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Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht<br />

53. Band 3. Heft<br />

Abhandlungen<br />

Hans Michael Heinig, Professor in Göttingen,<br />

Ordnung der Freiheit – das Staatskirchenrecht vor neuen<br />

Herausforderungen ........................................ 235<br />

Fritz Anders, Präsident a.D. und Professor in Adlkofen:<br />

Natur, Sinn und Zweck sowie Anwendungsbereich des<br />

Spruchverfahrens gemäß §§ 18 ff. Disziplinargesetz der VELKD .... 255<br />

Philipp Lehmann, Rechtsreferendar in Braunschweig:<br />

Die Evangelische Kirche und der Marken-, Kennzeichen-<br />

und Namensschutz ........................................ 296<br />

Hendrik Munsonius, Kirchenrat in Göttingen:<br />

Die juristische Person des evangelischen Kirchenrechts ............ 318<br />

Berichte und kleine Beiträge<br />

Dr. Anne-Ruth Wellert, Kirchenrätin in Hannover,<br />

Hendrik Munsonius, Kirchenrat in Göttingen:<br />

Kirchenrechtslehrertagung 2008 ............................. 337<br />

Dr. Christoph Winzeler, Privatdozent in Basel:<br />

Ein Kirchenkonflikt in der katholischen Schweiz.<br />

Bemerkungen zum „Fall Röschenz“ . .......................... 341<br />

Rechtsprechung<br />

Kirchliches Vermögens- und Finanzrecht<br />

Gebührenerhebung<br />

BVerwG, Urteil vom 10.4.2008 – 7 C 47.07 – . .................. 352<br />

Literatur<br />

Slenczka, Notger: Der Tod Gottes und das Leben der Menschen.<br />

Referent: Axel von Campenhausen ........................... 357<br />

Strohm, Christoph / Freedman, Joseph S. / Selderhuis, Herman J.: Spät -<br />

humanismus und reformierte Konfession. Theologie, Jurisprudenz<br />

und Philosophie in Heidelberg an der Wende zum 17. Jahrhundert.<br />

Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe, Bd. 31.<br />

Referent: Arno Schilberg ................................... 359


Mosbacher, Wolfgang: Sonntagsschutz und Ladenschluß. Der<br />

verfassungsrechtliche Rahmen für den Ladenschluß an Sonn-<br />

und Feiertagen und seine subjektiv-rechtliche Dimension.<br />

Referent: Peter Unruh ..................................... 361<br />

Towfigh, Emanuel Vahid: Die rechtliche Verfassung von<br />

Religionsgemeinschaften. Eie Untersuchung am Beispiel der Bahai.<br />

Jus Ecclesiasticum, Bd. 80.<br />

Referent: Michael Droege .................................. 365<br />

Zimmermann, Andreas (Hg.): Religion und internationales Recht.<br />

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für<br />

Internationales Recht an der Universität Kiel, Bd. 159.<br />

Referentin: Anne-Ruth Wellert .............................. 367<br />

Mahlmann, Matthias / Rottleuthner, Hubert (Hg.): Ein neuer<br />

Kampf der Religionen? Staat, Recht und religiöse Toleranz.<br />

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie,<br />

Politik und Geistesgeschichte, Bd. 39.<br />

Referent: Hans-Tjabert Conring ............................. 369<br />

Günzel, Angelika: Religionsgemeinschaften in Israel. Jus ecclesiasticum,<br />

Bd. 77.<br />

Referent: Christoph A. Stumpf .............................. 370<br />

Otto, Lieselotte: Handbuch der Stiftungspraxis. Stiftungsrecht,<br />

Steuerrecht und Rechnungslegung bei Stiftungen.<br />

Referent: Burghard Winkel ................................. 373


abhandlungen<br />

Ordnung der Freiheit –<br />

das Staatskirchenrecht vor neuen herausforderungen*<br />

Hans Michael Heinig<br />

I.<br />

Zäsuren einer Institution im Spiegel sich wandelnder<br />

gesellschaftlicher Verhältnisse: 1945–1969–2008<br />

Zwei leiter standen dem Kirchenrechtlichen Institut der eKd bisher vor:<br />

ab 1945 Rudolf Smend und ab 1969 Axel von Campenhausen. 1 nun also<br />

der zweite Wechsel. 1945–1969–2008: Zäsuren in der Chronik einer Forschungseinrichtung.<br />

Wie in einem brennglas bündelt sich in diesen Zahlen<br />

aber auch der durchgreifende soziale Wandel, den die gesellschaft seit der<br />

gründung des Instituts erlebt hat. dieser Wandel ließ Kirche und Religion<br />

nicht unberührt.<br />

als der Rat der eKd im dezember 1945, also auf einer seiner ersten<br />

Sitzungen überhaupt, die theologisch-juristische untersuchungsstelle in<br />

göttingen unter der leitung Smends ins leben rief, 2 stand man noch ganz<br />

unter dem eindruck der nationalsozialistischen barbarei und des Kirchenkampfes.<br />

die beiden großen Kirchen hatten die nazidiktatur im gegensatz<br />

zu fast allen anderen gesellschaftlichen Institutionen organisatorisch – als<br />

Volkskirchen – und moralisch relativ unbeschadet überstanden. In der<br />

nachkriegsgesellschaft konnten sie deshalb zunächst eine große Prägekraft<br />

* antrittsvorlesung, gehalten am 29. Mai 2008 im Rahmen der Feier zur errichtung<br />

und besetzung der Stiftungsprofessur für Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt im<br />

Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Juristischen Fakultät der georg-august-universität<br />

göttingen sowie zur Übergabe der leitung des Kirchenrechtlichen Instituts der<br />

eKd. der Vortragscharakter wurde beibehalten.<br />

1 Zur geschichte des Kirchenrechtlichen Instituts näher A. von Campenhausen,<br />

bemerkungen zum Kirchenrechtlichen Institut der evangelischen Kirche in deutschland,<br />

in: Festschrift für J. listl, 1999, S. 1087 ff.<br />

2 dokumentiert in: C. nicolaisen / n. a. Schulze (hrsg.), Protokolle des Rates der<br />

evangelischen Kirche in deutschland, bd. 1, 1945/1946, 1995, S. 122.<br />

Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, band 53 (2008) S. 235–254<br />

© <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> – ISSn 0044–2690


236 Hans Michael Heinig<br />

ZevKR<br />

entfalten. dies bestimmte Theorie und Praxis des Staatskirchenrechts 3 und<br />

damit die arbeit des Kirchenrechtlichen Instituts. 4<br />

Im Jahr 1969 hatte sich diese ausgangslage schon erheblich verändert. 5<br />

der bundesrepublikanische Wohlfahrtsstaat hatte sich als Wohlstandsstaat<br />

etabliert; 6 demokratie und Rechtsstaat wurden zu Selbstverständlichkeiten.<br />

Zugleich nahmen die kulturellen Konflikte und damit die in das Rechtssystem<br />

hineingetragenen Religionskonflikte erkennbar zu. das bundesverfassungsgericht<br />

trat nun mit einer ganzen Reihe von leitentscheidungen<br />

in erscheinung, die bis heute unser Verständnis des Staatskirchenrechts<br />

prägen. 7 dabei verliefen die Konfliktlinien in der Regel noch entlang der<br />

unterscheidung zwischen einer überwiegenden christlichen Mehrheit und<br />

einer numerisch noch kleinen, aber kulturell einflussreichen, ex negativo<br />

sich als dezidiert nichtchristlich definierenden Minderheit. neuere religiöse<br />

bewegungen, also etwa sogenannte Jugendreligionen, wurden zu einem<br />

gesamtgesellschaftlich wahrgenommenen Phänomen. Immer mehr Menschen<br />

traten zugleich aus der Kirche aus.<br />

heute, im Jahr 2008, ist der in den 1970er Jahren nur ansatzweise<br />

erkennbare „Strukturwandel“ der Religion weitgehend vollzogen. Religionssoziologen<br />

sprechen von Prozessen der Individualisierung, der Pluralisierung<br />

und der Säkularisierung, die auf die religiöse landschaft eingewirkt<br />

haben. 8 die ursachen für diese Prozesse sind vielfältig. Sie reichen von<br />

Migrationsbewegungen bis zu den religionsfeindlichen Sozialisationsbedingungen<br />

in der ddR-diktatur. Seit neuerem wird der Individualsierung, Plu-<br />

3 Z.b. in Form der Koordinationslehre als Referenz für die praktische und wissenschaftliche<br />

arbeit mit dem Staatskirchenrecht unmittelbar nach 1945; vgl. K. Hesse,<br />

Schematische Parität der Religionsgesellschaften nach dem bonner grundgesetz?,<br />

ZevKR 3 (1953/54) S. 188 (190); ders., der Rechtsschutz durch staatliche gerichte im<br />

kirchlichen bereich, 1956, S. 48 ff., 60 ff.; W. Weber, die gegenwartslage des Staatskirchenrechts,<br />

in: VVdStRl 11 (1954), S. 153 (176) = ders., Staat und Kirche in der<br />

gegenwart, 1978, S. 163 (186); H. Peters, die gegenwartslage des Staatskirchenrechts,<br />

in: VVdStRl 11 (1954), S. 177 ff.; P. Mikat, Kirchen und Religionsgemeinschaften,<br />

in: K.a. bettermann / h. C. nipperdey / u. Scheuner (hrsg.), die grundrechte, bd.<br />

IV/1, 1960, S. 111 (145) = ders., Religionsrechtliche Schriften, 1974, bd. 2, S. 29 (63);<br />

im Überblick M. Germann, art. Koordinationslehre, in: Rgg, bd. 4, 4. aufl. 2001,<br />

Sp. 1668.<br />

4 A. von Campenhausen / P. von Tiling (hrsg.), Kirchenrechtliche gutachten in den<br />

Jahren 1946–1969, 1972.<br />

5 Vgl. aus der jüngsten literatur zur damaligen Zeit nur G. Aly, unser Kampf, 2008;<br />

W. Kraushaar, acht und sechzig. eine bilanz, 2008.<br />

6 Vgl. zum Wechselspiel aus Wohlfahrts- und Wohlstandsstaat H. F. Zacher, das<br />

soziale Staatsziel, in: J. Isensee / P. Kirchhof (hrsg.), handbuch des Staatsrechts, bd. 2,<br />

3. aufl. 2004, S. 659 (661 ff.); ders., die dilemmata des Wohlfahrtsstaates, in: Stimmen<br />

der Zeit 2001, 363 (373).<br />

7 Vgl. für die Zeit zwischen 1966 und 1976 nur bVerfge 19, 129 ff.; 19, 206 ff.; 19,<br />

242 ff.; 19, 248 ff.; 19, 253 ff.; 19, 268 ff.; 19, 282 ff.;19, 288 ff.; 20, 40 ff.; 24, 236 ff.;<br />

30, 112 ff.; 30, 415 ff.; 33, 23 ff.<br />

8 Siehe im Überblick etwa V. Krech, Religionssoziologie, 1999, S. 61 ff. mit weit.<br />

nachw.


53 (2008) Ordnung der Freiheit<br />

ralisierung und Säkularisierung der Religion zugleich der befund einer wie<br />

auch immer zu deutenden Rückkehr der Religion zur Seite gestellt. 9 Religion<br />

ist und bleibt ein Thema. Immerhin zwei drittel der bevölkerung gehören<br />

immer noch einer der beiden großen christlichen Kirchen an; zugleich<br />

hat die religiöse Vielfalt, ablesbar an der Zahl der vertretenen religiösen<br />

Strömungen und an der Zahl ihrer anhänger, signifikant zugenommen. 10<br />

die mit abstand größte Minderheit bilden dabei die unterschiedlichen islamischen<br />

Religionsschulen. diese Minderheit unterliegt zudem seit dem 11.<br />

September 2001 einem erkennbar gewandelten Selbstverständnis und einer<br />

veränderten Fremdwahrnehmung. Zunehmend ersetzt Religionszugehörigkeit<br />

die ethnie. Wer früher „Türke“ war, ist nun „Muslim“.<br />

II.<br />

Zur Gegenwartslage:<br />

Verlust staatskirchenrechtlicher Selbstverständlichkeiten<br />

237<br />

der skizzierte Strukturwandel der Religion hat im deutschen Staatskirchenrecht<br />

seine Spuren hinterlassen. 11 Zwar ist der normbestand auf der<br />

ebene des Verfassungsrechts unverändert geblieben. aber das Verständnis<br />

dieser normen hat sich verschoben. bisher diente die in der wechselseitigen,<br />

kooperativen Zuwendung zum ausdruck kommende Idee gleicher<br />

Freiheit für und Förderung von Religionsgemeinschaften als orientierender<br />

horizont für die Verfassungsauslegung und Verfassungsanwendung. 12 doch<br />

9 Vgl. F. W. Graf, die Wiederkehr der götter, 2004; U. H. J. Körtner, Wiederkehr<br />

der Religion?, 2006; G. Küenzlen, die Wiederkehr der Religion, 2003; J. H. Claussen,<br />

Zurück zur Religion, 2006; einflussreich in diesem Zusammenhang ist die Rede von<br />

der „postsäkularen“ gesellschaft bei J. Habermas, glauben und Wissen, 2001, S. 12 ff.;<br />

ders., Vorpolitische grundlagen des demokratischen Rechtsstaates, in: ders. / J. Ratzinger,<br />

dialektik der Säkularisierung, 2005, S. 15 ff.; einen differenzierten umgang<br />

mit den Schlagworten der Säkularisierung und Individualisierung mahnen D. Pollack,<br />

Säkularisierung – ein moderner Mythos, 2003; W. Huber, Kirche und Verfassungsordnung,<br />

in: essener gespräche zum Thema Staat und Kirche 42 (2008), S. 7 (8 f.);<br />

H. Joas, Religion postsäkular, in: ders., braucht der Mensch Religion, 2004, S. 122 ff.<br />

an; Kritik an der Säkularisierungsthese bei J. Casanova, Public Religion in the Modern<br />

World, 1994; eine Verteidigung hingegen bei P. Norris / R. Inglehart, Sacred and Secular.<br />

Religion and Politics Worldwide, 2004. ausgreifend zum Thema nun C. Taylor, a<br />

Secular age, 2007.<br />

10 Siehe V. Krech, Kleine Religionsgemeinschaften in deutschland – eine religionssoziologische<br />

bestandsaufnahme, in: h. lehmann (hrsg.), Religiöser Pluralismus<br />

im vereinten europa, 2005, S. 116 ff.; genauere Zahlen unter http: / /www.remid.de /<br />

remid_info_zahlen.htm (Stand 03. Juni 2008).<br />

11 Ähnliche diagnose bei C. Waldhoff, die Zukunft des Staatskirchenrechts, in:<br />

essener gespräche zum Thema Staat und Kirche 42 (2008), S. 55 (65 ff.).<br />

12 noch ganz von diesen grundannahmen geprägt etwa A. von Campenhausen,<br />

Staatskirchenrecht, 3. aufl. 1996; J. Listl / D. Pirson (hrsg.), handbuch des Staatskirchenrechts<br />

der bundesrepublik deutschland, 2 bde., 1994/1995; die staatliche Förderung<br />

von gesellschaft und Kirche, essener gespräche zum Thema Staat und Kirche


238 Hans Michael Heinig<br />

ZevKR<br />

inzwischen hat sich manch ehedem selbstverständliche Perspektive auf die<br />

Religionsfreiheit, auf das gebot religiöser gleichbehandlung und auf die<br />

institutionellen gewährleistungen der Verfassung verschoben, freilich ohne<br />

dass sich mittlerweile eine neue Zentralperspektive gefunden hätte. So ist<br />

der Verlust staatskirchenrechtlicher Selbstverständlichkeiten quer durch alle<br />

an der Materie interessierten Kreise zum Signum unserer Zeit geworden.<br />

hierzu einige Illustrationen.<br />

1. Religionsfreiheit unter Druck<br />

besonders deutlich zeigt sich der eindruck, den die religionssoziologischen<br />

Veränderungen im deutschen Staatskirchenrecht hinterlassen, am<br />

beispiel des grundrechts auf Religionsfreiheit. art. 4 abs. 1 und 2 gg<br />

garantieren die Freiheit des glaubens, des bekenntnisses und der Religionsausübung.<br />

lange Zeit war nahezu unstreitig, dass diese bestimmungen<br />

denkbar weit zu verstehen sind als ein einheitliches grundrecht auf Religionsfreiheit,<br />

das auch das Recht umfasst, sein gesamtes Verhalten an den<br />

lehren seines glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu<br />

handeln. 13 diese Form religiöser Handlungsfreiheit sollte auch nicht unter<br />

einem gesetzesvorbehalt stehen, also unter dem Vorbehalt staatlicher eingriffsmöglichkeiten<br />

durch oder aufgrund eines gesetzes zur Verfolgung<br />

beliebiger politischer Zwecke, so weite Teile der literatur in Übereinstimmung<br />

mit dem bundesverfassungsgericht. 14<br />

dieser magnus consensus des deutschen Staatskirchenrechts löst sich<br />

ab Mitte der 1990er Jahre auf. Immer mehr Stimmen fordern, den Schutzbereich<br />

des art. 4 abs. 1 und 2 gg deutlich restriktiver zu verstehen. die<br />

einzelnen Tatbestandsmerkmale glaube, bekenntnis und Religionsaus-<br />

28 (1994); W. Kewenig, das grundgesetz und die staatliche Förderung der Religionsgemeinschaften,<br />

in: P. Mikat (hrsg.), Kirche und Staat in der neueren entwicklung,<br />

1980, S. 139 ff.; aus früherer Zeit klassisch M. Heckel, die Kirchen unter dem grundgesetz,<br />

VVdStRl 26 (1969), S. 5 ff.; A. Hollerbach, die Kirchen unter dem grundgesetz,<br />

VVdStRl 26 (1968), S. 57 ff.<br />

13 bVerfge 32, 98 (106); 33, 23 (28); 41, 19 (49); W. Hassemer / D. Hömig, Rechtsprechung<br />

der Verfassungsgerichte im bereich der bekenntnisfreiheit – länderbericht<br />

deutschland, in: eugRZ 1999, 525 ff.; M. Heckel, Religionsfreiheit. eine säkulare<br />

Verfassungsgarantie, in: ders., gesammelte Schriften, bd. 4, 1997, S. 647 (674 ff.); M.<br />

Morlok, in: h. dreier (hrsg.), gg, bd. 1, 2. aufl. 2004, art. 4 Rdnr. 79 f.; C. Starck,<br />

in: von Mangoldt / Klein / Starck, gg, bd. 1, 5. aufl. 2005, art. 4 Rdnr. 37; U. Mager,<br />

in: von Münch / Kunig, gg, bd. 1, 5. aufl. 2001, art. 4 Rdnr. 17.<br />

14 bVerfge 33, 23 (30 f.); J. Winter, Staatskirchenrecht der bundesrepublik deutschland,<br />

2001, S. 73 ff.; K. D. Bayer, das grundrecht der Religions- und gewissensfreiheit,<br />

1997, S. 66 ff.; G. Neureither, Recht und Freiheit im Staatskirchenrecht, 2002,<br />

S. 135 ff.; H. M. Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 132 ff.;<br />

ders. / M. Morlok, Von Schafen und Kopftüchern, in: JZ 2003, 777 ff.; S. Korioth, in:<br />

Maunz / dürig, grundgesetz (Stand: 2003), art. 140 gg / art. 136 WRV Rdnr. 54 mit<br />

weit. nachw.


