Blues. Er hatte<br />
Toot, dem Wanderschwein, ein Geschenk seiner Schwester<br />
Moni <strong>–</strong> Symbol des Glücks <strong>–</strong> erst einmal das Maul<br />
gestopft. Toot war ein kleines Stofftier, trug einen gelben<br />
Pulli mit seinem Namensschriftzug, eine kurze beige Hose<br />
mit zwei Hosentaschen und einen beigen Hut, aus dem seine<br />
putzigen Schweinsohren heraus ragten. Als Wander-<br />
schwein trug er natürlich einen Rucksack. Fortan wurde<br />
Toot zum Lastenschwein, welches die schweren Sorgen<br />
meiner Eltern zu tragen hatte. Tag für Tag, Woche für Woche<br />
wurden mehr davon in sein putziges Säckle gepackt. Man<br />
hätte ihn vorher mehr mästen müssen, um die schwere Bürde<br />
besser aushalten zu können. Toot hielt sich während des<br />
Geburtsvorgangs in der Jackeninnentasche meines Papas<br />
versteckt und hat keinen Quiecker von sich gegeben. Man<br />
hörte auch sonst keinen Schrei in dieser Nacht. Pa hielt<br />
sehnsuchtsvoll Ausschau nach den Augen des verzweifelten<br />
Mädchens auf Edward Munchs Gemälde: „Der Schrei“,<br />
bevor er selbst einen bedrohlichen Urschrei durch das<br />
Krankenhaus in die Stadt hinaus donnerte. Mama, die über<br />
die Dauer der gesamten Schwangerschaft vor Gesundheit<br />
nur so strotzte, hing mit unerträglichen Schmerzen auf dem<br />
Entbindungsbett. Sie sollte schon bald mit der Tatsache<br />
konfrontiert werden, mich in den kommenden 48 Stunden<br />
nicht zu Gesicht zu bekommen, geschweige denn mich an<br />
ihre Brust legen zu dürfen. Keiner von beiden wusste die<br />
Geschehnisse dieser Nacht zu beurteilen oder Voraussagen<br />
über die drastischen Folgen zu machen. Nach meiner<br />
abrupten Abnabelung wurde ich sofort in einen Nebenraum<br />
verbracht. Papa war wie in Trance, aber mit Fotoapparat,<br />
hinterher gestolpert und konnte somit einen Blick auf<br />
mein Geschlecht werfen. „Es ist ein Junge“, stammelte er im<br />
Angesicht zu Ma´s gequälten Zügen, ohne zu wissen, ob Ma<br />
dies wirklich registrierte. Die verdammte Placenta wollte<br />
sich nicht abstoßen lassen. Das Ziehen an der Nabelschnur<br />
blieb ergebnislos. Der Schmerz musste sie doch bald zur<br />
Besinnungslosigkeit treiben. Alles war blutverschmiert.<br />
Pa sollte bald vaterseelenallein auf dem Flur der Entbindungsstation<br />
hocken: irritiert, konsterniert, hirnblockiert.<br />
19
20<br />
Während Daddy dann tatsächlich kurze Zeit später in trauriger<br />
Abwesenheit bei eine Tasse Kaffee allein auf dem langen<br />
Krankenhausflur saß, säuselte es leise in sein Ohr: Pass op,<br />
Jong! Nur Fledermäuse un schlaffe Käls losse sich hänge. Mer<br />
bruche jetz Kraft un Nervenstärke. Un wenn de Naach am Eng<br />
iss, süht de Welt widder janz anders uss. Et ess wie et ess! Et<br />
kütt wie et kütt! Et ess noch immer joot jejange! Wat fott ess,<br />
ess fott! Es war ein Abendseglermännchen aus der Gattung<br />
der hiesigen Fledermäuse, welches versuchte Pa festen Mut<br />
zuzusprechen. Batolio, so hieß der Kleine, wirkte allerdings<br />
ziemlich lädiert und malträtiert, als wäre ihm selbst kurz<br />
zuvor ein trauriges Schicksal widerfahren.<br />
„Irgend su ne Blödschkopp, son vermaledeiter, hätt mich<br />
abrupt uss mingem Winterschlof jerisse, flüsterte die angeschlagene<br />
Fledermaus. Noch vor kurzem hatte er in seinem<br />
Winterquartier bei einer Körpertemperatur von circa fünf<br />
Grad Celsius ausgeharrt. Seine Herzschlagrate lag zu diesem<br />
Zeitpunkt bei ungefähr einem Prozent des Wachzustandes.<br />
Entsprechend war auch die Atemfrequenz verringert.<br />
Jetzt war Batolio Zeuge meiner katastrophalen Geburt<br />
geworden. Doch er sollte mein Freund und Medium werden.<br />
Ich sollte bald erfahren, was es heißt „Abzuhängen“ und wie<br />
man in eine Tagesschlaflethargie verfällt. „Das Licht der Welt<br />
ist blau“, dachte Paps, als ich ihn im Babynotarztwagen verließ,<br />
in Richtung einer Säuglings- und Neugeborenenintensivstation,<br />
intubiert und desillusioniert. Neun Tage vor<br />
Rosenmontag ertönte nur ein gequältes Martinshorn. Papa<br />
wünschte, er wäre blau. Waren die Gynäkologen im Operationssaal<br />
blau gekleidet? Würde Ma zyanotisch werden,<br />
wenn man ihr so eben die Plazenta heraus operiert. Papa<br />
konnte den verdammten Knoten nicht lösen. Es war ein<br />
Nabelschnurknoten. Ein echter voll zugezogener Nabel-<br />
schnurknoten. Es hatte doch keinerlei Anzeichen für eine<br />
derartige krisenhafte Komplikation gegeben.<br />
Einige Stunden vor dem Einsetzen der ersten Wehen waren<br />
wir noch im Krankenhaus zur Doppler-Ultraschalluntersuchung<br />
gewesen. Nix war. Alles unauffällig, wie bei allen vorausgegangenen<br />
Untersuchungen. Alles in bester Ordnung.<br />
Eine Nabelschnur ist verdammt lang. Ein Spring- und Turnseil<br />
für den Embryo. Gab es vielleicht doch irgendwelche<br />
Aufregungen im Verlauf der Schwangerschaft? Oder war<br />
ich einfach nur ein Freudentänzer, der spektakuläre Saltos<br />
springt, wie Miro Klose nach einem erzielten Tor?<br />
Haben Knoten denn nicht andere Funktionen, als einem<br />
neuen Leben die Chance auf normales Reifen und Wachsen<br />
zu nehmen? Alles war dunkel!<br />
Doom and gloom <strong>–</strong> Verhängnis und Finsternis. Die letzte<br />
Kneipe hatte soeben geschlossen.<br />
21
22<br />
Drittes Kapitel<br />
Der APGAR-Score<br />
Wie man ein Neugeborenes beurteilte,<br />
welches sich kein Urteil bilden durfte<br />
Nach dem Zangengriff, der Entbindung mittels der Naegele´schen<br />
Zange, tauchte ich ab in ein dunkel blaues Zwischenreich.<br />
Mein desolater Zustand ließ keinerlei Zweifel<br />
offen, dass ich reif war für meine erste Reanimation. Ich war<br />
schlaff wie Wackelpudding, wurde erst einmal kräftig abgesaugt<br />
und in den Atemwegen frei gemacht. Ein transportables<br />
Absauggerät stand selbstverständlich jetzt schon auf<br />
der Bestelliste für Hilfsmittel. Man sollte meinen Eltern<br />
sowieso den weisen Vorschlag unterbreiten einen medizinisch-pflegerischen<br />
Managementkursus zu besuchen,<br />
würden sie doch schon bald eine Miniklinik betreiben.<br />
Apgar 1<br />
„Ja, schaut nur in das gelbe Kinder-Untersuchungsheft<br />
eures Kindes auf Seite 1: ‘U 1, Punkt 3, Geburt’ nach und legt<br />
euch gefälligst ein klinisches Lexikon, vielleicht den Pschyrembel,<br />
zu. Oder muss ich jetzt extra ein Glossar schreiben,<br />
nur weil ihr möglicherweise zu faul seid, medizinische<br />
Begriffe nachzuschlagen oder kein Geld habt, euch ein<br />
solch eminent wichtiges Buch zuzulegen.“ Egal auch. Ich<br />
überlege es mir noch. Schließlich seid ihr ab sofort meine<br />
Freunde und liebste Leserschaft. Ich habe ehrlich gesagt<br />
null Bock darauf, dass ihr in Trotzphasen <strong>–</strong> die unweigerlich<br />
kommen, wenn man nichts versteht <strong>–</strong> die Seiten dieses kostbaren<br />
Bandes herausreisst und damit Schindluder treibt.<br />
Der erwähnte Pschyrembel ließ jedenfalls durchblicken,<br />
dass der APGAR-Index, von Virginia Apgar entwickelt, ein<br />
Punktschema zur Zustandsbeurteilung eines Neugeborenen<br />
ist.<br />
Ich kam am Samstag, den 26. Februar 2000 um 3.03 Uhr, einen<br />
Tag nach dem errechneten Termin, mit einer Schlinge um den<br />
Hals auf die Welt, wurde von meinem fatalen Nabelschnurknoten<br />
getrennt und leider auch von meinen Eltern. Im<br />
Abstand von ein, fünf und zehn Minuten wurden gecheckt:<br />
A: wie Atembewegungen (spontan hatte ich da längere Zeit<br />
nichts zu bieten)<br />
P: wie Puls (wird zukünftig mein Überwachungsgerät arg<br />
strapazieren)<br />
G: wie Grundtonus (schlaffer geht`s nimmer)<br />
A: wie Aussehen (noch nicht geeignet für ein Casting beim<br />
Babymoderator)<br />
R: wie Reflexe (davon habe ich noch nie etwas gehört)<br />
gecheckt.<br />
Dann wurden für jeden dieser fünf Parameter 0-2 Punkte<br />
vergeben. Bei 8-10 Punkten ist alles in Butter; sie weisen auf<br />
eine normale Entwicklung hin. 5-7 Punkte, naja, eine intensive<br />
Beobachtung ist unbedingt notwendig. Bei weniger als 4<br />
Punkten ist die Kacke am Dampfen. Dann ist eine Akutversorgung,<br />
wie beispielsweise eine sofortige künstliche Beatmung<br />
erforderlich.<br />
Apgar 1<br />
Pa`s blaue Wölkchen seines Zigarettenrauches wurden von<br />
überfallartigen Hustenattacken davon getrieben. Er hätte<br />
liebend gern eine Blutdruckrevolution ausgerufen. Statt<br />
dessen kochte sein Puls auf Sparflamme und seinem Aussehen<br />
nach zu beurteilen, hatte man ihn soeben aus den<br />
23
24<br />
Cliffs of Dover gemeißelt. Von Muskulatur ganz zu schweigen.<br />
Er war der Adonis unter den Fliegengewichten. Mit<br />
einem blitzartigen Reflex schlug er seine tristen Vorahnungen<br />
in den Wind und atmete erst einmal ganz tief durch.<br />
Ich bekam ein Maskenbeatmung und eine zweiminütige<br />
regelmäßige Herzdruckmassage. Ich wurde intubiert und<br />
dauerhaft mit 100 Prozent Sauerstoff versorgt. Man legte mir<br />
einen Zugang zur Infusions- und Azidosetherapie, um meinen<br />
Säure-Basen-Haushalt wieder ins Gleichgewicht zu<br />
bekommen. Danach ging es lalü lala ab auf die Säuglingsintensivstation,<br />
hinein in ein Thermobettchen, zum durchschlafen,<br />
bis meine Stillmutter kommt mit prall gefüllten<br />
Brüsten, die Milch und Honig fließen lassen.<br />
Im Traum spazierte ich mit den britischen Musikern, den<br />
Stranglers, über endlose gelb sandige Strände. Der Frontmann<br />
erhob seine Stimme und schmetterte mit Inbrunst:<br />
„Walking on the beaches, looking at the peaches.“(Ich spazierte<br />
über die Strände und schaute auf die süßen Mädels).<br />
Doch dann wurde es duster und still. Mir stockte der Atem.<br />
Eine Schlinge legte sich um meinen Hals, um mich zu strangulieren.<br />
Jemand knüpfte einen mörderischen Knoten, den er<br />
fest zuzog. Man trachtete mir nach meinen Leben, um den<br />
Urschrei im Keime zu ersticken. Ich bekam nur einen einzigen<br />
beschämenden Punkt von Virginia.<br />
Derweil fuhr Old Daddy, der berühmteste Autofahrer des<br />
westlichen Münsterlandes, als wollte er sich wenigstens<br />
1Punkt in Flensburg abholen (nicht zu verwechseln mit meinem<br />
Apgar-Wert), des morgens um halb sechs mit vereisten<br />
Scheiben und ohne Licht nach Hause. Batolio krallte sich am<br />
Rückspiegel fest und stand Todesängste aus. Kurz zuvor<br />
hatte der Geburtsarzt die beiden aus einer einsamen Ecke<br />
zu sich konsultiert, um sie über die erfolgreiche Operation<br />
von Mama zu unterrichten, die jetzt zur Beobachtung auf<br />
der Intensivstation läge und schliefe. Über meinen komplizierten<br />
Geburtsvorgang konnte er nicht viel sagen. Der<br />
zugezogene Nabelschnurknoten hatte die notwendige<br />
Sauerstoffzufuhr unterbrochen. Daraufhin hatte Pa seine<br />
Frau sofort auf der Intensivstation aufgesucht, um ihr den<br />
batolinischen Mut zuzusprechen. „Nur Fledermäuse und<br />
ich lassen sich hängen. Also Kopf hoch, Augen zu und<br />
durch.“<br />
Zuhause angekommen trank er eine Flasche Bier (ihr wisst<br />
ja, die letzte Kneipe hatte geschlossen), informierte telefonisch<br />
meine Großeltern, speiste Batolio mit einigen Mehlwürmern<br />
ab, schwang sich anschließend auf sein Fahrrad<br />
und war um acht Uhr wieder bei seiner Angetrauten. Papa<br />
musste Mama trösten, weil sie mich noch überhaupt nicht<br />
gesehen hat und Mama musste Papa trösten, weil die eine<br />
Flasche Bier ihre Wirkung verfehlt hatte. Die Zeit bestand<br />
aus tröstlicher Zuwendung. Es war etwas sehr Denkwürdiges,<br />
vor allem sehr Tragisches geschehen.<br />
Ich lag im Koma. Das wahnsinnige Ausmaß meiner hoch<br />
komplizierten Geburt war mir schittegal. Der Schmerz über<br />
die ausweglose Situation sollte noch warten. Die Aktivatmung<br />
leider auch.<br />
Die Druiden konnten keinen ihrer berühmten Zaubertränke<br />
anrühren. Sie wussten schon, dass ich nicht schlucken<br />
würde können.<br />
Die Geister, die ich rief <strong>–</strong> sie alle waren geburtstraumatisiert.<br />
25
26<br />
Viertes Kapitel<br />
Die Fledermaus Batolio traf ein Floppy Infant<br />
Wie jemand seine Artgenossen verlor<br />
und einen Freund gewann<br />
Luca vollgeschlaucht in Mama’s Arm Mutter Birgit<br />
Auf meinem Namenskärtchen auf der Säuglings- und Neugeborenenintensivstation<br />
im St. Vincenz-Hospital zu Coesfeld<br />
stand geschrieben: „Hallo, ich bin da! Luca Felipe Schulte,<br />
geboren am 26. Februar 2000 um 3.03 Uhr.“ Ab sofort dürft ihr<br />
mich Luca nennen, vielleicht auch Lucabärchen oder ganz<br />
einfach Futti, einen Namen, den ich spontan von meinem<br />
Papa erhielt, was auch immer er sich dabei dachte. Tatsächlich<br />
war ich da. Rein physisch betrachtet war ich da, lag intubiert<br />
und komatös in einem Thermobett, umzingelt von intensivmedizinischen<br />
Geräten. Ich war voll geschlaucht. Kuscheln und<br />
Saugen im Wochenbett und ab durch die Mitte nach Hause<br />
düsen konnte ich mir allerdings ganz schnell von der Backe<br />
putzen. Es bedurfte vielmehr noch gut drei Wochen angestrengter<br />
Wartezeit, bevor ich mit einem klitzekleinen Blinzeln<br />
den ersten Kontakt zu meiner Umwelt herstellen konnte. Ihr<br />
braucht euch deshalb nicht wirklich zu beunruhigen, wenn ihr<br />
vorübergehend einmal nichts von mir hört. Man hatte mich ja<br />
bekanntlich bewusst in einen tiefen Schlaf versetzt <strong>–</strong> doch ich<br />
könnte schwören <strong>–</strong> es sollte der in meinem ersten Lebensjahr<br />
finale big sleep gewesen sein. Kein Lid sollte sich mehr vollends<br />
schließen, ein kleiner Spalt blieb immer offen. Damit<br />
würde ich bereit sein für die Weltneuheiten, Amüsements,<br />
Katastrophen und galaktischen Begegnungen der angenehmen<br />
und unheimlichen Arten. Doch vorerst war ich abgetaucht<br />
und träumte mich durch ein Labyrinth dunkler Phantasien.<br />
Als ich dann während meiner Spätwinterschlafphase<br />
ausnahmsweise nicht von desaströsen Geburtsalbträumen<br />
verfolgt wurde, begegnete ich einem spleenigem Flughund,<br />
der mich mit allerlei Kauderwelsch und sonstigen Albernheiten<br />
zusülzte. Er stellte sich mir als Batolio vor, einem Abendsegler,<br />
der seinen Winterschlaf vorzeitig abgebrochen hätte,<br />
um bei meiner Geburt als Pate und Glücksbote abzuhängen.<br />
27
28<br />
Nunmehr gastiere er selbst in einem Fledermaustherapiezentrum,<br />
wo man ihn kräftig aufpäppeln und auch sonst wie hervorragend<br />
umsorgen täte. Wenn er fit sei würde er seine Mission,<br />
mein zukünftiges Leben und Leiden mit aufopferungsvoller<br />
Fürsorge zu begleiten, erfüllen. Der kleine Batolio wurde<br />
zunehmend melancholisch, derweil er mir sein trauriges Lied<br />
vorsang: Zehn kleine Fledermäuse<br />
Zehn kleine Fledermäuse<br />
hingen in ´ner Scheun<br />
eines hatt´ sich abgeseilt<br />
da waren´s nur noch neun<br />
Acht kleine Fledermäuse<br />
ham sich rumgetrieben<br />
eins hatt´ sich der Uhu gekrallt<br />
da waren’s nur noch sieben<br />
Sechs kleine Fledermäuse<br />
flogen durch die Sümpf<br />
eines steckt im Moor nun fest<br />
da waren’s nur noch fünf<br />
Neun kleine Fledermäuse<br />
hingen in ´nem Schacht<br />
eines war verkohlet worden<br />
da waren’s nur noch acht<br />
Sieben kleine Fledermäuse<br />
waren bei ´ner Hex<br />
eines war verzaubert worden<br />
da waren’s nur noch sechs<br />
Fünf kleine Fledermäuse<br />
streiften durch´s Revier<br />
in Dortmund war eins hängengeblieben<br />
da waren`s nur noch vier<br />
Vier kleine Fledermäuse<br />
waren beim Samurai<br />
eines hatt´ ein Schwert geküsst<br />
da waren´s nur noch drei<br />
Zwei kleine Fledermäuse<br />
liebten sich in Mainz<br />
die Paarung wollte nicht gelingen<br />
jetzt gibt es nur noch eins<br />
Drei kleine Fledermäuse<br />
segelten zur Polizei<br />
eines hing in U-Haft fest<br />
da waren´s nur noch zwei<br />
Eine kleine Fledermaus<br />
trifft den kleinen Luca<br />
nun schaukeln sie in der Hängematte<br />
und hören John Lee Hooker<br />
Der bluesige Song trug den Titel: „The healer“ und sollte<br />
mich ermutigen an die Magie der Wunderheilung zu glauben.<br />
Der große Wunderheiler wird kommen und mir meine<br />
gestohlene Gesundheit zurück schenken. Doch dann verflüchtigten<br />
sich meine Gedanken und sahen sich plötzlich<br />
mit einem akuten W-Problem konfrontiert: „Wo bin ich? <strong>–</strong><br />
Wie bin ich hier hergekommen? <strong>–</strong> Wer bin ich? <strong>–</strong> <strong>Was</strong> soll ich<br />
hier? <strong>–</strong> Und warum ist überhaupt etwas passiert, was nicht<br />
hätte geschehen dürfen?“.<br />
Ma und Pa lebten derweil auch in einer Art Dämmerzustand.<br />
Es war eine gnadenlose Zeit zwischen der ganz normalen<br />
Härte und dem Rotationspalast des systematischen<br />
Wahnsinns. Wie bewegen sich eigentlich 4300 Gramm<br />
Geburtsgewicht bei einer Körperlänge von 56 cm?<br />
Gar nicht! Basta!<br />
29
30<br />
Jeden Tag bekamen meine Eltern eine Dosis fein portionierter<br />
Hiobsbotschaften zu Ohren, von denen sie wünschten,<br />
dass sie taub wären. Sie schluckten bittere Pillen, ich<br />
schlucke nie. Sie trugen vorübergehend dünne Häute. Sie<br />
standen auf einer Brücke und starrten hinab auf einen ausgetrockneten<br />
Flusslauf. Als sich ihre gesammelten Tränen<br />
zu einer megagroßen Wolke vereinten, die anschließend<br />
kübelweise abregnete, entstand ein reissender Fluss, der<br />
die Tristesse ihrer Gedanken mit sich riss. „I want to be back<br />
in my cocoon. Ich will sofort zurück in mein warmes, meinen<br />
gestressten Körper umhüllendes Fruchtwasserbecken.“<br />
„Hypoxischer Cerebralschaden mit Porencephalie nach<br />
peripartaler Asphyxie bei Nabelschnurknoten.“ Das klang<br />
wie ein donnernder Hammerschlag. Bei der Aussprache<br />
dieser Diagnose brach jemand sich die Zunge und rang<br />
dann nach Luft. Verstanden hat er freilich nichts. Kurz<br />
gesagt: Ein offensichtlich extremer Sauerstoffmangel hatte<br />
mein Gehirn geschädigt. Es bildeten sich Höhlen in meinem<br />
noch unreifen, nicht reaktionsfähigem Großhirn- und Kleinhirnmark.<br />
Die Ärzte hatten per Ultraschall die Bildung eines<br />
Hirnödems, Einlagerung von <strong>Was</strong>ser in den Zellen, festgestellt<br />
und schwankten zwischen Unwissenheit und rabenschwarzen<br />
Prognosen. Ein massiver Zellverlust war zu<br />
befürchten, wobei einmal verlorene Gehirnzellen nicht wieder<br />
erneuert werden können. Meine „Hauptverwaltung“ sah<br />
sich ständig mit zentralen Steuerungsproblemen konfrontiert.<br />
Pa konnte seinen „Schenk-Danziger“, ein Buch über<br />
Entwicklungpsychologie im Bücherregal stehen lassen.<br />
Themen wie: Die Verhaltensweisen im ersten Lebensjahr,<br />
die Periode der ersten spezifischen Reaktionen auf die<br />
Umwelt, das Greifen, das erste Lächeln, Vorstufen der Sprache,<br />
Entwicklung der Motorik und sonstiges Gedeihen <strong>–</strong><br />
alles Betrachtungen von geringer Bedeutung. Statt dessen<br />
blätterte er tagein-tagaus in einem Diagnosenschocksammelalbum,<br />
versank oft stundenlang in einem Meer der Hoffnungen<br />
und Enttäuschungen. Jedesmal, wenn er wieder<br />
auftauchte, um nach Luft zu schnappen, spuckte er in<br />
hohen Bogen eine weitere fatale Diagnose aus: „Schluck-<br />
Schlingstörung!“ So eine Diagnose steht außerhalb des<br />
normalen Vorstellungsvermögens eines gesunden Menschen,<br />
der über die Kulturtechniken der Nahrungsaufnahme<br />
verfügt. Ich sollte also nicht in der Lage sein, oder je in<br />
eine solche versetzt werden, Flüssigkeiten und feste Nahrungsmittel<br />
vom Mund in den Magen zu befördern. Ein elementares<br />
Bedürfnis der ess- und trinkfreudigen Mensch-<br />
31
32<br />
heit sollte unbefriedigt bleiben. Bei oraler Nahrungsaufnahme<br />
könnte es zu akuten Erstickungsanfällen kommen, wenn<br />
Speichel und Erbrochenes in der Mundhöhle und in den<br />
Wangentaschen verbleiben oder in die Luftröhre gelangen.<br />
Es bestand eine ständige Aspirationsgefahr. Ich brauchte<br />
keinen Mund, nicht einmal zum Lallen oder Bussis verteilen,<br />
weil es wahrnehmungsmäßige und motorische Funktionsausfälle<br />
gab. „Brust oder Keule?“ <strong>–</strong> Ja, da nehme ich doch<br />
lieber die Keule. Aber wem soll ich sie um die vermaledeiten<br />
Löffel hauen, zumal ich auch zu normalen Bewegungen gar<br />
nicht fähig sein sollte. Außerdem hatte ich an beiden Händen<br />
je einen nach innen eingeschlagenen Daumen, mit<br />
denen ich zwar wütende Fäuste ballte, mehr aber nicht. Alle<br />
waren plötzlich wie gelähmt. „Tetraplegie <strong>–</strong> Lähmung meiner<br />
Arme und Beine“. Infolge dieser spastischen Lähmung kam<br />
es zu einer dauerhaften Erhöhung des Spannungszustandes<br />
meiner Muskeln, die durch passive, vor allem aber durch<br />
ruckartige Bewegungen zusätzlich verstärkt wurden. Alsbald<br />
begrüßten meine Eltern Harm, einen holländischen<br />
Physiotherapeuten, der ihnen einen kleinen Bobath-Kursus<br />
vermittelte. Er führte sie ein ins Handling eines spastischen<br />
Babies und in die Techniken des An- und Auskleiden unter<br />
angespannten Bedingungen, während ich tatsächlich wie<br />
ein gespannter Flitzebogen in meinem Thermobett kauerte<br />
und Muskelschmerzen aushielt. Ich war also ein extrem<br />
schlaffes Kind ohne Spontanbewegungen, mit einem überstrecktem<br />
Rücken und einem zurückgebeugten Kopf. Von<br />
den Angelsachsen wurde ich als floppy infant bezeichnet.<br />
Ein gelähmtes Baby mit guten Aussichten auf wenig Erfolg.<br />
Mein flippiger, anglophiler Pa begab sich alsbald unter die<br />
Liedermacher, um einen mitreißenden Song zu komponieren,<br />
der nachhaltig untermauern sollte, wie es um mich und<br />
meine körperlichen Funktionen bestellt war. Batolio ahnte<br />
jedoch, dass Pa nichts von Noten verstand und auch kein<br />
einziges Musikinstrument spielen konnte. Selbst eine Triangel<br />
erinnerte ihn lediglich an seinen damals so verhassten<br />
Geometrieunterricht. Der folgende Text eignet sich somit<br />
nicht zum Mitsingen, sollte aber trotzdem nicht ignoriert<br />
werden.<br />
FLOPPY INFANT<br />
1. Ich kann nicht schreien<br />
ich kann nicht lachen<br />
ich kann nur Mienenspiele machen<br />
doch bin ich gut in and´ren Dingen<br />
zum Beispiel um mein Leben ringen<br />
Refrain<br />
I am a poor boy<br />
Floppy Infant<br />
but guarenteed a babe that feels<br />
2. Ich kann nicht saugen<br />
ich kann nicht schlucken<br />
ich kann nur brechen und auch spucken<br />
doch sonst bin ich ´ne wilde Nummer<br />
was wär` mein Leben ohne Kummer<br />
3. Ich kann nicht gähnen<br />
ich kann nicht schlafen<br />
ich kann euch nur mit Blicken strafen<br />
doch bin ich stark im Ganztagsträumen<br />
von Sonne, Licht und hellen Räumen<br />
4. Ich kann nicht greifen<br />
ich kann nichts fassen<br />
ich kann so vieles unterlassen<br />
doch lieg ich gern in Positionen<br />
wo sich Massagen richtig lohnen<br />
33
34<br />
5. Ich kann nicht frieren<br />
ich kann nicht schwitzen<br />
ich kühl nur ab um zu erhitzen<br />
denn ich bin Meister Fahrenheit<br />
im Sommer und zur Winterszeit<br />
6. Ich kann nicht krabbeln<br />
ich kann nicht rollen<br />
ich schöpf die Power aus dem Vollen<br />
denn ich bin ein bewegtes Kerlchen<br />
man nennt mich auch slow motion Bärchen<br />
7. Ich kann nicht klatschen<br />
ich kann nicht stampfen<br />
ich kann jedoch sehr heftig krampfen<br />
denn ich bin Held der Pflegeklasse<br />
vor Qualität setz´ ich auf Masse<br />
8. Ich kann nicht weinen<br />
ich kann nicht lallen<br />
ich kann nur in mein Trauma fallen<br />
doch hab ich Charme im Strahl der Sonne<br />
ich bin ein Proppen mit viel Wonne<br />
9. Ich kann nicht sehen<br />
ich kann schwer hören<br />
ich kann euch wundervoll betören<br />
denn ich bin Weltmeister im Schmusen<br />
an Papa´s Brust und Mama´s Busen<br />
10. Ich kann schlecht atmen<br />
ich kann nicht schmecken<br />
ich werde alle Geister wecken<br />
denn ich bin Luca <strong>–</strong> Schicksalsjunge<br />
ich zeig´ der Welt die rote Zunge<br />
Ich hatte den Blues endgültig für mich entdeckt und haderte<br />
als Schicksalsjunge mit meinen funktionellen Einschrän-<br />
kungen. Pa lehnte derweil mit sentimentalem Gemüt am<br />
Tresen einer Pianobar, vor ihm ein Glas Bushmills Malt Irish<br />
Whiskey und das weit aufgeschlagene Diagnosenschocksammelalbum:<br />
„Jede Strophe ist eine Katastrophe,<br />
jede Diagnose versetzt mich in Hypnose.“<br />
Er stand am Knotenpunkt des Lebens, während der edle<br />
Tropfen ihm eisern durch die Kehle rann, und philosophierte:<br />
„Egal welche Richtung wir von nun an gehen. Wir dürfen<br />
niemals, niemals die Orientierung verlieren.“<br />
35
36<br />
Fünftes Kapitel<br />
Der Absäugling<br />
Wie man zum Rotzlöffel der Nation erklärt wurde<br />
Papas olles Diagnosensammelalbum ließ sich einfach nicht<br />
zuschlagen.<br />
Es wäre allerdings auch ein dilettantischer Akt gewesen,<br />
meine geneigte Leserschaft davon abzuhalten, weiterhin<br />
ihre neugierigen Nasen in die erschütternden Geschehnisse<br />
meines ach so jungen Lebens hineinzustecken. Denn nun<br />
komme ich langsam und behutsam zu den Sach-, Lach- und<br />
Weingeschichten meiner Seelen-, Sinnes- und Körperwelt.<br />
Meine Nase, eine stubsige von zartem Format, sollte von<br />
meinen Sinnesorganen das wichtigste in vielfacher Hinsicht<br />
sein. Das ich gut roch, verstand sich ja hoffentlich von selbst.<br />
Schließlich riechen doch alle Babys gut, wenn man ihnen<br />
nicht ihre Häute mit Ölen und Lotions ramponiert. Ob ich<br />
denn meine Liebsten bei meinem ersten Schnupperkurs<br />
auch riechen würde? Es gibt da ja noch eine Nase in meiner<br />
Nase, ein sogenannter Schleimhautschlauch, der darüber<br />
entscheiden soll, ob wir einander riechen können. Dies<br />
behaupten jedenfalls einige Forscher. Der Schleimhautschlauch<br />
ist ein dünner, blind endender Schlauch von<br />
zwei bis acht Millimetern Länge an der rechten und linken<br />
Seite im unteren, vorderen Teil der Nasenscheidewand. Am<br />
Ende des Schlauches befinden sich helle längliche Sinneszellen,<br />
die zahlreiche Nervenfasern enthalten. Die Forscher<br />
vermuten nun, dass Spüldrüsen wasserreiches Sekret<br />
abgeben, in dem sich Pheromone lösen und so zu den Sinneszellen<br />
im Organ gelangen. Da aber unklar ist, ob die hor-<br />
monähnlichen Stoffe an Gehirnstrukturen weitergeleitet<br />
werden und ob letztere überhaupt bei mir vorhanden sind,<br />
lassen wir die Forscher zurück in ihrem Labor und wenden<br />
uns weit ätzenderen Themen zu: dem Schleim, diversen<br />
Schläuchen und tief bewegenden Geräuschen. Ein<br />
Schlauch, eine sogenannte Nasensonde, blieb mir dabei<br />
recht unangenehm in Erinnerung, obwohl er lebensnotwendig<br />
war. Ihr könnt euch vielleicht meine Begeisterung<br />
vorstellen, wenn so ein röhrenförmiges Teil durch die Nase<br />
über die Speiseröhre bis in den Magentrakt geführt wird.<br />
Ma`s abgezapfte Milch wurde dann mittels Spritze durch<br />
den Schlauch in mein Bäuchlein injiziert, wo diese die Magensäfte<br />
kräftig aufmischte, dass ein Teil der Nahrung<br />
prompt wieder hochkam. Das war dann echt geschmackvoll.<br />
Meine Magen- und Darmfunktion hatte offenbar auch<br />
keinen Vertrag mit der Schaltzentrale im Stammhirn. Später<br />
wurde die <strong>Du</strong>rchlaufprozedur dann von einem Perfusor<br />
gesteuert. Das ist eine Infusionsspritzenpumpe mit digitaler<br />
Einstellung der Perfusionsgeschwindigkeit, des Druckes<br />
und des Volumens. Mein kleiner multifunktioneller Riechkolben<br />
durfte echt für alles herhalten. Meine Eltern schauten<br />
zuweilen recht betrüblich in meinen Mund und fragten<br />
sich, ob der wohl Zähne bekäme. Eines Tages sollten<br />
tatsächlich vier schneidige, krumm- und schiefwachsende<br />
Beißerchen herausschießen und ein funktionsloses Dasein<br />
in meinem stets geöffneten Mund verbringen. Kurze Zeit<br />
später wurden die beiden dann mit einem Therapeuten<br />
bekannt gemacht, der eine Methode kannte, um meinen<br />
fehlenden Schluckreflex wieder in Gang zu bringen. Wir<br />
ließen ihn jedoch vorläufig vor der Tür stehen, um ihn bei<br />
passender Gelegenheit zu Wort- und Ideenreichtum kommen<br />
zu lassen. Zunächst aber wurden sie einem Gastrolo-<br />
37
38<br />
gen vorgestellt, einem Facharzt, der mir ganz schön kräftig<br />
auf den Magen schlug. Jedenfalls hatte der die Idee, mir<br />
operativ eine PEG anzulegen. Ich sollte also eine perkutane<br />
endoskopische Gastronomie als Methode zur enteralen<br />
Langzeiternährung über mich ergehen lassen. Vereinfacht<br />
ausgedrückt handelt es sich um einen Schlauch, der durch<br />
die Bauchdecke direkt in den Magen führt. Der Schlauch<br />
wird im Magen und an der Bauchdecke fixiert und hat am<br />
herausragenden Ende ein Adapterstück für Medikamentenspritzen<br />
und den Anschluss einer Ernährungspumpe. Ich<br />
empfand die Idee als eine Riesenschweinerei und bezeichnete<br />
das Teil fortan als pig, den Schweineschlauch. Toot<br />
konnte mir diesbezüglich nur beipflichten, grunzte herzhaft<br />
und trottete gemächlich davon, um sich in seinem Saustall<br />
zu suhlen, nicht ohne sich zuvor von seinem Sorgenrucksäckle<br />
vorübergehend entledigt zu haben. Mein Sorgenrepertoire<br />
als kleiner Erdenbürger war ja hinlänglich<br />
bekannt. Die Verträglichkeit der Nahrung für meinen kleinen<br />
Magen war jedoch eine recht komplizierte Chose. Von<br />
der Krankenkasse bekam ich jetzt eine Ernährungspumpe<br />
bereitgestellt. Diese war so konstruiert, dass man analog der<br />
errechneten Einfüllmenge pro Nahrungsvorgang das Volumen<br />
und die Laufzeit programmieren konnte. Ich möchte<br />
euch die weiteren technischen Details ersparen, hatten diese<br />
doch ihre besonderen Tücken. Für mich hatte man eine<br />
Laufzeit von 100 Millilitern Flüssigkeit pro Stunde festgelegt.<br />
Das nannte ich einen galaktischen Fingerhut-Ernährungsplan.<br />
Ich stellte mir Papas verwirrten Gesichtsausdruck vor,<br />
wenn man ihm in seiner Stammkneipe 1000 mit köstlichem<br />
Gerstensaft gefüllte Fingerhüte vorgesetzt hätte. Ihr kennt ja<br />
bestimmt die berühmte Geste: „Man fasst sich an den Kopf<br />
und greift ins Leere!“ Der mechanische Magenabfüllvor-<br />
gang sah nun vor, dass circa alle zehn bis elf Sekunden<br />
schlappe acht Tropfen Milch <strong>–</strong> später gab es Astronautenkost<br />
<strong>–</strong> aus einem Beutel in ein Auffanggefäß und von dort<br />
weiter durch den Schlauch in mein Bäuchlein gepresst wurden.<br />
So erreichten dann schlappe 43,5 Tropfen nach einer<br />
Minute und circa 2620 Tropfen nach einer geschlagenen<br />
Stunde meinen schier unersättlichen, kleinen Magen.<br />
„Dröppje voor Dröppje“ könnte somit ein waschechter<br />
Luca-Slogan sein. „Hey“ rief Batolio beswingt „die einzig<br />
wahre Alternative zu Burgern und sonstigem Fast Food ist<br />
Luca´s Slow Food“. Dabei appelierte er an alle Opfer einer<br />
übergewichtigen Gesellschaft: „Friss die Hälfte in zehnfacher<br />
Zeit und du brauchst dich bei keinem Bauchtanzkurs<br />
anmelden. Der wäre dann wech, wie bei Luca´s Papa.“ Eine<br />
Weile bekam ich viermal täglich je ein Portion von zweihundert<br />
Millilitern in insgesamt acht Stunden eingeflößt.<br />
Wenn man noch die Nachspülungen zur Schlauchreinigung<br />
je Vorgang, sowie sämtliche Medikamentengaben<br />
inklusive Fencheltee hinzu addierte, kam man auf sage und<br />
schreibe zehn Stunden Flüssigkeitszufuhr. Dabei hatte ich<br />
alles andere als eine Babymodell-Traumfigur, bekam eine<br />
Trichterbrust und konnte mein Gewicht nie über zehn Kilogramm<br />
steigern.<br />
Ich habe ein wenig vorgegriffen, zumal mein Ernährungsplan<br />
mittels Ernährungspumpe erst nach meiner Entlassung<br />
eingeleitet wurde und vielen Veränderungen unterworfen<br />
war. Damit spiele ich auf zuweilen recht denkwürdige<br />
Zwischenfälle an, die absolut nicht nach meinem<br />
Geschmack waren. Sie fielen unter die Rubrik: „<strong>Du</strong>rchfallquote“,<br />
welche allerdings mit Diarrhö und ähnlichen Unannehmlichkeiten<br />
nichts gemein hatte. Sie werden euch an<br />
anderer Stelle dieses kostbaren Buches unter die neugieri-<br />
39
40<br />
ge Nase gerieben. Die Sache mit der pig hatte leider einen<br />
