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Wie funktioniert die Schweiz? Vortrag von ... - Xecutives.net

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<strong>Wie</strong> <strong>funktioniert</strong> <strong>die</strong> <strong>Schweiz</strong>?<br />

<strong>Vortrag</strong> <strong>von</strong> Staatssekretär a.D. Franz Blankart,<br />

gehalten an einem Kundenanlass<br />

der BHF-Bank (<strong>Schweiz</strong>) AG<br />

Zürich, 15. Mai 2008<br />

Der Autor beschreibt vor einem deutschen Publikum das im Ausland und insbesondere in<br />

Deutschland wenig bekannte Funktionieren des schweizerischen Staatssystems und in <strong>die</strong>sem<br />

Zusammenhang das Bankkundengeheimnis und gewisse Aspekte der hiesigen Fiskalität.<br />

Ich bin eingeladen worden, über das Funktionieren der <strong>Schweiz</strong> zu<br />

sprechen. Dies ist ein spannendes Thema, zumal ich <strong>die</strong> Erfahrung<br />

gemacht habe, dass <strong>die</strong> <strong>Schweiz</strong> und ihre Institutionen in Brüssel wie<br />

in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, nicht zuletzt in<br />

Deutschland, kaum verstanden werden. Gerade <strong>die</strong> heutige<br />

Steuerdiskussion zwischen Deutschland und der <strong>Schweiz</strong> zeigt, dass<br />

<strong>die</strong> staatsrechtlichen und staatspolitischen Unterschiede zwischen den<br />

beiden Ländern wenig bekannt sind und deshalb zu<br />

Missverständnissen führen können. 1<br />

Die schweizerische Demokratie beruht auf einer republikanischen und<br />

föderalistischen Verfassung und umfasst eine kollegiale Koalitions-<br />

Exekutive als Staatsoberhaupt, ein Zweikammersystem, eine<br />

dreistufige Justiz sowie <strong>die</strong> dem Volk zustehende Möglichkeit, mit<br />

einer Initiative, Verfassungsvorschläge einzubringen, sowie das<br />

1 s. hierzu den vortrefflichen Artikel <strong>von</strong> Robert Nef: "Grüezi wohl Frau Merkel!“ in: Frankfurter Allgemeine<br />

Sonntagszeitung, Nr. 17 v. 27.04.2008, S. 15<br />

1


Recht, über Verfassungsänderungen und neue Gesetze abzustimmen.<br />

Viele Fragen sind allzu umstritten, als dass sie gleich schon auf<br />

Bundesebene gelöst werden könnten. Die <strong>Schweiz</strong>er ziehen es vor,<br />

erst auf tieferer föderaler Ebene Erfahrungen zu sammeln und alsdann,<br />

wenn <strong>die</strong> Vorteile zu überwiegen scheinen, ein Bundesgesetz<br />

anzustreben. Sie verstehen den Föderalismus als Laboratorium, in<br />

welchem neue Ideen auf kostengünstige Weise ausprobiert werden<br />

können. Dass das direkt-demokratische und föderale System nicht<br />

fehlerfrei <strong>funktioniert</strong>, versteht sich <strong>von</strong> selbst. Es kommt darauf an:<br />

„compared to what?“ – und <strong>von</strong> den vorgeschlagenen Alternativen<br />

haben sich <strong>die</strong> <strong>Schweiz</strong>erinnen und <strong>Schweiz</strong>er bisher nicht überzeugen<br />

lassen.<br />

Dass sich <strong>die</strong> Kollegialität der Regierung, der Föderalismus und <strong>die</strong><br />

direkte Demokratie gegenseitig bedingen, ist bekannt, ebenso der<br />

Umstand, dass ein Regierungsmitglied <strong>von</strong> seinen politischen Gegnern<br />

gewählt wird, da keine Partei <strong>die</strong> absolute Mehrheit innehat. Die<br />

Staatsleitungsreform wird seit 30 Jahren erfolglos diskutiert;<br />

insbesondere <strong>die</strong> Zahl der Minister und Staatssekretäre ist (nicht<br />

zuletzt aus Kostengründen) umstritten, so auch <strong>die</strong> Europa-Frage.<br />

Auch ist klar, dass <strong>die</strong> Neutralität vor allem der innenpolitischen<br />

Kohäsion <strong>die</strong>nt. All <strong>die</strong>s sind Tatsachen, vielleicht auch Mythen,<br />

jedenfalls Dogmen, <strong>von</strong> denen sich <strong>die</strong> <strong>Schweiz</strong>erinnen und<br />

<strong>Schweiz</strong>er nur ungern abbringen lassen.<br />

2


Die <strong>Schweiz</strong>, so wird behauptet, habe <strong>die</strong> beste Demokratie der Welt.<br />

Ob <strong>die</strong>s zutrifft, vermag ich nicht zu beurteilen, wiewohl ich 33 Jahre<br />

in <strong>die</strong>sem System gearbeitet habe. Folgendes kann jedenfalls<br />

festgehalten werden: Im schweizerischen Staatssystem entspricht - im<br />

Vergleich zu einer Aktiengesellschaft - das Volk der<br />

Aktionärsversammlung, das Parlament dem Verwaltungsrat, der<br />

Bundesrat der Firmenleitung und <strong>die</strong> Verwaltung dem Personal. Der<br />

<strong>Schweiz</strong>er Pass stellt gewissermaßen eine Stimmrechtsaktie dar.<br />

Die Hauptunterschiede zwischen der Eidgenossenschaft und einer<br />

Aktiengesellschaft liegen in vier Tatbeständen.<br />

- Erstens kann in einer direkten Demokratie das Volk sehr viel<br />

stärker in Entscheide des Parlaments eingreifen, als <strong>die</strong>s einer<br />

