Diplomarbeit "Aussteigen",
Ich freue mich, euch so mein Ergebnis zeigen zu können. Alles Liebe, Jenny Diplomarbeit an der Schule für Gestaltung Ravensburg Studiengang Kommunikations-, Informationsdesign Diplomandin Jennifer Taube Betreuende Dozentin Michaela Gleinser Konzeption und Gestaltung Jennifer Taube Schrift Ceacilia LT, Univers LT Papier Munken Lynx Pure Rough 150 g/qm Druck und Bindung, Stein GmbH
Ich freue mich, euch so mein Ergebnis zeigen zu können.
Alles Liebe, Jenny
Diplomarbeit an der Schule für Gestaltung Ravensburg
Studiengang Kommunikations-, Informationsdesign
Diplomandin Jennifer Taube
Betreuende Dozentin Michaela Gleinser
Konzeption und Gestaltung Jennifer Taube
Schrift Ceacilia LT, Univers LT
Papier Munken Lynx Pure Rough 150 g/qm
Druck und Bindung, Stein GmbH
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ein<br />
Gefühl<br />
der<br />
freiheit.<br />
3
„Die höchste Form der menschlichen Freiheit besteht<br />
bis zum heutigen Tag darin, zu gehen, wann man will,<br />
wohin man will, wie man will. Nichts scheint leichter.<br />
Nichts ist schwieriger.“<br />
5<br />
[Christian Schüle, „Der letzte Freigeist“]
Vorwort<br />
Vom lKW-<br />
Mechaniker zum<br />
Seelenklempner<br />
6<br />
„Aussteigen“ ist schon ein sehr spannendes Thema.<br />
Wer aussteigen will, muss ja irgendwo drinnen<br />
sein. Was aber ist dann draußen? Im Grunde wird<br />
damit eine der grundlegenden Fragen des Menschen<br />
aufgegriffen: Was macht das Leben aus?<br />
Was die Menschen alle eint ist, dass sich kein<br />
Mensch selbst ausgesucht hat zu leben, also in<br />
dem Spiel des Lebens eine Rolle einzunehmen.<br />
Wie ein Mensch ins Leben kommt, wissen wir aus<br />
der Fortpflanzungslehre. Doch die Frage bleibt, was<br />
am Beginn war – mag es Schöpfung oder Urknall<br />
heißen – und auch, was am Ende sein wird: ein<br />
„Nichts“ oder die Erfüllung in der Vollendung oder<br />
eine Variante dazwischen. Nachdem der Mensch<br />
nun fähig ist, Entscheidungen zu treffen, kann er,<br />
wenn er möchte, sein Leben auf ein bestimmtes<br />
Ziel hin ausrichten. Entscheidungen werden durch<br />
Abwägen der Gegebenheiten getroffen, wobei auch<br />
immer das Gefühl mitspielt. Welche Ziele und Werte<br />
sind es nun, die das Leben lebenswert machen?<br />
Zeige mir deine Freunde und ich sage dir, wer du<br />
bist. So lautet ein bekanntes Sprichwort. Durch<br />
meinen Freundeskreis bin ich mit den Weltjugendtagen<br />
in Berührung gekommen. Papst Johannes<br />
Paul II. hat sie 1983 ins Leben gerufen. Seither<br />
ziehen sie immer wieder die Jugendlichen der Welt<br />
an. In wenigen Tagen findet das Treffen in Rio de<br />
Janeiro in Argentinien statt. Ermutigende Boschaften<br />
wie: „Ihr seid die Baumeister einer neuen<br />
Zivilisation der Liebe.“ „Gib dich nicht zufrieden mit<br />
Mittelmäßigkeit.“ „Habt keine Angst Christus nachzufolgen.“<br />
oder auch biblisch „Ihr seid das Salz der<br />
Erde, ihr seid das Licht der Welt“ weckten meine<br />
Neugier und meinen Wunsch, mich intensiver mit<br />
Papst, Weltjugendtag und Kirche auseinander zu<br />
setzen. Der Freundeskreis bot dafür einen guten<br />
Rahmen. Zum Beispiel bewarb unsere Gruppe<br />
aktiv den Weltjugendtag in unserem Dekanat mit<br />
Lobpreis-Gottesdiensten. Schließlich fuhren wir mit<br />
einem Bus voller Jugendlicher zum Weltjugendtag<br />
nach Köln. Sehr überrascht berichtet die Polizei, wie<br />
friedlich diese Veranstaltungen immer ablaufen. Das<br />
beeindruckte auch mich.<br />
Ein Kurzabriss meiner Tätigkeit in dieser Zeit:<br />
Nach der Schule machte ich eine Ausbildung zum<br />
KFZ-Mechaniker in einer LKW Werkstätte. Die Arbeit<br />
machte mir viel Freude, und ich blieb dort weitere<br />
fünf Jahre. Ich konnte also die großen Brummis<br />
zerlegen und wieder zusammenbauen; Motor,<br />
Getriebe, Fahrerhaus, Bremsen etc. Während dieser<br />
Zeit geschah etwas Besonderes! Für mich tauchte<br />
eine bis dahin nie gestellte Frage auf: Möchte ich<br />
Priester werden? Darüber sprach ich mit meiner<br />
Freundin. Dieser Weg passte jedoch damals nicht<br />
in meine Planung, da ich mich auf Haus, Familie<br />
und Kinder eingestellt hatte. Drei Jahre brauchte ich<br />
noch, um klarer zu sehen, wie mein Weg weitergehen<br />
sollte.<br />
So fällte ich 2005 die Entscheidung für mein zukünftiges<br />
Leben. Es begann ein nicht leichter Weg.<br />
Das Abitur musste ich nachholen, um das 5 - jährige<br />
Studium anschließen zu können. Früher setzte ich<br />
mich dafür ein, dass die großen LKW‘s wieder auf<br />
der Straße vorankommen. Jetzt setze ich mich ganz<br />
dafür ein, dass Menschen auf dem Weg des Lebens<br />
vorankommen. Das Großartige dabei ist, dass es<br />
nicht nur um materielle Dinge geht, sondern um<br />
Menschen. Durch das Studium der Philosophie und<br />
Theologie bin ich in die großen Fragen nach woher,<br />
wozu, wohin eingestiegen. Menschen suchen auf<br />
diese Fragen mit Sinn belegte Antworten. Ich habe<br />
nach und nach hierauf Antworten gefunden. Es geht<br />
um Gott. Er hat mich gerufen. Gott ist Vater, Sohn<br />
und Heiliger Geist – in einem vereint. Gott liebt den<br />
Menschen, weil er in sich die Liebe ist. Je mehr<br />
ein Mensch das erkennt, desto mehr lebt er in der<br />
Geborgenheit Gottes.
Meine bewusste entscheidung<br />
Diakon Helmut Epp berichtet über seine<br />
eigene Ausstiegsgeschichte<br />
Der Ausstieg<br />
Ja, zum letztendlichen Ausstieg brauchte es eine<br />
gewisse Zeit. Es fehlte die schulische Qualifikation,<br />
den sicheren Arbeitsplatz musste ich aufgeben, und<br />
immer war da die Überlegung, ob ich tatsächlich<br />
den Weg so gehen kann und Gott mich wirklich gerufen<br />
hatte. Darin liegt auch der Unterschied zu anderen<br />
Berufen. Gott ruft und wartet auf die Antwort.<br />
Konkret heißt das für einen Priester: Ganz ausgerichtet<br />
zu sein auf Gott, die Kirche und ihre Gläubigen,<br />
nicht zu heiraten, um zu leben wie auch Jesus<br />
gelebt hat. Für mich bedeutete es einen großen<br />
Schritt, auf Ehe und Familie zu verzichten, auf mein<br />
bisheriges Leben in Familie, am Arbeitsplatz und im<br />
Musikverein. Jedoch mein Ausstieg und mein „JA“<br />
zu Gottes Plan, war tatsächlich ein Einstieg, keine<br />
Flucht aus der Welt, sondern ein Eintreten in Christi<br />
Nachfolge, um das Himmelreich zu verkünden. „Ich<br />
bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Wer an<br />
mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt“ –<br />
diese und weitere Worte von Jesus haben mich ermutigt,<br />
mich auf meinen Weg zu machen. Seit zwei<br />
Monaten bin ich Diakon und darf Kinder taufen,<br />
Ehepaare kirchlich trauen, Verstorbene beerdigen<br />
und Menschen in ihrer Trauer begleiten.<br />
Im Zusammenhang mit meinem Beitrag zu dieser<br />
<strong>Diplomarbeit</strong> habe ich tief bewegt so manche<br />
Lebensgeschichte gelesen. Manche Menschen<br />
leben eben ganz anders, als es die Gesellschaft<br />
vorsieht. Ob es eine Flucht aus den Vorgaben der<br />
Gesellschaft ist oder ob ein Ausstieg frei setzt für<br />
Größeres, das hängt von dem Einzelnen ab. So<br />
wünsche ich allen, die diese Arbeit lesen, dass sie<br />
die Entscheidungsvielfalt entdecken, die Gott uns<br />
Menschen gegeben hat. Es ist ein tolles Thema für<br />
eine <strong>Diplomarbeit</strong>.<br />
Dass heute viele Menschen nicht mehr den Sinn<br />
des Lebens erkennen, mag sicherlich auch am<br />
Wohlstand und den daraus vermeintlich resultierenden<br />
Sicherheiten liegen. Leider kehren immer mehr<br />
Menschen der Kirche den Rücken. so bleibt es doch<br />
eine unruhige Pilgerschaft, bis wir Ruhe finden in<br />
Gott. Umso mehr werden Menschen gebraucht, die<br />
eine klare Richtung weisen, Halt geben und Zuversicht<br />
vermitteln.<br />
7
GeSchichte
10 Geschichte<br />
aus|stei|gen<br />
Ein Fahrzeug, Beförderungsmittel verlassen.<br />
Umgangssprachlich: Sich bei etwas nicht<br />
mehr beteiligen.<br />
Sport: Etwas aufgeben, bei etwas nicht<br />
mehr mitmachen.<br />
Jargon: Meist ziemlich abrupt, seinen Beruf,<br />
seine gesellschaftlichen Bindungen o. Ä.<br />
aufgeben (um von allen Zwängen frei zu sein).<br />
[DUDEN]
Es gibt Abenteurer, die ihre Existenz in einem<br />
Land aufgeben, um irgendwo ganz neu anzufangen.<br />
Es gibt zivilisationsmüde Menschen, die dem<br />
„mainstream“ der Gesellschaft entfliehen, um eine<br />
alternative Lebensgemeinschaft zu gründen. Es gibt<br />
aber auch diejenigen, die nach jahrelanger Mitgliedschaft<br />
den Fängen extremer Organisationen entkommen.<br />
Und es gibt nicht zuletzt Menschen, die<br />
Schicksalsschläge erlitten haben und aus eigener<br />
Kraft oder mit Hilfe anderer aus ihrer Vergangenheit<br />
auszubrechen versuchen.<br />
Als Aussteiger bezeichnet man Menschen, die sich<br />
durch ihr Verhalten von gesellschaftlichen Normen<br />
zu befreien versuchen, indem sie aus ihrer<br />
konkreten Lebenswelt innerlich oder äußerlich<br />
„aussteigen“. Dabei wird zwischen dem äußeren<br />
und inneren Ausstieg unterschieden. Unter dem<br />
äußeren Ausstieg versteht man, dass alles aufgegeben<br />
wird, was man im Leben vor dem Ausstieg als<br />
wichtig empfunden hat. Dazu können zum Beispiel<br />
die Arbeit, Freunde und Familie, Religion, Glaubensgemeinschaften,<br />
politische Systeme und Bewegungen,<br />
der Wohnort oder alte Gewohnheiten gehören.<br />
Meistens liegt der Beweggrund für einen äußeren<br />
Ausstieg in einem mangelnden Wohlbefinden. Ges-<br />
präche mit Aussteigern zeigen, dass sie der rasanten<br />
Globalisierung abgeneigt sind und der Welt<br />
versuchen zu entfliehen. Bei dem inneren Ausstieg<br />
wird das geregelte Leben oberflächlich beibehalten.<br />
Das heißt, es wird zum Beispiel der geregelten<br />
Arbeit nachgegangen.<br />
11<br />
Innerlich schließen die Menschen jedoch mit ihrer<br />
Umwelt ab, verschließen sich häufig.<br />
Gründe für einen Ausstieg finden sich aber auch<br />
in den verschiedensten Bereichen des zwischenmenschlichen<br />
Zusammenlebens oder des Mainstreams<br />
(Geschmack einer großen Mehrheit). Die<br />
Normen und Werte des Aussteigenden entsprechen<br />
oft nicht mehr denen der Allgemeinheit oder der<br />
zuvor zugehörigen gesellschaftlichen Gruppe. Nur<br />
durch den radikalen Wandel seiner Position in der<br />
Gesellschaft sieht der Aussteiger eine Möglichkeit,<br />
sein persönliches Gleichgewicht bzw. eine innerliche<br />
Befriedigung wieder herzustellen. Der Aussteiger<br />
wartet nicht, bis die bessere Welt zu ihm<br />
kommt. Er stellt ihr nach. Er setzt sich der Paradiesvermutung<br />
aus, ohne zu wissen, ob sein Ziel das<br />
Paradies sein wird. Er kann scheitern, gewiss, aber<br />
er ist offen fürs Wagnis. Egal ob Ausstieg aus dem<br />
falschen Körper, aus einer Studentischen Verbindung<br />
oder aus dem geregelten Leben.<br />
Der Aussteiger im wesenhaften Sinn entwertet<br />
durch seinen Ausstieg etwas, das für ihn lange von<br />
großem Wert war.<br />
einen Prototypen des<br />
Aussteigers gibt es nicht
12 Geschichte | Statistiken<br />
Anzahl der Auswanderer aus<br />
deutschland von 1991 bis 2012<br />
Die Statistik zeigt die Anzahl der Auswanderer aus Deutschland von 1991 bis<br />
2012. Im Jahr 2012 sind 711.922 Menschen aus Deutschland fortgezogen.<br />
2008<br />
2007<br />
2009<br />
2006<br />
2010<br />
2005<br />
2011<br />
2004<br />
2012<br />
1.000.000 800.000 600.000 400.000 200.000<br />
Statistisches Bundesamt. Statistika 2013<br />
2003<br />
1991<br />
2002<br />
1992<br />
2001<br />
1993<br />
2000<br />
1994<br />
1999<br />
1995<br />
1998<br />
1996<br />
1997
top 20 Zielländer<br />
deutscher Auswanderer 2012<br />
Kanada: 2.692<br />
USA: 12.803<br />
Brasilien: 1.588<br />
Belgien: 2.031<br />
England: 7.802<br />
Frankreich: 6.245<br />
0 – 25.000 Personen im Jahr 2012. Statistisches Bundesamt.<br />
Die Schweiz ist mit 20.826 Auswanderern im Jahr 2012 Spitzenreiter<br />
und gilt als attraktiver Arbeitsort für die Deutschen.<br />
Polen: 6.180<br />
Schweden: 1.750<br />
Norwegen: 1.364<br />
Spanien: 5997 Türkei: 5459<br />
Italien: 2481<br />
Schweiz: 20.826<br />
Ver. Arabische<br />
Emirate: 1.403<br />
Österreich: 11.022<br />
13<br />
Russland: 2.361<br />
Niederlande: 3.200<br />
Thailand: 1.540<br />
China: 2.928<br />
Australien: 3.154
Auswanderungsmotive, gewichtet<br />
nach ihrer Bedeutsamkeit<br />
Ein höherer materieller Lebensstandard<br />
im Aufenthaltsland<br />
Bürokratie in Deutschland<br />
Fehlende Toleranz<br />
und Gestaltungsfreiheit<br />
Bessere Möglichkeiten zur Verwirklichung<br />
von Werten und Vorstellungen<br />
14 Geschichte | Statistiken<br />
Positive frühere<br />
Erfahrungen im Ausland<br />
Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2007, Progonos 2013<br />
Einkommens- und Beschäftigungssituation<br />
10 %<br />
Höhere Lebensqualität<br />
Verbesserung der Beziehung zu Familie<br />
und Freunden<br />
15 % 20 % 25 % 30 %<br />
Bessere Perspektiven für Beruf und<br />
Einkommen im Aufenthaltsland<br />
Die Lust, etwas Neues auszuprobieren<br />
Steuern und Abgaben in Deutschland
Ein höherer materieller Lebensstandard<br />
im Aufenthaltsland<br />
Fehlende Toleranz<br />
und Gestaltungsfreiheit<br />
35 %<br />
Gründe, die für eine rückkehr<br />
relevant waren<br />
30 % 25 % 20 % 15 % 10 %<br />
Finanzielle Gründe<br />
Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2007, Progonos 2013<br />
Situation von Familien und Freunden<br />
5 %<br />
15<br />
Fehlende bzw. unzzureichende<br />
soziale Absicherung<br />
Persönliches Wohlbefinden<br />
Beruf und Einkommen
16 Geschichte<br />
Ein klassisches Beispiel war bereits in der griechischen<br />
Antike (ca. 500 – 336 v. Chr.) der Philosoph<br />
Diogenes (um ca. 405 v. Chr. in Sinope). Er soll<br />
freiwillig das Leben der Armen geführt und dies<br />
öffentlich zur Schau gestellt haben. In der christlichen<br />
Frühzeit waren es die Einsiedlermönche,<br />
die in der nahöstlichen oder ägyptischen Wüste<br />
lebten. Hier wurde das Ideal der Askese gepredigt,<br />
die Enthaltung von Genüssen, besonders sexuelle<br />
Enthaltsamkeit gefordert und auf Besitz und Ehe<br />
verzichtet. Der heilige Antonius (um ca. 251– 356<br />
v. Chr.) war einer der ersten ägyptischen christlichen<br />
Einsiedlermönche und Asket. Ebenso widmete<br />
Franz von Assisi (ca. 1182 – 1226) sein Leben der<br />
freiwilligen Armut und lebte nach dem Vorbild Jesu<br />
Christi.<br />
Martin Luther (1483 – 1546) war der theologische<br />
Urheber der Reformation. Seine Betonung des<br />
gnädigen Gottes, seine Predigten und Schriften<br />
insbesondere seine Bibelübersetzung, die Lutherbibel,<br />
veränderten die von der römisch-katholischen<br />
Kirche dominierte Gesellschaft in der frühen Neuzeit<br />
nachhaltig. Entgegen Luthers Absicht kam es<br />
zu einer Kirchenspaltung, zur Bildung evangelischlutherischer<br />
Kirchen und weiterer Konfessionen<br />
des Protestantismus.<br />
Heutige Beispiele sind Alternativbewegungen wie<br />
die Hippies. Sie prägten um 1967 das Motto „Make<br />
love, not war“ und wurden als Aussteiger betrachtet,<br />
die sich dem Leistungsprinzip, den bürgerlichen<br />
Konventionen und Moralvorstellungen nicht<br />
unterwarfen, sondern entzogen. Wer Hippie war,<br />
entstammte auffallend häufig den oberen Schichten<br />
der ersten „Überflussgesellschaft“ in den 1960 er<br />
Jahren und war Teil einer Gegenkultur. Kommunen<br />
auf Ibiza, Goa in Indien, Marokko oder auf den griechischen<br />
Inseln sind nur einige Beispiele.<br />
Make love,<br />
not war!<br />
In dieser Kultur entwickelte sich ein eigener<br />
Lebensstil der sich im Musik- und Kleidungsstil<br />
widerspiegelte. Im grafischen Bereich nahm die<br />
Hippiekultur Einfluss auf die Plakatkunst und die<br />
Gestaltung von Schallplattenhüllen. Auch ehemalige<br />
Mitglieder von Sekten, unterschieden nach esoterischen<br />
(Scientology) und christlichen (Jehovas<br />
Zeugen) oder Anhängern von Neonazi-Strukturen,<br />
werden als Aussteiger bezeichnet, ebenso Menschen,<br />
die ihr Land verlassen, um woanders einem<br />
anderen Lebensstil nachzugehen.<br />
Das Phänomen des politischen Aussteigers wurde<br />
in verschiedenen Kunstrichtungen verarbeitet, unter<br />
anderem in Literatur und Film, aber auch in Comics.<br />
Als berühmte Beispiele aus der Literatur gelten<br />
Henry David Thoreau: Walden (1854), das zum
Klassiker aller Alternativen wurde. Thoreau beschreibt<br />
sein Leben in einer Blockhütte, um zwei<br />
Jahre der industrialisierten Massengesellschaft<br />
der jungen USA den Rücken zu kehren. Hermann<br />
Hesse: Siddhartha, eine indische Dichtung (1922).<br />
Der Roman spielt im 6. Jahrhundert vor Christus in<br />
Indien und handelt von einem jungen Brahmanen<br />
namens Siddhartha. Hermann Hesse stellt einen<br />
Menschen dar, der sich aus familiären und gesellschaftlichen<br />
Konventionen befreit.<br />
Vor allem seit den 1960 er Jahren taucht das Thema<br />
zunehmend auch in Spielfilmen auf. Beispielsweise<br />
„Easy Rider“, ein Kultfilm und Road Movie, der das<br />
Lebensgefühl der späten 1960 er Jahre beschreibt.<br />
„Into the Wild“ beschreibt eine zweijährige Reise<br />
durch die USA, die einen jungen Studenten, losgesagt<br />
von materiellem Besitz, schließlich in die<br />
Wildnis Alaskas führt.<br />
The „Fabulous Furry Freak Brothers“ sind die Helden<br />
einer gleichnamigen Comicserie (1968 –1992)<br />
des amerikanischen Zeichners Gilbert Shelton. Die<br />
Geschichten beleuchten den Alltag von drei Aussteigern<br />
und die alternative Szene im San Francisco<br />
der späten 1960 er bis frühen 1990 er Jahre auf<br />
humorvolle und satirische Weise.<br />
Bekannte Neo-Nazi Aussteiger waren unter anderem<br />
Matthias Adrian. Sieben Jahre kannte er nichts<br />
anderes als rechtsextremistisches Gedankengut.<br />
1999 schaffte er den Ausstieg und arbeitete fortan<br />
bei „Exit“, einem Berliner Verein, der sich um Naziaussteiger<br />
kümmert.<br />
17<br />
Reality TV – die Auswanderer, Auf und Davon,<br />
Goodbye Deutschland und Co.<br />
TV-Formate, auf die sich Fernsehsender verstärkt<br />
spezialisieren, schicken mehrere Serien ins Rennen,<br />
die sich der Thematik widmen. So kann der<br />
Zuschauer vom heimischen Sofa aus beobachten,<br />
wie seinesgleichen durch die Welt reist und dabei<br />
Erfolge feiert, aber auch bittere Tränen vergießt und<br />
das real oder nachgestellt. Seit ca. 2007 sind mehrere<br />
dieser „Trash-Soaps“ zu verfolgen und längst<br />
sind Daniela Katzenberger und Conny Reimann<br />
keine unbekannten Name mehr. Die Kehrseite:<br />
2008 startet eine Reportage „Die Rückwanderer“<br />
und zeigt Familien, die länger im Ausland gelebt<br />
haben und sich wieder auf den Heimweg machen.<br />
Niedrige Gehälter, ein marodes Sozialsystem und<br />
das bittere Gefühl, nicht wirklich willkommen zu<br />
sein, treiben viele Auswanderer schon nach kurzer<br />
Zeit wieder zurück.<br />
er hilft nun denen, die raus wollen<br />
aus der rechtsextremen Szene.
