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MENSCHEN & GESCHICHTEN<br />
Buddeln<br />
Dunkle Wolken schieben<br />
die untergehende Sonne<br />
weg. Die Wellen der Ostsee<br />
türmen sich 30 Kilometer<br />
östlich von Gotland bis<br />
zu einem Meter auf. Der Südwestwind<br />
bläht das Segel von Gynt Petersons 34<br />
Fuß-Yacht Lyka. Der schwedische Skipper<br />
und sein Sohn Georg trauen ihren<br />
Augen nicht: Vor ihnen steigt ein Ungeheuer<br />
aus dem Meer, seine Strahler blitzen<br />
unruhig über die Wellen. Ist es eine<br />
AIDA auf Nordkurs? Ein verirrter Flugzeugträger?<br />
Es wird größer, kommt näher:<br />
„Schon aus drei Kilometern Entfernung<br />
20 www.segelnmagazin.de 6/2010<br />
haben wir dann aber erkennen können,<br />
dass wir ans Sperrgebiet der C6 heransegelten.“<br />
Erleichtert legt Gynt sein Fernglas<br />
zur Seite. „Diese Verlegeschiffe der<br />
Gazprom und das ganze Drumherum an<br />
Bohrtürmen, Ankerziehschleppern und<br />
Sign<strong>als</strong>cheinwerfern wirken so ungeheuerlich<br />
groß. Unwillkürlich <strong>den</strong>kst du an<br />
Gas und an die Rohre da unten, an Alarm<br />
im Sperrgebiet. Ein komisches Gefühl<br />
beim Drübersegeln ist das schon.“ Mehr<br />
aber auch nicht. Gynts Lyka dreht ab und<br />
nimmt Kurs auf die Nordspitze der Insel.<br />
Morgen geht es zurück nach Visby. Nichts<br />
passiert, spannen<strong>den</strong> Törn gehabt.<br />
Auf ihrem Weg in<br />
die Ostsee passiert<br />
die Castoro Sei die<br />
Storebælt-Brücke.<br />
für die Monsterhochzeit<br />
Die Ostsee ist eine Großbaustelle. Ende März hat der Bau der Gaspipeline Nord Stream<br />
begonnen, mit Verlegeschiffen, Zulieferern und Sperrzonen. Und bald segeln wir über eine<br />
gigantische Gasleitung. Auch auf der beliebten Strecke Greifswald – Bornholm. Grund zur<br />
Besorgnis? Text: Britta Kunz<br />
Seit rund sechs Wochen buddelt, bohrt,<br />
verlegt und vergräbt das Spezial-Monster<br />
Castoro Sei (C6) die dicken Rohre, die ab<br />
Herbst 2011 einen neuen Energiestrom<br />
von Ost- nach Westeuropa sichern sollen.<br />
Seit Kurzem arbeitet sich auch die Castoro<br />
Dieci (C10) von Lubmin aus gen Nordosten,<br />
bis zu 800 Meter pro Tag. Je nach<br />
Wetter und Meerestiefe. Rund 660 Seemeilen<br />
liegen dazwischen. Irgendwann<br />
wer<strong>den</strong> die bei<strong>den</strong> Monster mitten in der<br />
Ostsee zusammenkommen und die sogenannte<br />
Hochzeit feiern. Vermutlich mit<br />
Handschlag der bei<strong>den</strong> Gazprom-Giganten<br />
Putin und Schröder – auf hoher See.<br />
Fotos: Nord Stream, Jan Bindseil, Jörn Dücker<br />
Jeweils 300 Arbeiter, Ingenieure,<br />
Schweißer, Taucher und Monteure wer<strong>den</strong><br />
mit Helikoptern für drei Schichten<br />
rund um die Uhr auf die schwimmen<strong>den</strong><br />
Verlegestationen geflogen. Jede Nacht ist<br />
taghell erleuchtet. Wer an <strong>den</strong> Drei-Kilometer-Sperrbezirk<br />
heransegelt, muss aber<br />
keine Angst haben. Arne Birth hat auch<br />
keine. Pipe-Leinen los heißt es bald für<br />
ihn. Der Kaufmann hat gemeinsam mit<br />
seinem belgischen Kollegen Tom Amery<br />
eine Hanse 461 gechartert. Ein imposantes<br />
Schiff. Im Yachthafen von Greifswald<br />
fällt sie auf, neben Jollenkreuzern<br />
und kleinen Fahrtenyachten. Doch der<br />
Grund für Births Törn ist um einiges größer:<br />
Quer über die Ostsee will er segeln,<br />
von Wyborg nach Greifswald. Vorbei an<br />