Generalversammlung in Bezug auf Beschlüsse des<br />

Verwaltungsrates möglich ist.<br />

- Zweitens können bei einer AG im Unterschied zum Staat<br />

Stimmrechte, d.h. Eigentumsrechte dazugekauft werden.<br />

Demgegenüber ist der Staat genossenschaftlich konstituiert.<br />

- Drittens kann ein demokratischer Staat formal nicht in<br />

Konkurs gehen und zu existieren aufhören. Aber er kann<br />

insolvent werden wie beispielsweise <strong>die</strong> Gemeinde Leukerbad<br />

im Kanton Wallis, <strong>die</strong> nach einem Investitionsrausch mit ihren<br />

3


1400 Einwohnern CHF 350 Mio Schulden verbucht hat und<br />

dann im Jahr 1998 zahlungsunfähig geworden ist. Das<br />

Nachsehen hatten schließlich <strong>die</strong> Gläubiger, <strong>die</strong> ihr geliehenes<br />

Geld verloren haben und seither genau prüfen, welcher<br />

Gebietskörperschaft sie zu welchem Zins Geld leihen. Auch das<br />

ist eine gute Lehre dank Föderalismus.<br />

- Und viertens können Parlamentsmitglieder und Minister für<br />

ihre Amtsführung in der Regel nicht vor Gericht verklagt<br />

werden. Immerhin wurde der Bürgermeister <strong>von</strong> Leukerbad für<br />

einige Jahre ins Gefängnis gesteckt. Der damalige Vorsteher des<br />

EFD wurde beinahe gerichtlich belangt, weil er dreimal unfähige<br />

Parteigenossinnen zu Direktorinnen der Eidgenössischen<br />

Versicherungskasse berufen hat. 2<br />

Die direkte Demokratie ist eine geniale Erfindung. Sie erlaubt es, <strong>die</strong><br />

permanente Revolution in verfassungsrechtliche Bahnen zu lenken,<br />

<strong>die</strong> Bürgerin und den Bürger an der Macht und an der Verantwortung<br />

teilhaben zu lassen und damit an den Staatsgeschäften zu<br />

interessieren. Obwohl man es nicht zugeben will, überfordert <strong>die</strong><br />

direkte Demokratie jedoch vielfach <strong>die</strong> Stimmbürgerschaft: Ich<br />

verstehe nichts <strong>von</strong> Atomphysik, musste aber dennoch über<br />

Kernkraftwerke abstimmen. Ich verstehe nichts <strong>von</strong> Biologie, musste<br />

aber dennoch über <strong>die</strong> Zulassung der Gentechnologie abstimmen. Ich<br />

2 Vgl. hierzu Etienne Grisel: La responsabilité patrimoniale des Conseillers fédéraux, in : Revue de droit<br />

administratif et de droit fiscal, no 2, mai 1998, p. 113<br />

4


kenne nur zehn Personen in der <strong>Schweiz</strong>, welche <strong>die</strong> 784 Seiten des<br />

Vertrages über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gelesen<br />

und im Detail begriffen haben; dennoch wurde über ihn abgestimmt.<br />

Dies öff<strong>net</strong> dem Populismus Tür und Tor.<br />

Doch wiederum ist <strong>die</strong> Frage zu stellen: „compared to what?“<br />

Welcher deutsche oder französische Parlamentarier hat <strong>die</strong> 400 Artikel<br />

des Vertrags <strong>von</strong> Lissabon gelesen? Wer ist nicht auf <strong>die</strong> Finte<br />

reingefallen, dass das Europäische Parlament unter dem neuen Vertrag<br />

weniger Rechte hat als unter dem Vertrag <strong>von</strong> Nizza? In der <strong>Schweiz</strong><br />

müssen Politiker <strong>die</strong> Materie den Bürgern klar machen – was nicht<br />

zuletzt den Vorteil hat, dass sie sich selber über sie informieren<br />

müssen.<br />

Das allgemeine Stimmrecht – one person one vote – ist <strong>die</strong> Basis der<br />

Demokratie. Hierin unterscheidet sich <strong>die</strong> republikanische Staatsform<br />

<strong>von</strong> einer Aktiengesellschaft, aber auch <strong>von</strong> der vorrevolutionären<br />

Aristokratie, <strong>die</strong> der Wohlgeborenheit Vorrechte einräumte, vom<br />

nachrevolutionären Staat, in dem das Stimmrecht an Besitz und<br />

Bildung geknüpft war, <strong>die</strong>s ähnlich der griechischen Timokratie, <strong>die</strong><br />

jenen Vorrechte einräumte, <strong>die</strong> sich für den Staat besonders ver<strong>die</strong>nt<br />

gemacht und erhebliche Steuern bezahlt haben. Das allgemeine<br />

Stimmrecht hat jedoch den Nachteil, dass auch jene über <strong>die</strong><br />

Ausgaben mitbestimmen, <strong>die</strong> nichts zu den Einnahmen beitragen.<br />

Hierin liegt <strong>die</strong> Ursache unserer Defizite. „Keine Steuergeschenke an<br />

5


<strong>die</strong> Reichen“ ist ein Postulat, das im Munde jener, <strong>die</strong> keine Steuern<br />

zahlen, schamlos tönt. Dennoch wäre es grundfalsch, das Stimmrecht<br />

nur den Steuerzahlern zuzubilligen, nicht aber den Unbemittelten.<br />

Denn das Stimm- und Wahlrecht ist ein Grundrecht, und ich ginge<br />

sogar einen Schritt weiter und würde, im Sinne des Basler<br />

Philosophen Hans Saner, auch den Kindern ein Stimmrecht gewähren,<br />

das bis zum 16. oder 18. Altersjahr <strong>von</strong> den Eltern ausgeübt würde.<br />

