Herbst 2010
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Herbst 2010
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… Man hatte gelernt, sich zu vergnügen. Die Jungen tanzten Charleston<br />
und hörten Jazz, die Alten veranstalteten Kaffeekränzchen mit einem<br />
Radioapparat auf dem Tisch. Sie lauschten den neuesten Chansons und<br />
sangen mit. Vermögende Touristinnen folgten dem letzten Schrei der<br />
Mode und strömten nach Paris.<br />
Schönheit war das große Geschäft. Den klingenden Namen auf<br />
einem Parfümfläschchen ließ man sich einiges kosten. Salons versprachen,<br />
jeden Körperteil verschönern zu können. Spezialgeschäfte boten<br />
Maschinen mit Vibrationsbändern an, um Fettpolster wegzuschmelzen,<br />
wie es die Werbesprüche verhießen.<br />
Der Autoabsatz nahm rasant zu. Als Regel galt: Ein Auto hat<br />
teuer auszusehen und die Beifahrerin schön. Man fuhr gerne schnell.<br />
Alle hatten ständig ein bisschen zu wenig Zeit, denn es galt als schick,<br />
es eilig zu haben.<br />
Im Freundeskreis von Amrita und Indira besaß keiner ein<br />
Auto. Wenn die Freunde (…) aufs Land fuhren, nahmen sie den Bus.<br />
Meist verabredeten sie sich in einem Café in der Innenstadt und zogen<br />
von dort weiter in irgendein Bistro. Man lebte bei den Eltern, Geld hatte<br />
niemand. Trotzdem lebte man so, als hätte man es haufenweise.<br />
Die Liebesverhältnisse im Freundeskreis waren unübersichtlich<br />
und flatterhaft. Wer mit wem und seit wann und wie denn, war ein<br />
ständiges Gesprächsthema. So viel stand fest: Gérard, einer von Amritas<br />
Malerkollegen, war in Indira verliebt. Er malte sie in ihrem Sari. Sie<br />
lud ihn mit einigen andern zu einer Veranstaltung ihrer Mutter ein.<br />
Eine eindrückliche Erscheinung, diese Mutter! Elegant war<br />
sie, üppig, das Haar mit rötlichem Schimmer, die klaren Augen funkelnd,<br />
das Kleid schulterfrei. Und erst die Arme – diese Arme! – die<br />
konnten sich sehen lassen. Im Übrigen entging keinem der Gäste, wie<br />
die Mutter Gérard bedeutsame Blicke zuwarf und ihn nicht zufällig<br />
mit ihren Brüsten touchierte. Aber noch stärker beeindruckte alle der<br />
orientalisch gekleidete Vater. Die Freunde hielten ihn erst für einen Besucher,<br />
einen Guru oder Hypnotiseur, und einige fragten sich im Ernst,<br />
ob er wohl auf einem Nagelbett schliefe.<br />
Amrita waren die vornehmen Soireen der Mutter zuwider.<br />
Immerhin bemerkte sie eine erfreuliche Veränderung in deren Verhalten<br />
gegenüber den Hausangestellten. Bevor sie nach Paris gekommen seien,<br />
habe es sie immer tief verletzt, wie die Mutter mit den Bediensteten<br />
umgegangen sei, sagte Amrita. Sie habe sie ständig mit abschätzigen,<br />
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rüden Sprüchen eingedeckt. Jetzt sei die Mutter wie verwandelt, auf<br />
einmal raspele sie Süßholz!<br />
– Ich freue mich, dass du wieder ein Mensch geworden bist,<br />
sagte Amrita. Hoffentlich hält es an!<br />
Viel lieber, als zu Hause die artige Tochter zu spielen, besuchte<br />
Amrita ihre Kolleginnen und Kollegen in deren Ateliers. Dort hörten sie<br />
laut Musik, malten und diskutierten. Sie besprachen die Stellung des<br />
Künstlers in der Gesellschaft, das Verhältnis zur Bourgeoisie und das<br />
politische Bewusstsein im Allgemeinen. Abends, beim Ausschwärmen,<br />
praktizierten sie ihre Thesen. Sie kleideten sich auffällig, lachten übertrieben<br />
laut und nutzten jede Gelegenheit für eine Provokation. Das<br />
Leben war eine nie endende Geburtstagsfeier mit bunten Luftballons.<br />
So kam es ihnen vor.<br />
Amrita Sher-Gil: Schlaf (1933)