Helsinki, Stockholm, Gotland, und Bornholm,<br />
vorbei an C10 und C6 und immer<br />
über der Gaspipeline. Arne Birth segelt<br />
seit seinem vierten Lebensjahr. Erst im<br />
Opti, dann Laser, später auch Dickschiffe.<br />
Mit seinen segelbegeisterten Kollegen<br />
der Firma Wingas, einem Gemeinschaftsunternehmen<br />
der Wintershall in Kassel<br />
und der russischen OAO Gazprom, entstand<br />
die Idee, zusammen mit russischen<br />
Kollegen über die Route der Ostseepipeline<br />
hinweg zu segeln. Eine aufregende<br />
Unternehmung. „So bringen wir die erste<br />
Kilowattstunde symbolisch mit dem Segelschiff<br />
nach Deutschland“, erklärt Mitseglerin<br />
Verena Sattel. „Ich muss gestehen,<br />
ich bin schon ein bisschen aufgeregt.“<br />
In Greifswald ist hingegen noch keine<br />
Aufregung zu spüren. Der Gedanke,<br />
über Gas führende Rohre hinwegzusegeln,<br />
bereitet <strong>den</strong> Seglern vor Ort kein<br />
Kopfzerbrechen. „Wenn die Rohre gut<br />
eingegraben sind oder tiefer <strong>als</strong> drei Meter<br />
liegen, ist das kein Problem,“ erklärt<br />
Wolf-Albrecht Panzig, Vorsitzender des<br />
Wassersportvereins Lubmin. „Ich segele<br />
ja nur darüber hinweg.“ Sorgen, dass<br />
etwas passieren könnte? „Nein, dann<br />
dürfte man ja auch nicht auf der Straße<br />
gehen, über unterirdischen Gasleitungen<br />
oder unter Stromleitungen. Da geht man<br />
ja auch davon aus, dass nichts passiert.“<br />
Einziges Manko aus seiner Sicht: „Wir<br />
hoffen, dass sich das Sperrgebiet nicht<br />
noch weiter ausbreitet. Es wird zwar über<br />
Bauabschnitte informiert, aber wie es am<br />
Ende aussieht, wo die Rohre genau liegen,<br />
darüber wurde noch nichts gesagt.“<br />
Der Anlandepunkt der Pipeline ist ein<br />
Industriegebiet am Rande des Ostseebades<br />
Lubmin, ein stillgelegtes Atom-<br />
Die Pipeline besteht<br />
aus zwei parallel<br />
verlaufen<strong>den</strong> Rohren<br />
von Lubmin nach<br />
Wyborg. Der Großteil<br />
der Rohre liegt in<br />
tiefem Wasser. Im<br />
Bod<strong>den</strong> wer<strong>den</strong> die<br />
Rohre eingegraben<br />
Am Rande von Lubmin geht die Pipeline in<br />
einem stillgelegten Industriegebiet an Land<br />
MENSCHEN & GESCHICHTEN<br />
kraftwerk. Nach dem Ende der Heringslaichzeit<br />
beginnen die Bautätigkeiten im<br />
Greifswalder Bod<strong>den</strong>. Hier entsteht ein<br />
Kanal aus Spundwän<strong>den</strong>, zwischen <strong>den</strong>en<br />
der Bo<strong>den</strong> ausgebaggert wird. Dieser<br />
stellt <strong>den</strong> Beginn des insgesamt rund 27<br />
Kilometer langen Grabens dar, der über<br />
die Bod<strong>den</strong>randschwelle bis etwa in<br />
Höhe der Landmarke Nordperd der Insel<br />
Rügen verläuft. In dem so entstehen<strong>den</strong><br />
Graben wer<strong>den</strong> die bei<strong>den</strong> Pipelinestränge<br />
nacheinander vom Wasser her eingezogen<br />
und nebenein ander abgelegt.<br />
Selbstverständlich ist man auch ➤<br />
6/2010 www.segelnmagazin.de 21
MENSCHEN & GESCHICHTEN<br />
Die Erdgaspipeline durch die Ostsee<br />
Der Arbeitsablauf auf jedem Verlegeschiff besteht aus mehreren Schritten – vom Verla<strong>den</strong><br />
der Rohre auf das Verlegeschiff bis zum Herablassen der Pipeline auf <strong>den</strong> Meeresbo<strong>den</strong><br />
in der Nord Stream Projektleitung optimistisch.<br />
„Ich <strong>den</strong>ke nicht, dass sich<br />