Dies wäre zudem mit Blick auf <strong>die</strong> Überalterung unserer Bevölkerung<br />

sinnvoll.<br />

Schließlich ein Wort zur Haftung unserer Bundesrats- und<br />

Parlamentsmitglieder. In seinem Brief vom 29. Januar 2001 an den<br />

ehemaligen Swissair-Manager Moritz Suter hat der Basler Advokat<br />

Peter Böckli einen Satz geschrieben, der mich nicht mehr loslässt,<br />

nämlich: „Deine Macht geht nicht gleich weit wie Deine Haftung.“ 3<br />

Bei den Politikern liegt <strong>die</strong> Situation gerade umgekehrt. Ihre Macht ist<br />

beträchtlich, ihre Haftung praktisch gleich Null. <strong>Wie</strong>so kann das<br />

Parlament für seine Schuldenwirtschaft praktisch nicht zur<br />

Rechenschaft gezogen werden? Der Fall Leukerbad ist hierbei eine<br />

wohltuende Ausnahme.<br />

Diese Schuldenwirtschaft betrifft insbesondere unsere Sozialwerke<br />

(AHV, IV, ALV und das Asylantenwesen). Die meist sozialistischen<br />

oder grünen Verantwortungsträger haben in <strong>die</strong>sen Bereichen anderer<br />

3 Ernst & Young: Untersuchungsergebnisse in Sachen Swissair, Zürich 2003, S. 355<br />

6


Leute Geld verteilt, das uns mittelfristig gar nicht zur Verfügung steht,<br />

und damit den Vorwand für höhere Steuern geschaffen. Es war <strong>die</strong>s<br />

der Grund für den etwas gehässigen Wahlkampf, den wir letztes Jahr<br />

erlebt haben. Dies erklärt auch dessen Ergebnis. Die Sozialisten hatten<br />

außer Umverteilung nichts anzubieten, <strong>die</strong> FDP (deren Mitglied ich<br />

bin) und <strong>die</strong> CVP propagierten, wie gehabt, <strong>die</strong> Deregulierung bzw.<br />

<strong>die</strong> Familienförderung, während <strong>die</strong> SVP und der damalige Bundesrat<br />

Blocher das aussprachen, was der Mann und <strong>die</strong> Frau <strong>von</strong> der Strasse<br />

fühlten, ohne es artikulieren zu können (Selbstverantwortung,<br />

Sicherheit vor illegal eingewanderten Kriminellen, Schuldenabbau,<br />

Abbau der Bürokratie, etc.). Die SVP ist nicht faschistisch; sie ist<br />

vielmehr eine demokratische Kleinbürger-Partei.<br />

Ein Wort zum Föderalismus: Im Vergleich mit dem deutschen<br />

Föderalismus weist der schweizerische Föderalismus einen ganz<br />

entscheidenden Unterschied auf: Unsere Kantone und Gemeinden<br />

verfügen über <strong>die</strong> Finanzautonomie in Bezug auf ihre Ausgaben und<br />

Einnahmen. Über <strong>die</strong> Steuern des Bundes, der Kantone und der<br />

Gemeinden stimmt das jeweils betroffene Volk in drei getrennten<br />

Urnengängen ab. Zudem können Gemeinderäte und<br />

Kantonsregierungen nach vier Jahren abgewählt werden, falls sie zu<br />

viel Geld ausgeben. Damit wird dem Fiskalkartell der Politiker ein<br />

Riegel geschoben, und <strong>die</strong> Steuerkonkurrenz zwischen den Kantonen<br />

und zwischen den Gemeinden wird gefördert. Die deutsche<br />

7


Föderalismusreform 4 wird nirgends hinführen, solange den Ländern<br />

und den Gemeinden <strong>die</strong> volle Finanz- und Fiskalbefugnis verweigert<br />

wird.<br />

Wohl gibt es in der <strong>Schweiz</strong> einen Finanzausgleich zwischen reichen<br />

und armen Kantonen und innerhalb des Kantons zwischen reichen und<br />

armen Gemeinden. Aber selbst unter Einbezug <strong>die</strong>ses<br />

Finanzausgleichs sind <strong>die</strong> Fiskalunterschiede beträchtlich: Bei einem<br />

schweizerischen Mittel <strong>von</strong> 100 Punkten ist <strong>die</strong> gesamte Belastung<br />

durch Einkommens-, Vermögens-, Unternehmens- und<br />

Motorfahrzeugsteuern im Kanton Zug mit 52,4 Punkten am geringsten<br />

und im Nachbar-Kanton Uri mit 137,8 Punkten am höchsten.<br />

Der Steuerwettbewerb ist gewiss positiv zu beurteilen. Er übt einen<br />

steten Druck auf <strong>die</strong> Steuern <strong>von</strong> Kantonen und Gemeinden aus, ohne<br />

dass <strong>die</strong> Qualität öffentlicher Dienstleistungen bislang zurückgefallen<br />

wäre. Mancherorts scheint sogar der sogenannte Laffer-Effekt zu<br />

wirken, wonach <strong>die</strong> Steuereinnahmen bei niedrigeren Sätzen steigen,<br />

weil ein geringerer Anreiz besteht, in <strong>die</strong> Schattenwirtschaft oder gar<br />

in <strong>die</strong> Kriminalität abzuwandern.<br />

Viele Steuerzahler stimmen mit den Füßen ab. So haben Vorschläge<br />

<strong>von</strong> revolutionären Fiskalromantikern, sogenannte Reichtumssteuern<br />

einzuführen, zur Folge, dass <strong>die</strong> wirklich reichen Personen mit<br />

4 s. Charles B. Blankart : Föderalismus in Deutschland und in Europa, Baden-Baden, 2007<br />

