Ein Doppelleben in der Schwebe - BauNetz
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| Grenzgänger<br />
4|06<br />
Grenzgänger<br />
<strong>E<strong>in</strong></strong> <strong>Doppelleben</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Schwebe</strong><br />
Ilka Licht<br />
Architekt<strong>in</strong> und Artist<strong>in</strong><br />
<strong>BauNetz</strong> PDF Journal | www.baunetz.de/grenzgaenger | 1<br />
Text: He<strong>in</strong>rich Wähn<strong>in</strong>g<br />
Gestaltung: www.henkelhiedl.com
Ilka Licht<br />
geboren 1973 <strong>in</strong> Köln<br />
lebt <strong>in</strong> Köln<br />
| Grenzgänger<br />
Stationen<br />
1992-1994 Vordiplom Architektur,<br />
RWTH Aachen<br />
1994-1995 Architektur an <strong>der</strong> University of<br />
Sheffi eld, England<br />
1995-1997 BTEC National Diploma <strong>in</strong><br />
Perform<strong>in</strong>g Arts (Circus), The Circus Space,<br />
London<br />
1997 8-wöchiges Architektur-<br />
Studienstipendium bei Kajima (Japan)<br />
1998 Intensivkurs für professionelle<br />
Zirkuskünstler am Centre National des Arts du<br />
Cirque, Châlons-en-Champagne, Frankreich<br />
1999 Meisterklasse <strong>in</strong> Jonglagetechnik mit<br />
Sergei Ignatov sowie Anthony Gatto<br />
2000 Diplom Architektur, RWTH Aachen<br />
seit 2001 Lehrtätigkeit am Lehrstuhl<br />
Technischer Ausbau + Entwerfen, RWTH<br />
Aachen<br />
© Melanie Pawlowski<br />
<strong>BauNetz</strong> PDF Journal | www.baunetz.de/grenzgaenger | 2<br />
Während sich heutzutage auch die neuen Berufsfel<strong>der</strong> vieler Architekturabsolventen<br />
noch als Spezialisierung aus dem Studium herleiten lassen, führt Ilka Licht e<strong>in</strong><br />
<strong>Doppelleben</strong>. Was br<strong>in</strong>gt jemanden dazu, an e<strong>in</strong>em Tag Keulen durch die Manege<br />
zu wirbeln und an e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Architekturstudenten die Vorteile e<strong>in</strong>es Blockheizkraftwerks<br />
zu erklären?<br />
He<strong>in</strong>rich Wähn<strong>in</strong>g beschreibt den Werdegang e<strong>in</strong>er Frau, die schon immer wusste,<br />
woh<strong>in</strong> sie wollte und den Traum ihrer K<strong>in</strong>dheit verwirklicht hat.<br />
<strong>E<strong>in</strong></strong> Donnerstagabend im Fool´s Garden. Das Hamburger Varieté-Theater ist e<strong>in</strong> Forum für<br />
Kle<strong>in</strong>künstler <strong>der</strong> Region. Im Publikum s<strong>in</strong>d es seltsamerweise gerade die älteren Damen,<br />
die für e<strong>in</strong>e nur leicht verhaltene Jugendclubatmosphäre sorgen. Artisten, Komiker und<br />
Musiker <strong>in</strong> schnellem Wechsel; arglos s<strong>in</strong>d die Darbietungen gemischt, zu e<strong>in</strong>em Programm<br />
fügt sie e<strong>in</strong>zig die selbstironische Integration des unvermeidlichen Bühnenunfalls<br />
zusammen.<br />
Nach e<strong>in</strong>em runden Dutzend ist Ilka Lichts Auftritt <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> dem milden Lächeln <strong>der</strong><br />
Zuschauer ehrfürchtiges Staunen folgen lässt. Sie beg<strong>in</strong>nt ihre Jonglage mit zwei Keulen,<br />
bald hält sie drei, schließlich fünf davon <strong>in</strong> kreisen<strong>der</strong> Bewegung; beständig ersche<strong>in</strong>t<br />
alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> Fluss, mit <strong>der</strong> sie e<strong>in</strong>e geometrische Figur unmerklich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e übergehen<br />
lässt. Angesichts dieser Professionalität ahnt wohl ke<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Zuschauer, dass die Artist<strong>in</strong><br />