18 Geschichte<br />
Kunst, design,<br />
Architektur –<br />
damals und heute<br />
ein kleiner Auszug<br />
Der Dadaismus war eine künstlerische und literarische<br />
Bewegung, die 1916 gegründet wurde und<br />
sich durch Ablehnung „konventioneller“ Kunst<br />
bzw. Kunstformen – die oft parodiert wurden – und<br />
bürgerlicher Ideale auszeichnete. Von Dada gingen<br />
erhebliche Impulse aus auf die Kunst der Moderne<br />
bis hin zur heutigen Zeitgenössischen Kunst. Der<br />
Begriff Dada steht im Sinne der Künstler für totalen<br />
Zweifel an allem, für absoluten Individualismus und<br />
die Zerstörung gefestigter Ideale und Normen. Man<br />
ersetzte die durch Disziplin und die gesellschaftliche<br />
Moral bestimmten künstlerischen Verfahren<br />
durch einfache, willkürliche, meist zufallsgesteuerte<br />
Aktionen in Bild und Wort.<br />
CoBrA war eine von 1948 bis 1951 bestehende<br />
internationale Künstlergruppe. Der Name bildete<br />
sich aus den Anfangsbuchstaben der Städte<br />
Copenhagen, Brüssel und Amsterdam, aus denen<br />
die Gründungsmitglieder stammten. Die Mitglieder<br />
strebten die Abkehr vom Surrealismus und eine<br />
Wiederbelebung des Expressionismus mit den<br />
Stilmitteln des Informel an. Stilelemente der Volkskunst<br />
sowie kindlich-naive Techniken verbanden<br />
sich mit abstrakt-figurativen Farb- und Formgebungen.<br />
Die Künstler verband eine Ideologie, die sich<br />
gegen bürgerliche und akademische Vorstellungen<br />
wandte. Ihre Bilder sollten spontan entstehen und<br />
die Abkehr von jeglicher überlieferter Ästhetikvorstellung<br />
vermitteln.<br />
(Siehe Sammlung Selinka, neues Kunstmuseum Ravensburg)<br />
Charles Eames war ein US-amerikanischer Designer<br />
und Architekt. Gemeinsam mit seiner Frau<br />
Ray Eames trug er wesentlich zur Entwicklung des<br />
US-amerikanischen Nachkriegsdesigns bei und<br />
inspiriert bis heute Designer vor allem durch seine<br />
funktionalen Möbelentwürfe. Zusammen mit seiner<br />
Ehefrau Ray entwickelte er zunächst während des<br />
Zweiten Weltkrieges im Auftrag der US-Regierung<br />
unter anderem Flugzeugteile, Beinschienen und<br />
Tragbahren aus dreidimensional verformten Sperrholzplatten.<br />
Aus der Technik des Verbiegens von<br />
Schichtholz unter Dampf leitete er verschiedene<br />
Möbelentwürfe ab. Später arbeitete das Ehepaar<br />
Eames in verschiedensten Bereichen wie Architektur,<br />
Ausstellungskonzeption, Fotografie und<br />
Multimedia-Präsentationen. Werke wie der Plastic<br />
Armchair (Vitra, 1950 / 53) oder der Lounge Chair<br />
(1956) sind bekannte Ergebnisse von Eames.<br />
Andy Warhol war ein US-amerikanischer Grafiker,<br />
Künstler, Filmemacher und Verleger sowie Mitbegründer<br />
und bedeutendster Vertreter der US-amerikanischen<br />
Pop Art. Seine Karriere begann bereits<br />
in den 1950 er Jahren. Bekannt wurde er anfangs<br />
vor allem für seinen Siebdruck. Damit stellte er<br />
ganze Serien von Motiven dar, die jeder kennt, wie<br />
beispielsweise Marylin Monroe oder eine Suppendose<br />
von Campbell’s. Anfang der 1960 er Jahre<br />
machte er sich mit dem Siebdruck vertraut und<br />
begann intensiv Bilder aus Flugblättern, Kinoheften,<br />
Zeitschriften oder dem Time-Magazine auszuschneiden<br />
und zu sammeln, um sie für seine Bilder zu<br />
verwenden. Kennzeichnend für die folgende Periode<br />
seines Schaffens ist die Verwendung von weit<br />
verbreiteten, jedem Amerikaner vertrauten Motiven<br />
(meist aus der kommerziellen Werbung und Pressefotos),<br />
von denen er Siebvorlagen herstellen ließ<br />
und die er dann seriell wiederholte. Man begegnete<br />
diesen Bildern zunächst mit totalem Unverständnis.<br />
Nur wenige erkannten die revolutionäre Neuerung<br />
von Warhols Sichtweise. Es ist die Auswahl, die<br />
Gestaltung, und das ihr zugrunde liegende Konzept,<br />
das seine Arbeit entscheidend prägte.
form<br />
follows<br />
function<br />
Damien Hirst ist ein britischer Bildhauer, Maler, Konzeptkünstler und Kurator<br />
einzelner Ausstellungen. In den 1990 er Jahren wurde er einer der bekanntesten<br />
Vertreter des Phänomens Young British Artists. Vor allem durch provozierende<br />
Plastiken, die sich mit den Themen Tod, Religion, Leben und Konsumkultur<br />
befassen, stieg sein Bekanntheitsgrad. Zu seinen bekanntesten Werken gehören<br />
mehrere in Formaldehyd eingelegte Tierkörper sowie ein mit Diamanten<br />
besetzter menschlicher Schädel mit dem Titel For the Love of God.<br />
Das Staatliche Bauhaus wurde von Walter Gropius in Weimar als Kunstschule<br />
gegründet. Es bestand von 1919 bis 1933 und gilt heute weltweit als Heimstätte<br />
der Avantgarde der Klassischen Moderne auf allen Gebieten der freien<br />
und angewandten Kunst. Die Ideen verbreiteten sich rasant und wurden zum<br />
wichtigsten Architektur- und Designstil des 20. Jahrhunderts. Im Bauhaus<br />
wurden die traditionell getrennten Bereiche der Bildenden Kunst, der Angewandten<br />
Kunst und der Darstellenden Kunst auf der Grundlage des Konzeptes<br />
miteinander verbunden, was wiederum starke Ausstrahlung auf Malerei,<br />
Darstellende Kunst und Musik hatte. Ebenso stellte es eine Gemeinschaft<br />
zwischen Lehrenden und Lernenden dar und hatte sich zum Ziel gesetzt, den<br />
Wesensunterschied zwischen Künstlern und Handwerkern aufzuheben, die<br />
Kluft zwischen Technik und Kunst zu überwinden. Walter Gropius praktizierte<br />
den vom Architekten Louis Henry Sullivan (1856 –1924) geprägten Grundsatz<br />
„Form follows Function“.<br />
Otl Aicher war einer der prägendsten deutschen Gestalter des 20. Jahrhunderts<br />
und genoss große internationale Anerkennung. Aicher ist einer der Wegbereiter<br />
des Corporate Design: So entstand noch an der Hochschule für Gestaltung in<br />
Ulm das visuelle Erscheinungsbild der Lufthansa, das bis heute in einer leichten<br />
Modifikation verwendet wird. Für die Olympischen Spiele von München<br />
definierte er konsequente Gestaltungsrichtlinien, die von der Uniform bis zur<br />
Eintrittskarte reichten. Mit seinen radikal reduzierten Piktogrammen erfand das<br />
Team um Otl Aicher eine neue Zeichensprache, die von allen Menschen sofort<br />
verstanden wurde.Aichers Arbeit hatte großen Einfluss auf das Erscheinungsbild<br />
Westdeutschlands in der Nachkriegszeit. Er steht für die optische „Läuterung“<br />
deutschen Designs und deutscher Unternehmen nach dem Krieg. Dabei<br />
spielt auch seine konsequente Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus<br />
und seine Freundschaft mit der Familie Scholl eine Rolle.<br />
19
GeSundheit
22 Gesundheit<br />
Wenn jemand Gesundheit sucht, frage erst, ob er<br />
bereit ist, künftig die Ursachen der Krankheiten zu<br />
meiden. Erst dann darfst du ihm helfen.<br />
[Sokrates]
Die beiden größten Verlockungen der Gegenwart<br />
bestehen im unlösbaren Widerspruch zwischen Aufstieg<br />
und Ausstieg. Aufstieg wird neben Kompetenz-<br />
oder Machtzuwachs vor allem am Grad einer<br />
Gehaltserhöhung beurteilt. Der Wert des Menschen<br />
definiert sich für den Aufsteiger über die verfügbare<br />
Geldmenge; soziale Anerkennung gewinnt er durch<br />
Statussymbole. Er macht sich von jenem System<br />
abhängig, das ihm die Anerkennung ermöglicht.<br />
Ausstieg dagegen wird am Grad des Verzichts auf<br />
den Aufstieg bemessen. Der Wert des Menschen<br />
liegt für den Aussteiger in der Erlösung von den<br />
Schlüsselreizen des Macht- und Geldzuwachses.<br />
Nehmen wir an, dass der Kampf um soziale An-<br />
erkennung heute vor allem ein wirtschaftlicher<br />
um den attraktivsten Job sei und der Mensch der<br />
Gegenwart seine Identität vornehmlich mit einem<br />
sicheren Arbeitsplatz verbindet.<br />
Und wenn er es nicht will? Oder nicht mehr will?<br />
Oder nicht kann?<br />
Nichts ist in den letzten Jahren zu einer machtvolleren<br />
gesellschaftlichen Konstante geworden wie die<br />
Erschöpfung. Die Zahl der Burnouts steigt, Panikattacken<br />
nehmen zu, Angst im Verbund mit Depression<br />
gehört mittlerweile zur vierthäufigsten Todesursache<br />
in westlichen Industriestaaten und wird 2020<br />
nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen zur zweithäufigsten<br />
aufsteigen. Mehr als ein Viertel der Europäer<br />
leiden an den zwölf häufigsten psychischen Krank-<br />
23<br />
heiten; 70 % der Krankschreibungen in Deutschland<br />
gehen auf psychische Erkrankungen zurück. Die<br />
spätmoderne Wirtschafts-Gesamtgemeinschaft ist<br />
auch eine Ansammlung von Sozialphobikern und<br />
Angstpatienten mit prototypischem Karriereverlauf:<br />
Druckzuwachs, Überlastung, Selbstüberschätzung,<br />
Stress-Pegelüberschreitung, Panikattacken, Angst<br />
vor Menschen, Angst vor Massen, Angst in Zügen,<br />
U-Bahnen, Flugzeugen, Todesangst, soziale Isolation,<br />
Angst vor der Angst. Aussteigen aus einem verselbstständigten<br />
System pathologischer Umstände<br />
wäre ein Akt eigentherapeutischer Klugheit, sein<br />
Selbst zu retten. Der Ausstieg ist somit eine Selbstverlagerung:<br />
die Rettung der eigenen Schöpfung vor<br />
der Erschöpfung in eine qualitativ neue Dimension.<br />
Viele Beschäftigte ziehen kaum noch eine Grenze<br />
zwischen Arbeit und Freizeit, sind immer erreichbar.<br />
Das Leben auf stand-by bleibt nicht ohne Folgen:<br />
vor allem Krankschreibungen aufgrund psychischer<br />
Diagnosen steigen seit der Berichterstattug im Jahr<br />
2012 kontinuierlich an.<br />
Seit geraumer Zeit profitiert unter anderem auch<br />
eine Erlösungsindustrie von den Krankheiten der<br />
zwangsmobilen Insassengesellschaft. Zeitcoaches<br />
bieten „Sabbatzeiten“ an – den, wie es in Annoncen<br />
heißt, „bewussten Ausstieg auf Zeit“: raus aus<br />
der Routine, aus dem Alltag“, hinein in einen völlig<br />
anderen Lebenskontext für eine definierte Zeit<br />
zwischen drei und zwölf Monaten.
Krankenstand nach diagnosen<br />
Krankschreibungen wegen seelischer Probleme sind weiter auf dem Vormarsch:<br />
In den letzten zwölf Jahren stiegen die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen<br />
um 62 Prozent. Dies zeigt die Auswertung des aktuellen DAK-Gesundheitsreports.<br />
Das IGES Institut, Berlin, wertete dafür Daten von 370.000 erwerbstätigen Versicherten<br />
in Bayern aus.<br />
DAK Gesundheitsreport 2013<br />
Syptome<br />
Kreislaufsystem<br />
24 Gesundheit | Statistiken<br />
Infektionen<br />
Verdauungstrakt<br />
Nervensystem, Augen,<br />
Ohren<br />
Offenbar steigen in den Betrieben vielerorts die Anforderungen und Be lastungen.<br />
Ursache dieser Entwicklung sind vor allem psychische Erkrankungen.<br />
Sie nehmen überdurchschnittlich zu. Für Unternehmen und deren nachhaltige<br />
Personalpolitik bedeutet das: Betriebliches Gesundheitsmanagement gewinnt<br />
zunehmend an Bedeutung. Neben klassischen Angeboten der Gesundheitsförderung<br />
und sorgfältigen Analysen der Arbeitsunfähigkeitsdaten müssen neue<br />
Angebote zur Stärkung der psychischen Gesundheit geschaffen werden.<br />
Muskel-Skelett-System<br />
5 %<br />
Neubildungen<br />
Psychische Erkrankungen<br />
10 % 15 % 20 % 25 %<br />
Sonstige<br />
Atmungssystem<br />
Verletzungen
fehltage aufgrund psychischer<br />
erkrankungen<br />
2009<br />
Die Krankschreibungen von Arbeitnehmern aufgrund psychischer Leiden erreichten 2012 einen neuen<br />
Höhepunkt. Laut aktuellem DAK-Gesundheitsreport haben sich zwischen 1997 und 2012 die Fehltage<br />
durch Depressionen und andere psychische Krankheiten mehr als verdoppelt (plus 165 %).<br />
DAK Gesundheitsreport 2013<br />
2010<br />
2008<br />
2011<br />
2007<br />
2012<br />
2006<br />
1997<br />
2005<br />
30 %<br />
1998<br />
2004<br />
50 %<br />
1999<br />
2003<br />
2000<br />
70 % 90 %<br />
2002<br />
2001<br />
25<br />
110 % 130 % 150 % 170 %
PortrAitS
POR<br />
UG
christine häring, 29<br />
from Germany to Portugal<br />
29
30 Aussteiger-Portrait | Christine Häring<br />
Wo die liebe hinfällt<br />
Surfcamp in figueira da foz.<br />
Als ich 2009 auf einem Portugal-Surftrip mit einer Freundin war, verbrachten wir<br />
unter anderem ein paar Tage in Figueira da Foz. Filipe habe ich dort im Hostel<br />
kennengelernt. Wir haben uns unterhalten, und er hat mir von seinem Leben<br />
und von seiner Heimat Figueira da Foz erzählt. Ich habe zu der Zeit noch in<br />
Deutschland beim TIDE Surfmagazin als Grafik Designerin gearbeitet und wir<br />
waren immer auf der Suche nach spannenden Themen. Filipe erzählte mir, wie<br />
er Surflehrer geworden ist: Er hat 10 Jahre als Investmentbanker gearbeitet und<br />
trotz gutem Einkommen seinen Job von heute auf morgen gekündigt, um hauptberuflich<br />
als Surflehrer zu arbeiten. Sein Werdegang und seine Lebenseinstellung<br />
haben mich ziemlich schnell beeindruckt. Als ich dann noch erfuhr, dass in Figueira<br />
da Foz die längste rechtsbrechende Welle in Europa existiert – was nicht viele<br />
wissen – hatte ich sofort eine Geschichte für das Surfmagazin im Kopf.<br />
1
Nach meinem Urlaub habe ich meinem Redaktionschef<br />
davon erzählt und zwei Monate später im<br />
Dezember war ich wieder zurück in Portugal. Filipe<br />
hat mir viel von seiner Heimat gezeigt und mir<br />
bei meinem Artikel geholfen – so haben wir uns<br />
kennengelernt und verliebt. Zwei Jahre lang hatten<br />
wir eine Fernbeziehung über 2097 km Luftlinie und<br />
sahen uns nur im Winter, wenn Filipe zu mir nach<br />
Deutschland kam. Ganz nach Portugal gezogen bin<br />
ich erst 2011 – seitdem leben und arbeiten wir die<br />
Sommer über in Portugal. Die Winter verbringen wir<br />
gemeinsam in Deutschland.<br />
Warum ich mich für Portugal entschieden habe:<br />
Ich habe mich dafür entschieden, mit Filipe zusammen<br />
zu leben und unseren Traum vom eigenen<br />
Surfcamp zu verwirklichen. Eine Fernbeziehung<br />
kam für mich nicht mehr in Frage. Filipe hat hier seine<br />
Wurzeln, er kennt den Ort in und auswendig und<br />
weiß, wann und wo die Wellen am besten sind. Wir<br />
brauchen uns kein Netzwerk aufzubauen, wie es bei<br />
den meisten Auswanderen der Fall ist. Für mich ist<br />
das in jeder Hinsicht eine große Unterstützung.<br />
Trotzdem verliere ich den Kontakt zu meiner eigenen<br />
Heimat nicht, da wir den Winter bei mir zu<br />
Hause verbringen und dort arbeiten. So bleibt das<br />
Gleichgewicht erhalten, und niemand muss seine<br />
Heimat, seine Familie und Freunde aufgeben.<br />
1 Eine Surfschülerin, die gerockt hat.<br />
Das Schöne beim Wellen reiten-<br />
Unterricht ist, wenn die Leute<br />
Spaß und Erfolg haben!<br />
2 Wir sind in Figueira da Foz,<br />
weil wir unsere Surfspots und<br />
Strände lieben.<br />
3 Besprechung am Strand mit einer<br />
Schülerin.<br />
4 Das bin ich mit meinem absoluten<br />
Lieblingssurfboard. Es hat Sterne<br />
auf der Nase, und für mich ist es<br />
ein „Magic Board“, weil ich damit<br />
richtig Wellenreiten gelernt habe.<br />
5 Unsere Surfbretter am Strand, ein<br />
perfekter Tag zum Well en reiten.<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
31
32 Aussteiger-Portrait | Christine Häring<br />
i can not help concluding that this man felt the most supreme pleasure<br />
while he was driven on so fast and smoothly by the sea. [captain James cook]<br />
„chrissy – erzähl’ mir von<br />
deiner Geschichte“<br />
Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />
Mutig sein – etwas wagen. Gegen den Strom<br />
schwimmen. Bequemlichkeit bekämpfen. Risiko<br />
eingehen. Veränderung. Ausprobieren. Alltag<br />
hinter sich lassen. Nicht der Herde folgen und das<br />
für richtig befinden, was alle anderen machen,<br />
sondern stattdessen eigene Entscheidungen<br />
treffen, Individualist sein, Erfinder. Ich denke vor<br />
allem an Menschen, die ihrem Herzen folgen, die<br />
sich nicht von der Meinung anderer beeinflussen<br />
lassen (tu dies, tu das, ach du kannst doch nicht,<br />
was denken die Leute, denk an deine Zukunft,<br />
denk an deine Altersvorsorge, …). Menschen, die<br />
ihren eigenen Weg gehen – auch gegen den<br />