8


Zweitwohnsitzen vorsorgen, um ihr Steuerdomizil kurzfristig<br />

verschieben zu können. Allein, der Verlust an Steuersubstrat ist<br />

sozialpolitisch bedenklicher als eine gewisse Art <strong>von</strong><br />

Einkommensdisparitäten.<br />

All <strong>die</strong>s will leider nicht besagen, dass wir in der <strong>Schweiz</strong> kein<br />

Schuldenproblem hätten. Die Steuerdiskussion wird nach dem links-<br />

rechts Schema geführt. Solange unser Staat nicht bankrott gehen kann,<br />

wird Geld ausgegeben, das wir gar nicht haben. Sich unproduktiv zu<br />

verschulden, ist Symptom eines schlechten Charakters, ist eigentlicher<br />

Diebstahl, ein Zeichen <strong>von</strong> Dekadenz. Die gegenwärtige Staatsschuld<br />

<strong>von</strong> Bund, Kantonen und Gemeinden beträgt CHF 246 Mia. Dies<br />

ergibt jährliche Zinszahlungen <strong>von</strong> CHF 5 Mia. Während der Dauer<br />

meines <strong>Vortrag</strong>es zahlen wir bereits CHF ½ Million Schuldzinsen.<br />

Wir verbrauchen <strong>die</strong> Ersparnisse unserer Großeltern und verschulden<br />

uns zu Lasten unserer Großkinder. Mit solch einem Verhalten würde<br />

ein Unternehmer im Gefängnis enden. Wohl gibt es zahlreiche<br />

verantwortungsvolle Parlamentsmitglieder, <strong>die</strong> <strong>die</strong>s einsehen und<br />

bekämpfen und <strong>die</strong> alsdann aber in den Wahlen vielfach verlieren. Es<br />

gibt aber auch (im Unterschied zu Deutschland...) opportunistische<br />

Parlamentsmitglieder, <strong>die</strong> Geld verteilen, um wieder gewählt zu<br />

werden, <strong>die</strong>s vielfach mit gutem persönlichen Erfolg.<br />

Allein, jeder umverteilte Franken ist nach der Umverteilung noch 50<br />

Rappen wert, weil <strong>die</strong> Umverteilung 50 Rappen kostet. Wenn unsere<br />

9


Parlamentsmitglieder wie <strong>die</strong> Genfer Privatbanquiers mit ihrem<br />

Privatvermögen für <strong>die</strong> <strong>von</strong> ihnen generierten Schulden unbeschränkt<br />

haften müssten, wäre unser Staatsdefizit im Nu amortisiert... Dennoch<br />

ist <strong>die</strong> Lage weniger alarmierend als in gewissen andern europäischen<br />

Staaten; <strong>die</strong>s ist dem föderalistischen Steuersystem, dem<br />

Steuerwettbewerb und der nicht grundsätzlich ausgeschlossenen<br />

Insolvenzerklärung einer Gebietskörperschaft zu Lasten der Gläubiger<br />

zu verdanken (z.B. in Leukerbad oder in den Kantonen).<br />

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich wohne in einer Ortschaft, in der ich<br />

über den Bau einer Umfahrungsstrasse, aber auch über <strong>die</strong> Höhe der<br />

Gemeindesteuern abstimmen kann. Falls ich mich in der<br />

Gemeindeversammlung oder an der Urne für <strong>die</strong> Umfahrungsstrasse<br />

ausspreche, nehme ich in Kauf, konsequenterweise auch für höhere<br />

Steuern stimmen zu müssen – und umgekehrt. Es gibt eine direkte<br />

Ursache der vom Stimmbürger beschlossenen Ausgaben und den <strong>von</strong><br />

ihm zu bezahlenden Steuern. Steuern sind Preise für staatliche<br />

Leistungern. 5 Und weil der Bürger über <strong>die</strong> Höhe der Steuern<br />

abstimmt, ist <strong>die</strong> Steuerredlichkeit relativ hoch. Dies wiederum<br />

rechtfertigt den Personenschutz des Bankkundengeheimnisses. Es ist<br />

der Bürger, der <strong>die</strong> Regierung kontrolliert, nicht umgekehrt.<br />

5<br />

Charles B. Blankart : Steuern als Preise, in: <strong>Schweiz</strong>erische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Vol.<br />

138, Nr. 1, 2002, S 19-38<br />

10


In Deutschland ist das anders: Ein Millionär in München und ein<br />

Millionär in Berlin zahlen m.W. gleich hohe Steuern. Die<br />

Steuergerechtigkeit wird durch <strong>die</strong> Steuergleichheit bewerkstelligt,<br />

was auch immer <strong>die</strong> lokalen Bedürfnisse in Bayern oder in Berlin sein<br />

mögen, während bei uns <strong>die</strong> Steuergerechtigkeit <strong>von</strong> der<br />

Ausgabendisziplin des jeweiligen Parlaments abhängt.<br />

Diese Konzeptionsunterschiede zwischen Deutschland und der<br />

<strong>Schweiz</strong> sind letztlich geschichtlich bedingt. Die <strong>Schweiz</strong> ist<br />

entstanden, indem sich unabhängige Dörfer, Städte und Talschaften<br />

allmählich zu einem Staat vereinigt haben, ohne ihre Grundfreiheiten<br />

aufzugeben. Deshalb der induktive Föderalismus. Bismarcks Reich<br />

hat den deutschen Teilstaaten noch recht viel Selbständigkeit belassen.<br />

Die m.E. ungesunde Zentralisierung ist erst mit der Weimarer<br />

Republik entstanden und nach dem 2. Weltkrieg leider nicht gelockert<br />

worden.<br />

Schließlich ein Wort zum Bankkundengeheimnis. Das schweizerische<br />

Bankkundengeheimnis ist im tiefverwurzelten Bedürfnis der<br />

Bürgerschaft begründet, <strong>die</strong> Privatsphäre vor der Neugierde des<br />