ganz gewaltigen Haken, einmal davon abgesehen, dass ich<br />
quasi ein neues Körperteil besaß, welches ich irgendwann<br />
als solches akzeptieren würde. Der Haken betraf meine<br />
unberechenbaren Vitalfunktionen, die urplötzlich massive<br />
Probleme bereiteten. Man hatte sich offensichtlich zu früh<br />
darüber gefreut, dass der unter Narkose erfolgte operative<br />
Eingriff körperlich gut verkraftet würde. In zwei aufeinanderfolgenden<br />
Nächten wollte mein Körper das soeben unter<br />
wahnsinnigen Anstrengungen errungene Handycap-Leben<br />
aushauchen, indem es während heftiger Krampfanfälle zu<br />
Apnoe- und Zyanoseattacken, also zu Atemstillständen und<br />
bläulichen Verfärbungen der Haut, kam. So musste ich zweimal<br />
erfolgreich reanimiert werden. Dr. Hiob, `tschuldigung,<br />
Dr. Horn und meine Lieblingsschwester Edeltraud schauten<br />
mit tiefen Sorgenfalten aus der weißen Wäsche, nahmen<br />
meine Eltern beiseite und offerierten ihnen die trübe Aussicht,<br />
möglicherweise bald ein schweres Kreuz tragen zu<br />
müssen. In meinem Sinne wurde sodann eine Patientenverfügung<br />
erlassen, welche eine nochmalige Reanimation<br />
unter allen Umständen negierte. Sack und Asche! Toot, mein<br />
bemitleidenswertes Wanderschwein und Sorgenträger,<br />
wäre beinahe unter der tonnenschweren Last zusammen<br />
gebrochen, hätten Pa und Ma ihm nicht sofort einen Teil der<br />
Bürde abgenommen. So schrieb Pa tröstende Worte auf eine<br />
Postkarte, faltete sie zusammen und steckte die Karte in<br />
Toots kleinen Rucksack. Da ich euch als wissbegierige<br />
Leserschaft schätzen gelernt habe, möchte ich euch den<br />
Text garantiert nicht vorenthalten:<br />
„Lieber Luca Felipe,<br />
ich heiße Toot und bin ein kleines rosafarbenes Wander-<br />
schwein. Fortan werde ich dir ein treuer Wegbegleiter sein. In<br />
meinem Rucksack trage ich die Sorgen, Wünsche, Ängste<br />
und Hoffnungen deiner Eltern Birgit und Wolfgang, deiner<br />
Großeltern und aller lieben Menschen, die mit ihren Gedanken<br />
bei dir sind, sowie deiner Paten Gottfried, Ralf und Gabi.<br />
Wenn es dir, Luca, gut geht, trage ich eine Sonne, die dein<br />
Herz erwärmt.<br />
Wenn es dir, Luca, weniger gut geht, trage ich einen Mond. Er<br />
schenkt dir Gehör für deine Nöte und er schenkt dir seine<br />
Stimme, die uns wissen läßt, was du brauchst.“<br />
Die Karte selbst ziert ein Motiv, auf welchem der Betrachter<br />
von einem grünem Grashügel auf einen See hinunter<br />
schaut. Am Horizont leuchten die satten Farbe der untergehenden<br />
Sonne. Mein bis in alle Glieder zutiefst erschütterter<br />
Freund und Leidensgenosse Batolio riet dazu, eine sofortige<br />
Nottaufe zu organisieren, welche am folgenden Tag<br />
stattfinden sollte. Als sich dann alle um mich versammelt<br />
hatten, meine Eltern, Ma´s Eltern, ihr Bruder Ralf, Onkel<br />
Gottfried, Schwester Edeltraud, sowie ein hiesiger Pastor,<br />
erhielt ich mein erstes Sakrament. Ich wurde gesalbt und<br />
bekam kühles <strong>Was</strong>ser über mein Haupt geträufelt. Oh Quelle<br />
des Lebens. Just in diesem sakralen Moment der erfrischenden<br />
Tropfen riss ich meine Augen auf und rief mit meinem<br />
Herzen voller Sehnsucht: „Um Himmels Willen! Fürchtet<br />
euch nicht. Ich bin nicht auf diese Welt gekommen, um<br />
euch gleich wieder zu verlassen. Ich gehe mit euch nach<br />
Hause, auch wenn der Weg ein steiniger sein wird.“ „Steinig“,<br />
lachte Pa inbrünstig, „megagroße Felsen werden sich<br />
vor uns auftürmen. Doch wie solche werden auch wir in der<br />
Brandung stehen, wenn die Fluten uns zu überrollen drohen.“<br />
Ich hatte mich nun endgültig für das irdische Leben<br />
41
42<br />
entschieden. Allerdings wusste ich nicht, wie ich den Fluten<br />
jemals standhalten sollte, die mein Bronchialsystem zu<br />
überschwemmen drohten. So kann ich getrost zu einem<br />
meiner Lieblingswörter überleiten, dem griechischen Wort<br />
„hyper“, was soviel wie „über“ heißt und in Zusammensetzung<br />
mit lateinischen Hauptwörtern dann „super“ bedeutet.<br />
Schaut ruhig nach in einem medizinischen Wörterbuch, falls<br />
ihr es euch mittlerweile angeschafft habt. Das ist hypervoll<br />
mit Begriffen dieser Art. <strong>Was</strong> mein Atemzentrum betraf, so<br />
schaut man nach dem Begriff „Hypersekretion“, was soviel<br />
heißt wie super absondern. So gesehen flutmäßig abrotzen.<br />
Im Kapitel über meine Kinderkrankenschwester werde ich<br />
euch die Aktionen und deren Folgen sehr praxisnah demonstrieren.<br />
Ich bezeichnete meine Hypersekretion als „Secretia<br />
Service“, eine Mobilisationstruppe im ständigen Einsatz.<br />
Habt ihr schon einmal etwas von der Firma Tempo gehört?<br />
Ich könnte dort Dauerbezieher werden oder gleich die<br />
gesamte Produktion auf mich abstellen lassen. Mit Tempo<br />
meine ich aber eher die Schnelligkeit meiner Eltern, wenn<br />
sie heraneilen mussten, um mir den Schnodder mittels blau<br />
eingefärbter Stoffwindeln aus der Nase zu ziehen. Zu meinem<br />
tiefen Bedauern kam nun noch ein weiterer Schlauch<br />
zum Einsatz, der sogenannte Absaugkatheder. Ich wollte<br />
nicht gerade behaupten, dass ich diesen Fremdkörper hasste,<br />
schließlich brachte Absaugen ja auch Linderung. Ich<br />
hielt da schon freiwillig meine Nasenlöcher hin. Dabei<br />
untermalte ich die Rotzerei sehr hingabevoll mit reichlich<br />
gewürzten Geräuschen, die leider die Schmerzensäußerungen<br />
nicht unterdrücken konnten. In meinem Bronchialsystem<br />
war manchmal der Teufel los. Der sorgte für ständigen<br />
Nachschub und ließ mich ganz schön leiden, weil er wusste,<br />
dass ich mich nicht so dolle wehren konnte und ganz viel<br />
Kraft aufbringen musste, um das glitschende und glibbernde<br />
Teufelszeug nach draußen zu befördern. Der Schwall,<br />
der zumeist aus wässriger, weißlicher Flüssigkeit bestand,<br />
ergoss sich dann je nach Liegeposition quer über mein<br />
Gesicht bis hinter beide Ohren und selbstverständlich auch<br />
auf meine schicke Kleidung. Da rotierte der Lavamat unaufhörlich,<br />
bis er eines Tages den Maschinengeist aufgab. Die<br />
ganz tief sitzenden Sekrete wiesen dagegen einen gelblichen<br />
Farbton auf, der die Existenz ganz fieser Erreger pulmonaler<br />
Ärgernisse bewies. Diese Lungenkiller tauchten<br />
plötzlich wie aus dem Nichts auf, eine Armee hochinfektiöser,<br />
unbarmherziger Keime mit der Bezeichnung „Pseudomonas<br />
Aeruginosa“. Sie ergriffen Besitz von einigen meiner<br />
Lungenareale, die, wie ihr noch hören werdet, leidlich ihrer<br />
zunehmenden Zerstörung entgegen fieberten. Sie schlichen<br />
sich heimlich an, verhielten sich erst auffällig still, veränderten<br />
dann zunehmend die Zusammensetzung ihrer<br />
Zellhüllen und produzierten unglaubliche Mengen eines<br />
schleimbildenden Kohlehydrats, dem Alginat. Alsdann bildeten<br />
sie Mikrokolonien, bevor sie zur finalen, brachialen<br />
Attacke übergingen. Ich setzte sofort nach der Devise<br />
„Angriff ist die beste Verteidigung“ zum resoluten Gegenschlag<br />
an, indem ich offensivstarke Fresszellen, die weißen<br />
Blutkörperchen, aktivierte, um die gnadenlosen Pseudos in<br />
Schach zu halten. Der Gegner war jedoch unerbitterlich,<br />
sollte bald das chronische Stadium erreichen, in dem es<br />
unweigerlich, auch unter Einsatz stärkster Waffen, nicht<br />
mehr zu eliminieren sein würde. Der Feind war dabei mein<br />
Lungengewebe radikal zu vernarben, ja geradezu meine<br />
Atemaustauschfläche zu mindern. Die Pseudomonas sollten<br />
mir also eine lang andauernde und immer wieder neue<br />
Antibiose, hochfrequentige Atemtherapien, diverse Lage-<br />
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44<br />
rungsarten zur adäquaten Belüftung sensibler und angegriffener<br />
Flächen, sowie eines Tages einen Sauerstoffkompressor<br />
verschaffen. Allen kräftezehrenden Verteidigungsstrategien<br />
zum Trotze wurde mein Absauggerät, kurz das<br />
Accuvac genannt, mein ständiger Begleiter. Das Absaugen<br />
meines zuweilen unaufhörlich quellenden Schleimes<br />
brachte mir die Bezeichnung „Rotzlöffel der Nation“ ein, was<br />
ich mit einer Prise Humor freundlich entgegennahm.<br />
Weniger komisch, ja eher absonderlich, fand ich dagegen<br />
die Tatsache, auch noch als Absäugling in die Geschichte<br />
tragischer Helden einzugehen. Wäre ich in das Big Brother<br />
Haus eingezogen, hätte man binnen zwei Tagen die Bewohnerschaft<br />
samt Regie weg nominiert. Ihr denkt jetzt vielleicht,<br />
das Kerlchen will euch an der Nase herumführen. No,<br />
no! Wer eben nicht saugt, der wird abgesaugt!<br />
Ich beginn` es zu hassen<br />
und schneide Grimassen<br />
die Fäustchen geballt<br />
leise „Scheiße“ gelallt<br />
knallrot mein Gesicht<br />
alles ist dicht<br />
möchte gern schreien<br />
mich vom Schleim befreien<br />
Der Absäugling<br />
ich fang an zu stöhnen<br />
das Gerät ist am Dröhnen<br />
Schlauch tief nasal<br />
es ist eine Qual<br />
der Sog ist enorm<br />
komm` doch langsam in Form<br />
oh freie Lungen<br />
das ist hyper gelungen.<br />
Es gab Tage, da hatte ich die Nase derart gestrichen voll,<br />
dass ich mich am liebsten auf der schnellsten Spur weggeschleimt<br />
hätte. Mein allseits beliebter Patenonkel Gottfried<br />
verstand etwas von Assoziationen und schenkte mir zur<br />
Geburt eine Schnecke. Dieses rot-gelbfarbige Stofftier trug<br />
einen blauen Hut und war zudem sehr musikalisch, konnte<br />
aber letztlich auch nichts daran ändern, dass eine verstopfte<br />
Nase oder ein vollbesetzter Schleimwaggon nicht auf<br />
Gutenachtlieder reagiert. Jene Tage, von denen es reichlich<br />
gab <strong>–</strong> nicht zu vergessen auch die zahlreichen Nächte <strong>–</strong><br />
waren gekennzeichnet durch massive Probleme. Trotz aller<br />
Anstrengungen war ich meist nicht in der Lage, den meine<br />
Atmung blockierenden Schleim loszuwerden, fehlte es mir<br />
doch auch an einem befreienden Hustenreflex. Da konnte<br />
ich pressen, drücken, stöhnen, wie ich wollte. Der Sekretstau<br />
ließ sich nicht lösen. Da half dann zwischendurch nur<br />
noch das Schnupfenmittel Olynth, wobei ich mich allerdings<br />
fragen musste, wie die Pharmazeuten auf derartige<br />
Namen kommen. Olynth war nämlich eine Stadt auf der Halbinsel<br />
Chalkidiki in Makedonien, welche von Philipp II von<br />
Makedonien erobert, zerstört und nicht wieder aufgebaut<br />
wurde. Wer weiß, was in meiner Nase nicht bereits alles zerstört<br />
wurde, einmal abgesehen von der Tatsache, dass ich<br />
meine Alten doch tatsächlich hyper riechen konnte. So und<br />
jetzt lasst mich in Ruhe. Ich muss jetzt einen, wahrscheinlich<br />
vergeblichen, Versuch unternehmen, meine müden Äuglein<br />
zum Abschnarchen zuzudrücken. Gut`s Nächtle <strong>–</strong> schnorchelnder<br />
Luca.<br />
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46<br />
Sechstes Kapitel<br />
Der Bunte Kreis<br />
Wie man sich nachsorglich den Weg nach Hause bahnte<br />
In jener Zeit, in der ich noch im Rechteck meines Thermobettchen<br />
in Flitzebogenstellung verharrte und von keiner<br />
Seite auch nur annähernd positive Signale gesetzt wurden,<br />
entstand ein illustrer Kreis von Personen, die einen ganz<br />
weltoffenen, gemeinnützigen Verein der freien Wohlfahrtspflege<br />
gründen wollten. Er sollte den Namen: Bunter Kreis<br />
Münsterland e.V. <strong>–</strong> Verein zur Familiennachsorge <strong>–</strong> tragen.<br />
Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen bezüglich der zukünftigen<br />
Arbeit standen Kinder wie ich und Leidgenossen aller<br />
Art. Frühgeborene, Kinder mit Erbkrankheiten, geschädigte<br />
Kinder infolge von Alkohol-, Drogen- und Medikamentenmissbrauchs,<br />
chronisch Erkrankte, von Krebs befallene, verunfallte<br />
und was die betrübliche Palette der bekannten und<br />
weniger bekannten Krankheiten und Behinderungen sonst<br />
noch so hergab. Das Modell der Nachsorge war jedoch keine<br />
neue Erfindung des genannten Personenkreises, sondern<br />
wurde schon als Augsburger Modellprojekt im Jahre<br />
1993 ins Leben gerufen. Das zugrunde liegende Konzept<br />
sollte demnach überall erfolgreich etabliert werden, so auch<br />
in meinem Münsterländle. Ich war jedenfalls einer der<br />
ersten kleinen Patienten, die in das Nachsorgeprogramm<br />
aufgenommen wurden.<br />
Nach den ersten Wochen meines intensivstationären<br />
Aufenthaltes wusste niemand eine rechte Antwort auf die<br />
Frage, welchen Weg ich wohin gehen würde. Quo vadis Bambino<br />
Luca? Vom Thermobett per Kindersarg via Kapelle auf<br />
den Waldfriedhof? Von der Intensivstation via Kinderstation<br />
in eine medizinisch-therapeutische Vollzeiteinrichtung wie<br />
Bethel oder gar nach Hause in den weichen Schoß der<br />
Familie? Bei letztgenannter Alternative würde ich unaufgefordert:<br />
„Give me Five“ abklatschen. Doch mein eingeschlagener<br />
Daumen hinderte mich daran. Ein anderer Daumen<br />
zeigte eher nach unten, meldeten sich doch Zweifel bei den<br />
Betroffenen. Welchen Bedarf an medizinischem Geräte-<br />
Equipment würde ich haben, wer würde die Geräte fachgerecht<br />
bedienen können? Sind meine Eltern nicht ausgesprochene<br />
Laien, die ehrfürchtig vor der Technik auf die<br />
Knie gehen?<br />
Man steckte, so wie auch bei vielen anderen Dingen, nicht<br />
drin, außer in einer Sinnkrise. Das war jedoch kaum mein<br />
Problem. Es ist alles nur eine Frage der Einstellung, des<br />
Zutrauens, der Überwindung von ureigenen, meistens<br />
unbegründeten Ängsten.<br />
Plötzlich stand Winnie in der Tür. Nicht Winnie Pu, der Bär<br />
von geringem Verstand, sondern Winfried, der Mann aus<br />
der Sozialpädiatrie. Ich wusste nicht, ob Batolio ihm die<br />
Message von meinem Aufenthalt gesteckt hatte oder ob<br />
Winnie sich sowieso immer auf den Stationen herumtreibt.<br />
Wie ein Arzt sah er jedenfalls nicht aus, Krankenpfleger war<br />
er auch nicht. Er wirkte eher wie der Papa eines kranken<br />
Kindes, der sich in der Zimmertür vertan hatte. Fakt war<br />
jedoch, dass Winnie immer zur Hilfe gerufen wird, nachdem<br />
die Ärzte die betroffenen Eltern mit dem Diagnoseschock in<br />
apathische Ungläubigkeit versetzt hatten. Winnie wird dann<br />
verständigt, um sie da wieder herauszuholen.<br />
Seelische Wunden lecken nach erschütternden Ereignissen.<br />
Wird die crisis geleugnet? Existieren Ängste und<br />
Furcht? Verhalten sich die Eltern ärgerlich und feindselig?<br />
47
48<br />
Werden sie gar depressiv? Winnie musste alles wieder ins<br />
emotionale Gleichgewicht bringen. Verwirrung und psychische<br />
Desorganisation nach der Konfrontation mit den Diagnosen.<br />
Das alles hatte einen unendlichen Knoten gebildet,<br />
der zu entwirren war. Winnie war da und half, wo er helfen<br />
konnte. Er räumte die Steine weg auf dem Weg zum Begreifen,<br />
zum Erkennen, zur Akzeptanz des Geschehenen, zur<br />
Neuorganisation des Alltags, des Lebens. Winnie stand im<br />
Zentrum des Bunten Kreises und bereitete die Nachsorge<br />
vor. Batolio griff ihm dabei schmunzelnd unter die Arme:<br />
„Der eine, der hat vorgesorgt, ein anderer ist rundum versorgt,<br />
ein Dritter, der hat ausgesorgt und Luca, der wird nachgesorgt.<br />
Damit er bloß nicht durch das soziale Netz fällt und in<br />
einer ausgebeulten Hängematte strandet, gelle.“ Hurra! Ich<br />
durfte mich auf zu Hause freuen. Ich wurde entlassen. Ich<br />
freute mich auf meine wundersamen Spielsachen: auf mein<br />
Absauggerät, auf meine Ernährungspumpe, auf mein Pulsoxymeter<br />
und was die Spielesammlung sonst noch so zu<br />
bieten hatte.<br />
Zu Hause angekommen erwartete mich schon die Presse.<br />
Ich war jetzt ein Topkandidat für die Titelseiten der Boulevardmagazine.<br />
In Interviews könnte ich mich wie ein infantiler<br />
Popstar benehmen, ganz im Sinne meiner Titulierung ein<br />
Rotzlöffel der Nation zu sein, der frei auskotzt was er nicht<br />
ertragen kann. „Ob er sich frei in der Pampers präsentieren<br />
könnte?“, fragte Batolio und fügte hinzu: „Luca im Doppelmoppel-Dress<br />
gäbe auch ein hypergrelles Motiv ab“. Die<br />
Dame von der Zeitung kam natürlich erst einige Monate<br />
später und wollte einen exklusiven Report über den Bunten<br />
Kreis verfassen. Wie funktioniert Nachsorge am konkreten<br />
Fallbeispiel Luca Felipe? Der Titel des Zeitungsberichtes<br />
hieß: „Hilfe für Luca <strong>–</strong> und für seine Eltern.“ Der Untertitel<br />
lautete: „Der Bunte Kreis Münsterland unterstützt Familien<br />
schwer kranker Kinder“. Auf dem abgedruckten Foto<br />
betrachteten mich meine Erzeuger und Winnie mit liebevollen<br />
Blicken, wie ich auf einem mit Styroporkugeln gefüllten<br />
Rundkissen lag, derweil mir die schnell erkaltete Milch ins<br />
Bäuchlein rann. Ausdrucksstark war der folgenschwere<br />
Satz von Ma: „Warme Fönluft auf der Haut mag er, Baden,<br />
Musik hören und in der Hängematte schaukeln.“ Casemanager<br />
Winnie hatte ausreichend viel Zeit, um die Aufgaben<br />
und Ziele des neu gegründeten Vereins zu beschreiben:<br />
„Wir begleiten die Familien von der Klinik nach Hause<br />
und bieten ihnen weitgehende Unterstützung an, solange<br />
bis sie ihren schweren Alltag eigenständig und kompetent<br />
meistern können. Wir bieten psychosoziale Beratung und<br />
Betreuung an, wir organisieren einen Kinderkrankenpflegedienst<br />
oder beraten in Pflegefragen. Wir beraten in sozial<br />
rechtlichen Angelegenheiten. Wir bieten seelsorgerische<br />
Betreuung oder Trauerbegleitung. Wir kümmern uns um die<br />
Betreuung von Geschwisterkindern. Wir fördern und unterstützen<br />
Selbsthilfegruppen. Wir bieten unbürokratisch<br />
finanzielle Hilfen in Notlagen und besonderen Härtefällen.“<br />
„Das alles, und noch viel mehr, würd´ ich machen, wenn ich<br />
Casemanager von Deutschland wär“, trällerte Batolio und<br />
freute sich über die umsichtigen und vielseitigen Beratungs-<br />
und Betreuungsangebote, die der Bunte Kreis den<br />
betroffenen Familien anbietet. Pa wurde Mitgründer und<br />
ließ sich in den Vorstand wählen. Dort übt er unter anderem<br />
die Funktion des Schriftführers aus und verfasst die Protokolle<br />
über die Beschlüsse des Vorstandes. „So liebe Freunde!<br />
Bei mir türmen sich schon wieder Meter hohe Berge von<br />
Problemen auf. Deshalb muss ich mich vorübergehend von<br />
euch verabschieden, um die Sachlage mit Winnie erörtern<br />
49
50<br />
zu können. Der hat immer ein offenes Ohr und ihr bekommt<br />
eine Denkpause.“ Es hätte alles so schön sein können, würde<br />
Winnie nicht ständig von seinem Ideenreichtum Sinniges<br />
und Spannendes abschöpfen. „Ich habe hier ein tolles Drehbuch<br />
über ein sehr kurzes und intensives Leben vorliegen.<br />
Die Redaktion vom Lokalfernsehen Münsterland schickt<br />
eine Truppe bei euch vorbei, um einen Filmbeitrag über den<br />
Bunten Kreis zu produzieren. <strong>Du</strong> erhältst selbstverständlich<br />
die Hauptrolle. „Natürlich nur, wenn du versprichst, nicht<br />
ständig in die Kamera zu rotzen“. „Wow! Das Futtybaby geht<br />
unter die Leinwandhelden und wird als Werbeträger in die<br />
Filmgeschichte der Sozialdramen eingehen. „Ich bin ein<br />
Toyota-Baby. Nichts ist unmöglich!“ An meinem ersten<br />
Drehtag hatten wir schon herzlich viel zu lachen. Die Filmcrew<br />
war so eben eingetrudelt, im Schlepptau die Kamera und<br />
Kabel, Kabel, Kabel. Alle waren sie gekommen: Der Regisseur,<br />
der Kameramann, der Cutter, der gaffer and his best<br />
boy für eine akkurate Beleuchtung, die Maskenbildnerin,<br />
der Bühnendekorateur, die Catering-Firma, das Sandmännchen<br />
und noch weiteres Bodenpersonal. Nur das Drehbuch<br />
hatten sie vergessen. „Stop!“, rief Batolio. „Klappe zu! Übertreib<br />
doch nicht so.“ Es waren lediglich vier Personen vor Ort:<br />
der rasende Reporter und seine Freundin, der Mann mit der<br />
Kamera unter dem Arm und ein weiterer Helfer. Pa, Ma und<br />
Winnie bekamen je ein Sprechrolle, derweil ich das Maul zu<br />
halten hatte. Es gab Fragen und Antworten, wenig Sekretfluss<br />
und nichts zu essen. Statt dessen hielt mir Ma ständig<br />
eine Sauerstoffmaske vor die Nase, in die ich kräftig schnorcheln<br />
konnte. Winnie, der die ganze Zeit über schon im Haus<br />
war, wurde plötzlich vor die Tür geschickt. Als Protagonist<br />
des Bunten Kreises sollte er vortäuschen, auf Visite zu kommen.<br />
Er klingelte also an der Haustür. Pa öffnete und Winnie<br />
fragte: „Wie geht`s?“ Pa erwiderte: „Ganz gut heute!“ Keiner<br />
hatte dabei in die Kamera geschaut. Pa schloss lediglich die<br />
Tür, wegen der Fans und den Paparazzis. Zum Abschluss<br />
gab es noch eine obligatorische Nacktszene. Margret und<br />
ich imitierten eine Atemtherapiesequenz. Zu meinem sonstigen<br />
Outfit kann ich nur hinzufügen: „Dressed to kill. Luca<br />
als Charmeur in edler Pose“. Allerdings hatte die Maskenbildnerin<br />
auf der ganzen Linie versagt. Meine Wangen<br />
waren durch die Sekrete furchtbar aufgerauht und entzündet.<br />
Wieso hatte ich eigentlich die doofe Sauerstoffmaske?<br />
Sorry! Die Antwort findet ihr in einem späteren Kapitel. Ich<br />
schrieb also Filmgeschichte, bekam einen Bambino-Oscar<br />
und freute mich wie Roberto Benigni: Doch der sagte<br />
nur:“It´s a sad damned beautiful world!“, was soviel bedeutet<br />
wie: „Es ist eine verdammte, traurige, schöne Welt.“ Nur<br />
ins Studio des Lokalsenders wurde ich nicht eingeladen. Da<br />
hat mich mein liebenswerter Chefarzt Dr. Egbert Lang würdig<br />
vertreten. Allerdings gab mir die Einleitung des Filmes<br />
ein wenig zu denken, sah ich doch eine recht merkwürdige<br />
Sequenz: Dr. Gerleve, ein weiterer Chefarzt der Kinderabteilung,<br />
stand inmitten der Neugeborenintensivstation vor<br />
einem Thermobettchen, griff mit einer Hand hinein und<br />
befühlte ein Baby, welches nie und nimmer ich war. Da brat<br />
mir doch einer einen Storch, der auch nicht gekommen war,<br />
um gesunde Kinder abzuliefern.<br />
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52<br />
Siebtes Kapitel<br />
Der Kanalknotenpunkt Datteln<br />
Wie man ein Gehirn mit einem Zugunglück verglich<br />
Ich lag tatsächlich nicht in diesem Thermobett. Dr.Gerleve<br />
versorgte in der Filmsequenz ein Frühchen, was bestimmt<br />
doppelt so wenig wog wie ich bei meiner Geburt. Ich war ja<br />
inzwischen nach zehn wöchiger intensiver Pflege durch<br />
Schwester Edeltraud und all den anderen Schwestern und<br />
Ärzten ins Nachsorgeprogramm des Bunten Kreises aufgenommen<br />
worden. Zudem hatte ich einige Zeit vor meiner<br />
Entlassung mein Thermobett gegen ein ordentliches Babypflegebett<br />
mit Plexiglasscheiben eingetauscht. Erstaunlicherweise<br />
hatte mir der nervtötende Pegel vom ewigen<br />
Babygejaller sogar ein Einzelzimmer beschert; soviel Rücksicht<br />
nahm man auf geburtstraumatisierte und Ruhe liebende<br />
Absäuglinge. Die Verlegung hatte leider auch zu Folge,<br />
dass ich meine Herzensdame Isabell aus der Hörweite verlor.<br />
Andererseits war jedoch absehbar, dass meiner Perle<br />
bald eine Herzoperation in einer Spezialklinik bevorstand.<br />
Ihr Herz wird aber trotzdem ganz tüchtig für mich schlagen;<br />
spätestens an dem Tag, wo wir uns wieder begegnen. Vielleicht<br />
bekomme ich dann auch einen Kuss. Schau`n wir mal!<br />
Jetzt hatte ich also die Vertrautheit der stationären Pflege<br />
gegen die Fremdheit einer häuslicher Versorgung getauscht.<br />
Vorerst sollte es keine Schichtwechsel, keine Sonografien,<br />
kein Geheule, Gezeter und Gekreische mehr geben. Bambino<br />
Luca war endlich daheim und verlangte Gesundheitsservice<br />
rund um die Uhr. Batolio freute sich über meine Ankunft<br />
wie ein Nachtwächter, der im Strahl einer Taschenlampe sei-<br />
nen Wachhund wiedererkennt, und säuselte schmunzelnd<br />
in Papi´s Ohr: „Na, Süßer! Hast du heute schon was vor? Wir<br />
machen eine Nachtschicht.“ „Ist ja hyper“, erwiderte Pa mit<br />
einem langgezogenen Lemonenlächeln, schlüpfte in seinen<br />
zerknautschten Pyjama, verkroch sich zur Vorschlafphase<br />
unter eine Decke, träumte sich durch das Diagnosensammelalbum<br />
und kämpfte dabei leidenschaftlich gegen die<br />
Windmühlen meiner unberechenbaren, pathologischen<br />
Hirnfunktionen. In einigen Nächten wurde er selbst unberechenbar,<br />
indem er Ma mit recht absonderlichen Handlungen<br />
mehrfach aus dem Schlaf riss. Einmal erwachte sie, als er<br />
dabei war, das gesamte Ehebett auseinander zu nehmen,<br />
bzw. die Bettdecken zu durchwühlen: „<strong>Was</strong> machst du da?“,<br />
fragte sie ihn schlaftrunken, worauf er erwiderte: „Ich suche<br />
Luca. Den habe ich doch eben noch gewickelt. Und jetzt ist<br />
er spurlos verschwunden.“ War ich aber nicht. Ich lag in meinem<br />
Zimmer mit einem dicken Pomm in der Buchse und<br />
wusste nichts von Papa´s Suchaktionen. In einer weiteren<br />
Nacht fand Ma ihn auf der Terrasse vor, wo er ziellos umherirrte,<br />
auf der Suche nach meiner Ernährungspumpe. „Die<br />
steht doch bei Luca im Zimmer“, flehte Ma ihn an, schleunigst<br />
zurück ins Bett zu kommen. „Da habe ich sie aber nicht<br />
gefunden“, stammelte Pa, zündete sich eine Zigarette an,<br />
erwachte in jenem Augenblick und konnte sich an nichts<br />
mehr erinnern.<br />
Während Pa sich also zwischenzeitlich in nächtlicher Trance<br />
konfuse Wege durch die Wohnung bahnte, wurde ich<br />
zunehmend von schweren epileptischen Anfällen heimgesucht.<br />
Plötzlich schlugen die Blitze an allen Fronten ein, jagten<br />
meinen Puls auf 200 Schläge und mehr. Ein Intercity<br />
geriet aus den Gleisen, raste querfeldein über die Areale<br />
hinweg, riss Hochspannungsleitungen mit und stürzte mit<br />
53
54<br />
Mein finales Schlaferlebnis<br />
Spitzengeschwindigkeit ins Nirwana. Mit weit aufgerissenen,<br />
von Panik gezeichneten Augen starrte ich ins Leere,<br />
spürte wie eine Diazepam-Rectiole in meinen After eindrang,<br />
stöhnte ein letztes Mal und versank unter der Wirkung<br />
ins apathische Nichts. Nach einer zunehmenden<br />
Frequenz epileptischer Anfälle, die schon im St. Vincenz-<br />
Hospital ihren Anfang nahmen, fand ich mich in der Epilepsieambulanz<br />
der Vestischen Kinderklinik zwischen den<br />
Kanälen zu Datteln wieder.<br />
Acht lange Wochen hatte ich meinen Eltern zu Hause auf<br />
Trab gehalten, bis alles ein wenig außer Kontrolle geriet.<br />
Nicht nur die Zahl meiner Anfälle nahm zu, sondern auch<br />
ihre zeitliche Dauer. Das Diazepam verfehlte seit einiger<br />
Zeit seine Wirkung, entweder weil ich es ruck zuck wieder<br />
ausschiss oder weil es aufgrund der Intensität der Anfälle<br />
wirkungslos blieb. Jedesmal, wenn Papa ein Klistier auspackte,<br />
rief Batolio süffisant: „Papa zieh dich warm an,<br />
Luca´s Darm, der greift dich scharf an.“ Unbeabsichtigt, aber<br />
zielsicher schied ich das Medikament prompt aus, was fatalerweise<br />
nicht ohne Nebenwirkungen blieb. Ich muss meine<br />
Behauptung, vorläufig keine Schichtwechsel, Sonografien<br />
oder ähnliches über mich ergehen zu lassen, korrigieren.<br />
Statt dessen saß ich auf Pa´s Schoß in Erwartung einer EEG-<br />
Ableitung, eines ElektroEncephaloGramms, welches die<br />
elektrischen Vorgänge in meinem unkomplizierten Gehirn<br />
aufzeichnet. Dafür wurden mir annähernd 25 kleine, mit<br />
Mull überzogene und mit einer Kochsalzlösung befeuchtete<br />
Silberplättchen, die Elektroden, mit einer Haube aus Gummibändern<br />
auf die Kopfhaut gezogen. Die Bänder waren<br />
über dünne Kabel mit dem EEG-Gerät verbunden. Nur gut,<br />
dass ich mich nicht einer Skinheadrasur unterziehen musste.<br />
Jetzt saß ich hier zwanzig lange Minuten mit einem<br />
Elektrodenhut und ließ geringe Spannungen messen. Die<br />
auf Papierstreifen aufgezeichneten extremen Wellen sahen<br />
aus wie das Zugunglück von Brühl, wie es mein Neuropädiater<br />
einmal trefflich, doch voll daneben ausdrückte. Ich<br />
musste dableiben, zur Medikamenteneinstellung. Nach<br />
55
56<br />
drei Monaten experimenteller Therapie wurde ich entlassen,<br />
mit scharfen Wellen im Kopf, einem Schrank voller Medikamente<br />
und der ungünstigen Prognose therapieresistenter<br />
Anfälle. Prompt legte ich auch schon wieder los. Mein kleiner<br />
Körper drehte sich unfreiwillig auf die rechte Seite und<br />
meine Arme zuckten in einer Tour, während meine Beine zu<br />
steifen Gliedern wurden. Mein Schädel dröhnte im Gewitter<br />
der Einschläge. Immer wieder kam es zu Atempausen, nach<br />
denen ich kräftig stöhnte. Meine Muskelgruppen, die<br />
ansonsten nur geringfügig im Einsatz sind, waren derart<br />
angespannt, dass sie mir zu reißen drohten. Fortan vernahm<br />
ich die bestimmten, mit leisen, traurigen Untertönen versehenen<br />
Worte: „Ja, dann müssen wir den kleinen Mann leider<br />
wieder abschießen!“ Als wäre ich ein Fasan, eine Tontaube<br />
oder gar ein Moorhuhn. Sie meinten jedoch die Medikamenten-Notfall-Applikation<br />
von mehreren Tropfen Rivotril,<br />
die ich verabreicht bekam, wenn ich, wie in diesem Moment,<br />
schwer tonisch-klonisch krampfte. Rivotril ist ein Antiepileptikum<br />
mit Pfirsich-Aroma und enthält den Wirkstoff Clonazepam.<br />
Man musste schon einige Zeit investieren, um die<br />
erforderliche Anzahl Tropfen aus der Flasche herauszubekommen,<br />
denn das Zeug war derartig zäh, dass man parallel<br />
dazu eine Fünf-Minutenterrine zubereiten konnte.<br />
Währenddessen nervte mein Pulsoxymeter mit seinen<br />
unaufdringlichem Alarmsignalen. Ich zuckte, stöhnte, vergoss<br />
eine dicke Kullerträne. Spätestens nach zehnminütiger<br />
Krampferei sollte das ärztlich indizierte Mittel durch meine<br />
pig in den Magen geflossen sein. Da es nicht so schnell seine<br />
gewünschte Wirkung erzielen konnte wie eine intravenöse<br />
Injektion, hatte ich manchmal genügend Zeit mir eine<br />
Gegenmaßnahme auszudenken. Plötzliches Erbrechen,<br />
eine meiner bekannten Spezialitäten, blieb für meinen Pa<br />
eine immerwährende Horrorvision. Schließlich musste ein<br />
Status Epilepticus unter allen Umständen vermieden werden,<br />
da es mir wegen einer möglichen lebensbedrohlichen<br />
crisis weitere stationäre Aufenthalte eingebracht hätte.<br />
Rivotril hatte sich jedenfalls als klinisch gut wirksames Mittel<br />
herausgestellt, streckte mich aber meistens ganz schön<br />
nieder, abgesehen davon, dass ich eh die meiste Zeit lag.<br />
Wenn das Mittel zu wirken begann, fühlte ich mich tatsächlich<br />
wie abgeschossen. Rivotril machte labil. Die Intensität<br />
meiner Anfälle, die teilweise bis zu einer satten Stunde<br />
andauern konnten, hatten einen unglaublichen Kräfteverschleiß<br />
zur Folge, als hätte mich ein Boxer mit einer wuchtigen<br />
Rechten in die Ringecke befördert.<br />
Knock out! That´s the fact. Als ich aus meinem halbkomatösen<br />
Zustand erwachte entdeckte ich weitere Extreme meiner<br />
Hirnfunktionen. Neben meinen therapieresistenten<br />
Anfällen mit den tonischen Phasen, der gleichbleibenden<br />
Muskelspannung bei einer Muskelkontraktion und den<br />
klonischen Phasen mit den rhythmischen Zuckungen einer<br />
oder mehrerer Muskelgruppen, entwickelte sich das so<br />
genannte West-Syndrom. Ich hatte oftmals den Eindruck,<br />
dass mein Gehirn eine Art Dreh- und Führungskreuz war,<br />
mit dem ein Marionettenspieler seine Puppe bewegt. Luca<br />
hing an seidenen Fäden und bewegte sich durch einen<br />
denkwürdigen Akt der Tragödie „Lunatic“ oder „wie der<br />
Mond mich in seinen Bann zog“. Wie aus heiterem Himmel<br />
kam es zu einer abrupten ruckartigen Zuckung, bei der sich<br />
mein Kopf schlagartig anhob. Desweiteren wurden meine<br />
Arme und Beine ebenso ruckartig hochgeworfen, als würde<br />
ich mich wie ein Igel zusammenrollen wollen. Der Marionettenspieler<br />
hatte die Fäden blitzartig angezogen und wieder<br />
losgelassen und wiederholte das Schauspiel in Serie bis<br />
57
58<br />
zu zwanzig Mal hintereinander. BNS nannte sich diese<br />
Anfallsform und war seinerzeit schon von den Coesfelder<br />
Ärzten prognostiziert worden. Das B steht für Blitz, weil der<br />
Ablauf blitzartig geschieht und durchaus mit einem<br />
schreckhaften Zusammenfahren missdeutet wird. Das N<br />
