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Diplomarbeit "Aussteigen",

Ich freue mich, euch so mein Ergebnis zeigen zu können. Alles Liebe, Jenny Diplomarbeit an der Schule für Gestaltung Ravensburg Studiengang Kommunikations-, Informationsdesign Diplomandin Jennifer Taube Betreuende Dozentin Michaela Gleinser Konzeption und Gestaltung Jennifer Taube Schrift Ceacilia LT, Univers LT Papier Munken Lynx Pure Rough 150 g/qm Druck und Bindung, Stein GmbH

Ich freue mich, euch so mein Ergebnis zeigen zu können.
Alles Liebe, Jenny


Diplomarbeit an der Schule für Gestaltung Ravensburg
Studiengang Kommunikations-, Informationsdesign
Diplomandin Jennifer Taube
Betreuende Dozentin Michaela Gleinser
Konzeption und Gestaltung Jennifer Taube
Schrift Ceacilia LT, Univers LT
Papier Munken Lynx Pure Rough 150 g/qm
Druck und Bindung, Stein GmbH

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ein<br />

Gefühl<br />

der<br />

freiheit.<br />

3


„Die höchste Form der menschlichen Freiheit besteht<br />

bis zum heutigen Tag darin, zu gehen, wann man will,<br />

wohin man will, wie man will. Nichts scheint leichter.<br />

Nichts ist schwieriger.“<br />

5<br />

[Christian Schüle, „Der letzte Freigeist“]


Vorwort<br />

Vom lKW-<br />

Mechaniker zum<br />

Seelenklempner<br />

6<br />

„Aussteigen“ ist schon ein sehr spannendes Thema.<br />

Wer aussteigen will, muss ja irgendwo drinnen<br />

sein. Was aber ist dann draußen? Im Grunde wird<br />

damit eine der grundlegenden Fragen des Menschen<br />

aufgegriffen: Was macht das Leben aus?<br />

Was die Menschen alle eint ist, dass sich kein<br />

Mensch selbst ausgesucht hat zu leben, also in<br />

dem Spiel des Lebens eine Rolle einzunehmen.<br />

Wie ein Mensch ins Leben kommt, wissen wir aus<br />

der Fortpflanzungslehre. Doch die Frage bleibt, was<br />

am Beginn war – mag es Schöpfung oder Urknall<br />

heißen – und auch, was am Ende sein wird: ein<br />

„Nichts“ oder die Erfüllung in der Vollendung oder<br />

eine Variante dazwischen. Nachdem der Mensch<br />

nun fähig ist, Entscheidungen zu treffen, kann er,<br />

wenn er möchte, sein Leben auf ein bestimmtes<br />

Ziel hin ausrichten. Entscheidungen werden durch<br />

Abwägen der Gegebenheiten getroffen, wobei auch<br />

immer das Gefühl mitspielt. Welche Ziele und Werte<br />

sind es nun, die das Leben lebenswert machen?<br />

Zeige mir deine Freunde und ich sage dir, wer du<br />

bist. So lautet ein bekanntes Sprichwort. Durch<br />

meinen Freundeskreis bin ich mit den Weltjugendtagen<br />

in Berührung gekommen. Papst Johannes<br />

Paul II. hat sie 1983 ins Leben gerufen. Seither<br />

ziehen sie immer wieder die Jugendlichen der Welt<br />

an. In wenigen Tagen findet das Treffen in Rio de<br />

Janeiro in Argentinien statt. Ermutigende Boschaften<br />

wie: „Ihr seid die Baumeister einer neuen<br />

Zivilisation der Liebe.“ „Gib dich nicht zufrieden mit<br />

Mittelmäßigkeit.“ „Habt keine Angst Christus nachzufolgen.“<br />

oder auch biblisch „Ihr seid das Salz der<br />

Erde, ihr seid das Licht der Welt“ weckten meine<br />

Neugier und meinen Wunsch, mich intensiver mit<br />

Papst, Weltjugendtag und Kirche auseinander zu<br />

setzen. Der Freundeskreis bot dafür einen guten<br />

Rahmen. Zum Beispiel bewarb unsere Gruppe<br />

aktiv den Weltjugendtag in unserem Dekanat mit<br />

Lobpreis-Gottesdiensten. Schließlich fuhren wir mit<br />

einem Bus voller Jugendlicher zum Weltjugendtag<br />

nach Köln. Sehr überrascht berichtet die Polizei, wie<br />

friedlich diese Veranstaltungen immer ablaufen. Das<br />

beeindruckte auch mich.<br />

Ein Kurzabriss meiner Tätigkeit in dieser Zeit:<br />

Nach der Schule machte ich eine Ausbildung zum<br />

KFZ-Mechaniker in einer LKW Werkstätte. Die Arbeit<br />

machte mir viel Freude, und ich blieb dort weitere<br />

fünf Jahre. Ich konnte also die großen Brummis<br />

zerlegen und wieder zusammenbauen; Motor,<br />

Getriebe, Fahrerhaus, Bremsen etc. Während dieser<br />

Zeit geschah etwas Besonderes! Für mich tauchte<br />

eine bis dahin nie gestellte Frage auf: Möchte ich<br />

Priester werden? Darüber sprach ich mit meiner<br />

Freundin. Dieser Weg passte jedoch damals nicht<br />

in meine Planung, da ich mich auf Haus, Familie<br />

und Kinder eingestellt hatte. Drei Jahre brauchte ich<br />

noch, um klarer zu sehen, wie mein Weg weitergehen<br />

sollte.<br />

So fällte ich 2005 die Entscheidung für mein zukünftiges<br />

Leben. Es begann ein nicht leichter Weg.<br />

Das Abitur musste ich nachholen, um das 5 - jährige<br />

Studium anschließen zu können. Früher setzte ich<br />

mich dafür ein, dass die großen LKW‘s wieder auf<br />

der Straße vorankommen. Jetzt setze ich mich ganz<br />

dafür ein, dass Menschen auf dem Weg des Lebens<br />

vorankommen. Das Großartige dabei ist, dass es<br />

nicht nur um materielle Dinge geht, sondern um<br />

Menschen. Durch das Studium der Philosophie und<br />

Theologie bin ich in die großen Fragen nach woher,<br />

wozu, wohin eingestiegen. Menschen suchen auf<br />

diese Fragen mit Sinn belegte Antworten. Ich habe<br />

nach und nach hierauf Antworten gefunden. Es geht<br />

um Gott. Er hat mich gerufen. Gott ist Vater, Sohn<br />

und Heiliger Geist – in einem vereint. Gott liebt den<br />

Menschen, weil er in sich die Liebe ist. Je mehr<br />

ein Mensch das erkennt, desto mehr lebt er in der<br />

Geborgenheit Gottes.


Meine bewusste entscheidung<br />

Diakon Helmut Epp berichtet über seine<br />

eigene Ausstiegsgeschichte<br />

Der Ausstieg<br />

Ja, zum letztendlichen Ausstieg brauchte es eine<br />

gewisse Zeit. Es fehlte die schulische Qualifikation,<br />

den sicheren Arbeitsplatz musste ich aufgeben, und<br />

immer war da die Überlegung, ob ich tatsächlich<br />

den Weg so gehen kann und Gott mich wirklich gerufen<br />

hatte. Darin liegt auch der Unterschied zu anderen<br />

Berufen. Gott ruft und wartet auf die Antwort.<br />

Konkret heißt das für einen Priester: Ganz ausgerichtet<br />

zu sein auf Gott, die Kirche und ihre Gläubigen,<br />

nicht zu heiraten, um zu leben wie auch Jesus<br />

gelebt hat. Für mich bedeutete es einen großen<br />

Schritt, auf Ehe und Familie zu verzichten, auf mein<br />

bisheriges Leben in Familie, am Arbeitsplatz und im<br />

Musikverein. Jedoch mein Ausstieg und mein „JA“<br />

zu Gottes Plan, war tatsächlich ein Einstieg, keine<br />

Flucht aus der Welt, sondern ein Eintreten in Christi<br />

Nachfolge, um das Himmelreich zu verkünden. „Ich<br />

bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Wer an<br />

mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt“ –<br />

diese und weitere Worte von Jesus haben mich ermutigt,<br />

mich auf meinen Weg zu machen. Seit zwei<br />

Monaten bin ich Diakon und darf Kinder taufen,<br />

Ehepaare kirchlich trauen, Verstorbene beerdigen<br />

und Menschen in ihrer Trauer begleiten.<br />

Im Zusammenhang mit meinem Beitrag zu dieser<br />

<strong>Diplomarbeit</strong> habe ich tief bewegt so manche<br />

Lebensgeschichte gelesen. Manche Menschen<br />

leben eben ganz anders, als es die Gesellschaft<br />

vorsieht. Ob es eine Flucht aus den Vorgaben der<br />

Gesellschaft ist oder ob ein Ausstieg frei setzt für<br />

Größeres, das hängt von dem Einzelnen ab. So<br />

wünsche ich allen, die diese Arbeit lesen, dass sie<br />

die Entscheidungsvielfalt entdecken, die Gott uns<br />

Menschen gegeben hat. Es ist ein tolles Thema für<br />

eine <strong>Diplomarbeit</strong>.<br />

Dass heute viele Menschen nicht mehr den Sinn<br />

des Lebens erkennen, mag sicherlich auch am<br />

Wohlstand und den daraus vermeintlich resultierenden<br />

Sicherheiten liegen. Leider kehren immer mehr<br />

Menschen der Kirche den Rücken. so bleibt es doch<br />

eine unruhige Pilgerschaft, bis wir Ruhe finden in<br />

Gott. Umso mehr werden Menschen gebraucht, die<br />

eine klare Richtung weisen, Halt geben und Zuversicht<br />

vermitteln.<br />

7


GeSchichte


10 Geschichte<br />

aus|stei|gen<br />

Ein Fahrzeug, Beförderungsmittel verlassen.<br />

Umgangssprachlich: Sich bei etwas nicht<br />

mehr beteiligen.<br />

Sport: Etwas aufgeben, bei etwas nicht<br />

mehr mitmachen.<br />

Jargon: Meist ziemlich abrupt, seinen Beruf,<br />

seine gesellschaftlichen Bindungen o. Ä.<br />

aufgeben (um von allen Zwängen frei zu sein).<br />

[DUDEN]


Es gibt Abenteurer, die ihre Existenz in einem<br />

Land aufgeben, um irgendwo ganz neu anzufangen.<br />

Es gibt zivilisationsmüde Menschen, die dem<br />

„mainstream“ der Gesellschaft entfliehen, um eine<br />

alternative Lebensgemeinschaft zu gründen. Es gibt<br />

aber auch diejenigen, die nach jahrelanger Mitgliedschaft<br />

den Fängen extremer Organisationen entkommen.<br />

Und es gibt nicht zuletzt Menschen, die<br />

Schicksalsschläge erlitten haben und aus eigener<br />

Kraft oder mit Hilfe anderer aus ihrer Vergangenheit<br />

auszubrechen versuchen.<br />

Als Aussteiger bezeichnet man Menschen, die sich<br />

durch ihr Verhalten von gesellschaftlichen Normen<br />

zu befreien versuchen, indem sie aus ihrer<br />

konkreten Lebenswelt innerlich oder äußerlich<br />

„aussteigen“. Dabei wird zwischen dem äußeren<br />

und inneren Ausstieg unterschieden. Unter dem<br />

äußeren Ausstieg versteht man, dass alles aufgegeben<br />

wird, was man im Leben vor dem Ausstieg als<br />

wichtig empfunden hat. Dazu können zum Beispiel<br />

die Arbeit, Freunde und Familie, Religion, Glaubensgemeinschaften,<br />

politische Systeme und Bewegungen,<br />

der Wohnort oder alte Gewohnheiten gehören.<br />

Meistens liegt der Beweggrund für einen äußeren<br />

Ausstieg in einem mangelnden Wohlbefinden. Ges-<br />

präche mit Aussteigern zeigen, dass sie der rasanten<br />

Globalisierung abgeneigt sind und der Welt<br />

versuchen zu entfliehen. Bei dem inneren Ausstieg<br />

wird das geregelte Leben oberflächlich beibehalten.<br />

Das heißt, es wird zum Beispiel der geregelten<br />

Arbeit nachgegangen.<br />

11<br />

Innerlich schließen die Menschen jedoch mit ihrer<br />

Umwelt ab, verschließen sich häufig.<br />

Gründe für einen Ausstieg finden sich aber auch<br />

in den verschiedensten Bereichen des zwischenmenschlichen<br />

Zusammenlebens oder des Mainstreams<br />

(Geschmack einer großen Mehrheit). Die<br />

Normen und Werte des Aussteigenden entsprechen<br />

oft nicht mehr denen der Allgemeinheit oder der<br />

zuvor zugehörigen gesellschaftlichen Gruppe. Nur<br />

durch den radikalen Wandel seiner Position in der<br />

Gesellschaft sieht der Aussteiger eine Möglichkeit,<br />

sein persönliches Gleichgewicht bzw. eine innerliche<br />

Befriedigung wieder herzustellen. Der Aussteiger<br />

wartet nicht, bis die bessere Welt zu ihm<br />

kommt. Er stellt ihr nach. Er setzt sich der Paradiesvermutung<br />

aus, ohne zu wissen, ob sein Ziel das<br />

Paradies sein wird. Er kann scheitern, gewiss, aber<br />

er ist offen fürs Wagnis. Egal ob Ausstieg aus dem<br />

falschen Körper, aus einer Studentischen Verbindung<br />

oder aus dem geregelten Leben.<br />

Der Aussteiger im wesenhaften Sinn entwertet<br />

durch seinen Ausstieg etwas, das für ihn lange von<br />

großem Wert war.<br />

einen Prototypen des<br />

Aussteigers gibt es nicht


12 Geschichte | Statistiken<br />

Anzahl der Auswanderer aus<br />

deutschland von 1991 bis 2012<br />

Die Statistik zeigt die Anzahl der Auswanderer aus Deutschland von 1991 bis<br />

2012. Im Jahr 2012 sind 711.922 Menschen aus Deutschland fortgezogen.<br />

2008<br />

2007<br />

2009<br />

2006<br />

2010<br />

2005<br />

2011<br />

2004<br />

2012<br />

1.000.000 800.000 600.000 400.000 200.000<br />

Statistisches Bundesamt. Statistika 2013<br />

2003<br />

1991<br />

2002<br />

1992<br />

2001<br />

1993<br />

2000<br />

1994<br />

1999<br />

1995<br />

1998<br />

1996<br />

1997


top 20 Zielländer<br />

deutscher Auswanderer 2012<br />

Kanada: 2.692<br />

USA: 12.803<br />

Brasilien: 1.588<br />

Belgien: 2.031<br />

England: 7.802<br />

Frankreich: 6.245<br />

0 – 25.000 Personen im Jahr 2012. Statistisches Bundesamt.<br />

Die Schweiz ist mit 20.826 Auswanderern im Jahr 2012 Spitzenreiter<br />

und gilt als attraktiver Arbeitsort für die Deutschen.<br />

Polen: 6.180<br />

Schweden: 1.750<br />

Norwegen: 1.364<br />

Spanien: 5997 Türkei: 5459<br />

Italien: 2481<br />

Schweiz: 20.826<br />

Ver. Arabische<br />

Emirate: 1.403<br />

Österreich: 11.022<br />

13<br />

Russland: 2.361<br />

Niederlande: 3.200<br />

Thailand: 1.540<br />

China: 2.928<br />

Australien: 3.154


Auswanderungsmotive, gewichtet<br />

nach ihrer Bedeutsamkeit<br />

Ein höherer materieller Lebensstandard<br />

im Aufenthaltsland<br />

Bürokratie in Deutschland<br />

Fehlende Toleranz<br />

und Gestaltungsfreiheit<br />

Bessere Möglichkeiten zur Verwirklichung<br />

von Werten und Vorstellungen<br />

14 Geschichte | Statistiken<br />

Positive frühere<br />

Erfahrungen im Ausland<br />

Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2007, Progonos 2013<br />

Einkommens- und Beschäftigungssituation<br />

10 %<br />

Höhere Lebensqualität<br />

Verbesserung der Beziehung zu Familie<br />

und Freunden<br />

15 % 20 % 25 % 30 %<br />

Bessere Perspektiven für Beruf und<br />

Einkommen im Aufenthaltsland<br />

Die Lust, etwas Neues auszuprobieren<br />

Steuern und Abgaben in Deutschland


Ein höherer materieller Lebensstandard<br />

im Aufenthaltsland<br />

Fehlende Toleranz<br />

und Gestaltungsfreiheit<br />

35 %<br />

Gründe, die für eine rückkehr<br />

relevant waren<br />

30 % 25 % 20 % 15 % 10 %<br />

Finanzielle Gründe<br />

Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2007, Progonos 2013<br />

Situation von Familien und Freunden<br />

5 %<br />

15<br />

Fehlende bzw. unzzureichende<br />

soziale Absicherung<br />

Persönliches Wohlbefinden<br />

Beruf und Einkommen


16 Geschichte<br />

Ein klassisches Beispiel war bereits in der griechischen<br />

Antike (ca. 500 – 336 v. Chr.) der Philosoph<br />

Diogenes (um ca. 405 v. Chr. in Sinope). Er soll<br />

freiwillig das Leben der Armen geführt und dies<br />

öffentlich zur Schau gestellt haben. In der christlichen<br />

Frühzeit waren es die Einsiedlermönche,<br />

die in der nahöstlichen oder ägyptischen Wüste<br />

lebten. Hier wurde das Ideal der Askese gepredigt,<br />

die Enthaltung von Genüssen, besonders sexuelle<br />

Enthaltsamkeit gefordert und auf Besitz und Ehe<br />

verzichtet. Der heilige Antonius (um ca. 251– 356<br />

v. Chr.) war einer der ersten ägyptischen christlichen<br />

Einsiedlermönche und Asket. Ebenso widmete<br />

Franz von Assisi (ca. 1182 – 1226) sein Leben der<br />

freiwilligen Armut und lebte nach dem Vorbild Jesu<br />

Christi.<br />

Martin Luther (1483 – 1546) war der theologische<br />

Urheber der Reformation. Seine Betonung des<br />

gnädigen Gottes, seine Predigten und Schriften<br />

insbesondere seine Bibelübersetzung, die Lutherbibel,<br />

veränderten die von der römisch-katholischen<br />

Kirche dominierte Gesellschaft in der frühen Neuzeit<br />

nachhaltig. Entgegen Luthers Absicht kam es<br />

zu einer Kirchenspaltung, zur Bildung evangelischlutherischer<br />

Kirchen und weiterer Konfessionen<br />

des Protestantismus.<br />

Heutige Beispiele sind Alternativbewegungen wie<br />

die Hippies. Sie prägten um 1967 das Motto „Make<br />

love, not war“ und wurden als Aussteiger betrachtet,<br />

die sich dem Leistungsprinzip, den bürgerlichen<br />

Konventionen und Moralvorstellungen nicht<br />

unterwarfen, sondern entzogen. Wer Hippie war,<br />

entstammte auffallend häufig den oberen Schichten<br />

der ersten „Überflussgesellschaft“ in den 1960 er<br />

Jahren und war Teil einer Gegenkultur. Kommunen<br />

auf Ibiza, Goa in Indien, Marokko oder auf den griechischen<br />

Inseln sind nur einige Beispiele.<br />

Make love,<br />

not war!<br />

In dieser Kultur entwickelte sich ein eigener<br />

Lebensstil der sich im Musik- und Kleidungsstil<br />

widerspiegelte. Im grafischen Bereich nahm die<br />

Hippiekultur Einfluss auf die Plakatkunst und die<br />

Gestaltung von Schallplattenhüllen. Auch ehemalige<br />

Mitglieder von Sekten, unterschieden nach esoterischen<br />

(Scientology) und christlichen (Jehovas<br />

Zeugen) oder Anhängern von Neonazi-Strukturen,<br />

werden als Aussteiger bezeichnet, ebenso Menschen,<br />

die ihr Land verlassen, um woanders einem<br />

anderen Lebensstil nachzugehen.<br />

Das Phänomen des politischen Aussteigers wurde<br />

in verschiedenen Kunstrichtungen verarbeitet, unter<br />

anderem in Literatur und Film, aber auch in Comics.<br />

Als berühmte Beispiele aus der Literatur gelten<br />

Henry David Thoreau: Walden (1854), das zum


Klassiker aller Alternativen wurde. Thoreau beschreibt<br />

sein Leben in einer Blockhütte, um zwei<br />

Jahre der industrialisierten Massengesellschaft<br />

der jungen USA den Rücken zu kehren. Hermann<br />

Hesse: Siddhartha, eine indische Dichtung (1922).<br />

Der Roman spielt im 6. Jahrhundert vor Christus in<br />

Indien und handelt von einem jungen Brahmanen<br />

namens Siddhartha. Hermann Hesse stellt einen<br />

Menschen dar, der sich aus familiären und gesellschaftlichen<br />

Konventionen befreit.<br />

Vor allem seit den 1960 er Jahren taucht das Thema<br />

zunehmend auch in Spielfilmen auf. Beispielsweise<br />

„Easy Rider“, ein Kultfilm und Road Movie, der das<br />

Lebensgefühl der späten 1960 er Jahre beschreibt.<br />

„Into the Wild“ beschreibt eine zweijährige Reise<br />

durch die USA, die einen jungen Studenten, losgesagt<br />

von materiellem Besitz, schließlich in die<br />

Wildnis Alaskas führt.<br />

The „Fabulous Furry Freak Brothers“ sind die Helden<br />

einer gleichnamigen Comicserie (1968 –1992)<br />

des amerikanischen Zeichners Gilbert Shelton. Die<br />

Geschichten beleuchten den Alltag von drei Aussteigern<br />

und die alternative Szene im San Francisco<br />

der späten 1960 er bis frühen 1990 er Jahre auf<br />

humorvolle und satirische Weise.<br />

Bekannte Neo-Nazi Aussteiger waren unter anderem<br />

Matthias Adrian. Sieben Jahre kannte er nichts<br />

anderes als rechtsextremistisches Gedankengut.<br />

1999 schaffte er den Ausstieg und arbeitete fortan<br />

bei „Exit“, einem Berliner Verein, der sich um Naziaussteiger<br />

kümmert.<br />

17<br />

Reality TV – die Auswanderer, Auf und Davon,<br />

Goodbye Deutschland und Co.<br />

TV-Formate, auf die sich Fernsehsender verstärkt<br />

spezialisieren, schicken mehrere Serien ins Rennen,<br />

die sich der Thematik widmen. So kann der<br />

Zuschauer vom heimischen Sofa aus beobachten,<br />

wie seinesgleichen durch die Welt reist und dabei<br />

Erfolge feiert, aber auch bittere Tränen vergießt und<br />

das real oder nachgestellt. Seit ca. 2007 sind mehrere<br />

dieser „Trash-Soaps“ zu verfolgen und längst<br />

sind Daniela Katzenberger und Conny Reimann<br />

keine unbekannten Name mehr. Die Kehrseite:<br />

2008 startet eine Reportage „Die Rückwanderer“<br />

und zeigt Familien, die länger im Ausland gelebt<br />

haben und sich wieder auf den Heimweg machen.<br />

Niedrige Gehälter, ein marodes Sozialsystem und<br />

das bittere Gefühl, nicht wirklich willkommen zu<br />

sein, treiben viele Auswanderer schon nach kurzer<br />

Zeit wieder zurück.<br />

er hilft nun denen, die raus wollen<br />

aus der rechtsextremen Szene.