Staates und Dritter zu schützen. Es ist nicht das Geschäftsgeheimnis<br />

der Bank, sondern der Personenschutz des Kunden, der Gegenstand<br />

der entsprechenden Gesetzesvorschrift ist. Das Bankkundengeheimnis<br />

ist so legitim wie das Klientengeheimnis eines Rechtsanwalts, das<br />

Beichtgeheimnis des Priesters und das Patientengeheimnis des Arztes.<br />

Dies deshalb, weil <strong>die</strong> auf einem Konto oder Depot dargestellten Ein-<br />

11


und Ausgänge recht präzise das Privatleben und <strong>die</strong> Geschäftstätigkeit<br />

des Kunden widerspiegeln, was bei Offenlegung <strong>von</strong> Unbefugten<br />

ausgebeutet werden könnte und den Staat jedenfalls nichts angeht.<br />

Denn wenn jemand – ein Beamter oder ein Dritter – gegebenenfalls<br />

befugt ist, zu schnüffeln, dann tut er es in der Regel auch, wie <strong>die</strong><br />

verschiedenen Abhörskandale der Vergangenheit zur Genüge<br />

bewiesen haben.<br />

Basis des Bankkundengeheimnisses ist <strong>die</strong> ordnungspolitische<br />

Rollenverteilung zwischen Staat und Bürger. Der Staat hat unter<br />

Wahrung der sozialen Gerechtigkeit und des Ordre public günstige<br />

Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer sich das<br />

wirtschaftlich tätige Individuum unter voller Übernahme seiner<br />

ethischen Verantwortung entfalten kann. Das Bankkundengeheimnis<br />

schützt jedoch in keiner Weise das organisierte Verbrechen, <strong>die</strong><br />

Geldwäscherei und den Steuerbetrug.<br />

Umgekehrt obliegt es dem Bürger und der Bürgerin, <strong>die</strong><br />

Steuererklärung vorschriftsgemäss auszufüllen. Die Bank ist für das<br />

moralische Verhalten des Kunden nicht verantwortlich und bietet<br />

somit nicht Hand zur staatlichen Kontrolle der Steuerhinterziehung.<br />

Sie ist nur bei Steuerbetrug, Geldwäscherei oder Verbrechen zur<br />

Auskunft verpflichtet. Die Bank gibt sich weder der Anstiftung zur<br />

Steuerhinterziehung hin, noch ist sie befähigt oder gar verpflichtet,<br />

den Kunden zur korrekten Steuerdeklaration anzuhalten. Sie verwahrt<br />

und verwaltet lediglich <strong>die</strong> ihr anvertrauten Vermögenswerte, nicht<br />

12


mehr und nicht weniger. Überlässt der Kunde <strong>die</strong> Erledigung seiner<br />

Steuerangelegenheiten der Bank, so vollzieht sie <strong>die</strong>se<br />

gesetzeskonform; <strong>die</strong>s allerdings nur so weit, als der Kunde ihr <strong>die</strong><br />

einschlägigen Informationen liefert. Die kaufmännische<br />

Sorgfaltspflicht der Bank und <strong>die</strong> individuelle Steuerpflicht des<br />

Bürgers zu vermischen, würde zu fatalen negativen<br />

Kompetenzkonflikten und zu unklaren Verantwortlichkeiten führen.<br />

Dies schließt nicht aus, dass <strong>die</strong> Bank zu einer eingehenden<br />

Abklärung über <strong>die</strong> Herkunft der Kundengelder verpflichtet ist. Dies<br />

ist Teil ihrer Sorgfaltspflicht. „Know your customer“ ist somit das<br />

erste Gebot des Banquiers. Die Bank tut <strong>die</strong>s übrigens auch im<br />

eigenen Interesse, da es ihrem Ruf abträglich ist, negative<br />

Schlagzeilen zu produzieren.<br />

Schließlich sei beigefügt, dass in der <strong>Schweiz</strong> keine anonymen Konten<br />

bestehen. Die Namen der Inhaber <strong>von</strong> Nummernkonten sind bekannt,<br />

allerdings nur einem kleinen Kreis <strong>von</strong> Personen innerhalb der Bank.<br />

In Bezug auf das Bankkundengeheimnis gibt es zwischen Nummern-<br />

und normalen Konten keine Unterschiede.<br />

In Bezug auf <strong>die</strong> Nichtdeklaration und <strong>die</strong> einfache<br />

Steuerhinterziehung hat es der schweizerische Gesetzgeber<br />

vorgezogen, <strong>die</strong>se Tatbestände nicht zu kriminalisieren und damit eine<br />

Partnerschaft zwischen Bürger und Staat, statt deren Polarisierung zu<br />

13


fördern. Die genannten Tatbestände werden nicht einem<br />

strafrechtlichen Verfahren, sondern einer Verwaltungsprozedur<br />

unterworfen. Mit anderen Worten wird bei Nichtdeklaration <strong>die</strong><br />

Verrechnungssteuer <strong>von</strong> 35% zurückbehalten, und bei Aufdeckung<br />

der Steuerhinterziehung wird nebst Nachsteuern eine Fiskalbusse<br />

erhoben. Der Bürger (wie übrigens auch der Fiskalbeamte) kann sich<br />

irren; er soll seinen Fehler alsdann ohne viel Aufhebens korrigieren.<br />

Diese Partnerschaft zwischen Bürger und Staat ist für den Staat<br />

fiskalisch gesehen rentabler als <strong>die</strong> Kriminalisierung der geringsten<br />

Steuerhinterziehung durch ein teures und Misstrauen schaffendes<br />

Regime einer Fiskalpolizei.<br />

Zudem wäre es unverhältnismäßig, das Geldwäscherei-Recht auf <strong>die</strong><br />