Mainstream. Es gibt Menschen, die ihr ganzes<br />
Leben lang einen Beruf ausüben, der sie nicht<br />
glücklich macht. Aus Angst vor Veränderung,<br />
Geldmangel oder Ansehensverlust in der Gesellschaft<br />
bleiben sie hängen, sind unzufrieden – und<br />
werden dann sogar krank. Aussteiger sind für<br />
mich Menschen, die mutig sind, ihren Träumen<br />
folgen und dabei auch das Risiko wagen. Für mich<br />
persönlich bedeutet aussteigen bzw. einsteigen,<br />
Prioritäten setzen und Entscheidungen zu treffen.<br />
Wir müssen jeden Tag Entscheidungen treffen –<br />
wichtigere wie belanglosere. Ziel ist, immer die<br />
für sich beste Entscheidung zu treffen.<br />
1 Surfspot in Figueira da Foz.<br />
2 Filipe und ich.<br />
1
Seit wann bist du „ausgestiegen“ und wohin?<br />
Ich wohne und arbeite seit 2011 mit meinem Freund in Portugal. Wir haben<br />
ein kleines Wellenreitcamp am Atlantik. Ich würde es nicht direkt als „Aussteigen“<br />
betrachten. Ich gehe einfach meinen Weg und versuche auf mein Herz<br />
zu hören.<br />
Was waren deine Beweggründe?<br />
Die Liebe in allen Dingen. Ich wohne in Deutschland, mein Freund ist Wellen -<br />
reitlehrer in Portugal und wohnt auch dort. Wir hatten zwei Jahre lang eine<br />
Fernbeziehung und konnten uns nur selten sehen. Das wollte ich ändern!<br />
Zum anderen liebe ich das Wellenreiten und mein Traum war es schon immer,<br />
am Meer zu leben und eine kleine Unterkunft zu führen. Da lag es einfach<br />
nahe, nach Portugal zu ziehen!<br />
Was machst du vor Ort?<br />
Alles was zum Betreiben eines Surfcamps gehört: Wellenreiten, unterrichten,<br />
Gäste beherbergen. Im Winter helfen wir meinen Eltern in der Bäckerei aus.<br />
Bist du glücklich, würdest du den selben Weg nochmals wagen?<br />
Ja.<br />
Gibt es für dich ein bestimmtes Objekt, das du<br />
sofort mit „aussteigen“ in Verbindung bringst?<br />
Meine Flugtickets und mein Surfboard.<br />
www.figueirasurfcentre.com<br />
2
FRA<br />
CE
hendrikje Schumann, 34<br />
from Germany through europe<br />
&<br />
35
Mit Keule durch europa<br />
Aussteigen ist mein unbewusster traum seit ich das erste Mal<br />
mit 12 Jahren in Venezuela war. die unzähligen fremden<br />
eindrücke haben mich schon damals fasziniert und mit den<br />
nächsten Jahren einen traum entstehen lassen.<br />
Als ich mit Anfang zwanzig geheiratet habe, wählte<br />
ich einen Partner, der auch reiste und mit dem das<br />
Aussteigen ein gemeinsames Ziel war – damals war<br />
es Brasilien. Jung wurde ich wieder geschieden –<br />
stand vor einem neuen Leben. Ich begann zu segeln<br />
und war jedes Jahr mehrere Wochen auf See.<br />
Auch in dieser Zeit schwirrten immer wieder Ideen<br />
in meinem Kopf, sich mit einem Boot abzusetzen,<br />
auszusteigen, in die Welt zu segeln..<br />
Mehrere Jahre später lernte ich wieder einen Mann<br />
kennen, wir verliebten uns, arbeiteten kurze Zeit<br />
zusammen und machten Pläne, für das nächste<br />
Jahr zusammen die Welt zu besegeln und für ein<br />
paar Jahre auszusteigen. Kurze Zeit später wurde<br />
er aber sehr krank und starb. Für mich brach eine<br />
Welt zusammen und mir wurde bewusst, wie<br />
zerbrechlich das Glück sein kann. Dass es innerhalb<br />
von wenigen Wochen einfach vorbei sein kann!<br />
Also begrub ich den Traum vom Weltbesegeln.<br />
Mein Reisefieber aber blieb. Zwei Jahre später, ich<br />
berappelte mich gerade wieder so langsam, war<br />
beruflich erfolgreich und von liebevollen Freunden<br />
und einer guten Familie umgeben, da wurde meine<br />
beste Freundin psychisch sehr krank. Sie ist mir<br />
mein Leben lang so nahe wie man sich als Freundinnen<br />
nur sein kann. Sie war so krank, dass sie mehr<br />
tot als lebendig war. Wieder brach über mir die Welt<br />
zusammen. Dann wurde auch noch mein Hund Ben<br />
krank. Ihm wurde nur noch kurze Lebenszeit diagnostziert.<br />
Da fragte ich mich schon: Warum muss<br />
mir das alles passieren? Ich versuche mein Leben<br />
lang, ein guter Mensch zu sein, freundlich und hilfsbereit,<br />
vertrauenswürdig und ehrlich, warum also<br />
ich? Ich glaube immer daran, dass jedes Ereignis im<br />
Leben zum Lernen da ist, also gibt es keine unnützen<br />
Erfahrungen – aber was sollte ich lernen? Im<br />
Nachhinein bin ich dankbar für diese Erfahrungen,<br />
1
denn sie haben mich darauf gestoßen, dass das Leben<br />
etwas Kostbares ist und man nie wissen kann,<br />
wieviel Zeit man noch hat. Und dass man jeden Tag<br />
„erleben“ und nicht warten sollte. Ich fing an, einen<br />
2 Jahres-Trip mit einem Wohnmobil durch Europa zu<br />
planen. Ich wählte zuerst die „Sicherheitsvariante“.<br />
Ich wollte zurückkommen können, wann ich wollte.<br />
Was ist, wenn ich nach 3 Monaten keine Lust mehr<br />
zum Reisen habe? Noch nie zuvor in meinem Leben<br />
bin ich im Camper verreist. Woher soll ich vorher<br />
wissen, ob mir das alles Spaß macht?<br />
Doch ich entwickelte ein starkes Vertrauen, so<br />
etwas wie Gottvertrauen. Und es fügte sich alles<br />
innerhalb weniger Wochen. Ein Freund bot seine<br />
leerstehende Scheune für meine Wohnungsausstattung<br />
an; Von der Nachbarin meiner Eltern bekam<br />
ich kostenlos eine Garage zur Verfügung gestellt, in<br />
der ich meinen abgemeldeten Neuwagen unterstellen<br />
konnte. Ich gab einen Sucheintrag für mein<br />
Wunschmobil bei ebay ein und fand innerhalb kurzer<br />
Zeit das Richtige: Geräumig genug, um mich darin<br />
auch bei Regen aufzuhalten, aber nicht zu groß,<br />
um über ungepflasterte Straßen fahren zu können<br />
oder um abgelegene Orte zu erreichen. Es war ein<br />
Oldtimer, steuergünstig, ohne Umweltplakette zu<br />
fahren, eine hintere Rücksitzbank mit Blick aus dem<br />
Fenster und eine weitere Schlafmöglichkeit – kurzum<br />
ein Wohnmobil, in dem es mehrere Personen<br />
gemütlich haben konnten. Alles in allem hat es mich<br />
5000 € gekostet.<br />
Es waren besondere Tage für mich, als ich meine<br />
Wohnung zum Auszug zusammenräumte. Ich ging<br />
durch jedes einzelne Zimmer meiner Wohnung,<br />
nahm jedes Stück in die Hand und fragte mich bei<br />
jedem Teil: „Brauchst du das zum Leben im Aussteigermobil?“<br />
Die Antwort war meist: „Nein!“. Es<br />
war nicht viel, was für meinen neuen „Haushalt“<br />
im Wohnmobil übrig blieb. Ich wusste ja: Ich kann<br />
jederzeit zurück kommen!<br />
Ich habe in diesem ersten Jahr nicht ein Stück<br />
meines alten Lebens vermisst!<br />
Aussteiger-Portrait | Hendrikje Schumann 37<br />
Ich war schon immer gut im „Wegschmeißen“, das<br />
räumt die Seele auf. Der Abschied von Freunden<br />
und Familie fiel mir relativ leicht, ich wollte einfach<br />
weg. Gut, dass es mir so schlecht ging und dass ich<br />
nur noch Kraft hatte, mich um mich selbst zu kümmern<br />
und mich so schnell wie möglich auf die Reise<br />
zu begeben. Als ich dann endlich aufbrach, hatte ich<br />
das Gefühl, dass ich nichts Unerledigtes hinter mir<br />
gelassen hatte und getrost loslassen konnte und<br />
meiner Seele und meinem Traum nachgehen durfte.<br />
Die ersten zwei Wochen waren hart, sehr hart! Ich<br />
war einsam, nicht die ersten Tage, da weinte ich vor<br />
Glück über die Freiheit. Doch mit der Zeit wurde die<br />
totale Einsamkeit immer stärker. Aber nicht ein einziges<br />
Mal habe ich daran gedacht, zurück zu fahren.<br />
2<br />
3<br />
1 Mein Hund Ben und ich<br />
beim Raufen.<br />
2 Darf ich vorstellen – das ist Keule.<br />
3 Ich lerne Maja (7Jahre) und ihre<br />
Eltern Micha und Andy kennen.<br />
Wir verbingen die Zeit auf<br />
wundervoll entspannte Art und<br />
Weise. Jeden Tag ausschlafen,<br />
vier Stunden Kaffee trinken, am<br />
Strand liegen. Hier Maske mit<br />
selbstgepflückter Aloevera.
38 Aussteiger-Portrait | Hendrikje Schumann<br />
38<br />
Nach 2,5 Wochen mit mir und meinen Gedanken und Gefühlen alleine, mit<br />
der ungewohnten Handhabung des großen Wohnmobils, lernte ich die ersten<br />
Menschen auf meiner Reise kennen. Diese nahmen mich auf und zeigten mir,<br />
dass es möglich ist Spaß zu haben, unbeschwert zu sein, die wenigen Mittel<br />
ausnahmslos zu teilen, füreinander da zu sein und dass man vertrauen muss.<br />
Genau solche Menschen habe ich um mich gebraucht. Jedes Mal wenn ich nach<br />
Deutschland in mein altes Umfeld komme, fühle ich mich wie ein Alien, aber ich<br />
schweige und beobachte die Menschen, schaue mich an, wie ich noch vor 1,5<br />
Jahren war. Über diese innerliche Veränderung spreche ich auch nur mit Gleichgesinnten.<br />
Manches im Leben muss man einfach selbst erfahren, um darüber<br />
sprechen zu können.<br />
Mein Plan war es, ganz Europa zu bereisen. Mein erstes Ziel war Spanien. Eine<br />
Aussteigerfreundin besuchen, die dann aber ihr Leben in Spanien kurzfristig aufgab<br />
und nach Deutschland zurückkehrte. Dann ließ ich mich nach Frankreich treiben,<br />
an einen Ort, an dem ich als Jugendliche schon mal Urlaub gemacht hatte.<br />
Hier lernte ich dann Menschen kennen. Und sobald das geschieht, passieren dir<br />
Dinge, die nicht mehr zu planen sind. Deswegen rate ich jedem: Der Plan ist,<br />
keinen Plan zu haben! Ich wollte von Anfang an alles selbst schaffen, nicht vom<br />
Staat leben oder Almosen annehmen. Ich habe so lange gerechnet und gespart,<br />
bis es möglich war, alles selbst mit geringsten Mitteln zu ermöglichen. Ich hatte<br />
eine Auslandsreiseversicherung für zwei Jahre im Voraus bezahlt, Rücklagen um<br />
jederzeit zurückkommen zu können und Geld, um das Auto zu finanzieren. Ich<br />
lebe von 500 € im Monat und trotzdem wie eine Fürstin! Als ich wieder für 1,5<br />
Monate in Deutschland war, habe ich in meinem vorherigen Job gearbeitet, um<br />
mir das Weiterreisen zu ermöglichen.<br />
Auch unterwegs arbeite ich in den unterschiedlichsten Berufen. Als Putzfrau,<br />
Gärtnerin, Kosmetikerin, Masseurin und zuletzt als Malerin. Gerade das ist so<br />
abwechslungsreich und ermöglicht mir, immer wieder neue Dinge zu erleben.<br />
Man trifft Menschen, die ähnlich sind, und von jedem Einzelnen nehme ich etwas<br />
ganz Besonderes mit – kleine gehütete Diamanten in meiner Seele. Wenn<br />
ich beobachte, wie die Menschen, die ich kennengelernt habe, so sind, sehe<br />
ich meine eigene Veränderung.<br />
1 Die Dame aus Singapur malt<br />
meine Keule, ich bin zu Tränen<br />
gerührt. Wer malt schon mein<br />
Auto? Zu Kaufen war das Bild<br />
leider nicht.<br />
2 Erstmal frühstücken.<br />
3 Ich übe fleißig mit meinem<br />
Didgeridoo.<br />
4 Die nächsten Tage ist windsurfing<br />
angesagt. Ich probiere mich<br />
zweimal darin, plumpse aber mit<br />
meinem Hintern nur ins Wasser<br />
5 Sonnenuntergang, mein<br />
abendl iches TV-Programm –<br />
i love it!<br />
1<br />
2<br />
3
Ich bevorzuge es, richtige Aussteiger kennenzulernen.<br />
Die meisten sind schon länger als ich unterwegs,<br />
und von diesen lerne ich jeden Tag etwas<br />
Neues. Ansonsten gibt es in jedem Land zu jeder<br />
Jahreszeit die unterschiedlichsten Reisenden. Von<br />
deutschen Rentnern in dicken weißen 0815-Wohnmobilen<br />
bis Winter-Camper, die zum Arbeiten im<br />
Sommer wieder in Deutschland sind. „Normale“ 2<br />
bis 3 Wochen-Urlauber, Aussteiger in Kommunen,<br />
die ein ganz anderes hochinteressantes Leben<br />
führen. Am wichtigsten ist für mich das Gefühl der<br />
Freiheit, die Naturverbundenheit. Jeden Morgen<br />
schaue ich aus dem Fenster in meinem Alkoven,<br />
sehe den Sonnenaufgang über dem Meer, über<br />
einem See, hinter einem Berg, habe das Wissen, alles<br />
tun und lassen zu dürfen, was ich mag. Ich liebe<br />
es, auch meine Gitarre zu spielen. So kann ich mich<br />
ausdrücken, wenn ich alleine bin. Aber etwas habe<br />
ich in diesem Jahr Reisen gelernt: Nichts Materielles<br />
ist wichtig, alles ist ersetzbar und veränderbar.<br />
Die Erfahrungen sind einmalige Erlebnisse, nach<br />
denen ich süchtig geworden bin. Aus meinem alten<br />
Leben vermisse ich nichts.<br />
„Wie ist dein Alltag?“ Diese Frage stellt mir jeder.<br />
Manche Menschen können sich gar nicht vorstellen,<br />
wie das so sein könnte, nichts zu tun. Es kommt<br />
auf den Ort, die Menschen und das Wetter an.<br />
Einen Tag reise ich wirklich herum, verbringe einige<br />
4<br />
39<br />
Stunden im Auto und fahre Kilometer um Kilometer.<br />
Ich genieße die vorrüberziehende Landschaft<br />
und deren Veränderung und erlebe es, einfach mal<br />
detailgenau hinzuschauen, anzuhalten, wann immer<br />
ich etwas Schönes und Interessantes sehe. Und zu<br />
bleiben, wenn ich möchte, ohne ein Ziel erreichen<br />
zu müssen. Anfangs bin ich jeden Tag woanders<br />
hingefahren. Dieses Tempo entschleunigt sich aber<br />
nach kurzer Zeit. Einige Wochen habe ich an einem<br />
Platz immer 2 bis 3 Tage verbracht, bis ich weitergereist<br />
bin. Dann auch immer nur 10 bis 20 km weiter,<br />
um so viel wie möglich zu sehen. An vier Plätzen<br />
bin ich sogar mehrere Wochen lang geblieben,<br />
bis es mich dann weitergezogen hat. Es gab noch<br />
keinen Platz, an dem ich für immer bleiben wollte –<br />
danach bin ich, glaube ich, eigentlich auf der Suche.<br />
Mein Alltag besteht aus Ausschlafen, Kaffee trinken,<br />
frühstücken, an den Strand gehen, schwimmen,<br />
sonnen, surfen, wandern und klettern, einkaufen,<br />
tanken, Wasser auffüllen, manchmal etwas am<br />
Wohnmobil reparieren, Wohnmobil bemalen und/<br />
oder mit Muscheln bekleben, dekorieren, Gitarre<br />
spielen, Didgeridoo erlernen, die Natur kennenlernen,<br />
Kräuter sammeln, Beeren, Pilze und Blätter<br />
pflücken, lernen, wie man sich kostengünstig ernährt<br />
und lebt, Essen kochen, abwaschen, Wäsche<br />
im Fluß waschen. Das dauert alles etwas länger als<br />
im früheren Leben, aber das macht nichts, ich habe<br />
ja Zeit. Spaziergänge machen, Menschen kennenlernen,<br />
Lagerfeuerholz suchen, Sonnen- und Mondaufgang,<br />
Umgebung erkunden, in der Hängematte<br />
liegen, auf der Slackline laufen, Städtchen und Dörfchen<br />
anschauen, Tipps und Tricks der anderen aufschnappen<br />
und probieren. Einfach jeden Tag das Ziel<br />
5
1<br />
2<br />
3<br />
setzen, etwas Neues zu erlernen und zu entdecken.<br />
Jede Herausforderung, die ich ihn diesem Jahr<br />
persönlich, gesundheitlich, autobezogen, finanziell<br />
und menschlich auf den Wegen gelebt habe, habe<br />
ich nicht als „Problem“ empfunden. Ich habe mich<br />
innerlich entspannt, erfahren, dass so etwas einfach<br />
„nicht schlimm“ ist, sondern eine Lehre.<br />
Das schönste innerliche Geschenk hat mir ein sogenanntes<br />
„Problem“ beschert: Ich weiß jetzt was<br />
„Gottvertrauen“ ist, dass es immer Hilfe gibt, wenn<br />
ich sie erbitte und immer Menschen finde, die sich<br />
urplötzlich um mich kümmern und selbstlos helfen.
4<br />
Aussteiger-Portrait | Hendrikje Schumann<br />
41<br />
„nimm die Menschen so wie sie sind,<br />
andere gibt es nicht!“<br />
Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />
Freiheit und Leben.<br />
Seit wann bist du „ausgestiegen“ und wohin?<br />
01.06.2012 Europa, geplant ist noch Mittelamerika.<br />
Was waren deine Beweggründe?<br />
Das „Reisen“ war schon immer in mir. Persönliche<br />
massive Verluste in mehreren Jahren, die<br />
mich nachdenklich stimmten, aber auch nicht<br />
mehr zögern ließen.<br />
Was machst du vor Ort?<br />
Neue Menschen kennenlernen, die so sind wie<br />
ich. Land, Kultur und jeden Tag Neues lernen<br />
(Musik instrumente, Surfen, Sport, Natur und<br />
Survival training).<br />
Bist du glücklich, würdest du den selben Weg<br />
nochmals wagen?<br />
JAJAJA!!!<br />
Gibt es für dich ein Objekt das du sofort mit<br />
„aussteigen“ in Verbindung bringst?<br />
Lächeln und große Freude, aber niemals etwas<br />
Materielles.<br />
www.rikes-tour.de<br />
1 Jeden Morgen ein anderer<br />
traumhafter Ausblick.<br />
2 Achso und mal ein bischen<br />
Wäsche waschen, hoffentlich<br />
sieht´s der Ranger nicht.<br />
3 Ben und ich.<br />
4 Die unendlichen Weiten von<br />
Le Porge, Frankreich.
