17.10.2012 Aufrufe

Herbst 2010

Herbst 2010

Herbst 2010

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

… Man hatte gelernt, sich zu vergnügen. Die Jungen tanzten Charleston<br />

und hörten Jazz, die Alten veranstalteten Kaffeekränzchen mit einem<br />

Radioapparat auf dem Tisch. Sie lauschten den neuesten Chansons und<br />

sangen mit. Vermögende Touristinnen folgten dem letzten Schrei der<br />

Mode und strömten nach Paris.<br />

Schönheit war das große Geschäft. Den klingenden Namen auf<br />

einem Parfümfläschchen ließ man sich einiges kosten. Salons versprachen,<br />

jeden Körperteil verschönern zu können. Spezialgeschäfte boten<br />

Maschinen mit Vibrationsbändern an, um Fettpolster wegzuschmelzen,<br />

wie es die Werbesprüche verhießen.<br />

Der Autoabsatz nahm rasant zu. Als Regel galt: Ein Auto hat<br />

teuer auszusehen und die Beifahrerin schön. Man fuhr gerne schnell.<br />

Alle hatten ständig ein bisschen zu wenig Zeit, denn es galt als schick,<br />

es eilig zu haben.<br />

Im Freundeskreis von Amrita und Indira besaß keiner ein<br />

Auto. Wenn die Freunde (…) aufs Land fuhren, nahmen sie den Bus.<br />

Meist verabredeten sie sich in einem Café in der Innenstadt und zogen<br />

von dort weiter in irgendein Bistro. Man lebte bei den Eltern, Geld hatte<br />

niemand. Trotzdem lebte man so, als hätte man es haufenweise.<br />

Die Liebesverhältnisse im Freundeskreis waren unübersichtlich<br />

und flatterhaft. Wer mit wem und seit wann und wie denn, war ein<br />

ständiges Gesprächsthema. So viel stand fest: Gérard, einer von Amritas<br />

Malerkollegen, war in Indira verliebt. Er malte sie in ihrem Sari. Sie<br />

lud ihn mit einigen andern zu einer Veranstaltung ihrer Mutter ein.<br />

Eine eindrückliche Erscheinung, diese Mutter! Elegant war<br />

sie, üppig, das Haar mit rötlichem Schimmer, die klaren Augen funkelnd,<br />

das Kleid schulterfrei. Und erst die Arme – diese Arme! – die<br />

konnten sich sehen lassen. Im Übrigen entging keinem der Gäste, wie<br />

die Mutter Gérard bedeutsame Blicke zuwarf und ihn nicht zufällig<br />

mit ihren Brüsten touchierte. Aber noch stärker beeindruckte alle der<br />

orientalisch gekleidete Vater. Die Freunde hielten ihn erst für einen Besucher,<br />

einen Guru oder Hypnotiseur, und einige fragten sich im Ernst,<br />

ob er wohl auf einem Nagelbett schliefe.<br />

Amrita waren die vornehmen Soireen der Mutter zuwider.<br />

Immerhin bemerkte sie eine erfreuliche Veränderung in deren Verhalten<br />

gegenüber den Hausangestellten. Bevor sie nach Paris gekommen seien,<br />

habe es sie immer tief verletzt, wie die Mutter mit den Bediensteten<br />

umgegangen sei, sagte Amrita. Sie habe sie ständig mit abschätzigen,<br />

2<br />

rüden Sprüchen eingedeckt. Jetzt sei die Mutter wie verwandelt, auf<br />

einmal raspele sie Süßholz!<br />

– Ich freue mich, dass du wieder ein Mensch geworden bist,<br />

sagte Amrita. Hoffentlich hält es an!<br />

Viel lieber, als zu Hause die artige Tochter zu spielen, besuchte<br />

Amrita ihre Kolleginnen und Kollegen in deren Ateliers. Dort hörten sie<br />

laut Musik, malten und diskutierten. Sie besprachen die Stellung des<br />

Künstlers in der Gesellschaft, das Verhältnis zur Bourgeoisie und das<br />

politische Bewusstsein im Allgemeinen. Abends, beim Ausschwärmen,<br />

praktizierten sie ihre Thesen. Sie kleideten sich auffällig, lachten übertrieben<br />

laut und nutzten jede Gelegenheit für eine Provokation. Das<br />

Leben war eine nie endende Geburtstagsfeier mit bunten Luftballons.<br />

So kam es ihnen vor.<br />

Amrita Sher-Gil: Schlaf (1933)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!