Verletzung <strong>von</strong> Steuergesetzen auszudehnen. Denn es besteht ein<br />

fundamentaler Unterschied zwischen Geldwäscherei und<br />

Steuerhinterziehung. Bei der Geldwäscherei geht es darum, <strong>die</strong><br />

kriminelle Herkunft <strong>von</strong> Geldern zu vertuschen, während im Falle der<br />

Steuerhinterziehung Einkünfte aus legaler Tätigkeit verschwiegen<br />

werden. Beide Tatbestände in gleicher Weise zu ahnden, hätte<br />

kontraproduktive Auswirkungen auf den Kampf gegen <strong>die</strong><br />

Geldwäscherei. Die Offshore-Standorte, welche in <strong>die</strong>sem Bereich<br />

eine weniger strenge Gesetzgebung kennen als <strong>die</strong> <strong>Schweiz</strong>, würden<br />

durch eine Aufweichung des Bankkundengeheimnisses zusätzliche<br />

Attraktivität gewinnen, was den Anstrengungen der internationalen<br />

Gemeinschaft im fokussierten Kampf gegen <strong>die</strong> Kriminalität<br />

zuwiderlaufen müsste.<br />

14


Jedenfalls ist der steuerliche Aspekt des Bankkundengeheimnisses<br />

nicht das Problem des Banquiers. Er ist rechtlich für <strong>die</strong>sen Aspekt gar<br />

nicht kompetent und sollte sich nicht in eine Diskussion über ihn<br />

einlassen. Für ihn ist das Bankkundengeheimnis einzig und allein eine<br />

Frage der „Privacy“. Der Fiskalaspekt ist Sache der Fiskalbehörden.<br />

Die Befugnis, Steuern zu erheben, ist ein demokratisch ausgeübtes<br />

Souveränitätsrecht, das weder <strong>von</strong> der Gesetzgebung eines<br />

Drittstaates, noch <strong>von</strong> Privaten, etwa Banquiers, legitimerweise in<br />

Frage gestellt werden kann. Entsprechend ist, wie gesagt, <strong>die</strong><br />

Anstiftung zur Steuerflucht verpönt. Umgekehrt hat in einem<br />

Rechtsstaat jede Bürgerin und jeder Bürger das Recht, das Domizil ins<br />

Ausland zu verlegen oder <strong>die</strong> Steuern zumindest zu optimieren. In der<br />

Dialektik <strong>von</strong> Besteuerungsbefugnis des Staates und<br />

Fiskaloptimierung des Steuerpflichtigen liegen <strong>die</strong> gesunden<br />

Spielräume des Steuerwettbewerbs. Dieser Wettbewerb hält den Staat<br />

dazu an, seine Fiskalpolitik mit Vernunft zu formulieren, was<br />

budgetpolitisch und makroökonomisch auf jeden Fall rentabler ist, als<br />

<strong>die</strong> Erhebung unverhältnismäßiger Steuern.<br />

Was wäre <strong>die</strong> Folge einer OECD-weiten Abschaffung des<br />

Bankkundengeheimnisses? Ein technologisch gut ausgerüsteter Staat<br />

oder eine entsprechend ausgerüstete Personengruppe kann heute schon<br />

weite Teile des Privatlebens einer Person durchleuchten. Wenn Sie in<br />

den USA mit einer Kreditkarte eine Stange Zigaretten kaufen, erfährt<br />

der Computer Ihrer Lebensversicherung <strong>die</strong>se Transaktion innerhalb<br />

15


einer Sekunde. Der „brave new world“ hat schon längst begonnen.<br />

Selbst wenn ein Mensch nichts zu verbergen hat, ist ihm in einem<br />

Rechtsstaat <strong>die</strong> Privatsphäre, z.B. jene seiner finanziellen<br />

Angelegenheiten, zu gewährleisten, sonst wird ihm schon jede<br />

Erwägung in eine böse Absicht umgemünzt. Dies liegt eindeutig nicht<br />

im allgemeinen Interesse, selbst wenn hierbei einige Steuerfranken<br />

verloren gehen.<br />

Der Fortschritt der globalisierten Technologie im Finanzbereich wird<br />

mit ihren „special purpose vehicles“ den Steuerbehörden stets um<br />

einige Längen voraus sein. Dies ist jedoch kein Grund, dem Staat <strong>die</strong><br />

Mittel in <strong>die</strong> Hand zu geben, das Finanzgebaren der Bürgerschaft zu<br />

überwachen. Sonst zahlen wir am Schluss vermehrte Steuern, um dem<br />

Staat zu ermöglichen, uns beim vermehrten Steuerzahlen zu<br />

überwachen. Die liberale Demokratie würde im Interesse des Fiskus<br />

leicht totalitäre Züge annehmen. Der Herzog <strong>von</strong> Otrante, alias Joseph<br />

Fouché, lässt grüßen.<br />

Es ist vielmehr Aufgabe des Staates, mit einer vernünftigen Haushalts-<br />

und Steuerpolitik ein partnerschaftliches Vertrauensverhältnis zum<br />

Bürger zu schaffen und damit dessen Aufrichtigkeit zu fördern. Es ist<br />

ja der Staat, der dem Bürger und der Bürgerin zu <strong>die</strong>nen hat, nicht<br />

umgekehrt.<br />

Dies bedingt jedoch bei Banken und Finanzgesellschaften eine noch<br />

vergrößerte Vorsicht bei der Entgegennahme <strong>von</strong> Geldern. Es ist eine<br />

Illusion, zu glauben, dass sich auf einem Finanzplatz <strong>von</strong> der<br />

16


Bedeutung des unsrigen nur engelhafte Kunden bewegen. Wir sind<br />

nicht besser und nicht schlechter als Frankfurt, London und New<br />

York. Und auch der Umstand, dass bei uns Geldwäscher aufgedeckt<br />

werden, stört mich nicht sonderlich, weil <strong>die</strong>s beweist, dass unsere<br />