P<br />
ATT
L<br />
Sabrina, 18 und Bohne, 20<br />
from Germany to everywhere<br />
43
1<br />
44 Aussteiger-Portrait | Sabrina mit Lira<br />
die Platte ist unser zu hause<br />
Seit 2,5 Jahren bin ich „auf Straße“, weil ich zu hause Probleme<br />
mit meinen Brüdern hatte. ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten.<br />
2<br />
3<br />
1 Mein Hund Lira und ich in<br />
Ravensburg am Grünen Turm.<br />
2 Armbänder und Tatoos sind mir sehr<br />
wichtig, ich trage sie immer bei mir.<br />
3 Das Tatoo am Knöchel: Kimi und Kira<br />
sind meine engsten Freundinnen.
Seit ich weg bin verstehe ich mich wieder besser<br />
mit ihnen. Ich bleibe da, wo ich unterkomme. Nach<br />
Ravensburg bin ich durch einen Kumpel gekommen.<br />
So habe ich weitere Leute kennengelernt. Jetzt<br />
bleibe ich erst einmal ein paar Tage hier, bis es mich<br />
nach Hamburg zieht – ich reise sehr gerne.<br />
Glücklich bin ich auf jeden Fall! Man ist immer in<br />
einer Gruppe, mit coolen Leuten, nie alleine und hat<br />
Spaß. Aber natürlich bringt das auch seine Schattenseiten<br />
mit sich. Ständig aufeinander sitzen bringt<br />
Stress. Bei Regen oder Eiseskälte draußen zu<br />
schlafen ist kein gutes Gefühl. Im Winter habe ich<br />
einen Armeeschlafsack, der bis - 20 Grad warm hält.<br />
Ohne den geht es nicht, die gibt es meistens von<br />
Sozialarbeitern bezahlt. Zu Stiftungen wie zum<br />
Beispiel die Bahnhofsmission kann man immer<br />
gehen, es gibt viele Organisationen, die helfen. Als<br />
ich in Ravensburg angekommen bin konnte ich<br />
endlich wieder auf einer Matratze schlafen, das war<br />
mein Highlight! Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich<br />
Grippe und musste auf der Platte schlafen. Kotzend<br />
und hustend habe ich versucht, sie auszukurieren.<br />
Ein Freund hat sich dann um mich gekümmert und<br />
mich zu sich geholt. Zwei Wochen danach bekam<br />
ich es leider wieder. Schlupfwinkel, eine Organisation<br />
für Obdachlose Jugendliche bietet die Möglichkeit<br />
zu essen, schlafen, doe helfen bei Rechtsfragen,<br />
haben einen Arzt der in Rente ist und hilft, hier<br />
habe ich auch schon Arzneimittel bekommen. Der<br />
Arzt ist aber in Stuttgart.<br />
Zu meiner Mutter habe ich mal wieder nach 5 Mo n-<br />
aten Kontakt. Bei meinem Vater habe ich mich seit 3<br />
Monaten nicht gemeldet, meine Eltern, leben<br />
getrennt. Ich bin gerade auf der Suche nach einem<br />
Job im sozialen Bereich, um Menschen zu helfen,<br />
ich höre gerne zu. Allerdings könnte ich dann nicht<br />
mehr uneingeschränkt reisen und die weite Welt entdecken. Aber aus Liebe zu<br />
meinen Eltern würde ich das in Kauf nehmen. Sie wünschen sich eine Absicherung<br />
durch eine abgeschlossene Ausbildung für mich. Ein Praktikum habe ich<br />
bereits ein Jahr lang in einem Altersheim gemacht. Diese Geschichten und<br />
Schiksale haben mich berührt und mich teilweise auch zum Weinen gebracht.<br />
Auf der Straße gibt es natürlich auch eine Kehrseite: Man kommt mit Drogen in<br />
Berührung. Auch wenn`s mal Stress gibt, musst du bleiben. Alleine Platte<br />
machen geht nicht, das ist viel zu gefährlich! Die alten und jungen Obdachlosen<br />
sind ziemlich getrennt. Die älteren Alkoholiker werden Berber genannt, von<br />
denen hält man sich fern. Mit sexuellen Übergriffen habe ich bisher keine<br />
Erfahrungen gemacht – Gott sei dank! Und wenn mal ein blöder Spruch kommt,<br />
ist meist ein Kumpel in der Nähe.<br />
Meine Tattoos und Armbänder sind mir sehr wichtig. Zwei Mädels, die mir viel<br />
bedeuten, habe ich mit einem Tattoo verewigt. Sie haben mir weitergeholfen,<br />
als ich depressiv war. Wenn meine Situation scheiße ist, dann erinnere ich mich<br />
daran zurück, lächle und weiss, es gibt immer jemanden, der mir hilft. Die<br />
Na men meiner Eltern will ich mir auch stechen lassen. Mir ist bewusst, dass<br />
unser Verhältnis zerfahren ist. Schließlich bin ich abgehauen, aber ich liebe sie<br />
trotzdem. Sie haben sich mit ihrer Erziehung bemüht und ich habe Scheiße<br />
gebaut, war tagelang weg, ohne mich zu melden! Meine Mutter hat mittlerweile<br />
aufgegeben mich zu kontaktieren. Auf der Platte wird viel geklaut und da<br />
macht ein Handy keinen Sinn. Sie wartet auf Nachrichten von mir und wenn es<br />
soweit ist freut sie sich sehr – es geht mir ja meistens gut! Erst im Januar gab`s<br />
Stress. Ich bin abgehauen, die Bullen haben bei ihr angerufen und ich habe<br />
daraufhin 5 Monate nichts von mir hören lassen. Nach dieser langen Zeit ist ihr<br />
ein Stein vom Herzen gefallen, als sie wusste, dass ich wohl auf bin. Unseren<br />
Kontakt würde ich wie mit einer Sozialarbeiterin gleichsetzen, eine gute<br />
„Bekannte“. Ich bin eher bei meinem Vater. Finanziell kann ich von meinen Eltern<br />
nichts erwarten. Als ich kürzlich Geld für meine Hündin und eine OP gebraucht<br />
hatte, musste ich selbst schauen, wie ich an Geld komme. Es ist nicht leicht,<br />
mit Hund auf der Platte zu leben. Ich kann sie niemandem brin gen, wenn ich<br />
Party machen will. Geschenkt bekommen habe ich sie über Bekannte aus<br />
Baden, die sie irgendwoher aus dem Internet haben. Sie kam aus schlechter<br />
Haltung. Hat sich versteckt, geknurrt und sogar Angst vor einem Ball.<br />
Jetzt muss ich erst einmal einen Personalausweis beantragen, dann Harz IV und<br />
wenn alles gut läuft, ab September eine Ausbildung anfangen. Ich werde meine<br />
Flexibilität und das Reisen sicher vermissen, das weiss ich jetzt schon. Heute<br />
schnorre ich für eine Fahrkarte und Hundefutter.<br />
45
46 Aussteiger-Portrait | Bohne<br />
Mein chef hat mich rausgeschmissen, weil meine<br />
leistung ihm nicht ausgereicht hat.<br />
Seit 4 Jahren bin ich in der Punkszene unterwegs.<br />
Mein Ausstieg ist das Resultat einiger unglücklicher<br />
Verkettungen und Reaktionen: Ich habe meinen<br />
Job verloren, bin daheim rausgeflogen, war mental<br />
schlechter Verfassung, war antriebslos, und so habe<br />
ich mein Leben selbst in die Hand genommen.<br />
Komplett ausgestiegen bin ich seit 2 Jahren.<br />
Ich habe eine angefangene Ausbildung zum Informationselektroniker,<br />
bin dann aber Anfang des zweiten<br />
Lehrjahres rausgeflogen. Jetzt bin ich auf der<br />
Suche nach einem neuem Job. Aussicht auf einen<br />
Teilzeitjob als Securitykraft auf dem Friedhof habe<br />
ich schon. Ich brauche wieder eine Perspektive und<br />
eine Aufgabe. Einen Rhythmus? Aufstehen, wann<br />
man Lust hat, meistens um 10 Uhr. Dann geht es<br />
in die Stadt, schauen wer da ist, oder man versucht<br />
sich irgendwie zu beschäftigen. Der Alltag auf der<br />
Straße macht träge.<br />
In jeder Stadt gibt es Kumpels, die wiederum Leute<br />
kennen. Man wird vorgestellt, macht Party, trinkt<br />
Einen zusammen und lernt sich kennen. So werden<br />
Kontakte geknüpft.<br />
Mit dem Betteln wird fürs leibliche Wohl gesorgt. Je<br />
Stadt ist es unterschiedlich, wo man schläft, manchmal<br />
kommt man bei Freunden unter. Oder man<br />
findet „ne Platte“ bei anderen Leuten und schließt<br />
sich an. Es ist meist eine friedliche, fast familiäre<br />
Atmosphäre, und man achtet aufeinander. In Stuttgart<br />
am Staatstheater ist ein guter Anlaufpunkt, hier<br />
kann man die Nacht verbringen.<br />
Gemischte Gefühle machen sich breit, wenn ich<br />
darüber nachdenke, ob ich glücklich bin oder nicht.<br />
Mein Ziel ist es, einen Job zu finden und regelmäßig<br />
ein Einkommen zu haben. Dann kann auch alles<br />
Weitere folgen, wie Wohnung usw. Die Blicke von<br />
Außenstehenden ignoriere ich mittlerweile, es fällt<br />
1<br />
2
1 Sabrina mit Hund Lira und mir in<br />
Ravensburg am Grünen Turm.<br />
2 Mein Outfit provoziert, dessen bin<br />
ich mir bewusst.<br />
3 Undercut und verzierte Lederjacke,<br />
das gehört zu mir.<br />
mir gar nicht mehr auf. Mit meinem Geld komme ich<br />
ganz gut zurecht. Es reicht, um sich zu versorgen.<br />
Falls größere Anschaffungen gemacht werden müssen,<br />
muss ich eben ranklotzen. Zum Beispiel, wenn<br />
es um Klamotten geht. Es wird was auf die Seite<br />
gelegt und umso mehr gebettelt. Was ich bekomme,<br />
variiert ziemlich stark. Das Minimum waren 3 €<br />
„Meine Jacke ist seit 4 Jahren<br />
überall dabei“<br />
3<br />
47<br />
am ganzen Tag. Das Höchste zu dritt einmal um die<br />
100 €. Zu meiner Mutter und meinem Bruder habe<br />
ich keinen Kontakt. Sie wohnen in Stuttgart und mein<br />
Verhältnis zu ihnen würde ich eher als gleichgültig<br />
und sporadisch bezeichnen. Ich kämpfe mich selbst<br />
durch. Nach Ravensburg bin ich wegen meiner<br />
Freundin gekommen.
IN<br />
I
Stefan hasters, 50<br />
from Germany to the whole world<br />
49
1<br />
50<br />
Ziemlich schnell habe ich gemerkt, dass<br />
ich aus den gewohnten Kreisen fliehen musste!<br />
ich konnte weder für mich noch für andere<br />
Verantwortung übernehmen.<br />
2<br />
3
1 Ich sitze in Mumbay, Colaba.<br />
Ein Ort an dem sich Reisende<br />
aus aller Welt treffen.<br />
2 Mit meinem Sohn Sammy,<br />
4 Jahre unterwegs.<br />
3 In Hampie, östlich von Goa.<br />
Man könnte sagen, dass der<br />
Mann ein richtiger Aussteiger<br />
ist. Er ist ein Sadu und lebt<br />
vom Betteln.<br />
4 Mit 15 Jahren, Abschlussfahrt der<br />
Realschule in München.<br />
5 Das bin ich mit 30 Jahren in Goa.<br />
4<br />
5<br />
Aussteiger-Portrait | Stefan Hasters<br />
51<br />
Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />
Distanz zum Gewohnten, Abstand bekommen,<br />
Abenteuer, Selbsterfahrung, wieder wach<br />
werden, Sinne einsetzen, Bewusstseinser-<br />
weit erung, Ängste durchleben, Freiheit, Flucht,<br />
seinen eigenen „Luxus“ erleben, Überlebenskampf,<br />
der eigenen Trauer begegnen und versuchen,<br />
sie zu überwinden.<br />
Seit wann bist du „ausgestiegen“ und wohin?<br />
Ich bin wohl eher ein temporärer Aussteiger<br />
gewesen. Wenn ich mal so recht drüber nachdenke,<br />
war ich nie ein Aussteiger in dem Sinne,<br />
weil ich nie wirklich irgendwo eingestiegen bin.<br />
Bin ca. 20 Jahre durch die Welt gereist, per<br />
Anhalter von Aachen nach Israel, mit dem Bus<br />
durch Guatemala, Belieze, Mexico, mit dem<br />
eigenem Auto durch Amerika, 17 mal durch Indien<br />
gereist, insgesamt 5 Jahre dort gewesen, und<br />
habe 2 Jahre in Spanien gelebt. Von 1993 bis jetzt<br />
gereist.<br />
Was waren deine Beweggründe?<br />
Zuerst eindeutig Flucht! Ich konnte mich selber<br />
nicht ertragen. Zudem hatte ich eine bewegte<br />
Vergangenheit/Kindheit zu verarbeiten. Misshandlungen<br />
und Brutalität in der Familie. Mein<br />
Aussteigen fing als Säugling an: nach der Geburt<br />
wurde ich für ein Jahr weggegeben, zur Tante.<br />
Danach bin ich nie wirklich in meiner Familie<br />
angekommen. Mit 17 Jahren habe ich alleine<br />
gelebt, bin kriminell geworden, Drogen, Jugendarest...<br />
dann die Heirat mit 27, Kind bekommen,<br />
schnell wieder geschieden. Danach wurde mir<br />
klar, dass ich unfähig war, für längere Zeit in einer<br />
Gemeinschaft zu leben. Weder für mich und erst<br />
recht nicht für Andere. Ziemlich schnell habe ich<br />
gemerkt, dass ich aus den gewohnten Kreisen<br />
fliehen musste, sonst wäre das mein Untergang<br />
ge we sen. 1993 kam ich zum ersten Mal nach<br />
Indien. Eine komplett andere Welt für mich.<br />
Friedlich. Und es war kein Machogehabe nötig um
52 Aussteiger-Portrait | Stefan Hasters<br />
2 3 4<br />
1
5<br />
zu überleben. Indien hat mich weicher gemacht.<br />
Der Tod war immer allgegenwärtig. Ich habe ihn<br />
förmlich angezogen. Die Krönung war meine<br />
Arbeit bei Mutter Theresa im Sterbehaus von<br />
Calkutta. An einer Tafel wurde täglich eine<br />
Strichliste geführt, wieviele Menschen starben.<br />
Keine Namen, nur Striche – sie hatten keine<br />
Namen. Die wirklichen Helden habe ich dort<br />
angetroffen, Menschen, die trotz unbeschreiblichem<br />
Leid lächelnd den Tod empfingen. Eigentlich<br />
arbeite ich als selbständiger Werbetechniker. Ich<br />
wohne in meiner Halle, habe bis heute kein<br />
wirkliches Zuhause, bin jobmäßig ständig in ganz<br />
Deutschland unterwegs. Als Kind musste ich<br />
Jahre im Büro meines Vaters wohnen. Heute lebe<br />
ich in meinem eigenen Büro. Anscheinend hat<br />
sich nicht viel geändert, außer dass ich mein<br />
Schicksal angenommen habe und mir darüber im<br />
Klaren bin, dass ich ein äußerst interessantes<br />
Leben habe. Und ich mag es! Ich möchte nicht<br />
tauschen mit der Pseudosicherheit anderer<br />
Lebensmodelle. Der Kampf hat nie aufgehört.<br />
Meine Freunde akzeptieren mich so wie ich bin.<br />
Das gefällt mir und darauf bin ich stolz.<br />
Im Moment kümmere ich mich um meinen<br />
krebskranken Kumpel, der gerade die Chemo<br />
durchlebt. Langsam kommt er durch die Krankheit<br />
dahin, wohin mich Indien gebracht hat. Er fängt<br />
an, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu<br />
trennen. Ich wünsche mir, dass er es schafft!<br />
53<br />
Bist du glücklich, würdest du den selben Weg<br />
nochmals wagen?<br />
Manchmal bin ich glücklich. Konstant glücklich war<br />
ich letztes Jahr in Le Porge. Vielleicht mache ich<br />
mir etwas zu viel Sorgen, dass der Mensch sein<br />
Gleichgewicht verloren hat und es genießt, seine<br />
dunklen Seiten zu leben. Es war kein Wagnis für<br />
mich, es war eine Notwendigkeit, diesen Weg zu<br />
gehen. Mein Instinkt ist wach, und ich bin ihm<br />
gefolgt, sonst wäre ich schon längst tot. Also alles<br />
richtig gemacht, so im Groben. Ich hoffe, dass<br />
mein Sohn irgendwann alles versteht und seinen<br />
Weg findet. Ich bin selten unglücklich. Ich<br />
wünschte, ich wäre es mal. Am schlimmsten ist<br />
es, wenn ich nicht sagen kann, was ich bin, wenn<br />
ich mich nicht mehr spüre. Vielleicht funktioniert<br />
der Mensch so, dass er sich mit Gegebenem<br />
abfindet, nur um zu überleben. Wenn ich meinen<br />
Lebensweg hätte selber schreiben dürfen, hätte<br />
ich einige Dinge ausgelassen. Wenn ich mir die<br />
Bilder aus Indien wieder ins Gedächtnis rufe, habe<br />
ich keinen Grund mich zu beklagen.<br />
1 Ein gläubiger Hindu. Das Bild<br />
wurde in Gorcana, südlich von<br />
Goa aufgenommen.<br />
2 In Kerala, auf den Backwaters,<br />
welche die Engländer damals<br />
in Indien als Wasserstraßen<br />
angelegt haben.<br />
3 Die Aufnahme entstand auf<br />
einem Markt in Mumbay.<br />
4 Ich finde den Kontrast zwischen<br />
alt und jung, traditioneller Kleidung<br />
und neuer Mode interessant.<br />
Verhüllt (im Sari) gehen die<br />
indischen Frauen an den Strand<br />
und ins Wasser.<br />
5 Goa – so schön Grün.
N<br />
GLA
helena Stephan, 28<br />
from Germany to england<br />
55
56 Aussteiger-Portrait | Helena Stephan<br />
What is the philosophy of<br />
typography for you?<br />
1<br />
„What?“ Glücklicherweise konnte ich im Bewerbungsgespräch<br />
bei dieser frage eine Punktlandung hinlegen.<br />
Seit Dezember 2007 bin ich in England und arbeite hier. Ich habe 4 Jahre in<br />
Ravensburg an der Schule für Gestaltung studiert. Das war eine super Zeit, in<br />
der ich viel Spaß im Studium und mit den Leuten hatte. Schon als wir uns für<br />
ein halbjährliches Praktikum – das Pflicht ist – bewerben mussten, kam mir der<br />
Gedanke, es in England zu probieren. Aber das hat leider nicht funktioniert. Gegen<br />
Ende des Studiums, so im Mai/Juni 2007, habe ich es nochmal versucht. Ich<br />
kann es nicht erklären, aber England war schon immer irgendwie in mir verankert.<br />
Wenn man sich bei so vielen Agenturen bewirbt, baut sich in einem jedes<br />
Mal Hoffnung auf, die dann mit der Zeit zerbröckelt oder abrupt zerstört wird<br />
– wie bei JumpMedia. Das war eine Agentur, die ich in Cornwall gefunden habe.<br />
Fragt mich nicht, wie ich auf Cornwall gekommen bin, ob es schlussendlich<br />
die Rosamunde Pilcher Filme waren oder das Surfen – ich kann es nicht mehr<br />
sagen. JumpMedia war die erste Agentur, bei der ich dachte „DIE ist es!“. Also<br />
– wieder mit den ganzen Unterlagen bewerben, 2 Wochen warten und dann<br />
anrufen. Beim Anruf am nächsten Tag habe ich dann erfahren, dass sie bereits<br />
jemanden eingestellt hatten. Toll, hätten sie ja früher sagen können.<br />
Mittlerweile war es Anfang August, und ich musste mir langsam überlegen, ob<br />
ich mit einem Mädel aus meinem Studium ein Surfcamp machen oder wie ich<br />
meinen September gestalten wollte. An dieser Stelle muss ich noch anfügen,<br />
dass ich noch nie zuvor etwas mit Surfen am Hut hatte. Hm, eigentlich wollte<br />
ich ja ab September arbeiten. Ok, nun wird es also Oktober werden. In Portugal<br />
habe ich wieder gemerkt, wie wichtig mir die Natur ist und dachte mir: „Oh toll,<br />
das kann ja was werden mit meinem Job. Bin ich da wirklich richtig in der Grafiker-Branche,<br />
wo man den ganzen Tag vorm Computer sitzt und die Rollläden<br />
runterlässt, wenn die Sonne scheint?“ Wir haben Mitte/Ende September, und<br />
ich bekomme eines Tages eine Mail von einem meiner Dozenten, in der er mich<br />
um einen Gefallen bezüglich einer grafischen Arbeit bittet. Ich schicke ihm also<br />
die Unterlagen und frage nebenbei, ob er nicht einen Tipp für mich bezüglich<br />
England hat. Er verweist mich an einen Bekannten. Ich telefoniere mit ihm, er<br />
gibt mir viele Tipps und sagt mir vor allem eines: „Helena, wenn ich du wäre, so<br />
jung, abgeschlossenes Studium, dann würde ich nach Tokio oder sonst wohin<br />
gehen. Wenn du aber hier einen Job suchst, musst du nach England reisen! “
4<br />
5<br />
Also, wieder googlen und entgegen meiner Erwartungen<br />
finde ich plötzlich eine Agentur in Cornwall!<br />
Und noch eine und noch eine. 10 insgesamt. Die<br />
erste Agentur, die ich entdecke, schmeißt mich fast<br />
vom Stuhl: Während ich mich durch die Webseite<br />
klicke, stoße ich außerdem auf lauter christliche<br />
Sachen: Logos für Kirchen, Flyer für eine Bibelschule<br />
und so weiter. Und ich denke mir: Das gibt‘s doch<br />
nicht! Wow, die machen das, was ich immer schon<br />
machen wollte. Wie die wohl so sind?<br />
Tu’s einfach. Ich schau mir meine Prophetien an<br />
und sehe, dass auf einem Zettel „Sprung ins kalte<br />
Wasser“ steht und „Klippe, auf der ich steh und<br />
weites neues Land vor mir“ und „Schritte wagen im<br />
Vertrauen auf einen neuen Weg“... Wow! Vielleicht<br />
ist das nun der Schritt, den ich wagen soll? Ich fange<br />
an, nach Flügen zu suchen und finde am 9. No -<br />
vember eine gute Möglichkeit zu fliegen. Meine Eltern<br />
waren zwar bis dahin nicht so richtig überzeugt<br />
von dieser Aktion.<br />
Auf nach Cornwall! Ich mache mich also am 9. No-<br />
v ember auf den Weg und komme schließlich nach<br />
verspätetem Abflug, Londoner U-Bahn-Stress,<br />
Bahnhofskuddelmuddel und einer 6-stündigen<br />
Zugfahrt in Penzance an. Es ist spät am Abend und<br />
ihr müsst zugeben, es IST seltsam, im Dunkeln an<br />
2<br />
3<br />
1 Ausflug an den Strand St. Ives.<br />
2 Ich vor den Klippen bei Lands End.<br />
3 Seagulls: Die großen Möwen, die<br />
den nichtsahnenden Touristen das<br />
Essen aus den Händen reißen,<br />
fast schon wie beim Hitchkock-<br />
Film „Die Vögel“.<br />
4 Stadtlauf 2011.<br />
5 2009 Taufe im Meer. Weil ich als<br />
Baby keine eigenen Entscheidungen<br />
treffen konnte und meine<br />
Taufe fuer mich damals sozusagen<br />
nicht wirklich was bedeutet hat,<br />
habe ich mich nochmals taufen<br />
lassen.