steht für Nick, welches die Nickbewegung des Kopfes, der<br />
nach vorne schnellt, beschreibt. Das S steht für Salaam, den<br />
orientalischen Gruß, weil das ruckartige Anziehen der Arme<br />
zur Brust hin diesem sehr ähnlich sind. Wenn diese BNS-<br />
Krämpfe in Serie auftreten rotierten meine Pupillen entweder<br />
hin und her oder verdrehten sich nach oben weg. Meiner<br />
verzerrten Mimik konnte man entnehmen, dass mir diese<br />
Art Krämpfe tierisch an die Substanz gingen.<br />
Batolio hatte einmal wieder den Schalk im Nacken und rief:<br />
„Wenn in Lucas Gehirn der Blitz einschlägt, erschreckt sich<br />
der Stammhirn-Chef und zuckt in sich zusammen. Sein Kopf<br />
fällt knallend auf den Schreibtisch und er nickt ein. Die arabischen<br />
Angestellten verabschieden sich höflich in den Feierabend.<br />
Salaam maleikum, Cheffe!“<br />
Der Kerl hat jetzt Prozesse am Hals und ich Rectiolen im<br />
Arsch. In der Kanalstadt Datteln wurden die Bordsteine<br />
hoch geklappt und die Lichter ausgeschaltet. Fremde verließen<br />
fluchtartig die Stadt, weil sie dort nicht tot über einem<br />
Zaun hängen wollten.<br />
Pa saß zwischen den Kanälen und vergeudete seine Zeit,<br />
indem er Limericks dichtete.<br />
Channel-Blues<br />
Der Luca schaut auf den Kanal<br />
und denkt: Der ist aber schmal!<br />
Da trägt eine Welle<br />
ihn fort auf die Schnelle.<br />
Die Kanäle sind wirklich brutal<br />
Achtes Kapitel<br />
Das Ärzte- und Therapeutennest<br />
Wie man ambulant behandelt, verdeckt und versteckt wurde<br />
Der Sommer 2000 schenkte mir lieblose Abschiedsblicke.<br />
Rein klinisch betrachtet und in der Babysprache ausgedrückt<br />
war es ein saublöder „Bäh-Sommer“. Ich hätte die<br />
untergehende Sonne gerne angelächelt, doch wie ihr bereits<br />
wisst, ließen sich meine Lachgesichtsmuskeln kaum motivieren.<br />
Auch meine vom Soor geplagte Zunge ließ sich nicht<br />
ausrollen, um der Welt zu zeigen, dass ich nun endgültig Null<br />
Bock darauf hatte, mich unentwegt in Klinikbetten herumzuräkeln.<br />
Mein liebgewonnener Freund Batolio wünschte<br />
mir nichts sehnlichster als einen gesunden Winterschlaf in<br />
meiner häuslichen Pflegestube. Er selbst würde bald auf<br />
Winterspeckanfresstour fliegen, sowie nach ein paar Kumpels<br />
Ausschau halten, mit denen er zusammen im cluster,<br />
also dicht aneinander hängend, den Winterschlaf in einer<br />
vom Specht gehämmerten Baumhöhle verbringen will.<br />
Zuvor freue er sich aber erst einmal riesig auf die herbstliche<br />
Balzzeit. Papa saß missmutig im Sessel, gebeugt über sein<br />
Diagnosensammelalbum und übte sich im Studium medizinischer<br />
Termini. Mama blätterte unverdrossen Seite für Seite<br />
des Luca`schen Terminkalenders um. Während Batolio freudetrunken<br />
in seiner Baumhöhle den Minnegesang anstimmte,<br />
durfte ich ab sofort diverse Ambulanzen ansteuern.<br />
Als Erstes tauchten wir in der sozialpädiatrischen Sprechstunde<br />
bei Frau Dr.Gerlinde Conrad in Coesfeld auf, wo ich<br />
gewogen, vermessen und sonstwie körperlich durchgecheckt<br />
wurde. Zuvor hatte mich eine Frau auf dem Warte-<br />
59
60<br />
korridor ausgiebig gemustert, hatte doch mein brodelndes<br />
Bronchialsystem sie in den Bann gezogen.<br />
Nach meinem check-up turnten wir noch auf einen Sprung<br />
zur Plauderstunde bei Old Winni herein, bildeten zusammen<br />
den legendären Bunten Kreis und fragten ihn, ob er nicht<br />
einen kompetenten Kinderkrankenpflegedienst kennen<br />
würde. „Och“, triumphierte Winni mit einem Schmunzeln:<br />
„Da hat sich mir soeben ein Pflegedienst aus Haltern vorgestellt.“<br />
Prompt drückte er uns einen Flyer in die Hand, womit<br />
beinahe schon beschlossen war, dass zukünftig „Klabautz“<br />
bei mir auf der Matte stehen würde. Der Zufall schreibt eben<br />
auch Krankengeschichte, wie ihr bald hören werdet, falls<br />
euch jemand das Buch vorliest. Apropos Hören! Letztens<br />
war ich übrigens auf Visite in der Pädaudiologie, um dort<br />
mein Hörvermögen überprüfen zu lassen. Mama und ich<br />
wurden auf einen Stuhl inmitten eines großen Raumes<br />
gesetzt, umgeben von mindestens zehn Lautsprechern. Ich<br />
dachte, ich wär hier bei der Endausscheidung zum Grand<br />
Prix, wo sich ja mittlerweile jeder melden kann, der sein Liedgut<br />
für den Wahnsinn der Europäischen Gesangsvereinigung<br />
hält. Plötzlich wurden mir allerlei Geräusche in die<br />
Ohren gepfeffert: Glockenspiel <strong>–</strong> Telefonklingeln <strong>–</strong> Hundegebell.<br />
Daraufhin habe ich entschieden nach dem unwiderstehlichen<br />
Sound meines Pulsoxymeters verlangt. Mir blieb,<br />
wie immer, nichts erspart. Demnächst sollte ich dann noch<br />
mit stetig anpassbaren Hörgeräten versorgt werden, damit<br />
das, was ich hörte, auch noch verstärkt werden könnte. Das<br />
Ergebnis der Untersuchung war trotz alledem nicht niederschmetternd,<br />
sondern eher wohl klingend. Ich war in der<br />
Lage, zumindest akustisch, einen Teil meiner Umwelt zu<br />
erfassen, vor allem Pop- und Rockmusik. Wenn ich schon<br />
einmal irgendwo zu diversen Untersuchungsterminen auf-<br />
laufen musste <strong>–</strong> eine EEG-Kontrolle im Abstand von drei<br />
Monaten war da sowieso obligatorischer Bestandteil <strong>–</strong> ließ<br />
ich auch gerne weitere Leute der ärztlichen Zunft antanzen.<br />
Eines Tages sprach Pa zu meinem Neuropädiater in der Epilepsieambulanz:<br />
„Ich habe da übrigens einen Augenarzt<br />
von der Praxis „Mit dem Zweiten sieht man besser“, oder so<br />
ähnlich, gebeten, hier mal im Anschluss an das EEG vorbei<br />
zu kieken, um einen Sehtest durchführen zu lassen.“ Dr.<br />
Aguigah lehnte sich laut lachend zurück in seinen Sessel<br />
und polterte: „<strong>Was</strong> haben sie getan? Einen Augenarzt hierher<br />
bestellt. Das ist gut. War das ihre Idee? Ha Ha Ha!“ Nachdem<br />
sich seine Augen dann hoch und `runter, analog zu den<br />
Zacken und Wellen meines Burst-Suspression-Musters auf<br />
dem EEG-Ausdruck, bewegten, stand er auf und verdunkelte<br />
sein Arztzimmer. Er verabschiedete sich lachend und ließ<br />
uns den Augenarzt persönlich in Empfang nehmen. Der<br />
kam, sah, untersuchte und entschied: „Geschätztes Sehvermögen:<br />
Beidseitig nulla lux.“ Es war keine Lichtreaktion<br />
auslösbar. Die Weite meiner Pupillen war ungleich, die linke<br />
Pupille kleiner als die rechte. Meine Augen rollten ungerichtet<br />
hin und her, ein Gesichtsfeld war nicht vorhanden.<br />
Anschließend traf ich mich zu einem blind date mit meinem<br />
balzenden Freund Batolio, der mir auf meine Frage nach seinem<br />
Sehvermögen versicherte, selbst sehen zu können. Er<br />
kicherte und fügte hinzu: „Nachts ist es aber sowieso immer<br />
stock duster. Da verlasse ich mich doch lieber auf die Echolotung“<br />
. Ich sagte: „Mit Ultraschall habe ich ja auch so meine<br />
Erfahrungen. Aber was nützt mir die ganze Angelegenheit,<br />
wenn ich nicht schreien kann, wie du, um so ein Echo zu<br />
erzeugen. „Schreien“, lachte Batolio herzhaft über beide<br />
Ohren, „Schreien. Ich habe seit Tagen orkanartige Balzgesänge<br />
in die weite herbstliche Landschaft geschmettert, bis mir<br />
61
62<br />
mein Baum androhte, die Wohnhöhle zu kündigen. Von den<br />
angeblichen Superweibchen hat sich aber noch keines<br />
blicken lassen. Ebensowenig habe ich bisher meine Kumpel<br />
für die Clusterbildung angetroffen, so dass ich fürchten muss,<br />
mir im Winter den Arsch abzufrieren“ „Ach Batolio“, entgegnete<br />
ich. „Erinnerst du dich denn gar nicht mehr an dein<br />
trauriges Gedicht von den zehn kleinen Fledermäusen, in<br />
dem neun deiner Kumpel auf tragische Art und Weise von<br />
dir gegangen sind?“. Aus Mitleid hängten wir kurzum einen<br />
Zettel an den Baum mit der Aufschrift: „Dieser Baum wird<br />
nach der Fledermauspaarungszeit gefällt.“ Letztlich war es<br />
mir egal, dass ein Baum ein Symbol für das Leben ist. Die<br />
Wurzel als Unterwelt, der Stamm als die Welt und die Krone<br />
als der Himmel. Und alles steht für Wachstum. Ich wollte<br />
Batolio unter allen Umständen bis zum Ende meiner Tage bei<br />
mir haben. Wir werden ihm eine Unterkunft bauen, die seinem<br />
Temperaturhaushalt entgegen kommt, um möglichst<br />
viel Energie zu sparen. Sollte es zeitweise zu Komplikationen<br />
kommen, würden wir ihn sofort ambulant behandeln. Alles<br />
wird wunderbar, gelle.<br />
Ich beschritt weiterhin eine messerscharfe Gratwanderung<br />
zwischen den Ambulanzen und möglichen stationären<br />
Behandlungen, bewegte mich in den Extremen der Temperaturunterschiede.<br />
Das Temperaturregulationssystem in<br />
meinem Stammhirn kannte keine Maßstäbe. Hatte ich<br />
hohes Fieber bestand jeweils die Gefahr eines Infektes, gar<br />
einer Lungenentzündung. Sank dagegen meine Körpertemperatur<br />
drastisch in den Keller bestand die Gefahr der<br />
Unterkühlung. Es gab Tage, an denen meine Temperatur<br />
binnen weniger Stunden von 40.5 °C auf 34.5 °C sank oder<br />
umgekehrt stieg. Mein arg geschundener Popo wurde zur<br />
offenen Messstation. Ständig steckte ein Fieberthermome-<br />
ter in meinem After. Einmal, es war noch während meiner<br />
intensivmedizinischen Behandlung im St. Vincenz, gab ich<br />
einen derartigen Hitzestrahl ab, dass Pa sich beinahe die<br />
Hand versengte. Seit dem bewegt er sich nur noch zwischen<br />
Coolness und Heißblütigkeit. An einem anderen Tag, als das<br />
Thermometer den Tiefstand von 34°C anzeigte, war Pa im<br />
Traum in die grönländische Hauptstadt Nuuk geflogen, um<br />
mir ein paar mollige Robbenfelle zu kaufen. Ich wurde daraufhin<br />
in mindestens 20 qm Stoff gewickelt, als würde ich<br />
auf eine Expedition ins Ewige Eis geschickt. Außer der<br />
Luca auf der Sandwich-Scholle<br />
bewährten Kleidung, bestehend aus Pampers, Body, Pullover<br />
oder Hemd, bekam ich eine baumwollene Strumpfhose,<br />
eine dicke Stoffjacke, einen Skianzug, eine Mütze, einen<br />
Schal, zwei Paar Socken und gefütterte Schuhe verpasst.<br />
63
64<br />
Als man mir jedoch noch Handschuhe überstreifte, begann<br />
ich mich zu wehren. Es gehörte schließlich zu einer meiner<br />
seltenen Eigenheiten, meine Hände, wenn eben möglich,<br />
über der Decke zu halten. Jedesmal, wenn man sie mit<br />
zudeckte, arbeitete ich so lang, bis ich sie wieder oben auflegen<br />
konnte. Ich nannte das: „Fishing for compliments!“<br />
Nach dem missglückten Versuch mir Handschuhe anzuziehen,<br />
legte man mich auf ein, mit Styroporkügelchen ausstaffiertes<br />
rundes Lagerungskissen, auf dessen Oberfläche ein<br />
warmes Schaffell vor sich hingammelte. Weiterhin legte<br />
man mir ein Wärmekissen zu Füßen. Zugedeckt wurde ich<br />
mit diversen Decken und einem Oberbett. Das ganze sah<br />
aus wie eine Sandwichscholle, wobei allerdings niemand<br />
sagen konnte, welche Belegart mir zugedacht war. <strong>Was</strong><br />
würde das auch für eine Rolle spielen? Man konnte mich eh<br />
nicht mehr sehen. Ich trieb babyseelenallein davon ins<br />
Polarmeer, wo ich dem melancholischen See-Elefanten aus<br />
„Urmel aus dem Eis“ begegnete.<br />
Zusammen sangen wir seltsam traurige Balladen:<br />
Luca und Felipe<br />
Luca und Felipe fahren über` s Meer.<br />
Luca sagt: „Felipe <strong>–</strong> mir fällt das Atmen schwer“.<br />
Dann stell` n sich beide auf eine Scholle.<br />
Felipe sagt zu Luca: „ich glaub` jetzt geht`s uns tolle“.<br />
Da taucht ein Eisbär auf aus einer Welle.<br />
Luca sagt: „Felipe <strong>–</strong> der haut ins Eis `ne Delle.<br />
Unter der Scholle bröckelt das Eis.<br />
Felipe sagt zu Luca: „Das ist ein großer Scheiß“.<br />
Luca und Felipe gehen in den Wald.<br />
Luca sagt: „Felipe <strong>–</strong> es ist mir bitterkalt“.<br />
Dann stell`n sich beide unter einen Pilz.<br />
Felipe sagt zu Luca: „ich glaube bald ich schmilz“.<br />
Da setzt ein Vogel sich auf den Hut.<br />
Luca sagt: „Felipe <strong>–</strong> Kerl, was geht`s uns gut“.<br />
Unter der Lamelle weht ein leichter Wind.<br />
Felipe sagt zu Luca: „Ich glaub der Vogel spinnt“.<br />
Nach unserem gelungenen Balladenduett, welches die beiden<br />
Tatort-Strategen Stoevi und Brocki nicht besser hinbekommen<br />
hätten, trennten wir uns im Abschiedsschmerz,<br />
nicht ohne unsere Telecom-Telefonnummern auszutauschen.<br />
Mit hohem Fieber erreichte ich meinen Heimathafen.<br />
Dort ließ sich aber niemand mehr von meinen eklatanten<br />
Temperaturunterschieden beeindrucken. Statt dessen<br />
beschränkten wir uns, einem Gefühl folgend, auf ein Minimum<br />
ambulanter Außentermine. Die Konsequenz der<br />
Überlegungen war, in Zukunft alle VIP`s bei uns auflaufen<br />
zu lassen. Bekam ich also hohes Fieber, blieb mir ein Akuttrip<br />
zur Kinderarztpraxis von Dr. Hermwille erspart. Dann<br />
kam dieser auf Hausvisite, bewaffnet mit einem Stethoskop,<br />
welches er mir sofort auf den Brustkorb setzte, nachdem er<br />
es ein wenig warm angehaucht hatte. Außer meinen brodelnden<br />
Schleimmassen konnte er zumeist nicht viel hören,<br />
was somit wenig Rückschluss auf einen möglichen Infekt<br />
zuließ. Prophylaktisch wurde trotzdem ein neues Antibiotikum<br />
verordnet. Anyway <strong>–</strong> mein Leben war jetzt darauf<br />
ausgerichtet, Menschen aller beruflichen Fachrichtungen,<br />
ob pädagogischer, physiotherapeutischer, krankenpflegerischer<br />
oder medizinischer Profession, in meiner häuslichen<br />
65
66<br />
Umgebung zu empfangen. Wie ihr in den folgenden Kapiteln<br />
erfahrt, kamen also regelmäßig ein Kinderpflegedienst,<br />
eine Pädagogin von der Heilpädagogischen Frühförderstelle<br />
und ein Krankengymnast des Deutschen Roten Kreuzes<br />
auf Visite. Man kann sich unschwer vorstellen, wie heiß<br />
unser Klingelknopf, wie feucht unsere Haustürklinke und<br />
wie staubig unsere Fußmatte wurde. Batolio, sichtlich irritiert<br />
über das ständige Kommen und Gehen, räumte ein,<br />
dass es wohl sinnvoll wäre, eine Kennenlernparty zu veranstalten.<br />
Schließlich sei Zusammenarbeit der verschiedenen<br />
Disziplinen das A und O einer bestmöglichen Versorgung.<br />
Alle auf einen Haufen? <strong>–</strong> das musste erst mal organisiert<br />
sein! Dann kam der Tag X, an dem die interdisziplinären<br />
Fachfreaks aufmarschierten und einen Roundtable bildeten.<br />
Ich war sowieso mittendrin statt nur dabei und konzentrierte<br />
mich andächtig auf das bevorstehende Wirrwarr-<br />
Palaver.<br />
Nebst der just erwähnten Fachleute flegelten sich noch<br />
mein Kinderarzt Doc Hermwille, die Ärztin der Sozialpädiatrie,<br />
Frau Dr. Conrad und der Geschäftsführer des Bunten<br />
Kreises, Winfried auf unserer Psychocouch herum. Zusammen<br />
mit meinen Ollen war das ein runder Kreis von zehn<br />
Köppen, ein bunter Haufen, ein klassisches Ärzte- und Therapeutennest.<br />
So saßen sie da und konzentrierten ihre<br />
medizinischen, pflegerischen, sozialpädagogischen und,<br />
therapeutischen und elterlichen Blicke augenscheinlich nur<br />
auf meine kleine Persönlichkeit. Ich hörte mir das Gelaber<br />
aus einer erhöhten Position im Rehabuggy an. Da ich jedoch<br />
von all der Fachidotie nichts rechtes verstand, drehte ich<br />
meine Pupillen ab und schwelgte in philosophischen<br />
Gedanken. Insgesamt war es eine prima Kennlernparty. Ich<br />
war froh, dass die sich nicht, wie bei pädagogischen<br />
meetings üblich, ein Wollknäuel um die Ohren gepfeffert<br />
haben, wo ein jeder dann sein Selbstportrait abgibt:<br />
„Jo, ich bin der Michael und mache uff Physio.<br />
Ich schaff` für`s Rote Kreuz. Cherrio.<br />
Ich bin die Pia vom Niederrhein,<br />
meine Frühförderung ist dufte und meine Herz ist rein.<br />
Ich bin die Margret, `ne Krankenschwester.<br />
Pass auf, über manchen Arzt ich läster.<br />
Ich bin der Winnie vom Bunten Kreis<br />
und lauf mir oft die Socken heiß.“<br />
Ich war der letzte Kandidat im Kreis der Spezialisten, als das<br />
Knäuel anflog und sich unsanft um meinen Hals legte.<br />
Verdammt! Das hatten wir doch schon einmal.<br />
67
68<br />
Neuntes Kapitel<br />
Der Kinderkrankenpflegedienst Klabautz<br />
Wie man in der Pflege Akzente setzte<br />
und FKK eine andere Bedeutung erhielt<br />
Ich hatte es ja bereits angedroht. Klabautz stand jetzt regelmäßig<br />
auf der Matte. Eigentlich hieß sie Margret. Klabautz<br />
war der Name des von ihr vor circa einem Jahr gegründeten<br />
Kinderkrankenpflegedienstes. Margret war nicht nur hyperqualifiziert,<br />
sondern auch außerordentlich gewitzt und sehr,<br />
sehr musikalisch. Ich nannte sie gerne in einem Atemzug mit<br />
Florence Nightingale. „Nachtigall ik hör dir trapsen!“ Dreimal<br />
pro Woche hörte ich am Klingelton was mir blühen sollte,<br />
wenn Margret für jeweils zwei bis drei Stunden alle Register<br />
ihres pflegerischen Könnens ziehen würde. Doch ich<br />
war stets bereit dagegen zu halten und setzte Akzente. Das<br />
behauptete sie jedenfalls. Pflege und Pflege sind eben nicht<br />
immer die gleichen Paar Schuhe. Das wusste Margret nur zu<br />
gut, denn als erste Handlung zog sie sich immer ihre Schuhe<br />
aus. Rein prophylaktisch, verstand sich, und nicht im<br />
übertragenen Sinn. Aus meinem reichhaltigen Repertoire<br />
raffinierter und mitunter gnadenloser Tricks wählte ich am<br />
liebsten Pflegeunterbrechungsmaßnahmen. Mein Pech<br />
nur: Verlorene Zeiten wurden hinten dran gehängt. Nachpflegezeit!<br />
Doch lasst euch jetzt ein wenig von den berühmtberüchtigten<br />
Luca-Felipe-Highlights fesseln. Wie immer<br />
begann ein Pflegetag mit dem schon erwähnten Ton der<br />
Haustürklingel. Verglichen mit dem Sound auf der Intensivstation<br />
war das Schellen ein Furz, hatte jedoch eine folgenschwere<br />
Signalwirkung, die da bedeutete: „Schluss-Aus-<br />
Ende mit der Abhängerei!“ Mein erstes frühmorgendliches<br />
Schockerlebnis war eine stets wenig durchblutete, kalte<br />
Begrüssungshand. Old Daddy erkannte schnell das Wärmebedürfnis<br />
der passionierten Saunagängerin und hatte<br />
zuvor die Heizung auf Hochtouren gebracht, sowie die Wärmelampe<br />
über meinem Wickeltisch angeschaltet. Diese<br />
hatte eine Wahnsinnskraft, als hätte jemand die Sonne in<br />
meinem Kinderzimmer aufgehängt. Wenn Pa seine Pflegeattentate<br />
ausübte, dann nur leicht bekleidet. Margret hatte<br />
meistens eine verflucht gute Laune und machte sich selten<br />
Gedanken über mögliche Pflegedramen und sonstige Kleinigkeiten.<br />
„Na, du Räuber, wie geht’s dir denn heute morgen?<br />
Hast du eine gute Nacht gehabt?“, fragte sie augenzwinkernd<br />
mit Wissen um die Bedeutung eines sogenannten<br />
Sandwich-Schlafes. Pa stand bei diesem Begrüssungsritual<br />
voll daneben, wie immer kräftig ausgeschlafen und<br />
mopsfidel. Es begann ein reger Austausch von reflektierenden<br />
Worten und Transpirationen. Margret nahm die Ladung<br />
vorausgegangener Eklats gelassen in sich auf. Pa zählte seine<br />
Schweißperlen. In den letzten 48 Stunden war doch<br />
nichts außergewöhnliches geschehen, oder? A babylife<br />
less ordinary: ein angestrullertes T-Shirt, ein Häufchen, im<br />
unpassenden Moment an die falsche Stelle abgesetzt, ein<br />
schwerer Krampfanfall mit pfirsicharomatischer Akutversorgung,<br />
ein Temperaturabsturz auf 35.5 ° Celsius <strong>–</strong> kurz<br />
gesagt, alles Banalitäten. Nur die Badeeinlage mit Paps am<br />
gestrigen Abend war hypergenial. Schweben und treiben<br />
lassen. Beide Ohren komplett unter <strong>Was</strong>ser, eine Spezialität<br />
von mir, die ich mit zunehmendem Alter radikal einforderte,<br />
indem ich meinen Dickkopf energisch und kraftvoll gegen<br />
allen Widerstand unter die <strong>Was</strong>seroberfläche drückte.<br />
Baden wurde für mich zum Klassiker unter den events, wel-<br />
69
70<br />
ches nicht mehr zu toppen war. Baden konnte jedoch auch<br />
grausam sein. <strong>Was</strong> das betraf, sei meiner kundigen Leserschaft<br />
nicht vorenthalten, dass Margret mich in einer solchen<br />
Situation kennengelernt hatte, aber so richtig. Mit den<br />
allerbesten Absichten, einen Säugling (hi, hi, hi), wie mich zu<br />
verwöhnen <strong>–</strong> wohl temperiertes <strong>Was</strong>ser ist Balsam für Babyseelen<br />
<strong>–</strong> hatte sie mich bei<br />
ihrem allerersten Einsatz in eine<br />
kleine, mit Warmwasser gefüllte,<br />
auf dem Küchentisch stehende<br />
Babywanne gesetzt.<br />
Kaum hatte ich Platz genommen,<br />
fiel ich sie an, wie das Tier<br />
im ersten Teil des Vornamens<br />
meines Vaters. Allen Übertreibungen<br />
zum Trotz, hatte ich<br />
genau registriert, dass jemand<br />
Fremdes mir auf die Pelle<br />
rücken wollte. Sofort reagierte<br />
ich mit einem Krampfanfall der<br />
ernsten Art, was mir bei ihr<br />
großen Respekt einbrachte. Die<br />
Pflegepremiere ging somit ganz<br />
schön in die Pampers. Margaret<br />
wusste jetzt Bescheid: „Nothing<br />
is with easy nursing!“ Luca setzt<br />
die Akzente. Never mind! Begeben<br />
wir uns zurück in mein Kinderpflegezimmer.<br />
Ich hatte Mar-<br />
Abtauchen bis die Seele baumelt<br />
Vater Wolfgang<br />
gret und Pa bei ihrem schweißtreibenden Informationsaustausch<br />
über die Geschehnisse der letzten 48 Stunden allein<br />
zurückgelassen. Vielmehr fühlte ich mich bei deren<br />
Geschwätz selbst ein wenig zurückgesetzt und forderte,<br />
dass man sich nun endlich um mich kümmern sollte. Als<br />
Motzki unter den Schweigenden hatte ich mir mittlerweile<br />
einige variantenreiche Stöhn- und Meckereinlagen zugelegt,<br />
die überraschend nicht überhört wurden. Während Pa<br />
triefend das Zimmer verließ, freute sich Margret mit infantiler<br />
Begeisterung über die mollig warme Atmosphäre. Ich lag<br />
in Lauerstellung und ersann restriktive Antipflegemaßnahmen.<br />
Margret richtete derweil alles so ein, wie sie es für ihre<br />
Arbeit brauchen würde. Sie entpuppte sich dabei schnell als<br />
Kabelfetischist und fluchte ungemein zärtlich über die Stolperfallen<br />
meines bescheidenen technischen Equipments,<br />
welches Schlingen und Schleifen um ihre zarten Fesseln<br />
legte. Insgesamt zählte man zwölf Steckdosen, aus denen<br />
Kabel unterschiedlicher Länge und Dicke quollen und oft<br />
heillos durcheinander lagen: ein Pulsoxymeter oder Sauerstoffsättigungüberwachungsgerät;<br />
ein Sauerstoff-Kompressor<br />
mit 15 Meter Schlauch, der mit einem Druckminderer<br />
verbunden wurde, von dem aus ein weiterer Schlauch mit<br />
Nasenbrille oder Maske ragte, eine Ernährungspumpe, ein<br />
Absauggerät mit Absaugkatheter, ein Pariboy Inhalationsgerät,<br />
ein Babyphon, eine Wärmelampe (Papas Sonne) über<br />
dem Wickeltisch, eine Tischlampe (nachts muss für mich<br />
immer ein Lichtlein scheinen), ein CD-Player, ein Fön, ein<br />
Sound-Egg (Geräusche-Ei) und ein leuchtendes Mond-<br />
Sterne-Lichterbild von meinem Onkel Gottfried.<br />
Ich unterbreche einmal kurz für eine wichtige Verkehrsdurchsage:<br />
„Vorsicht! Auf den Straßen und Wegen dieser<br />
kleinen Stadt befindet sich ein Fahrradfahrer auf FKK-Tour“<br />
71
72<br />
Pa hatte unterdessen die Wohnung verlassen, um den Vormittag<br />
zu nutzen sehr wichtigen Geschäften nachzugehen,<br />
die da hießen:<br />
Flaschencontainer: Regelmäßig packte Pa die leeren Flaschen<br />
meiner hyperteuren Astronautenkost<br />
in seinen Rucksack, um sie<br />
lautlos zu entsorgen<br />
Kinderarzt: Die weitere Route sah vor, dass mein<br />
Erzeuger von kindlichem Gemüt ebenso<br />
regelmäßig die Praxis meines niedergelassenen<br />
Kinderarztes Dr. Hermwille<br />
aufsuchen musste, um die zuvor<br />
telefonisch georderten Rezepte, Überweisungen<br />
und Verordnungen abzuholen.<br />
Dort saß er dann leger und ungeduldig<br />
auf einer weiß lackierten Bank<br />
im Flur und wartete auf Godot und die<br />
Unterschriften.<br />
Krankenkasse: Die letzte Anlaufstelle seiner Businessroute<br />
führte ihn dann zur Informationsquelle<br />
und Bearbeitungsstelle aller für<br />
mich erforderlichen Maßnahmen einer<br />
guten medizinischen Versorgung und<br />
Behandlungspflege.<br />
Normalerweise aber stellte Pa bei der Krankenkasse lediglich<br />
sein Fahrrad ab und latschte in die Kabine eines nahegelegen<br />
Sonnenstudios, dessen Sonnenbank meinem<br />
bestrahlten Wickeltisch wärmetechnisch in nichts nachstand.<br />
Hier musste er sich tatsächlich entkleiden. Das nannte<br />
ich Parallelität der Ereignisse. Nur wurde er dort nicht<br />
gewaschen und ich musste meine Farbtupfer selber setzen.<br />
Wir ließen ihn konsequent unter der Sonnenbank liegen und<br />
begaben uns wieder in mein Pflegeparadies.<br />
Ich saß hängend im Schoß meiner Kinderkrankenschwester,<br />
welche mir eine Maske vor Mund und Nase hielt, aus<br />
der ein gewaltiger Dampf aufstieg. Margret hatte einen<br />
Cocktail, bestehend aus Kochsalz, den Medikamenten<br />
Apsamol und Atrovent, gemixt und geschaked. Viermal täglich<br />
für jeweils zehn Minuten durfte ich die Nebelschwaden<br />
produzierende Mixtur inhalieren, um mein angegriffenes<br />
Bronchialsystem durchlüften zu lassen. Freies Atmen für<br />
kleine Bürger! Anschließend unterzog ich mich völlig<br />
unfreiwillig einer sekretstimulierenden Atemtherapie. Und<br />
dann... und dann... setzte ich zum grandiosen Befreiungsschlag<br />
an. Der Sekretstau hatte sich in der Nebelbank aufgelöst<br />
und jagte von 0 auf 100 Stundenkilometer durch die<br />
Trachea in meine Mundhöhle. Von dort schossen die ekelig<br />
schleimigen Substanzen im hohen Bogen unter Prusten,<br />
Husten und Stöhnen durch die Nasenlöcher voll auf Margrets<br />
neuen Pulli. Nur in seltenen Fällen war Madame Klabautz<br />
auf meine Sekretattacken vorbereitet und hatte blitzschnell<br />
ein Stoffwindeltuch aus dem Ärmel gezaubert, welches<br />
den Schwall auffing. „<strong>Du</strong> Rotzlöffel der Nation“,<br />
schimpfte sie ein wenig, ohne mir strafende Blicke zu<br />
schenken. Batolio rief hemmungslos: „Das ist Luca´s Status<br />
Quo. And I like... I like it... I like it... I like it... a la la la like it... a la<br />
la la like it ... here we goohoo rotzing all over your shirt.“ Nur<br />
schade, dass Margret nachts nicht da ist. Denn nach einer<br />
sekretreichen Nacht hängt mir der Schleim oft bis über alle<br />
Ohren. Pfui Teufel!!! Die brodelnde Masse war einmal wieder<br />
im Mobilisations-Trainingslager gewesen. Das Absauggerät<br />
stand nicht still. Ständig schoben sich die Katheter<br />
abwechselnd in das linke und das rechte Nasenloch, mehr<br />
oder weniger tief über Rundungen hinweg, in den Rachen-<br />
73
74<br />
raum und saugten, saugten, saugten. Zu guter letzt kämpfte<br />
sich ein Katheder durch meine Mundhöhle, wo sich die<br />
Stoffe mit dem Speichel vermengt hatten und ratzeputz hatte<br />
Margret mittels Vakkuumerzeugung alles abgesaugt. Ich<br />
war nicht unbedingt von der Endreinigung überzeugt und<br />
versuchte weiterhin unter kräftigem Drücken und Pressen<br />
die Restbestände der Quälmasse hervorzubringen. Aber da<br />
war nichts mehr. Wofür also dieser kraftraubende Aufwand?<br />
Margret hatte im Übereifer mit einem Fuß den Druckminderer<br />
meines Sauerstoffkompressors umgekickt. Blitzartig<br />
ergoss sich <strong>Was</strong>ser durch den Schlauch. „Herrgott noch<br />
mal“, fluchte sie, diesmal energischer. Die Gelassenheit war<br />
doch ein klein wenig hektischer Betriebsamkeit gewichen.<br />
Lucas Chaos-Instrumentarium war sowieso immer besonders<br />
effektiv nach einer Nacht der Sammelleidenschaft.<br />
Alles floss! Ich gurgelte, schnorchelte, brodelte, prustete,<br />
zuckte, stöhnte...,derweil Margret wieder für Ordnung<br />
gesorgt hatte und sich der nächsten Pflegemaßnahme widmen<br />
konnte. Sie galten meinen arg in Mitleidenschaft gezogenen<br />
Wangen, die aufgrund des teilweise aggressiv wirkenden<br />
Schleimes neurodermitische Wundstellen aufwiesen.<br />
Prompt wurde eine Wundsalbe aufgetragen, bestehend<br />
aus Ol Jecoris, Zinkoxyd und Eucerinum anhydrium, oder<br />
was zum Teufel auch immer dieses alchemistische Zeug<br />
war. Finally gab es dann noch schnell etwas Bepanthensalbe<br />
auf Nase und Lippen, bis das Lucababy wieder über alle<br />
Backen glänzte <strong>–</strong> oral, nasal, popal. Ich will nicht klagen.<br />
Alles wird gut! Margret klagte auch nicht. Sie wollte schließlich<br />
meine Pflegezeit immer optimal gestalten. Die anderen<br />
Leidensgenossen warteten ja auch auf ihre Unterstützung.<br />
Lieber Alltag, vergiss deine Sorgen und bereite mich nun auf<br />
die Annehmlichkeiten vor. Wenn die nicht gerade unan-<br />
strengenden Pflegeakte, wie die Atemtherapie, ein vorübergehendes<br />
Ende gefunden hatten, war ich derart geschafft,<br />
dass ich mir eine ordentliche Mütze voll Schlaf wünschte.<br />
Statt dessen fand ich mich auf dem Wickeltisch wieder,<br />
unter Papas gleißender Sonnenhitze, derweil dieser immer<br />
noch unter der Sonnenbank schmorte und seine Hautkrebszellen<br />
aktivierte. Als spastisch gelähmtes Baby fand<br />
ich die nun folgende Maßnahme, das Ausziehen meiner<br />
Kleidung, voll zum Erbrechen. Ich wollte Margret aber nicht<br />
vollends den Tag versauen. Nicht immer folgte auf schleimiges<br />
Rotzen ein ergiebiges Kotzen. Zudem sehe ich die<br />
Gefahr, dass es meiner geschätzten Leserschaft gar übel<br />
wird. Wenn diese plötzlich zu würgen beginnt, wären die mit<br />
Liebe und Sorgfalt geschriebenen Seiten diese Buches<br />
nicht mehr wert als eine hypervolle Pampers. Margret hatte<br />
ihr Missgeschick mit dem umgefallenen Druckminderer in<br />
die Schublade der Tücken des Routinealltages gesteckt<br />
und trällerte ein sanftes Kinderlied. Im Gegensatz zu Papa<br />
hatte sie eine wesentlich hübschere Stimme und kannte<br />
auch Lieder zum Herzzerreissen.<br />
Meine Pflege beinhaltete nicht nur Vorsicht, Geduld und<br />
Langsamkeit, sondern auch ritualisierende Praktiken. Auf<br />
meinem Wickeltisch befand sich ein etwa Straußenei<br />
großes Geräusche-Ei mit diversen Knöpfen, insgesamt vier<br />
an der Zahl. Hiermit konnten Naturgeräusche reproduziert<br />
werden, wie beispielsweise das Rauschen des Meeres, der<br />
hinab stürzende <strong>Was</strong>serfall oder das Pochen eines Mutterherzens.<br />
Die Geräusche meines Soundeggs trugen Titel wie<br />
Ocean beach, Gentle stream, Mountain sunrise und soothing<br />
heartbeat. Jeder einzelnen pflegerischen Tätigkeit<br />
wurde ein bestimmter Sound zugeordnet. Während ich ausgezogen<br />
wurde stürzten <strong>Was</strong>sermassen die Klippen hinab,<br />
75
76<br />
während meiner Ganzkörperwaschung<br />
rauschten die Wellen des<br />
Meeres. Schließlich hielt man mich<br />
ja für schlau genug, anhand der<br />
Geräusche zwischen den Aktionen<br />
differenzieren zu können, um auf<br />
alles gut vorbereitet zu sein. Bei Pa<br />
lief allerdings immer alles in umgekehrter<br />
Reihenfolge ab. Damit<br />
meinte ich natürlich nicht, dass er<br />
meschugge sei und mich erst<br />
anzieht, bevor er mich wäscht.<br />
Nein, ich meinte eher seine Wahl<br />
der den Vorgängen zugeordneten<br />
Geräusche. Ma praktizierte wiederum<br />
Zwischenlösungen. So war<br />
das halt mit der Vergesslichkeit der<br />
Erwachsenen. Konditionierte<br />
Schlamperei! Egal <strong>–</strong> hauptsache<br />
Ritual! Nachdem ich die blöde<br />
Ausziehprozedur hinter mir hatte,<br />
konnte ich mich auf meinem wei-<br />
Lucas Begeisterung über ein Tonnenbad<br />
Margret Schämann-Grimm<br />
chen Frotteetuch so richtig nackelig relaxen. Auf vielfachen<br />
Wunsch präsentiere ich jetzt einen langgezogenen Seufzer:<br />
„Aaaahhhhh.....!“ In meinen legendären Seufzer hinein<br />
ertönte ein schriller Schrei von Batolio, der einen politisch<br />
inkorrekten Slogan durch mein Zimmer hallen ließ: „Kinder<br />
statt Inder“. Ein wenig pikiert aktivierte ich daraufhin einen<br />
Teil meiner funktionstüchtigen Gesichtsmuskulatur zur<br />
sogenannten Abnerv-Fratze. Ich war seit einiger Zeit ein<br />
bisschen in der Lage meinen Missmut mimisch auszudrücken,<br />
indem ich mein Gesicht verzog. Es war die Message<br />
vor der Massage, die mich irritierte. „Kinder statt Inder -<br />
Kinder braucht das Land“ <strong>–</strong> selbstverständlich mich mit eingeschlossen.<br />