53 (2008) Ordnung der Freiheit<br />

übung seien isoliert zu betrachten und die Religionsausübung auf eine art<br />

Kultusfreiheit zu beschränken. 15 außerdem bedürfe die Religionsfreiheit<br />

unter den bedingungen höherer religiöser Pluralität nun eines gesetzesvorbehaltes.<br />

da art. 4 gg einen solchen Vorbehalt, anders als die entsprechende<br />

Weimarer bestimmung, nicht kennt, weicht man zur Konstruktion<br />

eines solchen Vorbehaltes auf eine der durch art. 140 gg in die Verfassung<br />

inkorporierten Weimarer normen aus, nämlich auf art. 136 abs. 1 WRV.<br />

dieser sei nicht nur als besondere ausprägung des Verbots religiöser diskriminierung<br />

zu verstehen, sondern binde zugleich ungeachtet der Religionsfreiheit<br />

an die allgemeinen Staatsgesetze und fungiere damit wie ein<br />

gesetzesvorbehalt. 16<br />

der Verlust staatskirchenrechtlicher Selbstverständlichkeiten betrifft<br />

aber nicht nur die Individualgarantie religiöser Freiheit, sondern auch die<br />

bestimmung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirchen resp. Religionsgemeinschaften<br />

sowie das Verständnis derjenigen bestimmungen, die über<br />

die Religionsfreiheit im engeren Sinne hinaus den bereich der Religion<br />

betreffen.<br />

2. Laizisierungstendenzen<br />

239<br />

So mehren sich im politischen wie im rechtswissenschaftlichen Raum<br />

diejenigen, die fragen, ob deutschland nicht unter den bedingungen eines<br />

forcierten religiösen Pluralismus laizistischer werden müsse. 17 um Reli-<br />

15 K.-H. Kästner, hypertrophie des grundrechts auf Religionsfreiheit?, in: JZ 1998,<br />

974 (980); J. Hellermann, Multikulturalität und grundrechte – am beispiel der Religionsfreiheit,<br />

in: C. grabenwarter u.a. (hrsg.), allgemeinheit der grundrechte und<br />

Vielfalt der gesellschaft, 1994 S. 129 (137 f.); S. Huster, die ethische neutralität des<br />

Staates, 2002, S. 381 f.; N. Janz / S. Rademacher, Islam und Religionsfreiheit, in: nVwZ<br />

1999, 706 (710).<br />

16 So C. Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, gg I, 5. aufl. 2005, art. 4 Rdnr.<br />

87 ff.; D. Ehlers, in: Sachs, gg, 4. aufl. 2007, art. 140 Rdnr. 4; M. Heckel, Religionsfreiheit<br />

(o. Fußn. 13), S. 647 ff.; ders., Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der<br />

Rechtsprechung des bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift 50 Jahre bundesverfassungsgericht,<br />

2001, bd. 2, S. 379, 408 Fußn. 102; bVerwge 112, 227 (231 f.); S. Mukkel,<br />

Religiöse Freiheit und staatliche letztentscheidung, 1997, S. 224 ff.; W. Bock, die<br />

Religionsfreiheit zwischen Skylla und Charybdis, in: aöR 123 (1998) S. 444 (469 ff.);<br />

Kästner, hypertrophie (o. Fußn. 15), S. 981 f.; F. Schoch, die grundrechtsdogmatik vor<br />

den herausforderungen einer multikonfessionellen gesellschaft, in: Festschrift für a.<br />

hollerbach, 2001, S. 149 (163 ff); anders bVerfge 33, 23 (30 f.) – st. Rspr.; zum ganzen<br />

H. Maurer, die Schranken der Religionsfreiheit, ZevKR 49 (2004) S. 311 ff. mit<br />

weit. nachw.; für die einführung eines gesetzesvorbehaltes im Wege der Verfassungsänderung<br />

zudem O. Lepsius, die Religionsfreiheit als Minderheitenrecht in deutschland,<br />

Frankreich und den uSa, in: leviathan 34 (2006), 321 (330). M. Borowski, die<br />

glaubens- und gewissensfreiheit des grundgesetzes, 2006, S. 505 ff. will art. 4 abs. 1<br />

und 2 gg unter einem ungeschriebenen gesetzesvorbehalt sehen.<br />

17 Z.b. J. Neumann, Staat und Kirchen in verfassungsrechtlichen Texten der europäischen<br />

union und ihrer Mitgliedstaaten, in: d. Fauth / e. Satter (hrsg.), Staat und<br />

Kirche im werdenden europa, 2003, S. 39 (65); Tendenzen dazu auch bei B. Zypries,


240 Hans Michael Heinig<br />

ZevKR<br />

gionskonflikte zu sistieren und auf dauer den religiösen Frieden sichern<br />

zu können, wollen diese Stimmen Religion aus dem staatlich verfassten<br />

bereich des Öffentlichen verdrängen. das bundesverfassungsgericht gibt<br />

dem verfassungsrechtlich Raum, wenn es in seiner entscheidung zum Kopftuch<br />

der lehrerin ausdrücklich hervorhebt, dass neben der großzügigen<br />

Zulassung auch die vollständige Verdrängung religiöser Symbole eine verfassungsrechtlich<br />

zulässige handlungsoption darstelle. 18 etliche länder<br />

nehmen diesen Faden auf und legen ihren Staatsdienern ein Totalverbot<br />

symbolischer glaubensbekundungen und religiös motivierter Kleidungspraktiken<br />

auf. 19<br />

doch die Tendenzen zu einer laizisierung des Verhältnisses von Staat<br />

und Religionsgesellschaften gehen über das leidige Kopftuch hinaus. am<br />

klarsten sind sie wohl in berlin erkennbar, wo die Religionspolitik des rotroten<br />

Senates kulturkämpferische Züge annimmt. 20 die lange Tradition der<br />

deutschen staatskirchenrechtlichen Praxis, 21 die zwischen laizismus auf der<br />

einen Seite und Staatskirche auf der anderen Seite angesiedelt ist, 22 scheint<br />

hier allenfalls noch schemenhaft durch.<br />

3. Transformationen durch das Europarecht<br />

Zum Verlust staatskirchenrechtlicher Selbstverständlichkeiten hat<br />

schließlich aber auch der zunehmende einfluss des europarechts beigetragen.<br />

die europäische union hat zwar kaum religionsrechtliche Kompetenzen.<br />

23 doch gehen mit dem europarecht mittelbare Folgewirkungen<br />

5. berliner Rede zur Religionspolitik, http://www.bmj.bund.de (Stand 3. Juni 2008);<br />

zur debatte mit weit. nachw. S. Mückl, Trennung und Kooperation – das gegenwärtige<br />

Staat-Kirche-Verhältnis in der bundesrepublik deutschland, in: essener gespräche zum<br />

Thema Staat und Kirche 40 (2007), S. 41 (73 ff.).<br />

18 bVerfge 108, 282 ff.; zu der kaum noch zu überblickenden literatur zum Thema<br />

siehe nur die nachweise bei A. von Campenhausen / H. de Wall, Staatskirchenrecht,<br />

4. aufl. 2006, S. 72 f. (Fn. 117).<br />

19 von Campenhausen / de Wall, (o. Fußn. 18), S. 73 Fußn. 119.<br />

20 beispiele bilden die Schulpolitik (gezielte Verdrängung des Religionsunterrichts<br />

und unzureichende Förderung konfessioneller Privatschulen trotz großen bedarfs seitens<br />

der eltern und Schüler), der ausgehöhlte Sonn- und Feiertagsschutz, aber auch die<br />

alltägliche Praxis im umgang mit den Kirchen sowie kirchlich gebundenen Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern in der Senatsverwaltung.<br />

21 H. Maier, Staat und Kirche in der bundesrepublik deutschland, in: J. listl / d.<br />

Pirson (hrsg.), handbuch des Staatskirchenrechts, bd. 1, 1994, S. 85 ff.<br />

22 Zu dieser Modellbildung von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht (o.<br />

Fußn. 18), S. 338 ff.; S. Mückl, europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 59 ff.;<br />

G. Robbers, Staat und Kirche in der europäischen union, in: ders. (hrsg.), Staat und<br />

Kirche in der europäischen union, 2. aufl. 2005, S. 629 (630). Weitere ausdifferenzierungen<br />

bei W. Brugger, Varianten der unterscheidung von Staat und Kirche: Von<br />

strikter Trennung und distanz über gegenseitiges entgegenkommen bis zu nähe,<br />

unterstützung und Kooperation, in: aöR 132 (2007), 4 ff.<br />

23 H. M. Heinig, die Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der<br />

europäischen Rechtsordnung, in: P.-C. Müller-graff / h. Schneider (hrsg.), Kirchen


53 (2008) Ordnung der Freiheit<br />

auf die Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten<br />

einher – Folgewirkungen, die ihrerseits nach einer einhegung zum Schutz<br />

legitimer religiöser Interessen verlangen. 24 gewährt wird dieser Schutz in<br />

neuen Mischverhältnissen teils grundrechtlich, teils organisationsrechtlich,<br />

zudem teils gemeinschaftsrechtlich, teils staatsrechtlich, also jedenfalls in<br />

neuen, dem traditionellen Staatskirchenrecht unbekannten Formationen<br />

des Mehrebenenrechts. 25 und der Schutz deckt sich nicht ohne weiteres mit<br />

dem in deutschland bis dato bekannten niveau.<br />

In der Zusammenschau ergibt sich ein durchaus diffuses bild. der Strukturwandel<br />

der Religion setzt Theorie und Praxis des Staatskirchenrechts<br />

unter erheblichen druck. diese Pression kann à la longue zu tektonischen<br />

Verschiebungen im staatskirchenrechtlichen System führen. Möglicherweise<br />

heben sich die einwirkenden Kräfte aber auch gegenseitig auf. augenblicklich<br />

stehen wir wohl mitten in einer Phase, in der das gesamte Staatskirchenrecht<br />

unterhalb der ebene formeller Verfassungsänderungen noch<br />

einmal neu vermessen wird. es fragt sich nur, an welchem Maßstab. denn<br />

je nach Maß fällt das bild, das sich nach der neukarthographierung einstellt,<br />

anders aus.<br />

III.<br />

Zwei Alternativen zur Tradition:<br />

Hierarchisierung und Distanzierung<br />

241<br />

Zu den fragil gewordenen staatskirchenrechtlichen Selbstverständlichkeiten<br />

zeichnen sich gegenwärtig zwei alternativen ab, die gegensätzlicher<br />

nicht sein könnten. Setzen die einen auf verfassungsgebotene hierarchisierung<br />

unterschiedlicher Religionen und Religionskulturen, betonen die<br />

anderen die bedeutung staatsbürgerlicher allgemeinheit, die auch religionspolitisch<br />

auszumünzen sei. die erste alternative könnte man Hierarchisierungsmodell,<br />

die zweite alternative Distanzierungsmodell nennen.<br />

und Religionsgemeinschaften in der europäischen union, 2003, S. 126 (127); Mückl,<br />

europäisierung (o. Fußn. 22), S. 411.<br />

24 H. de Wall, neue entwicklungen im europäischen Staatskirchenrecht, in: ZevKR<br />

47 (2002) S. 205 (207); H. Weber, die individuelle und kollektive Religionsfreiheit<br />

im europäischen Recht, einschließlich ihres Rechtsschutzes, ebenda, 221 (222, 229);<br />

M. Söbbeke-Krajewski, der religionsrechtliche acquis Communautaire der europäischen<br />

union, 2006, S. 41 ff.<br />

25 H. M. Heinig, art. 13 egV und die korporative Religionsfreiheit nach dem<br />

grundgesetz, in: a. haratsch u.a. (hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen<br />

Staat, 2001, S. 215 (244 ff.); ders., Religionsgesellschaften (o. Fußn. 14), S. 405 ff.;<br />

ders., das deutsche Staatskirchen- und Religionsrecht im europäischen Rechtsverbund,<br />

in: Theologische literaturzeitung 2007, 123 ff.


242 Hans Michael Heinig<br />

ZevKR<br />

hierarchisierungsmodelle unterschiedlicher Provenienz haben in den<br />

letzten Jahren z.b. Paul Kirchhof, 26 Arnd Uhle, 27 Christian Hillgruber 28<br />

oder Karl-Heinz Ladeur und Ino Augsberg 29 vorgelegt. alle genannten<br />

betonen, dass das bisherige staatskirchenrechtliche Regime von bestimmten<br />

religionskulturellen Voraussetzungen ausgeht, die nicht mehr selbstverständlich<br />

gegeben seien. Wer an der staatskirchenrechtlichen Förderung<br />

teilhaben wolle, müsse einen in der Verfassung unbenannt gebliebenen,<br />

aber doch „selbstverständlichen“ beitrag zu den geltungs- und Realisierungsbedingungen<br />

der freiheitlichen Verfassungsordnung erbringen. 30<br />

nur wer diesen beitrag leiste, könne an den spezifischen garantien des<br />

Staatskirchenrechts teilhaben. Folglich dürfe und müsse man gemäß dem<br />

unterschiedlichen beitrag der Religionen zu einem freien gemeinwesen<br />

differenzieren, so etwa Paul Kirchhof. 31 Zu ähnlichen ergebnissen unter<br />

anderen – systemtheoretischen – grundannahmen kommen auch Ladeur<br />

und Augsberg. Sie stellen den soziologischen befund von der funktionalen<br />

ausdifferenzierung moderner gesellschaften normativ. Religionen, die die<br />

systemische Verselbständigung von Recht, Politik und Religion zu unterlaufen<br />

drohen, kämen nur in einen eingeschränkten genuss der Religionsfreiheit.<br />

Ladeur und Augsberg postulieren zudem, wie Kirchhof, dass von<br />

Religionen in Kooperationsverhältnissen mit dem Staat rechtlich ein „produktiver<br />

beitrag zur Wahrnehmung der staatlichen aufgaben“ erwartet<br />

wird. 32 Sie sprengen damit das berühmte Böckenförde-diktum, dass der<br />

freiheitliche säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht<br />

garantieren kann, 33 gleichsam von innen auf. denn durch die selektive<br />

26 P. Kirchhof, die Freiheit der Religionen und ihr unterschiedlicher beitrag zu<br />

einem freien gemeinwesen, in: essener gespräche zum Thema Staat und Kirche 39<br />

(2005), S. 105 ff.<br />

27 A. Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004; ders., Freiheitlicher Verfassungsstaat und<br />

kulturelle Identität, 2004; ders., die Integration des Islam in das Staatskirchenrecht<br />

der gegenwart, in: h. M. heinig / C. Walter (hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?,<br />

2007, S. 299 ff.; ders., ein „rätselhafter“ ehrentitel?, der Körperschaftsstatus<br />

für Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Festschrift für J. Isensee,<br />

2007, S. 1033 ff.<br />

28 C. Hillgruber, Staat und Religion, in: dVbl 1999, 1155 ff.; ders., der Körperschaftsstatus<br />

von Religionsgemeinschaften, in: nVwZ 2001, 1347 ff.; ders., der öffentlich-rechtliche<br />

Körperschaftsstatus nach art. 137 abs. 5 WRV, in: h. M. heinig / C.<br />

Walter (hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, 2007, S. 213 ff.<br />

29 K.-H. Ladeur / I. Augsberg, Toleranz – Religion – Recht, 2007; dies., der Mythos<br />

vom neutralen Staat, in: JZ 2007, 12 ff.<br />

30 Uhle, Staat (o. Fußn. 27), S. 131 ff.<br />

31 Kirchhof, Freiheit (o. Fußn. 26). Ähnlich A. Heusch, ein disput: Zum Verhältnis<br />

von Staat und Religion, in: h. gröhe / C. Kannengießer (hrsg.), Wertentscheidungen<br />

als grundlage der Rechtsordnung, 2007, S. 43 ff.; J. Isensee, diskussionsbeitrag, in:<br />

essener zum Thema Staat und Kirche 39 (2005), S. 136 ff.<br />

32 Ladeur / Augsberg, Toleranz (o. Fußn. 29), S. 85.<br />

33 E.-W. Böckenförde, die entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation<br />

(1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 (112); aus jüngster Zeit erneut zum


53 (2008) Ordnung der Freiheit<br />

243<br />

Förderung der Religionen könne der Staat durchaus seine eigenen Voraussetzungen,<br />

wenn schon nicht garantieren, so doch zumindest maßgeblich<br />

mit beeinflussen. 34<br />

die unterscheidung zwischen staatkirchenrechtlich zu bevorzugenden<br />

und anderen Religionen wird gemeinhin mit einem Säkularisierungstheorem<br />

verbunden. dieses Theorem geht davon aus, dass die beiden großen<br />

christlichen Kirchen den postulierten anforderungen an Religionsgemeinschaften<br />

als gemeinwohlproduzenten und gemeinsinnagenturen von vorneherein<br />

genügen, weil die moderne politische Theorie des demokratischen<br />

Verfassungsstaates „geronnene christliche Kultur“ 35 ist und der säkulare<br />

Staat gleichsam in seiner Säkularität per se auf eine christliche einbettung<br />

angewiesen ist. 36<br />

Ob auch andere Religionsgemeinschaften zur Sicherung der kulturellen<br />

Identität des Verfassungsstaates etwas beitragen können, erscheint aus der<br />

Perspektive des hierarchisierungsmodells hingegen zweifelhaft. Schon das<br />

Judentum wird allenfalls über den bindestrich des „jüdisch-christlichen<br />

erbes“ wahrgenommen 37 und neue oder dem hiesigen Kulturkreis lange<br />

Zeit fremde Religionen müssen als berechtigte der für das grundgesetz charakteristischen<br />

Instrumente des Staatskirchenrechts konsequenterweise ausscheiden,<br />

weil sie zum auseinandertreten von säkularem Staat und Kirchen<br />

aus dem orbus christianus nichts beigetragen haben. Josef Isensee benennt<br />

diese Konsequenz in dankenswerter Klarheit: Religionsfreiheit sichert den<br />

Menschenrechtsschutz für jedermann, während die sonstigen autochthonen<br />

Freiheiten und Förderungen eben nur auf die beiden großen Kirchen zugeschnitten<br />

sind. 38<br />

diametral entgegengesetzt zu solchen Überlegungen stehen Modelle, die<br />

unter Rückgriff auf ein modifiziertes neutralitätsverständnis die grund-<br />

Thema ders., der säkularisierte Staat, 2007, S. 11 ff.; zum böckenförde-diktum näher<br />

Heinig, Religionsgesellschaften (o. Fußn. 14), S. 39 ff.<br />

34 So etwa Heusch, disput (o. Fußn. 31) unter Verweis auf Kirchhof, Freiheit (o.<br />

Fußn. 26).<br />

35 Waldhoff, Zukunft (o. Fußn. 11), S. 55 (65).<br />

36 Vgl. etwa J. Isensee, grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen<br />

an die grundrechtsausübung, in: ders. / P. Kirchhof (hrsg.), handbuch des Staatsrechts,<br />

bd. 5, 2. aufl. 2000, § 115 Rdnr. 261; ders. Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen<br />

Staatskirchenrechts, in: Festschrift für J. listl, S. 67 (89 f.); Hillgruber, der öffentlich-rechtliche<br />

Körperschaftsstatus (o. Fußn. 28), S. 221 f.; zur Problematik solcher<br />

normativ gewendeten Säkularisierungsvorstellungen H. M. Heinig, art. Säkularisierung,<br />

in: ev. Soziallexikon, neuausgabe, 2001, Sp. 1364 ff. aufschlussreich in diesem<br />

Zusammenhang H. Blumenberg / C. Schmitt, briefwechsel 1971–1978, hrsg. von a.<br />

Schmitz / M. lepper. 2007.<br />

37 beredtes Schweigen etwa im Sachregister bei Uhle, Verfassungsstaat (o.<br />

Fußn. 27).<br />

38 J. Isensee, diskussionsbeitrag, in: essener gespräche zum Thema Staat und Kirche<br />

34 (2000), S. 146 f.