58 Aussteiger-Portrait | Helena Stephan<br />
einem fremden Ort anzukommen. Alles, was nach<br />
Herberge aussieht, hat schon geschlossen, aber<br />
schließlich finde ich ein Zimmerchen in einem Hotel.<br />
Am nächsten Morgen bekomme ich also einen<br />
ersten Eindruck von Penzance. Die Stadt gefällt mir,<br />
und ich beschließe, gleich ein bisschen Sightseeing<br />
zu machen. Nach einem wunderschönen Wochenende<br />
mit Meer und Wind fange ich also montags<br />
an, mich bei Agenturen telefonisch zu melden. Mein<br />
Alltag besteht von da an aus: Internetcafé, Agenturen<br />
anrufen und auf Grund ungünstigen Zeitpunkts<br />
immer wieder nachhaken. Und nebenher schau ich<br />
mir die Gegend ein bisschen an.<br />
Dann passiert‘s: Ich bekomme tatsächlich ein<br />
Vorstellungsgespräch, gleich am Mittwoch. Und das<br />
auch noch bei meiner Favouritenagentur! Wahnsinn!<br />
Was dann aber an dem Mittwoch passiert, ist<br />
einfach gewaltig. Nach einer eher unruhigen Nacht<br />
fahre ich am Morgen nach Long Rock und stehe<br />
dann vor dem Eingang von Wild Associates. Ein<br />
spritziger, eher kleingewachsener Mann macht mir<br />
die Tür auf und stellt sich mir als Kevin Wild vor. Ich<br />
zeige ihm meine Arbeiten, und er wirkt ziemlich<br />
angetan, immer wieder kommt ein „brilliant“ oder<br />
„excellent“ über seine Lippen. Was für ein krasses<br />
Vorstellungsgespräch. So was ist mir noch nie<br />
passiert – läuft wie geschmiert. Doch dann reißt<br />
mich eine Frage aus meiner Glückseligkeit: „Helena,<br />
would you be able to answer one question for me,<br />
please? What is the philosophy of typography<br />
for you?“<br />
„What?“ Äh... was für mich die Bedeutung von<br />
Typografie ist... oder so. Ok, ganz ruhig. Und da<br />
kommt er wirklich: Der Blitzgedanke! Halleluja! Ich<br />
frage, ob ich etwas zum Schreiben haben könnte<br />
und beginne, meinen Vergleich von Typografie mit<br />
dem Schlagzeuger und einer Band. Punkt. Ich habe<br />
den Nagel auf den Kopf getroffen. Mein – vielleicht<br />
zukünftiger? – Chef will wissen, ob ich noch Fragen<br />
habe und dann verabschieden sie mich mit dem<br />
Satz, dass sie sich innerhalb von 3 Tagen melden<br />
werden. Die Tage des Wartens sind furchtbar, ich<br />
kann kaum schlafen und versuche, mich abzulenken.<br />
Am Mittag gehe ich dann endlich online und da<br />
sehe ich die E-Mail: „Helena, we would like you to<br />
come and work at Wild Associates as soon as possible.<br />
Please give us a ring on…“. Gleich am nächsten<br />
Tag gehe ich in die Gemeinde von meinem jetzt<br />
tatsächlichen Chef, er stellt mich ein paar Leuten<br />
und dem Pastor vor. Die Gemeinde gefällt mir. Nach<br />
dem Gottesdienst stellt die Frau vom Pastor mich<br />
einer Frau namens Sarah vor, die einen Untermieter<br />
sucht. Noch am selben Nachmittag besuche ich die<br />
Lady und beschließe, das Zimmer zu nehmen. Am<br />
Donnerstag, den 22. November begebe ich mich<br />
also auf die Heimreise. Kaum daheim angekommen<br />
und alles erzählt, zieht es mich aber schon wieder<br />
zurück nach Penzance, und ich kann es kaum<br />
erwarten, am 1. Dezember wieder nach Cornwall zu<br />
fliegen, um endlich mit dem Arbeiten anzufangen.<br />
Die 3 Wochen vor Weihnachten sind ein guter Start<br />
für mich. Meine Arbeit gefällt mir jetzt immer noch<br />
sehr gut, und ich bin Gott so dankbar für einen Chef,<br />
der an mich glaubt, mich ermutigt, mich herausfordert,<br />
fröhlich ist. Wenn ich daran zurückdenke, wie<br />
oft ich gedacht habe „Ich kann nicht in einem Büro<br />
arbeiten...“, dann kann ich jetzt nur lachen und freue<br />
mich über meinen Job, in dem ich alle Freiheiten<br />
habe und sogar gern zur Arbeit gehe! Und die Leute<br />
in der Gemeinde: Ich liebe sie alle! Das klingt jetzt<br />
wie so ein billiger Satz von ‘nem Superstar, aber es<br />
stimmt. Viele hier sind sehr fröhlich und lustig, und<br />
ich kann mit allen lachen. Ich fühl mich so wohl!<br />
Diese Zeit in Cornwall ist bisher eindeutig die beste<br />
meines Lebens, aber gleichzeitig auch eine Zeit<br />
für mich, in der ich viel getestet und gefühlsmäßig<br />
durchgeschüttelt wurde. Es kann sein, dass das<br />
Ganze mit Cornwall plötzlich zu Ende geht, wer<br />
weiß schon, wie es kommen wird?<br />
Aber ich versuche, meine Hoffnung auf Gott zu setzen,<br />
Er hat immer einen Plan – und der ist perfekt.<br />
1
Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />
Das Wort „Aussteigen“ klingt wie „Alle Zelte<br />
ab brechen, alles hinter sich lassen, flüchten“.<br />
Ich betrachte mich selber demnach nicht als<br />
„Aussteiger“ in diesem Sinne.<br />
Seit wann bist du "ausgestiegen" und wohin?<br />
Ende 2007. Nach Penzance (Cornwall, England).<br />
Was waren deine Beweggründe?<br />
Wollte immer schon nach England. Cornwall<br />
deshalb, weil mich kurz davor das Surffieber<br />
gepackt hat. Und ich habe einen Job gesucht: Im<br />
deutschsprachigen Raum haben sich alle Türen<br />
geschlossen. Habe online ein Grafikbüro in<br />
Cornwall entdeckt, das sich sehr verlockend<br />
angehört hat. Diese Agentur war dann schlussendlich<br />
mein Hauptbeweggrund, mich dort zu<br />
bewerben (und hier arbeite ich nun immer noch).<br />
Was machst du vor Ort?<br />
Das, was ich studiert habe: Grafikdesign. Großteils<br />
Printmedien, Corporate Identity, aber auch<br />
Websites.<br />
Bist du glücklich, würdest du den selben Weg<br />
nochmals wagen?<br />
Absolut. Und ja.<br />
Gibt es für dich ein Objekt das du sofort mit<br />
„aussteigen“ in Verbindung bringst?<br />
Surfboard: Vermittelt Freiheit, Unabhängigkeit und<br />
Minimalismus (man braucht nur ein Board).<br />
1 Lets go surfing.<br />
2 Meine Schwester Miri zu besuch.<br />
3 Blick auf Porthcurno.<br />
3<br />
2<br />
59
OU<br />
T
I<br />
Andrea Süßenguth, 58<br />
Mein leben im richtigen Körper<br />
61
62 Aussteiger-Portrait | Andrea Süßenguth<br />
Ich wurde im falschen<br />
Körper geboren<br />
Nach 57 Jahren – ein Leben im richtigen Körper.<br />
1 Im Krankenhaus nach meiner OP.<br />
2 Meine Frau Karola und meine<br />
Tochter Janette, zu Besuch nach<br />
meiner dritten OP.<br />
3 Mit 18 Jahren. Wäre ich hier schon<br />
meinen Weg gegangen, wäre es<br />
ideal gewesen.<br />
1<br />
Eigentlich bin ich ein ganz normaler Mensch wie<br />
jeder andere auch. Aber ich habe eine Besonderheit,<br />
ich wurde im falschen Körper geboren. Inzwischen<br />
gehe ich mit meiner Transidentität völlig offen um.<br />
Das war aber nicht immer so. Bis Juli 2010 habe ich<br />
mein „Anderssein“ aus Angst und Scham versteckt.<br />
Ich habe versucht, das zu sein, was erwartet wurde.<br />
Warum? Mein Körper war männlich. Ich habe mir<br />
eingeredet, dass ich ja dann keine Frau sein kann.<br />
Im Alter von 55 Jahren habe ich es einfach nicht<br />
mehr ausgehalten, mich und andere zu belügen.<br />
Seit Anfang 2011 lebe ich als Frau, im April 2011,<br />
war mein offizielles Outing bei der Arbeit. Seit Mai<br />
2011 nehme ich Hormone und meine geschlechtsangleichende<br />
Operation war am 12.04.2012 in Krefeld.<br />
Keiner meiner Verwandten, Freunde und Bekannten<br />
hat mir deswegen den Rücken gekehrt. Meine Frau<br />
ist trotz anfänglicher Schwierigkeiten bei mir geblie-<br />
ben und auch meine 3 erwachsenen Kinder akzep-<br />
tieren mich so.<br />
Wie alles Begann<br />
Ich wurde am 28.12.1954 in Halberstadt geboren.<br />
Auf Grund äußerer Anzeichen wurde in meiner<br />
Geburtsurkunde das Geschlecht „männlich“<br />
vermerkt, und ich erhielt den Vornamen Wolfgang.<br />
Dass ich Gefühle habe, die nicht zu einem Jungen<br />
passen, merkte ich zum ersten Mal im Alter von ca.<br />
5 Jahren bei der Anprobe eines Kleides. Meine<br />
Mutter war Schneiderin. Sie nähte ein Kleid für<br />
meine Cousine. Als es fast fertig war und sie eine<br />
Anprobe benötigte, bat sie mich es zu probieren.<br />
Zuerst habe ich mich gesträubt, da ich ja ein Junge<br />
war und ich das Gefühl hatte, dass jungenhaftes Verhalten<br />
von mir erwartet wurde. Da ich aber den<br />
Wunsch verspürte, das Kleid anzuziehen, habe ich<br />
„klein beigegeben“. Ein herrliches Gefühl! Am<br />
liebsten hätte ich meiner Mutter gesagt, ich möchte<br />
auch ein Kleid haben. Ja, ich hätte es am liebsten<br />
nicht mehr ausgezogen. Im Nachhinein betrachtet,<br />
glaube ich sogar, sie hätte mir ein Kleid genäht und<br />
ich hätte es anziehen dürfen, wenn mein Vater nicht<br />
zu Hause war. Wer weiß, wie mein Leben mit<br />
einem frühen Outing gelaufen wäre? Warum das<br />
alles so war, wusste ich damals natürlich nicht.<br />
Jahre später, mit ca. 10 Jahren, nähte meine Mutter<br />
ein Shirt für mich. Damals wurde kaum Kleidung<br />
gekauft, fast alles genäht. Als sie das Shirt zuschnitt,<br />
fiel mir auf, dass die Vorlage aus einer Modezeitschrift<br />
für Mädchen war. Das war also unbewusst<br />
mein erstes eigenes „weibliches Kleidungsstück“.<br />
Allerdings habe ich es dann nur 2 – 3 mal getragen,<br />
da mich andere Kinder gehänselt haben und mich<br />
der Mut verließ. Während meiner Schulzeit habe ich<br />
mich häufiger am Kleiderschrank meiner Mutter<br />
bedient und Sachen wie BH, Seidenstrümpfe,<br />
Kleider und ihren Lippenstift probiert. In der Regel<br />
war das in den Ferien, da meine Mutter halbtags<br />
arbeitete und ich immer vor ihr zu Hause war. Es<br />
war ein Zwang, dem ich nachgeben musste. Und
2<br />
3<br />
wenn ich die Sachen dann anhatte, obwohl sie nicht passten, war das einfach<br />
ein wunderbares Gefühl, dass ich auch heute noch kaum beschreiben kann.<br />
Mutters Kleidung machte mich zu dem, was ich sein wollte – ein Mädchen. Da<br />
ich mir diesen Wunsch aber nicht erklären konnte, versuchte ich ihn zu verdrängen.<br />
„Warum möchte ich ein Mädchen sein? Ich bin doch ein Junge!“ fragte ich<br />
mich immer wieder verständnislos. Ich schämte mich und hatte Angst, es<br />
könnte jemand hinter meine Gefühle kommen. Damit nichts auffällt, habe ich<br />
penibel darauf geachtet, dass nach den Anproben alles ordentlich zusammengelegt<br />
war. Oft kam die Sucht nach dem „schönen Gefühl“ sofort zurück und war<br />
größer als die, entdeckt zu werden.<br />
Ich habe versucht, ein richtiger Junge zu sein. Es ist mir nicht gelungen, ich war<br />
irgendwie „weicher“ als die Anderen. Ich war der einzige Junge, der in Betragen<br />
und Ordnung immer eine 1 bekommen hatte. Prügeleien und Streit habe<br />
ich vermieden und wenn nicht, habe ich stillgehalten oder nachgegeben. Auch<br />
mit Mädchen habe ich oft und gerne gespielt. Im Gegensatz dazu lief meine<br />
sexuelle Entwicklung normal. Ich mochte keine Jungs, sondern nur Mädchen,<br />
war aber in der Regel sehr zurückhaltend. Mit 18 Jahren habe ich meine heutige<br />
Frau kennengelernt. Ab diesem Zeitpunkt habe ich meine „weibliche Seite“<br />
beiseite gelegt. Einerseits gab es in den folgenden Jahren kaum Gelegenheiten<br />
(Armee, Studium, Internat mit Mehrbettzimmer), und andererseits war in diesen<br />
Jahren das Verlangen weiblich zu sein nicht so groß. Ich habe zwar immer<br />
wieder daran gedacht, aber gelebt habe ich es nicht.<br />
Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />
Endlich so leben zu können, wie ich empfinde. Das „Aussteigen“ ist zugleich<br />
mein „Einstieg“ in ein neues Leben.<br />
Wie äußert sich dein „Ausstieg“?<br />
Angefangen hat es am 25. Juli 2010 mit dem Outing bei meiner Frau. Da<br />
wusste ich allerdings nicht, ob ich auch den „Ausstieg“ schaffe. Heute,<br />
nachdem ich den „Ausstieg“ aus dem „alten Leben“ hinter mir habe, weiß<br />
ich, dass ich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr anders gekonnt hätte. Schrittweise<br />
(anders ging es nicht) habe ich mein neues Leben gelebt, meine<br />
Ängste beiseite gelegt und entsprechende Veränderungen zugelassen.<br />
Was waren deine Beweggründe?<br />
Ich konnte mich und andere einfach nicht mehr belügen. Ich habe keine Kraft<br />
mehr gehabt, mich meiner wahren Natur entgegen zu stellen.<br />
Bist du glücklich, würdest du den selben Weg<br />
nochmals wagen?<br />
Ja! Das war das Beste, was ich jemals gemacht habe. Das Leben ist kostbar,<br />
jeder Mensch hat nur eines. Er sollte so leben, dass es ihn glücklich macht.<br />
mein-wahres-leben.blogspot.de<br />
63
FR<br />
IH
david Schmidhofer, 31<br />
from Austria through europe<br />
65
66 Aussteiger-Portrait | David Schmidhofer<br />
Mit vier Kindern zu fuß<br />
durch europa<br />
1<br />
2<br />
3<br />
freiheit ist für mich, wenn man selbst und absolut spontan<br />
über seine Zeit verfügen kann.<br />
David, seine Frau und vier Kinder, (zwei Mädchen, zwei Buben zwischen 2 und<br />
8 Jahren) haben sich für ein Leben als Aussteiger entschieden. Seit zwei Jahren<br />
reisen sie als Vagabunden, größtenteils zu Fuß quer durch Europa, haben diesen<br />
Winter in Italien und Spanien 6000 Kilometer mit dem Auto zurückgelegt und<br />
kommen nur nach Österreich zurück, um zu faulenzen und neue Reisepläne zu<br />
schmieden.<br />
Wir haben zwei Anhänger, die wir hinter uns herziehen. In dem vorderen<br />
An hänger können die kleineren Kinder sitzen, im hinteren ist unser Gepäck.<br />
Beladen hat das Gespann knapp dreihundert Kilo. Wir haben alles dabei, was<br />
wir für mehrere Monate brauchen. Dabei gehen wir pro Tag nicht mehr als zehn<br />
Kilometer. Wenn wir einen schönen Platz finden, bleiben wir ein paar Tage. Die<br />
Winter versuchen wir, in warmen Ländern zu verbringen. Wir sind dann viel mit<br />
dem Auto in Italien und Spanien unterwegs.<br />
Auf unseren Wanderreisen schlafen wir normalerweise im Wald. Das ist billig<br />
und spannend. Meistens sind es kleine, gut versteckte Lichtungen im Dickicht.<br />
Unser Zelt hält auch im Regen dicht, aber es ist kein so schönes Gefühl, in der<br />
Früh aufzuwachen und das platschnasse Zelt zusammenpacken zu müssen. An<br />
solchen Tagen versuchen wir es bei Bauern, Privathäusern oder in Pfarren. In<br />
Norditalien war das Wildzelten oft unmöglich, weil es keine versteckten Plätze<br />
gab. Da haben wir dann nur noch in Pfarren übernachtet. Die Pfarrer waren<br />
unglaublich aufgeschlossen und hilfsbereit. Sie gehören sicher zu den tolerantesten<br />
Menschen, denen wir unterwegs begegnet sind. Es war eines der<br />
faszinierendsten Erlebnisse überhaupt, jeden Tag einen Pfarrer und sein kleines<br />
Reich kennen zu lernen. In Korsika haben wir eine Zeit lang bei Zigeunern gelebt.<br />
Dort haben die Zigeuner noch richtige Wagenplätze, die manchmal mitten<br />
in den Städten liegen. Sie haben für uns gekocht, uns beschenkt und wollten<br />
uns schon nach der ersten Woche einen eigenen Wohnwagen geben. In Sardinien<br />
haben wir schon zweimal in einer Höhle gewohnt. In Andalusien hat man<br />
uns eine Jurte angeboten. In Granada sprach ich einen Rasta an. Zehn Minuten<br />
später hatten wir eine tolle, günstige Altstadtwohnung, direkt gegenüber der<br />
Alhambra. Wir blieben einen Monat. Das Leben kann so einfach sein!