Ein Echo hallte zurück: „Kinder brauchen<br />
auch Inder“. Ohne Inder müßte ich auf eine der tollsten und<br />
sinnlichsten Dinge der Welt verzichten, die indische Massage<br />
und ihre Weiterentwicklung. Da lag ich also und ließ<br />
mich indisch melken. Während ich die ausgiebige Massage<br />
genoss suchte ich tastend nach Margrets Hand, um ein<br />
Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu bekommen. Da<br />
ich jetzt voll auf Entspannung und Tagduselei eingestellt<br />
bin, kann ich euch hier leider nicht detailliert in die einzelnen<br />
Massagepraktiken dieser Babywellness einführen,<br />
andernfalls verliere ich den Überblick und kann meine einzelnen<br />
Körperregionen nicht spüren. Es gibt ja Fachbücher<br />
und Kurse zu Viala Schneider, mit denen man die Technik<br />
erlernen kann. Eure Kinder werden es euch auf ganz besondere<br />
Weise danken, wenn die Düfte der süßlichen Öle sie<br />
derart becircen, dass ihr spüren werdet, wie sie in das Reich<br />
der Sinnlichkeiten abtauchen. Margrets sanften Hände strichen<br />
Balsam auf meine Seele, mein Körper wurde locker<br />
und leicht, so das die anschließende Anziehprozedur fast<br />
eine Entspannungsübung war. Damals lag ich ja häufig<br />
rücklings gebogen wie ein Bumerang, den Kopf weit über<br />
den Nacken gestreckt. Sobald man mich auch nur leicht<br />
berührte, schossen die Spasmen ein, wurden Arme und<br />
Beine zu extrem steifen Gliedern. Doch nach einer Massage<br />
schlüpfte ich ohne Spasmen und Streckungen meiner<br />
Gliedmaßen flugs in Body, Pampers, Pullover oder Hemd,<br />
77
78<br />
Hose, Strümpfe und in meine liebgewonnen blauen Stoffschuhe<br />
mit Klettverschluss. Last, but not least, wurde mir<br />
noch ein Halstuch umgebunden, womit ich fit für ein Casting<br />
beim Babymoderator war und dem Fernsehauftritt gelassen<br />
entgegen sah. „Fesch san mer beinand. I fühl mi sauwohl.<br />
Kein Furz, kein Rotz, kein Schmerz, kein nursery crime!“.<br />
Unter Margrets Pflege, Massage und basaler Stimulation<br />
erlebte ich eine wahrhafte „Renaissance“ meiner vitalen<br />
Ressourcen. Zunehmend bekam ich ein Gefühl für meinen<br />
Körper, auch wenn es nur die Entdeckung der Langsamkeit<br />
war. Schließlich war ich ja hochgradig behindert, was mir die<br />
Diagnose der schwersten globalen Retadierung einbrachte.<br />
Doch ich konnte meine Arme und Beine bewegen, wenn<br />
auch nur sehr unkontrolliert und unkoordiniert.<br />
Ich hatte mittlerweile meine anstrengende Morgentoilette<br />
hinter mich gebracht und freute mich auf die Erholungszeit.<br />
Dafür wurde dann mein Rehabuggy bereitgestellt, indem<br />
ich angeschnallt vom Kinderzimmer in das Wohnzimmer<br />
geschoben wurde. Anschnallen war seit einiger Zeit Pflichtprogramm,<br />
konnten mich doch meine Sekretattacken und<br />
die BNS-Anfälle regelrecht aus dem Sitz schleudern. Hier<br />
saß ich nun einige Stunden lang und schwelgte in den Erinnerungen<br />
an die zurückliegenden Stunden, falls ich nicht<br />
schon längst alles wieder vergessen hatte.<br />
Das zwei- bis dreistündige Pflegeprogramm war eine<br />
Mischung aus Behandlungspflege, Grundpflege, Fitness<br />
und Wellness, Arbeit und Vergnügen. <strong>Was</strong> blieb vom Pflegetag<br />
übrig? <strong>–</strong> ein Haufen Wäsche (verrotzte und bespuckte<br />
Oberbekleidung, Stoff- und Windeltücher, Handtücher und<br />
<strong>Was</strong>chlappen). Und Ma sang: „Ich jon so unwahrscheinlich<br />
jähn mit dir in der <strong>Was</strong>chsalon ... denn du häst Ahnung vun<br />
d`r Technik, vun der ich nix ...“ Lass es gut sein, Mutter. Die<br />
technischen Pannen seien doch an anderer Stelle erwähnt.<br />
Während ich nun in meinem Buggy der Dinge harrte, die da<br />
kommen sollten, begab sich Margret an die Aufräumarbeiten.<br />
In der Zwischenzeit kochte mein, von seiner FKK-Tour<br />
heimgekehrter Papa zwei Tassen Cappuccino. Dieses Heißgetränk<br />
schlürfte Margret genüßlich, während sie dabei<br />
ihre Pflegedokumentation schrieb, eine obligatorische<br />
Rechenschaft für eine eventuelle Einsichtnahme durch den<br />
Medizinischen Dienst der Krankenkassen und natürlich für<br />
die Abrechnung. Margret stöhnte und sagte: „Mir fehlen die<br />
Worte!“ und Pa erwiderte schmunzelnd: „Dann drücken sie<br />
sich doch schlicht in Zahlen aus“.<br />
Körpertemperatur: 39.8 °C = 1 Paracetamolzäpfchen; ein<br />
cerebraler Anfall = 40 Minuten Dauer bei 10 Tropfen Rivotrilgabe<br />
+ 15 ml Fencheltee; eine deftige Stuhlprobe von<br />
fester Konsistenz; 100 ml gelblicher Urin; Pulsfrequenz: 120<br />
leise pochende Schläge; Atmung: 48; Sauerstoffsättigung:<br />
94 Prozent bei 1 l Sauerstoffgabe.<br />
Nun war ich, Luca Bärchen, pflegedokumentiert mit persönlichen<br />
Daten, Kassendaten, Pflegedaten, Anamnese,<br />
Arztberichten, Medikamentenplan, Befunden, Nahrungs-<br />
Bilanzierungsblatt, Anfallsprotokoll, Vitalwertebogen,<br />
Schmerzprotokoll, Beobachtungsbogen, Quickpflegeplan<br />
mit behandlungspflegerischen Maßnahmen und einem<br />
aktuellen Pflegebericht des Einsatztages. Der ultimative<br />
Eintrag lautete dann: „der Patient Luca hat heute folgende<br />
Faxen gemacht ...!, welche eine Nachpflegezeit von mindestens<br />
30 Minuten rechtfertigen. Basta!“<br />
Pa hat übrigens auch mal ein acht Seiten umfassendes 24<br />
Stunden Tage- und Nachtpflegeprotokoll entworfen, für<br />
das er minutiös alle pflegerelevanten Tätigkeiten und Zeiten<br />
notierte. Dies hat er bei Pflegekasse als Nachweis meiner<br />
79
80<br />
Pflegeintensität eingereicht, um dem Antrag auf Einstufung<br />
in eine Pflegestufe Nachdruck zu verleihen. Dabei notierte<br />
er auch akribisch die nächtlichen Einsatzzeiten, um der<br />
nicht wissenden Welt begreiflich zu machen, dass ein Pflegetag<br />
dreißig Stunden umfasst. Apropos Nachtpflegezeit.<br />
Diese hatte wenig zu tun mit Margrets Nachpflegezeit, würde<br />
aber eines Tages auch für Klabautz relevant. Dann, wenn<br />
die Tagespflegezeit einmal nicht ausreicht, mein Gesundheitszustand<br />
sich radikal verschlechtert und der Kräftehaushalt<br />
der Eltern sich erschöpft hat. Batolio freute sich<br />
schon riesig auf jene Nächte, erhoffte er sich doch insgeheim<br />
ebenfalls gut versorgt und vor allem ausreichend verpflegt<br />
zu werden. Wer hat schon Lust des Nachts um die<br />
Laternen zu segeln, um einen Schwarm Mücken zu<br />
käschern. Margret hatte ihren Cappuccino ausgeschlürft,<br />
nachdem sie ein wenig Konversation über ihren spannenden<br />
Berufsalltag betrieb. Dann verabschiedete sie sich, in<br />
der Hoffnung bei den folgenden Einsätzen von etwaigen<br />
Turbulenzen verschont zu bleiben. Pa begab sich sofort in<br />
mein Kinderzimmer, setzte sich auf den Boden und begann<br />
das heillose <strong>Du</strong>rcheinander des von Margret hinterlassenen<br />
Kabelsalates zu entwirren.<br />
Ohne Knoten geht eben nichts.<br />
Zehntes Kapitel<br />
Die Geschmacksverirrung<br />
Wie man den Vibrationen der Physiotherapeuten begegnete<br />
Papa hatte wegen meiner Schluckstörung einen Herrn<br />
Rodolfo Castillo Morales auf einer Hazienda in Patagonien,<br />
Argentinien angerufen, als dieser gerade ein BSE-freies<br />
Angus-Steak vertilgte. Ich fühlte mich mit dem Namen<br />
Castillo spontan sehr familiär, auch wenn mich mit Argentinien<br />
nichts verband und ich mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
niemals in den Genuss dieses leckeren Rindfleisches kommen<br />
würde. Man hielt sich diese Möglichkeit jedenfalls<br />
noch offen, da einige felsenfest an den Erfolg von Rodolfos<br />
entwickeltem Therapiekonzept glaubten. Ihr müßt nämlich<br />
wissen, dass er ein wunderbarer Rehabilitationsarzt und<br />
Physiotherapeut ist, der mit seinem umfassenden sensomotorischen<br />
Behandlungskonzept auf neurophysiologischer<br />
Basis tolle Erfolge erzielte. <strong>Was</strong> auch immer diese<br />
sogenannte Orofaciale Regulationstherapie im einzelnen<br />
beinhaltete <strong>–</strong> ich wollte durch sie reguliert werden. Wie<br />
euch ja mittlerweile bekannt ist hatte ich sensomotorische<br />
Störungen im Gesichts- und Mundbereich, die mir weder<br />
das Saugen, Kauen noch das Schlucken möglich machten.<br />
Dabei hatte ich doch so einen wahnsinnigen Heißhunger<br />
auf das lecker-saftige Stück Rind auf Rodolfos Teller, dass<br />
ich spontan zum Mundräuber hätte werden können. Oh<br />
Rodolfo! Komm und reguliere meinen Muskeltonus, reduziere<br />
meine motorischen Kompensationen und aktiviere<br />
physiologisch angemessene Bewegungen. Viva Argentinia!<br />
Leider entpuppte sich alles einmal wieder als phantastische<br />
81
82<br />
Spinnerei, denn als Realität. Papa verfügte über ein kaum<br />
wahrnehmbares Repertoire der spanischen Sprache <strong>–</strong> warum<br />
hat er mir eigentlich den Zweitnamen Felipe gegeben? <strong>–</strong><br />
und brach sich schon bei der Aussprache der Dankesworte<br />
„muchas gratias“ die Zunge, als er diese zwischen seine<br />
Zähne legte, mit der Folge das „aua“ vorläufig sein letzter<br />
Ausruf blieb. Wo immer sich dieser Rudolfo Castillo Morales<br />
auch befand, mir hatte er jedenfalls keine Aufmachung<br />
gemacht. Wenig später machte ich allerdings Bekanntschaft<br />
mit jenem stattlichen Mann, den wir seinerzeit noch<br />
vor der Tür stehen ließen. Er stellte sich mir als ein Physiotherapeut<br />
vor, der das Konzept meines argentinischen<br />
Freundes erlernt hatte und von den Ärzten der St. Vincenz-<br />
Klinik gebeten wurde, sein Wissen und Können bei mir<br />
anzuwenden. Dieser waschechte, münsterländische Krankengymnast<br />
war mir außerordentlich sympathisch, dass ich<br />
ihn in einem Atemzug mit Rudolfo nannte und ihn liebend<br />
gerne als solchen angesprochen hätte. Im wirklichen Leben<br />
hieß er aber Michael und kam vom Deutschen Roten Kreuz.<br />
Apropos Atemzug! Michael war hochkompliziert, t´schuldigung<br />
hochqualifiziert und integrierte so ziemlich alles an<br />
Maßnahmen und Methoden in seine Therapieeinheiten.<br />
Dazu gehörten selbstverständlich Atemübungen und diverse<br />
Lagerungsarten zur Verbesserung meiner Lungenbelüftung,<br />
Zug um Zug. Nur klassische gymnastische Einheiten<br />
blieben mir dankenswerterweise erspart, oder wurden einfach<br />
unbemerkt in das gesamtherapeutische Geschehen<br />
mit einbezogen. Michael erwies sich als Meister der<br />
erklärenden Worte, indem er die praktischen Übungen mit<br />
allerlei theoretischem Hintergrundwissen garnierte. Meine<br />
Eltern sollten schließlich nicht dumm und untätig bleiben,<br />
sondern die gezeigten Übungen auch praktisch anwenden.<br />
Wer auch immer Erfahrungen mit Krankengymnastik und<br />
sonstigen Gemeinheiten gemacht hat, weiß, dass man sich<br />
bestimmt nicht zum Kaffeekränzchen verabredet. <strong>Was</strong> die<br />
seltsamen Übungen der orofacialen Regulationstherapie<br />
betraf, hinterließen diese jedoch mindestens eintausend<br />
Fragezeichen auf den Stirnen der Beobachtenden zurück.<br />
„Wie? Das war schon alles?“, lautete eine der verdutzten<br />
Fragen, die Michael sowieso schon erwartet hatte. Punktuelle<br />
Vibrationen, mal links, mal rechts der Lippen, mal mittig<br />
unter der Nase, überall dort wo sich Nervenpunkte befanden.<br />
Stimuli ... Stimula ...! Batolio, dem die Stimulationen<br />
meiner Nervenpunkte suspekt erschienen, dachte eher an<br />
eine andere therapeutische Variante. Demnach müsste Ma<br />
nur ihre Brust an meine Lippen führen oder umgekehrt meinen<br />
Mund an ihre Brust, derweil der Therapeut solange<br />
irgendwelche delikaten Übungen praktiziert, bis Klein-<br />
Luca drauf los saugt, dass sich die Knospen biegen. Es<br />
geschah dergleichen nix. Nur dezente, punktuelle Stimulationen.<br />
Abschließend beträufelte Michael ein Megawattestäbchen<br />
mit Tee und strich mir damit den Mund von innen<br />
aus. Fenchel blieb meine einzige Geschmacksnuance.<br />
Langsam, aber nicht ohne Vibrationen, strich er entlang<br />
meiner Wangentaschen und pinselte kreisend über meine<br />
Zunge, um sämtliche Geschmacksnerven zum Narren zu<br />
halten. War ich jetzt auf den Geschmack gekommen? Nein,<br />
ganz bestimmt nicht. Denn auf meiner Zunge nistete der<br />
Soor. Dabei handelte es sich um die blöden Hefepilze, die<br />
sich wie Parasiten dort angesiedelt hatten. Zwischenzeitlich<br />
war meine Zunge, von einem den Soor bekämpfenden<br />
Medikament, so lila wie die Milkakuh, womit freilich der<br />
Bezug zur Milch wieder hergestellt war. Doch weder mit<br />
Milch, noch mit Schokolade gedippte Wattestäbchen<br />
83
84<br />
erreichten jemals meinen Mund. Nur dieser ekelhafte Fencheltee.<br />
Ja, liebe Freundinnen und Freunde der kulinarischen<br />
Schlemmerei! Wir befanden uns doch erst am Anfang<br />
eines langwierigen Prozesses, der ziemlich abhängig von<br />
Formsachen war. Befand ich mich nämlich in einem Formtief,<br />
beispielsweise in Krampfbereitschaft oder im Fieberwahn,<br />
dann hatte die Sache keinerlei therapeutische Effekte.<br />
Die von Außenstehenden kaum wahrnehmbaren Stimulationen<br />
waren nämlich Reize von ungeheurer Intensität, die<br />
sich im Fall von extremer Befindlichkeit kontraproduktiv<br />
ausgewirkt hätten. Ich behielt mir deswegen das Recht vor,<br />
das Tempo selbst zu bestimmen, derweil die anderen ihre<br />
eigene Langsamkeit entdecken mussten, wollten sie doch<br />
meine physischen Eigenheiten begreifen lernen. Michael<br />
selbst war ein bemerkenswert geduldiger Mensch, der die<br />
Langsamkeit beim Lesen von Sten Nadolnys Buch: „Die Entdeckung<br />
der Langsamkeit“ gefunden hatte. Er erkannte<br />
auch einfühlsam die Müdigkeit in den Augen meines Papas.<br />
Dementsprechend praktizierte und theoretisierte er in einer<br />
passablen Geschwindigkeit, die es meinem Pa ermöglichte<br />
sich sämtliche Fachbegriffe zu merken, um sie anschließend<br />
nachschlagen zu können. In realiter kam er jedoch gar nicht<br />
dazu seinem Wissensdurst zu stillen, denn schließlich hatte<br />
er mich rundum zu versorgen. Darauf bestand ich vehement,<br />
ohne jegliche Rücksicht auf die Erweiterung seiner<br />
Bildung. Insgesamt therapierte mich Michael mit wachsender<br />
Begeisterung, wobei er alles sehr genau registrierte: die<br />
Veränderung meiner Atemfrequenz, mein Mienenspiel bei<br />
unangenehmen oder angenehmen Reizen, meine Seufzer <strong>–</strong><br />
wenn ich sie machte <strong>–</strong> meinen Muskeltonus, meine Pupillenbewegungen<br />
<strong>–</strong> einfach alles. In punkto gegenseitiger<br />
Aufmerksamkeit befanden sich Mr. Physio und ich auf<br />
hohem Niveau, einmal abgesehen von meinen Formschwankungen.<br />
„Hey, ein Seufzer!“ Michael wurde enthusiastisch<br />
und Papa fragte geistesabwesend: „<strong>Was</strong> ist passiert?“<br />
Wahrscheinlich hatte er an Fußball und seine Borussia<br />
gedacht und dabei einmal wieder nichts von meinen<br />
Vitalfunktionen und dessen Eskapaden mitgekriegt. Dabei<br />
hatte ich doch schon im letzten Kapitel einen langgezogenen<br />
Seufzer ausgestoßen, um meine Margret zu beeindrucken.<br />
Andererseits konnte ich es ihm nachfühlen, dass<br />
er sich zwischenzeitlich anderen Gedanken hingab, wusste<br />
er doch nur zu genau, dass er mit mir allenfalls auf dem grünen<br />
Rasen hinter unserer Wohnung liegen konnte. An ein<br />
Ballspiel mit gegenseitigem Zukicken und Fummeln war<br />
nun einmal nicht zu denken. Im Übrigen hatten wir es uns im<br />
Sommer 2000 <strong>–</strong> oder was von diesem übrig geblieben war <strong>–</strong><br />
einmal auf der Wiese in unserem Garten bequem gemacht.<br />
Die Gänseblümchen erzählten mir Geschichten von Düften,<br />
Bienen und Bestäubungen, von Gegenden, wo Milch und<br />
Honig fließen. Der Wind hauchte mir Zufriedenheit ein und<br />
ich begann meine Seele .... HALT! Weg von der Natur <strong>–</strong><br />
zurück ins therapeutische Geschehen. Für meinen Seufzer<br />
lobte mich Michael über den grünen Klee, dass ich mich<br />
spontan in unseren Garten zurücksehnte, um Flora und<br />
Fauna zu inspezieren. Doch ich hatte kein Glück, und das<br />
Pech folgte stante pedes. Michaels individueller Behandlungsplan,<br />
der sich mittlerweile nur noch auf atemtherapeutische<br />
Maßnahmen konzentrierte, kannte keine Gnade.<br />
Nur Konsequenzen, die da bedeuteten: Berührung <strong>–</strong> Streichen<br />
<strong>–</strong> Zug <strong>–</strong> Druck <strong>–</strong> Vibration und... und... und ...! Ich entschied<br />
mich kurzerhand meine Bronchien zu entleeren und<br />
rotzte gar kräftig den Stehkragen seines Flanellhemdes voll.<br />
Somit konnte er jetzt unweigerlich den Solidaritätspakt mit<br />
85
86<br />
Margret eingehen. Michael nahm es sehr gelassen hin,<br />
zumal er darauf vorbereitet war. Vor Beginn der Therapiestunde<br />
hörte er es bei mir pfeifen, brodeln, röcheln, räuspern<br />
und fließen. Er fühlte die Geschwindigkeit meiner Sekretbewegungen<br />
bei jeder Ein- und Ausatmung, ertastete anhand<br />
des vorbeizischenden Luftstroms, wo sich der Schleim versteckt<br />
hielt. Dann versuchte er ihn zu mobilisieren und freute<br />
sich über den großartigen Erfolg.<br />
Die Atemtherapie bekam einen immer gewichtigeren Stellenwert<br />
in meinem Leben. Die orofaciale Regulationstherapie<br />
wurde dagegen bald beendet, um letztlich weiteren<br />
Stress zu vermeiden. Es war alles nur ein Tropfen auf einen<br />
heißen Stein. Einige Zeit später bekam Michael eine neue<br />
Kollegin, die er durch Margret kennengelernt hatte. Sie hieß<br />
Elke und nahm mich anstelle von Michael in ihre Patientenkartei<br />
auf und unter ihre Fittiche. Mr. Physio räumte das Feld<br />
und verabschiedete sich mit den münsterländischen<br />
Worten: „Guet gaohn“.<br />
Elftes Kapitel<br />
Das Zauberhafte Materialkörbchen<br />
Wie man durch die Frühförderung zum Genießer wurde<br />
Immer wenn das Wochenende sich hinter einem grauen<br />
Schleiher der münsterländischen Nebelbänke verzogen<br />
hatte und Ma sich auf den Weg zu ihrem Sekretariat befand,<br />
begann für mich <strong>–</strong> good grief <strong>–</strong> ein verdammt arbeitsreicher<br />
Montag. Ich wurde frühgefördert! Eine schlanke, stets gut<br />
gelaunte Sozialpädagogin namens Pia, die ebenso wie<br />
Margret unter dem Eiszeitsyndrom kühler Extremitäten litt,<br />
schneite montags morgens immer hinein in meine olle Pflegestube.<br />
Batolio, der partout nicht gefördert werden wollte,<br />
verzog sich daraufhin in das Wohnzimmer, hängte sich vor<br />
die Stereoanlage und lauschte dem Song von Bob Geldorf<br />
und seinen Boomtown Rats „Tell me why, I don´t like mondays?“<br />
Einige Leute <strong>–</strong> euch schließe ich da kategorisch aus<br />
<strong>–</strong> vertreten die unsinnige Ansicht, die Frühförderung diene<br />
nur der Bespassung von Babies, kleinen Kindern und deren<br />
Eltern. „Spielen mit Babies ist doch reiner Kinderkram und<br />
hat mit Arbeit im herkömmlichen Sinne absolut nichts zu<br />
tun.“ Mein Zwerchfell hätte gerne protestieren wollen, doch<br />
das Lachen blieb mir nebst Schleim im Halse stecken. Von<br />
wegen Fun und eitler Sonnenschein. Ich musste richtig<br />
malochen, um mir meine Freuden und Annehmlichkeiten zu<br />
verdienen. Die Frühförderer werfen zuvor ihre gesamten<br />
Sinnesblicke auf die motorischen, sensorischen, kognitiven,<br />
sprachlichen, emotionalen und sozialen Entwicklungsmöglichkeiten.<br />
Sie schauen mehrdimensional aus der<br />
Wäsche und rufen dann nach Interdisziplinärität. Mir aller-<br />
87
88<br />
dings gingen jegliche Zielformulierungen an der Pampers<br />
vorbei, galt es doch nur, meine Lebensqualität ein wenig zu<br />
verbessern. Ich möchte euch keineswegs mit den verschiedenen<br />
Methoden nerven, sondern lediglich einen Einblick in<br />
meine arbeitsintensiven Wocheneinheiten verschaffen.<br />
Here we go on with the show. Pia brachte jedes Mal ein<br />
Körbchen voller Überraschungen mit. Das Körbchen war mit<br />
zahlreichen Spielmaterialien gefüllt, von denen jedoch nur<br />
jeweils ein Teil herausgenommen wurde und zum Einsatz<br />
kam. Pia war in der Branche der Frühförderer als vergessliche<br />
Frau bekannt, die bei jedem Hausbesuch den betreffenden<br />
Gegenstand liegen ließ. Folglich beschäftigten sich<br />
dann meine Eltern mit dem Material, indem sie mich als Versuchsobjekt<br />
ihrer Neugierde und Obsessionen betrachteten.<br />
Am darauffolgenden Fördermontag lachte Pa Pia<br />
augenzwinkernd an und fragte ganz unverhohlen: „Na, hat<br />
sie letzte Woche nicht etwas vermisst in ihrem Körbchen?“<br />
Pia schaute verdutzt, dann überglücklich: „Da habe ich mir<br />
doch die ganze Woche den Kopf zerbrochen und vergebliche<br />
Suchaktionen gestartet.“ Das nannte ich glatte Arbeitszeitverschwendung.<br />
Manchmal ließ Pia diverse Materialien<br />
auch freiwillig bei uns liegen, ohne sich jedoch später daran<br />
zu erinnern, wem sie diese denn wohl geliehen hatte. Lasst<br />
uns nicht länger aufhalten mit Erinnerungslücken, und<br />
begeben uns in das kollektive Freizeitparadies, in den<br />
Luca`schen Sinnespark. Werfen wir also einen Blick auf die<br />
Materialien zur Förderung meiner Wahrnehmungen und<br />
sinnlichen Begierden. Eines Tages rückte mir so ein elektrisch<br />
betriebener Kosmetikmassagestab zu Leibe. Ich hatte<br />
eher den Eindruck, dass solche Geräte ausschließlich von<br />
Frauen und flotten Teenagern benutzt werden, um ihren erotischen<br />
Outfits neuen Glanz zu verleihen. Weit gefehlte<br />
Denkschiene! Auch Buben meines zarten Alters, die Häute<br />
tragen, welche sich die benannte Damenwelt für das ewige<br />
Jung- und Schönsein wünscht, kamen in den Genuss der<br />
elektrisierenden Vibrationen. Aber bitte mit Vorsicht! Meine<br />
Haut ist ein hoch sensibles Futter. Zu dem Massagegerät<br />
gehörten übrigens noch verschiedene Aufsätze, deren<br />
Reizstimulationseffekte ganz unterschiedlicher Natur<br />
waren. Da gab es Aufsätze, vergleichbar<br />
mit einer Kratzbürste,<br />
sowie ein kugelförmiges Teil,<br />
eines mit zwei Noppen, ein<br />
Glattes und eines mit Schaumstoff<br />
überzogenes. Pia wählte<br />
aus Vorsicht zuerst das glatte<br />
Aufsatzstück und drückte das<br />
Startprogramm. Ich hatte keine<br />
Chance, meinen Dermatologen<br />
oder Apotheker ob der Verträglichkeit<br />
zu fragen und bin flugs<br />
aus der Haut gesprungen. Die<br />
Vibrationen waren so gigantisch,<br />
dass mir der Urin abging.<br />
Pia hatte aber alle Risiken und<br />
Nebenwirkungen bedacht und<br />
ein gefaltetes Handtuch als<br />
Dämmungsunterlage benutzt,<br />
um den direkten Hautkontakt<br />
zu vermeiden. Ich war hellwach<br />
und registrierte die kleinste<br />
Sekretstimulation mit Massageball<br />
Vater Wolfgang<br />
89
90<br />
Bewegung. Einmal hatte man mich bäuchlings auf einen<br />
Pezzyball gelegt. Das ist ein riesiger, hohler Plastikball für<br />
ergonomische Sitzhaltungen oder gymnastische Schikanen.<br />
Während ich wie ein nasser Sack nahezu überhing,<br />
wurde das Massagegerät an irgendeiner Stelle des Balles<br />
positioniert, natürlich eingeschaltet. Prompt ging die Lucy<br />
ab, als wäre ich ein Achterbahnjunkie. Die Chose war derart<br />
Sekret-stimulierend, bis sich der Pezzyball auf der eigenen<br />
Schleimspur überrollte. Ich konnte mich des Eindruckes<br />
nicht erwehren, dass mittlerweile jeder, der mich besuchen<br />
kam, in die Praktiken der Atemtherapie eingeweiht war.<br />
Trotzdem war die Massage-Vibrationseinheit eine ultragrelle<br />
Show. Ich trug fortan einen rosa Teint und fühlte mich<br />
porentief rein. Pa hatte sich zwischenzeitlich seinen Ellbogen<br />
mit dem Noppenaufsatz massiert und verstand jetzt<br />
etwas von Musikalität.<br />
„... Every other day, every other day of the week is fine. But<br />
whenever monday comes, but whenever monday come, I<br />
feel ... .“<br />
The Mamas & Papas und Pia hatten eine rettende Idee, wie<br />
sie einen weiteren Montag vormittag gestalten könnten. Pia<br />
hatte sich in die Rolle einer Rettungsassistentin versetzt,<br />
derweil ich nackig und missgelaunt auf meiner Wickelkommode<br />
kauerte. „Ihr könnt mich mal am Futti lecke <strong>–</strong> Pia<br />
kommt mit einer Rettungsdecke!“ Tatsächlich entfaltete sie<br />
eine Decke mit den Maßen 160 x 120 Zentimeter, deren eine<br />
Hälfte silber- und die andere Hälfte goldfarben war. Die<br />
Goldseite verwendet man zum Hitzeschutz, wonach durch<br />
Reflexion des Sonnenlichtes die Hitze vom Körper abgehalten<br />
wird. Die Silberseite verhindert die Gefahr der Unterkühlung,<br />
weil die Körperwärme reflektiert wird. Die Spannung<br />
knisterte, als mein Körper in die Goldseite der Plane einge-<br />
wickelt wurde. Kerl, war das aufregend. Mein Strullermann<br />
zeigte sich spontan erkenntlich. Könnt ihr euch vorstellen,<br />
in Alufolie eingewickelt zu werden? Mit welchem praktischen<br />
Nutzen? By the way! Die Einwickelaktion geschah<br />
nicht an irgendeinem x-beliebigen Montag, sondern am<br />
Rosenmontag, der zudem auch noch mein erster Geburtstag<br />
war. Da stellte sich unweigerlich die zentrale Frage:<br />
Wurde ich hier als mein eigenes Geschenk verpackt, oder<br />
diente die Knisterfolie zum Zweck der Faschingskostümierung<br />
für den Rosenmontagszug? Rosen kommt von Rasen.<br />
Zur Raserei kam es jedoch nicht. Mittlerweile hatte ich mich<br />
an meine zweite Haut gewöhnt. Sie schien mir gar passabel<br />
und erzeugte eine mollige Wärme. Es raschelte, knisterte,<br />
knackte und knirschte, die Schweißperlensuppe kochte. Es<br />
war sicherlich ein anderes Hauterlebnis wie beim Streicheln,<br />
Liebkosen oder Schmusen, aber doch einzigartig,<br />
zumal es auch ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und<br />
Wohlbefinden erzeugte. Animalisch gesprochen ging es<br />
tierisch unter die Haut. Potzblitz! Habe ich da nicht gerade<br />
jemanden unter meiner Leserschaft erwischt, wie er sich an<br />
den Kopf greift und ruft: „<strong>Was</strong> machen diese Grützköpfe<br />
denn da mit wehrlosen Kindern, zum Kuckuck?“ „Nichts<br />
aufregendes“, erwiderte Batolio, der sich mittlerweile Bob<br />
Geldorf leid gehört hatte. „Sie regeln nur Lucas Körpertemperaturen.“<br />
Nachdem man mich aus meiner Rettungsfolie<br />
wieder ausgewickelt hatte, stand ein weiterer Montag vor<br />
der Tür. Plötzlich steckte mein Kopf in einem Schwarzlichtkasten,<br />
welcher eine abnehmbare Plexiglasfrontscheibe<br />
hatte. Mein übriger Körper hing noch dran, aber außerhalb.<br />
Dann wurde der Kasten an das Stromnetz angeschlossen,<br />
so das sich im Inneren Schwarzlicht ausbreitete. Die Farbenpracht<br />
der Innenwände waren der Ozeanwelt nach-<br />
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92<br />
empfunden. Auf dem Meeresgrund, dem Boden, befanden<br />
sich verschiedenfarbige Gegenstände - wie beispielsweise<br />
kleine und große, gelb- und orangefarbene Bälle, Kordel<br />
und Tücher. Ich war tief beeindruckt. „Ich will mehr Meer <strong>–</strong><br />
ich will ihn ganz <strong>–</strong> den Ozean.“ Offensichtlich waren meine<br />
Augen in der Lage, zumindest auf intensive Lichtreize zu<br />
reagieren. Es war jedenfalls ein tolles Erlebnis, welches sich<br />
nach Wiederholung sehnte. Pia ließ in ihrem kreativen Eifer<br />
aber auch nichts aus und entnahm ihrem Überraschungskorb<br />
auch Ton-erzeugende Materialien und Instrumente,<br />
wie chinesische Klangkugeln, Klangschalen, ein Xylophon<br />
und ein kleines Keyboard. Ab sofort durfte ich meine musikalische<br />
Genialität unter Beweis stellen und mich als Mozart<br />
unter den schwerstbehinderten Babies feiern lassen. Der<br />
Hammer war jedoch eine sogenannte Ocean Drum. Dabei<br />
handelte es sich um eine durchsichtige Trommel, die am<br />
Innenrand und auf dem Boden mit Meerestieren verziert<br />
war. Die Trommel war mit hunderten von kleinen Metallkügelchen<br />
gefüllt. Wenn man sie leicht kippte, setzte sich die<br />
Kugelmasse in Bewegung und erzeugte somit das Geräusch<br />
einer Welle. Je intensiver die Bewegungen ausgeführt<br />
wurden desto stärker entstand der Eindruck, dass eine<br />
wogende und tosende Brandung alles überfluten würde. Ich<br />
klappte einfach meine Muscheln zu. Mein kaufsüchtiger<br />
Papa, der Mamas hart verdiente Bembel so gerne in Spielmaterialien<br />
für meine Frühförderung investierte <strong>–</strong> Pia´s Materialkörbchen<br />
hatte ihn dazu verlockt <strong>–</strong> bestellte natürlich<br />
sofort diese Trommel via Internet. Fortan hockte er Abend<br />
für Abend auf dem Fußboden mit der Drum in den Händen,<br />
erzeugte hohe Wellen, die seine Gedankenwelt umspülten,<br />
und phantasierte: „Ich habe doch noch eine Sehnsucht“.<br />
Petrus wies ihn in die Technik der Fischereiknoten ein. Da er<br />
jedoch bis heute noch keinen Fisch gefangen hat, blieb die<br />
Frage, warum man ihn nicht früh gefördert hat?<br />
Nachdem ihn der Ozean wieder ausgespuckt hatte, bugsierte<br />
man mich in den Snoezelraum der Werkstatt für<br />
Behinderte, wo Mutter ihren Arbeitsplatz hat. Dort wogten<br />
wir gemeinsam auf einem <strong>Was</strong>serbett hin und her, kreuz<br />
und quer. Zuhause angekommen legte man mich nicht<br />
etwa in die Badewanne, sondern in meine Hängematte.<br />
Statt Erholung sollte ich mir nun auch noch die Welt überhalb<br />
erschließen und mich der Frage zuwenden, was die<br />
Menschen sich in ihren Wohnungen unter die Decke hängen.<br />
Mir fielen Lampen, Kronleuchter, Mobiles, Knoblauchzehen<br />
und Spinnengewebe ein. Unter unserer Wohnzimmerdecke<br />
befand sich allerdings ein Grillrost, an dessen<br />
Stäben wiederum bunte, seidene Fäden hingen. Sie waren<br />
zum Greifen nah, sozusagen zum Abreißen. Da ich aber leider<br />
nicht greifbereit war, zappelte das Gedöns vor meinem<br />
Gesicht herum, kitzelte mir Nase und Wangen und zerzauste<br />
meine gold-lockige Haarpracht. Pa hatte nichts Besseres<br />
zu tun, als jetzt bloß nicht zu rauchen. Somit hatte er<br />
zuviel Puste, um die ollen Fäden wie ein Orkan hin und her<br />
wirbeln zu lassen. Es fühlte sich an wie ein Herbststurm.<br />
Gleich liege ich unter dem Blattwerk begraben.<br />
Ach du dickes Ei! Pia brachte am heutigen Montag eine mit<br />
Bohnen gefüllte Wanne mit. Dabei handelte es sich weder<br />
um die grünen noch um die dicken Bohnen aus Nachbars<br />
Garten, sondern um gelbe und rote Teile, welche die Form<br />
von dicken Bohnen hatten. Wenig später, nachdem man<br />
mich mit dem Rücken auf mein Rundkissen gelegt hatte,<br />
ergossen sich ungelogen mindestens zehntausend Bohnen<br />
über meinen Körper. Ich badete sozusagen in den roten und<br />
gelben Teilen, fand diese Art der Hautstimulation aber<br />
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94<br />
Luca nimmt ein Bohnenbad<br />
durchaus prickelnd. Spannend fand ich auch die Aktion an<br />
jenen Montag, an dem meine Extremitäten in den Genuss<br />
von Kartoffelpüree kamen. Zuerst verteilte man mir die<br />
Pampe über die Hände, später über die Füße. Als hätte ich<br />
kaum andere Sorgen, als mir noch Püreebandagen anlegen<br />
lassen zu müssen. Jetzt fehlt nur noch ein Gipsbett, um das<br />
Chaos perfekt zu machen. Statt dessen bekam ich es dann<br />
mit Gries zu tun, wonach ich endgültig zu der Überzeugung<br />
kam, dass Nahrungsmittel in der Frühförderung einen<br />
grundsätzlich anderen Zweck verfolgten, als kleine hungrige<br />
Mägen zu füllen.<br />
In Pia`s Reich der Sinne entwickelte ich zunehmend einen<br />
wahren Genusscharakter, sehnte mich nach Hand- und<br />
Fußmassagen, sowie nach Gesangeseinlagen aller Art. Ich<br />
konsumierte leidenschaftlich gerne Streicheleinheiten am<br />
ganzen Körper, während ich anmutig irischen Balladen und<br />
bluesigen Songs lauschte, oder einfach nur Pia`s anrührigem<br />
Elefantenlied. Papa waren die Aktionen der Frühförderung<br />
derart ans Herz gewachsen, dass er seine Förderaktivitäten<br />
auf so manchen Nachmittag verlegte. Wenn wir<br />
dann Musik hörten, nahm er auch gerne meine Händchen<br />
in die seinen und gemeinsam swingten wir in eine längst<br />
vergessene Welt. Die Welt, wo ich noch im Mutterleib lebte.<br />
Ich war auch hin und weggerissen, wenn Pa „Summertime“<br />