244 Hans Michael Heinig<br />

ZevKR<br />

koordinaten des Staatskirchenrechts in Richtung größerer distanzschaffung<br />

zwischen Staat und Religionsgemeinschaften verschoben wissen wollen.<br />

ansätze finden sich zunächst da, wo dem Verfassungsrecht de lege lata<br />

oder de lege ferenda ein Ideal strikter Ergebnisgleichheit eingezeichnet<br />

wird. 39 demnach sollen sämtliche Religionsgemeinschaften stets gleich zu<br />

behandeln sein. erfasst von diesem umfassenden Verbot religionsrechtlicher<br />

ungleichbehandlungen sollen auch solche effekte sein, die daraus entstehen,<br />

dass eine bestimmte Religionsgemeinschaft aus glaubensgründen<br />

größtmögliche distanz zum Staat wahren will und deshalb durch den Staat<br />

im Vergleich zu kooperationswilligeren Religionsgemeinschaften anders<br />

behandelt wird. die Religionsgemeinschaft mit der schwächsten Kooperationsbereitschaft<br />

würde dann das insgesamt zulässige Kooperationsniveau<br />

bestimmen. dies kann schon deshalb nicht sein, weil unter bedingungen der<br />

Freiheit gleiche Chancen zur Verwirklichung religiöser Interessen notwendig<br />

zu differenzierungen führen. ergebnisgleichheit kann per se nicht die<br />

Richtschnur eines freiheitlichen Religionsverfassungsrechts sein. 40<br />

eine neujustierung des Staatskirchenrechts zieht aber auch das von Stefan<br />

Huster vorgelegte, durch die politische Philosophie des liberalismus<br />

beeinflusste Modell der neutralität nach sich. 41 hier wird zunächst der<br />

einfluss der Religion auf die Politik streng begrenzt, um sodann den einfluss<br />

der Politik auf die entfaltung der Religion zu entgrenzen. das gebot<br />

der neutralität, so Huster, fordere vom Staat religiös-weltanschaulich neutrale<br />

Begründungen für sein handeln. die Wirkungen staatlichen handelns<br />

bräuchten nicht neutral zu sein. legt man das gebot der begründungsneutralität<br />

eng aus, filtert es jedwede religiöse Überzeugungen aus dem<br />

Prozess demokratischer Willensbildung heraus. Religion wird so aus dem<br />

espace public verdrängt. dieser religionsaverse effekt lässt sich im Rahmen<br />

des Husterschen Modells meines erachtens nur dadurch umgehen, dass<br />

staatliches handeln schlicht mit dem Willen der demokratischen Mehrheit<br />

begründet werden kann, selbst wenn dieser Wille auf religiösen Überzeugungen<br />

aufruht. 42 denn nur so könnten z.b. in Fragen der biopolitik die<br />

39 Tendenzen bei W. Weiß, gleichheit oder Privilegien?, in: KritV 83 (2000), 104 ff.;<br />

G. Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, S. 85 ff.<br />

40 Vgl. zur Kritik einer solchen Position Heinig, Religionsgesellschaften (o. Fußn.<br />

14), S. 197 ff.<br />

41 S. Huster, neutralität (o. Fußn. 15); ders., der grundsatz der religiös-weltanschaulichen<br />

neutralität des Staates, 2004; ders., die bedeutung des neutralitätsgebotes<br />

für die verfassungstheoretische und verfassungsrechtliche einordnung des<br />

Religionsrechts, in: h. M. heinig / C. Walter (hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?,<br />

2007, S. 107 ff.<br />

42 Zum demokratischen umgang mit starken religiösen Überzeugungen auch C.<br />

Möllers, demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2008; ders., Pluralität der Kulturen<br />

als herausforderung an das Verfassungsrecht?, in: h. dreier / e. hilgendorf (hrsg.),<br />

Kulturelle Identität als grund und grenze des Rechts, 2008, S. 223 ff.


53 (2008) Ordnung der Freiheit<br />

religiös imprägnierten ethischen Präferenzen einer Mehrheit auch politisch<br />

in Form bindender entscheidungen gesetz werden.<br />

anders stellen sich die Wirkungen des Modells auf das institutionelle<br />

arrangement von Staat und Religionsgemeinschaften dar. Zum<br />

Kanon staatkirchenrechtlicher Selbstverständlichkeiten gehört, dass das<br />

grundgesetz zumindest eine Regelvermutung zugunsten offen-kooperativer<br />

Zuwendungen von Staat und Religionsgemeinschaften kennt. 43 die<br />

Konzeption der begründungsneutralität hingegen ermöglicht einen sehr<br />

weitreichenden Spielraum für die einfachgesetzliche Implementierung eines<br />

distanzierten, Religion aus der staatlichen Sphäre abwehrenden neutralitätsverständnisses,<br />

gerade weil es auf die Wirkungen staatlichen handelns<br />

nicht ankommen soll. 44<br />

beide Modelle, hierarchisierung wie distanzierung, finden übrigens im<br />

eingangs skizzierten Versuch, eine restriktive dogmatik zu art. 4 gg zu<br />

etablieren, zusammen.<br />

IV.<br />

Ordnung der Freiheit. Freiheitsdienst der Religion oder<br />

Dienst der Freiheit an der Religion?<br />

245<br />

Ich muss gestehen, dass von beiden hier nur allzu schemenhaft skizzierten<br />

Modellen, das der hierarchisierung wie das der distanzierung, eine je eigene<br />

attraktivität ausgeht, die nicht zuletzt darin gründet, dass beide über das<br />

engere Feld des Staatskirchenrechts hinausweisen. distanzierungsmodelle<br />

gewinnen ihre wissenschaftliche Virilität, weil sie in anspruchsvoller Weise<br />

in der politischen Theorie verankert sind. und hierarchisierungsmodelle<br />

werfen die großen Fragen nach den kulturellen und gesellschaftlichen entstehungs-<br />

und Wirkungsbedingungen moderner Staatlichkeit noch einmal<br />

neu auf.<br />

beide Modelle vermögen also intellektuell zu faszinieren. den normativen<br />

Kern des Staatskirchenrechts verfehlen sie jedoch. denn im distanzierungsmodell<br />

werden die Spezifika des konkreten Verfassungsrechts zwischen den<br />

normativen grundannahmen liberaler politischer Philosophie und den normativ<br />

ungebundenen Prozessen demokratischer Mehrheitsentscheidungen<br />

zerrieben. und das hierarchisierungsmodell erliegt der gefahr, die unterschiede<br />

zwischen genese und geltung sowie „harten“ Verfassungsbestimmungen<br />

und „weichen“ Verfassungserwartungen zu verwischen. 45<br />

43 Vgl. etwa K. Schlaich, Radikale Trennung und Pluralismus, in: P. Mikat (hrsg.),<br />

Kirche und Staat in der neueren entwicklung, 1980, S. 427 ff.<br />

44 Huster, bedeutung (o. Fußn. 41), S. 116 ff.<br />

45 Ähnlich in der Kritik S. Korioth, loyalität im Staatskirchenrecht, geschriebene<br />

und ungeschriebene Voraussetzungen des Körperschaftsstatus nach art. 140 gg i.V.m.


246 Hans Michael Heinig<br />

ZevKR<br />

Infolgedessen wird in beiden Fällen verkannt, dass dem über die Religionsfreiheit<br />

im engeren Sinne hinausführenden, für das grundgesetz charakteristischen<br />

Religionsverfassungsrecht eine Freiheitskonzeption eingezeichnet<br />

ist, die im traditionellen Verständnis des Staatskirchenrechts im<br />

grunde ganz gut abgebildet wird. diese Freiheitskonzeption ist historisch<br />

gesättigt durch die erfahrungen der unterdrückung und Marginalisierung<br />

religiöser Minderheiten, aber auch des jahrhundertelangen Ringens beider<br />

Kirchen um unabhängigkeit bei der Verfolgung ihres religiösen auftrags.<br />

Verfassungstheoretisch ist diese Freiheitskonzeption eingestellt in über das<br />

Staatskirchenrecht hinausweisenden Modellen komplexer Freiheitsdimensionen,<br />

nach denen Freiheit im modernen Verfassungsstaat mehr bedeutet<br />

als die abwesenheit staatlichen Zwangs, weil sie auch elemente der Teilhabe<br />

und der Förderung umfasst. 46 da der Idee der Freiheit per se sowohl<br />

das Moment der egalität (in Form gleicher Freiheit) wie das Moment des<br />

Öffentlichen (in Form öffentlicher Freiheitsausübung, aber auch demokratischer<br />

Teilhabe an den öffentlichen angelegenheiten) eigen ist, erteilt das<br />

Staatskirchenrecht des grundgesetzes von der Freiheit her gedacht sowohl<br />

einer selektiven Indienstnahme der Religion zu staatlichen Zwecken (differenzierungsmodell)<br />

als auch einer Verdrängung der Religion aus der Sphäre<br />

des Öffentlichen (distanzierungsmodell) eine klare absage.<br />

das Staatskirchenrecht steht vielmehr im dienst der Freiheit an der Religion,<br />

weil nur so die Religion ihrerseits einen dienst an der Freiheit leisten<br />

kann. 47 diese in die Verfassung eingezeichnete dialektik hat Rudolf Smend<br />

1951 in seinem bahnbrechenden beitrag zu „Staat und Kirche nach dem<br />

bonner grundgesetz“ in aller Klarheit herausgearbeitet. 48 Mit der Wiederherstellung<br />

der Weimarer staatskirchenrechtlichen Ordnung, so Smend,<br />

reagiere das grundgesetz auf die Versuche des nationalsozialismus, auch<br />

die Kirchen zu seinen Zwecken zu instrumentalisieren, gleichzuschalten<br />

und damit zu pervertieren. 49 Von dieser erfahrung her müsse das mit dem<br />

art. 137 abs. 5 WRV, in: gedächtnisschrift für b. Jeand’heur, 1999, S. 221 ff.; skeptisch<br />

auch Waldhoff, Zukunft (o. Fußn. 11), S. 90 ff.<br />

46 Klassisch, wenn auch sehr seiner Zeit verhaftet, P. Häberle, grundrechte im leistungsstaat,<br />

VVdStRl 30 (1972), S. 43 ff.; ferner E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht,<br />

1976; zur gegenwartslage näher H. M. Heinig, der Sozialstaat im dienst der<br />

Freiheit, 2008, S. 359 ff. mit weit. nachw.<br />

47 aus theologischer Perspektive ähnlich W. Huber, Kirche und Verfassungsordnung<br />

(o. Fußn. 9), S. 13 ff.: „Freiheit als Schlüsselbegriff für das Verhältnis von Kirche und<br />

Verfassungsordnung“.<br />

48 R. Smend, Staat und Kirche nach dem bonner grundgesetz, in: ZevKR 1 (1951)<br />

S. 4 (8 ff.).<br />

49 Zur Kirchenpolitik des nationalsozialismus siehe C. Link, Staat und Kirche<br />

im nationalsozialismus (1986), in: ders., Staat und Kirche in der neueren deutschen<br />

geschichte, 2000, S. 135 ff.; J. S. Conway, die nationalsozialistische Kirchenpolitik<br />

1933–1945, 1969; K. Meier, Kreuz und hakenkreuz. die evangelische Kirche im dritten<br />

Reich, 2001 mit weit. nachw.


53 (2008) Ordnung der Freiheit<br />

247<br />

Weimarer Recht zu guten Teilen identische Staatskirchenrecht des grundgesetzes<br />

nunmehr gedeutet werden. es ziele darauf, die unabhängigkeit<br />

der Kirchen zu schützen, gerade damit diese sich in der und für die Öffentlichkeit<br />

entfalten können. Später wurde diese grundlegende einsicht in die<br />

dialektische Freiheitsverpflichtung des deutschen Staatskirchenrechts neu<br />

durchdekliniert in den Referaten von Martin Heckel und Alexander Hollerbach<br />

auf der Staatsrechtslehrertagung 1967 50 und in den letzten Jahren<br />

haben unter dem label „Religionsverfassungsrecht“ firmierende Vertreter<br />

des Faches sie abermals für die gegenwart reformuliert. 51<br />

das Staatskirchenrecht des grundgesetzes von der Freiheit her zu verstehen,<br />

hat Konsequenzen für die deutungen der jeweiligen einzelnormen:<br />

– der Religionsunterricht etwa sichert bei allgemeinem Schulzwang<br />

und dem Vorrang der öffentlichen vor Privatschulen das legitime Interesse<br />

der Schüler und ihrer eltern auf eine religiös mitgeprägte bildungsgeschichte;<br />

52<br />

– die anstaltsseelsorge (also Militär-, gefängnis- und Krankenhausseelsorge)<br />

kompensiert die besondere freiheitseinschränkende lage, in der sich<br />

anstaltsinsassen befinden, und ermöglicht diesen, gehaltvoll von der Religionsfreiheit<br />

gebrauch machen zu können; 53<br />

– der Körperschaftsstatus und die mit ihm verbundenen Rechte dienen<br />

der entfaltung der Religionsfreiheit in den religiösen Korporationen und<br />

50 Heckel, Kirchen (o. Fußn. 12), S. 5 ff.; Hollerbach, Kirchen (o. Fußn. 12), 57 ff.;<br />

vorher bereits K. Hesse, Freie Kirchen im demokratischen gemeinwesen, in: ZevKR<br />

11 (1964/65) S. 337 ff.<br />

51 Siehe etwa C. Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006; ders., Staatskirchenrecht<br />

oder Religionsverfassungsrecht?, in: R. grote / T. Marauhn (hrsg.), Religionsfreiheit<br />

zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht,<br />

2001, S. 215 ff.; ders., Säkularisierung des Staates – Individualisierung der Religion, in:<br />

h. lehmann (hrsg.), Multireligiösität im vereinten europa, 2003, S. 30 ff; C. D. Classen,<br />

Religionsrecht, 2006; S. Magen, Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, 2004;<br />

M. Morlok, in: h. dreier (hrsg.), gg, bd. 1, 2. aufl. 2004, art. 4 Rdnr. 1 ff.; ders., in:<br />

ebenda, bd. 3, 2000, art. 140 Rdnr. 1 ff.; S. Korioth, Vom institutionellen Staatskirchenrecht<br />

zum grundrechtlichen Religionsverfassungsrecht. Chancen und gefahren eines<br />

bedeutungswandels des art. 140 gg, in: Festschrift für P. badura, 2004, S. 727 ff.; Heinig,<br />

Religionsgesellschaften (o. Fußn. 14); zur Verwurzelung des religionsverfassungsrechtlichen<br />

ansatzes im „klassischen“ Staatskirchenrecht von Campenhausen / de Wall,<br />

Staatskirchenrecht (o. Fußn. 18), S. 39 f.; zur begriffsgeschichte A. Hense, Staatskirchenrecht<br />

oder Religionsverfassungsrecht: mehr als ein Streit um begriffe?, in: a. haratsch<br />

u.a. (hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 9 ff.<br />

52 A. Hollerbach, Freiheit kirchlichen Wirkens, in: J. Isensee / P. Kirchhof (hrsg.),<br />

handbuch des Staatsrechts, bd. 6, 2. aufl. 2001, § 140 Rdnr. 42; Heinig, Religionsgesellschaften<br />

(o. Fußn. 14), S. 208; hieraus ergibt sich zwangsläufig ein subjektives<br />

Recht gegenüber dem Staat, dass er das Seine zur einrichtung und betrieb eines Religionsunterrichts<br />

beiträgt; U. Hildebrandt, das grundrecht auf Religionsunterricht,<br />

2000; M. Heckel, Religionsunterricht für Muslime?, in: JZ 1999, 741 (750); H. de Wall,<br />

Zum Verfassungsstreit um den Religionsunterricht in brandenburg, in: nVwZ 1997,<br />

353 ff.; a.a. S. Korioth, Islamischer Religionsunterricht und art. 7 abs. 3 gg, in: W.<br />

bock (hrsg.), Islamischer Religionsunterricht?, 2006, S. 33 (45 f.).<br />

53 M. Morlok, in: h. dreier (hrsg.), gg, art. 141 WRV Rdnr. 5.


248 Hans Michael Heinig<br />

ZevKR<br />

durch die religiösen Korporationen, indem dem religiösen Selbstverständnis<br />

besonders entgegenkommende Organisationsformen vorgehalten 54 und mit<br />

elementen der grundrechtssubventionierung verbunden werden. 55<br />

die freiheitliche grundierung des Staatskirchenrechts lässt ihrerseits<br />

aber auch Rückschlüsse auf die debatte zu, wie das grundrecht auf Religionsfreiheit<br />

angemessen dogmatisch aufzubereiten ist. denn eine solche<br />

grundierung verbietet, schon die bloße ausübung der Religionsfreiheit<br />

ihrerseits zu einer gesellschaftlichen gefahr zu stilisieren. 56 gerade unter<br />

bedingungen des gesteigerten religiösen Pluralismus kann das grundrecht<br />

der Religionsfreiheit die ihm zugedachte Wirkung nur entfalten, wenn es<br />

im Schutzbereich hinreichend extensiv angelegt ist. bei hoher religiöser<br />

homogenität sind nämlich kaum gesellschaftliche Konfliktpotentiale zu<br />

besorgen; die demokratische Mehrheit wird stets hinreichende Rücksicht<br />

auf allgemein geteilte religiöse Interessen nehmen. erst unter bedingungen<br />

religiöser Vielfalt zeigt sich, was die garantie freier Religionsausübung<br />

effektiv wert ist. 57<br />

doch auch die im besonderen Staatskirchenrecht betonte öffentliche<br />

dimension der Religion streitet dagegen, die freie Religionsausübung auf<br />

Kultusfreiheit zu beschränken, weil nur als religiöse handlungsfreiheit verstanden<br />

die Religionsfreiheit die auf öffentliche Verantwortung zielende, zu<br />

ethischem handeln motivierende dimension vieler Religionen erfasst. 58<br />

54 M. Koenig, Pfadabhängigkeit und institutioneller Wandel, in: h. M. heinig / C.<br />

Walter (hrsg.), Staatskirchenrecht und Religionsverfassungsrecht?, 2007, S. 91 (102)<br />

macht unter Verweis auf neuere organisationssoziologische Studien darauf aufmerksam,<br />

dass die Organisationsformen auch Prägekräfte für die Sozialgestalt der Religion<br />

entfalten. dieses Formierungspotential ist im grundgesetz bewusst genutzt. Religion<br />

erfährt nur in gestalt von Religionsgesellschaften eine besondere Förderung. hierin<br />

liegt aus rechtlicher Sicht jedoch keine „Prämierung anstaltsförmiger Religion“ (Koenig,<br />

ebenda, S. 102). Vielmehr schützt der moderne Verfassungsstaat durch die körperschaftliche<br />

Verfasstheit von Religionsgemeinschaften die negative Religionsfreiheit,<br />

indem er Mitglieder von nichtmitgliedern unterscheiden kann, und die religiös-weltanschaulichen<br />

neutralität des Staates, da er auf rechtlich legitimierte ansprechpartner<br />

für kooperative begegnungen angewiesen ist; vgl. näher H. M. Heinig, art. Religionsgesellschaft,<br />

in: ev. Staatslexikon, neuausgabe, 2006, Sp. 2012 ff. unter den denkbaren<br />

Organisationsformen für Religionsgesellschaften wiederum ist der Körperschaftsstatus<br />

die selbstverständnisschonendste.<br />

55 bVerfge 102, 370 (387 f.); näher M. Morlok / H. M. Heinig, Parität im leistungsstaat,<br />

in: nVwZ 1999, 697 ff.; S. Magen, Körperschaftsstatus (o. Fußn. 51);<br />

H. Weber, der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaften<br />

nach art. 137 abs. 5 WRV, in: h. M. heinig / C. Walter, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?,<br />

2007, S. 229 ff. mit weit. nachw.<br />

56 So aber die reißerische, eines boulevardmagazins würdige Themenstellung auf der<br />

Staatsrechtslehrertagung 2008: „die ausübung der Religionsfreiheit als gefahr?“<br />

57 Ähnlich D. Grimm, Multikulturalität und grundrechte, in: R. Wahl / J. Wieland<br />

(hrsg.), das Recht des Menschen in der Welt, 2002, 135 ff.<br />

58 Heinig, Religionsgesellschaften (o. Fußn. 14), S. 124 f. mit weit. nachw.; M. Hekkel,<br />

Vom Religionskonflikt zur ausgleichsordnung, 2007, S. 63.