1 Vollbepackt hat das Gespann<br />
300kg (Norditalien, Mantua).<br />
2 Im Winter hauptsächlich mit dem<br />
Auto und in wärmeren Gegenden<br />
unterwegs.<br />
3 Die Konstruktion unserer<br />
Anhänger.<br />
4 Die 4 beisammen. Sie genießen<br />
das freie Leben und die Natur<br />
(Sardinien).<br />
5 Donau: Arbeiten vor dem Zelt.<br />
6 Joachim (9) und Peter (7).<br />
Im Moment dürften es ca. 1300 € sein, die uns zur<br />
Verfügung stehen und die sich aus Familienbeihilfe<br />
und Kindergeld zusammensetzen. Auf Arbeitslosengeld<br />
oder Mindestsicherung verzichten wir. Es ist<br />
uns zu lästig, persönlich Termine wahrzunehmen.<br />
Wir erfüllen die Anspruchsvoraussetzungen nicht,<br />
weil wir nicht arbeitswillig sind. Das Kindergeld<br />
läuft bald aus, dann sind wir bei unter 1000 € im<br />
Monat. Mit dem Kindergeld endet auch die kostenlose<br />
Krankenversicherung. Essen kann man relativ<br />
einfach gratis. Ich setze mich gerne auf Terrassen<br />
von guten Restaurants und esse Reste, vorzugsweise<br />
die von jungen, hübschen Frauen, die ihre Teller<br />
nicht leer gegessen haben. Es ist ein spannendes<br />
Katz-Maus-Spiel mit den Kellnern. Auch aus Mülltonnen<br />
der Supermärkte kann man gut leben. Aber um<br />
ehrlich zu sein, gehen wir meistens ganz normal in<br />
den Supermarkt.<br />
4<br />
67<br />
Technischer Schnickschnack ist nichts, worauf man<br />
aus Geldgründen verzichten muss. Wir haben ein<br />
Notebook, eine Digitalkamera und zwei Telefone<br />
dabei, manchmal auch eine Videokamera. Mit einem<br />
USB-Modem kommen wir überall ins Internet. Vor<br />
kurzem habe ich mir sogar ein Solarpanel gekauft<br />
und ein GPS-Gerät als Spielzeug für mich.<br />
Ich bin eigentlich kein prinzipieller Konsumgegner.<br />
Wenn andere konsumieren, stört mich das gar nicht.<br />
Ich würde selber gern einmal viel konsumieren:<br />
Business Class fliegen, alle Attraktionen des Vergnügungsparks<br />
ausprobieren, in teuren Restaurants<br />
essen. Aber ich weiß, dass ich dafür mit meiner<br />
Lebenszeit bezahlen muss. Und hier liegt der springende<br />
Punkt. Zeit ist für mich das Wichtigste, das<br />
es gibt und eines der wenigen Güter, die halbwegs<br />
gerecht unter den Menschen verteilt sind und die<br />
man in Glück verwandeln kann. Ich liebe es, meine<br />
Zeit mit anderen zu teilen. Wenn mich jemand fragt,<br />
ob ich ihm drei Tage beim Umzug helfe, sage ich sofort<br />
zu. Aber das Regelmäßige und Vereinnahmende<br />
einer normalen Arbeit macht mich krank.<br />
5<br />
6
1 Schule machen wir ziemlich<br />
selten. Erst in den letzten Wochen<br />
vor der Prüfung geben wir Gas.<br />
2 Die vier vor unserer Höhle in<br />
Sadinien.<br />
3 Pia (4) und Maria (2).<br />
4 Manchmal bilden sich Gruppen,<br />
die eine Zeit zusammen bleiben.<br />
1<br />
Wer ihnen Liebe und Freiheit in großen Mengen verabreicht<br />
– unbedingt beide Zutaten! –, kann fast nichts<br />
mehr falsch machen. Bei der Liebe kann man eventuell<br />
noch Glück mit dem Lehrer und den Klassenkameraden<br />
haben. Aber was soll denn das für eine Freiheit<br />
sein, wenn man jeden Tag um acht Uhr erscheinen<br />
muss, ob man will oder nicht?<br />
liebe & freiheit – das möchte<br />
ich für meine Kinder!<br />
ich halte eine Schule für keinen geeigneten ort für meine Kinder.<br />
es fehlt ihnen dort an liebe und an freiheit.<br />
Bei Kindern sind die Leute ziemlich engstirnig, aber<br />
bisher hatten wir noch keine Probleme mit dem<br />
Jugendamt. Die meisten finden, dass Kinder nicht<br />
zu oft den Ort wechseln sollten, dass sie Grenzen<br />
und Regeln brauchen, dass man sie erziehen und<br />
abhärten muss, damit sie es später nicht so schwer<br />
haben. All das finden wir nicht. Aber gut, Reisen und<br />
„Homeschooling“ sind in Österreich erlaubt, und<br />
dafür mag ich dieses Land. Trotzdem, eine Gefahr<br />
bleibt. Wenn man den Medienberichten Glauben<br />
schenkt, ist das Jugendamt ja eine unberechenbare<br />
Behörde mit großem Ermessensspielraum.<br />
Zum Glück sind wir auf Reisen sehr selten krank,<br />
eigentlich fast nie. In Andalusien haben wir uns einen<br />
hartnäckigen Virus eingefangen, der uns alle für<br />
einige Zeit ziemlich lahmgelegt hat. Ich habe dann<br />
bei einer Autobahnausfahrt einen Wegweiser zu<br />
einem Krankenhaus gesehen und bin spontan abgefahren.<br />
Die Ärztin wollte unsere Versicherungskarte<br />
gar nicht sehen. Das gibt nur einen Papierkrieg, hat<br />
sie gesagt.<br />
2
69<br />
Auf unseren reisen<br />
haben wir uns manchmal<br />
trotz vieler Begegnungen<br />
einsam gefühlt.<br />
4<br />
3<br />
Richtig gefährlich war es eigentlich nie. Lästig sind<br />
in Südeuropa zum Beispiel die Autoeinbrecher. Man<br />
gewöhnt sich mit der Zeit daran, dass ab und zu<br />
die Seitenscheibe eingeschlagen wird. Inzwischen<br />
kann ich sie auch selber austauschen. Im Jahr vor<br />
unserem Ausstieg ließen wir unseren Ältesten allein<br />
mit der Straßenbahn zur Schule fahren, so wie es<br />
die anderen Kinder taten. Das war gefährlich.<br />
Vor unserem Ausstieg haben wir uns in gewisser<br />
Weise auch schon einsam gefühlt. Unterwegs ist<br />
das halb so schlimm, wir sind ja zu sechst. Wir<br />
haben zwar überall, wo wir lebten, viel Anhang<br />
gefunden und waren in die normale Gesellschaft<br />
auf den ersten Blick perfekt integriert. Aber richtige<br />
Seelenverwandtschaft ist wohl etwas, wonach der<br />
Mensch lange suchen muss. In Spanien haben wir<br />
jetzt annähernd das gefunden, wonach wir vorher<br />
lange vergeblich gesucht haben: freie Plätze, an denen<br />
sich Aussteiger, Anarchisten und Verrückte aus<br />
ganz Europa sammeln. Ein paar dieser Orte laufen<br />
unter der Bezeichnung „Kommune“. Es gibt keinen<br />
Chef, keine Regeln, und man muss niemanden<br />
fragen, ob man bleiben darf. Im Grunde macht dort
70<br />
Aussteiger-Portrait | David Schmidhofer<br />
jeder, was er will. Die Leute wohnen in rostigen<br />
Bussen, im Zelt oder in kleinen Hütten. Das Besondere<br />
an einigen dieser Orte ist, dass es auch Kinder<br />
gibt. Sie rennen den ganzen Tag in Banden herum,<br />
lernen gegenseitig ihre Sprache, bauen Baumhäuser<br />
und gehen nur dann zu den Eltern, wenn sie Hunger<br />
haben. Und da ist so viel Liebe! Wenn man einander<br />
nachts über den Weg läuft, kommt es vor, dass man<br />
sich umarmt. Und so viel Kultur, richtige Künstler<br />
sind darunter. Ich habe einen englischen Schriftsteller<br />
kennen gelernt, der schon seit zwölf Jahren in<br />
einem Bus lebt. In einem zweiten Bus hat er eine<br />
Bibliothek. Ein französischer Wanderzirkus hat sich<br />
dort niedergelassen und gibt jeden Samstag eine<br />
tolle Gratisvorstellung. In einem Gemeinschaftszelt<br />
wird spontan Musik gemacht. Und jeder hat immer<br />
Zeit. Gut, es gibt auch unangenehme Seiten, zum<br />
Beispiel Hobbypolizisten, die sich als Ordnungshüter<br />
aufspielen. Oder Spießer, die ein besetztes Grundstück<br />
als Privatbesitz betrachten.<br />
In Südspanien trifft man sehr unterschiedliche<br />
Reisende, die vor allem eines gemeinsam haben:<br />
Sie arbeiten nicht, zumindest vorübergehend. Mit<br />
den reisenden Rentnern hatten wir nicht so viel zu<br />
tun. Sie haben meistens teure Wohnmobile und<br />
stehen in riesigen Ansammlungen auf Campingplätzen<br />
oder großen Strandparkplätzen. Mehr Kontakt<br />
hatten wir mit den Leuten, die sich ein Jahr Auszeit<br />
nehmen. Es sind zum Beispiel junge Pärchen, die<br />
gerade mit der Schule oder dem Studium fertig<br />
sind und noch einmal die Freiheit genießen wollen,<br />
bevor es an das geht, was sie den Ernst des Lebens<br />
nennen. Seit es in Deutschland die Elternzeit gibt,<br />
sind auch immer mehr Familien länger unterwegs.<br />
Die großen LKWs mit den britischen Kennzeichen<br />
sind so genannte Travellers. Anscheinend macht<br />
man ihnen in England seit einigen Jahren das Leben<br />
schwer und viele von ihnen sind nach Spanien ausgewichen.<br />
Unter den Spaniern, die man trifft, sind<br />
einige Artesanos. Das sind Kunsthandwerker, die im<br />
Winter Schmuck basteln und ihn im Sommer an den<br />
Stränden verkaufen. An einigen Orten in Spanien<br />
haben sich Gemeinschaften oder Kommunen gebil-<br />
1<br />
det. Vielleicht könnte man diese Leute als Hippies bezeichnen. Sie wohnen in<br />
zusammengebastelten Hütten oder alten Bussen. Sie sind oft Veganer, trinken<br />
keinen Alkohol und gehen zu Rainbow Gatherings (Mischung aus Festival und<br />
Landkommune auf Zeit, Anm.). Einige haben sich komplett von der normalen<br />
Gesellschaft abgesetzt und alle Zelte abgebrochen. Und schließlich gibt es noch<br />
sehr viele, die sich überhaupt nicht einteilen lassen. An einem Strand haben<br />
wir zum Beispiel eine tschechische Familie mit neun Kindern kennengelernt.<br />
Sie leben seit vielen Jahren zusammen in einem Wohnmobil, das nicht einmal<br />
besonders groß ist. Keines der Kinder war je in einer Schule. Trotzdem sprechen<br />
sie alle mehrere Fremdsprachen und sind sehr talentiert. Unterwegs haben sie<br />
sich von Zigeunern und reisenden Musiklehrern alle möglichen Musikinstrumente<br />
beibringen lassen. Inzwischen spielen, singen und tanzen sie virtuos Flamenco<br />
und werden regelmäßig für Auftritte in Bars gebucht.<br />
Den nächsten Winter verbringen wir vielleicht in Indien. Wir haben von einem<br />
Strand gehört, an dem Lebenskünstler aus der ganzen Welt leben. Man kommt<br />
nur zu Fuß oder mit der Rikscha hin, und es gibt dort viele freie Kinder.<br />
2
Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />
Aussteigen kann man wohl auf viele Arten. Den<br />
inneren Ausstieg kennen viele. Man verlässt die<br />
geregelten Bahnen des Alltags zwar nicht, hat<br />
sich innerlich aber abgesetzt und träumt von<br />
einem anderen Leben. Für mich war der äußere<br />
Ausstieg zwingend und hing mit dem Thema<br />
Arbeit zusammen. Es ist mir bewusst, dass viele<br />
das anders sehen. Es gibt in den Philosophien<br />
und Weisheitslehren einen anhaltenden Trend zu<br />
einer inneren Freiheit, die keine äußeren Veränderungen<br />
erfordert, aber für mich war ein radikaler<br />
und mutiger Lebenswandel der beste Weg. So<br />
gut die Idee der inneren Freiheit in der Theorie<br />
auch klingt, ich glaube, sie hätte bei mir zu einer<br />
halbherzigen Light-Version des Ausstiegs geführt.<br />
Im besten Fall hätte ich mich an meine Einengung<br />
gewöhnt und gelernt, mit ihr umzugehen, mich<br />
von ihr nicht innerlich beherrschen zu lassen. Das<br />
war mir zu wenig. Im schlechtesten Fall wäre aus<br />
dem Ausstieg ein regelrechter Einstieg geworden,<br />
eine Methode für pflichtbewusste Arbeitstiere,<br />
um ihre Leistung zu steigern. Eine grauenhafte<br />
Vorstellung. Wenn man den Ort wechselt, aber<br />
letztendlich doch wieder jeden Tag schuftet, dann<br />
ist der Ausstieg nur oberflächlich.<br />
Seit wann bist du „ausgestiegen“ und wohin?<br />
Wir haben unserem normalen Leben im Sommer<br />
2011 den Rücken gekehrt, indem wir die Kinder<br />
aus der Schule und aus dem Kindergarten<br />
nahmen, mit dem Arbeiten aufhörten und uns zu<br />
Fuß auf den Weg machten, ohne Plan und ohne<br />
Ziel. Seitdem reisen wir etwa die Hälfte des<br />
Jahres. Dabei gehen wir im Sommer meistens in<br />
Österreich oder den umliegenden Ländern zu Fuß<br />
und schlafen im Wald. Im Winter zieht es uns in<br />
wärmere Länder, oft mit dem Auto, wobei wir<br />
unter freiem Himmel leben und schlafen.<br />
Was waren deine Beweggründe?<br />
Wir fühlten uns immer stärker eingeengt. Es hat<br />
sich schleichend ein unsichtbarer Plan über<br />
unseren Alltag gelegt. Allein die Schule hat uns<br />
schon den größten Teil des Jahres an einen festen<br />
Ort gebunden. Dazu kam die Arbeit. Für das<br />
eigentliche Leben konnten wir nur noch die<br />
Lücken in den völlig durchgeplanten Tagen nutzen,<br />
und dabei konnten wir uns nur so weit erholen,<br />
dass wir gerade wieder genug Kraft hatten, um<br />
den nächsten Tag zu bewältigen.<br />
Was machst du vor Ort?<br />
Wir leben von der Kinderbeihilfe und verbringen<br />
unsere Zeit ausschließlich mit so genannten Frei-<br />
zeitaktivitäten. Daneben malt meine Frau, und ich<br />
schreibe Bücher, aber auch das nur, weil es uns<br />
Spaß macht, nicht mehr aus Ehrgeiz und schon<br />
gar nicht für Geld. Die Kinder wachsen frei und<br />
friedlich in der Natur auf. Wir unterrichten sie<br />
selbst, nicht mehr als eine Stunde pro Woche.<br />
Das genügt, denn die wichtigste Lektion, die man<br />
ihnen in keiner Schule beibringt, ist, dass das<br />
Leben schön, leicht und frei ist, dass die notwendigen<br />
Dinge des Lebens leicht zu erlangen, die<br />
schwer zu erlangenden nicht notwendig sind.<br />
Bist du glücklich, würdest du den selben Weg<br />
nochmals wagen?<br />
Wir sind sehr glücklich. Wir genießen es, Entscheidungen<br />
spontan treffen zu können und<br />
selbst über unsere Zeit zu verfügen. Wir schlafen<br />
so lange, wie es uns gefällt, verbringen unsere<br />
Tage in der Sonne und können unsere Talente<br />
entfalten, ohne das Korsett gesellschaftlicher und<br />
wirtschaftlicher Zwänge. Dass wir sparsam leben<br />
müssen und uns keinen überflüssigen Luxus<br />
leisten können, nehmen wir lachend in Kauf. Aber<br />
auch eine Rückkehr in den Alltag ist möglich.<br />
Das ist ja das Schöne am Leben: Wir sind frei.<br />
71<br />
3<br />
1 Eine von mehreren alternativen<br />
Gemeinschaften in Andalusien.<br />
Die Kinder leben hier ohne Schule,<br />
die Erwachsenen ohne Arbeit.<br />
2 Die Behausungen der Aussteiger<br />
sind vielfältig.<br />
3 Wir in Sardinien, Übernachtung in<br />
einer Höhle.