18 Geschichte<br />

Kunst, design,<br />

Architektur –<br />

damals und heute<br />

ein kleiner Auszug<br />

Der Dadaismus war eine künstlerische und literarische<br />

Bewegung, die 1916 gegründet wurde und<br />

sich durch Ablehnung „konventioneller“ Kunst<br />

bzw. Kunstformen – die oft parodiert wurden – und<br />

bürgerlicher Ideale auszeichnete. Von Dada gingen<br />

erhebliche Impulse aus auf die Kunst der Moderne<br />

bis hin zur heutigen Zeitgenössischen Kunst. Der<br />

Begriff Dada steht im Sinne der Künstler für totalen<br />

Zweifel an allem, für absoluten Individualismus und<br />

die Zerstörung gefestigter Ideale und Normen. Man<br />

ersetzte die durch Disziplin und die gesellschaftliche<br />

Moral bestimmten künstlerischen Verfahren<br />

durch einfache, willkürliche, meist zufallsgesteuerte<br />

Aktionen in Bild und Wort.<br />

CoBrA war eine von 1948 bis 1951 bestehende<br />

internationale Künstlergruppe. Der Name bildete<br />

sich aus den Anfangsbuchstaben der Städte<br />

Copenhagen, Brüssel und Amsterdam, aus denen<br />

die Gründungsmitglieder stammten. Die Mitglieder<br />

strebten die Abkehr vom Surrealismus und eine<br />

Wiederbelebung des Expressionismus mit den<br />

Stilmitteln des Informel an. Stilelemente der Volkskunst<br />

sowie kindlich-naive Techniken verbanden<br />

sich mit abstrakt-figurativen Farb- und Formgebungen.<br />

Die Künstler verband eine Ideologie, die sich<br />

gegen bürgerliche und akademische Vorstellungen<br />

wandte. Ihre Bilder sollten spontan entstehen und<br />

die Abkehr von jeglicher überlieferter Ästhetikvorstellung<br />

vermitteln.<br />

(Siehe Sammlung Selinka, neues Kunstmuseum Ravensburg)<br />

Charles Eames war ein US-amerikanischer Designer<br />

und Architekt. Gemeinsam mit seiner Frau<br />

Ray Eames trug er wesentlich zur Entwicklung des<br />

US-amerikanischen Nachkriegsdesigns bei und<br />

inspiriert bis heute Designer vor allem durch seine<br />

funktionalen Möbelentwürfe. Zusammen mit seiner<br />

Ehefrau Ray entwickelte er zunächst während des<br />

Zweiten Weltkrieges im Auftrag der US-Regierung<br />

unter anderem Flugzeugteile, Beinschienen und<br />

Tragbahren aus dreidimensional verformten Sperrholzplatten.<br />

Aus der Technik des Verbiegens von<br />

Schichtholz unter Dampf leitete er verschiedene<br />

Möbelentwürfe ab. Später arbeitete das Ehepaar<br />

Eames in verschiedensten Bereichen wie Architektur,<br />

Ausstellungskonzeption, Fotografie und<br />

Multimedia-Präsentationen. Werke wie der Plastic<br />

Armchair (Vitra, 1950 / 53) oder der Lounge Chair<br />

(1956) sind bekannte Ergebnisse von Eames.<br />

Andy Warhol war ein US-amerikanischer Grafiker,<br />

Künstler, Filmemacher und Verleger sowie Mitbegründer<br />

und bedeutendster Vertreter der US-amerikanischen<br />

Pop Art. Seine Karriere begann bereits<br />

in den 1950 er Jahren. Bekannt wurde er anfangs<br />

vor allem für seinen Siebdruck. Damit stellte er<br />

ganze Serien von Motiven dar, die jeder kennt, wie<br />

beispielsweise Marylin Monroe oder eine Suppendose<br />

von Campbell’s. Anfang der 1960 er Jahre<br />

machte er sich mit dem Siebdruck vertraut und<br />

begann intensiv Bilder aus Flugblättern, Kinoheften,<br />

Zeitschriften oder dem Time-Magazine auszuschneiden<br />

und zu sammeln, um sie für seine Bilder zu<br />

verwenden. Kennzeichnend für die folgende Periode<br />

seines Schaffens ist die Verwendung von weit<br />

verbreiteten, jedem Amerikaner vertrauten Motiven<br />

(meist aus der kommerziellen Werbung und Pressefotos),<br />

von denen er Siebvorlagen herstellen ließ<br />

und die er dann seriell wiederholte. Man begegnete<br />

diesen Bildern zunächst mit totalem Unverständnis.<br />

Nur wenige erkannten die revolutionäre Neuerung<br />

von Warhols Sichtweise. Es ist die Auswahl, die<br />

Gestaltung, und das ihr zugrunde liegende Konzept,<br />

das seine Arbeit entscheidend prägte.


form<br />

follows<br />

function<br />

Damien Hirst ist ein britischer Bildhauer, Maler, Konzeptkünstler und Kurator<br />

einzelner Ausstellungen. In den 1990 er Jahren wurde er einer der bekanntesten<br />

Vertreter des Phänomens Young British Artists. Vor allem durch provozierende<br />

Plastiken, die sich mit den Themen Tod, Religion, Leben und Konsumkultur<br />

befassen, stieg sein Bekanntheitsgrad. Zu seinen bekanntesten Werken gehören<br />

mehrere in Formaldehyd eingelegte Tierkörper sowie ein mit Diamanten<br />

besetzter menschlicher Schädel mit dem Titel For the Love of God.<br />

Das Staatliche Bauhaus wurde von Walter Gropius in Weimar als Kunstschule<br />

gegründet. Es bestand von 1919 bis 1933 und gilt heute weltweit als Heimstätte<br />

der Avantgarde der Klassischen Moderne auf allen Gebieten der freien<br />

und angewandten Kunst. Die Ideen verbreiteten sich rasant und wurden zum<br />

wichtigsten Architektur- und Designstil des 20. Jahrhunderts. Im Bauhaus<br />

wurden die traditionell getrennten Bereiche der Bildenden Kunst, der Angewandten<br />

Kunst und der Darstellenden Kunst auf der Grundlage des Konzeptes<br />

miteinander verbunden, was wiederum starke Ausstrahlung auf Malerei,<br />

Darstellende Kunst und Musik hatte. Ebenso stellte es eine Gemeinschaft<br />

zwischen Lehrenden und Lernenden dar und hatte sich zum Ziel gesetzt, den<br />

Wesensunterschied zwischen Künstlern und Handwerkern aufzuheben, die<br />

Kluft zwischen Technik und Kunst zu überwinden. Walter Gropius praktizierte<br />

den vom Architekten Louis Henry Sullivan (1856 –1924) geprägten Grundsatz<br />

„Form follows Function“.<br />

Otl Aicher war einer der prägendsten deutschen Gestalter des 20. Jahrhunderts<br />

und genoss große internationale Anerkennung. Aicher ist einer der Wegbereiter<br />

des Corporate Design: So entstand noch an der Hochschule für Gestaltung in<br />

Ulm das visuelle Erscheinungsbild der Lufthansa, das bis heute in einer leichten<br />

Modifikation verwendet wird. Für die Olympischen Spiele von München<br />

definierte er konsequente Gestaltungsrichtlinien, die von der Uniform bis zur<br />

Eintrittskarte reichten. Mit seinen radikal reduzierten Piktogrammen erfand das<br />

Team um Otl Aicher eine neue Zeichensprache, die von allen Menschen sofort<br />

verstanden wurde.Aichers Arbeit hatte großen Einfluss auf das Erscheinungsbild<br />

Westdeutschlands in der Nachkriegszeit. Er steht für die optische „Läuterung“<br />

deutschen Designs und deutscher Unternehmen nach dem Krieg. Dabei<br />

spielt auch seine konsequente Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus<br />

und seine Freundschaft mit der Familie Scholl eine Rolle.<br />

19


GeSundheit


22 Gesundheit<br />

Wenn jemand Gesundheit sucht, frage erst, ob er<br />

bereit ist, künftig die Ursachen der Krankheiten zu<br />

meiden. Erst dann darfst du ihm helfen.<br />

[Sokrates]


Die beiden größten Verlockungen der Gegenwart<br />

bestehen im unlösbaren Widerspruch zwischen Aufstieg<br />

und Ausstieg. Aufstieg wird neben Kompetenz-<br />

oder Machtzuwachs vor allem am Grad einer<br />

Gehaltserhöhung beurteilt. Der Wert des Menschen<br />

definiert sich für den Aufsteiger über die verfügbare<br />

Geldmenge; soziale Anerkennung gewinnt er durch<br />

Statussymbole. Er macht sich von jenem System<br />

abhängig, das ihm die Anerkennung ermöglicht.<br />

Ausstieg dagegen wird am Grad des Verzichts auf<br />

den Aufstieg bemessen. Der Wert des Menschen<br />

liegt für den Aussteiger in der Erlösung von den<br />

Schlüsselreizen des Macht- und Geldzuwachses.<br />

Nehmen wir an, dass der Kampf um soziale An-<br />

erkennung heute vor allem ein wirtschaftlicher<br />

um den attraktivsten Job sei und der Mensch der<br />

Gegenwart seine Identität vornehmlich mit einem<br />

sicheren Arbeitsplatz verbindet.<br />

Und wenn er es nicht will? Oder nicht mehr will?<br />

Oder nicht kann?<br />

Nichts ist in den letzten Jahren zu einer machtvolleren<br />

gesellschaftlichen Konstante geworden wie die<br />

Erschöpfung. Die Zahl der Burnouts steigt, Panikattacken<br />

nehmen zu, Angst im Verbund mit Depression<br />

gehört mittlerweile zur vierthäufigsten Todesursache<br />

in westlichen Industriestaaten und wird 2020<br />

nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen zur zweithäufigsten<br />

aufsteigen. Mehr als ein Viertel der Europäer<br />

leiden an den zwölf häufigsten psychischen Krank-<br />

23<br />

heiten; 70 % der Krankschreibungen in Deutschland<br />

gehen auf psychische Erkrankungen zurück. Die<br />

spätmoderne Wirtschafts-Gesamtgemeinschaft ist<br />

auch eine Ansammlung von Sozialphobikern und<br />

Angstpatienten mit prototypischem Karriereverlauf:<br />

Druckzuwachs, Überlastung, Selbstüberschätzung,<br />

Stress-Pegelüberschreitung, Panikattacken, Angst<br />

vor Menschen, Angst vor Massen, Angst in Zügen,<br />

U-Bahnen, Flugzeugen, Todesangst, soziale Isolation,<br />

Angst vor der Angst. Aussteigen aus einem verselbstständigten<br />

System pathologischer Umstände<br />

wäre ein Akt eigentherapeutischer Klugheit, sein<br />

Selbst zu retten. Der Ausstieg ist somit eine Selbstverlagerung:<br />

die Rettung der eigenen Schöpfung vor<br />

der Erschöpfung in eine qualitativ neue Dimension.<br />

Viele Beschäftigte ziehen kaum noch eine Grenze<br />

zwischen Arbeit und Freizeit, sind immer erreichbar.<br />

Das Leben auf stand-by bleibt nicht ohne Folgen:<br />

vor allem Krankschreibungen aufgrund psychischer<br />

Diagnosen steigen seit der Berichterstattug im Jahr<br />

2012 kontinuierlich an.<br />

Seit geraumer Zeit profitiert unter anderem auch<br />

eine Erlösungsindustrie von den Krankheiten der<br />

zwangsmobilen Insassengesellschaft. Zeitcoaches<br />

bieten „Sabbatzeiten“ an – den, wie es in Annoncen<br />

heißt, „bewussten Ausstieg auf Zeit“: raus aus<br />

der Routine, aus dem Alltag“, hinein in einen völlig<br />

anderen Lebenskontext für eine definierte Zeit<br />

zwischen drei und zwölf Monaten.


Krankenstand nach diagnosen<br />

Krankschreibungen wegen seelischer Probleme sind weiter auf dem Vormarsch:<br />

In den letzten zwölf Jahren stiegen die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen<br />

um 62 Prozent. Dies zeigt die Auswertung des aktuellen DAK-Gesundheitsreports.<br />

Das IGES Institut, Berlin, wertete dafür Daten von 370.000 erwerbstätigen Versicherten<br />

in Bayern aus.<br />

DAK Gesundheitsreport 2013<br />

Syptome<br />

Kreislaufsystem<br />

24 Gesundheit | Statistiken<br />

Infektionen<br />

Verdauungstrakt<br />

Nervensystem, Augen,<br />

Ohren<br />

Offenbar steigen in den Betrieben vielerorts die Anforderungen und Be lastungen.<br />

Ursache dieser Entwicklung sind vor allem psychische Erkrankungen.<br />

Sie nehmen überdurchschnittlich zu. Für Unternehmen und deren nachhaltige<br />

Personalpolitik bedeutet das: Betriebliches Gesundheitsmanagement gewinnt<br />

zunehmend an Bedeutung. Neben klassischen Angeboten der Gesundheitsförderung<br />

und sorgfältigen Analysen der Arbeitsunfähigkeitsdaten müssen neue<br />

Angebote zur Stärkung der psychischen Gesundheit geschaffen werden.<br />

Muskel-Skelett-System<br />

5 %<br />

Neubildungen<br />

Psychische Erkrankungen<br />

10 % 15 % 20 % 25 %<br />

Sonstige<br />

Atmungssystem<br />

Verletzungen


fehltage aufgrund psychischer<br />

erkrankungen<br />

2009<br />

Die Krankschreibungen von Arbeitnehmern aufgrund psychischer Leiden erreichten 2012 einen neuen<br />

Höhepunkt. Laut aktuellem DAK-Gesundheitsreport haben sich zwischen 1997 und 2012 die Fehltage<br />

durch Depressionen und andere psychische Krankheiten mehr als verdoppelt (plus 165 %).<br />

DAK Gesundheitsreport 2013<br />

2010<br />

2008<br />

2011<br />

2007<br />

2012<br />

2006<br />

1997<br />

2005<br />

30 %<br />

1998<br />

2004<br />

50 %<br />

1999<br />

2003<br />

2000<br />

70 % 90 %<br />

2002<br />

2001<br />

25<br />

110 % 130 % 150 % 170 %


PortrAitS


POR<br />

UG


christine häring, 29<br />

from Germany to Portugal<br />

29


30 Aussteiger-Portrait | Christine Häring<br />

Wo die liebe hinfällt<br />

Surfcamp in figueira da foz.<br />

Als ich 2009 auf einem Portugal-Surftrip mit einer Freundin war, verbrachten wir<br />

unter anderem ein paar Tage in Figueira da Foz. Filipe habe ich dort im Hostel<br />

kennengelernt. Wir haben uns unterhalten, und er hat mir von seinem Leben<br />

und von seiner Heimat Figueira da Foz erzählt. Ich habe zu der Zeit noch in<br />

Deutschland beim TIDE Surfmagazin als Grafik Designerin gearbeitet und wir<br />

waren immer auf der Suche nach spannenden Themen. Filipe erzählte mir, wie<br />

er Surflehrer geworden ist: Er hat 10 Jahre als Investmentbanker gearbeitet und<br />

trotz gutem Einkommen seinen Job von heute auf morgen gekündigt, um hauptberuflich<br />

als Surflehrer zu arbeiten. Sein Werdegang und seine Lebenseinstellung<br />

haben mich ziemlich schnell beeindruckt. Als ich dann noch erfuhr, dass in Figueira<br />

da Foz die längste rechtsbrechende Welle in Europa existiert – was nicht viele<br />

wissen – hatte ich sofort eine Geschichte für das Surfmagazin im Kopf.<br />

1


Nach meinem Urlaub habe ich meinem Redaktionschef<br />

davon erzählt und zwei Monate später im<br />

Dezember war ich wieder zurück in Portugal. Filipe<br />

hat mir viel von seiner Heimat gezeigt und mir<br />

bei meinem Artikel geholfen – so haben wir uns<br />

kennengelernt und verliebt. Zwei Jahre lang hatten<br />

wir eine Fernbeziehung über 2097 km Luftlinie und<br />

sahen uns nur im Winter, wenn Filipe zu mir nach<br />

Deutschland kam. Ganz nach Portugal gezogen bin<br />

ich erst 2011 – seitdem leben und arbeiten wir die<br />

Sommer über in Portugal. Die Winter verbringen wir<br />

gemeinsam in Deutschland.<br />

Warum ich mich für Portugal entschieden habe:<br />

Ich habe mich dafür entschieden, mit Filipe zusammen<br />

zu leben und unseren Traum vom eigenen<br />

Surfcamp zu verwirklichen. Eine Fernbeziehung<br />

kam für mich nicht mehr in Frage. Filipe hat hier seine<br />

Wurzeln, er kennt den Ort in und auswendig und<br />

weiß, wann und wo die Wellen am besten sind. Wir<br />

brauchen uns kein Netzwerk aufzubauen, wie es bei<br />

den meisten Auswanderen der Fall ist. Für mich ist<br />

das in jeder Hinsicht eine große Unterstützung.<br />

Trotzdem verliere ich den Kontakt zu meiner eigenen<br />

Heimat nicht, da wir den Winter bei mir zu<br />

Hause verbringen und dort arbeiten. So bleibt das<br />

Gleichgewicht erhalten, und niemand muss seine<br />

Heimat, seine Familie und Freunde aufgeben.<br />

1 Eine Surfschülerin, die gerockt hat.<br />

Das Schöne beim Wellen reiten-<br />

Unterricht ist, wenn die Leute<br />

Spaß und Erfolg haben!<br />

2 Wir sind in Figueira da Foz,<br />

weil wir unsere Surfspots und<br />

Strände lieben.<br />

3 Besprechung am Strand mit einer<br />

Schülerin.<br />

4 Das bin ich mit meinem absoluten<br />

Lieblingssurfboard. Es hat Sterne<br />

auf der Nase, und für mich ist es<br />

ein „Magic Board“, weil ich damit<br />

richtig Wellenreiten gelernt habe.<br />

5 Unsere Surfbretter am Strand, ein<br />

perfekter Tag zum Well en reiten.<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

31


32 Aussteiger-Portrait | Christine Häring<br />

i can not help concluding that this man felt the most supreme pleasure<br />

while he was driven on so fast and smoothly by the sea. [captain James cook]<br />