aus Gershwin`s Porgy und Bess trällerte, auch wenn er nicht<br />
gerade ein Sänger von höheren Weihen war. Mein charismatischer<br />
Dad war meinem grazilen Charme erlegen, so<br />
dass er, seinem edlen Charakter entsprechend, unendliche<br />
Fantasiereisen mit mir unternahm.<br />
Cha-cha-cha <strong>–</strong> my life is cool <strong>–</strong> sometimes.<br />
But the cooler it comes the harder it gets.<br />
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96<br />
Zwölfter Akt<br />
Das visionäre Einkaufszentrum<br />
Wie man Hilfsmittel bekam<br />
und mit den Tücken der Technik haderte<br />
Pa hatte kürzlich eine seltsame Vision oder einen Anflug von<br />
geistiger Umnachtung. In einem seiner häufigen Tagträume<br />
<strong>–</strong> ihr wisst ja, dass er sich die Nachtträume ersparen konnte,<br />
beziehungsweise unsinnige Kapriolen fabrizierte, um andere<br />
vom Schlafen abzuhalten <strong>–</strong> konstruierte er ein riesiges<br />
Einkaufscenter, welches Hilfsmittel aller Art feilbot. Ein<br />
gigantisches Gesundheitscenter sozusagen, welches er<br />
Body & Soul-Mall nannte. Im Klartext hieß das, mit einem<br />
Stapel Blankorezepte vom Kinderarzt shoppen zu gehen.<br />
Hintergrund dieser Idee war die anfänglich teilweise große<br />
Verärgerung über einige Hilfsmittelversorgungsfirmen, die<br />
trotz frühzeitiger Einreichung der ärztliche Rezepte mit der<br />
Lieferung der Artikel schlampten. Dann stand Pa buchstäblich<br />
auf einem meiner Schläuche, was mir beinahe die existentielle<br />
Sauerstoffzufuhr kappte. „<strong>Was</strong> kostet denn ein<br />
krankes Kind?“, fragte Batolio neugierig. Pa erwiderte: „Nerven“,<br />
womit er nur die Drahtseilakte meinte, bei denen er<br />
sich akrobatisch ins Zeug legen musste, um die möglichen<br />
akuten Notversorgungsprobleme in den Griff zu bekommen.<br />
Mit meiner Hilfsmittelversorgung lief es später summa<br />
summarum recht passabel. <strong>Was</strong> allerdings den Gebrauch<br />
und Verbrauch anderer Produkte betraf, konnte ich nur konstatieren,<br />
dass ich wohl niemals den Verlockungen der bunten<br />
Werbewelt mit ihren zweifelhaften Gefühlsbotschaften<br />
widerstehen würde. Solange meine Ollen nicht einem juve-<br />
nilen Konsumrausch verfallen würden, konnte ich sicher<br />
sein, kaum nach Artikeln einer „das-muss-ich-haben-dasmuss-ich-tragen-Welt“<br />
zu verlangen. Da schlug ich Nike<br />
einen Haken, streifte mir Addidas ab und machte auf den<br />
Benneton-Pulli einen kolossalen Rotzer, bis sich die united<br />
colours von selbst verwaschen. Ich dagegen „kaufte“ bei<br />
Nellcor Puritan Bennett, Weinmann, Kendall, Fresenius,<br />
Hartmann, Johnson + Johnson, Braun, Sherwood Medical,<br />
Dahlhausen, Beiersdorf und was-weiß-der-Kuckuck bei<br />
welchen sonstigen medical global players ein. Nachdem<br />
Papa meine Versorgungswarenkörbchen-Einkaufsliste<br />
akkurat zusammengestellt hatte wurde ich in<br />
meinen Rehabuggy gesetzt, den ich ungefähr<br />
im zarten Alter von 15 Monaten<br />
bekam. Mein Buggy war ein hypergrandioses<br />
Gefährt mit einer nach meinen<br />
Körpermaßen entwickelten Sitzschale.<br />
Im Fachjargon der Rehatechniker<br />
hieß ich darum Schalenkind,<br />
wofür diese einen<br />
geschmetterten Satz heiße<br />
Ohren verdient hätten. Die<br />
grellste Show war allerdings<br />
mein Rückspiegel. Da mein<br />
Blick entsprechend<br />
der Sitzhaltung nach<br />
vorne ausgerichtet<br />
war, mussten meine<br />
schiebenden Eltern ja<br />
eine Möglichkeit<br />
haben in meine Visage<br />
kieken zu können, um Mein rasantes Gefährt<br />
97
98<br />
rechtzeitig auf meine Schleimattacken vorbereitet zu sein.<br />
Ich fühlte mich sauwohl in meinem Shopper, war fast so cool<br />
wie Dennis Hopper. Er fuhr zwar eine Harley und ich nur<br />
einen ollen Buggy. Doch der ging ab wie ein Paracetamolzäpfchen.<br />
Easy Rider Luca auf Shopping-tour. Nachdem<br />
wir das Einkaufscenter erreicht hatten fühlte ich mich ein<br />
wenig anders als sauwohl, hatte ich doch unterwegs die<br />
Schattenseite meines coolen Gefährts ziemlich vollgerotzt.<br />
Das hielt Papa aber nicht davon ab, den Hilfsmittelparcour<br />
zu durchstreifen. In der Abteilung Lunge fischten wir Sauerstoffbrillen<br />
und -masken aus den Regalen, sackten sterile<br />
Kochsalzflaschen ein und schauten nach Ersatzteilen für<br />
den Sauerstoff-Konzentrator. Beim Pariboy erhielten wir ein<br />
Ventilset, eine Einatemmaske und einen Anschlussschlauch<br />
für das Inhalationsgerät. Danach begaben wir uns in die<br />
Abteilung für Absäuglinge, wo wir Absaugkatheter und<br />
Mini-Yankauer OP-Sauger bestellten, sowie ein komplettes<br />
Ersatzset für das Accuvac-Absauggerät, bestehend aus<br />
Sekretdeckel, Kugel, Bakterienfilter, Dichtungsring, Filterdeckel,<br />
Sekretsammelbehälter, Absaugschlauch und ein<br />
Endstück mit einem Fingertip, erhielten. Selbstverständlich<br />
ließen wir das komplette Gerät vom Reparaturdienst warten<br />
und reparieren, um derart unliebsame Überraschungen zu<br />
vermeiden, die Pa einst zwangen, den schönen Dülmener<br />
Asphalt voll zu rotzen. Einmal blieb mein Spuck- und Rotzdilemma<br />
ihm förmlich im Halse stecken, als er unterwegs feststellen<br />
musste, dass ihm mein Absauggerät den Dienst versagte.<br />
Der Druckmechanismus war einfach nicht zu kontrollieren,<br />
kein Vakuum wurde erzeugt, nichts ließ sich absaugen.<br />
Pa´s unwiderstehlicher Spontaneität war es zu<br />
verdanken, dass ich nicht in Erstickungsnot geriet. Für alle<br />
Fälle hatte er einen Mundschleimabsauger mitgenommen,<br />
den er jetzt schnell aus der Verpackung riss und tief in meinen<br />
Rachen einführte. Dann saugte er mit dem anderen<br />
Schlauchende mit kräftigen Zügen, während der Schleim in<br />
einen kleinen Plastikbehälter floss. So war es normalerweise<br />
vorgesehen. Doch irgendwo im System gab es anscheinend<br />
einen kleinen Defekt. Folglich vermischte sich mein<br />
Schleim mit seinem Speichel zu einer ekligen Masse, die<br />
sich auf den oben erwähnten Stück Bürgersteig unserer<br />
sauberen Stadt ergoss. Iggittigitt! War das eine Riesenschweinerei.<br />
Weit weniger aufregend wurde es dann in der<br />
für mich bedeutungslosen Nahrungskette, wo wir uns mit<br />
trinkfertiger Hippmilch, und Frebini-Sondennahrung eindeckten.<br />
Die Firma Fresenius empfahl uns für meine<br />
Ernährungspumpe das Flaschensystem Sondomat anstelle<br />
eines von uns bisher benutzten Beutelsystems, um einerseits<br />
Kosten für das arg strapazierte Gesundheitssystem zu<br />
reduzieren, sowie andererseits bessere Bedingungen für<br />
eine hygienische Reinigung zu bieten. Für meine PEG-Sonde<br />
erhielt ich zahlreiche Discofix-Dreiwegehähne, die als<br />
Ansatzstücke am äußeren Schlauchende befestigt wurden<br />
und der Nahrungs- sowie der Medikamentenzufuhr dienten.<br />
Anschließend ließen wir meine Ernährungspumpe<br />
inspizieren, hatte diese doch in der Vergangenheit etwaige<br />
technische Tücken aufgewiesen. Egal ob die Nahrung zu<br />
dick war, oder ob sich Luftbläschen gebildet hatten, ein<br />
hoch komplizierter Sensor spielte dann verrückt und löste<br />
Nerv-raubenden Daueralarm aus. Dadurch wurde logischerweise<br />
meine Nahrungszufuhr unterbrochen, was<br />
unweigerlich zu Verzögerungen meines Sättigungsgrades<br />
führte. Einmal hieß die Devise: „Wir können auch anders!“<br />
Normalerweise meldet sich die Pumpe am Ende der programmierten<br />
Nahrungsdurchlaufzeit mit einem Signalton.<br />
99
100<br />
Eines Tages ertönte dieses Signal plötzlich schon circa fünf<br />
Minuten nach der Inbetriebnahme. Ma stand wie angewurzelt<br />
vor meinem Bett und schaute kopfschüttelnd auf eine<br />
leere Flasche. Binnen kürzester Zeit waren ungefähr 200<br />
Milliliter Milch in meinen kleinen Magen gepumpt worden,<br />
weil meine technisch versierten Eltern vergessen hatten,<br />
den Rotor fachgerecht zu verschließen. Mit der Situation<br />
war auch der Sensor überfordert, ließ den Inhalt ungebremst<br />
passieren und meinen Magen überfluten. Ma saugte<br />
auf Teufel komm raus, derweil Pa von einem genialen Geistesblitz<br />
getroffen wurde. Er griff sich eine 20 Milliliter-Spritze,<br />
setzte sie an den Dreiwegehahn an und zog mir die Flüssigkeit<br />
aus dem Magen heraus. Jetzt war ich Absäugling<br />
und Abpumpling zugleich. Flatternase Batolio konnte sich<br />
vor Aufregung kaum an meinem Bett festkrallen. „Junge,<br />
Junge“, sagte er: „war das eine <strong>Du</strong>rchfallquote. 200 Milliliter<br />
in fünf Minuten statt in zwei Stunden. Ein Rekord für das<br />
Guinness-Buch. Da musste einem ja kotzübel werden. Heiliges<br />
Mägle. Dagegen ist das große Fressen ja ein Imbiss vom<br />
Hungertuch“. <strong>Was</strong> an jenem ergiebigen Tag meinen Magen<br />
in Rekordgeschwindigkeit füllte, erreichte diesen an einem<br />
anderen Tag erst gar nicht. Ich schob stundenlang einen<br />
gewaltigen Kohldampf vor mir her, ehe Ma bemerkte, dass<br />
der komplette Flascheninhalt beckenwärts eine feuchtfröhliche<br />
Milchlache gebildet hatte. Diese Mal entpuppte sich<br />
der Dreiwegehahn als Problem, welcher derart eingestellt<br />
war, dass sich die Flüssigkeit unmöglich einen Weg durch<br />
den Schlauch bahnen konnte und statt dessen durch einen<br />
anderen Hahn voll daneben floss. Zu allem Überfluss musste<br />
ich nun auch noch komplett umgezogen werden. Bei<br />
dieser Gelegenheit zitierte Pa den von ihm einst entdeckten<br />
Tippfehler auf einem Rezept der Kinderarztpraxis, worauf<br />
stand: „10 x Dreiwegeharn“. Ich badete förmlich in einem<br />
Meer flüssiger Substanzen, hatte man auch noch die Pampers<br />
unfachgerecht verschlossen. Der Dreiwegehahn wurde<br />
dann sinniger Weise gegen ein Y-Stück ausgetauscht,<br />
welches derartige Pannen aufgrund besserer Verschlussmöglichkeiten<br />
ausschloss.<br />
Dann ging es weiter auf Spritztour in die Injektionsabteilung,<br />
wo wir ein paar Kartons von 5, 10 und 20 Milliliter-<br />
Spritzen, sowie diverse Kanülen einpackten. In der Abteilung<br />
Wund- und Verbandmaterialien bekamen wir sterile<br />
und unsterile Kompressen, Pehahaft-Rollen, Fixomull und<br />
sonstige Verbandmaterialien. In der Überwachungsabteilung<br />
ließen wir meinen Pulsoxymeter checken, indem ich<br />
einen neuen Sensor um einen Fuß gebunden bekam. Auf<br />
dem Display erschien links die Zahl, die meinen Sauerstoffsättigungsgehalt<br />
im Blut aufzeigte, rechts die Zahl mit meiner<br />
Pulsfrequenz. Mein sportbegeisterter Papa verwechselte<br />
das Display immer mit der Anzeigetafel in einer Basketballarena,<br />
ohne dass ihm klar wurde, dass die Heimmannschaft<br />
das Spiel in der Regel verlieren musste. Schließlich<br />
konnten die ja gemäß der Einstellung des Gerätes nie mehr<br />
als 100 Punkte machen, aber auch nicht weniger als 85.<br />
Dagegen konnten die pulsierenden Gäste gut und gerne<br />
200 Punkte erzielen, z.B. bei einem Krampfanfall. Bei Untertemperatur<br />
waren sie allerdings manchmal unterlegen.<br />
BSC Oxygen vs. Baskets Pulserers: Endresultat: 95 <strong>–</strong> 112.<br />
Ungeachtet solcher Phantasien hasste mein Papa Basketballer,<br />
weil die im Kino immer vor ihm sitzen. Wenn wir eines<br />
Tages einmal eine Filmvorführung besuchen, werden wir<br />
mit Sicherheit in der letzten Reihe Platz nehmen und energisch<br />
darauf bestehen, dass vor uns nur Kinder sitzen dürfen,<br />
allerdings ohne nervtötende Chipstüten. Von Überwa-<br />
101
102<br />
chungskameras verfolgt, schoben wir ab in die Kinderbekleidungsabteilung.<br />
Dort ließen wir Schlitze in meine Bodys<br />
einnähen, um das Problem mit meinem zusätzlichen Körperteil,<br />
dem modischen Pig-Schlauch, sinnvoll zu lösen. Man<br />
hätte mich ja sonst bei jedem Nahrungsvorgang halb ausziehen<br />
müssen. Zudem bekam ich noch ein paar Kollektionen<br />
der Firma Doppelmoppel, ohne dies als eine Anspielung<br />
auf meine properen Körpermaße missverstanden zu wissen.<br />
Danach führte uns der Weg in die pharmazeutische Abteilung,<br />
wo ich mich sehr, sehr unwohl fühlte, wimmelte es dort<br />
doch von Produkten, die mir letztlich das Attribut eines viel<br />
zu jungen „Drogenkonsumenten“ verliehen. <strong>Was</strong> sollte ich<br />
denn machen? Ich war doch schließlich auf die Wirkstoffe<br />
der bunten Palette von Präparaten angewiesen. Fragt doch<br />
meine Ärzte und Apotheker, lest aber niemals die Beipackzettel.<br />
Medi-Stillleben<br />
Nachdem wir zügig die bitteren Pillen, Fläschchen, Pasten,<br />
Gels, Salben, Öle, Inhalate, Suspensionen und sonstige<br />
Mixturen aufgefüllt hatten, rollten wir ein Türchen weiter in<br />
die Abteilung Homöopathie. Dort schlugen wir nochmals<br />
gnadenlos zu, erhielten aufregende Produkte mit allerlei<br />
kuriosen Namen, wie beispielsweise Quassia Similiaplex,<br />
Juniperus Similiarplex, Pulmo Ferrum und Pulmo Mercuris.<br />
Ob mir noch eine Metallvergiftung drohte? Wir ließen die<br />
Pharmazie samt ihrer Beipackzettel links liegen und zockelten<br />
weiter in das Schlafparadies, wickelten uns ein in mollige<br />
Daunendecken, räkelten uns auf Schaffellen, hingen in<br />
Hängematten und Airchairs. Mein begeisterter Blick fiel auf<br />
das Pflegebett Timmy, mit seinen absenkbaren vier Gitterseiten,<br />
einem motorisch höherverstellbaren Einlegerahmen,<br />
sowie manuell verstellbaren Kopf- und Fußteilen.<br />
Das Bett ersetzte schließlich meine bisherige provisorische<br />
Schlaf- und Liegestätte, eine herkömmliche Sonnenliege.<br />
Diese wurde mir untergejubelt, weil ich einerseits meine<br />
Babywiege, aus was für welchen Gründen auch immer, niemals<br />
akzeptierte und andererseits ein Höhen-verstellbares<br />
Rücken- und Kopfteil für die adäquate Belüftung meiner<br />
Lungen benötigte. Zuvor hatte ich auch so manche Nacht<br />
im Maxicosi verbringen müssen, der mir wegen seiner Enge<br />
wesentlich angenehmer war als die blöde Wiege, die noch<br />
nicht einmal Plexiglasscheiben hatte. Ferner bekam ich<br />
noch ein Vakuumslagerungskissen, bei dem mittels einer<br />
Vakuum-Handpumpe die Luft heraus gesaugt und es somit<br />
fester wurde. Umgekehrt ließ sich das Kissen beliebig verformen<br />
und zurecht drücken, je mehr Luft noch darin enthalten<br />
war. Auf diese Weise konnte man perfekte Abdrücke<br />
der aufliegenden Körperteile erzeugen, um entsprechende<br />
Lagerungshaltungen zu erzielen. Abschließend führte uns<br />
103
104<br />
die Shopping-Meile noch in das Kuscheltier-Center, wo ich<br />
Bekanntschaft mit einer schwarzweißen Handpuppenkuh<br />
machte. Diese erwies mir zukünftig außerordentliche<br />
Dienste, indem es entweder meine Inhalationsmaske oder<br />
abwechselnd meine Sauerstoffmaske mit seinem Maul festhielt.<br />
Bequemlichkeit regiert die Welt. Zu guter Letzt bekam<br />
ich zu meiner größten Freude noch eine quietschgelbe,<br />
sanfte Stofftierente in die Hand gedrückt. Diese trug ein<br />
orange farbiges Halstuch, welches mit den Buchstaben<br />
meines ersten Vornamen bestickt war. Diese, meine Lucaente,<br />
wurde mir lieb und teuer, galt sie doch als eines meiner<br />
Markenzeichen. Mit unserem prall gefüllten Warenkörbchen<br />
begaben wir uns dann endlich auf den Weg nach Hause,<br />
wo ich mich mit all meinen Errungenschaften ausgiebig<br />
beschäftigen durfte.<br />
Dreizehntes Kapitel<br />
Der Nummern- und Zahlensalat<br />
Wie man sich Akten anlegt und Statistiken entwarf<br />
Als Pa sich die beiden filmischen Glanzstücke von Paul Auster<br />
und Wayne Wang: „Smoke“ und „Blue in the face“ im<br />
Kino angesehen hatte, blieb ihm ein genialer Ausspruch in<br />
Erinnerung:“Wir sind hier in Brooklyn ! Da geht´s nicht nach<br />
Nummern.“ Beide Filme spielten übrigens im Herzen von<br />
Brooklyn, in und um die Brooklyn Cigar Company herum.<br />
Dieser Tabak- und Klönladen wurde von Auggie Wren (Harvey<br />
Keitel) geführt. Wie die jeweiligen Titel verraten, drehte<br />
sich alles um das Rauchen, eine Leidenschaft, die ich Pa nie<br />
verzeihen konnte. Blue in the face erinnerte mich ja unweigerlich<br />
an meine zyanotische Lebenseintrittsphase. Überhaupt<br />
konzentrierte sich bei mir buchstäblich alles um das<br />
Organ „Lunge“. Während ich also Kochsalz und diverse<br />
Ingredienzen inhalierte, um meine Sekrete zu verflüssigen,<br />
zog sich Paps Toxine rein, die sein Lungenepithel auf Dauer<br />
in Nichts auflösen. Damit leistete er einem möglichen Karzinom<br />
enormen Vorschub. Nicht umsonst nennt man die<br />
Fluppen ja auch Krebsspargel. Dies alles soll aber wahrlich<br />
nicht mein zentrales Thema sein. Vielmehr geht es um Nummern<br />
und gläserne Babies. Von Geburt an war ich eine<br />
Nummer. In der Geburtsklinik war ich der soundsovielte<br />
Neugeborene des Jahres 2000, bekam anschließend eine<br />
Patientenaufnahmenummer für die Neugeborenenintensivstation<br />
des St. Vincenz-Hospitals. Ich wurde beim Standesamt<br />
registriert und bekam eine Abstammungsnummer.<br />
Die Krankenkasse erteilte mir eine Krankenversicherungs-<br />
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nummer, das Arbeitsamt <strong>–</strong> Abteilung Kindergeld <strong>–</strong> eine Kindergeldnummer<br />
und die Erziehungsgeldkasse des Versorgungsamtes<br />
einer Erziehungsgeldnummer. Batolio strahlte<br />
im Angesicht des Paragraphenzeichen, an dem es sich so<br />
herrlich abhängen ließ und verkündete: „Hast du sozialrechtlichen<br />
Kummer <strong>–</strong> stell´ oin Ontrog, kriagst a Nummer!“<br />
Daraufhin folgten Anträge beim Versorgungsamt zur Ausstellung<br />
einer Schwerbehinderten-Nummer (Schwerbehindertenausweis),<br />
bei der Straßenverkehrsbehörde zur Ausstellung<br />
einer Parkerleichterungs-Nummer (Parkausweis),<br />
beim Landschaftsverband, Abteilung Sozialhilfe, eine Blindennummer<br />
(Blindengeld), bei der Deutschen Telekom eine<br />
Kundennummer für die Inanspruchnahme des Sozialtarifes,<br />
beim Wohnungsamt eine Wohngeldnummer, beim örtlichen<br />
Sozialamt eine Hilfe zur Pflege-Sozialhilfenummer und beim<br />
Landschaftsverband, Abteilung Soziales, Pflege und Rehabilitation,<br />
eine Eingliederungsnummer für die Kostendeckung<br />
von Kurzzeitpflegemaßnahmen. Für jede stationäre<br />
Aufnahme gab es eine neue Patientennummer. Bei Einlieferung<br />
per Notarztwagen erhielt ich eine Rettungsnummer<br />
und eine Kontonummer für die Überweisungen der Eigenbeteiligung<br />
zu den Rettungsfahrtkosten. Nach einer meldepflichtigen<br />
Infektion gab es zusätzlich eine Infektionsnummer<br />
beim Gesundheitsamt. Von den Hilfsmittelversorgungsunternehmen<br />
wurden mir jeweils eine Kundennummer<br />
und reichlich Bestellnummern zugeteilt. Das galt<br />
auch für meine Hausapotheke, von der ich eine Kundenkartennummer<br />
erhielt. Ich kam mir vor wie der berühmte bunte<br />
Hund, ausgestattet mit Nummern, Akten- und Geschäftszeichen.<br />
Luca, ein amtlicher Vorgang mit Laufakten. Es gab<br />
Leute, die behaupteten, dass so manche Antragstellung auf<br />
sozialrechtliche Leistungen einem bürokratischen Hürden-<br />
lauf gleiche. Wenn sich dann die amtlichen Hürden als unüberwindbar<br />
erwiesen, dass einem der Geduldsfaden zu<br />
reißen drohte, erhielt man zuweilen einen dezenten Ratschlag.<br />
„Wenn sie bei einem Amt auf taube Ohren stossen,<br />
legen sie dem Sachbearbeiter doch einfach das Lucababy<br />
auf den Schreibtisch.“ Batolio malte sich daraufhin folgende<br />
Situation aus: „Pa sagt: ‘Es ist mir ein dringliches Bedürfnis,<br />
ihr amtliches Bürgerklo benutzen zu dürfen’, zeigt dabei mit<br />
dem rechten Zeigefinger unmissvertsändlich auf seine mit<br />
Cappuccino prall gefüllte Harnblase. Prompt landet Lucababy<br />
mit seinem wunden Popo auf dem Tisch des Verwaltungsmenschen,<br />
dem erstaunlicherweise keine Flucht- und Vermeidungsstrategie<br />
in den entgeisterten Sinn kommt. Wenn<br />
sich Lucas Hypersekretionsstau dann plötzlich auflöst, noch<br />
bevor die Finger des Sachbearbeiters die Antragsformulare<br />
vor der vollkommenen Unbrauchbarkeit retten können, ist der<br />
erste surprise-coup gelungen. Wenn Pa dann von seinem<br />
Besuch beim Urologen zurückkommt, stellt er mit erstaunten<br />
Blicken fest: ‘Na Luca. Hast du schon wieder eine deftige<br />
Schleimspur hinterlassen!’ Folge: Ablehnungsbescheid. ‘Ihr<br />
Antrag wird abgelehnt, sie Rüpel!’ Da hatte aber einer von den<br />
Bürgerbegehrlichkeiten die Nase gestrichen voll. Folglich<br />
dürfen wir uns in Widersprüchen verrennen, oder anders ausgedrückt,<br />
die Hacken ablaufen.“<br />
Ganz entrüstet, entsetzt oder gar wutentbrannt reagierte so<br />
mancher, als er die Antwort auf seine Frage nach meiner<br />
Einstufung in die Pflegeversicherung hörte. Pflegestufe I!<br />
Das gibt es doch gar nicht. Die haben ja ein Rad ab. Das ist<br />
ja der Hammer. Soeben hatte einer den Nagel auf den Kopf<br />
getroffen. Unsereiner hatte daraufhin seine rechte Augenbraue<br />
hochgezogen, so wie er das immer tut, wenn er<br />
krampfhaft überlegen muss, wer, wo, wann und warum mit<br />
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ihm in einen Dialog eintreten will. Ich stelle klar: „Ich, der<br />
kleine Luca, bin ein Säugling, der nicht saugen kann. Ich<br />
werde gereinigt, bekleidet, gewickelt, wie auch alle anderen<br />
Säuglinge, an deren Zeitaufwand ich gemessen werde. Die<br />
Versorgung meiner cerebralen Anfälle, die Gabe meiner<br />
Medikamente, das Inhalieren von Kochsalz und viele andere<br />
Aktionen sind jedoch keine Maßnahmen im Sinne der<br />
Grundpflege, sondern behandlungspflegerische Aufgaben.<br />
Folglich werden die nicht unerheblichen Minuten, ja Stunden<br />
dieser Behandlungspflege, nicht anerkannt. Capito!“<br />
Batolio erinnerte sich an Papas minutiöses Pflegeprotokoll,<br />
welches vorsah, den Pflegetag auf 30 Stunden zu erhöhen,<br />
da meine Nahrungsdurchlaufquote im ersten Lebensjahr,<br />
wie bekannt, täglich nahezu zehn Stunden andauerte.<br />
„Da können wir doch noch was heraus schlagen“, scherzte er.<br />
Es nützte vorläufig alles nichts.<br />
Pa hatte mittlerweile reichlich Akten für mich angelegt,<br />
dokumentierte alles haargenau: Daten ... Fakten ... Thesen ...<br />
Titel ... Temperamente ..., bis er im Labyrinth des Nummernsalates<br />
zunehmend den Überblick verlor. Dies inspirierte ihn<br />
allerdings zu neuen aufregenden Taten, indem er sich statt<br />
Nummern jetzt Zahlen zuwendete.<br />
Er führte ein Anfallsprotokoll mit den Zeiten und der Dauer<br />
meiner Anfälle, einen Medikamentenplan mit Dosierungssangaben,<br />
eine Strichliste über die Absaugvorgänge und<br />
eine Liste über das nächtliche Aufstehen. Dann wandte er<br />
sich meiner Lebensstatistik zu. Laut seiner entwickelten<br />
Statistik verbrachte ich von meinen insgesamt 729 Lebenstagen<br />
480 Tage zu Hause, 155 Tage im St. Vincenz-Hospital<br />
zu Coesfeld, 75 Tage in der Vestischen Kinderklinik in der<br />
Kanalstadt Datteln, 3 Tage im Clemens-Hospital zu Münster,<br />
1Tag im St. Marien-Hospital in der verbotenen Stadt und<br />
15 Tage in der Kurzzeitpflegeeinrichtung Arche Noah im<br />
vorgenannten Ort. Während meiner häuslichen Zeit schellte<br />
ungefähr 650 Mal unsere Haustürklingel, wovon Madame<br />
Klabautz´s Finger annähernd 300 Mal am Knopf klebte.<br />
Unberücksichtigt blieben dabei Besuche der Verwandtschaft,<br />
von Freunden, Nachbarn, Bekannten oder Arbeitskollegen<br />
meiner Ma. An dieser Stelle möchte ich auch noch<br />
einige mir unvergessene Menschen namentlich erwähnen,<br />
welche im Rahmen der Verhinderungspflege meine sorgsamen<br />
Babysitter waren. Mit ihrer Hilfe und Unterstützung<br />
hatten meine Eltern einige Male die seltene Gelegenheit,<br />
gemeinsame Freizeitaktivitäten zu gestalten. Da gab es<br />
Sabine Berkenkopf, die später eine Anstellung im St. Vincenz-Hospital<br />
auf der Kinderstation, wo ich des öfteren verweilte,<br />
bekam. Dort hatte ich auch die kurz vor ihrem<br />
Examen stehende Schwesternschülerin Daniela Neuhaus<br />
kennengelernt. Daniela hatte mich sofort in ihr Herz<br />
geschlossen und meinen Eltern das spontane Angebot<br />
gemacht, mich zwischenzeitlich zu hüten. Ferner ist Eva<br />
Breuer, eine Schwesternschülerin der Vestischen Kinderklinik,<br />
zu nennen. Sie war einmal mein Babysitter, als Ma im<br />
Urlaub weilte und Pa sehr ungern darauf verzichten wollte,<br />
ein Spiel seiner geliebten Borussia in Dortmund zu sehen.<br />
Henning, ein liebenswerter Rettungsassistent, und seine<br />
Freundin Karin haben mir ebenfalls unvergessliche und<br />
zärtliche Stunden beschert. <strong>Was</strong> sollte bei der Berufung<br />
auch schon passieren? Last but not least gilt mein Dank<br />
auch der Nachbarsfamilie, unseren Vermietern Wolfgang<br />
und Irmgard Kissenkötter, sowie ihrer Tochter Judith, die<br />
immer zur Stelle waren, wenn Pa und Ma etwas wichtiges zu<br />
erledigen hatten. Der Lucatourismus boomte gnadenlos<br />
und mit ihm die Frequenz der Streicheleinheiten und Lieb-<br />
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kosungen, die meinem Leben einen Hauch von Glück verliehen.<br />
Ich, Luca Felipe, war die unumstrittene Number One in<br />
allen Lebenslagen.<br />
Handpuppenkuh und Luca-Ente unterstützen die Sauerstoffeingabe<br />
Vierzehntes Kapitel<br />
Der Rettungsauflauf<br />
Wie eine Fahrt blau wurde, aber nicht ins Blaue führte<br />
Es sollte wieder einmal einer dieser mysteriösen Nächte<br />
bevorstehen, in denen Lucababy nicht auf die unmittelbare<br />
Anwesenheit seines Daddys verzichten wollte. Also wurde<br />
kurzerhand die Wohnzimmercouch zum Bett umfunktioniert<br />
und das wichtigste Gerät, das Accuvac-Absaugemonster<br />
schnell erreichbar auf einem Beistelltisch positioniert.<br />
Pa hatte längst die Schnauze voll vom Dauerlaufen im<br />
Schweinsgalopp, heraus aus dem Wohnzimmer, hinein ins<br />
Kinderzimmer und zurück. Der Abendkrimi bestand nur aus<br />
Werbeblocks. Manchmal, wenn er Glück hatte, sah er den<br />
Mord, aber nicht dessen Aufklärung - oder umgekehrt. Das<br />
war mir jedoch völlig schnuppe. Mir ging es nämlich überhaupt<br />
nicht gut. Mein körperlicher Zustand glich einem<br />
Inferno aus quälenden Reizen, Schmerzen und Atemnot.<br />
Meine Sekreteproduktionsanlage lief auf Hochtouren, was<br />
meinen Pa unweigerlich dazu zwang, den Schlaf um Aufschub<br />
zu bitten. „Porca miseria!“, fluchte er unmissverständlich.<br />
Sehe ich da gerade ein breites Grinsen auf dem<br />
geplagten Gesicht einer Leserin, welche vor einiger Zeit ein<br />
Baby bekommen hat, welches sich mit dem Urschrei nicht<br />
begnügte und den Nachtschrei als Dauerzustand einführte.<br />
Ich weiß nicht mit welchen Flüchen einige Babies überzogen<br />
werden, wenn sich die Nerven blank legen und sich<br />
megaschwarze Augenringe bilden. Man nannte mich den<br />
Nachtschlafräuber, Pa war der Nachtwächter. Er blätterte in<br />
seinem Katalog der wüsten Flüche, ballte seine Hände zu<br />
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Fäusten, wurde übellaunig, mürbe und wirkte überhaupt<br />
recht seltsam. Das Wetter war sowieso in einem jämmerlichen<br />
Zustand. Der November hatte Einzug gehalten, und<br />
mit ihm kam die graue Tristeste. Nebelschwaden umhüllten<br />
meinen Körper, der sich anfühlte wie von Tautropfen überzogen.<br />
Batolio hatte sich am Fußende der Hängematte eingehakt<br />
und hing minder schlaff herum, als wollte er um eine<br />
Jagdpause betteln. Es verstand sich allerdings von selbst,<br />
bei derartigen Witterungsverhältnissen auf Beutefang zu<br />
verzichten. Die Insekten waren irgendwelche Tode gestorben<br />
oder hatten sich sonstwohin verpisst. Ich wünschte mir<br />
einen batolionischen Energiehaushalt.<br />
Statt dessen wurde ich zunehmend atmungs-inaktiver. Die<br />
Nacht vom sechsten auf den siebten November sollte in die<br />
Annalen eingehen, meine Sauerstoffsättigungsabfälle auf<br />
ein Rekordniveau ansteigen. Ich kam mir vor wie ein Marathonrotzer.<br />
In meiner Atmung war keinerlei Rhythmus. Alle<br />
paar Minuten ratterten die Schleimwaggons durch den Tracheltrakt<br />
und spien ihre Ladung aus, wie der Vulkan seine<br />
Lavamasse. Das Pulsoxymeter steigerte seine Alarmfunktion<br />
in Ekstase. Pa wurde langsam meschugge von den ständig<br />
sich wiederholenden Bewegungsabläufen : Hinlegen <strong>–</strong><br />
Aufstehen <strong>–</strong> an mich herantreten <strong>–</strong> Absaugen <strong>–</strong> Hinlegen ...<br />
in einer Tour und so fort. Er saugte gegen Windmühlen.<br />
Möglicherweise hatte er den Ernst der Lage nicht begriffen.<br />
Vielleicht fehlte es ihm an einer zündenden Idee, meinem<br />
Dilemma zu begegnen. Gegen acht Uhr morgens erschien<br />
mein unwiderstehlicher Freund und Physiotherapeut Michael<br />
termingerecht zur Atemtherapie. Ein Blick in Pa´s<br />
übernächtigte Augen verriet ihm sofort: Achtung, Crisis! Alle<br />
seine Bemühungen, mich sättigungsmäßig auf Vordermann<br />
zu bringen, schlugen jedoch fehl. Der Sauerstoffgehalt blieb<br />
konstant unter achtzig Prozent, ein schlechtes Omen.<br />
Michael versprach, sich unterwegs mit dem Kinderarzt telefonisch<br />
in Verbindung zu setzen, um eine sofortige Sauerstofftherapie<br />
einleiten zu lassen. Nachdem er mich verlassen<br />
hatte, rief Papa Margret an und schilderte ihr das dramatische<br />
Szenario der vergangenen Nacht. Einige Zeit später<br />
stand sie auf der Matte mit einer Verordnung für ein<br />
Sauerstoffgerät. Diese hatte sie kurzerhand beim Kinderarzt<br />
besorgt. Nach einem kurzen Check-up meines gar jämmerlichen<br />
Zustandes griff sie zum Telefon, um eine Hilfsmittelfirma<br />
ausfindig zu machen, die schnellstmöglich in der<br />
Lage wäre, einen Sauerstoffkonzentrator für Kinder zu liefern.<br />
Schließlich fand sie eine Firma, die Abhilfe schaffen<br />
konnte, jedoch nicht binnen der nächsten Stunden. Später<br />
nachmittag sollte es wohl werden, da das Gerät aus einer<br />
weiter gelegenen Stadt geliefert werden müßte. Musste<br />
jetzt der Kathastrophennotstand ausgerufen werden?<br />
Margret rief die Kinderklinik in Coesfeld an und erfragte, ob<br />
diese imstande wäre, kurzfristig ein Sauerstoffgerät bereit<br />
zustellen. Konnten sie aber leider nicht, weil alle ihre Klinikgeräte<br />
fest installiert seien. Alternativ sollte ich sofort per<br />
Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden, um<br />
einige Stunden, mit Sauerstoff versorgt, auf der Station zu<br />
überbrücken. Da waren sie, die nackten Tatsachen. Einweisungs-<br />
und Transportschein wurden vom Kinderarzt ausgestellt.<br />
Kurze Zeit später kam die Mannschaft vom Rettungsdienst.<br />
Es schellte kurz und eindringlich. Zwei Rettungsassistenten<br />
in Begleitung einer Notärztin jagten über die<br />
Schwelle hinein ins Wohnzimmer. Sie stierten auf ein Häuflein<br />
Elend und stellten Fragen an Pa, die er nicht beantworten<br />
konnte, weil ein Ruf: „Hallo, wo seid ihr?“ aus dem Hin-<br />
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terhalt ertönte. Ehe wir uns alle versahen, standen zwei weitere<br />
Sanitäter im Wohnzimmer. Es war der reinste Rettungsauflauf.<br />
Kurzerhand wurde ich nun halb sitzend, halb liegend<br />
in meinem Maxicosi in den Rettungswagen verfrachtet<br />
und an ein Sauerstoffgerät angehängt. Derweil war Papa<br />
in Margrets Auto eingestiegen, um mit ihr die Verfolgungsjagd<br />
des Rettungswagens Richtung Klinik aufzunehmen.<br />
An der ersten Ampelkreuzung hatten sie schon verloren.<br />
Der Rettungswagen hatte plötzlich das Martinshorn angestellt<br />
und brauste über Rot davon. Margret hatte kein Martinshorn<br />
und blieb folglich, die Verkehrsregeln achtend,<br />
stehen. Verdutzte Gesichter betrachteten sich und verschmolzen<br />
zu einem Fragezeichen. Offensichtlich hatten die<br />
Retter den Sauerstoff auf volle Pulle gedreht und sich damit<br />
einen eigenen Schrecken eingejagt. Als Margret und Pa die<br />
Klinik erreichten, war ich längst im Untersuchungszimmer<br />
auf der Station. Nachdem ich also erst einmal mit allem<br />
medizinisch Notwendigen versorgt war, stellte Pa die<br />
keineswegs absonderliche Frage, welche Firma denn nun<br />
aus welchem Ort, welches Sauerstoffgerät, wohin bringen<br />