53 (2008) Ordnung der Freiheit<br />

249<br />

Vier Rückfragen drängen sich aus Sicht der beiden alternativen Modelle<br />

an die hier vertretene Konzeption auf: 1.) handelt es sich beim Staatskirchenrecht<br />

wirklich um eine besondere Form der Freiheitsförderung, wo die<br />

Verfassung doch nur Religion und nicht auch zahlreichen anderen lebensbereiche<br />

eine besondere Freiheitshege angedeihen lässt? 2.) Ist nicht gerade<br />

die größtmögliche distanzierung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften<br />

eine Form des Freiheitsschutzes? 3.) Verkennt die „Vergrundrechtlichung“<br />

nicht, dass das Staatskirchenrecht in seinen einrichtungen gerade<br />

über das grundrecht auf Religionsfreiheit hinausgeht? und 4.) sind beim<br />

Staatskirchenrecht nicht doch stets auch staatliche belange und gemeinwohlerwägungen<br />

involviert?<br />

Jede dieser Fragen fordert einen eigenen beitrag, um auf sie auch nur<br />

annähernd adäquat eingehen zu können. an dieser Stelle muss ich mich auf<br />

kursorische bemerkungen beschränken.<br />

Zur ersten anfrage: die unterschiedliche ausgestaltung der grundrechtsförderung<br />

für den bereich der Religionsfreiheit und anderer grundrechtsaktivitäten<br />

hat primär historische gründe. In der Verfassung klingen hier<br />

Textstufen nach, 59 die sich vor dem aktiven und aktivierenden Staat der<br />

nachkriegszeit ausgebildet haben. Zudem ist Religion mitnichten der einzige<br />

gesellschaftliche bereich, der durch organisationsrechtliche bestimmungen<br />

in der Verfassung besonders herausgehoben wird. Man denke an die Wirtschaft<br />

(gewerkschaften und arbeitgeberverbände – art. 9 abs. 3 gg) oder<br />

die Politik (Parteien – art. 21 gg). Vor allem aber sind die meisten anderen<br />

bereiche der staatlichen unterstützung und Förderung menschlicher aktivitäten<br />

im grundgesetz weniger politisiert. Sie bedürfen deshalb auch nicht<br />

des besonderen verfassungsrechtlichen Schutzes, sondern können getrost<br />

der Politik überlassen bleiben. Kunstförderung versteht sich für einen Kulturstaat<br />

von selbst. der staatliche umgang mit der Religion hingegen bildet<br />

traditionell ein vermintes gelände, in dem der Verfassungsgeber nicht wie<br />

selbstverständlich davon ausgehen durfte, dass die gesellschaftlichen Kräfte<br />

und auch die Staatsmacht selbst die nun in Verfassungsrecht gegossene, ausgewogene<br />

Konzeption von religionsbezogenen Freiheitsgewährleistungen<br />

und Freiheitsförderungsmaßnahmen auch bei entscheidungen mit einfacher<br />

Mehrheit religionspolitisch stets mittragen. „Sicherheitshalber“ hat er deshalb<br />

zentrale Rechte und leitende Prinzipien in rebus religionis unter den<br />

erhöhten Schutz des Verfassungsrechts gestellt.<br />

Zur zweiten anfrage: die laizisierung ist viel, bloß kein Instrument der<br />

Freiheitssicherung. Sie mag unter bestimmten Konstellationen ein probates<br />

Instrument zur Sicherung des inneren Friedens sein. Wenn sich die<br />

59 Zum heuristischen Instrument der Textstufenanalyse P. Häberle, Rechtsvergleichung<br />

im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff.


250 Hans Michael Heinig<br />

ZevKR<br />

bürger in ihrer Verschiedenheit nicht ertragen, anerkennen und achten<br />

wollen, können die hieraus erwachsenden Konflikte wohl nur dadurch<br />

sistiert werden, dass diese Verschiedenheit der bürger in deren öffentlichen<br />

Rollen zum Verschwinden gebracht wird. doch der Preis, der dafür zu<br />

zahlen ist, ist hoch, zu entrichten im Verzicht auf die Integrationskraft, die<br />

dem Modell gleicher Offenheit des Staates für die Religionen seiner bürger<br />

grundsätzlich eigen ist. hinzu tritt die negative Freiheitsbilanz des laizismus.<br />

60 er sitzt einem halbierten Freiheitsverständnis auf, indem er einseitig<br />

vor der Religion schützen will und damit nicht angemessen die Freiheit zur<br />

Religion berücksichtigt. Man vergleiche nur die Zahl der Verfahren wegen<br />

Verletzung der Religionsfreiheit aus deutschland und Frankreich vor dem<br />

europäischen gerichtshof für Menschenrechte. 61 das grundgesetz schließt<br />

zwar eine auf stärkere distanzierung ausgerichtete Religionspolitik jenseits<br />

der besonderen Verfassungsgarantien (und der bestehenden vertraglichen<br />

Verpflichtungen des Staates) nicht per se aus. doch wird sich eine solche<br />

Politik an dem zugegebenermaßen nur vage konturierten Rechtsprinzip<br />

der Offenheit des Staates für die Religionen seiner bürger messen lassen<br />

müssen. dieses Prinzip läuft auf eine prima facie-Verpflichtung des Staates<br />

hinaus, religionspolitische Fragen bevorzugt durch paritätisch-religionsfreundliche<br />

Förderung zu lösen, soweit dieses Vorgehen im Vergleich zu<br />

religionsaversen lösungen sachlich gleich problemangemessen ist. doch<br />

wie alle Prinzipien ist auch dieses offen für ermessensgeprägte Konkretisierungen<br />

und die berücksichtigung gegenläufiger rechtlich geschützter Interessen<br />

in Form von abwägungsprogrammen. es ist deshalb vor allem von<br />

symbolpolitischer bedeutung, so wie Religionsrecht überhaupt in hohem<br />

Maße „symbolisches Recht“ ist. 62<br />

Zur dritten anfrage: die freiheitstheoretische deutung des Staatskirchenrechts<br />

verwischt keineswegs die unterschiede zwischen dem grundrecht auf<br />

Religionsfreiheit und den über diese gerade hinausführenden garantien.<br />

Ich gebe zu, dass die von mir selbst geführte Rede von der „Vergrundrechtlichung“<br />

63 des Staatskirchenrechts missverständlich ist. es geht keineswegs<br />

darum, das Staatskirchenrecht in seiner besonderen ausgestaltung zu depotenzieren.<br />

auch wäre es abwegig zu behaupten, die Religionsfreiheit sei mit<br />

der garantie des Religionsunterrichts oder den bestimmungen zum Körperschaftsstatus<br />

deckungsgleich, so als ob die Verfassung noch denselben<br />

60 Vgl. Walter, Religionsverfassungsrecht (o. Fußn. 51), S. 162 ff. und öfter.<br />

61 Heinig, Religionsgesellschaften (o. Fußn. 14), S. 497.<br />

62 G. Robbers, Staat und Religion, in: VVdStRl 59 (2000), S. 231 (232); M. Morlok,<br />

diskussionsbeitrag, ebenda, S. 341 (342); S. Magen, Staatskirchenrecht als symbolisches<br />

Recht, in: h. lehmann (hrsg.), Koexistenz und Konflikt von Religionen,<br />

2004, S. 30 ff.<br />

63 Heinig, Religionsgesellschaften (o. Fußn. 14), S. 497.


53 (2008) Ordnung der Freiheit<br />

251<br />

aussagegehalt hätte, wenn man letztere bestimmungen streichen würde. 64<br />

doch scheint es mir ebenso eigentümlich, anzunehmen die Religionsfreiheit<br />

und das sonstige Staatskirchenrecht stünden in keiner inneren beziehung,<br />

bildeten also isoliert zu betrachtende Rechtskreise mit ganz eigener binnenlogik.<br />

Vielmehr streiten sowohl generelle verfassungstheoretische wie aus<br />

dem Regelungsgegenstand abgeleitete erwägungen dafür, dass a) das Staatskirchenrecht<br />

einen institutionellen Überschuss gegenüber der Religionsfreiheit<br />

kennt und b) gerade dieser Überschuss in einer auch rechtsdogmatisch<br />

fruchtbar zu machenden Wechselbeziehung mit art. 4 gg steht.<br />

Schließlich zur vierten anfrage: der Verweis auf die im Staatskirchenrecht<br />

doch zumindest latent stets mit involvierten staatlichen Interessen<br />

und gemeinwohlinteressen. es lässt sich schwerlich bestreiten, dass das<br />

Staatskirchenrecht zwischen originär staatlich definierten Interessen, von<br />

der gesellschaft her gedachten gemeinwohlbelangen und dem Schutz des<br />

eigeninteresses religiöser akteure aufgespannt ist. die anstaltsseelsorge<br />

dient auch dem anstaltszweck, weil Soldaten in seelsorgerlicher begleitung<br />

extremsituationen, die ihr dienst mit sich bringen kann, besser verkraften.<br />

Im Religionsunterricht werden starke moralische Überzeugungen vermittelt,<br />

woran wiederum (außer in berlin) ein gesellschaftspolitisches Interesse<br />

besteht. Ähnliche, im lichte allgemeiner gemeinwohlvorstellungen<br />

formulierte erwartungen des Staates an das Wirken von Religion ließen sich<br />

für viele andere Phänomene religiösen lebens ausmachen. Religion kann<br />

sozial nützlich sein, angefangen von der individuellen Sinnstiftung bis hin<br />

zur ausbildung solidarisch verbundener communities. 65 die für das Staatskirchenrecht<br />

entscheidende Frage lautet nur, ob die dem Staatskirchenrecht<br />

des grundgesetzes dem grunde nach eingezeichnete gleichberechtigung<br />

aller Religionen bereits dann wegfällt, wenn solche erwartungen an das<br />

Wirken einzelner Religionsgemeinschaften enttäuscht werden.<br />

eine vertrackte Frage. denn einerseits besteht die gefahr vorschneller<br />

exklusionen, die das Staatskirchenrecht insgesamt beschädigen, anderseits<br />

die gefahr allzu großer duldsamkeit und naiver Idealisierung.<br />

es versteht sich eigentlich von selbst, dass die in der Freiheitsidee wurzelnde<br />

Offenheit des Staates für die Religionen seiner bürger nicht so weit<br />

geht, dass er tatenlos zuschauen oder gar noch fördern muss, wenn seine<br />

eigenen grundlagen unterminiert werden. die Konzeption wehrhafter<br />

demokratie prägt auch das Staatskirchenrecht. Religionsrecht ist auch und<br />

zunehmend gefahrenabwehrrecht. 66<br />

64 H. M. Heinig, Kritik und Selbstkritik, in: ders. / C. Walter (hrsg.), Staatskirchenrecht<br />

oder Religionsverfassungsrecht?, 2007, S. 361 mit weit. Klarstellungen.<br />

65 M. Morlok, in: h. dreier (hrsg.), gg, bd. 3, art. 137 WRV Rdnr. 73.<br />

66 Heinig / Morlok, Von Schafen (o. Fußn. 14), 785.


252 Hans Michael Heinig<br />

ZevKR<br />

deshalb lassen sich aus den materiellen Wertungen der Verfassung heraus<br />

säkular-rechtliche bedingungen für die Teilhabe an den besonderen<br />

bestimmungen des Staatskirchenrechts rekonstruieren. Wenn Religionsgemeinschaften<br />

solchen bedingungen unterworfen werden, liegt darin<br />

kein Verstoß gegen die neutralitätspflicht des Staates. der religiös-weltanschaulich<br />

neutrale Staat darf zwar nicht die Religionen der bürger als<br />

solche bewerten, doch kann er deren weltliche Wirkungen am Maßstab der<br />

Verfassung richten. 67 So ist im ergebnis etwa unstreitig, dass den Körperschaftsstatus<br />

für Religionsgemeinschaften nur erwerben kann, wer rechtstreu<br />

ist, d.h. insbesondere die mit höchstrang ausgestatteten Prinzipien<br />

der Verfassung (art. 79 abs. 3 gg) achtet und die Spielregeln des Staatskirchenrechts<br />

anerkennt. 68<br />

Wenn jedoch hürden aufgebaut werden, die im Verfassungstext keinen<br />

hinreichenden anhalt finden, vielmehr in vorrechtlichen erwartungen<br />

gründen, wird das gleichheitsversprechen der Verfassung in unbotmäßiger<br />

Weise konterkariert. der in der Weimarer nationalversammlung ausgehandelte<br />

Kompromiss, ob seiner Weisheit alles andere als ein „dilatorischer<br />

Formelkompromiss“ (Carl Schmitt), 69 sieht vor, dass fortan alle Religionen<br />

„gleicher ehre“ (Friedrich Naumann) sind. 70 den Kirchen bleiben die<br />

öffentlich-rechtliche Rechtsform und bestimmte Freiheits- und Öffentlichkeitsrechte<br />

erhalten; sie wurden nicht gezwungen, auf den Rechtsstatus von<br />

Karnickelzüchtervereinen „herabzusinken“, wie es damals hieß. Zugleich<br />

aber wurde allen anderen Religionsgemeinschaften der gleiche Zugang zu<br />

diesen Rechten garantiert. In dieser Paritätsverheißung haben sich mannigfache<br />

historische erfahrungen eingespeichert. die staatskirchenrechtliche<br />

urerfahrung schlechthin ist die Klugheitslehre des Westfälischen Friedens,<br />

dass wechselseitige anerkennung und berechtigung (auf der reichsrechtlichen<br />

ebene) ein probates Instrument zur Schaffung und Sicherung des<br />

religiösen Friedens ist. 71 das grundlegende gleichheitsversprechen der<br />

67 bVerfge 102, 370 (394); 105, 279 (294).<br />

68 Zu unterschiedlichen begründungsansätzen für ein solches ergebnis bVerfge<br />

102, 370 ff.; Heinig, Religionsgesellschaften (o. Fußn. 14), S. 327 ff.; Magen, Körperschaftsstatus<br />

(o. Fußn. 51).<br />

69 C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. aufl. 1993, S. 32 f.<br />

70 F. Naumann, in: e. heilfron (hrsg.), die deutsche nationalversammlung im<br />

Jahre 1919 in ihrer arbeit für den aufbau eines neuen Volksstaates, 1919/1920, bd. 6,<br />

S. 4028. Zur entstehungsgeschichte der Weimarer Religionsartikel insb. F. Wittekind,<br />

Welche Religionsgemeinschaften sollen Körperschaften des öffentlichen Rechts sein?<br />

die entstehung des modernen deutschen Staatskirchenrechts in den Verhandlungen<br />

über die Weimarer Reichsverfassung, in: g. brakelmann / n. Friedrich / T. Jähnichen<br />

(hrsg.), auf dem Weg zum grundgesetz, 1999, S. 77 ff.; S. Korioth, die entwicklung<br />

der Rechtsformen von Religionsgemeinschaften in deutschland im 19. und 20. Jahrhundert,<br />

in: h. g. Kippenberg / g. F. Schuppert (hrsg.), die verrechtlichte Religion,<br />

2005, S. 109 (122 ff.); Heinig, Religionsgesellschaften (o. Fußn. 14), S. 94 ff.<br />

71 C. Link, Staat und Kirchen von der Reformation bis zur gegenwart (1978), in:<br />

ders., Staat und Kirche in der neueren deutschen geschichte, 2000, S. 11 ff.; M. Hek-


53 (2008) Ordnung der Freiheit<br />

253<br />

Verfassung reflektiert aber auch das religionspolitische Trauma der katholischen<br />

Kirche, den Kulturkampf, der ende des 19. Jahrhunderts als Reflex<br />

auf bedürfnisse einer inneren Reichsgründung die unterscheidung von aus<br />

staatlicher Sicht guter und schlechter Religion mit Vehemenz aufwarf. 72<br />

und der tiefere Sinn des staatskirchenrechtlichen gleichheitsversprechens<br />

erhellt sich schließlich abermals vor dem hintergrund der von Smend<br />

beschworenen erfahrungen im nationalsozialismus.<br />

Für eine gewisse bedächtigkeit bei der definition von staatskirchenrechtlichen<br />

ausschlusskriterien streitet neben der geschichte der in der<br />

Religionsfreiheit normativ verankerte Schutz des eigensinns der Religion<br />

und ihrer organisatorischen ausprägungen. Religion kann gerade in ihrer<br />

institutionalisierten Form für eine gesellschaft sperrig und unbequem<br />

sein. 73 Just dadurch tragen Religionsgemeinschaften zuweilen das Ihre<br />

zum gemeinwohl bei. „Salz der erde“ nennt die bibel das. 74 Kirchen sind<br />

mehr und anderes als bundeswerteagenturen – auch wenn Kirchenleitende<br />

selbst diesen unterschied zuweilen aus dem blick verlieren. die Verfassung<br />

rechnet mit der eigenheit, dem eigensinn religiöser akteure und schützt sie<br />

hierin – etwa durch die unabhängigkeitsgarantie des art. 137 abs. 3 WRV,<br />

die durch den Körperschaftsstatus noch einmal verstärkt wird. eine Verfassungsinterpretation,<br />

die den Schutz im eigensinn der Kirchen, aber auch der<br />

anderen Religionsgemeinschaften gerade in abrede stellt, ignoriert dieses<br />

Kernanliegen des Staatskirchenrechts. hieraus ergeben sich Konsistenzprobleme,<br />

die Christian Hillgruber einmal (unfreiwillig) auf den Punkt brachte:<br />

da die katholische Kirche vor dem 2. Vaticanum nicht auf dem boden des<br />

grundgesetzes stand und deshalb auch nicht der Pflege seiner Voraussetzungen<br />

dienen konnte, so Hillgruber, hätten ihr bis Mitte der 1960er Jahre<br />

auch nicht die Körperschaftsrechte zuerkannt werden können. 75 damit<br />

kel, Zur entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts von der Reformation bis zur<br />

Schwelle der Weimarer Verfassung, in: ZevKR 12 (1966/67) S. 1 (13); Kritik an der<br />

„narration“, der konfessionelle bürgerkrieg sei die geburtsstunde des modernen, nicht<br />

religiös begründeten Staates, bei H. Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung, in:<br />

JZ 2002, 1 ff.; C. Möllers, Staat als argument, 2000, S. 214 ff. mit Verweis auf den<br />

konfessionellen Charakter der Territorialstaaten. Freilich war das Ideal konfessioneller<br />

geschlossenheit (zumindest auch) Mittel zur Politik, was ein auseinandertreten von<br />

Religion und Politik bedingt.<br />

72 R. Morsey, der Kulturkampf – bismarcks Präventivkrieg gegen das Zentrum<br />

und die katholische Kirche, in: essener gespräche zum Thema Staat und Kirche 34<br />

(2000), S. 5 ff.; Th. Nipperdey, deutsche geschichte 1866–1918, bd. 2, 3. aufl. 1995,<br />

S. 364 ff.; dokumentation bei E. R. Huber / W. Huber, Staat und Kirche im 19. und 20.<br />

Jahrhundert, bd. 2, 1976, S. 395 ff.<br />

73 B. Grzeszick, Verfassungstheoretische grundlagen des Verhältnisses von Staat<br />

und Religion, in: h. M. heinig / C. Walter (hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?,<br />

2007, S. 131 (139 f.).<br />

74 Mt. 5,13.<br />

75 diese Rechte habe sie nur aufgrund des bestandsschutzes nach art. 137 abs. 5<br />

S. 1 WRV innegehabt, so Hillgruber auf einer Tagung im november 2005 in Jena.


254 Hans Michael Heinig<br />

ZevKR<br />

richtet sich das hierarchisierungsmodell selbst. ein normverständnis, das<br />

selbst eine der beiden großen Kirchen aus dem Kreis der normberechtigten<br />

ausschließt, führt das Staatskirchenrecht schlicht ad absurdum.<br />

deshalb wird man das Staatskirchenrecht des grundgesetzes wohl eher<br />

als eine Vorwegnahme moderner staatlicher Regulierungstechniken zu<br />

begreifen haben. Staatliche Interessen und gemeinwohlbelange werden<br />

nicht in Konditionalprogrammen (wenn …, dann …) abgearbeitet, sondern<br />

durch die einladung zur Teilhabe mittelbar stimuliert. 76 das Staatskirchenrecht<br />

macht ein angebot, als öffentliche Religion in erscheinung zu<br />

treten, wohlwissend, dass die Öffentlichkeit auf die Religion zurückwirkt. 77<br />

an den Wirkungen akademisch betriebener Theologie lässt sich dies für<br />

die beiden christlichen Kirchen in deutschland anschaulich zeigen. bedingung<br />

für die entfaltung solcher positiven indirekten Prägekräfte durch das<br />

Staatskirchenrecht ist jedoch seine nichtdiskriminierende anwendung. die<br />

Ordnung der Freiheit ist grundsätzlich attraktiv. anziehungskraft entfaltet<br />

sie aber nur, wenn sie auch wirklich erfahrbar wird. nicht zuletzt von der<br />

tatsächlichen einlösung des Versprechens gleicher Chancen zur religiösen<br />

entfaltung hängt es ab, wie sich Religionsgemeinschaften ihrerseits zu den<br />

an sie herangetragenen gesellschaftlichen erwartungen, ja zur verfassungsrechtlichen<br />

Ordnung insgesamt verhalten.<br />

V.<br />

Schluss<br />

das Staatskirchenrecht steht somit angesichts des Strukturwandels der<br />

Religion zwar vor neuen herausforderungen – die probaten Instrumente<br />

zur bewältigung dieser herausforderungen aber sind die traditionellen: die<br />

„guten alten“ staatskirchenrechtlichen garantien der Freiheit und gleichheit<br />

sowie die aus der gleichen Freiheit resultierende Offenheit des Staates<br />

für die Religionen seiner bürger 78 – eine Offenheit, die gerade verhindert,<br />

dass der Staat selbst religiös, weltanschaulich oder zivilreligiös 79 wird.<br />