Gesetze – im Gegensatz zu jenen in andern Ländern – greifen. Der<br />

beschriebene Umstand hat aber dennoch zur Folge, dass ihn gewisse<br />

Parlamentarier und gefitzte Regierungen im Ausland zum Vorwand<br />

nehmen, das Bankkundengeheimnis trotz seiner Kautelen unter<br />

Beschuss zu nehmen. Die Stärke des schweizerischen Finanzplatzes<br />

liegt jedoch – glücklicherweise – nicht im Bankkundengeheimnis,<br />

sondern in der Qualität seiner Dienstleistungen. Die BHF Bank<br />

(<strong>Schweiz</strong>) AG ist hierfür ein treffliches Beispiel.<br />

Kommen wir zurück zum eigentlichen Kernproblem der<br />

schweizerischen Demokratie: Über intelligent konzipierte<br />

Institutionen zu verfügen, ist Eines, in ihnen intelligente Entscheide zu<br />

fällen, ist ein Anderes. <strong>Wie</strong> immer kommt es auf <strong>die</strong> Menschen an, <strong>die</strong><br />

in den Institutionen tätig werden: auf das Volk, das Parlament, den<br />

Bundesrat, <strong>die</strong> Verwaltung. Wir haben angeblich <strong>die</strong> beste Demokratie<br />

der Welt; doch ist auch sie unfähig, <strong>die</strong> vergleichsweise geringe<br />

Schuldenwirtschaft zu beenden. Dies ist nicht der Fehler der<br />

Demokratie, sondern der Fehler jener, <strong>die</strong> sie zur eigenen<br />

Bequemlichkeit, zur eigenen Bereicherung, zur eigenen<br />

Machterhaltung missbrauchen.<br />

17


Bei uns geht, wie in Deutschland (Art. 20, Abs 2 GG), <strong>die</strong> Macht vom<br />

Volke aus, vom sogenannten Souverän. <strong>Wie</strong> jeder Souverän hat das<br />

Volk immer Recht, selbst wenn es sich täuscht. Ich sage bewusst: vom<br />

Volke ausgehen. Wer <strong>die</strong> Macht ausübt, ist im Rahmen der<br />

verfassungsmäßigen Schranken jedoch ein permanenter dialektischer<br />

Prozess. Wenn Wissen Macht ist, übt <strong>die</strong> Verwaltung eine erhebliche<br />

Macht aus. Wenn Meinungsbildung Macht ist, üben <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n und<br />

<strong>die</strong> Parteien Macht aus. Wenn Macht Entscheidungsbefugnis ist, üben<br />

Bundesrat, Parlament und Gerichte, letztlich das Volk Macht aus.<br />

Unser System der Machtaufteilung ist für <strong>die</strong> Innenpolitik und für das<br />

finanzielle Frühjahreswetter perfekt. Wenn wir jedoch mit<br />

Herausforderungen <strong>von</strong> außen oder mit Budget-Defiziten konfrontiert<br />

werden, ist unsere Verfassungsordnung nicht optimal, weil wir<br />

systembedingt unfähig sind, zeitgerecht Prioritäten zu setzen. Folglich<br />

ist niemand verantwortlich, und praktisch niemand kann zur<br />

Verantwortung gezogen werden. Dies ist <strong>die</strong> Hauptschwäche unseres<br />

Systems, der Grund auch seiner Langsamkeit. Hierin liegt auch <strong>die</strong><br />

Ursache für den Umstand, dass wir unsere Fehler wiederholen.<br />

Allein, nicht nur <strong>die</strong> Haftung der Staatsorgane ist gering. Gering ist<br />

auch <strong>die</strong> Bereitschaft, <strong>die</strong> Folgen für einen selbst verschuldeten<br />

Fehlentscheid zu tragen.<br />

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Ich gebe hierzu ein Beispiel: Der EWR enthält in Art. 4 eine<br />

allgemeine Nichtdiskriminierungsklausel. Im Unterschied zum EWR<br />

enthält das bilaterale Luftverkehrsabkommen in seinem Artikel 3 bloß<br />

eine Vorschrift, welche <strong>die</strong> Gleichbehandlung der Fluggesellschaften,<br />

nicht aber der Flughäfen vorschreibt. Anders ausgedrückt: Mit dem<br />

EWR müsste Deutschland wegen der allgemeinen Nicht-<br />

Diskriminierungsklausel <strong>die</strong> Flüge nach und <strong>von</strong> Kloten gleich<br />

behandeln, wie <strong>die</strong> An- und Abflüge in München, Frankfurt etc. Auf<br />

Grund des bilateralen Vertrages besteht hierfür keine<br />

Rechtsgrundlage. Kein Zürcher, der gegen den EWR gestimmt hat,<br />

darf sich über den Fluglärm beklagen. Er ist an <strong>die</strong>sem selber schuld.<br />

Jeder emotionale Entscheid hat eben seinen Preis, in <strong>die</strong>sem Fall: in<br />

Bezug auf <strong>die</strong> sinkende Lebensqualität und den sinkenden Wert der<br />

betroffenen Liegenschaften. Man kann nicht – zu Recht – ein<br />

demokratisches Mitbestimmungsrecht fordern und dann <strong>die</strong> Folgen<br />

der Mehrheitsbeschlüsse ablehnen. Vielmehr muss man bereit sein,<br />

<strong>die</strong> Risiken der Demokratie zu tragen. Diese Risiken sind jedenfalls<br />

kleiner als jene einer Diktatur.<br />

Was man 1848 mit unserer Verfassung geschaffen hat, ist dennoch ein<br />

Meisterwerk, das seither mit nur drei wesentlichen Elementen ergänzt<br />

worden ist, nämlich mit der direkten Demokratie, dem Proporz und<br />

der AHV. Diese verfassungsrechtliche Erfolgsgeschichte hat<br />

umgekehrt zur Folge, dass <strong>die</strong> <strong>Schweiz</strong> gegenüber Reformen und<br />