würde. Schließlich läge ja die Verordnung in der Wohnung,<br />
deren Adresse der Firma als Anlieferungsort bekannt sei.<br />
Dahingegen sei die Klinik als solcher Bestimmungsort nicht<br />
bekannt. The answer was blowing in the wind! Niemand<br />
kannte eine Antwort, keiner hatte eine Ahnung. Die Firma<br />
hat ihren Sitz in Dortmund, nicht mehr und nicht weniger.<br />
Margret bremste alle Sorgen aus und versprach sich darum,<br />
unterwegs zu ihrem Büro, zu kümmern. Das Gerät werde auf<br />
jeden Fall zum Krankenhaus geliefert. Pa ging derweil ins<br />
Städtchen, um sein mittlerweile revoltierendes Hungergefühl<br />
in einer Pommesbude zu stillen. Als er gegen drei Uhr<br />
nachmittags wieder die Station betrat, berichtete ihm die<br />
Stationsärztin, dass das Gerät aus Köln geliefert werden<br />
würde. Der Firmenwagen sei soeben losgefahren und träfe,<br />
unter Berücksichtigung sowieso immer existierender Staus,<br />
so ungefähr gegen sechs Uhr abends hier auf der Station<br />
ein. Sodann wurden Ma und Margret telefonisch über den<br />
Lieferzeitpunkt unterrichtet. Ich befand mich immer noch in<br />
der Erholungsphase, hatte die Nacht doch reichlich Spuren<br />
hinterlassen. Als die Firma endlich eintraf, stand Paps allein<br />
und vor allem ratlos in meinem Zimmer herum. Die Servicemitarbeiter<br />
erklärten ihm die Funktion des Sauerstoffkompressors<br />
sachlich kompetent. Er zeigte ihnen eine verständnisvolle<br />
Miene und hatte alles begriffen. Als Ma und Margret<br />
eintrafen war die Firma weg, die Frage nach der<br />
Betriebsanleitung allerdings da. Letztere war erst gar nicht<br />
vorhanden. Das angeeignete Wissen über die Inbetriebnahme<br />
war in Pa´s hintersten Hirnregionen verschüttet.<br />
Pa hatte nunmehr seit gut 36 Stündchen keinen Schlaf<br />
bekommen und war völlig durch den Wind. Er stammelte<br />
nur: “Hey Lord, don´t ask me questions!“ Zwei Ärzte wurden<br />
nun konsultiert, um den Patienten Kompressor zu begutachten<br />
und nach Möglichkeit auch in Funktion zu bringen.<br />
Am Ende blieb jedoch pure Ratlosigkeit. „Wisse mer net,<br />
könne mer net!“ Nur gut, dass so eine Firma auch eine Notrufnummer<br />
hat Jetzt bekamen wir eine exakte Instruktion<br />
via Telefon. Das Ding war funktionstüchtig, aber, zapperlot,<br />
wahnsinnig laut. Inzwischen wurde ein Rettungswagen für<br />
den Rücktransport bestellt. Wenig später tauchten zwei<br />
gutgelaunte Schnarchhähne auf der Station auf, hatten<br />
jedoch kein Sauerstoffgerät für meinen Transport von der<br />
Station bis zum Wagen mitgebracht. Sie schlenderten<br />
gemächlichen Schrittes davon und kamen einstweilen nicht<br />
wieder. Folglich mutmaßten wir, dass sie zurück zur Wache<br />
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gefahren seien, um ein Gerät zu besorgen. Der Humor war<br />
wieder eingekehrt; die Rettung wurde zum Spaßfaktor.<br />
Nach gut einer halben Stunden war es dann endlich soweit.<br />
Futti fährt nach Hause. Ma hatte sich schon auf den Weg<br />
gemacht, Pa und Margret sollten den Transport mit begleiten.<br />
Nicht zu vergessen war mein Kompressor, der mit aufgeladen<br />
wurde. Wir waren vielleicht knappe zehn Minuten<br />
auf der Spur, als der Wagen in eine etwas schärfere Kurve<br />
gelenkt wurde. Mein sichtlich mitgenommener Pa, der sich<br />
kurzweilig mit dem Fahrer unterhalten hatte, wurde abrupt<br />
von einem knallend-fallendem Geräusch aus seinen<br />
Gedanken gerissen. „<strong>Was</strong> ist passiert?“, rief der Fahrer seinem<br />
Kollegen zu. Der erwiderte barsch: „Wat fährst du auch<br />
so schnell um die Kurve!“ „Ick glob meen Hamster pfeift mer<br />
Zoten“, winselte Batolio, der sich krampfhaft am Kompressor<br />
festgehalten hatte und jetzt am Boden lag. „<strong>Was</strong> ist passiert?“,<br />
wiederholte der Fahrer seine Frage etwas münsterländisch<br />
rustikaler. „Das Sauerstoffgerät ist umgefallen!<br />
<strong>Was</strong> fährst du auch so schnell um die Kurve.“ Der Fahrer<br />
brachte den Wagen zum Stehen. Der unbefestigte Kompressor<br />
war tatsächlich umgestürzt. Dabei war ein Plastikverschluss<br />
am Befeuchter abgebrochen. Nach einem<br />
kurzen Wortgefecht unter den Beteiligten musste zwangsläufig<br />
der Entschluss gefasst werden, zurück in die Klinik zu<br />
fahren. Alle Hoffnungen ruhten darauf, ein entsprechendes<br />
Ersatzteil im Krankenhaus zu finden. Diese Hoffnung teilten<br />
allerdings nur die sichtlich genervten Rettungsassistenten.<br />
Während diese nun auf der Suche nach einem Ersatzteil<br />
durchs Haus streiften, versuchte Paps Ma zu erreichen.<br />
„Besetzt, zum Kuckuck.“ Die Aufregungen der letzten Stunden<br />
hatten Pa derart in Mitleidenschaft gezogen, dass er<br />
sich gar in der Klinik verirrte und die Tür zum Rettungspark-<br />
platz nicht fand. Nach einem weiteren Fehlversuch Ma zu<br />
erreichen, dackelte er um das gesamte Klinikgebäude herum.<br />
Am Rettungswagenparkplatz angekommen, erreichte<br />
ihn nur die läppische Meldung, dass ein entsprechendes<br />
Teil nicht aufzufinden war. Folglich wurde erneut die Notrufnummer<br />
der Lieferfirma kontaktiert. Nur gut, dass es einen<br />
sehr, sehr verständnisvollen Mitarbeiter gab. Nur gut, dass<br />
man nicht sehen konnte, wie dieser sich an den Kopf griff,<br />
um sich die Haare auszureißen und dabei vom Stuhl stürzte.<br />
Unter dem Tisch liegend murmelte er nur noch folgende<br />
Worte: „Ja, ja es kommt einer raus. Aber von Lindlar im<br />
Oberbergischen. Das dauert sicherlich gute zwei Stunden.“<br />
Ein Servicetechniker machte sich also auf den Weg zu uns<br />
nach Hause. Ob ich meine Schlafstätte jemals erreichen<br />
werde? Überhaupt! <strong>Was</strong> macht eigentlich Muttern? Spielten<br />
sich in ihrem Kopf Szenerien über einen Unfall oder über<br />
irgendwelche Irrfahrten ab? Noch nie war der Blick aus dem<br />
Fenster von so stark erwartungsvoller Gespanntheit. Pa<br />
schickte Batolio auf Nachtflugstreife, um Ma die Botschaft<br />
zu überbringen, dass wir sicherlich noch kommen würden.<br />
Es wäre nur eine Frage des Zeitpunktes. Die Assistenten<br />
wirkten plötzlich sehr nachdenklich, hatte sich doch ein<br />
neues, nicht unwesentlich schwieriges Problem eingeschlichen.<br />
Es war doch nicht denkbar, zwei Stunden mit mir zu<br />
überbrücken. Im Rettungswagen vor der Haustür stehen.<br />
Plötzlich kommt ein Notruf und der Einsatz kann nicht<br />
gefahren werden, weil Lucabärchen auf der Pritsche<br />
schnorchelt. Doch wo Probleme auftauchen, gibt es auch<br />
Lösungen. So kam ihnen die glänzende Idee, die Kollegen in<br />
meiner Heimatstadt um Mithilfe zu bitten. Die hiesige Feuerwehr<br />
sollte also bei meiner Ankunft eine Sauerstoffflasche<br />
bereithalten, so lange, bis der Servicetechniker den<br />
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Schaden behoben hat. Heiliges Blechle! War das ein großer<br />
Stein, der vom Herzen meiner Mutter zu Boden plumpste, als<br />
ich endlich daheim war. Batolio, diese Flatternase, hatte ihr<br />
keine Nachricht von meiner abenteuerlichen Fahrt übermittelt.<br />
Der war, wer weiß wohin, in den Abend gesegelt. Als die<br />
Feuerwehr kam, herrschte Explosionsgefahr in der Bude.<br />
Die Jungs bangten ein wenig um die Fähigkeit des Servicetechnikers<br />
aus Lindlar, sollte dieser doch die Bombe fachgerecht<br />
verschließen. Die Helfer in der Not verließen das Haus,<br />
nicht ohne die Bitte, die Sauerstofflasche noch heute zur<br />
Wache zurück zubringen. Wir warteten ungeduldig auf das<br />
Ersatzteil. Unterdessen war eine von Margret engagierte<br />
Nachtwachenschwester eingetroffen. Die Familie über uns,<br />
unsere Vermieter, hatten sich derweil auch versammelt,<br />
blieben sie doch von dem Spektakel nicht unbeeindruckt.<br />
Das gab unserem Vermieter, einem gelernten Elektriker,<br />
noch schnell die Gelegenheit, einen Defekt im Badezimmer<br />
zu reparieren. Hurra! Der Servicetechniker war da! Er hatte<br />
sogar das richtige Ersatzteil mitgebracht, dafür jedoch die<br />
falsche Laune. Missmutig und skeptisch gegenüber den,<br />
seiner Ahnung nach, herrschenden Chaosprinzipien, machte<br />
er sich ans Werk. Mit der vollbrachten guten Tat stieg auch<br />
sein Stimmungsbarometer wieder auf ein humorvolles<br />
Level. Gegen elf Uhr nachts war der ganze Spuk endlich vorbei.<br />
Die Feuerwehr freute sich darüber, eine intakte Sauerstoffbombe<br />
zurückerhalten zu haben. Margret freute sich<br />
auf ihre Familie, Ma auf ihr Bett und Pa auf eine Flasche Bier.<br />
Ich wurde nacht gewacht, Spätheimkehrer Batolio gab als<br />
Entschuldigung an, er habe sich an Papas Knotenpunkt des<br />
Lebens aus Kapitel 4 verirrt und wäre orientierungslos herumgesegelt.<br />
„Scheiß Echolot!“<br />
Fünfzehntes Kapitel<br />
Die Überraschungseier<br />
Wie man sich über Nachwuchs wunderte<br />
An jenem kuriosem Novembertag wurde die Diagnose<br />
Pneunomie gestellt. Es war nicht meine erste und wird nicht<br />
meine letzte Lungenentzündung sein. Ich wurde von Sauerstoff<br />
abhängig. Entweder legte man mir eine Maske direkt<br />
vor den Mund oder man quetschte mir eine Sauerstoffbrille<br />
Luca wird ein wenig selbstständig<br />
in die lädierten Nasenlöcher. Der Flow wurde jeweils abhängig<br />
von meine Oxymetrie zwischen 0,5 l und 2,0 l reguliert.<br />
Niemand schien ausschließen zu wollen, dass ich möglicherweise<br />
eines Tages auch noch künstlich beatmet werden<br />
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könnte. Ich ignorierte derartige Spekulationen und besann<br />
mich auf meine kämpferischen Tugenden und Kraftreserven.<br />
Mein Konzentrator donnerte nahezu lautlos wie ein Presslufthammer,<br />
wenn er die Raumluft in Sauerstoff umwandelte.<br />
Pa sperrte das Gerät kurzerhand weg <strong>–</strong> hinein in die Abstellkammer.<br />
Ein 15 Meter langer Schlauch ragte in mein Zimmer<br />
hinein, wo dieser mit dem Druckminderer verbunden wurde.<br />
Tag und Nacht brummte das Monstrum und wurde nur ganz<br />
selten abgestellt. Da freuten sich auch die Energieversorger,<br />
als sie meinen Eltern eine tüchtig hohe Stromjahresabrechnung<br />
präsentierten, die im Vergleich zum Vorjahr um schlappe<br />
fünfzig Prozent gestiegen war. „Kruzifix“, jellerte Pa, marschierte<br />
bei den Stadtwerken auf, die das Problem zwar<br />
erkannten, jedoch keine geeignete Lösung bereit hielten.<br />
Schließlich hatten wir ja ein Nachtstromabkommen. Das sei<br />
eh der günstigste Tarif. Batolio amüsierte sich köstlich und<br />
wandelte den Begriff in Nachtabkommen um. Das habe er ja<br />
auch mit den Mücken und sonstigem Gefleusch. Pa reichte<br />
die Stromrechnung bei der Pflegekasse ein, die sich anständig<br />
verhielt und einen Teil der Summe überwies. Meine verdammte<br />
Lungenentzündung raubte mir jeglichen Nerv und<br />
Schlaf. Batolio flachste: „Na, Luca, kannst du auch nicht schlafen!“<br />
Ich erwiderte mit einem andauernden Singultus,<br />
schluck ab <strong>–</strong> schluck auf. Einmal abgesehen von meiner<br />
komatösen Zeit in den ersten Lebenswochen, hatte ich in den<br />
ersten eineinhalb Jahre kaum ein Auge zu bekommen.<br />
Andererseits bekam ich sie auch nie richtig auf. Es sei denn,<br />
es war gerade Panikzeit. Wenn mich je einer hat gähnen<br />
sehen, muss er dies wohl geträumt haben. Ich war zumeist in<br />
einer Art Dämmerzustand. Eine REM-Schlafphase werde ich<br />
wohl nie erreichen. Rapid eye movement <strong>–</strong> schnelle Augenbewegungen<br />
unter geschlossenen Lidern <strong>–</strong> niemals. Also<br />
auch keine Träume, die unter diesem paradoxen Schlaf<br />
geschlummert werden. Es war eh alles nur ein böser Alptraum.<br />
Batolio säuselte mir in Schlechtwetternächten, wenn<br />
er nicht auf Jagd fliegen konnte, krude Geschichten in die<br />
Ohrmuscheln. Es gäbe da Artgenossen in Mittel- und Südamerika,<br />
die mit ihren Fangzähnen die Haut von Pferden,<br />
Kühen, gelegentlich von Menschen durchbohren und<br />
genüßlich das auslaufende Blut schlürfen. Fliegende Kobolde!<br />
Flughundsgemeine Vampire! Ich war mir ziemlich sicher,<br />
dass er eher von Ärzten berichtete, die mir diverse Kanülen<br />
in die Venen jagten und vergnügt „a zapft´s isses“ riefen,<br />
dabei ratlos drein schauten, weil nix kam. Irgendwann einmal<br />
stach mich ein erfahrener Pädiater in die Fußarterie und<br />
konnte sein Unglück nicht fassen: „Alle Kinder haben hier<br />
eine Arterie. Nur Luca nicht“, rief er quer durch den Untersuchungsraum.<br />
Venöses Blut hatte ich sowieso nicht anzubieten.<br />
Das war fatal. Eines Tages würde ich keine Infusionen<br />
und Transfusionen erhalten können, weil meine desaströsen<br />
Venenverhältnisse nicht geeignet waren, einen Zugang zu<br />
legen. Ich werde nie in eine Blutspendedatei aufgenommen.<br />
Aber bluten, das werde ich.<br />
Meine Sauerstoff abhängige Phase dauerte ungefähr sieben<br />
lange Monate. Nur an wenigen Tagen schaffte ich es<br />
ohne Zufuhr frei zu atmen. In jener Zeit geschahen keine<br />
weltbewegenden Dinge, von denen ich euch nicht schon<br />
genügend berichtet hatte. Zum Beispiel mein Auftritt im<br />
Lokalfernsehen. Insgesamt war ich die längste Dauer meines<br />
bescheidenen Dasein ununterbrochen daheim, auch<br />
wenn es immer wieder Anlässe gegeben hatte, mich stationär<br />
aufnehmen zu lassen. Wir konnten uns aber sowieso<br />
immer auf Margrets Scharfsinnigkeit und Krankenbeobachtungsgabe<br />
verlassen.<br />
121
122<br />
An meinem ersten Weihnachtsfest machte ich Bekanntschaft<br />
mit dem Jesusbaby, welches auf Stroh gebettet in<br />
unserer schönen Krippe lag, derweil ich es mir auf meinem<br />
Rundkissen bequem gemacht hatte, um die Szenerie in<br />
Bethlehem zu observieren. Ob Jesus wohl temperiert war?<br />
Welche Lebenssäfte saugte er aus den Brüsten Marias?<br />
Honig, Kakao, Jordanwasser? Bald bekommt er Besuch von<br />
den Heiligen drei Königen, welche ihm reichlich Geschenke<br />
mitbringen, die so gar nicht als Spielsachen geeignet sind.<br />
Ich bekam nach wie vor Besuche von meinen drei Quälgeistern<br />
Margret, Pia und Michael, die mich mit Massagen, Bohnenbädern<br />
und Atemtherapien beglückten. Als Geschenk<br />
erhielt ich ein wolliges, weißes Stofftierschäfchen mit einem<br />
Glöckchen um den Hals. Ansonsten erlitt ich weiterhin meine<br />
schweren cerebralen Anfälle, blitzte, nickte und grüßte<br />
im arabischen Stil, behielt meinen Status Quo als Rotzlöffel<br />
der Nation, war mal erhitzt wie der Backofen, mal kalt wie<br />
Eis. Jesus hatte gerade Josef angestrullert. Die Hirten kringelten<br />
sich vor Lachen. Da hatten die Schafe ihre Chance<br />
gewittert und waren davongelaufen. Jetzt dienten sie mir als<br />
Einschlafhilfen. Da Schäfchenzählen jedoch stupide und<br />
langweilig war, subtrahierte ich sie. Am Ende blieb nur noch<br />
eines übrig, das mit dem Glöckchen. Mit der Folge, dass ich<br />
weiterhin nicht schlafen konnte.<br />
Mittlerweile befanden wir uns im Frühling des Jahres 2001.<br />
Eines milden Maitages <strong>–</strong> ich lag gerade auf unserer Terrasse<br />
unter meinem Kirschbaum <strong>–</strong> rauschte Batolio vorbei, im<br />
Schlepptau eine Bagage von fünf jungen, wilden Fledermäusen<br />
mit den Namen Poldi, Pinkus, Sunny, Trixiane und<br />
Desiree. „Hi there, Lucababe! Ich hatte im Spätsommer doch<br />
noch reichlich Damenbesuch in meiner Baumhöhle. Ich war<br />
während der Balzzeit dermaßen im Minnegesangsfieber, dass<br />
sich die Baumkronen bogen und die holde Weiblichkeit scharenweise<br />
in mein Harem kam. Wir vergnügten und nächtelang,<br />
bis das es meinen Baum aus der Wurzelverankerung<br />
riss“. An jenem siebten Mai kam auch meine Mami zurück<br />
aus ihrem einwöchigen Urlaub, den sie zusammen mit ihrer<br />
Freundin Maria auf der ägäischen Insel Samos verbrachte.<br />
Pa und ich waren sozusagen Strohwitwer & Söhnchen. Wir<br />
verlebten eine aufregende Woche. <strong>Was</strong> aber hatte Ma<br />
erlebt, die sich bei zwischenzeitlichen Telefonanrufen recht<br />
seltsam in Schweigen gehüllt hatte? Sie hatte, wie seinerzeit<br />
Paps, Maria in eine Apotheke geschickt. Maria hatte vor<br />
der Apothekerin von Alpha bis Omega gestikuliert, bis diese<br />
das uralt griechische Wort „Baby“ in die sonnige Inselwelt<br />
hinaus posaunierte. Maria erwartete also ein Baby.<br />
„Nee, nee“, stammelte Ma. „Ich bin diejenige, welche<br />
schwanger geht. Zweifelsohne!“ Batolio fletsche seine spitzen<br />
Beißerchen triumphierend und krakelte: „Dann aber<br />
zügig und flott in die Wochenstube. Meine geflügelten<br />
Damen treffen sich immer im Dachstuhl einer großen Kirche.<br />
Da finden sich jährlich so an die 500 Weibchen ein und bilden<br />
eine fröhliche Kolonie“ . „Hör mir auf mit Kolonie!“, flehte ich<br />
ihn an, „das regt doch nur meine leidigen Pseudomonas an,<br />
mein Lunge zu kolonialisieren. Die ist schließlich kein<br />
Dachstuhl, sondern mein Atemzentrum.“ Pa schaute Ma ein<br />
wenig hilflos an: „Hat sich da etwa jemand eingeschlichen,<br />
ungewollt und ungefragt?“ „Ja“, sagte Ma. „obwohl mir die<br />
Fruchtbarkeitsgöttin versichert hatte, dass es keinerlei<br />
Bedenken gäbe. Es ist wohl trotzdem geschehen. „Da brat<br />
mir doch endlich einer diesen verdammten Storch, der<br />
bekanntlich damals nicht gekommen war, um gesunde Kinder<br />
abzuliefern. Jetzt legt er mir einen Quäkhannes an die<br />
Seite“, kommentierte ich. „Ich werde großer Bruder sein,<br />
123
124<br />
beim Manitu.“ Da flüsterte Pa mir ins Ohr: „Man kann Frauen<br />
nicht allein auf Reisen schicken. Die kommen garantiert mit<br />
einem Überraschungsei wieder.“ Batolio hatte derweil seine<br />
Jungs aufgefordert, die große Flatter zu machen.<br />
„Bei der Sachlage besteht heute keine Aussicht mehr auf<br />
Mehlwürmer“, rief er beim Abflug.<br />
Sechzehntes Kapitel<br />
Der verrückte Kliniksommer<br />
Wie man in der Radiologie eine tolle Ausstrahlung bekam<br />
Margret freute sich auf den kommenden Sommer wie ein<br />
Kleinkind auf sein Himbeereis. „Ich möchte mit dir, lieber<br />
Luca, im Sommer so gerne in der Hängematte liegen.“ „Da<br />
wird sich aber die Krankenkasse herzlichst bedanken, wenn<br />
sie in der Pflegedokumentation entdeckt, dass eine halbe<br />
Stunde „Abhängen“ als therapeutische Nummer deklariert<br />
wird. Basale Stimulation und Sonnenbrandpflege! Hi-hi-hi“,<br />
freute sich Batolio köstlich über den Scherz des Tages. Ich<br />
mochte Margrets frommen Wünschen ungern widersprechen,<br />
war ich doch ein ausgesprochener Hängemattenfetischist.<br />
Doch mein Repertoire an Verhinderungsmaßnahmen<br />
ist meiner kundigen Leserschaft sicherlich keineswegs<br />
entgangen. „Ich freue mich ja so unglaublich auf die<br />
Hängematte“, strahlte Madame Klabautz den puren Optimismus<br />
aus. Batolio glänzte weiter mit seinem brillanten<br />
Sarkasmus: „Stell dir vor, der Bundeskanzler mit seiner ruhigen<br />
Hand stiefelt mit Fortschrittsgedanken durch die Stube<br />
und findet Lucabärchen in der sozialen Hängematte vor. Luca<br />
grient ihn verschmitzt an, mit dem Charme seines unverdorbenen<br />
Gemüts, und sagt: ‘Ätsch Cheffe! Für einen Aufschwung<br />
bin ich aber in der Zukunft nicht zu gebrauchen!’“.<br />
Lassen wir den Kanzler seine Krisen ins Kanzleramt tragen<br />
und wenden uns statt dessen doch lieber meinen Problemen<br />
zu. Am Weltlachtag, dem sechsten Mai 2001, kam der<br />
Aufschwung in Form von gnadenlosen Fieberzacken bis<br />
hinauf auf 40,5° Celsius. Meine Augen waren tief geschwol-<br />
125
126<br />
len, nachdem die Nacht einmal mehr aus den viel zitierten<br />
Sekretattacken und krassen Sättigungsabfällen bestand.<br />
Am elften Mai wiederholte sich die Tortur, begleitet von<br />
ständigen epileptischen Anfällen. Einen Tag zuvor war ich ja<br />
noch zur EEG-Kontrolle in der Verstischen Kinderklinik zu<br />
Datteln. Vorsichtshalber hatten wir dort auch noch um einen<br />
schnellen Termin in der Röntgenabteilung gebeten. Meine<br />
teuren Freunde, die Pseudomonas Aeruginosa, hatten sich in<br />
letzter Zeit verdächtig still benommen, schienen die Zeit zu<br />
nutzen, meine Lunge zu überwuchern. Die Thorax-Aufnahme<br />
gab wenig Aufschluss. Trotz alledem wurde eine neuerliche<br />
Antibiotikumtherapie empfohlen. Ab sofort bekam ich<br />
eine pure Dosis Ciprobay, ein Medikament, welches der<br />
Welt in Zusammenhang mit den Terrorattacken auf Amerika<br />
und den Anthrax-Briefchen bekannt wurde. Normalerweise<br />
ist die Gabe von Chinolonen für Kinder ungeeignet, da man<br />
erst einmal den Abschluss des Knochenwachstums abwarten<br />
sollte. Bei mir gab es allerdings nicht viel abzuwarten,<br />
von Wachstum ganz zu schweigen. Konnte ich mich<br />
während der Therapie in den folgenden vierzehn Tagen<br />
nicht recht beklagen, folgte plötzlich Schlag auf Fall eine<br />
Pulsraserei, Fieber und der leidige Rotzmarathon, begleitet<br />
von Übermüdungsanfällen meiner Eltern. Batolio machte<br />
den Vorschlag, sich dringend Nachtwachen verordnen zu<br />
lassen. Schließlich müßte man seine Kräfte bündeln, sowie<br />
den Energiehaushalt regulieren. Davon kannte er ja was. Dr.<br />
Hermwille, mein Kinderarzt, kam auf Visite und verordnete<br />
Nachtwachen. Doch leider, leider, leider... waren die gesunden<br />
Mitarbeiter der Krankenkasse nicht wirklich davon zu<br />
überzeugen, dass die teuren Nachtwachen einen Sinn<br />
machen würden. Man sprach zwar von unbürokratischen<br />
Hilfen und sprudelte vor genialer Ideen fast über, doch aku-<br />
te Hilfen wurden vorläufig nicht gewährt. Eine Lösung hieß<br />
zwar: „Bewilligung der Nachtwachen nach Leistungsgruppen.<br />
Eine Stunde Absaugen wird mit 21,40 DM<br />
veranschlagt, ein weiterer Teil des Stundenkontingents wird<br />
von der Pflegekasse gezahlt und der Rest soll aus Mitteln<br />
der Bundessozialhilfe (Hilfe zur Pflege) beglichen werden“.<br />
Pa staunte Bauklötze, die sich vor ihm auftürmten und nach<br />
einem radikalen Umsturz verlangten. Man hatte also eine<br />
Lösung gefunden: Die passte aber garantiert nicht zum Problem.<br />
Hintergrund der Geschichte war ein fehlender Versorgungsvertrag<br />
zwischen der Kasse und Klabautz. Somit<br />
fehlte die Grundlage für die Finanzierung. Ich war viel zu<br />
sehr geschafft, um mich da unnachgiebig einzumischen.<br />
Meine Eltern waren ebenso geschafft, um mich wieder aufzufrischen.<br />
Wenn man eine Luca`sche Krankengeschichte<br />
schreibt, muss man sich wohl oder übel damit abfinden, den<br />
beginnenden Sommer mit einem Krankenhausaufenthalt<br />
einzuleiten. Schwerkrank, wie ich nun einmal war, gehörte<br />
ich in geschulte Hände, von denen ich allerdings leidvoll<br />
erfahren musste, dass sie gerne pieksen und manchmal vor<br />
ungelösten Rätseln stehen. Luca <strong>–</strong> ein Gordischer Knoten!<br />
Der Juni begann gnadenlos, und ich blieb nicht virenlos.<br />
Denn zu allem Überfluss fing ich mir noch den berühmtberüchtigten<br />
Rotavirus ein, ein saublöder Erreger der infektiösen<br />
Gastroenteritis. Das war keine besondere Härte,<br />
durfte ich doch ein wenig länger bleiben. Nunmehr konnte<br />
ich einen dieser Verlängerungstage für ein Foto-Shooting<br />
nutzen, bei dem der Bunte Kreis seine neue T-Shirt-Kollektion<br />
vorstellte. Die Damen des Inner-Wheel Clubs Coesfeld,<br />
Ehefrauen der Rotarier, planen in jedem Jahr diverse Aktionen,<br />
deren Erlöse einem sozialen Zweck zur Verfügung<br />
gestellt werden. Die Präsidentin des Clubs hatte von ihrem<br />
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128<br />
Textilunternehmen peppige Shirts mit dem Logo des Bunten<br />
Kreises herstellen lassen, die Interessierten zum Verkauf<br />
angeboten wurden. Diese Verkaufserlöse flossen wiederum<br />
in die Arbeit der Familienbegleiterinnen, um Kindern wie mir<br />
helfen zu können. Ich fand die Fotoaktion gelungen, konnte<br />
ich doch endlich einmal wieder mein Krankenzimmer verlassen.<br />
Das hatte ich ja sowieso vor. Frühestens dann, wenn<br />
ich die Rotaviren jemand anderem überlassen konnte. Wer<br />
sie letztendlich bekommen hat, war mir schnuppe. Ich wurde<br />
am fünften Juli nach Hause gefahren. Dort wartete Margret,<br />
die in der Zwischenzeit von der Krankenkasse aufgefordert<br />
worden war, ein 24-Stundenprotokoll über meine<br />
Pflege zu schreiben. Batolio hatte ihr sofort vorgeschlagen,<br />
doch vorübergehend bei uns einzuziehen. Für einen Pflegeroman<br />
benötigt man schließlich einen ordentlichen<br />
Schreibtisch mit Personalcomputer und allerlei Schnickschnack.<br />
Nachts wiederum würde sie sich nahtlos einreihen<br />
in die fröhliche Gemeinschaft der drei Nichtschläfer Batolio,<br />
Luca und Papa. Apropos Papa! Der alte Schlawiner hatte die<br />
Gunst der Stunde meines Klinikaufenthaltes schamlos ausgenutzt,<br />
schwang sich in einen hypermodernen Reisebus,<br />
der nach 18-stündiger Fahrt den Balaton im feurigen<br />
Ungarn erreichte. Ich dagegen folgte dem Irrglauben, er sei<br />
in Sachen therapeutischer Aufklärung unterwegs, um beispielsweise<br />
einmal beim Peto Andras Intezet in Budapest<br />
Infos über die Petotherapie für motorisch beeinträchtigte<br />
Kinder einzuholen. Hatte er aber strikt unterlassen und sich<br />
statt dessen die verschatteten Augen peelen lassen.<br />
Nach diesem Kurzurlaub schaute er wieder etwas zuversichtlicher<br />
aus der Wäsche, rief sodann den Abteilungsleiter<br />
der Krankenkasse an, vereinbarte einen persönlichen<br />
Gesprächstermin in meiner Anwesenheit, und verspeiste<br />
reichlich Gulasch. Beim örtlichen Sozialamt hat er auch vorgesprochen,<br />
sogar einen Antrag gestellt. Dabei prognostizierte<br />
er viele Wochen langen Wartens, um anschließend<br />
einen Ablehnungsbescheid in den Händen zu halten.<br />
Schließlich müsse man zuvor sein Vermögen bis zu einem<br />
gesetzlich festgelegten Schonbetrag verbraten. So geschah<br />
es. Ablehnungsbescheid! Eine Handvoll Dollars zu viel.<br />
Rechtsbehelfsbelehrung - süßes Wort - und einen schönen<br />
Gruß an den Pflegefall. Der Pflegefall fightete seine Kämpfe<br />
weiter, war nachts mit Batolio und den Alarmsignalen des<br />
Pulsoxymeters beschäftigt. Ich fand Gefallen daran das<br />
Überwachungsgerät nach Lust und Laune zu manipulieren.<br />
Wenn man nicht schreien und weinen kann, aber trotzdem<br />
will, dass einer kommt und nach dem Rechten sieht,<br />
bespricht man sich konspirativ mit seinem Blutkreislauf.<br />
„Nun lass mal langsam gehen, transportiere nicht soviel<br />
Sauerstoff.“ Schon rutscht der Sättigungswert unter den<br />
eingestellten Level von achtzig Prozent. Alarm, Alarm! Meine<br />
gepeinigten Erzeuger gerieten allmählich an ganz andere<br />
Grenzen, die da hießen: physische Belastbarkeit = „0“,<br />
psychische Belastbarkeit = „0“ und geistige Frische = „Null<br />
komma nix“. Das Aushaltbarkeitsdatum war abgelaufen.<br />
Der Gedanke an einen gemeinsamen Urlaub zur absoluten<br />
Regeneration von Körper, Geist und Seele wurde laut und<br />
lauter, ja bald unüberhörbar. Gleichzeitig sollte auch ich in<br />
den Genuss kommen, gute sechzehn Tage in einer neuen,<br />
fremden Umgebung zu verbringen. Kurzzeitpflege lautete<br />
das Reizwort. Pa hatte eine Telefonaktion gestartet und bald<br />
darauf die Kindervilla Dorothee in Kreuztal im Kreis Siegen<br />
ausfindig gemacht. Dort sollte ich in der Zeit vom 12. bis<br />
zum 28. September im Einzelzimmer bei Vollpension in einer<br />
5Sterne-Villa einen Eltern-freien Kurzurlaub verbringen.<br />
129
130<br />
Echt pfiffige Idee. Urlaub im Siegerland. Da soll es doch<br />
Hunde und Katzen regnen, und die Leute dort sollen das „R“<br />
derart rollen, als kämen ihre Kehlköpfe aus einer Gusseisenfabrik.<br />
Egal! Die Ferien wurden gebucht. Es wurde<br />
nicht geflucht. Die beiden sollten ruhig in die Sonne nach<br />
Rhodos fliegen, während ich die A 45 südwärts kutschiert<br />
werden würde.<br />
Zwei Tage nach der Buchung krümmte ich mich vor Schmerzen.<br />
An einem saublöden Freitag nachmittag trat plötzlich<br />
rot gefärbte Flüssigkeit aus meiner Bauchdecke, dort wo der<br />
pig-Schlauch meiner Wundstelle entspringt. Mich plagte<br />
jedoch etwas anderes, welches ich nicht zu identifizieren,<br />
geschweige denn ein Wehklagen von mir zu geben vermochte.<br />
Die Besorgnis erregenden Mienen meiner Eltern<br />
ließen aber nur erahnen, dass sie sich alsbald zum aktiven<br />
Handeln genötigt sahen. Ich hatte mal wieder meine krasse<br />
„Berühr-mich-bloß-nicht-Phase“, die mich bei Missachtung<br />
unwillkürlich zwang, meine Beine anzuziehen. Die Beiden<br />
avancierten auf einmal zu Schmerzdiagnostikern, was<br />
bei einer elterlichen Beobachtungsgabe nicht verwunderlich<br />
war. Schließlich kennen Eltern ihre Kinder so gut, wie<br />
keine anderen. Habe ich recht? Zur Verifizierung ihrer Wahrnehmungen<br />
streichelte Pa mir über das rechte Knie, wonach<br />
ich prompt die Beine anzog, wie es andere tun, wenn Pamperstime<br />
ist. Das brachte den Stein ins Rollen. Natürlich<br />
nicht den Nierenstein. Nein! Sie entschieden auf Bauchschmerzen.<br />
Abnormes abdominales Befinden. Pa checkte<br />
schnell via Telefon die Aufnahmekapazität im Hospital ab<br />
und interviewte vorab meinen damaligen Operateur, den<br />
Gastrologen, der mir die PEG verpasste. Der riet, aus dem<br />
Bauch heraus, zur ambulanten Vorstellung. Flugs saß ich<br />
Luca-Bärchen mit meinem Arsch im Römerking im Fond<br />
unserer rappeligen Kiste, in Erwartung neuerlicher medizinischer<br />
Ungereimtheiten, die mein Leben so sehr prägten.<br />
Der diensthabende Assistenzarzt hatte etwaige Instruktionen,<br />
auch zeichnerische, vom Gastrologen erhalten und<br />
tastete meine Bauchdecke ein wenig unsensibel ab. Er<br />
empfand meinen Bauch als weich, elastisch, unempfindlich,<br />
ja letztlich ohne jeden Befund. Mir war ein wenig zum<br />
Kötzerln zumute, obwohl ich, abdominal gesprochen, ganz<br />
schön erleichtert war, einem möglichen Eingriff aus dem<br />
Weg gegangen zu sein. Ganz ehrlich gesagt, wunderte es<br />
mich nicht. Denn Bauchschmerzen hatte ich keine. Aber<br />
was sollte ich auch schon sagen? Ich schwieg und zog<br />
abrupt meine unteren Extremitäten an. Verdammte<br />
Schmerzen, diese. Der hinzugezogene Chefarzt Dr. Egbert<br />
Lang kam dann auf die blendende Idee, eine erneute Thorax-Röntgenaufnahme<br />
anzuordnen. Vom abdominalen<br />
Check-up zur pulmonalen Diagnostizierung. Hauptsache,<br />
die hängen mich nicht wieder in so ein komisches Korsett,<br />
wie anno dazumal in der Dattelner Kinderklinik. Lieber eine<br />
eiskalte Platte unter dem Kreuz als wie ein abgehangenes<br />
Schwein in luftigen Höhen zu schweben!<br />
Als läge der Schatten auf der Seele! Mein rechter Lungenflügel<br />
war mal wieder atmungsaktiv wie eine abgenutzte<br />
Slipeinlage. Die Lungenaufnahme ergab die Diagnose:<br />
Pneunomie, sowie den Verdacht auf eine Luftröhrendeformation.<br />
„Da behalten wir den Luca doch gleich hier, gelle!“<br />
Es ist ja erst Ende Juli. Der Sommer ist noch lang. Margret<br />
brauchte ihren Traum von der gemeinsamen Hängemattenaktion<br />
noch nicht aufgeben. Gott sei dank wurde das Sommerloch<br />
durch eine super gute Nachricht gefüllt, eine sogenannte<br />
Hypernews. Die Vertreter der Krankenkasse waren<br />
offensichtlich sonnig gut gelaunt, hatten offene Ohren für<br />
131
132<br />
komplexe Pflegesituationen und boten erfreuliche Lösungen<br />
an: Höherstufung in Pflegestufe II mit 1800 DM Sachleistung<br />
von der Pflegekasse, Restfinanzierung der Behandlungspflege<br />
durch die Krankenkasse; Bewilligung von<br />
Nachtwachen im akuten Bedarfsfall; Beitragszahlung zur<br />
gesetzlichen Rentenversicherung für den Pflegefall Papa<br />
und einen Einzelversorgungsvertrag zwischen Klabautz und<br />
der Kasse. Das ausführliche 24-stündige Pflegeprotokoll<br />
hatte tief beeindruckende Spuren hinterlassen. Alle freuten<br />
sich jetzt auf eine zuverlässige Zusammenarbeit, in dessen<br />
Mittelpunkt meine souveräne Pflege stand. Jetzt war sie mir<br />
nicht mehr zu nehmen, meine Madame Klabautz, ihre Krankenbeobachtung,<br />
das Schmerzprotokoll und das Teilen der<br />
Hängematte. Am 30 Juli, bei 30° Grad im Schatten, lag ich<br />