76 Heinig, Religionsgesellschaften (o. Fußn. 14), S. 262 ff.<br />

77 P. Bahr, Vom Sinn öffentlicher Religion, in: h. M. heinig / C. Walter (hrsg.),<br />

Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, 2007, S. 73 ff.<br />

78 Im grundton ebenso z.b. A. von Campenhausen, Offene Fragen im Verhältnis<br />

von Staat und Kirche am ende des 20. Jahrhunderts, in: essener gespräche 34 (2000),<br />

S. 105 (140 ff.).<br />

79 Pointierte Religionskritik an der Zivilreligion bei E. Jüngel, untergang oder<br />

Renaissance der Religion, in: e. Teufel (hrsg.), Was hält die moderne gesellschaft<br />

zusammen?, 1996, S. 176 (189 ff.).


natur, Sinn und Zweck sowie anwendungsbereich<br />

des Spruchverfahrens gemäß §§ 18 ff.<br />

disziplinargesetz der VelKd*<br />

Fritz Anders<br />

Gliederung<br />

a. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257<br />

I. auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257<br />

II. entstehung und geltungsbereich des disziplinargesetzes . . . . . . . . . 257<br />

b. das disziplinargesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259<br />

I. grundsätzliche Überlegungen zum gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259<br />

II. Seelsorge und ermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260<br />

III. grundsatzüberlegungen zur entscheidung der einleitenden Stelle . . 261<br />

IV. entscheidungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262<br />

C. das Spruchverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263<br />

I. einführung und behandlung in der literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 263<br />

II. Spruchausschuss und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264<br />

III. Voraussetzungen des Spruchverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265<br />

IV. der Spruch und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266<br />

V. das Spruchverfahren und die anderen Verfahrensarten . . . . . . . . . . 268<br />

VI. entscheidungskriterien für die einleitende Stelle . . . . . . . . . . . . . . . 270<br />

d. die praktische bedeutung des Spruchverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272<br />

e. die im gutachtensauftrag gestellten Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273<br />

I. Rechtsnatur des Spruchverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273<br />

II. Zweck des Spruchverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274<br />

III. anwendungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275<br />

1. allgemeine Verhaltenspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277<br />

a. Wahrung der Würde des amtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277<br />

b. einhaltung der gesetze und Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 277<br />

c. Verhalten gegenüber kirchlichen Vorgesetzten . . . . . . . . . . . . . 278<br />

d. Verschwiegenheitspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278<br />

e. Pflichten bei nebentätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278<br />

2. geistliche amtspflichten im engeren Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278<br />

a. gottesdienst und amtshandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279<br />

b. Christliche unterweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279<br />

c. Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279<br />

3. besondere Pflichten gegenüber der gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . 280<br />

a. Residenz- und Präsenzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280<br />

* Rechtsgutachten im auftrag der ev.-luth. Kirche in bayern.<br />

Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, band 53 (2008) S. 255–295<br />

© <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> – ISSn 0044–2690


256 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

b. Zusammenwirken mit Kirchenvorstand und anderen<br />

Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280<br />

c. Verwaltungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281<br />

d. dienstordnung und Mitarbeit in einer anderen gemeinde . . . . 281<br />

4. besondere Pflichten gegenüber der gesamtkirche . . . . . . . . . . . . 281<br />

a. Verpflichtung zur Fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281<br />

b. Verpflichtung zur Übernahme besonderer aufgaben . . . . . . . . 281<br />

c. Verhalten in der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282<br />

5. Verhalten gegenüber dem Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282<br />

a. erteilung des Religionsunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282<br />

b. Sonstiger dienst im staatlichen bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283<br />

c. gehorsamspflicht gegenüber dem Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283<br />

d. Freiwillige Meldung zum Wehrdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284<br />

e. annahme und Tragen von staatlichen Orden und ehrenzeichen 284<br />

6. besondere Pflichten gegenüber der gemeinschaft der Ordinierten 284<br />

a. „Pflege“ der gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284<br />

b. Sonstige Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284<br />

7. besondere Pflichten im persönlichen leben . . . . . . . . . . . . . . . . . 284<br />

a. annahme von geschenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285<br />

b. Private Wirtschaftsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285<br />

c. ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285<br />

d. homosexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287<br />

IV. In welchen Fällen darf das Spruchverfahren nicht zur<br />

anwendung kommen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288<br />

V. Welche erwägungen muss / darf die einleitende Stelle bei der<br />

ermessensentscheidung nach § 14 abs. 1 diszg anstellen?<br />

Muss / darf das „nachtatverhalten“ des betroffenen<br />

(z. b. „freiwilliger“ Stellenwechsel) bereits in diesem Stadium<br />

berücksichtigt werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290<br />

VI. In welchen Fällen muss der Spruchausschuss eine entscheidung<br />

nach § 28 nr. 3 diszg treffen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290<br />

F. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291<br />

I. Wahrung der legalitätspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291<br />

II. beschleunigungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291<br />

III. Maßnahmenkatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292<br />

IV. dokumentierung der Rechtsprechung der disziplinargerichte . . . . . 292<br />

V. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293<br />

g. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .293


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

I. Auftrag<br />

a.<br />

Vorbemerkungen<br />

257<br />

die gutachtlichen ausführungen befassen sich mit „natur, Sinn und<br />

Zweck sowie den anwendungsbereich des Spruchverfahrens“ nach §§ 18 ff.<br />

Kirchengesetz der Vereinigten evangelisch-lutherischen Kirche deutschlands<br />

über das Verfahren und die Rechtsfolgen bei amtspflichtverletzungen<br />

(disziplinargesetz – diszg) in der neufassung vom 04.05.2001 1 , zuletzt<br />

geändert durch Kirchengesetz vom 17.10.2006 2 .<br />

Sie berücksichtigen auch das Kirchengesetz der evangelisch-lutherischen<br />

Kirche in bayern zur ergänzung des Kirchengesetzes der Vereinigten<br />

evangelisch-lutherischen Kirche deutschlands über das Verfahren und die<br />

Rechtsfolgen bei amtspflichtverletzungen (disziplinarergänzungsgesetz –<br />

diszergg) in der Fassung der bekanntmachung vom 26.05.1995 3 .<br />

bei der behandlung des anwendungsbereiches des Spruchverfahrens<br />

wird eine beschränkung auf Pfarrer und Pfarrerinnen vorgenommen; es<br />

wird nicht auf die anwendung dieser Verfahrensart auf Kirchenbeamte und<br />

Kirchenbeamtinnen (§§ 131 ff. diszg) sowie diakone und diakoninnen<br />

(§ 10 diszergg) eingegangen.<br />

II. Entstehung und Geltungsbereich des Disziplinargesetzes<br />

die evangelischen Kirchen in deutschland haben kein einheitliches disziplinarrecht<br />

für Pfarrer und Pfarrerinnen. alle bemühungen nach dem<br />

2. Weltkrieg zu einem gemeinsamen Recht zu kommen, scheiterten, insbesondere<br />

an den grundsätzlichen bedenken der in der Vereinigten evangelisch-lutherischen<br />

Kirche deutschlands (VelKd) zusammengeschlossenen<br />

Kirchen, die sie aus ihrem lutherischen bekenntnis herleiteten. 4 es<br />

wurde die Meinung vertreten, dass die evangelische Kirche in deutschland<br />

(eKd) keine Kirche mit einem einheitlichen bekenntnis, sondern nur ein<br />

bund von Kirchen sei.<br />

1 abl. VelKd bd. VII, S. 150.<br />

2 abl. VelKd bd. VII, S. 333.<br />

3 Kabl S. 157, geändert durch Kg vom 05.04.2001 (Kabl S. 161) und Kg vom<br />

10.12.2001 (Kabl 2002 S. 26).<br />

4 Strietzel, das disziplinarrecht der deutschen evangelischen landeskirchen und<br />

ihrer Zusammenschlüsse, Jus eccl. 34, 1988, S. 2 ff.; ders., Kirchenrecht und Kirchenpolitik,<br />

ZevKR 34 (1989) S. 21 ff.; Germann, die gerichtsbarkeit der evangelischen<br />

Kirchen, habilitationsschrift erlangen 2001, S. 20 ff.; v. Arnim, das disziplinargesetz<br />

der evangelischen Kirche in deutschland vom 11. März 1955 sowie die Verordnung<br />

der evangelischen Kirche der union über das disziplinarrecht vom 14. Mai 1956 nebst<br />

den Überleitungsgesetzen der gliedkirchen, 1960, S. 3 ff.


258 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

die EKD beschloss am 11.03.1955 für ihren unmittelbaren bereich das<br />

disziplinargesetz der evangelischen Kirche. 5 den gliedkirchen wurde die<br />

Möglichkeit eingeräumt, dieses gesetz für ihren bereich zu übernehmen;<br />

davon haben die Mehrzahl der gliedkirchen gebrauch gemacht. die lutherischen<br />

Kirchen, die auch der eKd angehören, aber daneben in der VelKd<br />

zusammengeschlossen sind, haben sich dem nicht angeschlossen. 6 das disziplinargesetz<br />

der eKd folgte und folgt weitgehend den Regelungen in den<br />

staatlichen disziplinargesetzen. 7<br />

nachdem ein einheitliches disziplinargesetz aller evangelischen Kirchen<br />

in deutschland nicht zustande kam, arbeiteten die VELKD und ihre gliedkirchen<br />

nach 1955 an einer eigenen disziplinarordnung, deren entstehung<br />

Wolfgang Strietzel in einem beitrag in der Zeitschrift für evangelische<br />

Kirchenrecht 8 ausführlich dargestellt hat. ein von der Kirchenleitung der<br />

VelKd eingesetzter ausschuss erarbeitete bis 12.12.1959 einen endgültigen<br />

entwurf, der die bezeichnung trug „Kirchengesetz der Vereinigten<br />

evangelisch-lutherischen Kirche deutschlands über die amtszucht an<br />

Pfarrern (Amtszuchtgesetz – aZg)“. In den folgenden Jahren wurde der<br />

entwurf mehrfach umgestaltet und schließlich der generalsynode zur<br />

beschlussfassung vorgelegt. aufgrund der politischen Verhältnisse musste<br />

in zwei getrennten Regionaltagungen (Ost für die gliedkirchen in der ddR<br />

und West für die übrigen gliedkirchen) abgestimmt werden. nachdem<br />

beide Regionaltagungen zugestimmt hatten, wurde das amtszuchtgesetz<br />

unter dem 07.08.1965 im amtsblatt der VelKd verkündet. 9 auch dieses<br />

gesetz folgte weitgehend den Regelungen in staatlichen disziplinargesetzen,<br />

enthielt aber – auch im gegensatz zum disziplinargesetz der eKd – mit dem<br />

„Spruchverfahren“ eine besonderheit, auf die in diesem gutachten eingegangen<br />

wird.<br />

In den folgenden novellierungen des gesetzes wurde das Spruchverfahren<br />

nicht aufgegeben; es wurden allerdings Änderungen an dem namen<br />

und an einzelnen bestimmungen des gesetzes vorgenommen. 1989 wurde<br />

die bezeichnung amtszuchtgesetz mit Wirkungen vom 01.01.1990 aufgegeben<br />

und der name „Amtspflichtverletzungsgesetz“ verwendet. 10 Im Jahr<br />

1993 wurde mit Wirkung von 01.01.1995 auch diese gesetzesbenennung<br />

geändert und die allgemein übliche bezeichnung „Disziplinargesetz“ einge-<br />

5 abl. eKd S. 84, ber. S. 288.<br />

6 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 3 m.w.n.; ders., Kirchenrecht (anm. 1),<br />

S. 28.<br />

7 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 3.<br />

8 Strietzel, Kirchenrecht (anm. 1), S. 21 ff. m.w.n.; vgl. auch Syn. Protokoll der<br />

lutherischen generalsynode 1965, S. 376 ff.<br />

9 abl.VelKd, bd. II, S. 182.<br />

10 art. I nr. 1 Kirchengesetz zur Änderung des Kirchengesetzes der VelKd über die<br />

amtszucht vom 19.10.1989 (abl. VelKd bd. VI, S. 102).


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

259<br />

führt. 11 dieses gesetz ist in seiner Fassung von 17.10.2006 gegenstand<br />

dieses gutachtens.<br />

b.<br />

Das Disziplinargesetz<br />

I. Grundsätzliche Überlegungen zum Gesetz<br />

geht man von Sinn, Ziel und Zweck einer kirchlichen disziplinargerichtsbarkeit<br />

aus, 12 stößt man auf grundsätzliche erörterungen zum Wesen des<br />

Kirchenrechts. Solche finden sich auch in der begründung des amtszuchtgesetzes<br />

vom 20.04.1965, die auszugsweise wörtlich zitiert werden:<br />

„der entwurf berücksichtigt, dass die grundsätzlichen erörterungen über das<br />

Wesen des Kirchenrechts noch im Flusse sind und weiterer Klärung bedürfen. er<br />

versteht sich daher ebenso wenig wie das Pfarrergesetz als Fixierung bestimmter<br />

theologischer und kirchenrechtlicher Meinungen. doch scheint ihm die erkenntnis<br />

gesichert zu sein, dass nach lutherischer auffassung das Kirchenrecht einen<br />

mittleren Weg zwischen Sakralisierung und Profanierung einzuhalten hat. das<br />

bedeutet, dass einerseits das vom kirchlichen gesetzgeber gesetzte Recht als ius<br />

humanum nach den gesichtspunkten der Vernunft, gerechtigkeit und gleichmäßigkeit<br />

gestaltet werden kann, dass aber andererseits die äußeren Ordnungen<br />

der Kirche dem bekenntnis gemäss am dienst an Wort und Sakrament ausgerichtet<br />

sein und die eigenart einer kirchlichen gemeinschaft, die sich als irdischer leib<br />

des erhöhten herrn versteht, in den Formen des kirchlichen Zusammenlebens in<br />

dieser Welt zum ausdruck bringen müssen. gesetz und evangelium dürfen weder<br />

im Sinne einer Sakralisierung des Rechts unerlaubt vermischt, noch im Sinne einer<br />

Profanierung unerlaubt getrennt werden. gerade auch das disziplinarrecht muss<br />

sich um die rechte Zuordnung von gesetz und evangelium bemühen; denn es hat<br />

mit beiden zu tun.“ 13<br />

demzufolge ist auch Gerhard Grethlein zuzustimmen, der meint, die<br />

Kirche existiere „in ihrer Welt, aber sie lebt allein aus ihrem auftrag. beides<br />

zusammenzubringen ist eine stets neu zu lösende aufgabe. die Kirche lebt<br />

in der Welt, sie ist – auch – eine gesellschaftliche Organisation. als solche<br />

bedarf sie – wie der Staat, wie jeder Verein, wie jede menschliche gemeinschaft,<br />

die auf dauer angelegt ist – der Ordnung, einer Ordnung um des<br />

Friedens willen.“ 14<br />

11 art. I nr. 1 Kirchengesetz der VelKd zur Änderung des amtspflichtverletzungsgesetzes<br />

vom 06.11.1993 (abl. VelKd bd. VI, S. 206).<br />

12 Anders, Sinn, Ziel und Zweck der kirchlichen disziplinargerichtsbarkeit, unveröffentlichter<br />

Vortrag auf der Tagung für untersuchungs- und ermittlungsführerinnen<br />

und -führer am 09.10.2004 im Johanniterhaus Kloster Wenningsen, m.w.n.<br />

13 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode 1965, S. 379.<br />

14 Grethlein, dem Frieden und der guten Ordnung dienen, nachrichten der evang.luth.<br />

Kirche in bayern, 34. Jahrgang, 1979, nr. 7/8, = ders., Rechtssammlung der


260 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

diese Ordnung muss stets darauf gerichtet sein, den vom herrn der<br />

Kirche vorgegebenen auftrag möglichst gut zu erfüllen. So ist Kirchenrecht<br />

eine Ordnung in dieser Welt und für diese Welt; es hat aber zugleich eine<br />

Vorgabe aus dem glauben. auch in der Kirche sind demzufolge Ordnung<br />

und Recht Sache des Menschen. die Kirchenordnungen, so lesen wir in Ca<br />

15, sind „von Menschen gemacht“. Grethlein hat Recht, wenn er schreibt:<br />

„auch in der Kirche schafft die Offenbarung gottes nicht das Recht und<br />

die Ordnung; Ordnung in der Kirche wird jedoch begründet, begrenzt und<br />

bestimmt durch die Offenbarung gottes.“ 15<br />

II. Seelsorge und Ermittlungen<br />

das disziplinargesetz folgt diesen Überlegungen, wenn es den ansatz für<br />

Regelungen bei Fehlverhalten von Pfarrern und Pfarrerinnen zunächst in<br />

den seelsorgerlichen Bemühungen sucht und diese, wie auch Maßnahmen<br />

der dienstaufsicht von den Regelungen des disziplinargesetzes ausklammert<br />

(§ 6 diszg). Zu diesen Möglichkeiten im „Vorfeld“ ist besonders die<br />

gemeinschaft der Ordinierten berufen, 16 aber auch jeder Christ ist in diesem<br />

bereich zu geschwisterlichem – seelsorgerlichem – handeln beauftragt.<br />

diese seelsorgerlichen bemühungen enden auch dann nicht, „wenn anzunehmen<br />

ist, dass sie (Pfarrer und Pfarrerinnen) die amtspflicht verletzt<br />

haben“ (§ 3 abs. 1 diszg). Wenn jedoch Tatsachen bekannt werden, die die<br />

annahme begründen, dass ein Pfarrer oder eine Pfarrerin die amtspflicht<br />

verletzt hat, so hat die zuständige Stelle die zur aufklärung des Sachverhalts<br />

notwendigen Ermittlungen zu veranlassen (§ 12 abs. 1 S. 1 diszg).<br />

diese bestimmung normiert das sog. Legalitätsprinzip mit der Verpflichtung<br />

der zuständigen Stelle, die ermittlungen einzuleiten. Von dieser dienstpflicht<br />

wird der dienstvorgesetzte nur dann befreit, wenn ein Prozesshindernis<br />

besteht (z. b. Verjährung: § 4 diszg) bzw. bei bagatellverfehlungen<br />

(z. b. bei unbedeutenden Folgen des Tuns und geringer Schuld des Pfarrers<br />

oder der Pfarrerin). 17<br />

Mit Tatsachen im Sinne des gesetzes sind anhaltspunkte zu verstehen,<br />

die geeignet sind, den Verdacht eines dienstvergehens zu tragen. noch keine<br />

Tatsachen sind gerüchte und vage Vermutungen, die im einzelfall aber<br />

weitere nachforschungen (nicht ermittlungen!) veranlassen können. 18 Wer<br />

evang.-luth. Kirche in bayern (RS) Vor 1, III, „Ordnung in dieser und für diese<br />

Welt“.<br />

15 Grethlein (anm. 10); Anders (anm. 8), m.w.n.; vgl. auch Syn. Protokoll der<br />

lutherischen generalsynode 1965, S. 379 ff.<br />

16 Frank, das amtszuchtgesetz der Vereinigten Kirche, lutherische Monatshefte<br />

1966, S. 26 f.<br />

17 Anders, legalitätsprinzip und Opportunitätsprinzip im disziplinarrecht der lutherischen<br />

Kirchen, Texte der velkd 109/2002, S. 5 ff.<br />

18 Anders (anm. 13), S. 8 m.w.n.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

261<br />

zuständige Stelle ist, haben die landeskirchen je für ihren bereich zu regeln<br />

(§ 11 abs. 2 diszg); in bayern ist es die jeweils zuständige dienstbehörde<br />

(§ 3 abs. 3 diszergg).<br />

III. Grundsatzüberlegungen zu Entscheidungen der einleitenden Stelle<br />

aufgrund des ergebnisses der ermittlungen und nach Vorlage der<br />

akten durch die zuständige Stelle (§ 13 abs. 6 diszg) entscheidet die einleitende<br />