„chrissy – erzähl’ mir von<br />

deiner Geschichte“<br />

Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />

Mutig sein – etwas wagen. Gegen den Strom<br />

schwimmen. Bequemlichkeit bekämpfen. Risiko<br />

eingehen. Veränderung. Ausprobieren. Alltag<br />

hinter sich lassen. Nicht der Herde folgen und das<br />

für richtig befinden, was alle anderen machen,<br />

sondern stattdessen eigene Entscheidungen<br />

treffen, Individualist sein, Erfinder. Ich denke vor<br />

allem an Menschen, die ihrem Herzen folgen, die<br />

sich nicht von der Meinung anderer beeinflussen<br />

lassen (tu dies, tu das, ach du kannst doch nicht,<br />

was denken die Leute, denk an deine Zukunft,<br />

denk an deine Altersvorsorge, …). Menschen, die<br />

ihren eigenen Weg gehen – auch gegen den<br />

Mainstream. Es gibt Menschen, die ihr ganzes<br />

Leben lang einen Beruf ausüben, der sie nicht<br />

glücklich macht. Aus Angst vor Veränderung,<br />

Geldmangel oder Ansehensverlust in der Gesellschaft<br />

bleiben sie hängen, sind unzufrieden – und<br />

werden dann sogar krank. Aussteiger sind für<br />

mich Menschen, die mutig sind, ihren Träumen<br />

folgen und dabei auch das Risiko wagen. Für mich<br />

persönlich bedeutet aussteigen bzw. einsteigen,<br />

Prioritäten setzen und Entscheidungen zu treffen.<br />

Wir müssen jeden Tag Entscheidungen treffen –<br />

wichtigere wie belanglosere. Ziel ist, immer die<br />

für sich beste Entscheidung zu treffen.<br />

1 Surfspot in Figueira da Foz.<br />

2 Filipe und ich.<br />

1


Seit wann bist du „ausgestiegen“ und wohin?<br />

Ich wohne und arbeite seit 2011 mit meinem Freund in Portugal. Wir haben<br />

ein kleines Wellenreitcamp am Atlantik. Ich würde es nicht direkt als „Aussteigen“<br />

betrachten. Ich gehe einfach meinen Weg und versuche auf mein Herz<br />

zu hören.<br />

Was waren deine Beweggründe?<br />

Die Liebe in allen Dingen. Ich wohne in Deutschland, mein Freund ist Wellen -<br />

reitlehrer in Portugal und wohnt auch dort. Wir hatten zwei Jahre lang eine<br />

Fernbeziehung und konnten uns nur selten sehen. Das wollte ich ändern!<br />

Zum anderen liebe ich das Wellenreiten und mein Traum war es schon immer,<br />

am Meer zu leben und eine kleine Unterkunft zu führen. Da lag es einfach<br />

nahe, nach Portugal zu ziehen!<br />

Was machst du vor Ort?<br />

Alles was zum Betreiben eines Surfcamps gehört: Wellenreiten, unterrichten,<br />

Gäste beherbergen. Im Winter helfen wir meinen Eltern in der Bäckerei aus.<br />

Bist du glücklich, würdest du den selben Weg nochmals wagen?<br />

Ja.<br />

Gibt es für dich ein bestimmtes Objekt, das du<br />

sofort mit „aussteigen“ in Verbindung bringst?<br />

Meine Flugtickets und mein Surfboard.<br />

www.figueirasurfcentre.com<br />

2


FRA<br />

CE


hendrikje Schumann, 34<br />

from Germany through europe<br />

&<br />

35


Mit Keule durch europa<br />

Aussteigen ist mein unbewusster traum seit ich das erste Mal<br />

mit 12 Jahren in Venezuela war. die unzähligen fremden<br />

eindrücke haben mich schon damals fasziniert und mit den<br />

nächsten Jahren einen traum entstehen lassen.<br />

Als ich mit Anfang zwanzig geheiratet habe, wählte<br />

ich einen Partner, der auch reiste und mit dem das<br />

Aussteigen ein gemeinsames Ziel war – damals war<br />

es Brasilien. Jung wurde ich wieder geschieden –<br />

stand vor einem neuen Leben. Ich begann zu segeln<br />

und war jedes Jahr mehrere Wochen auf See.<br />

Auch in dieser Zeit schwirrten immer wieder Ideen<br />

in meinem Kopf, sich mit einem Boot abzusetzen,<br />

auszusteigen, in die Welt zu segeln..<br />

Mehrere Jahre später lernte ich wieder einen Mann<br />

kennen, wir verliebten uns, arbeiteten kurze Zeit<br />

zusammen und machten Pläne, für das nächste<br />

Jahr zusammen die Welt zu besegeln und für ein<br />

paar Jahre auszusteigen. Kurze Zeit später wurde<br />

er aber sehr krank und starb. Für mich brach eine<br />

Welt zusammen und mir wurde bewusst, wie<br />

zerbrechlich das Glück sein kann. Dass es innerhalb<br />

von wenigen Wochen einfach vorbei sein kann!<br />

Also begrub ich den Traum vom Weltbesegeln.<br />

Mein Reisefieber aber blieb. Zwei Jahre später, ich<br />

berappelte mich gerade wieder so langsam, war<br />

beruflich erfolgreich und von liebevollen Freunden<br />

und einer guten Familie umgeben, da wurde meine<br />

beste Freundin psychisch sehr krank. Sie ist mir<br />

mein Leben lang so nahe wie man sich als Freundinnen<br />

nur sein kann. Sie war so krank, dass sie mehr<br />

tot als lebendig war. Wieder brach über mir die Welt<br />

zusammen. Dann wurde auch noch mein Hund Ben<br />

krank. Ihm wurde nur noch kurze Lebenszeit diagnostziert.<br />

Da fragte ich mich schon: Warum muss<br />

mir das alles passieren? Ich versuche mein Leben<br />

lang, ein guter Mensch zu sein, freundlich und hilfsbereit,<br />

vertrauenswürdig und ehrlich, warum also<br />

ich? Ich glaube immer daran, dass jedes Ereignis im<br />

Leben zum Lernen da ist, also gibt es keine unnützen<br />

Erfahrungen – aber was sollte ich lernen? Im<br />

Nachhinein bin ich dankbar für diese Erfahrungen,<br />

1


denn sie haben mich darauf gestoßen, dass das Leben<br />

etwas Kostbares ist und man nie wissen kann,<br />

wieviel Zeit man noch hat. Und dass man jeden Tag<br />

„erleben“ und nicht warten sollte. Ich fing an, einen<br />

2 Jahres-Trip mit einem Wohnmobil durch Europa zu<br />

planen. Ich wählte zuerst die „Sicherheitsvariante“.<br />

Ich wollte zurückkommen können, wann ich wollte.<br />

Was ist, wenn ich nach 3 Monaten keine Lust mehr<br />

zum Reisen habe? Noch nie zuvor in meinem Leben<br />

bin ich im Camper verreist. Woher soll ich vorher<br />

wissen, ob mir das alles Spaß macht?<br />

Doch ich entwickelte ein starkes Vertrauen, so<br />

etwas wie Gottvertrauen. Und es fügte sich alles<br />

innerhalb weniger Wochen. Ein Freund bot seine<br />

leerstehende Scheune für meine Wohnungsausstattung<br />

an; Von der Nachbarin meiner Eltern bekam<br />

ich kostenlos eine Garage zur Verfügung gestellt, in<br />

der ich meinen abgemeldeten Neuwagen unterstellen<br />

konnte. Ich gab einen Sucheintrag für mein<br />

Wunschmobil bei ebay ein und fand innerhalb kurzer<br />

Zeit das Richtige: Geräumig genug, um mich darin<br />

auch bei Regen aufzuhalten, aber nicht zu groß,<br />

um über ungepflasterte Straßen fahren zu können<br />

oder um abgelegene Orte zu erreichen. Es war ein<br />

Oldtimer, steuergünstig, ohne Umweltplakette zu<br />

fahren, eine hintere Rücksitzbank mit Blick aus dem<br />

Fenster und eine weitere Schlafmöglichkeit – kurzum<br />

ein Wohnmobil, in dem es mehrere Personen<br />

gemütlich haben konnten. Alles in allem hat es mich<br />

5000 € gekostet.<br />

Es waren besondere Tage für mich, als ich meine<br />

Wohnung zum Auszug zusammenräumte. Ich ging<br />

durch jedes einzelne Zimmer meiner Wohnung,<br />

nahm jedes Stück in die Hand und fragte mich bei<br />

jedem Teil: „Brauchst du das zum Leben im Aussteigermobil?“<br />

Die Antwort war meist: „Nein!“. Es<br />

war nicht viel, was für meinen neuen „Haushalt“<br />

im Wohnmobil übrig blieb. Ich wusste ja: Ich kann<br />

jederzeit zurück kommen!<br />

Ich habe in diesem ersten Jahr nicht ein Stück<br />

meines alten Lebens vermisst!<br />

Aussteiger-Portrait | Hendrikje Schumann 37<br />

Ich war schon immer gut im „Wegschmeißen“, das<br />

räumt die Seele auf. Der Abschied von Freunden<br />

und Familie fiel mir relativ leicht, ich wollte einfach<br />

weg. Gut, dass es mir so schlecht ging und dass ich<br />

nur noch Kraft hatte, mich um mich selbst zu kümmern<br />

und mich so schnell wie möglich auf die Reise<br />

zu begeben. Als ich dann endlich aufbrach, hatte ich<br />

das Gefühl, dass ich nichts Unerledigtes hinter mir<br />

gelassen hatte und getrost loslassen konnte und<br />

meiner Seele und meinem Traum nachgehen durfte.<br />

Die ersten zwei Wochen waren hart, sehr hart! Ich<br />

war einsam, nicht die ersten Tage, da weinte ich vor<br />

Glück über die Freiheit. Doch mit der Zeit wurde die<br />

totale Einsamkeit immer stärker. Aber nicht ein einziges<br />

Mal habe ich daran gedacht, zurück zu fahren.<br />

2<br />

3<br />

1 Mein Hund Ben und ich<br />

beim Raufen.<br />

2 Darf ich vorstellen – das ist Keule.<br />

3 Ich lerne Maja (7Jahre) und ihre<br />

Eltern Micha und Andy kennen.<br />

Wir verbingen die Zeit auf<br />

wundervoll entspannte Art und<br />

Weise. Jeden Tag ausschlafen,<br />

vier Stunden Kaffee trinken, am<br />

Strand liegen. Hier Maske mit<br />

selbstgepflückter Aloevera.


38 Aussteiger-Portrait | Hendrikje Schumann<br />

38<br />

Nach 2,5 Wochen mit mir und meinen Gedanken und Gefühlen alleine, mit<br />

der ungewohnten Handhabung des großen Wohnmobils, lernte ich die ersten<br />

Menschen auf meiner Reise kennen. Diese nahmen mich auf und zeigten mir,<br />

dass es möglich ist Spaß zu haben, unbeschwert zu sein, die wenigen Mittel<br />

ausnahmslos zu teilen, füreinander da zu sein und dass man vertrauen muss.<br />

Genau solche Menschen habe ich um mich gebraucht. Jedes Mal wenn ich nach<br />

Deutschland in mein altes Umfeld komme, fühle ich mich wie ein Alien, aber ich<br />

schweige und beobachte die Menschen, schaue mich an, wie ich noch vor 1,5<br />

Jahren war. Über diese innerliche Veränderung spreche ich auch nur mit Gleichgesinnten.<br />

Manches im Leben muss man einfach selbst erfahren, um darüber<br />

sprechen zu können.<br />

Mein Plan war es, ganz Europa zu bereisen. Mein erstes Ziel war Spanien. Eine<br />

Aussteigerfreundin besuchen, die dann aber ihr Leben in Spanien kurzfristig aufgab<br />

und nach Deutschland zurückkehrte. Dann ließ ich mich nach Frankreich treiben,<br />

an einen Ort, an dem ich als Jugendliche schon mal Urlaub gemacht hatte.<br />

Hier lernte ich dann Menschen kennen. Und sobald das geschieht, passieren dir<br />

Dinge, die nicht mehr zu planen sind. Deswegen rate ich jedem: Der Plan ist,<br />

keinen Plan zu haben! Ich wollte von Anfang an alles selbst schaffen, nicht vom<br />

Staat leben oder Almosen annehmen. Ich habe so lange gerechnet und gespart,<br />

bis es möglich war, alles selbst mit geringsten Mitteln zu ermöglichen. Ich hatte<br />

eine Auslandsreiseversicherung für zwei Jahre im Voraus bezahlt, Rücklagen um<br />

jederzeit zurückkommen zu können und Geld, um das Auto zu finanzieren. Ich<br />

lebe von 500 € im Monat und trotzdem wie eine Fürstin! Als ich wieder für 1,5<br />

Monate in Deutschland war, habe ich in meinem vorherigen Job gearbeitet, um<br />

mir das Weiterreisen zu ermöglichen.<br />

Auch unterwegs arbeite ich in den unterschiedlichsten Berufen. Als Putzfrau,<br />

Gärtnerin, Kosmetikerin, Masseurin und zuletzt als Malerin. Gerade das ist so<br />

abwechslungsreich und ermöglicht mir, immer wieder neue Dinge zu erleben.<br />

Man trifft Menschen, die ähnlich sind, und von jedem Einzelnen nehme ich etwas<br />

ganz Besonderes mit – kleine gehütete Diamanten in meiner Seele. Wenn<br />

ich beobachte, wie die Menschen, die ich kennengelernt habe, so sind, sehe<br />

ich meine eigene Veränderung.<br />

1 Die Dame aus Singapur malt<br />

meine Keule, ich bin zu Tränen<br />

gerührt. Wer malt schon mein<br />

Auto? Zu Kaufen war das Bild<br />

leider nicht.<br />

2 Erstmal frühstücken.<br />

3 Ich übe fleißig mit meinem<br />

Didgeridoo.<br />

4 Die nächsten Tage ist windsurfing<br />

angesagt. Ich probiere mich<br />

zweimal darin, plumpse aber mit<br />

meinem Hintern nur ins Wasser<br />

5 Sonnenuntergang, mein<br />

abendl iches TV-Programm –<br />

i love it!<br />

1<br />

2<br />

3


Ich bevorzuge es, richtige Aussteiger kennenzulernen.<br />

Die meisten sind schon länger als ich unterwegs,<br />

und von diesen lerne ich jeden Tag etwas<br />

Neues. Ansonsten gibt es in jedem Land zu jeder<br />

Jahreszeit die unterschiedlichsten Reisenden. Von<br />

deutschen Rentnern in dicken weißen 0815-Wohnmobilen<br />

bis Winter-Camper, die zum Arbeiten im<br />

Sommer wieder in Deutschland sind. „Normale“ 2<br />

bis 3 Wochen-Urlauber, Aussteiger in Kommunen,<br />

die ein ganz anderes hochinteressantes Leben<br />

führen. Am wichtigsten ist für mich das Gefühl der<br />

Freiheit, die Naturverbundenheit. Jeden Morgen<br />

schaue ich aus dem Fenster in meinem Alkoven,<br />

sehe den Sonnenaufgang über dem Meer, über<br />

einem See, hinter einem Berg, habe das Wissen, alles<br />

tun und lassen zu dürfen, was ich mag. Ich liebe<br />

es, auch meine Gitarre zu spielen. So kann ich mich<br />

ausdrücken, wenn ich alleine bin. Aber etwas habe<br />

ich in diesem Jahr Reisen gelernt: Nichts Materielles<br />

ist wichtig, alles ist ersetzbar und veränderbar.<br />

Die Erfahrungen sind einmalige Erlebnisse, nach<br />

denen ich süchtig geworden bin. Aus meinem alten<br />

Leben vermisse ich nichts.<br />

„Wie ist dein Alltag?“ Diese Frage stellt mir jeder.<br />

Manche Menschen können sich gar nicht vorstellen,<br />

wie das so sein könnte, nichts zu tun. Es kommt<br />

auf den Ort, die Menschen und das Wetter an.<br />

Einen Tag reise ich wirklich herum, verbringe einige<br />

4<br />

39<br />

Stunden im Auto und fahre Kilometer um Kilometer.<br />

Ich genieße die vorrüberziehende Landschaft<br />

und deren Veränderung und erlebe es, einfach mal<br />

detailgenau hinzuschauen, anzuhalten, wann immer<br />

ich etwas Schönes und Interessantes sehe. Und zu<br />

bleiben, wenn ich möchte, ohne ein Ziel erreichen<br />

zu müssen. Anfangs bin ich jeden Tag woanders<br />

hingefahren. Dieses Tempo entschleunigt sich aber<br />

nach kurzer Zeit. Einige Wochen habe ich an einem<br />

Platz immer 2 bis 3 Tage verbracht, bis ich weitergereist<br />

bin. Dann auch immer nur 10 bis 20 km weiter,<br />

um so viel wie möglich zu sehen. An vier Plätzen<br />

bin ich sogar mehrere Wochen lang geblieben,<br />

bis es mich dann weitergezogen hat. Es gab noch<br />

keinen Platz, an dem ich für immer bleiben wollte –<br />

danach bin ich, glaube ich, eigentlich auf der Suche.<br />

Mein Alltag besteht aus Ausschlafen, Kaffee trinken,<br />

frühstücken, an den Strand gehen, schwimmen,<br />

sonnen, surfen, wandern und klettern, einkaufen,<br />

tanken, Wasser auffüllen, manchmal etwas am<br />

Wohnmobil reparieren, Wohnmobil bemalen und/<br />

oder mit Muscheln bekleben, dekorieren, Gitarre<br />

spielen, Didgeridoo erlernen, die Natur kennenlernen,<br />

Kräuter sammeln, Beeren, Pilze und Blätter<br />

pflücken, lernen, wie man sich kostengünstig ernährt<br />

und lebt, Essen kochen, abwaschen, Wäsche<br />

im Fluß waschen. Das dauert alles etwas länger als<br />

im früheren Leben, aber das macht nichts, ich habe<br />

ja Zeit. Spaziergänge machen, Menschen kennenlernen,<br />

Lagerfeuerholz suchen, Sonnen- und Mondaufgang,<br />

Umgebung erkunden, in der Hängematte<br />

liegen, auf der Slackline laufen, Städtchen und Dörfchen<br />

anschauen, Tipps und Tricks der anderen aufschnappen<br />

und probieren. Einfach jeden Tag das Ziel<br />

5


1<br />

2<br />

3<br />

setzen, etwas Neues zu erlernen und zu entdecken.<br />

Jede Herausforderung, die ich ihn diesem Jahr<br />

persönlich, gesundheitlich, autobezogen, finanziell<br />

und menschlich auf den Wegen gelebt habe, habe<br />

ich nicht als „Problem“ empfunden. Ich habe mich<br />

innerlich entspannt, erfahren, dass so etwas einfach<br />

„nicht schlimm“ ist, sondern eine Lehre.<br />

Das schönste innerliche Geschenk hat mir ein sogenanntes<br />

„Problem“ beschert: Ich weiß jetzt was<br />

„Gottvertrauen“ ist, dass es immer Hilfe gibt, wenn<br />

ich sie erbitte und immer Menschen finde, die sich<br />

urplötzlich um mich kümmern und selbstlos helfen.


4<br />

Aussteiger-Portrait | Hendrikje Schumann<br />

41<br />

„nimm die Menschen so wie sie sind,<br />

andere gibt es nicht!“<br />

Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />

Freiheit und Leben.<br />

Seit wann bist du „ausgestiegen“ und wohin?<br />

01.06.2012 Europa, geplant ist noch Mittelamerika.<br />

Was waren deine Beweggründe?<br />

Das „Reisen“ war schon immer in mir. Persönliche<br />

massive Verluste in mehreren Jahren, die<br />

mich nachdenklich stimmten, aber auch nicht<br />

mehr zögern ließen.<br />

Was machst du vor Ort?<br />

Neue Menschen kennenlernen, die so sind wie<br />

ich. Land, Kultur und jeden Tag Neues lernen<br />

(Musik instrumente, Surfen, Sport, Natur und<br />

Survival training).<br />

Bist du glücklich, würdest du den selben Weg<br />

nochmals wagen?<br />

JAJAJA!!!<br />

Gibt es für dich ein Objekt das du sofort mit<br />

„aussteigen“ in Verbindung bringst?<br />

Lächeln und große Freude, aber niemals etwas<br />

Materielles.<br />

www.rikes-tour.de<br />

1 Jeden Morgen ein anderer<br />

traumhafter Ausblick.<br />

2 Achso und mal ein bischen<br />

Wäsche waschen, hoffentlich<br />

sieht´s der Ranger nicht.<br />

3 Ben und ich.<br />

4 Die unendlichen Weiten von<br />

Le Porge, Frankreich.