Veränderungen skeptisch eingestellt ist. Alle wesentlichen<br />

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Veränderungen außer der Staatsgründung <strong>von</strong> 1848 sind uns <strong>von</strong><br />

außen aufgedrängt worden, <strong>von</strong> der Neutralität nach der Niederlage<br />

<strong>von</strong> Marignano im Jahre 1515 bis zur heutigen Globalisierung.<br />

Vielleicht werden wir eines Tages zum EU-Betritt gezwungen, statt<br />

<strong>die</strong>ses Thema zum Gegenstand eines freien Willensentscheides zu<br />

machen.<br />

Ein Satz aus der Primarschule ist mir unauslöschlich geblieben; er<br />

stammt m.W. <strong>von</strong> F.A. <strong>von</strong> Hayek oder <strong>von</strong> Karl Popper: Der Vorteil<br />

der Demokratie besteht darin – sagte man uns -, dass man <strong>die</strong><br />

Machtinhaber abwählen kann. Dieser Satz, 1945 im kriegsnahen<br />

Basel mit seiner bombar<strong>die</strong>rten Umgebung ausgesprochen, hat mich<br />

tief geprägt. Nicht <strong>die</strong> Mitgestaltung des Volkes am Staatsgeschehen<br />

stand damals im Zentrum, auch nicht das Mehrparteiensystem oder<br />

<strong>die</strong> christliche Verankerung der Verfassung, sondern <strong>die</strong> Möglichkeit,<br />

einen Verbrecher oder einen Unfähigen an der Staatsspitze mit dem<br />

Stimmzettel, d.h. ohne militärische Intervention <strong>von</strong> außen, ohne<br />

Krieg, aus dem Amt zu stoßen, <strong>von</strong> der Macht zu entfernen. Diese<br />

These hat mit Blick auf Irak nichts an Bedeutung verloren.<br />

Einen Machtinhaber <strong>von</strong> seinem Amt zu entfernen ist bei uns eine<br />

Frage der Parteistärke, nicht der Unfähigkeit des Amtsinhabers oder<br />

der Amtsinhaberin. Es wird <strong>die</strong>s als Teil unserer politischen Stabilität<br />

präsentiert. Doch sind auf Bundes- und Kantonsebene verschiedene<br />

Magistraten, <strong>die</strong> sich als Alkoholiker, verheiratete Schürzenjäger,<br />

20


unfähige Personalmanager, Wahrheitsverdreher oder staatliche<br />

Schuldenmacher erwiesen haben, komfortabel wieder gewählt<br />

worden, weil es eben kommoder ist, den Personen nicht auf den<br />

Grund zu gehen. Dies ist das Zeichen, dass wir <strong>von</strong> unserer Freiheit<br />

ungenügend Gebrauch machen. In solch einem System haben <strong>die</strong><br />

zahlreichen Parlamentsmitglieder, Bürgerinnen und Bürger, <strong>die</strong> sich<br />

durch Redlichkeit auszeichnen, einen schweren Stand. Denn das<br />

Negative ist stets stärker als das Positive. Daher <strong>die</strong><br />

Staatsverdrossenheit der Bürgerschaft. Es braucht viel Mut, sich gegen<br />

<strong>die</strong> angebliche Mehrheit aufzulehnen und sich unbeliebt zu machen,<br />

vor allem wenn man Ambitionen hegt. Zudem liebt das Volk<br />

Opportunisten, und Opportunisten sind stets mit Opportunisten<br />

befreundet.<br />

Und dennoch: Die Freiheit ist Grundlage unserer Demokratie; <strong>die</strong><br />

Ausübung der Freiheit ist das Ziel unserer Demokratie. Die Freiheit<br />

kann dem Menschen weder gegeben noch genommen werden, weil er<br />

<strong>die</strong>se Freiheit letztlich selber ist. Deshalb <strong>die</strong> Versuchung, ihn zu<br />

töten. Dazu kommt, dass <strong>die</strong> Menschen erst einen sicheren<br />

Arbeitsplatz wünschen, bevor sie nach der unbeschränkten Ausübung<br />

ihrer Freiheit dürsten. <strong>Wie</strong> lässt es sich sonst erklären, dass sich noch<br />

30% der Ostdeutschen das alte Regime zurückwünschen. „Zuerst<br />

kommt das Fressen, dann <strong>die</strong> Moral“ hat schon Bertolt Brecht gesagt.<br />

Die Freiheitsausübung, z.B. in der Marktwirtschaft, will allerdings erst<br />

gelernt sein, bevor man sie ausüben kann. Freiheit vom Staatszwang<br />

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ist Eines; Freiheit zur selbstverantwortlichen Vorsorge ist ein<br />

Anderes.<br />

Ich möchte <strong>die</strong> Akteure unserer Staaten mitsamt den Bürgerinnen und<br />

Bürgern auffordern, <strong>von</strong> ihrer Freiheit und ihrer Verantwortung<br />

Gebrauch zu machen, selbst wenn <strong>die</strong>s karrieremäßig nachteilig ist.<br />

Berufliche Misserfolge sind in drei Wochen vergessen. Redlichkeit<br />

jedoch hat eine Chance, in <strong>die</strong> Geschichte einzugehen, weil nur sie<br />

den Frieden ermöglicht. Die Lüge ist der größte Feind des inneren und<br />

des äußeren Friedens. Oder, um es mit meinem Lehrer Karl Jaspers zu<br />

sagen: Ohne Freiheit keine Wahrheit, ohne Wahrheit keinen Frieden.<br />

Dies ist das Leitmotiv der Demokratie.<br />

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