Stelle (in bayern gebildet aus Mitgliedern des landeskirchenrates<br />

und Mitarbeitenden des landeskirchenamtes: § 3 abs. 1 S. 1 diszergg)<br />

nach pflichtgemäßem Ermessen, wie das Verfahren fortgesetzt werden<br />

soll. Während also für die ermittlungen das legalitätsprinzip gilt, ist nach<br />

dem ermittlungsabschluss nach dem Opportunitätsprinzip zu entscheiden.<br />

damit ist im Rahmen des pflichtgemäßem ermessens ein beurteilungsspielraum<br />

gegeben, dem allerdings durch den gesichtspunkt der einheitlichkeit<br />

grenzen gezogen sind. der gleichheitsgrundsatz gilt dem Schutz des Vertrauens<br />

der allgemeinheit und des kirchlichen dienstes in die gleichmäßige<br />

und gerechte anwendung des disziplinarrechts. 19<br />

die Pflichtverletzung des Pfarrers oder der Pfarrerin ist nicht isoliert zu<br />

betrachten. es ist das gesamte dienstliche und außerdienstliche Verhalten<br />

zu würdigen und „insbesondere zu prüfen, ob seine oder ihre glaubwürdigkeit<br />

und damit die glaubwürdigkeit des der Kirche aufgegebenen dienstes<br />

gefährdet oder beeinträchtigt ist“ (§ 7 diszg). neben der Schwere des<br />

dienstvergehens und den auswirkungen seines bzw. ihres Verhaltens auch<br />

auf dritte Personen, auf die gemeinde und die gesamtkirche, sind auch<br />

seine bzw. ihre dienstliche und außerdienstliche Führung, sein bzw. ihr<br />

Verhalten nach dem Vergehen usw. zu berücksichtigen. 20 ein einmaliges,<br />

vielleicht sogar persönlichkeitsfremdes Fehlverhalten ist demzufolge disziplinarrechtlich<br />

anders zu behandeln als schwere und wiederholte Verstöße<br />

gegen bestehende Pflichten.<br />

„Pfarrer und Pfarrerinnen verletzen ihre amtspflichten, wenn sie schuldhaft<br />

gegen die in der Ordination begründeten Pflichten oder gegen sonstige<br />

Pflichten, die sich aus dem dienst- und Treueverhältnis ergeben, verstoßen“<br />

(§ 3 abs. 2 S. 1 diszg). Im Übrigen enthält das disziplinargesetz weitgehend<br />

nur Vorschriften über das Verfahren bei amtspflichtverletzungen<br />

und die gegebenenfalls auszusprechenden Sanktionen. 21<br />

die amtspflichten selbst bestimmt vor allem das „Kirchengesetz zu<br />

Regelung des dienstes der Pfarrer und Pfarrerinnen in der Vereinigten<br />

19 Anders (anm. 13), S. 12 f m.w.n.<br />

20 Anders (anm. 13), S. 12 m.w.n.<br />

21 Maurer, die aufgaben disziplinarischen handelns in der Kirche, nVwZ 1993,<br />

S. 609 (610).


262 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

evangelisch-lutherischen Kirche deutschlands“ vom 17.10.1995 22 , zuletzt<br />

geändert durch Kirchengesetz vom 15.11.2007 23 mit den anwendungsbestimmungen<br />

für die evangelisch-lutherische Kirche in bayern vom<br />

04.12.1996 (Pfarrergesetz – Pfg). beispielhaft seien nur die Pflichten aus<br />

der Ordination (§§ 4 ff. Pfg), die aufgaben in der gemeinde (§§ 31 ff.<br />

Pfg), die Wahrung des beichtgeheimnisses (§ 41 Pfg) und die auftragsgemäße<br />

lebensführung in ehe und Familie (§§ 51 ff. Pfg) genannt. bei Verstoß<br />

gegen diese Pflichten liegt eine amtspflichtverletzung vor (§ 66 abs. 2<br />

Pfg), die nach dem disziplinargesetz verfahrens- und rechtsfolgenmäßig zu<br />

behandeln ist (§ 67 abs. 2 Pfg).<br />

IV. Entscheidungsmöglichkeiten<br />

nach abschluss der ermittlungen ist das ergebnis dem Pfarrer oder der<br />

Pfarrerin bekannt und ihm bzw. ihr gelegenheit zu geben, sich abschließend<br />

zu äußern (§ 13 abs. 4 diszg). Sodann hat die zuständige Stelle zu entscheiden,<br />

ob sie mit zu begründender einstellungsverfügung (wegen nicht<br />

Vorliegen einer amtspflichtverletzung oder nicht Vorliegen der Voraussetzungen<br />

zu einer Maßnahme nach dem disziplinargesetz) die ermittlungen<br />

einstellt (§ 13 abs. 5 diszg) oder mit einem bericht die ermittlungsakten<br />

der einleitenden Stelle vorlegt (§ 13 abs. 6 diszg).<br />

die einleitende Stelle entscheidet sodann über den weiteren Weg des<br />

Verfahrens nach pflichtgemäßem ermessen, also nach dem Opportunitätsprinzip.<br />

Sie kann<br />

1. das Verfahren einstellen (§ 14 abs. 1 nr. 1 diszg), wenn die Voraussetzungen<br />

von § 13 abs. 5 diszg gegeben sind oder Verjährung eingetreten<br />

ist (§ 4 diszg) oder eine bagatellverfehlung vorliegt.<br />

2. das Verfahren unter Auflagen oder Weisungen nach § 16 a abs. 1 vorläufig<br />

einstellen (§ 14 abs. 1 nr. 2 diszg), wenn der Pfarrer oder die Pfarrerin<br />

schriftlich zustimmt und die auflagen und Weisungen geeignet sind, die<br />

durch die amtspflichtverletzung entstandene gefährdung oder beeinträchtigung<br />

für die glaubwürdigkeit des dienstes des Pfarrers oder der Pfarrerin<br />

und damit für die glaubwürdigkeit des der Kirche aufgegebenen dienstes<br />

zu beseitigen“ (§ 16 a abs. 1 diszg).<br />

3. eine Disziplinarverfügung erlassen (§ 14 abs. 1 nr. 3 diszg), wenn<br />

nur eine ahndung durch einen Verweis, eine geldbuße oder eine Verminderung<br />

der bezüge nach § 17 abs. 1 diszg in betracht kommt.<br />

4. das Spruchverfahren herbeiführen (§ 14 abs. 1 nr. 4 diszg), wenn sie<br />

eine entscheidung durch den Spruchausschuss für ausreichend betrachtet,<br />

was noch zu untersuchen sein wird.<br />

22 abl. VelKd bd. VI, S. 274.<br />

23 abl. VelKd bd. VII, S. 376.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

263<br />

5. das förmliche Verfahren einleiten (§ 14 abs. 1 nr. 5 diszg), indem<br />

sie – soweit erforderlich (§ 37 abs. 2 diszg) – einen untersuchungsführer<br />

bestellt (§ 44 diszg) und je nach dem ergebnis der untersuchung (§ 45 ff<br />

diszg) das Verfahren einstellt (§ 50 diszg) oder eine disziplinarverfügung<br />

erlässt (§ 51 diszg) oder die akten mit einer anschuldigungsschrift der disziplinarkammer<br />

vorlegt (§ 52 diszg).<br />

C.<br />

Das Spruchverfahren<br />

I. Einführung und Behandlung in der Literatur<br />

Wie bereits ausgeführt wurde, ist das Spruchverfahren die „auffälligste<br />

besonderheit des disziplinarrechts der VelKd“. 24 Seit seiner Einführung<br />

mit dem amtszuchtsgesetz ist es in den §§ 17 ff. aZg (jetzt: §§ 18 ff. diszg)<br />

weitgehend unverändert bestehen geblieben. es soll daher wörtlich zitiert<br />

werden, was Präsident dr. Konrad Müller, der Vorsitzende des disziplinarrechtsausschusses<br />

der Vereinigten Kirche, zur begründung am 20.04.1965<br />

vor der regionalen Tagung der generalsynode in berlin u. a. vorgetragen<br />

hat: 25<br />

„länger muss ich bei dem Spruchverfahren verweilen; denn es ist das eigentlich<br />

neue an diesem amtszuchtgesetz. die gliedkirchen hatten bisher disziplinargesetze,<br />

die den entsprechenden staatlichen Ordnungen nachgebildet waren, und<br />

je länger desto mehr fiel eine gewisse Starre dieser gesetze bei der praktischen<br />

anwendung schwer, ganz abgesehen davon, dass wir allen anlass haben, Reste aus<br />

der Zeit des Staatskirchentums, soweit sie sich nicht bewähren, abzubauen und<br />

durch eine genuin kirchliche Ordnung zu ersetzen. das Spruchverfahren hieß im<br />

entwurf von 1959 noch Verfahren brüderlicher Zucht. In der Änderung der Überschrift<br />

ist auch eine sachliche Änderung ausgedrückt, dass nämlich dieses Spruchverfahren<br />

weitgehend von den bindungen eines gerichtsähnlichen Verfahrens frei<br />

sein soll. es soll den betroffenen zur einsicht und zu dem Willen verhelfen, aus<br />

eigener entschließung und entscheidung die nötigen Konsequenzen zu ziehen.<br />

dass nicht ein urteil gesprochen, sondern ein Spruch gefällt wird, ist etwas ganz<br />

neues, und ich brauche nicht lange zu begründen, dass diese neuartige Verfahrensform<br />

dem Wesen der Kirche besser entspricht als ein Verfahren, das sich mit<br />

untersuchung, mit Strafverhandlung, mit berufung gerichtsähnlich durchschleppt.<br />

es ist ausdrücklich in § 17 abs. 2 des entwurfs gesagt, dass die vertrauensvolle<br />

aussprache mit dem Pfarrer die Sachumstände klären soll.“<br />

24 Germann (anm. 1), S. 394; vgl. auch Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 5 f.<br />

und ders., Kirchenrecht (anm. 1), S. 37 f.; Maurer (anm. 17), S. 610; Frank (anm. 12),<br />

S. 26 ff.<br />

25 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode 1965, S. 47 f.


264 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

In der Literatur ist das Spruchverfahren relativ knapp behandelt. einige<br />

Stelle sollen indessen zitiert werden:<br />

1. Volker (zu dem entwurf eines amtszuchtgesetzes der VelKd aus dem<br />

Jahr 1960): „In diesem bemühen, durch geistliche aussprache den sündigen<br />

bruder wieder zu gewinnen (vgl. Matth. 18, 15 ff.) und dadurch die amtspflichtverletzung<br />

auszuräumen, zeigt sich die innere Verwandtschaft des<br />

Verfahrens der brüderlichen Zucht mit der ‚admonitio canonica’ in der<br />

ausgestaltung durch die protestantischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts.“<br />

26<br />

2. Frank: „In ihm soll und kann mit dem Ziel einer bereinigung des<br />

Sachverhalts frei von den bindungen des gerichtsförmigen Verfahrens versucht<br />

werden, dem betroffenem amtsträger in brüderlich-seelsorgerischer<br />

aussprache zur einsicht zu verhelfen und ihm die Möglichkeit zu geben, in<br />

freier entscheidung Konsequenzen aus seinem Verhalten zu ziehen.“ 27<br />

3. Strietzel: „Von ausschlaggebender bedeutung (des gesetzentwurfes<br />

von 1965 gegenüber dem früheren entwurf) waren schließlich die Veränderungen<br />

beim ‚Verfahren brüderlicher Zucht’, das unter der bezeichnung<br />

‚Spruchverfahren’ zwar als angebot an die Kirchenleitung beibehalten<br />

wurde, aber nicht mehr Regelverfahren sein sollte.“ 28<br />

4. Maurer: „eine besonderheit des amtszuchtrechts der VelKd bildet<br />

das Spruchverfahren. es ist sowohl im blick auf das Verfahren als auch im<br />

blick auf die Sanktionen flexibler ausgestaltet.“ 29<br />

5. Germann: „das Spruchverfahren ist eine dritte Verfahrensart, die dem<br />

pflichtgemäßen ermessen der einleitenden Stelle neben der disziplinarverfügung<br />

und dem förmlichen Verfahren zur auswahl steht (§ 14 I diszg<br />

VelKd). Seine einrichtung und ausgestaltung spiegelt das bestreben, eine<br />

auf einvernehmliches handeln ausgerichtete entscheidungsfindung der<br />

gerichtsförmigen entscheidung entgegen zu setzen.“ 30<br />

II. Spruchausschuss und Verfahren<br />

das disziplinargesetz schreibt zwingend vor, dass bei der Vereinigten<br />

Kirche und bei den gliedkirchen – eventuell auch gemeinsame – Spruchausschüsse<br />

zu bilden sind (§ 19 abs. 1 diszg). In der evangelisch-lutherischen<br />

Kirche in bayern gehören dem Spruchausschuss an (§ 20 abs. 2<br />

diszg i.V.m. § 5 abs. 2 diszergg):<br />

26 Volker, die neuen disziplinargesetze der deutschen evangelischen Kirchen unter<br />

besonderer berücksichtigung des lutherischen Verständnisses, diss. Köln 1965, S. 84.<br />

27 Frank (anm. 12), S. 26.<br />

28 Strietzel, Kirchenrecht (anm. 1), S. 36.<br />

29 Maurer (anm. 17), S. 610.<br />

30 Germann (anm. 1), S. 395.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

265<br />

– ein Oberkirchenrat oder eine Oberkirchrätin im Kirchenkreis als<br />

Obmann oder Obfrau, der bzw. die vom landeskirchenrat bestimmt wird,<br />

– ein vom landessynodalausschuss gewählter beisitzer oder eine gewählte<br />

beisitzerin, der bzw. die die befähigung zum Richteramt oder höheren Verwaltungsdienst<br />

haben muss und<br />

– ein vom Pfarrerverein bestellter Pfarrer oder eine bestellte Pfarrerin.<br />

Für jedes Mitglied sind je zwei Stellvertreter zu benennen (§ 20 abs. 2<br />

diszg i.V.m. § 5 abs. 4 diszergg). die bestellung der Mitglieder und<br />

ihrer Stellvertreter erfolgt auf die dauer von sechs Jahren (§ 5 abs. 4 diszergg).<br />

das Spruchverfahren als solches ist in §§ 21 ff. diszg geregelt. es<br />

beginnt mit einem begründeten beschluss der einleitenden Stelle, der dem<br />

Obmann oder der Obfrau (mit Verfahrensakten und unterlagen) und dem<br />

Pfarrer oder der Pfarrerin zuzustellen ist (§ 21 diszg). der Pfarrer oder die<br />

Pfarrerin können sich einen Theologen oder eine Theologin oder (anders<br />

als ursprünglich vorgesehen) einen Juristen oder eine Juristin als beistand<br />

wählen, der bzw. die die in § 22 diszg festgelegten Voraussetzung erfüllen<br />

muss.<br />

an der nicht öffentlichen aussprache (§ 23 abs. 2 S. 1 diszg) können<br />

beistand, Vertretung der einleitenden Stelle und andere Personen nur teilnehmen,<br />

wenn der Pfarrer oder die Pfarrerin zustimmt und „dies dienlich<br />

erscheint“ (§ 23 abs. 1 S. 4 diszg).<br />

nach abschluss der aussprache ergeht nach §§ 26 ff. diszg ein Spruch,<br />

auf den später noch einzugehen sein wird.<br />

III. Voraussetzungen des Spruchverfahrens<br />

bei dem Spruchverfahren lag dem gesetzgeber von anfang an daran,<br />

„eine Verfahrensform zu entwickeln, in der in rechtlich geordneter Weise<br />

aber frei von den bindungen des gerichtsförmigen Verfahrens 31 versucht<br />

werden kann, dem betroffenen in brüderlich-seelsorgerischer Aussprache<br />

zur einsicht zu verhelfen und ihm die Möglichkeit zu geben, in freier entscheidung<br />

Konsequenzen aus seinem Verhalten zu ziehen.“ 32<br />

dementsprechend schließt § 18 abs. 2 S. 1 diszg ein „förmliches Verfahren“<br />

aus und setzt die entscheidungsfindung auf die „vertrauensvolle<br />

aussprache“. es wird ganz dem geistlichen ermessen und der anwendung<br />

geistlicher Mittel Raum gegeben. 33 Zwangsmittel sind in diesem Verfahren<br />

nicht vorgesehen, sie können sich nur ergeben, wenn die einleitende Stelle<br />

31 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode, 1965, S. 383; vgl. auch Germann<br />

(anm. 1), S. 395; Frank (anm. 12), S. 26.<br />

32 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode, 1965, a.a.O.<br />

33 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode, 1965, S. 384.


266 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

nach §§ 33 ff. diszg aus den dort angegebenen gründen ein förmliches<br />

Verfahren einleitet.<br />

dem Spruchverfahren fehlen somit die attribute eines gerichtlichen Verfahrens,<br />

also beispielsweise eine anschuldigungsschrift, die auf jeden Fall<br />

zulässige Mitwirkung eines Verteidigers, die Verhängung von Maßnahmen<br />

durch ein urteil und die Möglichkeit, ein Rechtsmittel einzulegen. dennoch<br />

stellte der gesetzgeber in der begründung zum amtszuchtgesetz fest: 34<br />

„gleichwohl handelt es sich im Spruchverfahren nicht um rein geistliche Zuchtübung;<br />

denn es geht hier auch um vis, um rechtlich geordnetes einwirken auf den<br />

betroffenen, und die annahme und nicht annahme des Spruches hat rechtliche<br />

Konsequenzen. auch will das Spruchverfahren seelsorgerliche bemühungen der<br />

amtsbrüder oder des bischofs nicht ersetzen.“<br />

das Spruchverfahren soll aber „nicht an die Stelle des förmlichen Verfahrens<br />

treten, vor allem dann nicht, wenn die gerechtigkeit um der Kirche<br />

und auch des betroffenen willen die Verhängung einer Zuchtmaßnahme<br />

durch richterliches urteil nötig macht.“ 35 daran hat sich seit dem Inkrafttreten<br />

des amtszuchtgesetzes nichts geändert. Maßgebendes Kriterium ist<br />

demzufolge, ob bei einer vorliegenden amtspflichtverletzung der Katalog<br />

der Ratschläge nach § 29 abs. 1 nr. 4 diszg zur ahndung ausreicht.<br />

IV. Der Spruch und seine Folgen<br />

Wie bereits festgestellt wurde, ist das Spruchverfahren nach seinem Charakter<br />

von Förmlichkeiten weitgehend frei (§ 18 abs. 2 S. 1 diszg). auf den<br />

Spruchausschuss, seine bildung und auf das Verfahren wurde bereits eingegangen.<br />

er entscheidet in richterlicher unabhängigkeit (§§ 18 abs. 1, 110<br />

abs. 1 S. 2 diszg). Seine Mitglieder sind an Schrift und bekenntnis und an<br />

Recht und gesetz gebunden (§ 110 abs. 1 S. 1. diszg).<br />

bei der durchführung des Spruchverfahrens geht der Spruchausschuss<br />

zunächst von dem ihm von der einleitenden Stelle mitgeteilten Sachverhalt<br />

aus (§ 21 abs. 1 diszg), er ist in der aussprache aber darauf nicht<br />

beschränkt, sondern kann sie auf neue Tatbestände erstrecken, die die einleitende<br />

Stelle nachträglich mitteilt oder die sich aus der aussprache ergeben<br />

(§ 24 S. 1 und 2 diszg). In letzterem Fall ist der einleitenden Stelle gelegenheit<br />

zur Stellungnahme zu geben (§ 24 S. 3 diszg). Zur Klärung des Sachverhalts<br />

kann der Spruchausschuss die erforderlichen erhebungen selbst<br />

vornehmen (§ 25 abs. 1 diszg). beweiserhebungen sind entsprechend den<br />

bestimmungen des förmlichen Verfahrens vorzunehmen (§ 25 abs. 2 i.V.m.<br />

§§ 67 ff diszg).<br />

34 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode, 1965, S. 384.<br />

35 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode, 1965, S. 384.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