P<br />

ATT


L<br />

Sabrina, 18 und Bohne, 20<br />

from Germany to everywhere<br />

43


1<br />

44 Aussteiger-Portrait | Sabrina mit Lira<br />

die Platte ist unser zu hause<br />

Seit 2,5 Jahren bin ich „auf Straße“, weil ich zu hause Probleme<br />

mit meinen Brüdern hatte. ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten.<br />

2<br />

3<br />

1 Mein Hund Lira und ich in<br />

Ravensburg am Grünen Turm.<br />

2 Armbänder und Tatoos sind mir sehr<br />

wichtig, ich trage sie immer bei mir.<br />

3 Das Tatoo am Knöchel: Kimi und Kira<br />

sind meine engsten Freundinnen.


Seit ich weg bin verstehe ich mich wieder besser<br />

mit ihnen. Ich bleibe da, wo ich unterkomme. Nach<br />

Ravensburg bin ich durch einen Kumpel gekommen.<br />

So habe ich weitere Leute kennengelernt. Jetzt<br />

bleibe ich erst einmal ein paar Tage hier, bis es mich<br />

nach Hamburg zieht – ich reise sehr gerne.<br />

Glücklich bin ich auf jeden Fall! Man ist immer in<br />

einer Gruppe, mit coolen Leuten, nie alleine und hat<br />

Spaß. Aber natürlich bringt das auch seine Schattenseiten<br />

mit sich. Ständig aufeinander sitzen bringt<br />

Stress. Bei Regen oder Eiseskälte draußen zu<br />

schlafen ist kein gutes Gefühl. Im Winter habe ich<br />

einen Armeeschlafsack, der bis - 20 Grad warm hält.<br />

Ohne den geht es nicht, die gibt es meistens von<br />

Sozialarbeitern bezahlt. Zu Stiftungen wie zum<br />

Beispiel die Bahnhofsmission kann man immer<br />

gehen, es gibt viele Organisationen, die helfen. Als<br />

ich in Ravensburg angekommen bin konnte ich<br />

endlich wieder auf einer Matratze schlafen, das war<br />

mein Highlight! Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich<br />

Grippe und musste auf der Platte schlafen. Kotzend<br />

und hustend habe ich versucht, sie auszukurieren.<br />

Ein Freund hat sich dann um mich gekümmert und<br />

mich zu sich geholt. Zwei Wochen danach bekam<br />

ich es leider wieder. Schlupfwinkel, eine Organisation<br />

für Obdachlose Jugendliche bietet die Möglichkeit<br />

zu essen, schlafen, doe helfen bei Rechtsfragen,<br />

haben einen Arzt der in Rente ist und hilft, hier<br />

habe ich auch schon Arzneimittel bekommen. Der<br />

Arzt ist aber in Stuttgart.<br />

Zu meiner Mutter habe ich mal wieder nach 5 Mo n-<br />

aten Kontakt. Bei meinem Vater habe ich mich seit 3<br />

Monaten nicht gemeldet, meine Eltern, leben<br />

getrennt. Ich bin gerade auf der Suche nach einem<br />

Job im sozialen Bereich, um Menschen zu helfen,<br />

ich höre gerne zu. Allerdings könnte ich dann nicht<br />

mehr uneingeschränkt reisen und die weite Welt entdecken. Aber aus Liebe zu<br />

meinen Eltern würde ich das in Kauf nehmen. Sie wünschen sich eine Absicherung<br />

durch eine abgeschlossene Ausbildung für mich. Ein Praktikum habe ich<br />

bereits ein Jahr lang in einem Altersheim gemacht. Diese Geschichten und<br />

Schiksale haben mich berührt und mich teilweise auch zum Weinen gebracht.<br />

Auf der Straße gibt es natürlich auch eine Kehrseite: Man kommt mit Drogen in<br />

Berührung. Auch wenn`s mal Stress gibt, musst du bleiben. Alleine Platte<br />

machen geht nicht, das ist viel zu gefährlich! Die alten und jungen Obdachlosen<br />

sind ziemlich getrennt. Die älteren Alkoholiker werden Berber genannt, von<br />

denen hält man sich fern. Mit sexuellen Übergriffen habe ich bisher keine<br />

Erfahrungen gemacht – Gott sei dank! Und wenn mal ein blöder Spruch kommt,<br />

ist meist ein Kumpel in der Nähe.<br />

Meine Tattoos und Armbänder sind mir sehr wichtig. Zwei Mädels, die mir viel<br />

bedeuten, habe ich mit einem Tattoo verewigt. Sie haben mir weitergeholfen,<br />

als ich depressiv war. Wenn meine Situation scheiße ist, dann erinnere ich mich<br />

daran zurück, lächle und weiss, es gibt immer jemanden, der mir hilft. Die<br />

Na men meiner Eltern will ich mir auch stechen lassen. Mir ist bewusst, dass<br />

unser Verhältnis zerfahren ist. Schließlich bin ich abgehauen, aber ich liebe sie<br />

trotzdem. Sie haben sich mit ihrer Erziehung bemüht und ich habe Scheiße<br />

gebaut, war tagelang weg, ohne mich zu melden! Meine Mutter hat mittlerweile<br />

aufgegeben mich zu kontaktieren. Auf der Platte wird viel geklaut und da<br />

macht ein Handy keinen Sinn. Sie wartet auf Nachrichten von mir und wenn es<br />

soweit ist freut sie sich sehr – es geht mir ja meistens gut! Erst im Januar gab`s<br />

Stress. Ich bin abgehauen, die Bullen haben bei ihr angerufen und ich habe<br />

daraufhin 5 Monate nichts von mir hören lassen. Nach dieser langen Zeit ist ihr<br />

ein Stein vom Herzen gefallen, als sie wusste, dass ich wohl auf bin. Unseren<br />

Kontakt würde ich wie mit einer Sozialarbeiterin gleichsetzen, eine gute<br />

„Bekannte“. Ich bin eher bei meinem Vater. Finanziell kann ich von meinen Eltern<br />

nichts erwarten. Als ich kürzlich Geld für meine Hündin und eine OP gebraucht<br />

hatte, musste ich selbst schauen, wie ich an Geld komme. Es ist nicht leicht,<br />

mit Hund auf der Platte zu leben. Ich kann sie niemandem brin gen, wenn ich<br />

Party machen will. Geschenkt bekommen habe ich sie über Bekannte aus<br />

Baden, die sie irgendwoher aus dem Internet haben. Sie kam aus schlechter<br />

Haltung. Hat sich versteckt, geknurrt und sogar Angst vor einem Ball.<br />

Jetzt muss ich erst einmal einen Personalausweis beantragen, dann Harz IV und<br />

wenn alles gut läuft, ab September eine Ausbildung anfangen. Ich werde meine<br />

Flexibilität und das Reisen sicher vermissen, das weiss ich jetzt schon. Heute<br />

schnorre ich für eine Fahrkarte und Hundefutter.<br />

45


46 Aussteiger-Portrait | Bohne<br />

Mein chef hat mich rausgeschmissen, weil meine<br />

leistung ihm nicht ausgereicht hat.<br />

Seit 4 Jahren bin ich in der Punkszene unterwegs.<br />

Mein Ausstieg ist das Resultat einiger unglücklicher<br />

Verkettungen und Reaktionen: Ich habe meinen<br />

Job verloren, bin daheim rausgeflogen, war mental<br />

schlechter Verfassung, war antriebslos, und so habe<br />

ich mein Leben selbst in die Hand genommen.<br />

Komplett ausgestiegen bin ich seit 2 Jahren.<br />

Ich habe eine angefangene Ausbildung zum Informationselektroniker,<br />

bin dann aber Anfang des zweiten<br />

Lehrjahres rausgeflogen. Jetzt bin ich auf der<br />

Suche nach einem neuem Job. Aussicht auf einen<br />

Teilzeitjob als Securitykraft auf dem Friedhof habe<br />

ich schon. Ich brauche wieder eine Perspektive und<br />

eine Aufgabe. Einen Rhythmus? Aufstehen, wann<br />

man Lust hat, meistens um 10 Uhr. Dann geht es<br />

in die Stadt, schauen wer da ist, oder man versucht<br />

sich irgendwie zu beschäftigen. Der Alltag auf der<br />

Straße macht träge.<br />

In jeder Stadt gibt es Kumpels, die wiederum Leute<br />

kennen. Man wird vorgestellt, macht Party, trinkt<br />

Einen zusammen und lernt sich kennen. So werden<br />

Kontakte geknüpft.<br />

Mit dem Betteln wird fürs leibliche Wohl gesorgt. Je<br />

Stadt ist es unterschiedlich, wo man schläft, manchmal<br />

kommt man bei Freunden unter. Oder man<br />

findet „ne Platte“ bei anderen Leuten und schließt<br />

sich an. Es ist meist eine friedliche, fast familiäre<br />

Atmosphäre, und man achtet aufeinander. In Stuttgart<br />

am Staatstheater ist ein guter Anlaufpunkt, hier<br />

kann man die Nacht verbringen.<br />

Gemischte Gefühle machen sich breit, wenn ich<br />

darüber nachdenke, ob ich glücklich bin oder nicht.<br />

Mein Ziel ist es, einen Job zu finden und regelmäßig<br />

ein Einkommen zu haben. Dann kann auch alles<br />

Weitere folgen, wie Wohnung usw. Die Blicke von<br />

Außenstehenden ignoriere ich mittlerweile, es fällt<br />

1<br />

2


1 Sabrina mit Hund Lira und mir in<br />

Ravensburg am Grünen Turm.<br />

2 Mein Outfit provoziert, dessen bin<br />

ich mir bewusst.<br />

3 Undercut und verzierte Lederjacke,<br />

das gehört zu mir.<br />

mir gar nicht mehr auf. Mit meinem Geld komme ich<br />

ganz gut zurecht. Es reicht, um sich zu versorgen.<br />

Falls größere Anschaffungen gemacht werden müssen,<br />

muss ich eben ranklotzen. Zum Beispiel, wenn<br />

es um Klamotten geht. Es wird was auf die Seite<br />

gelegt und umso mehr gebettelt. Was ich bekomme,<br />

variiert ziemlich stark. Das Minimum waren 3 €<br />

„Meine Jacke ist seit 4 Jahren<br />

überall dabei“<br />

3<br />

47<br />

am ganzen Tag. Das Höchste zu dritt einmal um die<br />

100 €. Zu meiner Mutter und meinem Bruder habe<br />

ich keinen Kontakt. Sie wohnen in Stuttgart und mein<br />

Verhältnis zu ihnen würde ich eher als gleichgültig<br />

und sporadisch bezeichnen. Ich kämpfe mich selbst<br />

durch. Nach Ravensburg bin ich wegen meiner<br />

Freundin gekommen.


IN<br />

I


Stefan hasters, 50<br />

from Germany to the whole world<br />

49


1<br />

50<br />

Ziemlich schnell habe ich gemerkt, dass<br />

ich aus den gewohnten Kreisen fliehen musste!<br />

ich konnte weder für mich noch für andere<br />

Verantwortung übernehmen.<br />

2<br />

3


1 Ich sitze in Mumbay, Colaba.<br />

Ein Ort an dem sich Reisende<br />

aus aller Welt treffen.<br />

2 Mit meinem Sohn Sammy,<br />

4 Jahre unterwegs.<br />

3 In Hampie, östlich von Goa.<br />

Man könnte sagen, dass der<br />

Mann ein richtiger Aussteiger<br />

ist. Er ist ein Sadu und lebt<br />

vom Betteln.<br />

4 Mit 15 Jahren, Abschlussfahrt der<br />

Realschule in München.<br />

5 Das bin ich mit 30 Jahren in Goa.<br />

4<br />

5<br />

Aussteiger-Portrait | Stefan Hasters<br />

51<br />

Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />

Distanz zum Gewohnten, Abstand bekommen,<br />

Abenteuer, Selbsterfahrung, wieder wach<br />

werden, Sinne einsetzen, Bewusstseinser-<br />

weit erung, Ängste durchleben, Freiheit, Flucht,<br />

seinen eigenen „Luxus“ erleben, Überlebenskampf,<br />

der eigenen Trauer begegnen und versuchen,<br />

sie zu überwinden.<br />

Seit wann bist du „ausgestiegen“ und wohin?<br />

Ich bin wohl eher ein temporärer Aussteiger<br />

gewesen. Wenn ich mal so recht drüber nachdenke,<br />

war ich nie ein Aussteiger in dem Sinne,<br />

weil ich nie wirklich irgendwo eingestiegen bin.<br />

Bin ca. 20 Jahre durch die Welt gereist, per<br />

Anhalter von Aachen nach Israel, mit dem Bus<br />

durch Guatemala, Belieze, Mexico, mit dem<br />

eigenem Auto durch Amerika, 17 mal durch Indien<br />

gereist, insgesamt 5 Jahre dort gewesen, und<br />

habe 2 Jahre in Spanien gelebt. Von 1993 bis jetzt<br />

gereist.<br />

Was waren deine Beweggründe?<br />

Zuerst eindeutig Flucht! Ich konnte mich selber<br />

nicht ertragen. Zudem hatte ich eine bewegte<br />

Vergangenheit/Kindheit zu verarbeiten. Misshandlungen<br />

und Brutalität in der Familie. Mein<br />

Aussteigen fing als Säugling an: nach der Geburt<br />

wurde ich für ein Jahr weggegeben, zur Tante.<br />

Danach bin ich nie wirklich in meiner Familie<br />

angekommen. Mit 17 Jahren habe ich alleine<br />

gelebt, bin kriminell geworden, Drogen, Jugendarest...<br />

dann die Heirat mit 27, Kind bekommen,<br />

schnell wieder geschieden. Danach wurde mir<br />

klar, dass ich unfähig war, für längere Zeit in einer<br />

Gemeinschaft zu leben. Weder für mich und erst<br />

recht nicht für Andere. Ziemlich schnell habe ich<br />

gemerkt, dass ich aus den gewohnten Kreisen<br />

fliehen musste, sonst wäre das mein Untergang<br />

ge we sen. 1993 kam ich zum ersten Mal nach<br />

Indien. Eine komplett andere Welt für mich.<br />

Friedlich. Und es war kein Machogehabe nötig um


52 Aussteiger-Portrait | Stefan Hasters<br />

2 3 4<br />

1


5<br />

zu überleben. Indien hat mich weicher gemacht.<br />

Der Tod war immer allgegenwärtig. Ich habe ihn<br />

förmlich angezogen. Die Krönung war meine<br />

Arbeit bei Mutter Theresa im Sterbehaus von<br />

Calkutta. An einer Tafel wurde täglich eine<br />

Strichliste geführt, wieviele Menschen starben.<br />

Keine Namen, nur Striche – sie hatten keine<br />

Namen. Die wirklichen Helden habe ich dort<br />

angetroffen, Menschen, die trotz unbeschreiblichem<br />

Leid lächelnd den Tod empfingen. Eigentlich<br />

arbeite ich als selbständiger Werbetechniker. Ich<br />

wohne in meiner Halle, habe bis heute kein<br />

wirkliches Zuhause, bin jobmäßig ständig in ganz<br />

Deutschland unterwegs. Als Kind musste ich<br />

Jahre im Büro meines Vaters wohnen. Heute lebe<br />

ich in meinem eigenen Büro. Anscheinend hat<br />

sich nicht viel geändert, außer dass ich mein<br />

Schicksal angenommen habe und mir darüber im<br />

Klaren bin, dass ich ein äußerst interessantes<br />

Leben habe. Und ich mag es! Ich möchte nicht<br />

tauschen mit der Pseudosicherheit anderer<br />

Lebensmodelle. Der Kampf hat nie aufgehört.<br />

Meine Freunde akzeptieren mich so wie ich bin.<br />

Das gefällt mir und darauf bin ich stolz.<br />

Im Moment kümmere ich mich um meinen<br />

krebskranken Kumpel, der gerade die Chemo<br />

durchlebt. Langsam kommt er durch die Krankheit<br />

dahin, wohin mich Indien gebracht hat. Er fängt<br />

an, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu<br />

trennen. Ich wünsche mir, dass er es schafft!<br />

53<br />

Bist du glücklich, würdest du den selben Weg<br />

nochmals wagen?<br />

Manchmal bin ich glücklich. Konstant glücklich war<br />

ich letztes Jahr in Le Porge. Vielleicht mache ich<br />

mir etwas zu viel Sorgen, dass der Mensch sein<br />

Gleichgewicht verloren hat und es genießt, seine<br />

dunklen Seiten zu leben. Es war kein Wagnis für<br />

mich, es war eine Notwendigkeit, diesen Weg zu<br />

gehen. Mein Instinkt ist wach, und ich bin ihm<br />

gefolgt, sonst wäre ich schon längst tot. Also alles<br />

richtig gemacht, so im Groben. Ich hoffe, dass<br />

mein Sohn irgendwann alles versteht und seinen<br />

Weg findet. Ich bin selten unglücklich. Ich<br />

wünschte, ich wäre es mal. Am schlimmsten ist<br />

es, wenn ich nicht sagen kann, was ich bin, wenn<br />

ich mich nicht mehr spüre. Vielleicht funktioniert<br />

der Mensch so, dass er sich mit Gegebenem<br />

abfindet, nur um zu überleben. Wenn ich meinen<br />

Lebensweg hätte selber schreiben dürfen, hätte<br />

ich einige Dinge ausgelassen. Wenn ich mir die<br />

Bilder aus Indien wieder ins Gedächtnis rufe, habe<br />

ich keinen Grund mich zu beklagen.<br />

1 Ein gläubiger Hindu. Das Bild<br />

wurde in Gorcana, südlich von<br />

Goa aufgenommen.<br />

2 In Kerala, auf den Backwaters,<br />

welche die Engländer damals<br />

in Indien als Wasserstraßen<br />

angelegt haben.<br />

3 Die Aufnahme entstand auf<br />

einem Markt in Mumbay.<br />

4 Ich finde den Kontrast zwischen<br />

alt und jung, traditioneller Kleidung<br />

und neuer Mode interessant.<br />

Verhüllt (im Sari) gehen die<br />

indischen Frauen an den Strand<br />

und ins Wasser.<br />

5 Goa – so schön Grün.


N<br />

GLA


helena Stephan, 28<br />

from Germany to england<br />

55


56 Aussteiger-Portrait | Helena Stephan<br />

What is the philosophy of<br />

typography for you?<br />

1<br />

„What?“ Glücklicherweise konnte ich im Bewerbungsgespräch<br />

bei dieser frage eine Punktlandung hinlegen.<br />

Seit Dezember 2007 bin ich in England und arbeite hier. Ich habe 4 Jahre in<br />

Ravensburg an der Schule für Gestaltung studiert. Das war eine super Zeit, in<br />

der ich viel Spaß im Studium und mit den Leuten hatte. Schon als wir uns für<br />

ein halbjährliches Praktikum – das Pflicht ist – bewerben mussten, kam mir der<br />

Gedanke, es in England zu probieren. Aber das hat leider nicht funktioniert. Gegen<br />

Ende des Studiums, so im Mai/Juni 2007, habe ich es nochmal versucht. Ich<br />

kann es nicht erklären, aber England war schon immer irgendwie in mir verankert.<br />

Wenn man sich bei so vielen Agenturen bewirbt, baut sich in einem jedes<br />

Mal Hoffnung auf, die dann mit der Zeit zerbröckelt oder abrupt zerstört wird<br />

– wie bei JumpMedia. Das war eine Agentur, die ich in Cornwall gefunden habe.<br />

Fragt mich nicht, wie ich auf Cornwall gekommen bin, ob es schlussendlich<br />

die Rosamunde Pilcher Filme waren oder das Surfen – ich kann es nicht mehr<br />

sagen. JumpMedia war die erste Agentur, bei der ich dachte „DIE ist es!“. Also<br />

– wieder mit den ganzen Unterlagen bewerben, 2 Wochen warten und dann<br />

anrufen. Beim Anruf am nächsten Tag habe ich dann erfahren, dass sie bereits<br />

jemanden eingestellt hatten. Toll, hätten sie ja früher sagen können.<br />

Mittlerweile war es Anfang August, und ich musste mir langsam überlegen, ob<br />

ich mit einem Mädel aus meinem Studium ein Surfcamp machen oder wie ich<br />

meinen September gestalten wollte. An dieser Stelle muss ich noch anfügen,<br />

dass ich noch nie zuvor etwas mit Surfen am Hut hatte. Hm, eigentlich wollte<br />

ich ja ab September arbeiten. Ok, nun wird es also Oktober werden. In Portugal<br />

habe ich wieder gemerkt, wie wichtig mir die Natur ist und dachte mir: „Oh toll,<br />

das kann ja was werden mit meinem Job. Bin ich da wirklich richtig in der Grafiker-Branche,<br />

wo man den ganzen Tag vorm Computer sitzt und die Rollläden<br />

runterlässt, wenn die Sonne scheint?“ Wir haben Mitte/Ende September, und<br />

ich bekomme eines Tages eine Mail von einem meiner Dozenten, in der er mich<br />

um einen Gefallen bezüglich einer grafischen Arbeit bittet. Ich schicke ihm also<br />

die Unterlagen und frage nebenbei, ob er nicht einen Tipp für mich bezüglich<br />

England hat. Er verweist mich an einen Bekannten. Ich telefoniere mit ihm, er<br />

gibt mir viele Tipps und sagt mir vor allem eines: „Helena, wenn ich du wäre, so<br />

jung, abgeschlossenes Studium, dann würde ich nach Tokio oder sonst wohin<br />

gehen. Wenn du aber hier einen Job suchst, musst du nach England reisen! “


4<br />

5<br />

Also, wieder googlen und entgegen meiner Erwartungen<br />

finde ich plötzlich eine Agentur in Cornwall!<br />

Und noch eine und noch eine. 10 insgesamt. Die<br />

erste Agentur, die ich entdecke, schmeißt mich fast<br />

vom Stuhl: Während ich mich durch die Webseite<br />

klicke, stoße ich außerdem auf lauter christliche<br />

Sachen: Logos für Kirchen, Flyer für eine Bibelschule<br />

und so weiter. Und ich denke mir: Das gibt‘s doch<br />

nicht! Wow, die machen das, was ich immer schon<br />

machen wollte. Wie die wohl so sind?<br />

Tu’s einfach. Ich schau mir meine Prophetien an<br />

und sehe, dass auf einem Zettel „Sprung ins kalte<br />

Wasser“ steht und „Klippe, auf der ich steh und<br />

weites neues Land vor mir“ und „Schritte wagen im<br />

Vertrauen auf einen neuen Weg“... Wow! Vielleicht<br />

ist das nun der Schritt, den ich wagen soll? Ich fange<br />

an, nach Flügen zu suchen und finde am 9. No -<br />

vember eine gute Möglichkeit zu fliegen. Meine Eltern<br />

waren zwar bis dahin nicht so richtig überzeugt<br />

von dieser Aktion.<br />

Auf nach Cornwall! Ich mache mich also am 9. No-<br />

v ember auf den Weg und komme schließlich nach<br />

verspätetem Abflug, Londoner U-Bahn-Stress,<br />

Bahnhofskuddelmuddel und einer 6-stündigen<br />

Zugfahrt in Penzance an. Es ist spät am Abend und<br />

ihr müsst zugeben, es IST seltsam, im Dunkeln an<br />

2<br />

3<br />

1 Ausflug an den Strand St. Ives.<br />

2 Ich vor den Klippen bei Lands End.<br />

3 Seagulls: Die großen Möwen, die<br />

den nichtsahnenden Touristen das<br />

Essen aus den Händen reißen,<br />

fast schon wie beim Hitchkock-<br />

Film „Die Vögel“.<br />

4 Stadtlauf 2011.<br />

5 2009 Taufe im Meer. Weil ich als<br />

Baby keine eigenen Entscheidungen<br />

treffen konnte und meine<br />

Taufe fuer mich damals sozusagen<br />

nicht wirklich was bedeutet hat,<br />

habe ich mich nochmals taufen<br />

lassen.