zugleich noch ausgebildete Architekt<strong>in</strong> ist. Wer es wüsste, hätte wohl allen Grund, e<strong>in</strong>en<br />
von ungnädigen Sachbearbeitern erzwungenen Berufswechsel zu vermuten - und darf<br />
An<strong>der</strong>e Mädchen träumten<br />
von Pferden; träumte sie von<br />
Pferden, trabten die auf<br />
Sägemehl.<br />
sich hier e<strong>in</strong>mal doch so gründlich wie angenehm enttäuschen lassen.<br />
Denn seit jeher hat Ilka Licht gemacht, was sie machen wollte; ihre Biographie erweist<br />
Jonglage als die Kunst, immer e<strong>in</strong>e Sache <strong>in</strong> Bewegung zu halten, ohne die an<strong>der</strong>e fallen<br />
zu lassen.<br />
Noch nicht neun Jahre alt, trat sie 1982 <strong>in</strong> ihrer Heimatstadt Köln e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong><strong>der</strong>zirkus<br />
bei. Dass daraus e<strong>in</strong>e Passion erwachsen würde, hatten ihre Eltern - ihr Vater ist Pfarrer,<br />
ihre Mutter Supervisor<strong>in</strong> bei <strong>der</strong> Stadt Köln - wohl zuletzt erwartet. Dabei war Ilka schon<br />
vom Zirkus fasz<strong>in</strong>iert, soweit sie sich überhaupt zurücker<strong>in</strong>nern kann. An<strong>der</strong>e Mädchen<br />
träumten von Pferden; träumte sie von Pferden, trabten die auf Sägemehl, wie sie mit<br />
e<strong>in</strong>em kehligen Lachen erzählt. Im Gespräch wirkt sie schon nach wenigen M<strong>in</strong>uten wie<br />
jemand, mit dem man während geschwänzter Schulstunden leichth<strong>in</strong> ganze Gestüte hätte<br />
leer räumen mögen.<br />
Freilich hätte sie selbst dafür kaum Zeit gehabt; als Teenager begann sie, sich <strong>in</strong> den<br />
verschiedensten Diszipl<strong>in</strong>en zu versuchen. Sie lernte Akrobatik, <strong>E<strong>in</strong></strong>radfahren, übte sich<br />
<strong>in</strong> Tanz und Clownerie und turnte am Trapez. Der Schulalltag mochte da leichth<strong>in</strong> öde<br />
ersche<strong>in</strong>en. Mit 16 wollte Ilka weg vom Gymnasium, um zu e<strong>in</strong>er Zirkusschule zu gehen.<br />
Die Reaktion ihrer Mutter weiß sie noch heute wortgetreu zu zitieren: „Hätte ich je geahnt,
| Grenzgänger<br />
Lukaluka im Krystallpalast Varieté, Leipzig © lukaluka<br />
<strong>BauNetz</strong> PDF Journal | www.baunetz.de/grenzgaenger | 3<br />
was daraus wird, wenn ich Dich <strong>in</strong> diesem Projekt anmelde - ich hätte es nicht getan.“<br />
Ohne ihre Leidenschaft ganz aus den Augen zu verlieren, fügte sich Ilka <strong>der</strong> elterlichen<br />
Besorgnis; das Beispiel ihrer Schulfreunde, die e<strong>in</strong> Studium anstrebten, machte ihr das<br />
auch leicht. Zudem hatte <strong>der</strong> Kunst-Leistungskurs ihr Interesse für Gestaltung geweckt.<br />
Ans Entwerfen im größeren Maßstab war dabei zunächst gar nicht gedacht. Ilka bewarb<br />
sich an <strong>der</strong> Essener Folkwang-Schule im Fach Produktdesign, scheute dann aber das<br />
e<strong>in</strong>jährige Praktikum, das man dort verlangte.<br />
Wie sie heute lachend e<strong>in</strong>gesteht, empfahl sich das daraufh<strong>in</strong> aufgenommene Architekturstudium<br />
vor allem durch das Fehlen e<strong>in</strong>er Aufnahmeprüfung.<br />
Unter den neuen Freunden an <strong>der</strong> RWTH Aachen, zumeist Söhne und Töchter von<br />
Architekten, war sie e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wenigen ohne fachliche Vorprägung. Auch dies ke<strong>in</strong> Grund,<br />
sich bremsen zu lassen - schließlich waren ihre Eltern auch ke<strong>in</strong>e Artisten gewesen. Die<br />
Begeisterung ihrer Kommilitonen für die Architektur hatte sie<br />
bald angesteckt, ihre Liebe zur Artistik jedoch litt zusehends<br />
...unablässiges<br />
Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g und<br />