267<br />

am ende der „vertrauensvollen Aussprache“ (§ 18 abs. 2 S. 2 diszg)<br />

ergeht ein Spruch (§ 26 abs. 1 diszg), der mündlich zu eröffnen (§ 26<br />

abs. 3 S. 1 diszg) und alsbald schriftlich mit Tatbestand und gründen<br />

niederzulegen ist (§ 26 abs. 3 S. 2 diszg). eine ausfertigung des Spruches<br />

mit gründen ist dem Pfarrer oder der Pfarrerin und der einleitenden Stelle<br />

zuzustellen (§ 26 abs. 4 diszg).<br />

der Spruch hat zunächst festzustellen (§ 27 abs. 1 diszg),<br />

– ob die beschuldigungen unbegründet sind oder<br />

– ob die beschuldigungen nicht bewiesen sind oder<br />

– ob die amtspflicht verletzt ist.<br />

In letzterem Fall hat der Spruchausschuss wiederum drei Entscheidungsmöglichkeiten.<br />

er kann (§ 28 diszg)<br />

– dem Pfarrer oder der Pfarrerin Vorhaltungen machen und ihn bzw. sie<br />

vermahnen oder<br />

– dem Pfarrer oder der Pfarrerin einen Rat erteilen oder<br />

– feststellen, dass das Spruchverfahren zur bereinigung des Falles nicht<br />

ausreicht.<br />

die wichtigste Möglichkeit ist die erteilung eines Rates, wobei eindeutig<br />

erkennbar sein muss, welches handeln erwartet wird (§ 29 abs. 3<br />

S. 1 diszg). die Möglichkeiten reichen von auflagen für die amts- und<br />

lebensführung über entschuldigungen und Wiedergutmachung bis zur<br />

Zustimmung für die Übertragung einer anderen Stelle (§ 29 abs. 1 diszg).<br />

dieser Katalog ist, wie sich aus dem Wort „insbesondere“ ergibt, nicht<br />

erschöpfend, findet aber seine grenzen in § 29 abs. 1 nr. 4 diszg, so dass<br />

Maßnahmen, die nur der disziplinarkammer vorbehalten sind (vgl. §§ 80 f.<br />

diszg), nicht empfohlen werden dürfen.<br />

nimmt der Pfarrer oder die Pfarrerin den Spruch an (§ 31 abs. 1 diszg)<br />

und befolgt er bzw. sie ihn, worauf die einleitende Stelle zu achten hat (§ 31<br />

abs. 2 diszg), so ist das Disziplinarverfahren abgeschlossen. der behandelte<br />

Sachverhalt kann nicht mehr gegenstand eines neuen disziplinarverfahrens<br />

sein (§ 32 abs. 2 diszg). auch wenn das Spruchverfahren nicht<br />

als ein Rechtsprechungsverfahren im eigentlichen Sinn anzusehen ist, gilt<br />

doch der grundsatz „ne bis in idem“. die Spruchausschüsse kann man mit<br />

Germann als „gerichtsähnliche einrichtungen“ ansehen. 36<br />

nimmt der Pfarrer oder die Pfarrerin binnen zwei Wochen den Spruch<br />

nicht an (§ 30 diszg) oder lässt er bzw. sie die Frist ohne erklärung verstreichen,<br />

werden die akten an die einleitende Stelle zurückgegeben (§ 33<br />

abs. 1 diszg) und diese entscheidet nunmehr im Rahmen des pflichtgemäßen<br />

ermessens nach § 14 abs. 1 diszg wie weiter verfahren werden soll<br />

36 Germann (anm. 1), S. 396.


268 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

(§ 33 abs. 2 diszg). die Möglichkeiten reichen von der Verfahrenseinstellung<br />

bis zur einleitung des förmlichen Verfahrens.<br />

den gleichen Weg nimmt das Spruchverfahren, wenn der Pfarrer oder<br />

die Pfarrerin den ausgesprochenen Rat nicht befolgt (§ 34 diszg) oder der<br />

Spruchausschuss die Feststellung trifft, dass das Spruchverfahren zur bereinigung<br />

des Falles nicht ausreicht (§ 35 diszg) oder der Pfarrer oder die<br />

Pfarrerin sich weigert, an der aussprache teilzunehmen (§ 36 diszg).<br />

das Spruchverfahren ist abgeschlossen, wenn durch den Spruch ausgesprochen<br />

wird, dass die beschuldigungen unbegründet sind (§ 32 abs. 1<br />

S. 1 i.V.m. § 27 abs. 1 nr. 1 diszg) oder wenn ein erteilter Rat befolgt<br />

wurde (§ 32 abs. 1 S. 2 diszg). das disziplinargesetz regelt nicht ausdrücklich<br />

den Fall, dass durch den Spruch festgestellt wird, dass die<br />

„Beschuldigungen nicht bewiesen“ sind (§ 27 abs. 1 nr. 2 diszg). nach<br />

allgemeinem Rechtsverständnis kann indessen die Rechtsfolge nicht anders<br />

sein, wenn der „Freispruch“ wegen bewiesener „unschuld“ erfolgt oder<br />

die Schuld „nicht bewiesen“ ist. hätte der gesetzgeber für den letzteren<br />

Fall die Möglichkeit offen halten wollen, dass die einleitende Stelle weitere<br />

ermittlungen durchführt und danach eine entscheidung nach § 14 abs. 1<br />

diszg trifft, hätte er es, wie in den Fällen der §§ 34 bis 36 diszg, normieren<br />

müssen.<br />

es stellt sich zudem die Frage, ob eine differenzierung zwischen einem<br />

„Freispruch wegen erwiesener unschuld“ und einem „Freispruch mangels<br />

beweises“ rechtlich statthaft ist, denn bis zum nachweis der Schuld<br />

gilt die unschuldsvermutung (vgl. § 6 abs. 2 Konvention zum Schutz der<br />

Menschenrechte und grundfreiheiten). 37 unter diesen Überlegungen wäre<br />

es sinnvoll, wenn der gesetzgeber § 27 abs. 1 nr. 1 und 2 diszg vereinigen<br />

und wie folgt formulieren würde: „durch den Spruch kann festgestellt werden,<br />

dass die beschuldigungen unbegründet oder nicht bewiesen sind.“<br />

nach abschluss des Spruchverfahrens haben weder der oder die beschuldigte<br />

noch die einleitende Stelle die Möglichkeit ein Rechtsmittel einzulegen.<br />

die einleitende Stelle kann sich auch dann nicht gegen den nach<br />

§ 29 diszg erteilten Rat wenden, wenn der oder die betroffene noch eine<br />

erklärung abgeben kann (§ 30 diszg) und sie den erteilten Rat für nicht<br />

zutreffend oder für zu milde hält.<br />

V. Das Spruchverfahren und die anderen Verfahrensarten<br />

es wurde bereits ausgeführt, dass die einleitende Stelle neben der Verfahrenseinstellung<br />

(§ 14 abs. 1 nr. 1 diszg) bzw. der vorläufigen einstellung<br />

(§ 14 abs. 1 nr. 2 diszg) drei Möglichkeiten hat:<br />

– erlass einer disziplinarverfügung (§ 14 abs. 1 nr. 3 diszg),<br />

37 MRK v. 04.11.1950 (bgbl. 1952 II 685).


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

269<br />

– herbeiführung eines Spruchverfahrens (§ 14 abs. 1 nr. 4 diszg),<br />

– einleitung des förmlichen Verfahrens (§ 14 abs. 1 nr. 5 diszg).<br />

In einem ersten entwurf zum amtszuchtgesetz war das Spruchverfahren<br />

als Regelverfahren geplant, 38 dem folgte man bei der einführung des gesetzes<br />

nicht, sondern legte fest, dass die einleitende Stelle unter drei Möglichkeiten<br />

„nach pflichtgemäßem ermessen“ zu entscheiden hat. dabei wurden<br />

unterschiedliche Möglichkeiten der Maßnahmenverhängung durch das<br />

jeweils zuständige gremium festgelegt.<br />

die geltung des sich daraus ergebenden Opportunitätsprinzips bedeutet<br />

nicht, dass die zuständige Stelle in ihrer entscheidung völlig frei wäre. „Ihre<br />

entscheidung muss vielmehr“ – wie bereits zur begründung des „amtszuchtgesetzes“<br />

ausgeführt wurde – „in geistlicher Verantwortung nach dem<br />

Maßstab der gerechtigkeit getroffen werden.“ 39 da keiner Verfahrensart<br />

ein Vorrang eingeräumt wurde, wird sich die einleitende Stelle bei ihrer<br />

ermessensentscheidung daran orientieren, welche art für den vorliegenden<br />

Fall am besten geeignet ist bzw. zu welchem – gerechten – ergebnis sie führen<br />

kann und soll.<br />

(1.) In der Disziplinarverfügung, die die einleitende Stelle selbst erlässt<br />

(§ 17 abs. 1 diszg), kann nur ein Verweis erteilt oder eine geldbuße auferlegt<br />

oder eine Minderung der bezüge ausgesprochen werden. Sie ist, bei<br />

Feststellung eines dienstvergehens – neben der vorläufigen einstellung des<br />

disziplinarverfahrens (§ 16 a diszg) – die mildeste Möglichkeit der ahndung.<br />

(2.) das Spruchverfahren hat die bereits aufgezeigten entscheidungsmöglichkeiten<br />

und gibt dem Spruchausschuss mehr Möglichkeiten durch<br />

einen zu erteilenden Rat.<br />

(3.) das förmliche Verfahren gliedert sich in die untersuchung und das<br />

Verfahren vor der disziplinarkammer (§ 37 abs. 1 diszg). das urteil dieser<br />

Kammer ist unter den Voraussetzungen der §§ 92 ff. diszg (vgl. auch<br />

§ 6 diszergg) sowohl für die einleitende Stelle als auch für den Pfarrer<br />

oder die Pfarrerin mit dem Rechtsmittel der berufung anfechtbar. Über das<br />

Rechtsmittel entscheidet der disziplinarsenat bei der Vereinigten Kirche<br />

(§§ 95 ff. diszg i.V.m. § 7 diszergg). bei dieser Verfahrensart ging der<br />

gesetzgeber von der beachtung der geltenden staatskirchenrechtlichen<br />

Prinzipien der eigenständigkeit und Ämterhoheit der Kirche aus, die auch<br />

eine rechtsstaatlich ausgebaute kirchliche gerichtsbarkeit auf dem gebiet<br />

des disziplinarwesens fordern. 40 daran hat sich seitdem nichts geändert.<br />

die disziplinargewalt der Kirche wird vom Staat und seiner Rechtsordnung<br />

38 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode, 1965, S. 47; vgl. auch Volker<br />

(anm. 20), S. 82 f.<br />

39 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode, 1965, S. 381.<br />

40 Frank (anm. 12) S. 28.


270 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

im Rahmen von art. 140 gg i.V.m. art. 137 WRV anerkannt, so dass die<br />

Religionsgemeinschaften ihre angelegenheiten, also auch das disziplinarrecht,<br />

selbständig ordnen können. 41<br />

der Maßnahmenkatalog des förmlichen Verfahrens ist umfassend und<br />

gibt – neben der Verfahrenseinstellung (§ 78 diszg) und dem Freispruch<br />

(§ 79 diszg) – der disziplinarkammer folgende entscheidungsmöglichkeiten<br />

(§ 80 abs. 1 diszg):<br />

– Verweis,<br />

– geldbuße,<br />

– gehaltskürzung,<br />

– aufhebung der Übertragung der Pfarrstelle oder allgemeinkirchlichen<br />

aufgabe,<br />

– amtsenthebung und Versetzung in den Wartestand,<br />

– amtsenthebung und Versetzung in den Ruhestand,<br />

– entfernung aus dem dienst.<br />

Soweit nicht auf entfernung aus dem dienst erkannt wird, gibt es darüber<br />

hinaus nach § 81 diszg die Möglichkeit, weitere Maßnahmen auszusprechen.<br />

die disziplinarkammer entscheidet nach der beweisaufnahme „nach<br />

ihrer freien Überzeugung“ (§ 75 abs. 2 diszg). Sie hat dabei, neben dem<br />

Sachverhalt der amtspflichtverletzung, das gesamte Verhalten des Pfarrers<br />

oder der Pfarrerin „innerhalb und außerhalb des dienstes zu würdigen und<br />

insbesondere zu prüfen, ob seine bzw. ihre glaubwürdigkeit und damit<br />

die glaubwürdigkeit des der Kirche aufgegebenen dienstes gefährdet oder<br />

beeinträchtigt ist“ (§ 7 diszg).<br />

VI. Entscheidungskriterien für die einleitende Stelle<br />

die einleitende Stelle hat – wie bereits dargelegt wurde – aufgrund des<br />

ergebnisses der ermittlungen „nach pflichtgemäßen Ermessen“ zu entscheiden,<br />

welche Verfahrensart sie wählen will (§ 14 abs. 1 nr. 2 bis 5 diszg).<br />

Sie hat sich dabei vor allem an der Schwere der amtspflichtverletzung, an<br />

der Schuld des Pfarrers oder der Pfarrerin und an seinem bzw. ihrem sonstigen<br />

gesamten Verhalten zu orientieren (§ 7 diszg).<br />

besteht zur durchführung von ermittlungen eine ermittlungspflicht<br />

(legalitätsprinzip des § 12 abs. 1 diszg), ist nach deren abschluss ein<br />

ermessensspielraum für den dienstvorgesetzten (§ 13 abs. 5 diszg) und<br />

die einleitende Stelle (§ 14 abs. 2 i.V.m. § 13 abs. 5 diszg) gegeben, der<br />

aber eine beliebigkeit nicht zulässt. dem Opportunitätsprinzip sind grenzen<br />

gezogen, insbesondere auch durch den gleichheitsgrundsatz, der dem<br />

41 Anders (anm. 8), abschnitt 1.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

271<br />

Schutz des Vertrauens der allgemeinheit und des kirchlichen dienstes in die<br />

gleichmäßige und gerechte anwendung des disziplinarrechts dient. 42<br />

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Zielrichtung<br />

des disziplinarrechts allgemein, auf die bereits vorstehend eingegangen<br />

wurde. Im Vorspruch des disziplinargesetzes der eKd findet sich folgende<br />

Formulierung: „eine Ordnung der kirchlichen amtsdisziplin ist nötig, um<br />

die gemeinden vor Ärgernis und unfrieden zu bewahren, eine rechte amtsführung<br />

zu fördern und das amt vor schlechter ausübung, Missbrauch und<br />

entwürdigung zu schützen.“<br />

einen dem entsprechenden Wortlaut gibt es im disziplinargesetz der<br />

VelKd nicht, aber seine Zielrichtung ist damit vergleichbar. nach beiden<br />

gesetzen soll die Funktionsfähigkeit des kirchlichen dienstes sichergestellt<br />

sein und mit einem disziplinarverfahren eine gewisse „Selbstreinigung“<br />

stattfinden. 43 die spezialpräventive Wirkung einer disziplinarischen entscheidung<br />

soll den betroffenen oder die betroffene anhalten, künftig keine<br />

amtspflichtverletzung mehr zu begehen; 44 somit haben Verfahren und entscheidung<br />

einen erzieherischen Zweck. die generalpräventive Wirkung hat<br />

u. a. auch das Ziel, andere Personen für die das kirchliche disziplinarrecht<br />

gilt, davon abzuhalten, selbst amtspflichtverletzungen zu begehen. 45<br />

Kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, und dies gilt besonders für<br />

Pfarrer und Pfarrerinnen, verrichten ihren dienst in erheblichem umfang<br />

unter den augen der Öffentlichkeit. So wird das bild der Kirche weitgehend<br />

durch sie geprägt. es kann daher für die Kirche nicht gleichgültig sein, wie<br />

das Verhalten ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von der inner- und<br />

außerkirchlichen Öffentlichkeit beurteilt wird. 46 diese Zielrichtung kommt<br />

in § 7 diszg zum ausdruck, wenn dort von der gefährdung oder beeinträchtigung<br />

„des der Kirche aufgegebenen dienstes“ gesprochen wird.<br />

das kirchliche disziplinarrecht verfolgt demzufolge keine Strafzwecke,<br />

sondern die pflichtgetreue erfüllung der kirchlichen aufgaben, die die<br />

glaubwürdigkeit des kirchlichen dienstes gewährleisten soll. 47 dieser<br />

dienst verlangt von den Pfarrern und Pfarrerinnen auch ein der glaubwürdigkeit<br />

entsprechendes Verhalten „außerhalb des dienstes“, womit teilweise<br />

über die vom staatlichen disziplinarrecht an seine beamten und beamtinnen<br />

gestellten ansprüche hinausgegangen wird.<br />

die Notwendigkeit kirchlichen Disziplinarrechts folgt, wie schon zur<br />

begründung des amtszuchtgesetzes gesagt wurde, aus dem umstand, „dass<br />

42 Anders (anm. 13), S. 12, m.w.n.<br />

43 Anders (anm. 8), abschnitt 2.<br />

44 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 29, m.w.n.; Anders (anm. 8), abschnitt 2.<br />

45 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 30, m.w.n.<br />

46 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 31, m.w.n.<br />

47 Maurer (anm. 17), S. 612.


272 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

die Kirche in der gesamtheit ihrer glieder nicht aus Menschen sündloser<br />

heiligkeit besteht, sondern bis zum ende der erdenwege gemeinschaft<br />

gerechtfertigter Sünder bleibt“. Weiter heißt es in der begründung wörtlich:<br />

48<br />

„darum hat die gemeinde Jesu Christi in ihrer irdischen gestalt immer noch<br />

mit dem zu ringen, was sie als geistlicher Körper, als das Volk gottes, bereits<br />

überwunden hat: es gibt auch in ihrer Mitte Sünde und Schuld. dies gilt auch für<br />

diejenigen, denen aus der Ordination oder aus einem anderen kirchlichen auftrag<br />

eine besondere Verantwortung in dienst und leben erwächst und die in einem<br />

kirchengesetzlich geordneten dienstverhältnis zur verfassten Kirche stehen.“<br />

auf die Frage, welche dienstverpflichtungen für Pfarrer und Pfarrerinnen<br />

bestehen, wurde grundsätzlich bereits eingegangen. einzelfälle werden bei<br />

der beantwortung der gestellten Fragen zu behandeln sein.<br />

d.<br />

Die praktische Bedeutung des Spruchverfahrens<br />

das Spruchverfahren hat in der Praxis nicht die bedeutung erlangt,<br />

die der gesetzgeber bei erlass des amtszuchtgesetzes erhofft hatte. 49 So<br />

sprach Präsident dr. Konrad Müller bei der schon zitierten Begründung<br />

des Gesetzes am 20.04.1964 davon, „dass diese neuartige Verfahrensform<br />

dem Wesen der Kirche besser entspricht“ und er meinte an anderer Stelle,<br />

es solle mit dem Spruchverfahren „der Versuch gemacht werden, zu einer<br />

der Kirche gemäßen bereinigung bestimmter Tatbestände zu kommen.“ 50<br />

diese erwartung ist nicht erfüllt worden, wie die nachstehende auflistung<br />

der Verfahren in einigen landeskirchen zeigt.<br />

die umfassendsten aufzeichnungen über durchgeführte Spruchverfahren<br />

finden sich in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover.<br />

danach wurden folgende Spruchverfahren durchgeführt:<br />

1974–1976: kein Verfahren, 51<br />

1977–1982: kein Verfahren, 52<br />

1983–1989: ein Verfahren, 53<br />

1990–2002: kein Verfahren.<br />

Soweit feststellbar gab es in den vergangenen Jahren in der Evangelisch-<br />

Lutherischen Landeskirche Sachsen ein Verfahren und zwar im Jahr 2003<br />

48 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode 1965, S. 379 f.<br />

49 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 6, m.w.n.; ders., Kirchenrecht (anm. 1),<br />

S. 37, m.w.n.<br />

50 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode 1965, S. 47 f.<br />

51 bericht des landeskirchenamtes hannover, aktenstück nr. 4, 1977, S. 37.<br />

52 bericht des landeskirchenamtes hannover, aktenstück nr. 4, 1983, S. 27.<br />

53 bericht des landeskirchenamtes hannover, aktenstück nr. 4, 1990, S. 33.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

273<br />

und in der Föderation Evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland ebenfalls<br />

ein Verfahren, das im Jahr 1990 abgeschlossen wurde; ein weiteres Verfahren<br />

ist noch anhängig.<br />

eine veränderte Praxis ist in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in<br />

Bayern eingetreten. gab es in der Zeit von 1972 bis 1990 und in der Zeit<br />

von 1997 bis 2003 jeweils nur ein Spruchverfahren, wurden im Jahr 2004<br />

drei Verfahren durchgeführt. Zwei dieser zuletzt genannten Fälle weisen<br />

als besonderheit auf, dass ihnen als amtspflichtverletzung ehebrecherisches<br />