einmal wieder beim Radiologen auf Platte. Kontrolle! Thorax-Aufnahme,<br />
die ... na, die wievielte denn schon? Wer<br />
noch mitzählt, wird gequält. „... Ik glob`, mein Hamster pfeift<br />
mer Zoten...!“ Statt einer zufriedenstellenden Prognose nach<br />
erfolgreicher antibiotischer Behandlung und einem winkewinke-bye-bye-Abschiedszeremoniell<br />
gab es weit über den<br />
Horizont langgezogene Gesichter. Zunehmende Verschattung<br />
und weitere Verschlechterung der rechten pulmonalen<br />
Belüftung mit Atelektasenbildung des rechten Unterlappens<br />
und Überblähung der linken Lungenareale, welche<br />
sich darüber hinaus auch noch in die rechte Brusthälfte verschoben<br />
hatten. Es war, als hätte ich es schon immer gewusst.<br />
Der liebe Gott hatte sich wohl im Aktienspekulationsgeschäft<br />
verrannt und als Konsequenz sämtliche mich bewachenden<br />
Schutzengel abgezogen oder entlassen. Statt dessen<br />
hockte jetzt über meinem Kopfende der<br />
Substitute-Global-Player Hiob und quasselt unaufhörlich<br />
über Fakten aus seinem „Frohe-Botschaft-weiß-ich-nichts-<br />
von-Abrisskalender“. Lungenbläschen <strong>–</strong> I´m killing you<br />
softly. Ich hatte wirklich nichts gegen ein hitchcockche Dramaturgie<br />
mit viel suspense und gnadenlosen plots. Doch<br />
irgendwann einmal läuft jedes Faß über.<br />
Meine medizinischen Freunde wollten mich nicht nur weiterhin<br />
stationär behalten. Vielmehr konsultierten sie ihre<br />
Kollegen von der Fachabteilung Pulmonologie in einer<br />
anderen Klinik, e-mailten Thorax-Röntgenbilder und spekulierten<br />
über den Nutzen einer Bronchoskopie. Einige<br />
Tage später wurde ich erneut in die Radiologische geschoben.<br />
Wie ein Brathühnchen, wurde ich jetzt in eine Röhre<br />
geschoben, um computerthomographische Bilder meiner<br />
Lunge aufzuzeichnen zu lassen. Die Aufnahmen wurden<br />
dann wiederum der anderen Klinik übermittelt, ob per Email<br />
oder Airmail, war mir ganz egal. Ich fieberte der Bronchoskopie<br />
entgegen, fragte mich allerdings, wie ich dort<br />
wohl hin gelangen würde. Mit dem Rettungswagen, natürlich!<br />
Oh! oh! Ich spürte Ärger im rechten Oberschenkel. Der<br />
war mittlerweile ganz schön angeschwollen, ebenso mein<br />
rechtes Knie. Jegliche Untersuchungen, ob Thrombose,<br />
Leber- oder Nierenfunktionsprüfungen und ähnliches<br />
brachten keine neuen Erkenntnisse, abgesehen davon,<br />
dass mir ständig Blut abgezapft wurde. Ich wünschte mir<br />
nichts lieber, als einen zarten Biss von Batolio anstelle dieser<br />
blöden Kanülenstechereien. Alles schwoll an. <strong>Was</strong>ser,<br />
welches ich nicht ausweinen durfte, sammelte sich buchstäblich<br />
in meinen Extremitäten. Diejenigen mit den seelischen<br />
Problemen finden sich ständig auf der Psychocouch<br />
wieder. Unsereins hatte nur noch Termine beim Radiologen.<br />
Ich musste ja eine tolle Ausstrahlung haben. Röntgenbild<br />
der Beine: Oberschenkelfraktur rechts, circa vierzehn Tage<br />
alt. Callusbildung. Erinnert ihr euch noch an meine angebli-<br />
133
134<br />
chen Bauchschmerzen und meine damalige ergebnislose<br />
Untersuchung? Nein! Dann blättert halt ein paar Seiten<br />
zurück. Habt ihr es? Na wunderbar. Da staunte die Fachund<br />
Laienwelt. Einer, mit einem Bewegungsdrang eines<br />
Guinnessrekordhalters im Dauerliegen, bricht sich das Bein.<br />
Und keiner hat es bemerkt. Die Ungläubigen unter der Ärzteschaft,<br />
konnten sich etwaige Fragen nicht verkneifen. Wie<br />
ist es denn zu dieser Fraktur gekommen? Versehentlich auf<br />
das Kind getreten? ... vom Wickeltisch gefallen? ... im Gitterbett<br />
verhakt? Ein Sozialarbeiter, Arbeitskollege meiner Ma,<br />
hatte gemutmaßt, meine Rabeneltern hätten mich misshandelt.<br />
Pa hatte daraufhin meiner Oma mütterlicherseits telefonisch<br />
die Diagnose übermittelt und nebenbei bemerkt,<br />
dass das Jugendamt auch schon auf der Matte stünde. Das<br />
hatte Oma einen ziemlichen Schock versetzt. Der leichte<br />
Glaube folgt halt schnell der Ungläubigkeit über nackte Tatsachen.<br />
Schnelle Korrektur der gemeinen Aussage war nun<br />
angebracht. Denn wer weiß schon, wie Omaherzen ticken. In<br />
einer Hinsicht waren meine Beiden doch Rabeneltern. Auf<br />
meine Kosten Witze zu reißen, ist wahrlich ungebührlich. Ich<br />
werde mich schon rächen und ganz, ganz übel foulen.<br />
„Oh, nein, nein!“, rief Batolio entrüstet. „Es war doch alles<br />
ganz anders“. Er hing sich mit sportlichem Enthusiasmus vor<br />
ein Mikrophon und polterte los. „Soeben erteilte der Trainer<br />
und Fußballphilosoph Papa Wolfgang seinem Schützling eine<br />
kurze, eindringliche Aufforderung: Maach et Luca! Maach et!<br />
Luca also raus aus den Federn, mit schwarz-gelben<br />
Ringelsöckchen um die zarten Fesseln und abgehakten Nike-<br />
Tretern, hinaus durch die Tür über die kieselsteinige Terrasse<br />
hinweg, querfeldein über den grünen Rasen, den Footballplayground.<br />
Den schon zurecht gelegten Ball mit Eleganz<br />
angetippt. Wechsel auf die rechte Außenbahn. Zehn ... zwan-<br />
zig Meter Spurt, die Pille eng am Fuß. Dann, Orientierung ins<br />
Zentrum, alle Gegenspieler abgehängt ... allein auf das Tor zu<br />
... er wird gleich im Netz zappeln ... eine satte Granate mit Pike<br />
und Schmackes, gleich der Jubel der Menge: GOL <strong>–</strong> GOL <strong>–</strong><br />
GOL!!! Der Torwart, ein Häuflein Elend: Doch dann, von rechts<br />
... ein kantiger Koloss, das Tier mit der 4, eine Blutgrätsche, ein<br />
Tritt, ein Knacken, ein Sturz, ein Koma, eine erschreckende<br />
Diagnose. Die Beendigung einer verheißungsvollen Karriere.<br />
Femurfraktur rechts. Hammerhart. Die Knoten im Netz des<br />
Tores hätten dem mit brachialer Gewalt getretenen Schuss<br />
nicht standhalten können. <strong>Du</strong>rchbruch.“ Batolio hatte sich in<br />
Ekstase kommentiert und dabei die Tatsache außer Acht<br />
gelassen, dass man sich auch eine Fraktur ohne Einfluss<br />
äußerer Gewalt zuziehen kann. Zu diesen Raritäten zählte<br />
ich. Spontanfraktur bei erhöhter Muskelkontraktion. Muskeln<br />
spielen eine erhebliche Rolle beim Aufbau der Knochen.<br />
Sie leisten die Knochenarbeit im Regelfall, zu dem ich<br />
ja nicht gehörte, weil mir sämtliche Bewegungsabläufe der<br />
kindlichen körperlichen Entwicklung fehlten. Doch Muskelkontraktionen<br />
hatte ich en mas. Bei jedem cerebralen<br />
Anfall spannten sich meine Muskeln extrem an. Spontanfraktur.<br />
Einfach unglaublich.<br />
Statomotorisch hatte ich halt nix zu bieten: Kopfdrehen <strong>–</strong><br />
Strampeln <strong>–</strong> Kopfheben <strong>–</strong> Hochziehen zum Sitzen <strong>–</strong> Hand-<br />
Mund-Kontakt <strong>–</strong> Handstütz -Füßlerstand <strong>–</strong> Krabbeln <strong>–</strong> Wippen<br />
<strong>–</strong> Freies Gehen <strong>–</strong> Salto ala Miro Klose <strong>–</strong> Fallrückzieher <strong>–</strong><br />
absolutley nothing. Einen Tag später <strong>–</strong> wieder beim Bestrahler.<br />
Thorax CT und Lungenröntgenaufnahme. Nix neues!<br />
Das Clemens-Hospital wartete schon. Am achten August<br />
starteten wir mit dem Krankentransport-Express durch bis<br />
nach Münster. Am dritten Tage meines Aufenthaltes in<br />
einer fremden Umgebung sollte nun der Eingriff unter Voll-<br />
135
136<br />
narkose erfolgen. Margret <strong>–</strong> ich war ihr ewig dankbar <strong>–</strong> hatte<br />
sich am Morgen auf der Station eingefunden, um mich in<br />
vertrauter Manier zurecht zu pflegen. Sie kannte den Chefarzt<br />
aus einer früheren Tätigkeit und hatte von diesem das<br />
Placet erhalten, als Beobachterin und natürlich als meine<br />
persönliche Wegbegleiterin, an der Operation teilzunehmen.<br />
Da ich mich unter der Narkose endlich auf ein verloren<br />
geglaubtes Schlaferlebnis freuen konnte, möchte ich es<br />
nicht versäumen, euch kurz mit einer anderen Begebenheit<br />
vom Vortag zu erheitern. An jenem Tag hatte ich nämlich die<br />
Begegnung mit einem seltsamen Zeitgenossen der Oberärztezunft,<br />
der anscheinend meinte, in mir ein schrecklich<br />
aufregendes Objekt seiner medizinischen Begierde entdeckt<br />
zu haben. Ich hatte ihm wohl mustergültige Zuckungen,<br />
BNS und was-weiß-ich für Krampfanfälle geboten, die<br />
ihn zu einer spontanen Anordnung eines EEG animierten.<br />
Eines Tages hau ich auch dem Hippokrates was aufs Maul.<br />
Die ärztliche Fürsorge des asiatischen Doktors stand jedenfalls<br />
nicht im Einklang mit dem Auftrag meiner mich überweisenden<br />
Klinik. Nun stand Signore Dottore von Angesicht<br />
zu Angesicht mit meinen verblüfften Eltern und verkündetet<br />
mit wild entschlossener Tonlage: „Das ist ein Katastrophen-<br />
EEG! Der krampft ja den ganzen Tag. Da könnte man ja einmal<br />
über neue Therapievorschläge nachdenken. Ist er mal<br />
mit ACTH behandelt worden?“ Pa widersprach ganz vehement<br />
und verwies auf die Zuständigkeit meines allzu lachfreudigen,<br />
etwas rundlichen Freund in der Vestischen Kinderklinik,<br />
wo sowieso demnächst ein Kontroll-EEG terminiert<br />
war. Der schlitzäugige Doktor war wohl ein wenig<br />
pikiert, als wollte man seinen ärztliche Sachverstand in Frage<br />
stellen und verließ beleidigt raunend mein Krankenzimmer.<br />
Wir wollen jedoch nicht allzu hart mit ihm ins Gericht<br />
gehen, hat er uns doch einen weiteren aufregenden und<br />
stressvollen Tag erspart. Wenn er so frei ist, die Dokumentation<br />
an die Kinderklinik zu schicken. Nach dieser Exkursion<br />
befanden wir uns im Operationssaal. Die nötige Rückendeckung<br />
von Margret und Batolio war mir gewiss. Leider<br />
hatte sich der <strong>Du</strong>mmschwätzer Hiob unter dem Operationstisch<br />
breit gemacht. Ich dagegen kriegte das Maul nicht<br />
auf. Soviel zu meiner absoluten Sprachlosigkeit in Anwesenheit<br />
ungebetener Gäste. Batolio wies ihn sofort in die<br />
Schranken: „Hau ab! Nui ci! Piss off! Schleich di, verdammt<br />
noch eins.“ Die Ärzte hatten ernste Schwierigkeiten meinen<br />
Mund zu öffnen, so dass ihnen eine reguläre Intubation mit<br />
dem ursprünglich verwendeten starren Instrumentarium<br />
nicht möglich war. <strong>Du</strong>rch Abknickung des Tubus gelang es<br />
schließlich, durch Mund und Luftröhre vorzudringen. Über<br />
dem liegenden Tubus erfolgte dann die flexible Endoskopie.<br />
Endlich wurde ich mal abgesaugt, ohne etwas davon zu<br />
merken. Mal dünnflüssiges Sekret aus dem linken Bronchialsystem,<br />
mal rahmiges aus dem rechten. Liebe Leserschaft!<br />
Ich weiß nicht, wie es euch geht? Aber ich hatte so<br />
langsam die Faxen dicke, wie man im Ruhrgebiet sagt. In<br />
dem Teil unseres Landes hat es schon so manchen Kumpel<br />
erwischt, mit Staublunge und anderen bösen Atemwegserkrankungen.<br />
Ich war bildlich gesprochen einige Zeit unter<br />
Tage. Jetzt war ich aus der Narkose erwacht. Ich litt unter<br />
einer sogenannten „organisierten Lungenentzündung“, bei<br />
der es nicht zu erwarten wäre, dass sich meine Lunge wieder<br />
entfaltet. Zum jetzigen Zeitpunkt war mein rechter Lungenflügel<br />
hin, der linke musste alles kompensieren. Es war<br />
der Lauf der Dinge, wenn man über ein Immunsystem verfügt,<br />
welches diesen Namen nicht verdient hatte. Eine Operation<br />
wäre sinnlos, hieß es. Wenn er sich bewegen und<br />
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138<br />
über den Rasen laufen könnte, wäre eine Regeneration der<br />
Lunge möglich. „Rasen“, dachte Pa, während er vergeblich<br />
ein vierblättriges Kleeblatt suchte. „Der Rasen sieht heute<br />
aus wie ein unendlicher grüner Knoten. Dieser vermaledeite<br />
Sommer.“ Er schlug sein Liederbuch auf und sang:<br />
„Summertime, when the living is heavy<br />
sorrow is growing, and the fever is high<br />
my daddy´s down and my mummy´s sad looking<br />
so hush little Luca and cry.“<br />
Da riss ich ihn aus seiner Melancholie und rief: „Los, Alter.<br />
Abmarsch. Ich wurde noch am Tag meinem Eingriffs in mein<br />
Coesfelder Krankenhaus zurück verlegt. Der Chefarzt hatte<br />
uns mit den folgenschweren Worten verabschiedet: „Ich<br />
wünsche Ihnen und vor allem dem kleinen Luca, dass er entweder<br />
einen plötzlichen Hirntod erleidet oder an einer Kohlenmonoxydvergiftung<br />
verstirbt. Unter keinen Umständen<br />
sollte er einen jämmerlichen Erstickungstod erleiden“ Im<br />
Übrigen bin ich sehr erstaunt über die gute Pflege. Alle Achtung!<br />
Cherrio!“<br />
Im Coesfelder Krankenhaus angekommen, trat ich erst einmal<br />
in Dialog mit meinem Freund St. Vincenz. Der steht als<br />
Skulptur vor dem Haupteingang der Klinik und streckt mir<br />
immer seine Arme entgegen. „Lieber, Heiliger Vincenz. Meine<br />
Organe sind auf Wanderschaft. Bei mir ist alles verzogen<br />
und verschattet. Mein Herz hat sich auf den Weg gemacht,<br />
um ganz woanders zu schlagen. Mein Mediastinum, das<br />
sogenannte Mittelfell, der mittlere Raum in der Brusthöhle,<br />
in der sich das Herz, die Speiseröhre, die Luftröhre, die Bronchien,<br />
der Thymus, sowie herznahe Blut- und Lymphgefäße<br />
befinden, ist stark nach rechts verzogen. Ich verziehe mich<br />
jetzt auf mein Krankenzimmer. Danke für das Gespräch.“ Am<br />
14. August durfte ich zurück in den elterlichen Schoß, berei-<br />
chert um eine erhöhte Schlagzahl von Atemtherapieeinheiten.<br />
In der Folgezeit verbesserte sich mein Zustand ein<br />
wenig. Ich erlitt deutlich weniger cerebrale Anfälle. Meine<br />
linke Lungenhälfte schien tatsächlich ihre Kompensationsaufgabe<br />
zu bewältigen. Die Pseudomonas ließen nichts von<br />
sich hören. Die Bronchoskopie hat einen guten Zweck<br />
erfüllt. <strong>Du</strong>rch das Absaugen der fiesen Sekrete war ich, pulmonal<br />
gesprochen, freier. Meine Therapeuten waren sich<br />
einig: Lebensqualität verbessern war das A und O ihrer<br />
Bemühungen. Atemtherapie, diverse Lagerungstechniken,<br />
basale Stimulation. Alles sollte mir möglichst viel Linderung<br />
verschaffen. Eine Sache fand ich allerdings hypergeil. Ich<br />
konnte endlich, endlich schlafen, sehr zum Leidwesen von<br />
Batolio. „Wenn der Winter kommt, werde ich mit ihm ins<br />
Winterquartier fliegen und tüchtig Winterschlaf halten. Versprochen<br />
Batolio, gelle.“ Bis dato hatte ich schon eine Menge<br />
ertragen und vertragen müssen. Fortan ließ dann meine<br />
Ernährung zu wünschen übrig. Ich vertrug nur noch schlappe<br />
350 ml Frebini, verteilt auf drei Mahlzeiten täglich. Daher<br />
sollte ich eine andere Astronautenkost erhalten, mit mehr<br />
Ballaststoffen und Kalorien. Nur wenige Tage nach der<br />
Umstellung trat erneut Flüssigkeit aus meiner Bauchdecke<br />
aus. Gleichzeitig stieg das Fieber auf gute 40° Celsius. Am<br />
31. August hatte ich nachmittags den puren Stress mit<br />
Brustschmerzen oder was weiß der Kuckuck, wo es mir<br />
schmerzen tat. Jetzt bekam ich alle sechs Stunden fünf ml<br />
Paracetamol. Batolio war ernsthaft besorgt. „Luca wirkt<br />
kraftlos, saftlos, mutlos“. Die Temperatur stieg und fiel, wie<br />
sie wollte. Das Stammhirn konnte ganz gehörig nerven mit<br />
seinen Fissimatenten. Es folgten enorme Sättigungsabfälle.<br />
Am 1. September kam Margret, spontan ihrer sensationellen<br />
Intuition folgend, auf einen Sprung vorbei. Sie fand mich<br />
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im Zustand der Apathie und Flachatmung. Ein enormer<br />
Flüssigkeitsverlust war vorausgegangen. Mein ganzer Body<br />
war klitschnass. Sozusagen war nichts in mir drin. Ich drohte<br />
auszutrocknen. Es roch nach Aceton. Meine Stühle waren<br />
grün-wässrig, stanken zum Himmel. Next exit: Coesfeld, St.<br />
Vincenz-Hospital. Dieses Mal diagnostizierte man eine<br />
Gastroenteritis, Entzündung der Magen- und Darmschleimhaut,<br />
zuwenig Kalium, noch weniger Kalzium und vor allem<br />
ziemlich wenig Thrombos. Letztere sind die Blutplättchen,<br />
die für die Blutgerinnung zuständig sind. Sie werden mir<br />
eines Tages sehr, sehr fehlen. Man setzte mich auf Nahrungskarenz,<br />
versorgte mich statt dessen mit Infusionen<br />
und später mit Tee. Mein Leben schien ausgehaucht. Die<br />
Ärzte wirkten mutlos. „Wir wissen nicht, ob er diese Nacht ...“.<br />
Batolio war schwer zu beneiden und wirkte ein wenig überfordert,<br />
mir Mut zuzusprechen. „Lieber, lieber Freund der<br />
Nacht“, sprach er. „Erinnere dich doch. Deine Mama trägt ein<br />
Kind im Bauch, ein Brüderchen oder ein Schwesterchen. Es<br />
will dich kennenlernen, bald, am Ende dieses Jahres. Heiße es<br />
willkommen in einer Welt, die dich so leiden läßt. Doch sei<br />
getrost. Es wird per Kaiserschnitt gesund zur Welt gebracht,<br />
ganz ohne Nabelschnurkomplikationen.“ Da rief ich lauthals:<br />
„Ich will es auch. Ich will es fühlen. Ich will es hören. Ich will<br />
es spüren. Ich will es berühren.“ <strong>Du</strong> hast keine Chance, also<br />
nutze sie! heißt ein markanter Slogan, der auf mich zutrifft,<br />
wie die bekannte Faust aufs Auge. Welche Hoffnungen hatten<br />
wir alle noch? In dem Glauben, tatsächlich Abschied<br />
nehmen zu müssen, waren meine Eltern schweren Herzens<br />
zu einem Bestattungsunternehmen gegangen. Sie haben<br />
dort einen kleinen blauen Kindersarg mit Mond- und Sterne-Motiven<br />
ausgewählt. Alle Formalitäten für den <strong>Was</strong>-<br />
Wäre-Wenn-Fall, den worst case, wurden erledigt. Die Kin-<br />
derseelsorgerin Schwester Paula stellte einen Wortgottesdienst<br />
zusammen, machte Ma und Pa mit einem Kaplan<br />
bekannt, der mit einer schwierigen Mission vertraut wurde.<br />
Pa hatte meinen geplanten Urlaub im Siegerland abgesagt<br />
und eine Telefonliste mit den Namen der zu benachrichtigten<br />
Leute erstellt. Der geplante Rhodos Ferientrip stand<br />
hoch im Stornokurs. „Ich bin der Luca, ein kleiner Kämpfer.<br />
Ich stabilisiere mich. Ich atme. Mein Herz schlägt rhythmisch.<br />
Ich blute nicht. Ich erleide keinen Anfall mehr. Ich<br />
vertrage meine Nahrung. Ich verziehe mein Gesicht wie in<br />
guten Tagen, um euch mitzuteilen, dass ich warten werde.<br />
Ich werde niemals von Euch fortgehen, wenn ihr nicht bei<br />
mir seid. Ich setze Zeichen!“ Tatsächlich stabilisierte sich<br />
mein Zustand, bis die Ärzte meinen Eltern zuversichtlich<br />
signalisierten, ihre verdiente Urlaubsreise anzutreten. Die<br />
Eltern sagten ja. Sie sagten: „Wir brauchen dringend Erholung.<br />
Die Seele baumeln lassen. Das Meer rauschen hören.<br />
Nach Genuss von Ouzo und Metaxa selig ins Apartment<br />
rauschen.“ Batolio sagte: „Lass sie fahren. Wir haben alles<br />
organisiert. Nichts kann passieren. Wir sorgen für Lucas<br />
Wohlergehen.“ Sie waren reif für die Insel und verlebten entspannte<br />
Ferien bei täglich 30 Grad im Sonnenschein. Derweil<br />
lehnte ich mich ebenso relaxt zurück und wartete auf<br />
ihre Rückkunft. Batolio hatte ich auf Quartiersinspektion<br />
geschickt. Er sollte sich eine ordentliche Höhle suchen und<br />
reichlich Nahrung sammeln. Der Winter kommt bestimmt.<br />
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142<br />
Siebzehntes Kapitel<br />
Der Geniale Ausflugsherbst<br />
Wie man endlich einmal Kind sein durfte<br />
Ich konnte es nicht fassen. Die Alten waren wieder da. Vom<br />
Kopf bis zu den Zehen mit knackiger Bräune überzogen.<br />
Austausch von Meeresblicken. Alter Grieche grüßt Bleichgesicht.<br />
Die alte Flatternase Batolio kam ebenfalls kurz darauf<br />
wieder von seinem Höhlentrip. „Eh, det war dufte. Ne<br />
Grotte zum Verlieben“ juchzte er. „Abhängen, bis der Frühling<br />
kommt. Kann allerdings nicht genau sagen, wo die Höhle liegt.<br />
Werde sie aber bestimmt wiederfinden.“ Ich selbst hatte mich<br />
vom Kliniksommer unglaublich gut erholt. Viel besser als<br />
gedacht. Der Stress mit der Krampferei war beendet. Vielleicht<br />
wollte es der Zufall so. Mehr jedoch mein zwischenzeitlicher<br />
Mangel an Thrombozyten. Der Doc hat eines<br />
der Antikonvulsiva, den roten Orfirilsaft abgesetzt, weil dieses<br />
Medikament laut Beipackzettel tatsächlich einen solchen<br />
Mangel hervorrufen kann. Am liebsten hätte er alle<br />
Medis zum Teufel verbannt. Statt dessen bekam ich fortan<br />
das beruhigende Diazepam in Tropfenform verabreicht. Das<br />
weckte arge Erinnerungen an damals, als man mir häufig<br />
Diazepamrektiolen in den wunden Pöter steckte. Na ja <strong>–</strong> die<br />
verfehlten ja eh immer ihre Wirkung, weil ich sie direkt wieder<br />
ausschied. Such is life. Ich war also gut drauf. So hatte<br />
ich mir vorgenommen, in der kommenden Zeit einiges<br />
nachzuholen, etwas zu erleben. Ja! Die Dinge kommen lassen<br />
und alles mitnehmen, wo gibt. Die Hängemattenaktion<br />
mit Margret sollten wir aber auf den nächsten Sommer verschieben.<br />
„Oh! Goldener Oktober. Ik liebe dir. Da will ich<br />
draußen sein und Buggy fahren.“ Reibt euch nur verwundert<br />
eure Glubscher. Ihr habt es richtig gelesen. Völlig ernst<br />
und unerwartet akzeptierte ich nun Ausflugsfahrten in meinem<br />
Sportgefährt. Ich krampfte ja nicht mehr. Ich hatte es<br />
nicht mehr nötig, die Fahrten zu unterbrechen. Buggy fahren<br />
war jetzt eine hypergeile Show, bei dem mir der olle<br />
Wind nette Geschichten erzählen konnte.<br />
Ferienpark Waldvelen<br />
Normalerweise war mein Alltag ja ritualisiert und vor allem<br />
voll durch strukturiert, mit festen Zeiten, die sich stark an<br />
Medikamentenabgaben und Nahrungsdurchlaufquoten<br />
orientierten. Business as usual <strong>–</strong> immer unter der Prämisse,<br />
alles erdenkliche für mein Wohlergehen zu tun. Ausflüge<br />
waren eher die Ausnahme, einmal abgesehen von den<br />
bekannten Routineuntersuchungsterminen, wie die EEG-<br />
Kontrolle oder Platteliegen in der Radiologie. Ferner gab es<br />
diese unsäglichen Spontanaktionen, denen stets eine hektische<br />
Betriebsamkeit vorausging. Es waren jene events, bei<br />
denen die Ärzte- und Schwesternschaft aufgeregt nach mir<br />
Charmebolzen Ausschau hielten und begeistert ausriefen:<br />
„Der Luca kommt! Der Luca kommt! Das Echo hallt zurück:<br />
„Er tommt ... prompt ... prompt ... prompt ...“ und <strong>bleibt</strong>!<br />
Doch in diesem Goldenen Oktober stand mir ein wahrhafter<br />
Ausflugsmarathon bevor. Ungebremst flitzten wir in das<br />
kollektive Freizeitparadies und stoppten abrupt am Ferienpark<br />
Waldvelen, unweit der holländischen Grenze. Ma´s<br />
Eltern hatten sich dort vor einiger Zeit ein mobiles Freizeitheim<br />
gekauft. Sozusagen ein Haus, von dem man nicht<br />
weiß, ob es noch da ist, wenn man das nächste Mal kommt.<br />
Es stand jedoch auf festem Boden, ohne Räder. Nach einer<br />
gemeinsamen Kaffeetafel, bei der ich wie immer leer aus-<br />
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144<br />
ging, warteten die lang ersehnten Attraktionen auf mich.<br />
Zuerst sind wir zur Pferdekoppel abgeschoben. Zwei Pferde<br />
waren sofort auf galoppiert, um mich neugierig zu bestaunen.<br />
Pa hob mich auf seinen Arm, nahm meine Hand und<br />
führte sie, damit ich eines der Pferde sanft streicheln konnte.<br />
Der Gaul wieherte vor Freude und hatte sich nur ganz<br />
nebenbei ein wenig erschrocken. Diese Tiere haben einen<br />
wahrhaft sensitiven Charakter, so dass ich keine Angst zu<br />
haben brauchte. „Wenn ich einmal älter bin, dann wünsche<br />
ich mir eine Hippotherapie“, sinnierte ich über den Traum<br />
vom therapeutischen Reiten. Anschließend schob man<br />
mich hinüber zum Wildgehege, um dort die Rehe zu füttern.<br />
Vor dem Zaun stand ein niedlicher roter Kinderplastikstuhl<br />
mit Armlehnen. Nie zuvor hatte ich jemals in einem Stuhl mit<br />
gestrecktem Rücken gesessen. Ich kam mir unwiderstehlich<br />
königlich vor: „Luca Felipe His Royal Majesty of the animals“.<br />
Ein Korb voller Kastanien lud uns förmlich zur Fütterung<br />
der hungrigen Rehe ein. Pa, der mich ein wenig von<br />
hinten festhielt, legte mir eine Kastanie in die rechte Hand.<br />
Apropos Hände! Seit einiger Zeit hielt ich meine Hände nicht<br />
mehr krampfhaft zu Fäustchen geballt, sondern offen. Alle<br />
Fingerchen waren ausgestreckt und locker. Damals hatte<br />
ich ja partout nicht verraten wollen, was ich darin festhielt.<br />
Es war ein kleines Kirschkernkissen. Nunmehr wurde mir<br />
klar, warum man mich stundenlang im Kinderwagen unter<br />
meinem Kirschbaum, dessen Äste über einen Teil unserer<br />
Terrasse ragten, verweilen ließ. Während die einen die wohlschmeckenden<br />
Früchte genossen, bekam unsereiner lediglich<br />
die Kerne, eingenäht in motivreiche Stoffsäckchen. Ich<br />
war jedenfalls froh über meine offenen Hände, die jetzt häufig<br />
etwas zum Greifen bekamen. Ich hielt es solange fest, bis<br />
es hindurch rutschte. Sollte ich jetzt diesem Reh die Hand<br />
mit der Kastanie reichen? Pa hatte mächtiges Fracksausen,<br />
wollte er sobald kein Krankenhaus mehr von Innen sehen.<br />
Angst essen Babies auf. Wir warfen die Kastanie durch den<br />
Zaun, direkt vor die Beine des zahmen Rehs. Dies ignorierte<br />
unsere wohlwollenden Absichten und schlich behäbig<br />
davon. „Wenn ich einmal älter bin, wünsche ich mir eine<br />
Dammwildtherapie“, flüsterte ich. Die nächste Etappe führte<br />
uns zum Kinderspielplatz. Hier erwartete mich die Attraktion<br />
des Tages. Eine klassische Rutschpartie. Pa nahm mich<br />
wiederholt in seine Arme, kletterte mit mir die Stufen hinauf,<br />
setzte mich in seinem Schoß und rutschte mit mir, heissassa,<br />
die Bahn hinunter. Bei meiner Rutschpremiere hatte ich<br />
doch reichlich Bammel, zeigte Anzeichen eines Anfalls. Der<br />
zweite Abgang <strong>–</strong> nicht zu verwechseln mit dem Angstschiss<br />
<strong>–</strong> war dann hypercool. Futti, der unerschrockene Ritter, mit<br />
Schmackes die Rutsche hinab. Endlich war ich Kind. Endlich<br />
durfte ich einmal etwas von der faszinierenden Welt, die<br />
mir sonst verschlossen blieb, erleben. Ich konnte „sehen“.<br />
Mit weit geöffneten Augen konnte ich Licht und Freundlichkeit<br />
in mich aufnehmen. Ich war ein glücklicher Bub, ein<br />
infantiler König mit langem goldenem lockigem Haar.<br />
Figaro<br />
Der Papa schaute mich kritisch von der Seite an und sprach:<br />
„Nein, nein, mein lieber Sohn. <strong>Du</strong> siehst ja aus wie der Müsli-Mann<br />
als Punk. Ein echter Campino unter den Blagen. Es<br />
roch nach ultimativen Entscheidungen. „Entweder wir<br />
flechten Pippi-Langstrumpf-Zöpfe im Stile eines infant-girlie<br />
oder du bekommst den Kaiserschnitt“. „Die-was-wärewenn-gewesen-Spekulation“<br />
betrachten wir an dieser heiklen<br />
Passage als en passe und wenden uns lieber dem<br />
bevorstehenden Ausflug zu einem Friseurgeschäft zu.<br />
145
146<br />
Unterwegs stellte sich wiederholt heraus, dass mein heiß<br />
geliebtes Gefährt, der Rehabuggy, grandiose atemtherapeutische<br />
Funktionen und Wirkungen hatte. Unter den<br />
enormen Vibrationen beim Schuckeln über den Asphalt,<br />
lösten sich meine tiefsten Sekrete des Brochialsystems und<br />
schossen wie Torpedos aus meinen Nasenlöchern heraus.<br />
Stunden später <strong>–</strong> die Strecke wurde leidlich abgesaugt <strong>–</strong><br />
erreichten wir schweißgebadet den Frisiersalon. Kaum hatte<br />
Pa die Bremsen meines Flitzers festgestellt, konnte ich<br />
eine erneute Kostprobe mit meiner „Schluck-auf-abernicht-hinunter-Attacke“<br />
unter Beweis stellen. Ich wollte<br />
damit lediglich den dezenten Hinweis geben, dass sich Vordrängen<br />
nicht lohnt. Pa musste sich zwangsläufig mit mir<br />
beschäftigen. Als ich jedoch nichts mehr zu bieten hatte,<br />
wurde Pa endlich salonfähig. Die Friseurmeisterin haderte<br />
schon mit ihrem Schicksal, zwei gerade gewonnene Neukunden<br />
wieder verloren zu haben, bevor auch nur ein Haarspitzchen<br />
ihrer Schere zum Opfer falle. Sie beäugte mich mit<br />
Skepsis, hatte große Zweifel, ob ich denn unter den beobachteten<br />
Umständen fit genug für einen Faconschnitt wäre.<br />
Für Old Daddy war der strapaziöse Weg jedoch mit dem einzigen<br />
Ziel verbunden, mir meine Mähne scheren zu lassen.<br />
Meine blonde Pracht stand kurz vor einer Ratze-putz-weg-<br />
Aktion. Nachdem Pa den Stuhl mit seinem neuen summerlook<br />
verließ, sollte nun ein Scherenwerk an mir verübt werden.<br />
Ich bestand beharrlich darauf, in meinem Buggy gestylt<br />
zu werden, andernfalls drohte ich mit einer Sabotage. Pa<br />
brachte mich in eine aufrechte Sitzposition, indem er mich<br />
am Nacken und am Rücken festhielt. Ich bekam eine gute<br />
Haltungsnote. „The first cut is the deepest!“ In meiner Position<br />
fühlte ich mich unerwartet locker und entspannt, genoss<br />
meinen allerersten Haarschnitt mit stoischer Gelassenheit.<br />
Meine Pupillen rollten ein wenig hin und her. Wie schon in<br />
Waldvelen, betrachtete ich das Szenario mit intensiver Aufmerksamkeit.<br />
Meine Haare wurden mit <strong>Was</strong>ser ein<br />
gesprüht und schnipp-schnapp waren sie ab. Ich fand das<br />
voll cool, gewann nicht nur eine neue spannende Impression,<br />
sondern einen Faible für beauty und wellness. Selbst<br />
Pa war von meiner Gelassenheit hin und her gerissen und<br />
sprach: „Die Premiere ist gelungen.“ Das veranlasste die<br />
Frau mit den Scherenhänden zu dem Ausspruch: „Na, dann<br />
mal bis nächste Woche!“ <strong>Was</strong> hatte das zu bedeuten? Entweder<br />
wachsen meine Haare binnen einer Woche auf<br />
Rapunzellänge, oder die gute Frau hat in mir einen Freund<br />
gefunden, der schnittiger nicht sein kann. Bei allem Respekt<br />
hatten mir die Atmosphäre und die Düfte einen new sense<br />
of comfort gegeben. Areviderci figaro!<br />
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148<br />
Cinema Paradiso<br />
Am Sonntag scheint mir die Sonne auf den Pelz<br />
da trotz` ich dem Leben, bin stark wie ein Fels<br />
Am Montag bin ich ein gepflegter Monsigneur<br />
da laß` ich mich baden bis unter die Öhr<br />
Am Dienstag laß ich mich ganz kräftig verwöhnen<br />
Massagen, Drainagen und Körperföhnen<br />
Am Mittwoch bin ich Mittendrin<br />
denn nur dabei macht doch keinen Sinn<br />
Am Donnerstag erschallen ganz wuchtige Lieder<br />
es treibt mir den Blues in alle Glieder<br />
Am Freitag naht das Wochenende<br />
dann klatsch` ich eifrig in die Hände<br />
Am Samstag sitz´ ich im Cinema<br />
Herr Taschenbier und das Sams sind auch schon da.<br />
Wir schlenderten gemächlich über den Hollywood Boulevard,<br />
überrollten Stars und Sternchen und standen plötzlich inmitten<br />
des Bistros unseres neuen Kinopalastes. Pa checkte die<br />
Akustik und bat den Kinobetreiber um eine rücksichtsvolle<br />
Sounddosierung, um meinen Ohrmuscheln nicht die Gelegenheit<br />
zu geben, das Filmereignis zu sabotieren. Der<br />
Betreiber willigte spontan ein. Er versprach uns freundlicherweise<br />
sogar Ersatzkarten, falls es tatsächlich zum<br />
Sabotageakt käme und wir den Saal frühzeitig verlassen<br />
müßten. Faxen hin und Faxen her. Ich wollte mir meine Kinopremiere<br />
unter keinen Umständen versauen lassen. Wir<br />
standen vor der Theke, wo allerlei Süßigkeiten, die mir für<br />
immer und ewig vergönnt blieben, feilgeboten wurden. Da<br />
kam ich auf die geniale Idee, das Vorprogramm mit einer<br />
heißen Runde Frühförderung zu starten. Damals hießen die<br />
Aktionen bei Pia noch „Bohnenbad“ oder „Kartoffelbreibad“.<br />
Die jüngste Kreation basalstimulierender Hautverarschung<br />
hieß jetzt Popcornbad. Anschließend schob<br />
man mich in den Kinosaal, bugsierte mich über einige Stufen<br />
hinauf bis hin zur obersten Reihe. Dort stellte man mich<br />
auf dem Gang ab, sogar mit dem Gesicht zur Leinwand. An<br />
das Popcorn hatten sie jedoch nicht gedacht, diese vermaledeiten<br />
Ignoranten. Plötzlich geschah Mysteriöses. Der<br />
Vorhang ging auf, es wurde zunehmend dunkler, der<br />
Adrenalinspiegel stieg, mir fielen die Augen zu. Damit hatte<br />
sich das Experiment „Reaktionen auf Lichtreize und Dolby-<br />
Surroundverfahren“ erledigt. Ich schlief, schnorchelte,<br />
träumte und vergaß alles um mich herum. Das arme Sams<br />
mühte sich derweil von Plot zu Plot, um all meine Aufmerksamkeit<br />
auf sich zu lenken, indem es seine Umwelt in allerlei<br />