VER<br />
IND
Stephan Peters, 44<br />
ein leben nach Palatia<br />
73
74 Aussteiger-Portrait | Stephan Peters<br />
ein Gemeinschaftsgefühl der<br />
katholischen Verbindung<br />
nach sechszehn Jahren der Ausstieg<br />
Anfangs genoss ich das starke Gemeinschaftsgefühl<br />
der katholischen Verbindung “Palatia”, bis ich<br />
meine Überzeugung in den auferlegten Wertvorstellungen<br />
nach und nach verlor.<br />
Es gab nicht diesen einen Moment, der meine<br />
Einstellung von jetzt auf gleich schlagartig änderte.<br />
Es war eher ein schleichender Prozess, der mich<br />
bewog, einen neuen Weg einzuschlagen. Ein Weg<br />
ohne Kameraden, ohne die täglichen Abendveranstaltungen,<br />
die Kneipen-Feiern und das traditionelle<br />
Band um den Körper. Ein Leben nach „Palatia“, der<br />
katholischen Studentenverbindung, der ich viereinhalb<br />
Jahre meine Treue schwor. Als ich in die<br />
Verbindung eintrat, folgte ich dem Weg, den mir<br />
meine Familie – ein autoritäres, erzkatholisches<br />
Elternhaus – ohnehin vorgab. Großvater, Vater,<br />
Bruder – allesamt waren Mitglieder einer Studentenverbindung.<br />
Für mich gab es nicht die Wahl, ich<br />
konnte mir höchstens aussuchen, in welche.<br />
Aufstieg vom Fuchs zum Burschen<br />
Im ersten halbe Jahr, das ich bei der katholischen<br />
Studentenverbindung „Palatia“ in Marburg verbrachte,<br />
war ich „Fuchs“, ein „niedriges Wesen“, ein<br />
noch unvollständiges und unerfahrenes Mitglied.<br />
Mindestens drei Abende die Woche musste ich die<br />
Veranstaltungen der Verbindung besuchen, paukte<br />
die Regelwerke und die Entstehungsgeschichte.<br />
Nach sechs Monaten legt ich den Grundstein für<br />
das „Lebensbundprinzip“, dem sich jedes Mitglied<br />
2<br />
1 Heute arbeite ich als Rhetoriktrainer<br />
und Politologe. Ich werde<br />
häufig als Experte für Stu dentenverbindungen<br />
eingeladen.<br />
2 Gebäude der Palatia in Marburg.<br />
3 Palatia Bundesfest im 2011/2012.<br />
4 Palatia Wappen.<br />
1<br />
3
verschreibt: Das erfolgreiche Bestehen der Burschenprüfung. Die Mitgliedschaft<br />
in der Verbindung gilt ein Leben lang! Ein Ausstieg ist in den Statuten eigentlich<br />
nicht vorgesehen. Das Gefühl eines neuen Ichs wird gefüttert mit klassischen<br />
Riten: Ich bekam einen zusätzlichen Namen, mit dem nur Verbindungsbrüder<br />
mich ansprechen durften. In Reutlingen, wo ich anfangs studierte und der<br />
Verbindung „Cimbria“ beigetreten war, wird die Namensgebung mit einer Art<br />
Taufe zelebriert. Statt gewöhnlichem Taufwasser hat man mir Bier über den<br />
Kopf geschüttet und das auch noch nur in Unterhose – eine bizarre Zeremonie<br />
und eine skurrile Abwandlung des religiösen Brauchs. Sinn und Zweck des<br />
Ganzen? Erst danach gilt man als echter Mann. Das ist vergleichbar mit der<br />
Mensur bei schlagenden Verbindungen – nur in wesentlich abgeschwächter<br />
Form. Aber natürlich geht es auch da um gezielte Erniedrigung.<br />
Kuriose Rituale und Traditionen<br />
Studienbedingt musste ich nach Marburg wechseln und trat dort – wie schon<br />
berichtet – der katholischen Verbindung „Palatia“ bei. Anfangs war ich begeistert<br />
von den kuriosen Riten. Selbst für den übermäßigen Alkoholkonsum gibt es<br />
eigene Vorschriften, die bis ins Detail erklären, wie man sich gepflegt zu betrin-<br />
ken hat. Entscheidend war die Menge, die man zu sich nahm. Kein normaler<br />
Mensch kann aus dem Stand heraus einen Liter Bier auf Ex trinken. Aber wir<br />
haben unsere Körper so trainiert, dass das funktionierte, eine Art der Abgrenzung<br />
und des Eliteempfindens. Nicht nur Trinkspiele, auch das Netzwerk rund<br />
um die „Alten Herren“ war für viele ein Anreiz, in eine Studentenverbindung<br />
einzutreten. Die Mitgliedschaft ist oftmals ein Türöffner für eine steile Karriere.<br />
Da wird schnell mal eine Telefonnummer weitergegeben oder ein Vorstellungsgespräch<br />
vermittelt. Letztlich zahlt sich die erlebte und erlernte Disziplin und<br />
Hierarchie aus, denn wer sich korrekt unter ordnet, ist im Berufsleben ein gern<br />
gesehener Angestellter.<br />
Bild von der Eliteorganisation bröckelt<br />
Doch genau an dieser Hierarchie scheiterte meine Zukunft bei „Palatia“. Objektiv<br />
betrachtet ergab das alles keinen Sinn. Da sitzen Männer in dunklen Anzügen<br />
und einem Band um ihren Körper, während ihnen ein 20 - Jähriger befiehlt, was<br />
sie zu tun haben, über was man spricht und welche Lieder man singt. Dass die<br />
sogenannten „Füchse“ dann noch wie Leibeigene behandelt werden, entzieht<br />
sich dem gesunden Menschenverstand. Mit Sicherheit war auch mein Studium<br />
ausschlaggebend dafür, dass ich mir mehr Gedanken gemacht und nicht mehr<br />
alles so hingenommen habe. Interessehalber habe ich ein feministisches Semi-<br />
nar besucht, erwünscht war ich nicht, denn ich war ja Mitglied einer Organisation,<br />
in der ein frauenfeindliches Weltbild vertreten wird. Ob man das weibliche<br />
Geschlecht als „niederes Wesen“ betrachtet oder den harmlosen Flirt „Frischfleischbeschauung“<br />
nennt – die Verbindung hat für vieles ihre ganz eigene Erklä-<br />
rung. Meine neuen Ansichten passten nicht mehr in das alte, konservative Welt-<br />
bild, das in der Verbindung gepredigt wird. Zunächst habe ich noch versucht,<br />
75<br />
innerhalb der Verbindung etwas zu verändern, was<br />
mich störte, aber ohne Erfolg. Die konservative und<br />
sexistische Denkweise ist ein Grundstein von<br />
Verbindungen. Mit meinem Beitritt zu den Marburger<br />
Jusos, wovon meine Bundesbrüder nichts<br />
hielten, wollte ich herausfinden, welches Weltbild<br />
mir am ehesten entspricht. In einem Brief an den<br />
Burschenkonvent begründete ich 1995 schließlich<br />
meinen Ausstieg aus der Verbindung. Mit dem<br />
Austritt fiel nicht nur Druck ab, gleichzeitig musste<br />
ich mich damit anfreunden, einen Großteil meiner<br />
Freunde zu verlieren. Nur die Mitgliedschaft bei den<br />
Jusos half mir gegen die soziale Isolation. Ohne<br />
diesen Halt, wäre es wahrscheinlich sehr viel<br />
schwerer gewesen.<br />
Sechzehn Jahre ist der Ausstieg jetzt her. Ich finde<br />
es spannend, dass eine Gemeinschaft mit so<br />
konservativen Werten in der heutigen Gesellschaft<br />
überleben kann. Die Welt hat sich zwar verändert,<br />
aber anscheinend nicht wesentlich. Studentenverbindungen<br />
haben immer noch Zulauf, weil sie eine<br />
scheinbare Antwort auf die Sehnsüchte und Ängste<br />
vieler junger Menschen sind, die für das Studium ihr<br />
gewohntes Umfeld verlassen. Die Verbindungen<br />
suggerieren den Studenten Geborgenheit, Verlässlichkeit<br />
und feste Wertvorstellungen.<br />
4
LI<br />
EB
Sassa ruopp, 53<br />
Auf der Suche nach der essenz des lebens<br />
77
ein Ausstieg in den einstieg<br />
78 Aussteiger-Portrait | Sassa Ruopp<br />
die liebe, dort eingesetzt,<br />
wo ein Bedürfnis danach herrscht,<br />
ist mein System!<br />
Was waren deine Beweggründe?<br />
Die Schule hat mich fast das Leben gekostet.<br />
Sie tat mir einfach nicht gut, hat mich eingeengt,<br />
mich in meiner Kreativität eingeschnürt. Als ich<br />
das gemerkt habe, beschloss ich, ein freies<br />
Leben zu führen. Nach der mittleren Reife, mit<br />
17 Jahren, war ich nach Biberach auf das Berufskolleg<br />
gewechselt, eine Art Wirtschaftsgymnasium.<br />
Für mich als kreativer Mensch eine Qual!<br />
– viel zu technisch und zu trocken. Mein Gedanke<br />
an den Ausstieg wurde mit 18 zusätzlich bestärkt:<br />
ich war krank, gelähmt! Niemand konnte<br />
mir helfen, denn von psychischen Erkrankungen<br />
sprach noch niemand. Entsprechend suchte auch<br />
keiner nach dem eigentlichen Auslöser meiner<br />
Krankheit, die im Endeffekt ein Hilfeschrei war.<br />
Der Gedanke „Ach, wäre das Leben doch schon<br />
vorbei!“ wurde in mir immer lauter. Doch die<br />
Krankheit hat mich dann doch zu dem werden<br />
lassen, was ich heute bin, eine Kämpferin. Ich<br />
habe gelernt, mir selbst zu helfen – und die<br />
Lähmung ging vorüber.<br />
1<br />
2<br />
1 Mein geliebter Nathan und ich.<br />
2 Herbst/Winter in Thailand. Micha,<br />
Nora und ich.<br />
3 Seit über 8 Jahren meine<br />
Ruheoase im Grünen – der<br />
Zirkuswagen. Aktuell ist das<br />
Dach leider etwas marode.<br />
4 Hier hat man mich in einen<br />
Laufstall „gesperrt“.
Damit begann der Einstieg in meine Philosophie: Das Leben ist nicht dazu<br />
da, Dinge zu tun, die man nicht tun will! Ich hatte früher oft ein chronisch<br />
schlechtes Gewissen, weil ich nicht das tat, was von mir verlangt wurde.<br />
Erneut startete ich also den Versuch, in das schulische System einzusteigen,<br />
wusste aber eigentlich im Voraus, dass es mir nicht gut tat. Mein Führerschein<br />
hat mich damals am Leben gehalten. Ich wusste, wenn ich mobil bin,<br />
kann ich jedes Ziel erreichen, bin frei, die Welt steht mir offen.<br />
In der 12. Klasse habe ich über meinen Entschluss, alles hinzuschmeißen, mit<br />
meiner Mutter gesprochen und bin dann auch endlich mit 18 Jahren zu Hause<br />
ausgezogen zu meinem Freund. Nichts hat mich bei den zerrütteten Familienverhältnissen<br />
an mein bisheriges Daheim gehalten. In Sigmaringen besuchte<br />
ich fortan die Modefachschule. Nähen und kreativ sein zu können, war genau<br />
mein Ding. Parallel begann ich zu stricken und auf die entstandenen Pullover,<br />
naive Bilder zu projizieren. Damit habe ich auch mein erstes Geld verdient.<br />
Außerdem habe ich in der Kneipe meines Freundes in Weingarten – damals<br />
die erste Kleinkunstkneipe in Weingarten – gekellnert. Allerdings fühlte ich<br />
mich auch da nicht richtig angekommen, doch die Kleinkunst faszinierte mich.<br />
Das möchte ich machen, war mir klar. Erst einmal bin ich jedoch mit meinem<br />
VW-Bus durch die Welt gefahren. In Spanien und Portugal genoss ich meine<br />
Ruhe. Doch dann zog es mich wieder zurück. Dabei hatte ich die naive Vor-<br />
stellung, dass sich alle über meine Rückkehr freuen. Das war aber leider nicht<br />
so. Also verabschiedete ich mich 1982 nach Berlin. Hier habe ich als Kellnerin<br />
mein Glück versucht und so viel Geld verdient wie noch nie. Ein Konto besaß<br />
ich nicht und stopfte deshalb alles in eine Tüte. Mit dem Geld in der Tasche<br />
ging’s wieder los nach Spanien, Portugal und Marokko. Der Drang zu malen<br />
und zu schreiben wurde noch intensiver. Ich kehrte wieder zurück und war<br />
mir klar: jetzt muss ich diesem „Ruf“ folgen. Im Jugendhaus in Ravensburg<br />
gründete ich eine Theatergruppe. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich<br />
3 4<br />
79<br />
schon auf der Bühne. Weihnachten 1985 hörte ich<br />
von jemandem, der ein Theater eröffnen will. Es<br />
dauerte dann zwar noch einige Jahre, bis es so<br />
weit war, aber ich habe für diese Idee geglüht, ja<br />
gebrannt. Währenddessen verdiente ich mit<br />
meinen Kunstwerken sowie handgefertigter Klei-<br />
dung Geld, nahm Sprechunterricht und ging auf<br />
Reisen. 1987 war es endlich so weit. Die Theaterbühne<br />
wartete auf mich!<br />
Und dann trat plötzlich Micha in mein Leben.<br />
Er hatte eine 3-jährige Weltreise in einem<br />
selbstgebauten Boot hinter sich und wurde der<br />
Vater meiner Kinder Pablo (22) und Nora (18).<br />
Schwanger mit dem ersten Kind, zogen wir 1990<br />
Hals über Kopf nach Santa Cruz de la Palma, wo<br />
1991 Pablo auf die Welt kam. Die Reise ging<br />
weiter über La Gomera, Lanzarote, England,<br />
Indien, Thailand und wieder zurück nach Ravensburg.<br />
Gelebt haben wir in einem desolaten Haus<br />
mit Plumpsklo. Doch wir hatten ein beschauliches<br />
Leben, haben uns ausschließlich um unsere<br />
Kinder gekümmert, ein wenig gearbeitet und uns<br />
verwirklicht. Irgendwann wurden wir uns leider<br />
fremd und trennten uns 2009. Nora blieb bei<br />
Micha, und Pablo ging nach abgeschlossenem<br />
Zivildienst nach Wien zum Theater: Klinikclown,<br />
Puppentheater, Aktionskunst, alles parallel zum<br />
Familienleben.
80 Aussteiger-Portrait | Sassa Ruopp<br />
nimm den Menschen die Bedeutung.<br />
Wer bist du dann, wenn alles wegfällt?<br />
Was machst du vor Ort?<br />
Derzeit gibt es leider keine Anfragen nach meiner<br />
Kleinkunst. Die Stadt stellt hierfür keine Gelder<br />
mehr zur Verfügung. Aber das kümmert mich<br />
wenig, ich bin glücklich, genauso, wie es jetzt ist,<br />
mit Nathan, meinem Kater, dem Zirkuswagen<br />
und meinem Stück Natur am Flappachsee.<br />
Schließlich habe ich meine große Leidenschaft,<br />
die Malerei, die ich jeden Abend und zu jeder<br />
freien Minute auslebe. Was jetzt noch kommt?<br />
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mit 57<br />
Jahren lange genug gelebt habe – mein Sarg<br />
wartet schließlich schon auf mich. Es ist alles<br />
vorbereitet, meine Familie weiß Bescheid. Das<br />
Sein ist mir wichtig, nicht das Haben. Seit 2010<br />
arbeite ich zwei Tage die Woche in einem Cafe,<br />
das ist gerade noch zu ertragen. Aber danach<br />
muss ich wieder an die Sonne, die Natur genießen,<br />
der Rest ist mir egal – einfach in Freiheit<br />
leben. Ich bin sehr spirituell und habe auf diesem<br />
Gebiet Einiges ausprobiert, zum Beispiel eine<br />
Begegnung mit einem Shamanen aus Peru.<br />
Dabei habe ich viel über mich erfahren und die<br />
Botschaft vernommen: „Du musst dich wieder<br />
öffnen“. Eine weitere Erfahrung war eine Akascha<br />
Lesung, bei der aus dem vergangenen Leben<br />
berichtet wird.<br />
Bist du glücklich?<br />
Ich bin eigentlich immer glücklich.<br />
Gibt es für dich ein Objekt, das du sofort mit<br />
„aussteigen“ in Verbindung bringst?<br />
Die Kunst! Es ist mir wichtig, Menschen etwas<br />
zu schenken. Ich male und kreiere, was mir in<br />
den Sinn kommt und gebe es gerne weiter.<br />
Inspiriert von interessanten Begegnungen und<br />
Gesprächen entstehen einzigartige Dinge. Vor<br />
10 Jahren konnte ich sogar zeitweise von meinen<br />
Werken leben, doch heute ist der Markt überschwemmt.<br />
Viele Menschen träumen von einem anderen als<br />
dem Geld-System. Für mich ist elementar, was<br />
ich für andere tun kann, was ich ihnen geben<br />
kann. Meine künstlerische Begabung und die<br />
Fähigkeit, mich in Menschen hinein versetzen zu<br />
können, zuzuhören und anderen etwas zu<br />
schenken, das ist für mich ein erstrebenswertes<br />
System. Die Liebe, dort eingesetzt, wo ein<br />
Bedürfnis danach herrscht. Danach handele ich<br />
seit 25 Jahren und lebe diese Einstellung in<br />
meiner Kunst und im Theater aus. Ich nenne es<br />
das „System der fünften Dimension“ – hierin<br />
habe ich meinen Weg gefunden.<br />
Viele Menschen tun so, als ob sie unendlich viel<br />
Zeit zur Verfügung hätten, alles wird auf später<br />
verschoben, wenn man in Rente ist usw. …, Ich<br />
habe mir hingegen schon immer gesagt: Wieso<br />
warten? Das Leben kann so schnell vorüber sein.“<br />
1
2<br />
Wo sich Wahrheit und<br />
Phantasie begegnen, da ist das<br />
höchste menschliche Gefühl.<br />
Wir nennen es: liebe.<br />
3 4<br />
81<br />
1 Einer meiner beiden Särge, selbst<br />
bemalt.<br />
2 In meiner Wohnung – meine<br />
Kunstwerkstatt.<br />
3 Mein kleiner Wagen, ihn habe ich<br />
seit 2012.<br />
4 Ein neues Theateroutfit.
82<br />
ÖR
Brigitte obrist, 50<br />
ich wollte endlich selbst über meinen Körper bestimmen<br />
83
84 Aussteiger-Portrait | Brigitte Obrist<br />
nicht mehr in diesem<br />
Beruf tätig sein!<br />
nicht mehr vorspielen, ich sei dümmer als er!<br />
1990 kam das Thema Aids in den Medien auf. Die<br />
Schweizer Zeitung „Beobachter“ wollte eine Pros-<br />
tituierte portraitieren und hat bei Xenia, einer Bera-<br />
tungsstelle für Prostituierte in Bern angefragt, bei<br />
der ich im Vorstand war. Ich war zu dem Zeitpunkt<br />
in einer Phase, in der ich mir die öffentliche Diskriminierung<br />
unseres Berufsstandes nicht länger<br />
gefallen lassen wollte. Als die Zeitung ankündigte,<br />
den Namen abzuändern und das Gesicht zu ver-<br />
fremden, wurde mir klar, dass ich nicht gegen<br />
Stigmatisierung kämpfen kann, wenn ich diese<br />
unterstütze. Also verlangte ich: Nur mit Namen<br />
und Foto!<br />
Kurz darauf fragten auch andere Medien nach<br />
Interviews mit mir und luden mich als Expertin zu<br />
Vorträgen ein. Auf der Rückfahrt von einem dieser<br />
Vorträge an meinem 29. Geburtstag geschah es:<br />
Ich brach emotional zusammen. Und damit begann<br />
mein Ausstiegs aus der Prostitution.<br />
Ein Ausstieg aus der Prostitution von heute auf<br />
morgen ist jedoch problematisch. Neun Jahre war<br />
ich aktiv im Sexgewerbe, hatte keine „normale“<br />
Ausbildung. Und jetzt? Nein, Existenzängste hatte<br />
ich nicht, aber mir fehlte die berufliche Identität,<br />
eine Antwort auf die Frage „Was bin ich?“ Es mag<br />
unverständlich klingen, aber als Prostituierte habe<br />
1<br />
ich mich genauso mit meinem Beruf identifiziert wie andere mit ihrem Beruf.<br />
Einer ehemaligen Prostituierten gesteht man keine Fachkompetenz zu. Mich<br />
traf dieses Vorurteil ganz besonders, da ich schließlich nebenbei noch als Koor-<br />
dinatorin bei der Arbeitsgruppe „Prostitution und Aids“ der Schweizer Aidshilfe<br />
gearbeitet hatte. Gibt es eine bessere Fachfrau für die Betreuung von Prostituierten-Projekten<br />
als eine ehemalige Prostituierte wie mich?! Das ewige Be-<br />
weisen-müssen hat mich genervt und oft wütend gemacht. Die Medien<br />
merkten allerdings schnell, dass ich nicht dem Bild einer dummen Hure ent-<br />
spreche, die nichts kann, als die Beine breit zu machen.<br />
Was mein Beziehungsleben nach dem Ausstieg aus der Prostitution betrifft,<br />
musste auch ich damit leben, dass Männer zwar eine sexuell erfahrene Frau<br />
wünschen – aber unberührt soll sie trotzdem sein! Wenn mal wieder eine<br />
Liebesbeziehung in die Brüche ging, war klar: die hat ja mal angeschafft! Aber<br />
schlussendlich habe ich dann doch jemand gefunden, mit dem ich jetzt glücklich<br />
zusammenlebe, ein ehemaliger Liebhaber. Anfangs haben wir uns nur zum Sex<br />
getroffen, doch dann gemerkt, dass da mehr zwischen uns ist als nur körperliche<br />
Anziehung. Mittlerweile sind wir neun Jahre zusammen.
Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />
Ausstieg bedeutet für mich, sich den Konventionen<br />
zu entziehen, raus aus der Hülle einer<br />
fremdbestimmten Identität. So gesehen war<br />
eigentlich der Einstieg in die Sexarbeit ein<br />
Ausstieg aus dem bürgerlichen konventionellen<br />
Leben, in dem eine Frau heiratet und Kinder<br />
kriegt. Das wollte ich nie.<br />
Seit wann bist du „ausgestiegen“ und was<br />
waren die Gründe?<br />
Als ich aus der Prostitution ausstieg, verließ ich<br />
eine geschützte Arbeitswelt. Traditionell beherrschten<br />
seinerzeit die Frauen den Markt, nicht die<br />
Zuhälter. Wir Professionellen arbeiteten selbstständig,<br />
entschieden, ob wir einen Typen finanziell<br />
aushalten wollten oder nicht. Ich habe mir nie<br />
einen Zuhälter gehalten. Nur unter Frauen und mit<br />
Frauen zu arbeiten, Männer nur als Kunden im<br />
Salon/Studio zu haben, die nach 15 Minuten, spä-<br />
testens nach einer halben Stunde gehen, empfand<br />
ich als sehr angenehm. Dein Kunde schreibt<br />
dir nicht vor, wie du zu sein hast, wie du zu leben<br />
hast. Du lässt ihn für eine Viertelstunde im Glau-<br />
ben, er habe die Kontrolle über dich und dafür<br />
zahlt er, nicht für den Sex. Der ist Beigabe. Er<br />
zahlt für deine Zeit, in der du ihm die perfekte<br />
Verkörperung seiner Idealvorstellung einer Frau<br />
vorspielst.<br />
Mit dem Ausstieg und der Aufgabe des mit einer<br />
anderen Frau gemeinsam betriebenen Salons,<br />
gab ich auch einen Teil der finanziellen Unabhängigkeit<br />
auf. Bei der Aids-Hilfe Schweiz arbeitete<br />
ich jedoch weiter, zunächst als Koordinatorin mit<br />
sehr viel weniger Verdienst als zuvor in der<br />
„aktiven“ Prostitution. Doch mit dem Aufstieg zur<br />
Projektleiterin noch im Jahr meines Ausstiegs und<br />
den damit verbundenen Vorträgen und öffentlichen<br />
Auftritten stieg mein Einkommen wieder auf<br />
den mir gewohnten Betrag. Die Geldentwertung<br />
war sicher einer von vielen Gründen, warum ich<br />
aus dem Beruf „ausstieg“. Vor allem aber wollte<br />
Ich nicht mehr in diesem dienenden Beruf tätig<br />
1 Nach dem Ausstieg.<br />
2 Das bin ich heute. Nicht mehr<br />
vorspielen, ich sei dümmer als er.<br />
2<br />
85
86<br />
Aussteiger-Portrait | Brigitte Obrist<br />
sein. Nicht mehr jeden Tag, jedem, der genug<br />
dafür zahlte, vorzuspielen, ich sei dümmer<br />
als er. Aber diese Illusion von der scheinbaren<br />
Kontrolle und Macht gehört dazu, macht die<br />
Faszination der Prostitution für Männer aus.<br />
Mit dem Ausstieg wurde mir Geld im Übrigen<br />
weniger wichtig. Etwas intellektuell Anspruchsvolleres<br />
zu machen, war 1992 einer der Hauptgründe<br />
für meinen Ausstieg. Als Projektleiterin der<br />
Aids-Hilfe Schweiz AHS blieb ich selbständig<br />
erwerbend. 9 Jahre lang, realisierte ich das<br />
Projekt APiS, das letztes Jahr sein 20-jähriges<br />
Jubiläum feierte. Ich hielt die Festrede. Ich habe<br />
mit dem Projekt APiS etwas von bleibendem Wert<br />
geschaffen. Das kann man mir nicht mehr<br />
wegnehmen.<br />
Einfach war es allerdings nicht. Männliche Kon-<br />
kurrenz auf dem Arbeitsmarkt machte mir zu<br />
schaffen. Ich musste schwulen Männern immer<br />
wieder klar machen, dass sie – auch wenn mit<br />
Studium – für Präventionsarbeit bei ausländischen<br />
Sexarbeiterinnen niemals meine Praxiserfahrungen<br />
einbringen könnten. Mein Ausstieg aus der<br />
AHS 1998 geschah aus gesundheitlichen Gründen<br />
und fiel mir schwer. Mein Projekt APiS und das<br />
damalige Team der AHS waren mein Zuhause.<br />
Ich musste mir wieder eine neue Identität<br />
suchen. Als Patientin mit einem 2002 diagnostizierten,<br />
seltenen chronischen Krankheitsbild war<br />
ich wieder einer extremen Form der Fremdbestimmung<br />
unterworfen. Jedoch ist die Identitätsfindung<br />
vergleichbar mit dem Fahrradfahren-Können:<br />
hast du dich erst einmal ausschließlich über<br />
dich selbst und nicht über Beruf, Bildung oder<br />
sozialen Stand identifiziert, findest du deine<br />
Identität immer wieder.<br />
Bist du glücklich, würdest du den gleichen Weg<br />
nochmals wagen?<br />
Glücklich war ich nach meinem Ausstieg aus der<br />
Prostitution, nachdem ich herausgefunden hatte,<br />
welche Fähigkeiten ich noch habe und einsetzen<br />
konnte. Ich war mit Herzblut Projektleiterin bei der AHS. Der Ausstieg dort<br />
war keine Wahl, sondern Zwang auf Grund äußerer Umstände. Die Krankenkasse<br />
und die Rentenversicherung verhinderten, dass ich irgendetwas Neues<br />
beginnen konnte. Meine Krankheit ist unheilbar, wenn auch nicht tödlich.<br />
Ich kann mich gut damit arrangieren, wenn ich die entsprechenden Akut-<br />
Medikamente nehme. Die Krankenkasse hat mir die Vergütung dieser sehr<br />
teuren Präparate drei Jahre lang verweigert. Meine Krankheit ist vergleichbar<br />
mit einem Systemfehler in Microsoft. Das Gehirn meldet Fehler, die sich in<br />
extrem starken Nervenschmerzen äußern und sich nicht betäuben lassen.<br />
Die Schmerzen treten anfallsweise in 25 und mehr Attacken pro Tag auf.<br />
Gegen die Krankenkasse bin ich bis vor das Bundesgericht vorgegangen und<br />
habe in jeder Instanz gewonnen.<br />
Freunde habe ich viele verloren, weil ihre Rezept gegen die vermeintlichen<br />
Kopfschmerzen bei mir nicht wirkten. Ich könnte von mangels Heilungserfolg<br />
frustrierten Ärzten berichten, von nicht weniger frustrierten Freundinnen, die<br />
mir fehlenden Willen gesund zu werden vorwarfen, wenn ihre homöopathischen<br />
Mittelchen, Akupunktur oder sonstige Wundertherapien bei mir versa-<br />
gten. Unter vier Ärzten, einem Gutachter, einem Konsiliararzt ist einer übrig<br />
geblieben, der mich nach wie vor betreut. Die anderen ließ ich frustriert bis<br />
wütend zurück. Glücklich macht es nicht gerade, wenn man das Weltbild<br />
anderer Menschen zerstört, weil man so ist, wie man ist. Aber tief in meinem<br />
Inneren bin ich nun mal eine Kriegerin.<br />
Der Rechtsstreit mit der Krankenkasse belastete mich nicht, er machte mir<br />
sogar fast Spaß. Richtig glücklich macht mich die Gewissheit, dass ich die in<br />
der Prostitution gewonnene Narrenfreiheit nicht aufgeben musste. Heute bin<br />
ich einfach auf Facebook und Twitter eine Heimsuchung für frauenfeindliche<br />
Accounts, und mit der Krankheit habe ich mich arrangiert. Mein Leben ent-<br />
spricht nicht der Norm, ich schäme mich nicht für meine Vergangenheit. Sie ist<br />
ein Teil von mir, den ich nicht missen möchte. Ich würde meinen Weg nochmals<br />
gehen. Nur auf die Krankheit, den Clusterkopfschmerz könnte ich<br />
verzichten.<br />
Gibt es für dich ein Objekt das du sofort mit „aussteigen“<br />
in Verbindung bringst?<br />
Mit Ausstieg bringe ich automatisch so etwas wie Ökoromantiker in Verbindung,<br />
in Kommunen und im Einklang mit der Natur leben. Ich habe dagegen<br />
gerne gewisse Sicherheiten: eine Wohnung, ein gesichertes Einkommen, eine<br />
feste Beziehung, natürlich eine Krankenversicherung und ein sozial intaktes<br />
Umfeld. Letzteres habe ich mir in den letzten Jahren neu geschaffen. Ich bin<br />
mit Menschen zusammen, die einzigartig sind, ganz unterschiedliche Wege<br />
gehen und gegangen sind, nicht oberflächlich, sondern im Kern wertvoll –<br />
einfach echte Menschen!
1<br />
2<br />
1 Das Foto stammt aus dem<br />
Theaterstück „Backroom“ 1994,<br />
in dem ich als Protagonistin<br />
mitmachte. Szene mit Freier.<br />
2 Domenica Niehoff aus Hamburg<br />
war Deutschlands bekannteste<br />
Domina. Wir sprachen für die<br />
„Weltwoche“ interviewt von<br />
Barbara Lukesch über Arbeit,<br />
Ausstieg und Sexualität. Sie starb<br />
vor zwei/drei Jahren.<br />
3 Aufnahmen für das Studio, auf<br />
den Bildern 2+4 bin ich zu sehen.<br />
4 Werbefoto als Domina.<br />
3<br />
4<br />
87
N<br />
AT
Jürgen Wagner, 49<br />
Waldmensch und Wanderprediger Öff Öff<br />
89
90 Aussteiger-Portrait | Jürgen Wagner<br />
Öff Öff, eigentlich nur zwei<br />
laute ohne Bedeutung<br />
Aussteigen ist kein Spaziergang<br />
Vielfach schenken Menschen Dingen Bedeutung,<br />
die fremdbestimmt sind – zum Beispiel einem<br />
Namen. Ich habe mich von diesen Regeln befreit.<br />
Der Name Öff Öff verdeutlicht das.<br />
Mit 13 haben meine Geschwister und ich über die<br />
Zukunft nachgedacht und was wir machen möchten.<br />
Ich habe mir ausgemalt, dass man irgendwo<br />
friedlich und gewaltfrei leben könnte. Und dann bin<br />
ich zu dem Entschluss gekommen, dass so etwas<br />
möglich ist und man nicht an dem täglichen Ellen-<br />
bogenkampf teilnehmen muss. Ein solches Leben<br />
erschien mir wertvoller als das, was ich um mich<br />
herum wahrnahm. Damals war mir allerdings auch<br />
schon klar, dass es zu einer großen Außenseiterrolle<br />
im Leben führt, wenn ich das umsetze, was<br />
ich denke. Während die meisten Jungs sich mit<br />
Fußball beschäftigt haben, habe ich mich gedanklich<br />
weiter meinen Zukunftsplänen gewidmet. Nach<br />
meinem sehr gut abgeschlossenem Abi habe ich<br />
Theologie und Philosophie studiert und wollte zu-<br />
nächst Priester werden. Die Reaktion auf meinen<br />
Plan war erschreckend: Die Kirche würde Priester<br />
suchen, die Menschen in ihren kleinen Problemen<br />
und Nöten beistehen und in ihrer Rolle als Bürger<br />
des Staates, Geldverdiener, treusorgender Familienvater<br />
etc. bestärken. Dass aber gerade diese<br />
Grundstrukturen – Staat, Bürger, Geld – die Grund-<br />
wurzeln unserer gesellschaftlichen Probleme sind,<br />
wolle keiner hören. Am 19. Dezember 1991 habe<br />
ich dann zusammen mit meinem Freund einen<br />
Alternativ-Schritt gewagt und wie folgt unseren<br />
1<br />
Gedanken realisiert: Unsere Personalausweise steckten wir in einen Briefumschlag,<br />
adressiert an den Bundespräsidenten, und erklärten unseren Austritt<br />
aus dem Staat. Dem Arbeitsamt habe ich geschrieben, dass ich nicht mehr<br />
dazu bereit bin, in egoistischer und die Gesellschaft schädigender Weise mit<br />
anderen zu konkurrieren und deshalb ohne Geld leben werde. Dann habe ich<br />
alles, was ich besaß, verschenkt, mein Bündel geschnürt und bin aufgebrochen.<br />
Ich lebte als Wanderprediger, habe den Menschen von meinen Ideen erzählt<br />
und versucht, sie zum Mitmachen zu bewegen. Der Freund, der mich zunächst<br />
begleitete, hat allerdings nicht lange durchgehalten. Es war kalt, er bekam<br />
Frostbeulen und ist ins bürgerliche Leben zurückgekehrt. Aussteigen ist halt<br />
kein Spaziergang. Es kostet Nerven und Kraft. Schnecken, Regenwürmer,<br />
Brennnessel und Co. waren meine Lebensmittel. Meine Survival-Bücher<br />
wurden zur Überlebensbibel. Wir leben in einer Überflussgesellschaft, in der<br />
Mengen an Essen weggeworfen werden. Das betrifft zum Beispiel Supermärkte,<br />
die Produkte entsorgen, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen<br />
ist. Ich habe geschaut, was ich von dem Entsorgten noch gebrauchen kann und<br />
mir zusätzlich noch Lebensmittel schenken lassen.<br />
2005/2006 war ich dann so weit, noch einen Schritt weiter zu gehen – ich habe<br />
als Selbstversorger im Wald gelebt, in einem Tal in Sachsen. Dort habe ich mir<br />
ein Erdloch gebaut und ab und zu dort auch geschlafen. Die meiste Zeit ver-<br />
brachte ich aber in einer kleinen Hütte. Ernährt habe ich mich von den Kräutern<br />
der Wiese, von Früchten, Wurzeln, kleinen Tieren, Käfern und Heuschrecken.<br />
Mein Bett war eine Jurte, ein Geflecht aus Ästen, mit einer Filzdecke darüber.<br />
In dieser Hütte habe ich auch den Winter über gelebt ohne zu heizen. Ich<br />
möchte den Menschen ein Beispiel geben, dass es möglich ist, nur noch in<br />
Liebe mit und zu Menschen zu leben – ganz ohne Geld, unabhängig vom Staat.<br />
Ich habe mich zu über 90 % von der Wiese ernährt, und in meinen handgemachten<br />
Klamotten im Winter ohne Heizung überlebt. Entscheidend für mich<br />
ist aber nicht, ob man im Wald lebt, Sozialarbeit macht oder als Wanderprediger<br />
auf der Straße steht. Das alles sind nur unterschiedliche Umsetzungsformen
und Antworten auf dieselbe Frage: Wie werden wir<br />
zu Menschen, die fähig sind, an das Wohl des<br />
Ganzen zu denken und die kleinen, nebensächlichen<br />
Bedürfnisse hintan zu stellen?<br />
Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />
Umstieg in ein im Ganzen sinnvolles Leben und in<br />
das darin liegende echte Glück. Suche nach einem<br />
möglichst Ideologie-freien „kleinstmöglichen“<br />
Nenner für globale Verantwortung“: Radikale<br />
Eigenverantwortung, verbunden mit selbstlosem<br />
Teilen bzw. Schenken in globaler Liebe – und das<br />
möglichst Ideologie-frei. Die zu Ende gedachte<br />
Ganzheitlichkeit unterscheidet mich wohl von den<br />
meisten anderen „Aussteigern“. Ich schließe dabei<br />
die Umstellung der „Steuerungs-Strukturen“ ein –<br />
vom eigenen Inneren übers gemeinschaftliche<br />
Miteinander bis hin zu den gesellschaftlichen<br />
Entscheidungs- und Verteilungs-Strukturen, und das<br />
möglichst direkt und real umgesetzt. Solange wir<br />
uns – wie es die meisten leider tun – nur nach<br />
Gefallen „Bruchstücke“ fürs Alternativ-Sein aus -<br />
suchen oder an Symptomen herumdoktern,<br />
werden wir immer wieder zu sehr mit dem Auf -<br />
wischen von Wasser-Pfützen beschäftigt sein, so<br />
dass wir nicht dazu kommen, „den Wasser-Hahn<br />
zuzudrehen“. Und wenn wir von anderen fordern,<br />
frei von Ideologien zu sein, wird es uns nicht<br />
gelingen, alle „Menschen guten Willens“ bestmöglich<br />
zusammenzuführen.<br />
Seit wann bist du „ausgestiegen“ und wohin?<br />
Seit 1991 – im Rahmen der von mir gegründeten<br />
Schenker-Bewegung. Erst ging’s auf die Straße<br />
zum freiwillig obdachlosen „Pilgern“, dann in<br />
„Nächstenliebe-Sozialarbeits-Projekte“ und<br />
„Natur-Selbstversorgungs-Projekte“.<br />
Was machst du vor Ort?<br />
Je nach – bereits geschilderter – Lebens- bzw.<br />
Projekt-Form bin ich in der Öffentlichkeits-, Sozial-<br />
oder Selbstversorgungs-Arbeit tätig. Das bringt<br />
sehr flexible Tages-Abläufe mit sich. Im Moment<br />
bin ich insbesondere mit Gemeinschafts-Arbeit<br />
www.lilitopia.de, www.global-love.eu<br />
beschäftigt, z. B., wie man Liebes-Beziehung und<br />
Familie „Konsens-Gemeinschaft und globales<br />
Teilen“ integrieren kann. Außerdem befasse ich<br />
mich mit wissenschaftlicher Bildungs-Arbeit im<br />
Lilitiopia-Projekt.<br />
Bist du glücklich, würdest du den selben Weg<br />
nochmals wagen?<br />
Ja.<br />
Gibt es für dich ein Objekt das du sofort mit<br />
„aussteigen“ in Verbindung bringst?<br />
Organisches Denken und Licht-Liebes-Arbeit.<br />
2<br />
3<br />
5 6<br />
91<br />
1 In Winter-Kleidung vor meinem<br />
Plakat im Biotopia-Projekt.<br />
2 Blick durch eine Ritze der<br />
Eingangs-Tür meiner 2 x 2 Meter<br />
großen Hütte. Ich im „Winterschlaf-Modus“<br />
bei Internet-Arbeit.<br />
Der Stromanschluss kommt vom<br />
benachbarten Gasthof.<br />
3 1991 in Halle, Leipzig. Mein<br />
Freund und ich beim Pilgern mit<br />
Plakat-Aktionen.<br />
4 Beim Containern auf der Suche<br />
nach Resten.<br />
5 Ein Bad im Fluss Löbauer Wasser,<br />
der im Biotopia-Projekt ein paar<br />
Meter neben meiner Hütte fließt.<br />
6 In Papp-Kisten: Obst und Nüsse<br />
um mich herum eingelagert.<br />
4
Quellen<br />
92 Quellen und Impressum<br />
Texte (Auszüge)<br />
Seite 8 – 25:<br />
· Pina Lewandowsky – Schnellkurs Grafik-Design, Dumont | ISBN 3 832 17624 1<br />
· Herrad Schenk – Vom einfachen Leben, C.H. Beck | ISBN 3 406 42883 5www.warhol-andy.de<br />
· www.suite101.de/article/diogenes-von-sinope-der-erste-hi-a43041<br />
· www.wissen.de/lexikon/antonius-der-grosse<br />
· www.luther2017.de<br />
· www.geschi.de/artikel/hippies.shtml<br />
· www.henry-david-thoreau.de<br />
· www.ev-johannitergymnasium-wriezen.de/2177.0.html<br />
· www.ausstiegspunkt.wordpress.com<br />
· www.mywakenews.wordpress.com<br />
· www.einestages.spiegel.de<br />
· www.art-directory.de/malerei/cobra/<br />
· www.dokumente-online.com/into-the-wild-praesentationsleistung.html<br />
· www.kettererkunst.de/bio/damien-hirst-1965.shtml<br />
· www.fernsehserien.de<br />
· Aussteiger-Debatte: Christian Schüle „Der letzte Freigeist“, www.spiegel.de<br />
· www.tk.de, Gesundheitsreports 2012<br />
· www.arbeitgeber.barmer-gek.de, Gesundheitsreports 2012<br />
· www.statista.com, Statistika 2013<br />
· www.presse.dak.de/ps.nsf/allLevel2KatForm?Open&GoTo=RegioBY&Cat=DAK-Gesundheitsreport<br />
Bilder<br />
· Foto Seite 72: Palatia Marburg<br />
www.media05.myheimat.de/2011/03/30/1531991_web.jpg?1301437574<br />
· Foto Seite 74 – 75: Palatia Marburg<br />
K.D.St.V. Palatia Marburg im CV et KDV Facebook<br />
· Foto Seite 82 – 83: Teilakt von Ninash Noori<br />
· Foto Seite 88 – 89: Aufnahme der Zeitschrift „Das Magazin“<br />
www.kugel-panoramen.de/panos/panos/java/GSWaldmenschFr2010.jpg<br />
· Foto Seite 91:<br />
Bild 2, 4, 5 und 6 – www.stefan-finger.de
Impressum<br />
<strong>Diplomarbeit</strong> an der Schule für Gestaltung Ravensburg<br />
Studiengang Kommunikations-, Informationsdesign<br />
Diplomandin Jennifer Taube<br />
Betreuende Dozentin Michaela Gleinser<br />
Konzeption und Gestaltung Jennifer Taube<br />
Schrift Ceacilia LT, Univers LT<br />
Papier Munken Lynx Pure Rough 150 g/qm<br />
Druck und Bindung, Stein GmbH & Co. KG Ravensburg<br />
Die Inhalte der Portraits wurden in Zusammenarbeit mit den<br />
Aussteigern erstellt, selbst geschrieben oder Teile aus Blogs<br />
verwendet. Bildmatarial wurde mir größtenteils geliefert.<br />
Meine Fotografie ist zu sehen auf den Seiten: 34 – 35,<br />
36 Bild Nr. 1, 38 Bild Nr. 3, 40 – 41 Bild Nr. 3 & 4, 42 – 47 und 76 – 81.<br />
1. Auflage Juli 2013<br />
© Jennifer Taube | Ravensburg, Juli 2013<br />
Mein besonderer Dank gilt allen, die mich bei meiner<br />
Diplom arbeit unterstützt haben. Meine Reise 2012<br />
war elementar, um auf dieses Thema zu stoßen. Danke für<br />
die unvergessliche Zeit!<br />
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Freiheit ist ein Zustand des Geistes – nicht die<br />
Freiheit von etwas, sondern das Gefühl der Freiheit,<br />
der Freiheit, alles anzuzweifeln und in Frage zu<br />
stellen, und zwar so intensiv, aktiv und kraftvoll,<br />
daß sie jede Art von Abhängigkeit, Sklaverei,<br />
Anpassung und Anerkennung von sich wirft.<br />
[Krishnamurti]
inhalt<br />
Vorwort<br />
Diakon Helmut Epp 6<br />
Geschichte 8<br />
Gesundheit 20<br />
Portraits 26<br />
Christine Häring 28<br />
Hendrikje Schumann 34<br />
Sabrina und Bohne 42<br />
Stefan Hasters 48<br />
Helena Stephan 54<br />
Andrea Süßenguth 60<br />
David Schmidhofer 64<br />
Stephan Peters 72<br />
Sassa Ruopp 76<br />
Brigitte Obrist 82<br />
Jürgen Wagner – Öff Öff 88<br />
Quellen und Impressum 92