58 Aussteiger-Portrait | Helena Stephan<br />

einem fremden Ort anzukommen. Alles, was nach<br />

Herberge aussieht, hat schon geschlossen, aber<br />

schließlich finde ich ein Zimmerchen in einem Hotel.<br />

Am nächsten Morgen bekomme ich also einen<br />

ersten Eindruck von Penzance. Die Stadt gefällt mir,<br />

und ich beschließe, gleich ein bisschen Sightseeing<br />

zu machen. Nach einem wunderschönen Wochenende<br />

mit Meer und Wind fange ich also montags<br />

an, mich bei Agenturen telefonisch zu melden. Mein<br />

Alltag besteht von da an aus: Internetcafé, Agenturen<br />

anrufen und auf Grund ungünstigen Zeitpunkts<br />

immer wieder nachhaken. Und nebenher schau ich<br />

mir die Gegend ein bisschen an.<br />

Dann passiert‘s: Ich bekomme tatsächlich ein<br />

Vorstellungsgespräch, gleich am Mittwoch. Und das<br />

auch noch bei meiner Favouritenagentur! Wahnsinn!<br />

Was dann aber an dem Mittwoch passiert, ist<br />

einfach gewaltig. Nach einer eher unruhigen Nacht<br />

fahre ich am Morgen nach Long Rock und stehe<br />

dann vor dem Eingang von Wild Associates. Ein<br />

spritziger, eher kleingewachsener Mann macht mir<br />

die Tür auf und stellt sich mir als Kevin Wild vor. Ich<br />

zeige ihm meine Arbeiten, und er wirkt ziemlich<br />

angetan, immer wieder kommt ein „brilliant“ oder<br />

„excellent“ über seine Lippen. Was für ein krasses<br />

Vorstellungsgespräch. So was ist mir noch nie<br />

passiert – läuft wie geschmiert. Doch dann reißt<br />

mich eine Frage aus meiner Glückseligkeit: „Helena,<br />

would you be able to answer one question for me,<br />

please? What is the philosophy of typography<br />

for you?“<br />

„What?“ Äh... was für mich die Bedeutung von<br />

Typografie ist... oder so. Ok, ganz ruhig. Und da<br />

kommt er wirklich: Der Blitzgedanke! Halleluja! Ich<br />

frage, ob ich etwas zum Schreiben haben könnte<br />

und beginne, meinen Vergleich von Typografie mit<br />

dem Schlagzeuger und einer Band. Punkt. Ich habe<br />

den Nagel auf den Kopf getroffen. Mein – vielleicht<br />

zukünftiger? – Chef will wissen, ob ich noch Fragen<br />

habe und dann verabschieden sie mich mit dem<br />

Satz, dass sie sich innerhalb von 3 Tagen melden<br />

werden. Die Tage des Wartens sind furchtbar, ich<br />

kann kaum schlafen und versuche, mich abzulenken.<br />

Am Mittag gehe ich dann endlich online und da<br />

sehe ich die E-Mail: „Helena, we would like you to<br />

come and work at Wild Associates as soon as possible.<br />

Please give us a ring on…“. Gleich am nächsten<br />

Tag gehe ich in die Gemeinde von meinem jetzt<br />

tatsächlichen Chef, er stellt mich ein paar Leuten<br />

und dem Pastor vor. Die Gemeinde gefällt mir. Nach<br />

dem Gottesdienst stellt die Frau vom Pastor mich<br />

einer Frau namens Sarah vor, die einen Untermieter<br />

sucht. Noch am selben Nachmittag besuche ich die<br />

Lady und beschließe, das Zimmer zu nehmen. Am<br />

Donnerstag, den 22. November begebe ich mich<br />

also auf die Heimreise. Kaum daheim angekommen<br />

und alles erzählt, zieht es mich aber schon wieder<br />

zurück nach Penzance, und ich kann es kaum<br />

erwarten, am 1. Dezember wieder nach Cornwall zu<br />

fliegen, um endlich mit dem Arbeiten anzufangen.<br />

Die 3 Wochen vor Weihnachten sind ein guter Start<br />

für mich. Meine Arbeit gefällt mir jetzt immer noch<br />

sehr gut, und ich bin Gott so dankbar für einen Chef,<br />

der an mich glaubt, mich ermutigt, mich herausfordert,<br />

fröhlich ist. Wenn ich daran zurückdenke, wie<br />

oft ich gedacht habe „Ich kann nicht in einem Büro<br />

arbeiten...“, dann kann ich jetzt nur lachen und freue<br />

mich über meinen Job, in dem ich alle Freiheiten<br />

habe und sogar gern zur Arbeit gehe! Und die Leute<br />

in der Gemeinde: Ich liebe sie alle! Das klingt jetzt<br />

wie so ein billiger Satz von ‘nem Superstar, aber es<br />

stimmt. Viele hier sind sehr fröhlich und lustig, und<br />

ich kann mit allen lachen. Ich fühl mich so wohl!<br />

Diese Zeit in Cornwall ist bisher eindeutig die beste<br />

meines Lebens, aber gleichzeitig auch eine Zeit<br />

für mich, in der ich viel getestet und gefühlsmäßig<br />

durchgeschüttelt wurde. Es kann sein, dass das<br />

Ganze mit Cornwall plötzlich zu Ende geht, wer<br />

weiß schon, wie es kommen wird?<br />

Aber ich versuche, meine Hoffnung auf Gott zu setzen,<br />

Er hat immer einen Plan – und der ist perfekt.<br />

1


Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />

Das Wort „Aussteigen“ klingt wie „Alle Zelte<br />

ab brechen, alles hinter sich lassen, flüchten“.<br />

Ich betrachte mich selber demnach nicht als<br />

„Aussteiger“ in diesem Sinne.<br />

Seit wann bist du "ausgestiegen" und wohin?<br />

Ende 2007. Nach Penzance (Cornwall, England).<br />

Was waren deine Beweggründe?<br />

Wollte immer schon nach England. Cornwall<br />

deshalb, weil mich kurz davor das Surffieber<br />

gepackt hat. Und ich habe einen Job gesucht: Im<br />

deutschsprachigen Raum haben sich alle Türen<br />

geschlossen. Habe online ein Grafikbüro in<br />

Cornwall entdeckt, das sich sehr verlockend<br />

angehört hat. Diese Agentur war dann schlussendlich<br />

mein Hauptbeweggrund, mich dort zu<br />

bewerben (und hier arbeite ich nun immer noch).<br />

Was machst du vor Ort?<br />

Das, was ich studiert habe: Grafikdesign. Großteils<br />

Printmedien, Corporate Identity, aber auch<br />

Websites.<br />

Bist du glücklich, würdest du den selben Weg<br />

nochmals wagen?<br />

Absolut. Und ja.<br />

Gibt es für dich ein Objekt das du sofort mit<br />

„aussteigen“ in Verbindung bringst?<br />

Surfboard: Vermittelt Freiheit, Unabhängigkeit und<br />

Minimalismus (man braucht nur ein Board).<br />

1 Lets go surfing.<br />

2 Meine Schwester Miri zu besuch.<br />

3 Blick auf Porthcurno.<br />

3<br />

2<br />

59


OU<br />

T


I<br />

Andrea Süßenguth, 58<br />

Mein leben im richtigen Körper<br />

61


62 Aussteiger-Portrait | Andrea Süßenguth<br />

Ich wurde im falschen<br />

Körper geboren<br />

Nach 57 Jahren – ein Leben im richtigen Körper.<br />

1 Im Krankenhaus nach meiner OP.<br />

2 Meine Frau Karola und meine<br />

Tochter Janette, zu Besuch nach<br />

meiner dritten OP.<br />

3 Mit 18 Jahren. Wäre ich hier schon<br />

meinen Weg gegangen, wäre es<br />

ideal gewesen.<br />

1<br />

Eigentlich bin ich ein ganz normaler Mensch wie<br />

jeder andere auch. Aber ich habe eine Besonderheit,<br />

ich wurde im falschen Körper geboren. Inzwischen<br />

gehe ich mit meiner Transidentität völlig offen um.<br />

Das war aber nicht immer so. Bis Juli 2010 habe ich<br />

mein „Anderssein“ aus Angst und Scham versteckt.<br />

Ich habe versucht, das zu sein, was erwartet wurde.<br />

Warum? Mein Körper war männlich. Ich habe mir<br />

eingeredet, dass ich ja dann keine Frau sein kann.<br />

Im Alter von 55 Jahren habe ich es einfach nicht<br />

mehr ausgehalten, mich und andere zu belügen.<br />

Seit Anfang 2011 lebe ich als Frau, im April 2011,<br />

war mein offizielles Outing bei der Arbeit. Seit Mai<br />

2011 nehme ich Hormone und meine geschlechtsangleichende<br />

Operation war am 12.04.2012 in Krefeld.<br />

Keiner meiner Verwandten, Freunde und Bekannten<br />

hat mir deswegen den Rücken gekehrt. Meine Frau<br />

ist trotz anfänglicher Schwierigkeiten bei mir geblie-<br />

ben und auch meine 3 erwachsenen Kinder akzep-<br />

tieren mich so.<br />

Wie alles Begann<br />

Ich wurde am 28.12.1954 in Halberstadt geboren.<br />

Auf Grund äußerer Anzeichen wurde in meiner<br />

Geburtsurkunde das Geschlecht „männlich“<br />

vermerkt, und ich erhielt den Vornamen Wolfgang.<br />

Dass ich Gefühle habe, die nicht zu einem Jungen<br />

passen, merkte ich zum ersten Mal im Alter von ca.<br />

5 Jahren bei der Anprobe eines Kleides. Meine<br />

Mutter war Schneiderin. Sie nähte ein Kleid für<br />

meine Cousine. Als es fast fertig war und sie eine<br />

Anprobe benötigte, bat sie mich es zu probieren.<br />

Zuerst habe ich mich gesträubt, da ich ja ein Junge<br />

war und ich das Gefühl hatte, dass jungenhaftes Verhalten<br />

von mir erwartet wurde. Da ich aber den<br />

Wunsch verspürte, das Kleid anzuziehen, habe ich<br />

„klein beigegeben“. Ein herrliches Gefühl! Am<br />

liebsten hätte ich meiner Mutter gesagt, ich möchte<br />

auch ein Kleid haben. Ja, ich hätte es am liebsten<br />

nicht mehr ausgezogen. Im Nachhinein betrachtet,<br />

glaube ich sogar, sie hätte mir ein Kleid genäht und<br />

ich hätte es anziehen dürfen, wenn mein Vater nicht<br />

zu Hause war. Wer weiß, wie mein Leben mit<br />

einem frühen Outing gelaufen wäre? Warum das<br />

alles so war, wusste ich damals natürlich nicht.<br />

Jahre später, mit ca. 10 Jahren, nähte meine Mutter<br />

ein Shirt für mich. Damals wurde kaum Kleidung<br />

gekauft, fast alles genäht. Als sie das Shirt zuschnitt,<br />

fiel mir auf, dass die Vorlage aus einer Modezeitschrift<br />

für Mädchen war. Das war also unbewusst<br />

mein erstes eigenes „weibliches Kleidungsstück“.<br />

Allerdings habe ich es dann nur 2 – 3 mal getragen,<br />

da mich andere Kinder gehänselt haben und mich<br />

der Mut verließ. Während meiner Schulzeit habe ich<br />

mich häufiger am Kleiderschrank meiner Mutter<br />

bedient und Sachen wie BH, Seidenstrümpfe,<br />

Kleider und ihren Lippenstift probiert. In der Regel<br />

war das in den Ferien, da meine Mutter halbtags<br />

arbeitete und ich immer vor ihr zu Hause war. Es<br />

war ein Zwang, dem ich nachgeben musste. Und


2<br />

3<br />

wenn ich die Sachen dann anhatte, obwohl sie nicht passten, war das einfach<br />

ein wunderbares Gefühl, dass ich auch heute noch kaum beschreiben kann.<br />

Mutters Kleidung machte mich zu dem, was ich sein wollte – ein Mädchen. Da<br />

ich mir diesen Wunsch aber nicht erklären konnte, versuchte ich ihn zu verdrängen.<br />

„Warum möchte ich ein Mädchen sein? Ich bin doch ein Junge!“ fragte ich<br />

mich immer wieder verständnislos. Ich schämte mich und hatte Angst, es<br />

könnte jemand hinter meine Gefühle kommen. Damit nichts auffällt, habe ich<br />

penibel darauf geachtet, dass nach den Anproben alles ordentlich zusammengelegt<br />

war. Oft kam die Sucht nach dem „schönen Gefühl“ sofort zurück und war<br />

größer als die, entdeckt zu werden.<br />

Ich habe versucht, ein richtiger Junge zu sein. Es ist mir nicht gelungen, ich war<br />

irgendwie „weicher“ als die Anderen. Ich war der einzige Junge, der in Betragen<br />

und Ordnung immer eine 1 bekommen hatte. Prügeleien und Streit habe<br />

ich vermieden und wenn nicht, habe ich stillgehalten oder nachgegeben. Auch<br />

mit Mädchen habe ich oft und gerne gespielt. Im Gegensatz dazu lief meine<br />

sexuelle Entwicklung normal. Ich mochte keine Jungs, sondern nur Mädchen,<br />

war aber in der Regel sehr zurückhaltend. Mit 18 Jahren habe ich meine heutige<br />

Frau kennengelernt. Ab diesem Zeitpunkt habe ich meine „weibliche Seite“<br />

beiseite gelegt. Einerseits gab es in den folgenden Jahren kaum Gelegenheiten<br />

(Armee, Studium, Internat mit Mehrbettzimmer), und andererseits war in diesen<br />

Jahren das Verlangen weiblich zu sein nicht so groß. Ich habe zwar immer<br />

wieder daran gedacht, aber gelebt habe ich es nicht.<br />

Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />

Endlich so leben zu können, wie ich empfinde. Das „Aussteigen“ ist zugleich<br />

mein „Einstieg“ in ein neues Leben.<br />

Wie äußert sich dein „Ausstieg“?<br />

Angefangen hat es am 25. Juli 2010 mit dem Outing bei meiner Frau. Da<br />

wusste ich allerdings nicht, ob ich auch den „Ausstieg“ schaffe. Heute,<br />

nachdem ich den „Ausstieg“ aus dem „alten Leben“ hinter mir habe, weiß<br />

ich, dass ich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr anders gekonnt hätte. Schrittweise<br />

(anders ging es nicht) habe ich mein neues Leben gelebt, meine<br />

Ängste beiseite gelegt und entsprechende Veränderungen zugelassen.<br />

Was waren deine Beweggründe?<br />

Ich konnte mich und andere einfach nicht mehr belügen. Ich habe keine Kraft<br />

mehr gehabt, mich meiner wahren Natur entgegen zu stellen.<br />

Bist du glücklich, würdest du den selben Weg<br />

nochmals wagen?<br />

Ja! Das war das Beste, was ich jemals gemacht habe. Das Leben ist kostbar,<br />

jeder Mensch hat nur eines. Er sollte so leben, dass es ihn glücklich macht.<br />

mein-wahres-leben.blogspot.de<br />

63


FR<br />

IH


david Schmidhofer, 31<br />

from Austria through europe<br />

65


66 Aussteiger-Portrait | David Schmidhofer<br />

Mit vier Kindern zu fuß<br />

durch europa<br />

1<br />

2<br />

3<br />

freiheit ist für mich, wenn man selbst und absolut spontan<br />

über seine Zeit verfügen kann.<br />

David, seine Frau und vier Kinder, (zwei Mädchen, zwei Buben zwischen 2 und<br />

8 Jahren) haben sich für ein Leben als Aussteiger entschieden. Seit zwei Jahren<br />

reisen sie als Vagabunden, größtenteils zu Fuß quer durch Europa, haben diesen<br />

Winter in Italien und Spanien 6000 Kilometer mit dem Auto zurückgelegt und<br />

kommen nur nach Österreich zurück, um zu faulenzen und neue Reisepläne zu<br />

schmieden.<br />

Wir haben zwei Anhänger, die wir hinter uns herziehen. In dem vorderen<br />

An hänger können die kleineren Kinder sitzen, im hinteren ist unser Gepäck.<br />

Beladen hat das Gespann knapp dreihundert Kilo. Wir haben alles dabei, was<br />

wir für mehrere Monate brauchen. Dabei gehen wir pro Tag nicht mehr als zehn<br />

Kilometer. Wenn wir einen schönen Platz finden, bleiben wir ein paar Tage. Die<br />

Winter versuchen wir, in warmen Ländern zu verbringen. Wir sind dann viel mit<br />

dem Auto in Italien und Spanien unterwegs.<br />

Auf unseren Wanderreisen schlafen wir normalerweise im Wald. Das ist billig<br />

und spannend. Meistens sind es kleine, gut versteckte Lichtungen im Dickicht.<br />

Unser Zelt hält auch im Regen dicht, aber es ist kein so schönes Gefühl, in der<br />

Früh aufzuwachen und das platschnasse Zelt zusammenpacken zu müssen. An<br />

solchen Tagen versuchen wir es bei Bauern, Privathäusern oder in Pfarren. In<br />

Norditalien war das Wildzelten oft unmöglich, weil es keine versteckten Plätze<br />

gab. Da haben wir dann nur noch in Pfarren übernachtet. Die Pfarrer waren<br />

unglaublich aufgeschlossen und hilfsbereit. Sie gehören sicher zu den tolerantesten<br />

Menschen, denen wir unterwegs begegnet sind. Es war eines der<br />

faszinierendsten Erlebnisse überhaupt, jeden Tag einen Pfarrer und sein kleines<br />

Reich kennen zu lernen. In Korsika haben wir eine Zeit lang bei Zigeunern gelebt.<br />

Dort haben die Zigeuner noch richtige Wagenplätze, die manchmal mitten<br />

in den Städten liegen. Sie haben für uns gekocht, uns beschenkt und wollten<br />

uns schon nach der ersten Woche einen eigenen Wohnwagen geben. In Sardinien<br />

haben wir schon zweimal in einer Höhle gewohnt. In Andalusien hat man<br />

uns eine Jurte angeboten. In Granada sprach ich einen Rasta an. Zehn Minuten<br />

später hatten wir eine tolle, günstige Altstadtwohnung, direkt gegenüber der<br />

Alhambra. Wir blieben einen Monat. Das Leben kann so einfach sein!