Chaos stürzte. Schließlich waren wir beim letzten<br />
Wunschpunkt angelangt: Ich durfte nach Hause. Einige<br />
Tage später bekam ich von Papas Freund Andreas eine Hörspielkassette<br />
geschenkt. Ihr dürft ruhig erraten, wer sich da<br />
in meine Ohren einschlich. Natürlich das Sams. Es wurde<br />
mein Freund. Wir unterschieden uns ja nur wenig in unseren<br />
Essgewohnheiten. Während das Sams genüßlich alles, was<br />
nicht niet- und nagelfest war, in sich hinein schob, füllte<br />
man mir gar merkwürdiges Zeugs in den Magen, dass es<br />
einem schlecht wurde. Folglich kötzelte ich entschieden<br />
häufiger und mehr. Schließlich ließen wir Herrn<br />
Taschenbier förmlich im Regen stehen, Herrn Mohn und<br />
Frau Rotkohl auf dem überdimensionalen Tisch Unmengen<br />
an Würstchen futtern, begaben uns auf Tauchstation und<br />
krochen in die Tonne des Diogenes.<br />
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150<br />
Diogenes und sonstige Kneipentouren<br />
Es kam jetzt häufiger vor, dass meine Eltern auf die Idee<br />
kamen, zwischen meinen beiden letzten Mahlzeiten, der um<br />
18.30 und der um 21.45, ein Restaurant aufzusuchen. Die<br />
Verfressenen, der Griechischen Küche Frönenden, nannten<br />
das ironisch Zwischenmahlzeit. Wir begaben uns also in das<br />
Lieblingsrestaurant der Beiden, das Diogenes Palace. Dort<br />
war ich ausnahmslos auf eine undankbare Zuschauerrolle<br />
reduziert, las mit jedem Bissen, den die beiden zu ihren<br />
Mündern führten, meine Sehnsucht nach einem der genüßlichsten<br />
Dingen des menschlichen Lebens von ihren Lippen<br />
ab. Von den Essgewohnheiten meiner Erzeuger möchte ich<br />
mir allerdings eine Berichterstattung ersparen. „Oh, lieber<br />
Castillo Morales, warum musste ich auf deine Orofaciale<br />
Regulationstherapie verzichten?“ Ich hätte mich wahrlich<br />
gerne in der Tonne des Diogenes verstecken wollen und nie,<br />
nie wieder heraus kommen wollen. Dann verließen wir den<br />
Diogenes Palace und kehrten in eine andere Gaststätte ein.<br />
Wie gesagt, meine Eltern nahmen dort nur eine Zwischenmahlzeit<br />
ein. Wir begaben uns nach Billerbeck zu<br />
einer Familienfeier, der Rubinhochzeit von Mamas Eltern.<br />
Hier hatte ich erneut die Möglichkeit den zahlreichen Familienmitglieder<br />
in die Mäuler zu schauen. Dazu kam es<br />
jedoch nicht. Mein elfjähriger Cousin Rene hielt mich davon<br />
ab. Er hatte so ein merkwürdiges Spielzeug, einen kleinen,<br />
mit <strong>Was</strong>ser gefüllten, durchsichtigen Plastikkasten, ähnlich<br />
einer Schneekugel. In diesem Kasten befanden sich oberhalb<br />
zwei gegenüberliegende Tore mit je einem Torhüter und<br />
unterhalb zwei Feldspieler. Per Druckknopf bewegten sich<br />
die Beine und Arme der Spieler ähnlich wie beim Tipp-Kick.<br />
Das Spiel war sozusagen ein Unterwasser-Fußball-Tipp-<br />
Kick. Der arg getretene Ball musste sich wellenförmig durch<br />
das <strong>Was</strong>ser bewegen, um ins gegnerische Tor zu gelangen,<br />
was der hütende Torwart zu verhindern versuchte. Mein<br />
enthusiastischer Cousin spielte nun stundenlang gegen<br />
einen schier übermächtigen Gegner, gegen mich. David<br />
gegen Goliath. Jedes Spiel war dann beendet, wenn ein<br />
Spieler zehn Tore erzielt hat. Ich hatte so an die zwanzig<br />
Spiele gewonnen, alle, ohne je ein Gegentor erhalten zu<br />
haben. Ich war der unbezwingbare King of Watersoccer, ein<br />
Kahn unter <strong>Was</strong>ser. Rene kommentierte meine Siege wie<br />
ein sich vor Begeisterung kaum rettender Sportreporter. Es<br />
wurde ihm nicht bange um seine eigenen katastrophalen<br />
Leistungen. „Luca gewinnt immer“, rief er völlig fassungslos.<br />
Nachdem sich alle einen Knoten in ihre Speiseröhren<br />
gegessen hatten, freute ich mich nur noch auf eines <strong>–</strong> auf<br />
mein Bett!<br />
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152<br />
Achtzehntes Kapitel<br />
Die letzten Tage eines kleinen Kämpfers<br />
Wie man mit Nonchalance dem Tod begegnete<br />
Der Zeitpunkt nahte unweigerlich. Eine neuerliche Trennung<br />
stand bevor. Eine Trennung, die mit dem Begriff der<br />
Kurzzeitpflege verbunden war. Damals konnte ich einen<br />
Urlaub in der Villa Dorothee ja noch erfolgreich abwenden.<br />
Aber jetzt? „ Batolio, Batolio! Ich will nicht fort. Ich will nicht<br />
in die Kinderlandverschickung.“ „Ach Luca, mein treuer Spezi.<br />
Es geht doch gar nicht aufs Land. Es geht doch in die Großstadt.<br />
Es geht in die Verbotene Stadt. Gelsenkirchen. Ich kann<br />
es kaum aussprechen, so merkwürdig klinkt es.“ „ Ich willll<br />
abbber nich`!“ „Komm mit! Komm mit ins Kurzeitpflegeland.“<br />
„Nie, nie, nimmer, niemals segle ich über die Gelsenkirchen,<br />
geschweige denn, dass ich dort landen und das Boot betreten<br />
werde,“ „<strong>Du</strong> wirst sehen, mein lieber Kamerad. Es werden<br />
happy Holidays. Mit der Arche Noah über die Emscher schippern<br />
und der großen weiten Welt den eingeknickten Daumen<br />
zeigen.“ „Aber ich bin so allein. Allein wie ein Stein.“ „Futti<br />
baby! <strong>Du</strong> <strong>bist</strong> nicht allein. <strong>Du</strong> wirst nicht allein sein. <strong>Du</strong><br />
bekommst doch Zuwachs. <strong>Du</strong> bekommst ein Geschwisterchen.<br />
Am 27. Dezember wird es in den frühen Morgenstunden<br />
zur Welt kommen. Ein prachtvolles Kind wird dir zur Seite<br />
gestellt. Ein Bruder Yorick oder eine Schwester Zoe. Es wird<br />
weinen, schreien, glucksen, dich eines Tages mit süßen Grübchen<br />
und zarten Lippen anlächeln. <strong>Du</strong> wirst der große Bruder<br />
sein und wir werden dein stolzes Strahlen sehen.“ Am Tag, an<br />
dem die Bevölkerung <strong>–</strong> oder zumindest ein Teil dieser <strong>–</strong> den<br />
Stephanus steinigte, wurde ich getrennt. Pate Gottfried und<br />
seine Angetraute Maria, Ma, Paps und Old Flatternase<br />
chauffierten mich in den Pott, für einen Tag und eine Nacht<br />
ins Marien-Hospital, sowie für fünfzehn Tage und Nächte in<br />
die Arche Noah. Es wurde ein wehmütiger Abschied. Mein<br />
Bett füllte sich mit einer einzigen, riesigen Kullerträne. Ferien<br />
vom ich. Ferien vom Familienalltag. Ferien ohne Batolio.<br />
Mit der Arche in See stechen und allen Unwettern trotzen.<br />
Mit meinem Buggy vorbei an den in meeresblau leuchtenden<br />
Gängen, wo die Fußleisten sich in Wellen entlang der<br />
Wände bewegen, wo die Lampen Bullaugen gleichen. Wenn<br />
ich nun seekrank würde, mein Zustand sich verschlechtern<br />
würde, der Regenbogen am Horizont seine satten Farben<br />
verlieren würde? Dann bietet die Arche Hospiz. „Schau, der<br />
Ozean blutet. Ich treibe. Der Ozean schluckt meine Worte.<br />
Ich bin allein.“ Noch am selben Abend wurde Ma von Pa<br />
getrennt. Ma kam auf die Entbindungsstation von meinem<br />
Freund St. Vincenz. Sie wurde getrennt von der Nabelschnur<br />
meines Geschwisterkindes; getrennt ohne Knoten,<br />
Schlingen und Ösen. Er war da, wohl proportioniert gesund<br />
und mopsfidel. Mein kleiner Bruder Yorick Noah. Welch ein<br />
wundervoller Tag. Ich weilte in der Ferne in Gelsenkirchen-<br />
Ückendorf, wo sich alle liebevoll um mein Wohlergehen<br />
sorgten. Doch ich hatte Heimweh. Margret war am Morgen<br />
der Geburt meines Bruders nach GE-Town gekommen und<br />
hatte mich vom Hospital zum Kutter geschleppt. Vertraute<br />
Personen sind etwas sehr Beruhigendes, denn ich war<br />
reichlich durch den Wind. Danach fühlte ich mich besser,<br />
ich akklimatisierte mich. Doch dann sammelte sich plötzlich<br />
reichlich Meerwasser in meinem Körper an. Als meine<br />
Eltern und Yorick mich an einem Samstag im Januar 2002<br />
besuchten, schauten sie auf einen aufgedunsenen, schläfrigen,<br />
seekranken Buben. Kapitän Luca bekam seine Kieker<br />
153
154<br />
nicht auf und hatte auch sonst nichts zu melden. Nach einigen<br />
Stunden fuhren sie wieder fort, zurück in meine Heimatstadt.<br />
Warum hatten sie mich nicht mitgenommen? Sie<br />
konnten doch immer aus meinem Gesicht lesen, wie es mir<br />
ging. Sie hätten doch erkennen müssen, dass ich eine Sehnsucht<br />
hatte, so groß wie der Atlantische Ozean. Es fing an zu<br />
bluten. Mein Popo <strong>–</strong> wieder einmal eine rot-fetzige Hautlandschaft.<br />
Meine Lippen <strong>–</strong> aufgerissen, blut verkrustet.<br />
Dann schöpfte ich neuen Mut. Batolio trudelte ein und verkündete<br />
den 10. Januar als meinen Abholtermin. Das ist<br />
schon bald. Ich fühlte mich erleichtert. Meine Ferien waren<br />
gut, aber etwas zu lang. Zwischenzeitlich hatte ich einmal<br />
eine bessere Phase. Ich durfte sogar in das Schwimmbad.<br />
Endlich war es soweit. Papa kam mit seinem Kumpel Detlef.<br />
Wir packten seinen Bulli mit meinem Krempel voll und steuerten<br />
mit einigen satten Knoten meinen Heimathafen an.<br />
Batolio hatte kein Seemannsgarn gesponnen, so wie es<br />
Kapitän Blaubär immer tat. Der Segeltörn war beendet.<br />
Zuhause angekommen, habe ich erst einmal tüchtig ausgeschlafen<br />
und von Margret geträumt. Als sie mich dann am<br />
folgenden Morgen in die Arme schloss, war ich wieder ganz<br />
der Alte. Futti, das Kind mit dem faustdickem Charme hinter<br />
den Ohren. Margret legte meine CD von der Augsburger<br />
Puppenkiste in den Player. Ich jubelte, da der Seeelefant von<br />
der Scholle ins Meer geplumpst war und aufgehört hatte<br />
traurige Balladen zu röhren. Ich war glücklich zurück im<br />
Schoß meiner Familie gelandet. Doch die Landung hatte<br />
einen Knoten. Ich sollte noch sechs mal in diesem Jahr in<br />
Urlaub fahren. Kurzzeitpflege in der Kinderheilstätte Nordkirchen.<br />
Sechs Einheiten von jeweils fünf Tagen. Ich bekam<br />
eine Krise. Es war Batolios Besonnenheit zu verdanken, dass<br />
die erste Einheit, die schon im Februar angestanden hätte,<br />
kurzerhand abgesagt wurde.<br />
Jetzt hatte ich ein wenig Zeit für Yorick, die olle Plärrnase.<br />
Wo war der überhaupt? Oje! Der lag plötzlich auf mir und<br />
staunte sich die Glubscher aus dem Kopf. Er war gut drauf,<br />
hyper ausgeglichen und hatte eine pfiffige Mimik. Zudem<br />
hatte er einen Saugstil drauf, dass sich die Knospen bogen.<br />
Voll der Säugling, für den es sich lohnen würde, ein 50-Liter-<br />
Faß feinster Muttermilch zu spendieren. Der verputzte die<br />
edlen Tropfen, dass ich vor Neid erblasste. Erblassen tat ich<br />
dann sowieso zunehmend. Gegenüber dem leicht<br />
gelbsüchtig koloriertem Teint meines Bruders sah ich aus<br />
wie der Inhalt eines Persilkartons. Alle sahen blass aus.<br />
Mama wurde krank <strong>–</strong> Brustentzündung. Kaputt gesaugt.<br />
Papa wurde krank <strong>–</strong> Halswirbelsäulen-Syndrom. Mamis<br />
Hebamme verteilte Kügelchen aus ihrer homöopathischen<br />
Hausapotheke. Pa konnte sich plötzlich noch weniger<br />
bewegen als ich, hätte beinahe meinen gesamten Bestand<br />
an Paracetamol, Novalgin und Diazepam geschluckt. Er<br />
kauerte die ganze Nacht in einer schonenden Position auf<br />
der Wohnzimmercouch, regungslos mit den Schmerzen ringend.<br />
Am nächsten Morgen rief er den Notarzt an und ließ<br />
sich eine Schmerz lösende Injektion verpassen. Alle hingen<br />
in den Seilen. Der Haushalt brach Stück für Stück zusammen,<br />
oder drohte sich sogar aufzulösen. Eine Haushaltshilfe<br />
namens Irmgard wurde engagiert, um alles wieder<br />
zurecht zu flicken. Margret und Brigitte, eine weitere Mitarbeiterin<br />
von Klabautz, kamen jetzt abwechselnd morgens<br />
und abends. Pa war derart außer Gefecht gesetzt, dass er<br />
mich in den folgenden drei Wochen nicht mehr ins Bett bringen<br />
konnte.<br />
155
156<br />
Das geflügelte Wort des Rückenschonprogrammes machte<br />
die Runde. Mein Kinderpflegezimmer sollte mit einer Hubbadewanne<br />
ausgestattet werden, weil unser Badezimmer<br />
für Umbaumaßnahmen ungeeignet war. Obwohl ich kaum<br />
an Gewicht zunahm <strong>–</strong> zehn Kilogramm hatte ich nie überschritten<br />
<strong>–</strong> sah sich keiner mehr in der Lage, mich auf Dauer<br />
hin und her zu tragen. Statt dessen würde ich bald per<br />
Deckenlift aus dem Bett heraus direkt ins das wohl temperierte<br />
<strong>Was</strong>ser plumpsen. Herrliche Zeiten standen bevor,<br />
gäbe es nicht diese verdammten Fieberzacken und Antibiotika.<br />
Papa lag derweil im Fangobett und glühte wie das<br />
Weißbrot im Toaster. Es folgten sich ständig abwechselnde<br />
Phasen mit Fieber und Untertemperatur, die nur kurzzeitig<br />
durch eine sensationelle Meldung unterbrochen wurden.<br />
Meine Uroma war aus ihrem Altenheim in Rodenkirchen<br />
getürmt, fuhr ein paar Stationen mit der U-Bahn in ihre ehemalige<br />
Heimatstadt, gönnte sich eine Taxifahrt zum Rheinufer<br />
und marschierte zu den Rheinwiesen, die vom Hochwasser<br />
reichlich getränkt waren. Dann der Rheinfall. Ein 13jähriger,<br />
aufgeweckter, Bub mit einer Rettungsausbildung<br />
fischte sie couragiert aus dem <strong>Was</strong>ser, kurz bevor sie drohte<br />
Richtung Köln abzudriften. Die Aktuelle Stunde berichtete.<br />
Nichts als Aufregungen in der Familie. Oma bekam weder<br />
eine Lungenentzündung, noch eine Erkältung. Unsereiner<br />
konnte sich da vor Lungenentzündungen kaum retten. Der<br />
Februar kam mit frühlingshaften Temperaturen. Walking<br />
time. „Everywhere you go, always take the wheather with you“,<br />
summte Batolio vor Freude über das geniale Ausflugswetter.<br />
Darauf erwiderte ich: „Ich bräuchte mal eine neue Sitzschale,<br />
sonst hängt mir der Kopp beim Ausflug schräg“, derweil<br />
mein Kopf tatsächlich über hing. Mein zweiter Geburtstag<br />
stand bevor. Am 17. Februar trafen wir uns bei Diogenes in<br />
der Tonne. Es wird mein letzter Restaurantbesuch mit der<br />
Familie, Gottfried und Maria sein. Am darauf folgenden Tag<br />
wäre ich für fünf Tage nach Nortkirchen gefahren. War ja<br />
Gott sei dank gecancelt. In der Nacht vom 19. Auf den 20.<br />
Februar bekam ich Nasenbluten. Ma führte dies auf eine<br />
mögliche Verletzung mit dem Absaugkatheter zurück. Margret<br />
hatte ganz andere Sorgen. Mein Hämoglobinwert schien<br />
abgestürzt zu sein. Kinderarzt Hans-Josef kam zur Blutentnahme.<br />
Meine Venen verweigerten sich. Viermal hatte<br />
er vergeblich zu gestochen und war mit keinem einzigen<br />
Tropfen davon gedackelt. Kein Blut, kein Labortest, keine<br />
Erkenntnis, keine Maßnahme. Mittlerweile war das Hochwasser<br />
abgelaufen, volle Kanüle in meine Hände, Füße und<br />
Beine. Ich hatte scheinbar mehr <strong>Was</strong>ser als Blut. Margret<br />
verdächtigte mein Herz. Es könnte nicht intakt sein. Dottore<br />
Hubert vom St. Vincenz-Hospital sollte schon einmal das<br />
Herz-Ultraschallgerät bereitstellen. Wir bekamen einen Termin<br />
um zwei Uhr nachmittags am folgenden Donnerstag,<br />
den 21. Februar, fünf Tage vor meinem Geburtstag. Ich<br />
blickte in die Welt, mit kranken, geschwollenen Augen.<br />
Batolio hing ängstlich zusammengekauert am Fußende<br />
meines Bettes und röchelte Worte der Bedeutungslosigkeit.<br />
Es gab nicht viel Zeit zu verlieren. Wir müssen jetzt schon<br />
los. Margret hatte es am Donnerstag morgen die Sprache<br />
verschlagen. Stoneface Klabautz. Sie begleitete uns in Hospital,<br />
wo St. Vincent´s Hände verrieten, dass er mich diesmal<br />
nicht da behalten würde. Dr. Hubert Gerleve schaute verwundert<br />
in die Runde, als er den Ultraschallkopf auf meiner<br />
eng gezogenen Trichterbrust hin und herbewegte. „Ja!<br />
Schlägt denn kein Herz in seiner Brust, zum Kuckuck?“,<br />
fragte er mit sorgenvoller Mimik. „ Doch, sicher doch! Mein<br />
Herz ist klein. Mein Herz ist rein. Doch verrate ich euch nicht,<br />
157
158<br />
wo es ist“, gab ich den Beobachteten Rätsel auf. Hubert<br />
schien zugleich fasziniert und irritiert zu sein. „Normalerweise<br />
halte ich den Kopf des Gerätes an diese Stelle hier <strong>–</strong> er<br />
zeigte auf die betreffende Stelle links neben meinem Brustbein<br />
<strong>–</strong> um es auf dem Bildschirm zu sehen. Jetzt halte ich den<br />
Kopf hier hin und habe es gefunden.“ Mein Herz lag in meiner<br />
rechten Achselhöhle und pochte gemächlich vor sich<br />
hin. Es hatte sich einfach verzogen, dieses verschlagene<br />
Organ. Es hatte den Zusammenbruch der rechten Lunge<br />
abgewartet, und war dann flugs ab durch die Mitte in die<br />
kuschelige Höhle gewandert. Jetzt konnte ich auch meinen<br />
Kinderarzt verstehen. Der hatte sich, nach meiner Bronchoskopie,<br />
stets über sein Stethoskop gewundert, hatte dies<br />
ihm doch Geräusche in seine Ohren übermittelt, die darauf<br />
hätten schließen können, dass sich meine Lunge erholt<br />
anhörte. Es war mein Herzschlag, gepaart mit meiner inneren<br />
Brodelmasse. Verarscht, verarscht! Plötzlich hätte ich zu<br />
treten können. Irgendwer stach brutal in meinen Fuß ein<br />
und stocherte herum, als suchte er eine Ölquelle zu entdecken.<br />
„Alle Kinder haben hier eine Blutquelle, nur Luca<br />
nicht“, rief Hubert leicht entnervt. Er meinte natürlich eine<br />
Arterie. An meine Venen traute er sich eh nicht mehr heran.<br />
Dann floss mein Blut doch noch ins Labor. Der HB-Wert war<br />
erschreckend niedrig. Sauerstoff wird nicht ausreichend<br />
transportiert. Margret hatte schon intuitiv mein mobiles<br />
Sauerstoffgerät mitgenommen, da sie schon unterwegs mit<br />
Problemen rechnete. Nur 8000 Thrombozyten, bei einem<br />
Normalwert zwischen 150000 und 250000. „Batolio, Batolio<br />
<strong>–</strong> du hast mir doch von deinen Blut saugenden Artgenossen<br />
in Süd- und Mittelamerika erzählt. „Hol sie her, aber pronto.<br />
Ich brauche dringend eine Transfusion.“ Batolio war<br />
unglücklich: „No chance! Die Flugzeit ist zu lang.“ „Wir könn-<br />
ten ihm eine Transfusion verabreichen. Das hat jedoch nur<br />
eine aufschiebende Wirkung. Und überhaupt, das Problem<br />
mit der Zugangslegung“, hieß es aus ärztlicher Sicht. Mir<br />
kamen böse Vorahnungen: „Ich stehe überhaupt nicht mehr<br />
auf Quälerei. Die Sterbeuhr tickt. Das Blut läuft. Die Thrombozythenarmee<br />
ist schwach und reichlich dezimiert, um<br />
den Blutfluss zu stillen. Ich will zurück in mein Bett. Ich will<br />
in Ruhe sterben. Ich will nach Hause, zu meinen Lieben. Ich<br />
brauche Vertrautheit, Nähe, Wärme, Geborgenheit, Zuneigung,<br />
Begleitung, Frieden. Ich brauche eine rationelle, von<br />
Würde und Courage getragene Entscheidung, hier und<br />
gleich und jetzt sofort.“<br />
Batolio fasste all seinen Mut zusammen: „Dein letzter Wille<br />
soll geschehen“. Wir fuhren nach Hause. Ich wurde in mein<br />
geliebtes Bett gelegt. Alles wurde liebevoll hergerichtet.<br />
Meine Lieblingswolldecke, mein buntes Oberbett, das meinen<br />
kleinen Körper umschließende, Schutz gebende Stillkissen<br />
und mein Corpomedring zur Lagerung meiner von<br />
Ödemen gepeinigten Beine. Ich bekam meine Lucaente in<br />
die eine und das Kirschkernkissen in die andere Hand<br />
gedrückt. Aus dem CD-Player ertönte wohltuende, meditative<br />
Musik, Töne die mich immer beruhigten. Margret hatte<br />
sich vorgenommen, vorläufig nicht mehr zu schlafen. Sie<br />
wollte mein Nacht wachender Schutzengel sein. Batolio<br />
und ich hörten Pink Floyd´s Longplayer „Echoes“ von der<br />
1971 erschienen Platte „Meddle:<br />
„Droben hängt der Albatros<br />
bewegungslos in der Luft<br />
und tief unter den rollenden Wellen<br />
in Labyrinthen aus Korallenhöhlen<br />
weht ein Echo aus einer fernen Zeit<br />
159
160<br />
über den Sand<br />
und alles ist grün und submarin (Erste übersetzte Strophe)<br />
Alles war rot. Es blutete. Plötzlich blockierte das Absauggerät.<br />
Eine Firma musste dringend ein Ersatzgerät liefern.<br />
Das Blut, es lief mir aus Nase und Mund. Ich war hellwach,<br />
jammerte und stöhnte. Panik stand mir im Gesicht geschrieben.<br />
„Margret leg` die Hände auf. Ich will Kontakt. Oh, ja <strong>–</strong> das<br />
beruhigt“<br />
Bloody Friday<br />
Es bildeten sich Petechien unter meiner Stirnhaut und den<br />
Schläfen. „Berührt mich bitte nicht zu sehr. Ich bin so sehr<br />
schmerzempfindlich.“ Ich bekam ein Hämatom am Hals und<br />
eines in der rechten Leiste. „Legt mir ein Kissen unter den<br />
Kopf. Ja, das tut gut. Die Nacht wird wieder anstrengend,<br />
schlaflos, blutig.“ Alle Maßnahmen wurden vorsichtig ausgeführt.<br />
Kontaktatmung, Nasen-, Lippen- und Mundpflege,<br />
alles hypersensibel. Ab jetzt war es besser, mich nur noch zu<br />
zweit zu pflegen. Ich würde sonst schreien, wenn ich es doch<br />
nur könnte. Ma half Margret beim Ausziehen, <strong>Was</strong>chen und<br />
Anziehen. Stärkere Schmerzmittel werden eingesetzt. Ich<br />
kämpfte weiter, presste, stöhnte, erduldete Schmerzen.<br />
War mein gesamter Organismus einem konstanten<br />
Schmerz ausgesetzt?<br />
Oder war der Schmerz nur partiell und wechselte von<br />
Körperregion zu Körperregion? Ich ging davon aus, dass ich<br />
den Schmerz als Bestandteil meines Lebens von Geburt an<br />
erleiden musste. Ich fühlte den Schmerz. Also bin ich !<br />
Wo immer sich der Schmerz auch lokalisierte <strong>–</strong> mir fehlte es<br />
schlicht an Ausdrucksmöglichkeiten. Die Schmerzdiagnostiker<br />
waren ratlos, wortlos, machtlos.<br />
Nach einem epileptischen Anfall war ich ein Kopfschmerz.<br />
Während und nach der Nahrungsaufnahme war ich ein<br />
Bauchschmerz.<br />
Nach einer Oberschenkelfraktur war ich ein Knochenschmerz.<br />
Aufgrund meines Schiefwachstums war ich ein Wirbelsäulenschmerz.<br />
Nach erhöhten Muskelkontraktionen war ich ein Muskelund<br />
Gelenkschmerz.<br />
Nach <strong>Was</strong>sereinlagerungen war ich ein Gewebeschmerz.<br />
Nach anfallsartigen Sekretattacken war ich ein Bronchialschmerz.<br />
Ich war ein Hals-Nasen-Ohren-Schmerz.<br />
Ich war ein Augenschmerz.<br />
Ich war ein Lippen-Kiefer-Gaumen-Schmerz.<br />
Ich war ein Zahnschmerz.<br />
Ich war ein rasender, pochender, schlagender, stechender<br />
Akutschmerz.<br />
Ich war ein chronisches Weh.<br />
Mir schmerzte der Arsch und ich musste es aussitzen.<br />
Wo immer ich auch gelagert und gebettet wurde <strong>–</strong> der<br />
Schmerz war schon da.<br />
Und wenn die Nacht am tiefsten und der Morgen am nächsten,<br />
lag ich wach, mit ängstlichen Augen, und spürte den<br />
Schmerz.<br />
Dann stieg meine Körpertemperatur ganz lautlos, wie die<br />
Stille der <strong>Du</strong>nkelheit, an:<br />
36.0 <strong>–</strong> 36.3 <strong>–</strong> 36.9 <strong>–</strong> 37.2 <strong>–</strong> 37.5 <strong>–</strong> 37.8 <strong>–</strong> 38.1 <strong>–</strong> 38.4 <strong>–</strong> 38.7<br />
39.0 <strong>–</strong> 39.3 <strong>–</strong> 39.6 <strong>–</strong> 39.9 <strong>–</strong> 40.2 <strong>–</strong> 40.5 <strong>–</strong> 40.8 <strong>–</strong> 41.1<br />
161
162<br />
Am Samstag kommt der Eisbär<br />
Nach einer unruhigen Nacht mochte ich morgens weder<br />
angefasst werden, noch war mir nach meiner meditativen<br />
Musik zumute. Im Laufe des Vormittages ging es mir dann<br />
wieder ein wenig besser. Margret, die nach der, auch für sie<br />
anstrengenden Nacht, eine Mütze voll gutem Schlaf<br />
benötigte, wurde von Brigitte abgelöst. Ich wurde gemeinsam<br />
von ihr und Pa versorgt. Anschließend machte Brigitte<br />
mein Bett neu zurecht, derweil ich für einige Minuten auf<br />
Pa`s Arm durfte. Das allerletzte Mal durfte ich diesen engen<br />
Körperkontakt erleben. Später kam Ma und legte mir<br />
Eispads auf die geschwollenen Lider. Meine Ödeme<br />
nahmen rasant zu. Dann legte man mir das Hörspiel: „Der<br />
kleine Eisbär“ in den Player. Ich war noch einmal ganz Ohr,<br />
verfolgte aufmerksam die Geschichte des Eisbären. Es wurde<br />
Abend. Ich hatte meine vorletzte Nahrung ausgebrochen.<br />
Meine Kleidung war teilweise arg verschmutzt und<br />
nass. Eine Umziehprozedur hätte ich nicht über mich ergehen<br />
lassen können. Ich wurde trocken gefönt. Mein Po blutete.<br />
Er wurde mit Salbeitee und Papier getupft. Meine letzte<br />
Nacht brach an, leidvoll und unbarmherzig. Pressen und<br />
Stöhnen, Blut, Schleim und Nahrung ergossen sich. Man<br />
hörte dumpfes Schreien. Mein Pulsschlag erhöhte sich, es<br />
kam immer häufiger zu Sauerstoffsättigungsabfällen.<br />
Den Bären-Traum tanzen<br />
Wenn ein Mensch krank ist,<br />
Verwandle ich mich in einen Bären<br />
Den Großen Bären der Ersten Schöpfung<br />
Mein Pelz ist weiß -<br />
Doch nicht, weil ich ein Eisbär wäre.<br />
Ich bin der Bär der Ersten Schöpfung.<br />
Ich lecke sorgsam meine Tatzen,<br />
Umschließe den Menschen mit meinen Armen,<br />
Drücke ihn an mich mit all seinen Schmerzen.<br />
Dann blase ich über seinen Leib<br />
Meinen heilenden Atem -<br />
Den Geist-Atem der Ersten Schöpfung<br />
Bärenlied „Spirit Spirit“ des Eskimo-Schamanen Reindeer Chukcl<br />
Das Fieber war auf 40° Celsius angestiegen. Ma half Margret<br />
beim Umlagern. Ich war total schlapp und widerstandslos.<br />
Die Hämatome am Kopf und am rechten Auge<br />
wurden größer. Meine Oberschenkel und Füße waren prall<br />
mit <strong>Was</strong>ser gefüllt. Ich schied nichts mehr aus. Der Tag verlief<br />
ruhig. Ich konnte ein wenig schlafen. Gegen fünf Uhr<br />
nachmittags kam Margret von ihrem Tagesschlaf zurück.<br />
Die vierte Nachtwache in Folge? Als ich ihre Stimme hörte<br />
und ihre Berührung spürte, wusste ich, das ich gehen durfte.<br />
Ich hatte sie alle beisammen, meine liebgewonnen Menschen.<br />
Meine Atmung beschleunigte sich rasant. Es folgten<br />
längere Atempausen. Ich begann zu röcheln. Zunehmend<br />
kam es zu heftigeren Sättigungsabfällen. Ich bekam eine<br />
Sauerstoffvorlage von 0,5 Litern. Meine Haut sah gelblichblass<br />
bis grau aus. Man bestellt Polamidon, ein morphinähnliches<br />
Schmerzmittel. Gegen sieben Uhr wurde<br />
meine Sterbezeit eingeläutet. Es folgten weitere Sätti-<br />
163
164<br />
gungsabfälle. Ich spuckte Magensäfte. Meine Atmung hieß<br />
jetzt Cheyne-Stokes-Atmung, eine periodisch an- und<br />
abschwellende Atmung mit Atempausen. Mein Kopf war<br />
heiß, Hände und Füße kalt. Ich bekam Eispads auf Kopf und<br />
Lider. Dann setzte Tachycardie und Schnappatmung ein. Es<br />
war jetzt halb acht. Margret hatte Ma noch kurz zuvor bei<br />
einem Gespräch in der Küche erzählt, dass alle Kinder kurz<br />
vor ihrem Tod noch einmal die Augen öffnen. Pa saß derweil<br />
mit Winnie im Wohnzimmer. Winnie, der über das letzte<br />
Untersuchungsergebnis vom Donnerstag unterrichtet wurde,<br />
blieb seither im steten Kontakt. Er hatte sich für den morgigen<br />
Montag zu Besuch angemeldet, hielt es aber letztlich<br />
nicht mehr zu Hause aus. Seine Frau begriff seine Unruhe<br />
und schickte ihn fort.<br />
Ich fiel zunehmend ins Koma. Eine viertel Stunde nach acht<br />
war ich weggetreten, meine Augen waren geschlossen.<br />
Mein Zustand verschlechterte sich dramatisch. Pa wurde<br />
schnell hinzu gerufen. Ma und Pa standen an meiner linken<br />
Betthälfte und hielten je eines meiner Hände. Sie warteten<br />
traurig auf mein leises Servus. Beim rasanten Abfall meines<br />
Sauerstoffgehaltes auf unter dreißig Prozent wurde die<br />
Maschine abgestellt. Um 20.40 Uhr öffnete ich mein linkes<br />
Auge um einen Spalt. Alle waren da. Ich konnte gehen. Noch<br />
zwei, drei Atemzüge <strong>–</strong> ich schloss die Augen.<br />
Neunzehnter Akt<br />
Die Tränen des kleinen Eisbären<br />
Wie Batolio seine Abschiedsworte spricht<br />
Stumm liegst du da. Regungslos mit geschlossenen Augen.<br />
<strong>Du</strong> siehst friedlich aus, als wäre dir der schlafende Übergang<br />
vom irdischen Leben in eine neue Dimension sehr<br />
leicht gefallen. <strong>Du</strong> hast viel Blut verloren, es trat kaum eine<br />
Leichenstarre ein.<br />
Selbst ihm Tod hast du, mein lieber Freund Luca, eine ausdrucksstarke<br />
Würde.<br />
Ebenso würdevoll haben deine Mutter Birgit und deine liebgewonnene<br />
Krankenschwester Margret dich gewaschen<br />
und umgezogen.<br />
Jetzt liegst du auf dem Rücken mit dem Kopf zu deiner<br />
geliebten rechten Seite.<br />
Deine farbenfrohe Wolldecke umhüllt deinen Körper bis<br />
zum Sternum, die Arme liegen entspannt nach außen. Deine<br />
rechte Hand umfasst die gelbe Lucaente mit dem orange<br />
farbigen Halstuch. Deine linke Hand umfasst das Kirschkernkissen.<br />
In deiner rechten Armbeuge befindet sich eine<br />
Rassel. Die Schneckenspieluhr von Patenonkel Gottfried<br />
blickt vom Kopfende auf dein Gesicht herab. Aus dem CD-<br />
Player ertönt deine Lieblingsmusik.<br />
Dann herrscht Stille im Raum.<br />
Am folgenden Morgen benachrichtigen wir den Bestatter,<br />
bitten ihn darum, dich bis einschließlich Dienstag nachmittag<br />
bei uns behalten zu dürfen.<br />
165
166<br />
Am Mittwoch wollen wir dich feierlich beisetzen, dich auf die<br />
letzte Reise in das Paradies schicken.<br />
Vater Wolfgang und Margret kleiden dich festlich für diese<br />
Reise zurecht.<br />
Etliche Freunde, Großeltern und andere liebe Menschen, die<br />
dich begleitet haben, erweisen dir an deinem Bett die allerletzte<br />
Ehre.<br />
Wir sind traurig, dass du zu früh von uns gegangen <strong>bist</strong>.<br />
Wir sind traurig, dass du deinen zweiten Geburtstag nicht<br />
mehr erleben durftest.<br />
Wir sind traurig, dass wir dich bald nicht mehr sehen.<br />
Wir sind froh, dass du auf deinen Bruder Yorick gewartet hat.<br />
Wir sind froh, dass dein schweres Leiden ein Ende hat.<br />
Wir sind froh, dass deine Seele unsere Räume erhellt und<br />
unsere Herzen erwärmt.<br />
Wir stellten eine große, von unseren guten Freunden Manuela<br />
und Christoph selbst hergestellte Kerze mit dem Schriftzug<br />
deines Namen auf. Die Kerze trägt die Symbole deiner<br />
Kraft, deines Charmes und deines Leidens.<br />
Eine gelbe Sonne, einen Regenbogen und viele Regentropfen.<br />
Am Dienstag nachmittag gegen drei Uhr haben Papa und<br />
der Bestatter deinen Leichnam in deinen kleinen, blauen<br />
Sarg gelegt und aus dem Haus getragen.<br />
Wir sagen leise: „Servus“.<br />
Pia ist am späten Abend des selben Tages zu uns gekommen,<br />
um dich in der Aufbewahrungshalle zu sehen; um<br />
Abschied von dir zu nehmen. Sie hat für dich eine Fortbildungsveranstaltung<br />
in Süddeutschland abgebrochen, hat<br />
sich in den nächsten Zug gesetzt, um noch einmal nahe bei<br />
dir zu sein.<br />
Wir schauen ein letztes Mal auf dich, voller Sehnsucht,<br />
Liebe und Trauer.<br />
Am Tag deiner Abschiedszeremonie zählen wir 85 Personen,<br />
die alle gekommen sind, um dir ein letztes Geleit zu<br />
geben.<br />
Nach Tagen endlosen Regens ist es heute trocken und heiter.<br />
Nach einem beeindruckendem Wortgottesdienst, begleitet<br />
von Orgelmusik und Lisas Flötenspiel, stehen wir vor deinem<br />
Grab, anmutig und traurig in unseren Herzen.<br />
Freunde kommen und trösten deine Eltern mit zärtlichen<br />
Umarmungen.<br />
Wir stehen in einem Ozean voller Tränen.<br />
Auf deinem Grab steht ein tönerner Eisbär. Auf dem dazugehörigen<br />
Trauerflor steht geschrieben:<br />
„Luca <strong>–</strong> stark wie ein Eisbär“<br />
Am späten nachmittag, nachdem die meisten der 25 Trauergäste,<br />
die noch mit zu uns nach Hause gekommen sind, sich<br />
verabschiedet haben, fahren wir mit Papas Eltern nochmals<br />
zu deiner Grabstätte.<br />
Anschließend bringen wir sie zum Bahnhof. Beim Abschied<br />
hat sich der Himmel mit schwarzen Wolken verhangen. Es<br />
fängt an zu regnen.<br />
Als wir vor unserer Wohnung stehen, erscheint uns ein<br />
großer Regenbogen in satt leuchtenden Farben am Horizont.<br />
Wir entzünden deine Kerze und wissen: Es ist geschehen.<br />
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Noch am Abend gehen dein Papa, deine Mama, dein Bruder<br />
Yorick, dein Patenonkel Gottfried und dessen Frau Maria in<br />
das dir so vertraute Restaurant Diogenes. Sie nehmen am<br />
selben Tisch Platz, wo wir mit dir noch eine Woche zuvor<br />
gesessen haben.<br />
<strong>Du</strong> bleibst uns ewig in Erinnerung.<br />
Ich, dein treuer Weg- und Leidensgefährte Batolio, habe mir<br />
vom Specht ein neues Domizil bauen lassen. Es befindet<br />
sich in einem Baum in der Nähe deiner Grabstätte.<br />
Hier werde ich wachen und die Vögel bitten, dir spirituelle<br />
Lieder zu singen.