monatelange<br />
Aufenthalte <strong>in</strong><br />
immergleichen<br />
Hotelzimmern<br />
unter <strong>der</strong> Ausschließlichkeit des <strong>in</strong>tensiven Grundstudiums.<br />
Als sie nach vier Semestern das Vordiplom bestanden hatte,<br />
stellte sich erneut die Frage, wie das e<strong>in</strong>e zu tun wäre, ohne<br />
das an<strong>der</strong>e zu lassen. Da jetzt <strong>der</strong> Grundste<strong>in</strong> für e<strong>in</strong>en<br />
verme<strong>in</strong>tlich sicheren Berufsweg gelegt war, bewarb sie sich<br />
an jener Artistenschule, die sie mit 16 schon hatte besuchen<br />
wollen. Doch da hieß es, nun, mit 21 Jahren, sei sie bereits<br />
zu alt dafür.<br />
Jetzt e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> Aachen zu bleiben, wäre ihr als Stillstand<br />
erschienen. Sie g<strong>in</strong>g nach England, um ihr Architekturstudium<br />
an <strong>der</strong> University of Sheffi eld fortzusetzen - für e<strong>in</strong> Jahr<br />
zunächst. Danach holte sie schnell das Verpasste nach. Am<br />
Londoner Circus Space, e<strong>in</strong>er zur Staatsschule umgewandelten<br />
Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsstätte, gehörte sie zu den ersten Studenten, die den dort neu etablierten<br />
Ausbildungsgang nach zwei Jahren mit dem National Diploma <strong>in</strong> Perform<strong>in</strong>g Arts<br />
absolvieren konnten.
© Melanie Pawlowski<br />
| Grenzgänger<br />
In dieser Zeit ließ sie den Kontakt zum<br />
Architekturgeschehen nicht abreißen.<br />
Stets besuchte sie Ausstellungen<br />
an <strong>der</strong> Bartlett wie an <strong>der</strong> AA und<br />
half dort studierenden Freunden vor<br />
Abgaben. Vor allem aber hatte sie Luke<br />
Wilson kennen gelernt, e<strong>in</strong>en Jongleur,<br />
<strong>der</strong> für zehn Jahre ihr Partner und<br />
auch Ehemann werden sollte. Mit ihm<br />
gründete sie das Duo „lukaluka“; e<strong>in</strong>e<br />
symbiotische Zusammenarbeit entstand,<br />
die zu diversen Auftritten führte,<br />
<strong>in</strong> Europa, den USA und Japan. Bei<br />
allen Reisefreuden bedeutete das auch<br />
unablässiges Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g und monatelange<br />
Aufenthalte <strong>in</strong> immergleichen Hotelzimmern,<br />
fern <strong>der</strong> Heimat. Dennoch fand<br />
Ilka Licht immer Möglichkeiten, auch ihre<br />
Architektenausbildung voranzutreiben,<br />
wie etwa durch e<strong>in</strong> achtwöchiges<br />
Stipendium <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er großen japanischen<br />
Baufi rma. Nach weiteren zwei Jahren<br />
diplomierte sie <strong>in</strong> Aachen.<br />
<strong>BauNetz</strong> PDF Journal | www.baunetz.de/grenzgaenger | 4<br />
© lukaluka<br />
Erfolg <strong>in</strong> zwei Diszipl<strong>in</strong>en, <strong>der</strong>en Autonomie zudem noch wenig beför<strong>der</strong>nde Wechselwirkung<br />
verspricht - wie ist das alles zu schaffen? Immerh<strong>in</strong> sei das im Studium geschulte<br />
konzeptionelle Denken hilfreich bei <strong>der</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>es Bühnenprogramms,<br />
versichert Ilka Licht. Vor allem sche<strong>in</strong>t jedoch konzeptionellem Denken geschuldet, dass<br />
sie es fertig brachte, ihr Architekturstudium ganz nach ihrem Interesse für Artistik zu formen:<br />
So wurde ihre alte Zirkusschule <strong>in</strong> Frankreich das Thema <strong>der</strong> Baugeschichtsarbeit,<br />
und <strong>der</strong> Cirque du Soleil zum Gegenstand ihrer Statikprüfung. Durch den Vertiefungsentwurf<br />
schließlich kam sie <strong>in</strong> Kontakt mit dem Lehrstuhl für Technischen Ausbau und<br />