die Verlegeschiffe und die Segler in die<br />
Quere kommen,“ erklärt Jörn Dücker.<br />
Der Manager bei Nord Stream ist selbst<br />
begeisterter Ostsee-Segler und kennt das<br />
betroffene Gebiet seit Jahren. „Auch auf<br />
der viel befahrenen Strecke Greifswald –<br />
Bornholm, auf der ein Stück der Pipeline<br />
Die fertige Pipeline läuft<br />
über <strong>den</strong> Stinger in einer<br />
freien Spannweite, bevor<br />
sie auf dem Meeresbo<strong>den</strong><br />
abgelegt wird<br />
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verlegt wird, ist genügend Platz für alle.<br />
Die gesamte Strecke wird zu keiner Zeit<br />
gesperrt sein.“<br />
Aktuelle Segler-Infos gibt es jetzt schon<br />
reichlich: Ein Newsletter in neun Sprachen<br />
wird wöchentlich an 1.600 Empfänger<br />
rund um die Ostsee verteilt und<br />
in <strong>den</strong> Marina-Glaskästen ausgehängt.<br />
Darüber hinaus gibt es eventuelle Warn-<br />
Jörn Dücker<br />
ist Manager<br />
bei Nordstream<br />
und<br />
segelt selbst<br />
seit Jahren.<br />
Sein Lieblingsrevier:<br />
die dänische<br />
Südsee<br />
hinweise zu <strong>den</strong> Verlegearbeiten über<br />
die Nachrichten für Seefahrer sowie über<br />
Navtex (Telex) und VHF-Funk.<br />
Sorgen bereiteten <strong>den</strong> Projektleitern zu<br />
Beginn der Planungsphase die ortsansässigen<br />
Fischer. Deren Trawler-Netze, die<br />
über <strong>den</strong> Grund gezogen wer<strong>den</strong> und<br />
sich manchmal auch ein wenig eingraben,<br />
hätten durch die Pipeline beschädigt<br />
wer<strong>den</strong> können. Es wur<strong>den</strong> jedoch<br />
neue Netze entwickelt, die problemlos<br />
über die Pipeline gezogen wer<strong>den</strong> können.<br />
„Die Fischer bekommen einen finanziellen<br />
Ausgleich von uns, damit sie<br />
diese neuen Netze anschaffen können,“<br />
erklärt Dücker. „Manche haben natürlich<br />
gepokert, aber im Allgemeinen sind die<br />
Gespräche sehr gut verlaufen.“ 20 Jahre<br />
hat der Manager Baustellen in der Nordsee<br />
<strong>als</strong> Ingenieur und Pipelinebauer gearbeitet.<br />
Seine Erfahrungen aus der Zeit<br />
kommen jetzt <strong>den</strong> Ostseefischern zugute.<br />
„In der Nordsee liegen zum Beispiel seit<br />
Jahren die Europipe 1 und 2. Dort wissen<br />
die Fischer, wo sie fischen können, die<br />
Leitungen helfen sogar beim Fangen: die<br />
Fische halten sich daran auf, wie an einem<br />
Riff. Da zieht man die meisten und<br />
dicksten Fische raus.“<br />
Auch mit <strong>den</strong> Umweltschutzorganisationen<br />
des BUND und WWF konnten sich die<br />
Pipelinebauer einigen. Nach einigen Verhandlungen<br />
und einer drohen<strong>den</strong> Klage<br />
wurde unter anderem das Baggerkonzept<br />
geändert. Der schlickreiche Mergelbo<strong>den</strong><br />
wird nicht ins Meer gekippt, sondern an<br />
Land gebracht oder <strong>als</strong> Baumaterial verwendet.<br />
So soll eine unnötige Wasserverschmutzung<br />
und ein Sterben von Meereslebewesen<br />
vermie<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>. z<br />
Fazit: Ostseesegler müssen kein schlechtes<br />
Gewissen haben, wenn sie mit dem Wind<br />
über Gas segeln. Stefan Schöler von Hanse<br />
Yachts in Greifswald: „Ich <strong>den</strong>ke, wir Segler<br />
wer<strong>den</strong> mit der Pipeline ohnehin nicht in<br />
Berührung kommen. Dazu liegen die Rohre<br />
einfach zu tief“. Also... Pipe-Leinen los!