1 Vollbepackt hat das Gespann<br />

300kg (Norditalien, Mantua).<br />

2 Im Winter hauptsächlich mit dem<br />

Auto und in wärmeren Gegenden<br />

unterwegs.<br />

3 Die Konstruktion unserer<br />

Anhänger.<br />

4 Die 4 beisammen. Sie genießen<br />

das freie Leben und die Natur<br />

(Sardinien).<br />

5 Donau: Arbeiten vor dem Zelt.<br />

6 Joachim (9) und Peter (7).<br />

Im Moment dürften es ca. 1300 € sein, die uns zur<br />

Verfügung stehen und die sich aus Familienbeihilfe<br />

und Kindergeld zusammensetzen. Auf Arbeitslosengeld<br />

oder Mindestsicherung verzichten wir. Es ist<br />

uns zu lästig, persönlich Termine wahrzunehmen.<br />

Wir erfüllen die Anspruchsvoraussetzungen nicht,<br />

weil wir nicht arbeitswillig sind. Das Kindergeld<br />

läuft bald aus, dann sind wir bei unter 1000 € im<br />

Monat. Mit dem Kindergeld endet auch die kostenlose<br />

Krankenversicherung. Essen kann man relativ<br />

einfach gratis. Ich setze mich gerne auf Terrassen<br />

von guten Restaurants und esse Reste, vorzugsweise<br />

die von jungen, hübschen Frauen, die ihre Teller<br />

nicht leer gegessen haben. Es ist ein spannendes<br />

Katz-Maus-Spiel mit den Kellnern. Auch aus Mülltonnen<br />

der Supermärkte kann man gut leben. Aber um<br />

ehrlich zu sein, gehen wir meistens ganz normal in<br />

den Supermarkt.<br />

4<br />

67<br />

Technischer Schnickschnack ist nichts, worauf man<br />

aus Geldgründen verzichten muss. Wir haben ein<br />

Notebook, eine Digitalkamera und zwei Telefone<br />

dabei, manchmal auch eine Videokamera. Mit einem<br />

USB-Modem kommen wir überall ins Internet. Vor<br />

kurzem habe ich mir sogar ein Solarpanel gekauft<br />

und ein GPS-Gerät als Spielzeug für mich.<br />

Ich bin eigentlich kein prinzipieller Konsumgegner.<br />

Wenn andere konsumieren, stört mich das gar nicht.<br />

Ich würde selber gern einmal viel konsumieren:<br />

Business Class fliegen, alle Attraktionen des Vergnügungsparks<br />

ausprobieren, in teuren Restaurants<br />

essen. Aber ich weiß, dass ich dafür mit meiner<br />

Lebenszeit bezahlen muss. Und hier liegt der springende<br />

Punkt. Zeit ist für mich das Wichtigste, das<br />

es gibt und eines der wenigen Güter, die halbwegs<br />

gerecht unter den Menschen verteilt sind und die<br />

man in Glück verwandeln kann. Ich liebe es, meine<br />

Zeit mit anderen zu teilen. Wenn mich jemand fragt,<br />

ob ich ihm drei Tage beim Umzug helfe, sage ich sofort<br />

zu. Aber das Regelmäßige und Vereinnahmende<br />

einer normalen Arbeit macht mich krank.<br />

5<br />

6


1 Schule machen wir ziemlich<br />

selten. Erst in den letzten Wochen<br />

vor der Prüfung geben wir Gas.<br />

2 Die vier vor unserer Höhle in<br />

Sadinien.<br />

3 Pia (4) und Maria (2).<br />

4 Manchmal bilden sich Gruppen,<br />

die eine Zeit zusammen bleiben.<br />

1<br />

Wer ihnen Liebe und Freiheit in großen Mengen verabreicht<br />

– unbedingt beide Zutaten! –, kann fast nichts<br />

mehr falsch machen. Bei der Liebe kann man eventuell<br />

noch Glück mit dem Lehrer und den Klassenkameraden<br />

haben. Aber was soll denn das für eine Freiheit<br />

sein, wenn man jeden Tag um acht Uhr erscheinen<br />

muss, ob man will oder nicht?<br />

liebe & freiheit – das möchte<br />

ich für meine Kinder!<br />

ich halte eine Schule für keinen geeigneten ort für meine Kinder.<br />

es fehlt ihnen dort an liebe und an freiheit.<br />

Bei Kindern sind die Leute ziemlich engstirnig, aber<br />

bisher hatten wir noch keine Probleme mit dem<br />

Jugendamt. Die meisten finden, dass Kinder nicht<br />

zu oft den Ort wechseln sollten, dass sie Grenzen<br />

und Regeln brauchen, dass man sie erziehen und<br />

abhärten muss, damit sie es später nicht so schwer<br />

haben. All das finden wir nicht. Aber gut, Reisen und<br />

„Homeschooling“ sind in Österreich erlaubt, und<br />

dafür mag ich dieses Land. Trotzdem, eine Gefahr<br />

bleibt. Wenn man den Medienberichten Glauben<br />

schenkt, ist das Jugendamt ja eine unberechenbare<br />

Behörde mit großem Ermessensspielraum.<br />

Zum Glück sind wir auf Reisen sehr selten krank,<br />

eigentlich fast nie. In Andalusien haben wir uns einen<br />

hartnäckigen Virus eingefangen, der uns alle für<br />

einige Zeit ziemlich lahmgelegt hat. Ich habe dann<br />

bei einer Autobahnausfahrt einen Wegweiser zu<br />

einem Krankenhaus gesehen und bin spontan abgefahren.<br />

Die Ärztin wollte unsere Versicherungskarte<br />

gar nicht sehen. Das gibt nur einen Papierkrieg, hat<br />

sie gesagt.<br />

2


69<br />

Auf unseren reisen<br />

haben wir uns manchmal<br />

trotz vieler Begegnungen<br />

einsam gefühlt.<br />

4<br />

3<br />

Richtig gefährlich war es eigentlich nie. Lästig sind<br />

in Südeuropa zum Beispiel die Autoeinbrecher. Man<br />

gewöhnt sich mit der Zeit daran, dass ab und zu<br />

die Seitenscheibe eingeschlagen wird. Inzwischen<br />

kann ich sie auch selber austauschen. Im Jahr vor<br />

unserem Ausstieg ließen wir unseren Ältesten allein<br />

mit der Straßenbahn zur Schule fahren, so wie es<br />

die anderen Kinder taten. Das war gefährlich.<br />

Vor unserem Ausstieg haben wir uns in gewisser<br />

Weise auch schon einsam gefühlt. Unterwegs ist<br />

das halb so schlimm, wir sind ja zu sechst. Wir<br />

haben zwar überall, wo wir lebten, viel Anhang<br />

gefunden und waren in die normale Gesellschaft<br />

auf den ersten Blick perfekt integriert. Aber richtige<br />

Seelenverwandtschaft ist wohl etwas, wonach der<br />

Mensch lange suchen muss. In Spanien haben wir<br />

jetzt annähernd das gefunden, wonach wir vorher<br />

lange vergeblich gesucht haben: freie Plätze, an denen<br />

sich Aussteiger, Anarchisten und Verrückte aus<br />

ganz Europa sammeln. Ein paar dieser Orte laufen<br />

unter der Bezeichnung „Kommune“. Es gibt keinen<br />

Chef, keine Regeln, und man muss niemanden<br />

fragen, ob man bleiben darf. Im Grunde macht dort


70<br />

Aussteiger-Portrait | David Schmidhofer<br />

jeder, was er will. Die Leute wohnen in rostigen<br />

Bussen, im Zelt oder in kleinen Hütten. Das Besondere<br />

an einigen dieser Orte ist, dass es auch Kinder<br />

gibt. Sie rennen den ganzen Tag in Banden herum,<br />

lernen gegenseitig ihre Sprache, bauen Baumhäuser<br />

und gehen nur dann zu den Eltern, wenn sie Hunger<br />

haben. Und da ist so viel Liebe! Wenn man einander<br />

nachts über den Weg läuft, kommt es vor, dass man<br />

sich umarmt. Und so viel Kultur, richtige Künstler<br />

sind darunter. Ich habe einen englischen Schriftsteller<br />

kennen gelernt, der schon seit zwölf Jahren in<br />

einem Bus lebt. In einem zweiten Bus hat er eine<br />

Bibliothek. Ein französischer Wanderzirkus hat sich<br />

dort niedergelassen und gibt jeden Samstag eine<br />

tolle Gratisvorstellung. In einem Gemeinschaftszelt<br />

wird spontan Musik gemacht. Und jeder hat immer<br />

Zeit. Gut, es gibt auch unangenehme Seiten, zum<br />

Beispiel Hobbypolizisten, die sich als Ordnungshüter<br />

aufspielen. Oder Spießer, die ein besetztes Grundstück<br />

als Privatbesitz betrachten.<br />

In Südspanien trifft man sehr unterschiedliche<br />

Reisende, die vor allem eines gemeinsam haben:<br />

Sie arbeiten nicht, zumindest vorübergehend. Mit<br />

den reisenden Rentnern hatten wir nicht so viel zu<br />

tun. Sie haben meistens teure Wohnmobile und<br />

stehen in riesigen Ansammlungen auf Campingplätzen<br />

oder großen Strandparkplätzen. Mehr Kontakt<br />

hatten wir mit den Leuten, die sich ein Jahr Auszeit<br />

nehmen. Es sind zum Beispiel junge Pärchen, die<br />

gerade mit der Schule oder dem Studium fertig<br />

sind und noch einmal die Freiheit genießen wollen,<br />

bevor es an das geht, was sie den Ernst des Lebens<br />

nennen. Seit es in Deutschland die Elternzeit gibt,<br />

sind auch immer mehr Familien länger unterwegs.<br />

Die großen LKWs mit den britischen Kennzeichen<br />

sind so genannte Travellers. Anscheinend macht<br />

man ihnen in England seit einigen Jahren das Leben<br />

schwer und viele von ihnen sind nach Spanien ausgewichen.<br />

Unter den Spaniern, die man trifft, sind<br />

einige Artesanos. Das sind Kunsthandwerker, die im<br />

Winter Schmuck basteln und ihn im Sommer an den<br />

Stränden verkaufen. An einigen Orten in Spanien<br />

haben sich Gemeinschaften oder Kommunen gebil-<br />

1<br />

det. Vielleicht könnte man diese Leute als Hippies bezeichnen. Sie wohnen in<br />

zusammengebastelten Hütten oder alten Bussen. Sie sind oft Veganer, trinken<br />

keinen Alkohol und gehen zu Rainbow Gatherings (Mischung aus Festival und<br />

Landkommune auf Zeit, Anm.). Einige haben sich komplett von der normalen<br />

Gesellschaft abgesetzt und alle Zelte abgebrochen. Und schließlich gibt es noch<br />

sehr viele, die sich überhaupt nicht einteilen lassen. An einem Strand haben<br />

wir zum Beispiel eine tschechische Familie mit neun Kindern kennengelernt.<br />

Sie leben seit vielen Jahren zusammen in einem Wohnmobil, das nicht einmal<br />

besonders groß ist. Keines der Kinder war je in einer Schule. Trotzdem sprechen<br />

sie alle mehrere Fremdsprachen und sind sehr talentiert. Unterwegs haben sie<br />

sich von Zigeunern und reisenden Musiklehrern alle möglichen Musikinstrumente<br />

beibringen lassen. Inzwischen spielen, singen und tanzen sie virtuos Flamenco<br />

und werden regelmäßig für Auftritte in Bars gebucht.<br />

Den nächsten Winter verbringen wir vielleicht in Indien. Wir haben von einem<br />

Strand gehört, an dem Lebenskünstler aus der ganzen Welt leben. Man kommt<br />

nur zu Fuß oder mit der Rikscha hin, und es gibt dort viele freie Kinder.<br />

2


Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />

Aussteigen kann man wohl auf viele Arten. Den<br />

inneren Ausstieg kennen viele. Man verlässt die<br />

geregelten Bahnen des Alltags zwar nicht, hat<br />

sich innerlich aber abgesetzt und träumt von<br />

einem anderen Leben. Für mich war der äußere<br />

Ausstieg zwingend und hing mit dem Thema<br />

Arbeit zusammen. Es ist mir bewusst, dass viele<br />

das anders sehen. Es gibt in den Philosophien<br />

und Weisheitslehren einen anhaltenden Trend zu<br />

einer inneren Freiheit, die keine äußeren Veränderungen<br />

erfordert, aber für mich war ein radikaler<br />

und mutiger Lebenswandel der beste Weg. So<br />

gut die Idee der inneren Freiheit in der Theorie<br />

auch klingt, ich glaube, sie hätte bei mir zu einer<br />

halbherzigen Light-Version des Ausstiegs geführt.<br />

Im besten Fall hätte ich mich an meine Einengung<br />

gewöhnt und gelernt, mit ihr umzugehen, mich<br />

von ihr nicht innerlich beherrschen zu lassen. Das<br />

war mir zu wenig. Im schlechtesten Fall wäre aus<br />

dem Ausstieg ein regelrechter Einstieg geworden,<br />

eine Methode für pflichtbewusste Arbeitstiere,<br />

um ihre Leistung zu steigern. Eine grauenhafte<br />

Vorstellung. Wenn man den Ort wechselt, aber<br />

letztendlich doch wieder jeden Tag schuftet, dann<br />

ist der Ausstieg nur oberflächlich.<br />

Seit wann bist du „ausgestiegen“ und wohin?<br />

Wir haben unserem normalen Leben im Sommer<br />

2011 den Rücken gekehrt, indem wir die Kinder<br />

aus der Schule und aus dem Kindergarten<br />

nahmen, mit dem Arbeiten aufhörten und uns zu<br />

Fuß auf den Weg machten, ohne Plan und ohne<br />

Ziel. Seitdem reisen wir etwa die Hälfte des<br />

Jahres. Dabei gehen wir im Sommer meistens in<br />

Österreich oder den umliegenden Ländern zu Fuß<br />

und schlafen im Wald. Im Winter zieht es uns in<br />

wärmere Länder, oft mit dem Auto, wobei wir<br />

unter freiem Himmel leben und schlafen.<br />

Was waren deine Beweggründe?<br />

Wir fühlten uns immer stärker eingeengt. Es hat<br />

sich schleichend ein unsichtbarer Plan über<br />

unseren Alltag gelegt. Allein die Schule hat uns<br />

schon den größten Teil des Jahres an einen festen<br />

Ort gebunden. Dazu kam die Arbeit. Für das<br />

eigentliche Leben konnten wir nur noch die<br />

Lücken in den völlig durchgeplanten Tagen nutzen,<br />

und dabei konnten wir uns nur so weit erholen,<br />

dass wir gerade wieder genug Kraft hatten, um<br />

den nächsten Tag zu bewältigen.<br />

Was machst du vor Ort?<br />

Wir leben von der Kinderbeihilfe und verbringen<br />

unsere Zeit ausschließlich mit so genannten Frei-<br />

zeitaktivitäten. Daneben malt meine Frau, und ich<br />

schreibe Bücher, aber auch das nur, weil es uns<br />

Spaß macht, nicht mehr aus Ehrgeiz und schon<br />

gar nicht für Geld. Die Kinder wachsen frei und<br />

friedlich in der Natur auf. Wir unterrichten sie<br />

selbst, nicht mehr als eine Stunde pro Woche.<br />

Das genügt, denn die wichtigste Lektion, die man<br />

ihnen in keiner Schule beibringt, ist, dass das<br />

Leben schön, leicht und frei ist, dass die notwendigen<br />

Dinge des Lebens leicht zu erlangen, die<br />

schwer zu erlangenden nicht notwendig sind.<br />

Bist du glücklich, würdest du den selben Weg<br />

nochmals wagen?<br />

Wir sind sehr glücklich. Wir genießen es, Entscheidungen<br />

spontan treffen zu können und<br />

selbst über unsere Zeit zu verfügen. Wir schlafen<br />

so lange, wie es uns gefällt, verbringen unsere<br />

Tage in der Sonne und können unsere Talente<br />

entfalten, ohne das Korsett gesellschaftlicher und<br />

wirtschaftlicher Zwänge. Dass wir sparsam leben<br />

müssen und uns keinen überflüssigen Luxus<br />

leisten können, nehmen wir lachend in Kauf. Aber<br />

auch eine Rückkehr in den Alltag ist möglich.<br />

Das ist ja das Schöne am Leben: Wir sind frei.<br />

71<br />

3<br />

1 Eine von mehreren alternativen<br />

Gemeinschaften in Andalusien.<br />

Die Kinder leben hier ohne Schule,<br />

die Erwachsenen ohne Arbeit.<br />

2 Die Behausungen der Aussteiger<br />

sind vielfältig.<br />

3 Wir in Sardinien, Übernachtung in<br />

einer Höhle.


VER<br />

IND


Stephan Peters, 44<br />

ein leben nach Palatia<br />

73


74 Aussteiger-Portrait | Stephan Peters<br />

ein Gemeinschaftsgefühl der<br />

katholischen Verbindung<br />

nach sechszehn Jahren der Ausstieg<br />

Anfangs genoss ich das starke Gemeinschaftsgefühl<br />

der katholischen Verbindung “Palatia”, bis ich<br />

meine Überzeugung in den auferlegten Wertvorstellungen<br />

nach und nach verlor.<br />

Es gab nicht diesen einen Moment, der meine<br />

Einstellung von jetzt auf gleich schlagartig änderte.<br />

Es war eher ein schleichender Prozess, der mich<br />

bewog, einen neuen Weg einzuschlagen. Ein Weg<br />

ohne Kameraden, ohne die täglichen Abendveranstaltungen,<br />

die Kneipen-Feiern und das traditionelle<br />

Band um den Körper. Ein Leben nach „Palatia“, der<br />

katholischen Studentenverbindung, der ich viereinhalb<br />

Jahre meine Treue schwor. Als ich in die<br />

Verbindung eintrat, folgte ich dem Weg, den mir<br />

meine Familie – ein autoritäres, erzkatholisches<br />

Elternhaus – ohnehin vorgab. Großvater, Vater,<br />

Bruder – allesamt waren Mitglieder einer Studentenverbindung.<br />

Für mich gab es nicht die Wahl, ich<br />

konnte mir höchstens aussuchen, in welche.<br />

Aufstieg vom Fuchs zum Burschen<br />

Im ersten halbe Jahr, das ich bei der katholischen<br />

Studentenverbindung „Palatia“ in Marburg verbrachte,<br />

war ich „Fuchs“, ein „niedriges Wesen“, ein<br />

noch unvollständiges und unerfahrenes Mitglied.<br />

Mindestens drei Abende die Woche musste ich die<br />

Veranstaltungen der Verbindung besuchen, paukte<br />

die Regelwerke und die Entstehungsgeschichte.<br />

Nach sechs Monaten legt ich den Grundstein für<br />

das „Lebensbundprinzip“, dem sich jedes Mitglied<br />

2<br />

1 Heute arbeite ich als Rhetoriktrainer<br />

und Politologe. Ich werde<br />

häufig als Experte für Stu dentenverbindungen<br />

eingeladen.<br />

2 Gebäude der Palatia in Marburg.<br />

3 Palatia Bundesfest im 2011/2012.<br />

4 Palatia Wappen.<br />

1<br />

3


verschreibt: Das erfolgreiche Bestehen der Burschenprüfung. Die Mitgliedschaft<br />

in der Verbindung gilt ein Leben lang! Ein Ausstieg ist in den Statuten eigentlich<br />

nicht vorgesehen. Das Gefühl eines neuen Ichs wird gefüttert mit klassischen<br />

Riten: Ich bekam einen zusätzlichen Namen, mit dem nur Verbindungsbrüder<br />

mich ansprechen durften. In Reutlingen, wo ich anfangs studierte und der<br />

Verbindung „Cimbria“ beigetreten war, wird die Namensgebung mit einer Art<br />

Taufe zelebriert. Statt gewöhnlichem Taufwasser hat man mir Bier über den<br />

Kopf geschüttet und das auch noch nur in Unterhose – eine bizarre Zeremonie<br />

und eine skurrile Abwandlung des religiösen Brauchs. Sinn und Zweck des<br />

Ganzen? Erst danach gilt man als echter Mann. Das ist vergleichbar mit der<br />

Mensur bei schlagenden Verbindungen – nur in wesentlich abgeschwächter<br />

Form. Aber natürlich geht es auch da um gezielte Erniedrigung.<br />

Kuriose Rituale und Traditionen<br />

Studienbedingt musste ich nach Marburg wechseln und trat dort – wie schon<br />

berichtet – der katholischen Verbindung „Palatia“ bei. Anfangs war ich begeistert<br />

von den kuriosen Riten. Selbst für den übermäßigen Alkoholkonsum gibt es<br />

eigene Vorschriften, die bis ins Detail erklären, wie man sich gepflegt zu betrin-<br />

ken hat. Entscheidend war die Menge, die man zu sich nahm. Kein normaler<br />

Mensch kann aus dem Stand heraus einen Liter Bier auf Ex trinken. Aber wir<br />

haben unsere Körper so trainiert, dass das funktionierte, eine Art der Abgrenzung<br />

und des Eliteempfindens. Nicht nur Trinkspiele, auch das Netzwerk rund<br />

um die „Alten Herren“ war für viele ein Anreiz, in eine Studentenverbindung<br />

einzutreten. Die Mitgliedschaft ist oftmals ein Türöffner für eine steile Karriere.<br />