Entwerfen, an dem sie nun seit fünf Jahren assistiert. Die Aufgabe war e<strong>in</strong> Kulturzentrum<br />
<strong>in</strong> den Nie<strong>der</strong>landen. Da sie hier die Erfahrungen ihres Künstlerdase<strong>in</strong>s noch verstärkt<br />
e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen verstand, begegnete man auch dessen Erfor<strong>der</strong>nissen mit wohlwollendem<br />
Verständnis. Wegen e<strong>in</strong>es Kurses an <strong>der</strong> Zirkusschule durfte sie die Abgabe um e<strong>in</strong> halbes<br />
Jahr verschieben. Bald danach fragte ihr Professor He<strong>in</strong>z G. Sieber, ob sie nicht e<strong>in</strong>e<br />
Hochbauaufgabe für den Lehrstuhl entwickeln könne. Daraus wurde zugleich ihr eigenes<br />
Diplom - e<strong>in</strong>e Zirkusschule.<br />
Auch Joachim Ruoff, <strong>der</strong> den 2000 verstorbenen Sieber heute vertritt, kommt ihr bei <strong>der</strong><br />
Koord<strong>in</strong>ation von<br />
Assistenz und<br />
„Man verbr<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong> Leben gebückt,<br />
mit <strong>der</strong> Hand am Boden.“<br />
Artistik entgegen<br />
- umso wichtiger,<br />
da Ilka nach <strong>der</strong><br />
Trennung von<br />
ihrem Mann und<br />
Jonglierpartner jetzt erstmals für sich alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Bühnenprogramm erarbeiten muss.<br />
Da zudem ihr Vertrag mit <strong>der</strong> Uni befristet ist, ist die Zukunft doppelt ungewiss; sicher ist<br />
nur, dass Ilka nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Architekturbüro gehen wird. Bei e<strong>in</strong>er halbwegs guten Auftragslage<br />
verdient sie als Artist<strong>in</strong> ohneh<strong>in</strong> mehr als ihre Kollegen <strong>in</strong> den Büros. Dabei macht
© lukaluka<br />
| Grenzgänger<br />
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sich auch bezahlt, dass sie e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> ganz wenigen Frauen ist, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst des<br />
Jonglierens bewähren. Viele ließen sich abschrecken durch die permanente Frustration<br />
des Übens; wie sie e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich formuliert: „Man verbr<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong> Leben gebückt, mit <strong>der</strong><br />
Hand am Boden.“ Vor allem aber: Jener Voyeurismus, <strong>der</strong> das Interesse an weiblichen<br />
Artisten heimlich begründet, br<strong>in</strong>gt diese auch vorzeitig zu Fall. Auf Pressekonferenzen<br />
hat Ilka Licht erlebt, wie vierzigjährige Kolleg<strong>in</strong>nen sich kurzerhand um zehn Jahre jünger<br />
machten. Für sich selbst hat sie entschieden, mit Ende dreißig sei defi nitiv Schluss. Ist<br />
schon sie selbst nicht unbed<strong>in</strong>gt <strong>der</strong> Typ, <strong>der</strong> sich über ungewisse Aussichten grämt,<br />
machen sich ihre Freunde erst recht ke<strong>in</strong>e Sorgen um ihre Zukunft: Nicht wenige sagen<br />
ihr e<strong>in</strong>e akademische Karriere voraus.<br />
So steht als nächstes e<strong>in</strong>e Dissertation an. Wenn sie von ihrer <strong>der</strong>zeitigen US-Tournee,<br />
die sie <strong>in</strong> Las Vegas beschließt, zurückkehrt, wird sie <strong>in</strong> Wuppertal mit Frank Werner über<br />
e<strong>in</strong> geeignetes Thema verhandeln. Ke<strong>in</strong> Zweifel, dass sich Ilka Licht durchsetzen wird, sobald<br />
man über den Arbeitstitel h<strong>in</strong>aus ist. Der lautet gegenwärtig noch: Der Zirkus <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Architekturtheorie. Ganz schön doppeldeutig, doch was sollte da schief gehen? Selbst<br />
missverstanden wäre dies allemal e<strong>in</strong> Thema.