Da wird schnell mal eine Telefonnummer weitergegeben oder ein Vorstellungsgespräch<br />

vermittelt. Letztlich zahlt sich die erlebte und erlernte Disziplin und<br />

Hierarchie aus, denn wer sich korrekt unter ordnet, ist im Berufsleben ein gern<br />

gesehener Angestellter.<br />

Bild von der Eliteorganisation bröckelt<br />

Doch genau an dieser Hierarchie scheiterte meine Zukunft bei „Palatia“. Objektiv<br />

betrachtet ergab das alles keinen Sinn. Da sitzen Männer in dunklen Anzügen<br />

und einem Band um ihren Körper, während ihnen ein 20 - Jähriger befiehlt, was<br />

sie zu tun haben, über was man spricht und welche Lieder man singt. Dass die<br />

sogenannten „Füchse“ dann noch wie Leibeigene behandelt werden, entzieht<br />

sich dem gesunden Menschenverstand. Mit Sicherheit war auch mein Studium<br />

ausschlaggebend dafür, dass ich mir mehr Gedanken gemacht und nicht mehr<br />

alles so hingenommen habe. Interessehalber habe ich ein feministisches Semi-<br />

nar besucht, erwünscht war ich nicht, denn ich war ja Mitglied einer Organisation,<br />

in der ein frauenfeindliches Weltbild vertreten wird. Ob man das weibliche<br />

Geschlecht als „niederes Wesen“ betrachtet oder den harmlosen Flirt „Frischfleischbeschauung“<br />

nennt – die Verbindung hat für vieles ihre ganz eigene Erklä-<br />

rung. Meine neuen Ansichten passten nicht mehr in das alte, konservative Welt-<br />

bild, das in der Verbindung gepredigt wird. Zunächst habe ich noch versucht,<br />

75<br />

innerhalb der Verbindung etwas zu verändern, was<br />

mich störte, aber ohne Erfolg. Die konservative und<br />

sexistische Denkweise ist ein Grundstein von<br />

Verbindungen. Mit meinem Beitritt zu den Marburger<br />

Jusos, wovon meine Bundesbrüder nichts<br />

hielten, wollte ich herausfinden, welches Weltbild<br />

mir am ehesten entspricht. In einem Brief an den<br />

Burschenkonvent begründete ich 1995 schließlich<br />

meinen Ausstieg aus der Verbindung. Mit dem<br />

Austritt fiel nicht nur Druck ab, gleichzeitig musste<br />

ich mich damit anfreunden, einen Großteil meiner<br />

Freunde zu verlieren. Nur die Mitgliedschaft bei den<br />

Jusos half mir gegen die soziale Isolation. Ohne<br />

diesen Halt, wäre es wahrscheinlich sehr viel<br />

schwerer gewesen.<br />

Sechzehn Jahre ist der Ausstieg jetzt her. Ich finde<br />

es spannend, dass eine Gemeinschaft mit so<br />

konservativen Werten in der heutigen Gesellschaft<br />

überleben kann. Die Welt hat sich zwar verändert,<br />

aber anscheinend nicht wesentlich. Studentenverbindungen<br />

haben immer noch Zulauf, weil sie eine<br />

scheinbare Antwort auf die Sehnsüchte und Ängste<br />

vieler junger Menschen sind, die für das Studium ihr<br />

gewohntes Umfeld verlassen. Die Verbindungen<br />

suggerieren den Studenten Geborgenheit, Verlässlichkeit<br />

und feste Wertvorstellungen.<br />

4


LI<br />

EB


Sassa ruopp, 53<br />

Auf der Suche nach der essenz des lebens<br />

77


ein Ausstieg in den einstieg<br />

78 Aussteiger-Portrait | Sassa Ruopp<br />

die liebe, dort eingesetzt,<br />

wo ein Bedürfnis danach herrscht,<br />

ist mein System!<br />

Was waren deine Beweggründe?<br />

Die Schule hat mich fast das Leben gekostet.<br />

Sie tat mir einfach nicht gut, hat mich eingeengt,<br />

mich in meiner Kreativität eingeschnürt. Als ich<br />

das gemerkt habe, beschloss ich, ein freies<br />

Leben zu führen. Nach der mittleren Reife, mit<br />

17 Jahren, war ich nach Biberach auf das Berufskolleg<br />

gewechselt, eine Art Wirtschaftsgymnasium.<br />

Für mich als kreativer Mensch eine Qual!<br />

– viel zu technisch und zu trocken. Mein Gedanke<br />

an den Ausstieg wurde mit 18 zusätzlich bestärkt:<br />

ich war krank, gelähmt! Niemand konnte<br />

mir helfen, denn von psychischen Erkrankungen<br />

sprach noch niemand. Entsprechend suchte auch<br />

keiner nach dem eigentlichen Auslöser meiner<br />

Krankheit, die im Endeffekt ein Hilfeschrei war.<br />

Der Gedanke „Ach, wäre das Leben doch schon<br />

vorbei!“ wurde in mir immer lauter. Doch die<br />

Krankheit hat mich dann doch zu dem werden<br />

lassen, was ich heute bin, eine Kämpferin. Ich<br />

habe gelernt, mir selbst zu helfen – und die<br />

Lähmung ging vorüber.<br />

1<br />

2<br />

1 Mein geliebter Nathan und ich.<br />

2 Herbst/Winter in Thailand. Micha,<br />

Nora und ich.<br />

3 Seit über 8 Jahren meine<br />

Ruheoase im Grünen – der<br />

Zirkuswagen. Aktuell ist das<br />

Dach leider etwas marode.<br />

4 Hier hat man mich in einen<br />

Laufstall „gesperrt“.


Damit begann der Einstieg in meine Philosophie: Das Leben ist nicht dazu<br />

da, Dinge zu tun, die man nicht tun will! Ich hatte früher oft ein chronisch<br />

schlechtes Gewissen, weil ich nicht das tat, was von mir verlangt wurde.<br />

Erneut startete ich also den Versuch, in das schulische System einzusteigen,<br />

wusste aber eigentlich im Voraus, dass es mir nicht gut tat. Mein Führerschein<br />

hat mich damals am Leben gehalten. Ich wusste, wenn ich mobil bin,<br />

kann ich jedes Ziel erreichen, bin frei, die Welt steht mir offen.<br />

In der 12. Klasse habe ich über meinen Entschluss, alles hinzuschmeißen, mit<br />

meiner Mutter gesprochen und bin dann auch endlich mit 18 Jahren zu Hause<br />

ausgezogen zu meinem Freund. Nichts hat mich bei den zerrütteten Familienverhältnissen<br />

an mein bisheriges Daheim gehalten. In Sigmaringen besuchte<br />

ich fortan die Modefachschule. Nähen und kreativ sein zu können, war genau<br />

mein Ding. Parallel begann ich zu stricken und auf die entstandenen Pullover,<br />

naive Bilder zu projizieren. Damit habe ich auch mein erstes Geld verdient.<br />

Außerdem habe ich in der Kneipe meines Freundes in Weingarten – damals<br />

die erste Kleinkunstkneipe in Weingarten – gekellnert. Allerdings fühlte ich<br />

mich auch da nicht richtig angekommen, doch die Kleinkunst faszinierte mich.<br />

Das möchte ich machen, war mir klar. Erst einmal bin ich jedoch mit meinem<br />

VW-Bus durch die Welt gefahren. In Spanien und Portugal genoss ich meine<br />

Ruhe. Doch dann zog es mich wieder zurück. Dabei hatte ich die naive Vor-<br />

stellung, dass sich alle über meine Rückkehr freuen. Das war aber leider nicht<br />

so. Also verabschiedete ich mich 1982 nach Berlin. Hier habe ich als Kellnerin<br />

mein Glück versucht und so viel Geld verdient wie noch nie. Ein Konto besaß<br />

ich nicht und stopfte deshalb alles in eine Tüte. Mit dem Geld in der Tasche<br />

ging’s wieder los nach Spanien, Portugal und Marokko. Der Drang zu malen<br />

und zu schreiben wurde noch intensiver. Ich kehrte wieder zurück und war<br />

mir klar: jetzt muss ich diesem „Ruf“ folgen. Im Jugendhaus in Ravensburg<br />

gründete ich eine Theatergruppe. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich<br />

3 4<br />

79<br />

schon auf der Bühne. Weihnachten 1985 hörte ich<br />

von jemandem, der ein Theater eröffnen will. Es<br />

dauerte dann zwar noch einige Jahre, bis es so<br />

weit war, aber ich habe für diese Idee geglüht, ja<br />

gebrannt. Währenddessen verdiente ich mit<br />

meinen Kunstwerken sowie handgefertigter Klei-<br />

dung Geld, nahm Sprechunterricht und ging auf<br />

Reisen. 1987 war es endlich so weit. Die Theaterbühne<br />

wartete auf mich!<br />

Und dann trat plötzlich Micha in mein Leben.<br />

Er hatte eine 3-jährige Weltreise in einem<br />

selbstgebauten Boot hinter sich und wurde der<br />

Vater meiner Kinder Pablo (22) und Nora (18).<br />

Schwanger mit dem ersten Kind, zogen wir 1990<br />

Hals über Kopf nach Santa Cruz de la Palma, wo<br />

1991 Pablo auf die Welt kam. Die Reise ging<br />

weiter über La Gomera, Lanzarote, England,<br />

Indien, Thailand und wieder zurück nach Ravensburg.<br />

Gelebt haben wir in einem desolaten Haus<br />

mit Plumpsklo. Doch wir hatten ein beschauliches<br />

Leben, haben uns ausschließlich um unsere<br />

Kinder gekümmert, ein wenig gearbeitet und uns<br />

verwirklicht. Irgendwann wurden wir uns leider<br />

fremd und trennten uns 2009. Nora blieb bei<br />

Micha, und Pablo ging nach abgeschlossenem<br />

Zivildienst nach Wien zum Theater: Klinikclown,<br />

Puppentheater, Aktionskunst, alles parallel zum<br />

Familienleben.


80 Aussteiger-Portrait | Sassa Ruopp<br />

nimm den Menschen die Bedeutung.<br />

Wer bist du dann, wenn alles wegfällt?<br />

Was machst du vor Ort?<br />

Derzeit gibt es leider keine Anfragen nach meiner<br />

Kleinkunst. Die Stadt stellt hierfür keine Gelder<br />

mehr zur Verfügung. Aber das kümmert mich<br />

wenig, ich bin glücklich, genauso, wie es jetzt ist,<br />

mit Nathan, meinem Kater, dem Zirkuswagen<br />

und meinem Stück Natur am Flappachsee.<br />

Schließlich habe ich meine große Leidenschaft,<br />

die Malerei, die ich jeden Abend und zu jeder<br />

freien Minute auslebe. Was jetzt noch kommt?<br />

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mit 57<br />

Jahren lange genug gelebt habe – mein Sarg<br />

wartet schließlich schon auf mich. Es ist alles<br />

vorbereitet, meine Familie weiß Bescheid. Das<br />

Sein ist mir wichtig, nicht das Haben. Seit 2010<br />

arbeite ich zwei Tage die Woche in einem Cafe,<br />

das ist gerade noch zu ertragen. Aber danach<br />

muss ich wieder an die Sonne, die Natur genießen,<br />

der Rest ist mir egal – einfach in Freiheit<br />

leben. Ich bin sehr spirituell und habe auf diesem<br />

Gebiet Einiges ausprobiert, zum Beispiel eine<br />

Begegnung mit einem Shamanen aus Peru.<br />

Dabei habe ich viel über mich erfahren und die<br />

Botschaft vernommen: „Du musst dich wieder<br />

öffnen“. Eine weitere Erfahrung war eine Akascha<br />

Lesung, bei der aus dem vergangenen Leben<br />

berichtet wird.<br />

Bist du glücklich?<br />

Ich bin eigentlich immer glücklich.<br />

Gibt es für dich ein Objekt, das du sofort mit<br />

„aussteigen“ in Verbindung bringst?<br />

Die Kunst! Es ist mir wichtig, Menschen etwas<br />

zu schenken. Ich male und kreiere, was mir in<br />

den Sinn kommt und gebe es gerne weiter.<br />

Inspiriert von interessanten Begegnungen und<br />

Gesprächen entstehen einzigartige Dinge. Vor<br />

10 Jahren konnte ich sogar zeitweise von meinen<br />

Werken leben, doch heute ist der Markt überschwemmt.<br />

Viele Menschen träumen von einem anderen als<br />

dem Geld-System. Für mich ist elementar, was<br />

ich für andere tun kann, was ich ihnen geben<br />

kann. Meine künstlerische Begabung und die<br />

Fähigkeit, mich in Menschen hinein versetzen zu<br />

können, zuzuhören und anderen etwas zu<br />

schenken, das ist für mich ein erstrebenswertes<br />

System. Die Liebe, dort eingesetzt, wo ein<br />

Bedürfnis danach herrscht. Danach handele ich<br />

seit 25 Jahren und lebe diese Einstellung in<br />

meiner Kunst und im Theater aus. Ich nenne es<br />

das „System der fünften Dimension“ – hierin<br />

habe ich meinen Weg gefunden.<br />

Viele Menschen tun so, als ob sie unendlich viel<br />

Zeit zur Verfügung hätten, alles wird auf später<br />

verschoben, wenn man in Rente ist usw. …, Ich<br />

habe mir hingegen schon immer gesagt: Wieso<br />

warten? Das Leben kann so schnell vorüber sein.“<br />

1


2<br />

Wo sich Wahrheit und<br />

Phantasie begegnen, da ist das<br />

höchste menschliche Gefühl.<br />

Wir nennen es: liebe.<br />

3 4<br />

81<br />

1 Einer meiner beiden Särge, selbst<br />

bemalt.<br />

2 In meiner Wohnung – meine<br />

Kunstwerkstatt.<br />

3 Mein kleiner Wagen, ihn habe ich<br />

seit 2012.<br />

4 Ein neues Theateroutfit.


82<br />

ÖR


Brigitte obrist, 50<br />

ich wollte endlich selbst über meinen Körper bestimmen<br />

83


84 Aussteiger-Portrait | Brigitte Obrist<br />

nicht mehr in diesem<br />

Beruf tätig sein!<br />

nicht mehr vorspielen, ich sei dümmer als er!<br />

1990 kam das Thema Aids in den Medien auf. Die<br />

Schweizer Zeitung „Beobachter“ wollte eine Pros-<br />

tituierte portraitieren und hat bei Xenia, einer Bera-<br />

tungsstelle für Prostituierte in Bern angefragt, bei<br />

der ich im Vorstand war. Ich war zu dem Zeitpunkt<br />

in einer Phase, in der ich mir die öffentliche Diskriminierung<br />

unseres Berufsstandes nicht länger<br />

gefallen lassen wollte. Als die Zeitung ankündigte,<br />

den Namen abzuändern und das Gesicht zu ver-<br />

fremden, wurde mir klar, dass ich nicht gegen<br />

Stigmatisierung kämpfen kann, wenn ich diese<br />

unterstütze. Also verlangte ich: Nur mit Namen<br />

und Foto!<br />

Kurz darauf fragten auch andere Medien nach<br />

Interviews mit mir und luden mich als Expertin zu<br />

Vorträgen ein. Auf der Rückfahrt von einem dieser<br />

Vorträge an meinem 29. Geburtstag geschah es:<br />

Ich brach emotional zusammen. Und damit begann<br />

mein Ausstiegs aus der Prostitution.<br />

Ein Ausstieg aus der Prostitution von heute auf<br />

morgen ist jedoch problematisch. Neun Jahre war<br />

ich aktiv im Sexgewerbe, hatte keine „normale“<br />

Ausbildung. Und jetzt? Nein, Existenzängste hatte<br />

ich nicht, aber mir fehlte die berufliche Identität,<br />

eine Antwort auf die Frage „Was bin ich?“ Es mag<br />

unverständlich klingen, aber als Prostituierte habe<br />

1<br />

ich mich genauso mit meinem Beruf identifiziert wie andere mit ihrem Beruf.<br />

Einer ehemaligen Prostituierten gesteht man keine Fachkompetenz zu. Mich<br />

traf dieses Vorurteil ganz besonders, da ich schließlich nebenbei noch als Koor-<br />

dinatorin bei der Arbeitsgruppe „Prostitution und Aids“ der Schweizer Aidshilfe<br />

gearbeitet hatte. Gibt es eine bessere Fachfrau für die Betreuung von Prostituierten-Projekten<br />

als eine ehemalige Prostituierte wie mich?! Das ewige Be-<br />

weisen-müssen hat mich genervt und oft wütend gemacht. Die Medien<br />

merkten allerdings schnell, dass ich nicht dem Bild einer dummen Hure ent-<br />

spreche, die nichts kann, als die Beine breit zu machen.<br />

Was mein Beziehungsleben nach dem Ausstieg aus der Prostitution betrifft,<br />

musste auch ich damit leben, dass Männer zwar eine sexuell erfahrene Frau<br />

wünschen – aber unberührt soll sie trotzdem sein! Wenn mal wieder eine<br />

Liebesbeziehung in die Brüche ging, war klar: die hat ja mal angeschafft! Aber<br />

schlussendlich habe ich dann doch jemand gefunden, mit dem ich jetzt glücklich<br />

zusammenlebe, ein ehemaliger Liebhaber. Anfangs haben wir uns nur zum Sex<br />

getroffen, doch dann gemerkt, dass da mehr zwischen uns ist als nur körperliche<br />

Anziehung. Mittlerweile sind wir neun Jahre zusammen.


Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />

Ausstieg bedeutet für mich, sich den Konventionen<br />

zu entziehen, raus aus der Hülle einer<br />

fremdbestimmten Identität. So gesehen war<br />

eigentlich der Einstieg in die Sexarbeit ein<br />

Ausstieg aus dem bürgerlichen konventionellen<br />

Leben, in dem eine Frau heiratet und Kinder<br />

kriegt. Das wollte ich nie.<br />

Seit wann bist du „ausgestiegen“ und was<br />

waren die Gründe?<br />

Als ich aus der Prostitution ausstieg, verließ ich<br />

eine geschützte Arbeitswelt. Traditionell beherrschten<br />

seinerzeit die Frauen den Markt, nicht die<br />

Zuhälter. Wir Professionellen arbeiteten selbstständig,<br />

entschieden, ob wir einen Typen finanziell<br />

aushalten wollten oder nicht. Ich habe mir nie<br />

einen Zuhälter gehalten. Nur unter Frauen und mit<br />

Frauen zu arbeiten, Männer nur als Kunden im<br />

Salon/Studio zu haben, die nach 15 Minuten, spä-<br />

testens nach einer halben Stunde gehen, empfand<br />

ich als sehr angenehm. Dein Kunde schreibt<br />

dir nicht vor, wie du zu sein hast, wie du zu leben<br />

hast. Du lässt ihn für eine Viertelstunde im Glau-<br />

ben, er habe die Kontrolle über dich und dafür<br />

zahlt er, nicht für den Sex. Der ist Beigabe. Er<br />

zahlt für deine Zeit, in der du ihm die perfekte<br />

Verkörperung seiner Idealvorstellung einer Frau<br />

vorspielst.<br />

Mit dem Ausstieg und der Aufgabe des mit einer<br />

anderen Frau gemeinsam betriebenen Salons,<br />

gab ich auch einen Teil der finanziellen Unabhängigkeit<br />

auf. Bei der Aids-Hilfe Schweiz arbeitete<br />

ich jedoch weiter, zunächst als Koordinatorin mit<br />

sehr viel weniger Verdienst als zuvor in der<br />

„aktiven“ Prostitution. Doch mit dem Aufstieg zur<br />

Projektleiterin noch im Jahr meines Ausstiegs und<br />

den damit verbundenen Vorträgen und öffentlichen<br />

Auftritten stieg mein Einkommen wieder auf<br />

den mir gewohnten Betrag. Die Geldentwertung<br />

war sicher einer von vielen Gründen, warum ich<br />

aus dem Beruf „ausstieg“. Vor allem aber wollte<br />

Ich nicht mehr in diesem dienenden Beruf tätig<br />

1 Nach dem Ausstieg.<br />

2 Das bin ich heute. Nicht mehr<br />

vorspielen, ich sei dümmer als er.<br />

2<br />

85


86<br />

Aussteiger-Portrait | Brigitte Obrist<br />

sein. Nicht mehr jeden Tag, jedem, der genug<br />

dafür zahlte, vorzuspielen, ich sei dümmer<br />

als er. Aber diese Illusion von der scheinbaren<br />

Kontrolle und Macht gehört dazu, macht die<br />

Faszination der Prostitution für Männer aus.<br />

Mit dem Ausstieg wurde mir Geld im Übrigen<br />

weniger wichtig. Etwas intellektuell Anspruchsvolleres<br />

zu machen, war 1992 einer der Hauptgründe<br />

für meinen Ausstieg. Als Projektleiterin der<br />

Aids-Hilfe Schweiz AHS blieb ich selbständig<br />

erwerbend. 9 Jahre lang, realisierte ich das<br />

Projekt APiS, das letztes Jahr sein 20-jähriges<br />

Jubiläum feierte. Ich hielt die Festrede. Ich habe<br />

mit dem Projekt APiS etwas von bleibendem Wert<br />

geschaffen. Das kann man mir nicht mehr<br />

wegnehmen.<br />

Einfach war es allerdings nicht. Männliche Kon-<br />

kurrenz auf dem Arbeitsmarkt machte mir zu<br />

schaffen. Ich musste schwulen Männern immer<br />

wieder klar machen, dass sie – auch wenn mit<br />

Studium – für Präventionsarbeit bei ausländischen<br />

Sexarbeiterinnen niemals meine Praxiserfahrungen<br />

einbringen könnten. Mein Ausstieg aus der<br />

AHS 1998 geschah aus gesundheitlichen Gründen<br />

und fiel mir schwer. Mein Projekt APiS und das<br />

damalige Team der AHS waren mein Zuhause.<br />

Ich musste mir wieder eine neue Identität<br />

suchen. Als Patientin mit einem 2002 diagnostizierten,<br />

seltenen chronischen Krankheitsbild war<br />

ich wieder einer extremen Form der Fremdbestimmung<br />

unterworfen. Jedoch ist die Identitätsfindung<br />

vergleichbar mit dem Fahrradfahren-Können:<br />

hast du dich erst einmal ausschließlich über<br />

dich selbst und nicht über Beruf, Bildung oder<br />

sozialen Stand identifiziert, findest du deine<br />

Identität immer wieder.<br />

Bist du glücklich, würdest du den gleichen Weg<br />

nochmals wagen?<br />

Glücklich war ich nach meinem Ausstieg aus der<br />

Prostitution, nachdem ich herausgefunden hatte,<br />

welche Fähigkeiten ich noch habe und einsetzen<br />

konnte. Ich war mit Herzblut Projektleiterin bei der AHS. Der Ausstieg dort<br />

war keine Wahl, sondern Zwang auf Grund äußerer Umstände. Die Krankenkasse<br />

und die Rentenversicherung verhinderten, dass ich irgendetwas Neues<br />

beginnen konnte. Meine Krankheit ist unheilbar, wenn auch nicht tödlich.<br />

Ich kann mich gut damit arrangieren, wenn ich die entsprechenden Akut-<br />

Medikamente nehme. Die Krankenkasse hat mir die Vergütung dieser sehr<br />

teuren Präparate drei Jahre lang verweigert. Meine Krankheit ist vergleichbar<br />

mit einem Systemfehler in Microsoft. Das Gehirn meldet Fehler, die sich in<br />

extrem starken Nervenschmerzen äußern und sich nicht betäuben lassen.<br />

Die Schmerzen treten anfallsweise in 25 und mehr Attacken pro Tag auf.<br />

Gegen die Krankenkasse bin ich bis vor das Bundesgericht vorgegangen und<br />

habe in jeder Instanz gewonnen.<br />

Freunde habe ich viele verloren, weil ihre Rezept gegen die vermeintlichen<br />

Kopfschmerzen bei mir nicht wirkten. Ich könnte von mangels Heilungserfolg<br />

frustrierten Ärzten berichten, von nicht weniger frustrierten Freundinnen, die<br />

mir fehlenden Willen gesund zu werden vorwarfen, wenn ihre homöopathischen<br />

Mittelchen, Akupunktur oder sonstige Wundertherapien bei mir versa-<br />

gten. Unter vier Ärzten, einem Gutachter, einem Konsiliararzt ist einer übrig<br />

geblieben, der mich nach wie vor betreut. Die anderen ließ ich frustriert bis<br />

wütend zurück. Glücklich macht es nicht gerade, wenn man das Weltbild<br />

anderer Menschen zerstört, weil man so ist, wie man ist. Aber tief in meinem<br />

Inneren bin ich nun mal eine Kriegerin.<br />

Der Rechtsstreit mit der Krankenkasse belastete mich nicht, er machte mir<br />

sogar fast Spaß. Richtig glücklich macht mich die Gewissheit, dass ich die in<br />

der Prostitution gewonnene Narrenfreiheit nicht aufgeben musste. Heute bin<br />

ich einfach auf Facebook und Twitter eine Heimsuchung für frauenfeindliche<br />

Accounts, und mit der Krankheit habe ich mich arrangiert. Mein Leben ent-<br />

spricht nicht der Norm, ich schäme mich nicht für meine Vergangenheit. Sie ist<br />

ein Teil von mir, den ich nicht missen möchte. Ich würde meinen Weg nochmals<br />

gehen. Nur auf die Krankheit, den Clusterkopfschmerz könnte ich<br />

verzichten.<br />

Gibt es für dich ein Objekt das du sofort mit „aussteigen“<br />

in Verbindung bringst?<br />

Mit Ausstieg bringe ich automatisch so etwas wie Ökoromantiker in Verbindung,<br />

in Kommunen und im Einklang mit der Natur leben. Ich habe dagegen<br />

gerne gewisse Sicherheiten: eine Wohnung, ein gesichertes Einkommen, eine<br />

feste Beziehung, natürlich eine Krankenversicherung und ein sozial intaktes<br />

Umfeld. Letzteres habe ich mir in den letzten Jahren neu geschaffen. Ich bin<br />

mit Menschen zusammen, die einzigartig sind, ganz unterschiedliche Wege<br />

gehen und gegangen sind, nicht oberflächlich, sondern im Kern wertvoll –<br />

einfach echte Menschen!


1<br />

2<br />

1 Das Foto stammt aus dem<br />

Theaterstück „Backroom“ 1994,<br />

in dem ich als Protagonistin<br />

mitmachte. Szene mit Freier.<br />

2 Domenica Niehoff aus Hamburg<br />

war Deutschlands bekannteste<br />

Domina. Wir sprachen für die<br />

„Weltwoche“ interviewt von<br />

Barbara Lukesch über Arbeit,<br />

Ausstieg und Sexualität. Sie starb<br />

vor zwei/drei Jahren.<br />

3 Aufnahmen für das Studio, auf<br />

den Bildern 2+4 bin ich zu sehen.<br />

4 Werbefoto als Domina.<br />

3<br />

4<br />

87


N<br />

AT


Jürgen Wagner, 49<br />

Waldmensch und Wanderprediger Öff Öff<br />

89


90 Aussteiger-Portrait | Jürgen Wagner<br />

Öff Öff, eigentlich nur zwei<br />

laute ohne Bedeutung<br />

Aussteigen ist kein Spaziergang<br />

Vielfach schenken Menschen Dingen Bedeutung,<br />

die fremdbestimmt sind – zum Beispiel einem<br />

Namen. Ich habe mich von diesen Regeln befreit.<br />

Der Name Öff Öff verdeutlicht das.<br />

Mit 13 haben meine Geschwister und ich über die<br />

Zukunft nachgedacht und was wir machen möchten.<br />

Ich habe mir ausgemalt, dass man irgendwo<br />

friedlich und gewaltfrei leben könnte. Und dann bin<br />

ich zu dem Entschluss gekommen, dass so etwas<br />

möglich ist und man nicht an dem täglichen Ellen-<br />

bogenkampf teilnehmen muss. Ein solches Leben<br />

erschien mir wertvoller als das, was ich um mich<br />

herum wahrnahm. Damals war mir allerdings auch<br />

schon klar, dass es zu einer großen Außenseiterrolle<br />

im Leben führt, wenn ich das umsetze, was<br />

ich denke. Während die meisten Jungs sich mit<br />

Fußball beschäftigt haben, habe ich mich gedanklich<br />

weiter meinen Zukunftsplänen gewidmet. Nach<br />

meinem sehr gut abgeschlossenem Abi habe ich<br />

Theologie und Philosophie studiert und wollte zu-<br />

nächst Priester werden. Die Reaktion auf meinen<br />

Plan war erschreckend: Die Kirche würde Priester<br />

suchen, die Menschen in ihren kleinen Problemen<br />

und Nöten beistehen und in ihrer Rolle als Bürger<br />

des Staates, Geldverdiener, treusorgender Familienvater<br />

etc. bestärken. Dass aber gerade diese<br />

Grundstrukturen – Staat, Bürger, Geld – die Grund-<br />

wurzeln unserer gesellschaftlichen Probleme sind,<br />

wolle keiner hören. Am 19. Dezember 1991 habe<br />

ich dann zusammen mit meinem Freund einen<br />

Alternativ-Schritt gewagt und wie folgt unseren<br />

1<br />

Gedanken realisiert: Unsere Personalausweise steckten wir in einen Briefumschlag,<br />

adressiert an den Bundespräsidenten, und erklärten unseren Austritt<br />

aus dem Staat. Dem Arbeitsamt habe ich geschrieben, dass ich nicht mehr<br />

dazu bereit bin, in egoistischer und die Gesellschaft schädigender Weise mit<br />

anderen zu konkurrieren und deshalb ohne Geld leben werde. Dann habe ich<br />

alles, was ich besaß, verschenkt, mein Bündel geschnürt und bin aufgebrochen.<br />

Ich lebte als Wanderprediger, habe den Menschen von meinen Ideen erzählt<br />

und versucht, sie zum Mitmachen zu bewegen. Der Freund, der mich zunächst<br />

begleitete, hat allerdings nicht lange durchgehalten. Es war kalt, er bekam<br />

Frostbeulen und ist ins bürgerliche Leben zurückgekehrt. Aussteigen ist halt<br />

kein Spaziergang. Es kostet Nerven und Kraft. Schnecken, Regenwürmer,<br />

Brennnessel und Co. waren meine Lebensmittel. Meine Survival-Bücher<br />

wurden zur Überlebensbibel. Wir leben in einer Überflussgesellschaft, in der<br />

Mengen an Essen weggeworfen werden. Das betrifft zum Beispiel Supermärkte,<br />

die Produkte entsorgen, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen<br />

ist. Ich habe geschaut, was ich von dem Entsorgten noch gebrauchen kann und<br />

mir zusätzlich noch Lebensmittel schenken lassen.<br />

2005/2006 war ich dann so weit, noch einen Schritt weiter zu gehen – ich habe<br />

als Selbstversorger im Wald gelebt, in einem Tal in Sachsen. Dort habe ich mir<br />

ein Erdloch gebaut und ab und zu dort auch geschlafen. Die meiste Zeit ver-<br />

brachte ich aber in einer kleinen Hütte. Ernährt habe ich mich von den Kräutern<br />

der Wiese, von Früchten, Wurzeln, kleinen Tieren, Käfern und Heuschrecken.<br />

Mein Bett war eine Jurte, ein Geflecht aus Ästen, mit einer Filzdecke darüber.<br />

In dieser Hütte habe ich auch den Winter über gelebt ohne zu heizen. Ich<br />

möchte den Menschen ein Beispiel geben, dass es möglich ist, nur noch in<br />

Liebe mit und zu Menschen zu leben – ganz ohne Geld, unabhängig vom Staat.<br />

Ich habe mich zu über 90 % von der Wiese ernährt, und in meinen handgemachten<br />

Klamotten im Winter ohne Heizung überlebt. Entscheidend für mich<br />

ist aber nicht, ob man im Wald lebt, Sozialarbeit macht oder als Wanderprediger<br />

auf der Straße steht. Das alles sind nur unterschiedliche Umsetzungsformen


und Antworten auf dieselbe Frage: Wie werden wir<br />

zu Menschen, die fähig sind, an das Wohl des<br />

Ganzen zu denken und die kleinen, nebensächlichen<br />

Bedürfnisse hintan zu stellen?<br />

Was bedeutet für dich „Aussteigen“?<br />

Umstieg in ein im Ganzen sinnvolles Leben und in<br />

das darin liegende echte Glück. Suche nach einem<br />

möglichst Ideologie-freien „kleinstmöglichen“<br />

Nenner für globale Verantwortung“: Radikale<br />

Eigenverantwortung, verbunden mit selbstlosem<br />

Teilen bzw. Schenken in globaler Liebe – und das<br />

möglichst Ideologie-frei. Die zu Ende gedachte<br />

Ganzheitlichkeit unterscheidet mich wohl von den<br />

meisten anderen „Aussteigern“. Ich schließe dabei<br />

die Umstellung der „Steuerungs-Strukturen“ ein –<br />

vom eigenen Inneren übers gemeinschaftliche<br />

Miteinander bis hin zu den gesellschaftlichen<br />

Entscheidungs- und Verteilungs-Strukturen, und das<br />

möglichst direkt und real umgesetzt. Solange wir<br />

uns – wie es die meisten leider tun – nur nach<br />

Gefallen „Bruchstücke“ fürs Alternativ-Sein aus -<br />

suchen oder an Symptomen herumdoktern,<br />

werden wir immer wieder zu sehr mit dem Auf -<br />

wischen von Wasser-Pfützen beschäftigt sein, so<br />

dass wir nicht dazu kommen, „den Wasser-Hahn<br />

zuzudrehen“. Und wenn wir von anderen fordern,<br />

frei von Ideologien zu sein, wird es uns nicht<br />

gelingen, alle „Menschen guten Willens“ bestmöglich<br />

zusammenzuführen.<br />

Seit wann bist du „ausgestiegen“ und wohin?<br />

Seit 1991 – im Rahmen der von mir gegründeten<br />

Schenker-Bewegung. Erst ging’s auf die Straße<br />

zum freiwillig obdachlosen „Pilgern“, dann in<br />

„Nächstenliebe-Sozialarbeits-Projekte“ und<br />

„Natur-Selbstversorgungs-Projekte“.<br />

Was machst du vor Ort?<br />

Je nach – bereits geschilderter – Lebens- bzw.<br />

Projekt-Form bin ich in der Öffentlichkeits-, Sozial-<br />

oder Selbstversorgungs-Arbeit tätig. Das bringt<br />

sehr flexible Tages-Abläufe mit sich. Im Moment<br />

bin ich insbesondere mit Gemeinschafts-Arbeit<br />

www.lilitopia.de, www.global-love.eu<br />

beschäftigt, z. B., wie man Liebes-Beziehung und<br />

Familie „Konsens-Gemeinschaft und globales<br />

Teilen“ integrieren kann. Außerdem befasse ich<br />

mich mit wissenschaftlicher Bildungs-Arbeit im<br />

Lilitiopia-Projekt.<br />

Bist du glücklich, würdest du den selben Weg<br />

nochmals wagen?<br />

Ja.<br />

Gibt es für dich ein Objekt das du sofort mit<br />

„aussteigen“ in Verbindung bringst?<br />

Organisches Denken und Licht-Liebes-Arbeit.<br />

2<br />

3<br />

5 6<br />

91<br />

1 In Winter-Kleidung vor meinem<br />

Plakat im Biotopia-Projekt.<br />

2 Blick durch eine Ritze der<br />

Eingangs-Tür meiner 2 x 2 Meter<br />

großen Hütte. Ich im „Winterschlaf-Modus“<br />

bei Internet-Arbeit.<br />

Der Stromanschluss kommt vom<br />

benachbarten Gasthof.<br />

3 1991 in Halle, Leipzig. Mein<br />

Freund und ich beim Pilgern mit<br />

Plakat-Aktionen.<br />

4 Beim Containern auf der Suche<br />

nach Resten.<br />

5 Ein Bad im Fluss Löbauer Wasser,<br />

der im Biotopia-Projekt ein paar<br />

Meter neben meiner Hütte fließt.<br />

6 In Papp-Kisten: Obst und Nüsse<br />

um mich herum eingelagert.<br />

4


Quellen<br />

92 Quellen und Impressum<br />

Texte (Auszüge)<br />

Seite 8 – 25:<br />

· Pina Lewandowsky – Schnellkurs Grafik-Design, Dumont | ISBN 3 832 17624 1<br />

· Herrad Schenk – Vom einfachen Leben, C.H. Beck | ISBN 3 406 42883 5www.warhol-andy.de<br />

· www.suite101.de/article/diogenes-von-sinope-der-erste-hi-a43041<br />

· www.wissen.de/lexikon/antonius-der-grosse<br />

· www.luther2017.de<br />

· www.geschi.de/artikel/hippies.shtml<br />

· www.henry-david-thoreau.de<br />

· www.ev-johannitergymnasium-wriezen.de/2177.0.html<br />

· www.ausstiegspunkt.wordpress.com<br />

· www.mywakenews.wordpress.com<br />

· www.einestages.spiegel.de<br />

· www.art-directory.de/malerei/cobra/<br />

· www.dokumente-online.com/into-the-wild-praesentationsleistung.html<br />

· www.kettererkunst.de/bio/damien-hirst-1965.shtml<br />

· www.fernsehserien.de<br />

· Aussteiger-Debatte: Christian Schüle „Der letzte Freigeist“, www.spiegel.de<br />

· www.tk.de, Gesundheitsreports 2012<br />

· www.arbeitgeber.barmer-gek.de, Gesundheitsreports 2012<br />

· www.statista.com, Statistika 2013<br />

· www.presse.dak.de/ps.nsf/allLevel2KatForm?Open&GoTo=RegioBY&Cat=DAK-Gesundheitsreport<br />

Bilder<br />

· Foto Seite 72: Palatia Marburg<br />

www.media05.myheimat.de/2011/03/30/1531991_web.jpg?1301437574<br />

· Foto Seite 74 – 75: Palatia Marburg<br />

K.D.St.V. Palatia Marburg im CV et KDV Facebook<br />

· Foto Seite 82 – 83: Teilakt von Ninash Noori<br />

· Foto Seite 88 – 89: Aufnahme der Zeitschrift „Das Magazin“<br />

www.kugel-panoramen.de/panos/panos/java/GSWaldmenschFr2010.jpg<br />

· Foto Seite 91:<br />

Bild 2, 4, 5 und 6 – www.stefan-finger.de


Impressum<br />

<strong>Diplomarbeit</strong> an der Schule für Gestaltung Ravensburg<br />

Studiengang Kommunikations-, Informationsdesign<br />

Diplomandin Jennifer Taube<br />

Betreuende Dozentin Michaela Gleinser<br />

Konzeption und Gestaltung Jennifer Taube<br />

Schrift Ceacilia LT, Univers LT<br />

Papier Munken Lynx Pure Rough 150 g/qm<br />

Druck und Bindung, Stein GmbH & Co. KG Ravensburg<br />

Die Inhalte der Portraits wurden in Zusammenarbeit mit den<br />

Aussteigern erstellt, selbst geschrieben oder Teile aus Blogs<br />

verwendet. Bildmatarial wurde mir größtenteils geliefert.<br />

Meine Fotografie ist zu sehen auf den Seiten: 34 – 35,<br />

36 Bild Nr. 1, 38 Bild Nr. 3, 40 – 41 Bild Nr. 3 & 4, 42 – 47 und 76 – 81.<br />

1. Auflage Juli 2013<br />

© Jennifer Taube | Ravensburg, Juli 2013<br />

Mein besonderer Dank gilt allen, die mich bei meiner<br />

Diplom arbeit unterstützt haben. Meine Reise 2012<br />

war elementar, um auf dieses Thema zu stoßen. Danke für<br />

die unvergessliche Zeit!<br />

93


94<br />

Freiheit ist ein Zustand des Geistes – nicht die<br />

Freiheit von etwas, sondern das Gefühl der Freiheit,<br />

der Freiheit, alles anzuzweifeln und in Frage zu<br />

stellen, und zwar so intensiv, aktiv und kraftvoll,<br />

daß sie jede Art von Abhängigkeit, Sklaverei,<br />

Anpassung und Anerkennung von sich wirft.<br />

[Krishnamurti]


inhalt<br />

Vorwort<br />

Diakon Helmut Epp 6<br />

Geschichte 8<br />

Gesundheit 20<br />

Portraits 26<br />

Christine Häring 28<br />

Hendrikje Schumann 34<br />

Sabrina und Bohne 42<br />

Stefan Hasters 48<br />

Helena Stephan 54<br />

Andrea Süßenguth 60<br />

David Schmidhofer 64<br />

Stephan Peters 72<br />

Sassa Ruopp 76<br />

Brigitte Obrist 82<br />

Jürgen Wagner – Öff Öff 88<br />

Quellen und Impressum 92

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