Verhalten eines Pfarrers zugrunde lag.<br />

e.<br />

Die im Gutachtensauftrag gestellten Fragen<br />

I. Rechtsnatur des Spruchverfahrens<br />

der kirchliche gesetzgeber hat in § 14 abs. 1 nr. 2 bis 4 diszg der einleitenden<br />

Stelle mit der disziplinarverfügung, dem Spruchverfahren und dem<br />

förmlichen Verfahren drei entscheidungsmöglichkeiten gegeben, von denen<br />

sie nach pflichtgemäßem ermessen gebrauch machen kann. Wie bereits<br />

ausgeführt, wollte der gesetzgeber mit dem Spruchverfahren eine – sonst<br />

nicht bekannte – Verfahrensform entwickeln, „in der in rechtlich geordneter<br />

Weise, aber frei von bindungen des gerichtsförmigen Verfahrens, versucht<br />

werden kann, dem betroffenen in brüderlich-seelsorgerlicher aussprache<br />

zur einsicht zu verhelfen und ihm die Möglichkeit zu geben, in freier entscheidung<br />

Konsequenzen aus seinem Verhalten zu ziehen.“<br />

dem Spruchverfahren fehlen die attribute eines gerichtlichen Verfahrens;<br />

es ist aber auch nicht eine „rein geistliche Zuchtübung“. Ihm ist auch nicht,<br />

wie ursprünglich angedacht war, ein Vorrang vor den beiden anderen Verfahrensarten<br />

eingeräumt.<br />

die Mitglieder des Spruchausschusses sind an Schrift und bekenntnis und<br />

an Recht und gesetz gebunden (§ 110 abs. 1 S. 1 diszg) und sie entscheiden<br />

in richterlicher unabhängigkeit (§ 110 abs. 1 S. 2 diszg). der von dem<br />

Spruchausschuss abschließend verhandelte Sachverhalt kann nicht mehr<br />

gegenstand eines neuen disziplinarverfahrens sein (§ 32 abs. 2 diszg). es<br />

gilt also der grundsatz „ne bis in idem“.<br />

das Spruchverfahren ist demzufolge kein Rechtsprechungsverfahren im<br />

eigentlichen Sinn, sondern – wie auch Germann meint 54 – ein gerichtsähnliches<br />

Verfahren, das zwischen disziplinarverfügung und förmlichem Verfahren<br />

einzuordnen ist.<br />

54 Germann (anm. 1), S. 396.


274 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

II. Zweck des Spruchverfahrens<br />

bei der Frage nach dem Zweck kirchlicher disziplinargerichtsbarkeit<br />

ganz allgemein überschneiden sich „Sinn, Ziel und Zweck“ 55 , wie es<br />

auch im staatlichen disziplinarrecht der Fall ist. auf lebenszeit berufene<br />

beamte und beamtinnen stehen, wie auch Pfarrer und Pfarrerinnen, in<br />

einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis (§ 3 abs. 1 Pfg),<br />

aus dem sich für diese, wie auch für den Staat bzw. die jeweilige Kirche,<br />

gegenseitige Rechte und Pflichten ergeben. dem disziplinarrecht kommt<br />

daher – sowohl beim Staat, wie in der Kirche – auch eine Schutzfunktion<br />

für die beamten und beamtinnen bzw. die Pfarrer und Pfarrerinnen zu (vgl.<br />

§ 3 abs. 2 Pfg).<br />

das staatliche Disziplinarrecht bezweckt nach herrschender Meinung<br />

die „Pflichtenmahnung“, die „Selbstreinigung“ und die „generalpräventive<br />

Wirkung“; 56 es soll das gemeinschaftsinteresse sichern, das Vertrauen des<br />

Staatsbürgers und der Staatsbürgerin in die exekutive aufrechterhalten<br />

und die Funktionsfähigkeit der Verwaltung gewährleisten. Mit der spezialpräventiven<br />

Pflichtenmahnung hat es auch erziehungsfunktion und es wirkt<br />

generalpräventiv, da die disziplinarmaßnahme einen gewissen abschrekkungseffekt<br />

haben kann. Primär ist es allerdings auf die Person des angeschuldigten<br />

beamten bzw. die angeschuldigte beamtin und nicht auf die<br />

abschreckung dritter abzustellen. bei der Reinigungsfunktion des disziplinarrechts<br />

spricht man beim Staat von der „erhaltung der Integrität und der<br />

Sauberkeit des beamtentums“ und der „bewahrung der achtung und des<br />

Vertrauens in die amtsführung des einzelnen beamten“. 57<br />

Prüft man das kirchliche Disziplinarrecht an den staatlichen Zielrichtungen<br />

„Pflichtenmahnung“, „Selbstreinigung“ und „generalpräventive<br />

Wirkung“, kann man feststellen, dass Parallelen vorhanden sind. In dem<br />

bereits zitierten Vorspruch zum disziplinargesetz der eKd findet man als<br />

aufgabe des disziplinarrechts die Formulierung, eine „rechte amtsführung<br />

zu fördern und das amt von schlechter ausübung, Missbrauch und entwürdigung<br />

zu schützen“. auch nach dem disziplinargesetz der VelKd soll<br />

die Funktionsfähigkeit des kirchlichen dienstes sichergestellt sein und mit<br />

einem disziplinarverfahren eine gewisse „Selbstreinigung“ stattfinden.<br />

daneben hat das kirchliche disziplinarrecht auch Ziele, die unmittelbar<br />

auf den geistlichen auftrag der Kirche zurückgehen. 58 Linnenbrink ist zuzustimmen,<br />

wenn er sagt: „das kirchliche disziplinarrecht kann und darf m.e.<br />

55 vgl. Anders (anm. 8), m.w.n.<br />

56 Zängl, bayerische disziplinarordnung, Teil II, Materielles disziplinarrecht I, loseblattsammlung,<br />

Stand: Oktober 2007, S. 4.<br />

57 Zängl (anm. 49), S. 6 f.; Lindgen, handbuch des disziplinarrechts, erster band,<br />

berlin 1968, S. 3, 105.<br />

58 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 34.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

275<br />

nicht allein sein Ziel in der aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des<br />

pastoralen dienstes sehen. es muss immer den unauflösbaren Zusammenhang<br />

von Person, amt und lebensführung gerade dieses pastoralen dienstes<br />

Rechnung tragen.“ 59 diesen Überlegungen folgt das disziplinargesetz, wenn<br />

es einerseits die seelsorgerlichen bemühungen und Maßnahmen der dienstaufsicht<br />

von seinen Regelungen unberührt lässt (§ 6 abs. 1 diszg), andererseits<br />

mit dem Spruchverfahren eine Verfahrensart bereit stellt, in deren<br />

Mittelpunkt die vertrauensvolle aussprache steht (§ 18 abs. 2 diszg).<br />

daraus ergibt sich deutlich, dass nach dem Sinn des Disziplinargesetzes<br />

der Zweck der Seelsorge neben den Zweck tritt, die Funktionsfähigkeit<br />

des kirchlichen dienstes sicherzustellen. 60 der spezielle Zweck des Spruchverfahrens<br />

ist es darüber hinaus, die Fälle zu erfassen, bei denen eine disziplinarverfügung<br />

von ihren ahndungsmöglichkeiten her nicht ausreicht,<br />

und ein förmliches Verfahren nicht erforderlich ist. hinzu muss kommen,<br />

dass der Pfarrer oder die Pfarrerin bereit ist, sich einer „vertrauensvollen<br />

aussprache“ (§ 18 abs. 2 S. 1 diszg) zu unterziehen und einen Spruch zu<br />

akzeptieren (§§ 30 f diszg).<br />

außerdem muss die erwartung gerechtfertigt sein, dass der oder die<br />

betroffene durch die aussprache zur einsicht gebracht werden kann, dass<br />

eine amtspflichtverletzung vorliegt (§ 18 abs. 2 S. 2 diszg), und ein Wille<br />

zu einem künftigen Verhalten ohne amtspflichtverletzungen geweckt wird.<br />

Schließlich ist Zweck des Spruchverfahrens, wie jeden disziplinarverfahrens,<br />

spezialpräventive und generalpräventive Wirkungen zu haben und<br />

zwar ohne einen Strafzweck zu verfolgen.<br />

III. Anwendungsfälle<br />

das Spruchverfahren hat der kirchliche gesetzgeber zwischen disziplinarverfügung<br />

und förmliches Verfahren gestellt, was – wie ausgeführt<br />

– bedeutet, dass die disziplinarverfügung nicht geeignet und das<br />

förmliche Verfahren noch nicht notwendig ist. die entscheidung ist unter<br />

Prüfung der Schwere des dienstvergehens, der Schuld des Pfarrers oder der<br />

Pfarrerin und den möglichen nach dem gesetz vorgegebenen Maßnahmen<br />

zu suchen.<br />

In §§ 28 f. diszg sind die möglichen Maßnahmen für das Spruchverfahren<br />

normiert, wobei weder die „Vorhaltungen“, noch die „Vermahnung“<br />

(§ 28 nr. 1 diszg), noch der mögliche „Rat“ (§§ 28 nr. 2, 29 diszg)<br />

inhaltlich erschöpfend dargestellt sind. gerade bei dem Rat ergibt sich aus<br />

59 Linnenbrink, „Wie weit kann die Praxis des kirchlichen disziplinarwesens beurteilungsmaßstäbe<br />

und Verfahrensweisen des staatlichen disziplinarwesens übernehmen<br />

bzw. von diesem abweichende eigenständige lösungen finden?“, Texte aus der velkd<br />

109/2002, S. 26.<br />

60 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 35.


276 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

dem Wort „insbesondere“ (§ 29 abs. 1 diszg), dass die nachfolgende aufzählung<br />

nur beispielhaft ist. allerdings darf der „Rat“ nur bis zu dem einverständnis<br />

des Pfarrers oder der Pfarrerin zur Übernahme einer anderen<br />

Pfarrstelle gehen. darüber hinausgehende Maßnahmen sind dem förmlichen<br />

Verfahren vorbehalten (§ 80 abs. 1 nr. 5 bis 7 diszg). andere Maßnahmen<br />

– wie Verweis, geldbuße und gehaltskürzung – sind nur bei der<br />

disziplinarverfügung möglich (§ 17 abs. 1 diszg).<br />

aus dem Katalog des § 29 abs. 1 diszg, der gewisse Möglichkeiten für<br />

einen „Rat“ auflistet, kann geschlossen werden, welche Fälle der gesetzgeber<br />

für die anwendung des Spruchverfahrens in das auge gefasst hatte.<br />

nach § 29 abs. 1 diszg kann ein „Rat“ erteilt werden, nach welchem der<br />

oder die betroffene<br />

– sich bestimmten zeitlich befristeten auflagen für die amts- und lebensführung<br />

zu unterwerfen hat oder<br />

– sich gegenüber bestimmten Personen oder vor der gemeinde zu entschuldigen<br />

hat oder<br />

– ein begangenes unrecht wieder gutzumachen hat oder<br />

– der Übertragung einer anderen Pfarrstelle oder allgemeinkirchlichen<br />

aufgabe zuzustimmen hat.<br />

Welche Fälle im Spruchverfahren für welche Maßnahme geeignet sind,<br />

kann generell nicht gesagt werden, da es immer auf den einzelfall ankommt.<br />

das disziplinargesetz und das Pfarrergesetz enthalten bestimmungen,<br />

die allgemeine aussagen über die amtspflichten eines Pfarrers oder einer<br />

Pfarrerin treffen, ohne dabei konkrete Verhaltenspflichten festzulegen. die<br />

Pflichten ergeben sich vor allem aus der Ordination und aus dem dienst-<br />

und Treuverhältnis (§ 3 abs. 2 S. 1 diszg). Im jeweils zu entscheidenden<br />

Fall wird nach art und Schwere der amtspflichtverletzung (deren Folgen<br />

eingeschlossen) und der Schuld des oder der betroffenen zunächst die einleitende<br />

Stelle nach pflichtgemäßen ermessen (§ 14 abs. 1 diszg) zu prüfen<br />

haben, welchen Verfahrensweg sie einschlägt, und im Spruchverfahren<br />

selbst der Spruchausschuss zu entscheiden haben, welchen Spruch er fällt<br />

(§ 26 abs. 1 diszg).<br />

eine vollständige Auflistung aller möglichen dienstvergehen gibt es<br />

nicht, da der Pflichtenkreis der Pfarrer und Pfarrerinnen zu umfassend und<br />

auch gewissen Veränderungen unterworfen ist. Strietzel hat recht, wenn er<br />

ausführt, dass den „unbestimmten generalklauseln“ in den verschiedenen<br />

gesetzen eine erhebliche praktische bedeutung zukommt und eine Konkretisierung<br />

der einzelnen Pflichten sich auch an der Rechtsprechung der<br />

Kirchengerichte zu orientieren hat. 61 Strietzel hat in seiner dissertation den<br />

Versuch unternommen, die einzelnen Pflichten – soweit als möglich – auf-<br />

61 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 105, m.w.n.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

277<br />

zulisten 62 und hat dabei die folgende gliederung vorgenommen, die den<br />

nachfolgenden ausführungen zugrunde gelegt werden soll:<br />

a. allgemeine Verhaltenspflichten,<br />

b. geistliche amtspflichten im engeren Sinn,<br />

c. besondere Pflichten gegenüber der gemeinde,<br />

d. besondere Pflichten gegenüber der gesamtkirche,<br />

e. Verhalten gegenüber dem Staat,<br />

f. besondere Pflichten gegenüber der gemeinschaft der Ordinierten,<br />

g. besondere Pflichten im persönlichen leben.<br />

In allen diesen bereichen können dienstvergehen vorkommen, die eine<br />

ahndung – auch – im Spruchverfahren ermöglichen, wenn die allgemeinen<br />

Voraussetzungen gegeben sind. Weitgehend beispielhaft wird auf die einzelnen<br />

Pflichtarten im nachfolgenden eingegangen:<br />

1. allgemeine Verhaltenspflichten<br />

a. Wahrung der Würde des amtes<br />

die allgemeinen Regelungen von § 49 abs. 1 Pfg i.V.m. § 4 abs. 2 und<br />

art. 6a Pfg werden als eine art generalklausel angesehen, auf die die<br />

Kirchengerichte zurückgreifen, wenn Spezialvorschriften fehlen oder diese<br />

näher begründet werden sollen. ein Verstoß dagegen, der ein Spruchverfahren<br />

auslösen kann, kann beispielweise bei wiederholten groben verbalen<br />

entgleisungen oder entsprechenden Verstößen in auftreten und haltung<br />

vorliegen.<br />

b. einhaltung der gesetze und Ordnungen<br />

nach § 3 abs. 1 Pfg sind „kirchliche gesetze und sonstige kirchlichen<br />

Ordnungen“ für Pfarrer und Pfarrerinnen verbindlich. Für diesen bereich<br />

gibt es eine ganze Reihe von Sondervorschriften, wie z. b. für die gewissenhafte<br />

erfüllung von Verwaltungsaufgaben (§ 33 Pfg) oder bezüglich<br />

der Kirchenbuchführung und die treuhänderische Verwaltung der Gabenkasse.<br />

63 der Senat für amtszucht (jetzt: disziplinarsenat) hat in einer entscheidung<br />

die Verpflichtung des Pfarrers bejaht, die zuständige kirchliche<br />

behörde darauf hinzuweisen, wenn zu hohe bezüge ausgezahlt werden. 64<br />

darüber hinaus wird auf die nachfolgenden ausführungen hingewiesen.<br />

62 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 106 ff.<br />

63 Richtlinien über die Verwaltung und Verwendung von gottesdiensteinlagen und<br />

freiwilligen gaben (gabenrichtlinien) vom 12.09.1994 (Kabl S. 314).<br />

64 urteil vom 11.09.1984, Rsprb abl. eKd 1986, S. 16.


278 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

c. Verhalten gegenüber kirchlichen Vorgesetzten<br />

die Rechtsprechung des Senats für amtszucht 65 hat aus den allgemeinen<br />

bestimmungen zu einem dem amt gemäßen Wandel eine Pflicht zu Gehorsam<br />

und Achtung gegenüber den Mitgliedern der Kirchenleitung und den<br />

dienstvorgesetzten hergeleitet (§ 43 Pfg). eine solche Verpflichtung ergibt<br />

sich auch aus den Regelungen über die dienstaufsicht (§§ 3 abs. 3, 62 ff.<br />

Pfg) und dem Weisungsrecht in speziellen Fällen (vgl. § 43 Pfg).<br />

d. Verschwiegenheitspflicht<br />

Verstöße gegen diese Pflicht können sich aus dem Verletzen des Beichtgeheimnisses<br />

(§ 41 Pfg) und / oder der allgemeinen Verpflichtung zu der in<br />

§ 42 Pfg geregelten Dienstverschwiegenheit ergeben. letzteres bedeutet,<br />

dass ein Pfarrer oder eine Pfarrerin rein interne angelegenheiten aus dem<br />

kirchlichen bereich nicht in die Öffentlichkeit tragen darf. das beichtgeheimnis<br />

beinhaltet neben der Verschwiegenheitspflicht auch ein Zeugnisverweigerungsrecht<br />

im Strafverfahren (§ 53 abs. 1 nr. 1 StPO). damit<br />

wird das Vertrauensverhältnis zwischen Seelsorger und Seelsorgerin und<br />

denen, die ihre hilfe in anspruch nehmen, besonders geschützt. eine wissentliche<br />

Verletzung dieses Vertrauensverhältnisses wäre als eine schwere<br />

amtspflichtverletzung anzusehen und in der Regel für das Spruchverfahren<br />

ungeeignet.<br />

e. Pflichten bei nebentätigkeiten<br />

durch das Kirchengesetz zur Änderung des Pfarrergesetzes vom<br />

02.11.2004 ist auch das Nebentätigkeitsrecht umgestaltet worden. nach<br />

den nun geltenden bestimmungen dürfen nebentätigkeiten von Pfarrern<br />

und Pfarrerinnen nur übernommen werden, „wenn dies mit ihrem amt und<br />

mit der gewissenhaften erfüllung ihrer dienstpflichten vereinbar ist und<br />

kirchliche Interessen nicht entgegenstehen“ (§ 56 Pfg). andererseits sind sie<br />

verpflichtet, auf Verlangen ihrer Kirche „eine Nebentätigkeit im kirchlichen<br />

Interesse auch ohne Vergütung zu übernehmen“ (§ 56a Pfg). amtspflichtverletzungen<br />

können sich demnach aus nicht genehmigten nebentätigkeiten<br />

(§ 56b abs. 1 Pfg) bzw. aus einer beharrlichen Weigerung zu einer zumutbaren<br />

nebentätigkeit im kirchlichen Interesse ergeben. auch in diesen bereichen<br />

ist ein Spruchverfahren denkbar, wenn zu erwarten ist, dass durch eine<br />

vertrauensvolle aussprache eine lösung gefunden werden kann.<br />

2. geistliche amtspflichten im engeren Sinn<br />

Zu den grundpflichten und hauptaufgaben des Pfarrers und der Pfarrerin<br />

gehören die leitung des gottesdienstes, die Vornahme von amtshand-<br />

65 urteil vom 17.07.1969, Rsprb abl. VelKd bd. III, St. 9, S. 8 und 9.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

279<br />

lungen, die christliche unterweisung und die Seelsorge (§ 32 abs. 1 S. 1<br />

Pfg).<br />

a. gottesdienst und amtshandlungen<br />

Mit der Ordination erhalten Pfarrer und Pfarrerinnen den auftrag und<br />

das Recht zur öffentlichen Wortverkündigung und zur Sakramentsverwaltung<br />

(§ 4 abs. 1 Pfg) und gehen gleichzeitig die Verpflichtung ein, das<br />

evangelium „rein zu lehren“ und die Sakramente „ihrer einsetzung gemäß<br />

zu verwalten“ (§ 4 abs. 2 Pfg).<br />

Zur Wahrnehmung dieser aufgaben sind sie in der Gemeinde berufen<br />

(§ 32 abs. 1 Pfg). eines dienstvergehens kann sich somit ein Pfarrer oder<br />

eine Pfarrerin schuldig machen, wenn er bzw. sie den gottesdienst nicht<br />

pflichtgemäß abhält oder den erforderlichen amtshandlungen nicht nachkommt.<br />

Im einzelfall wird jeweils zu prüfen sein, ob eine amtspflichtverletzung<br />

vorliegt oder die Voraussetzungen eines lehrbeanstandungsverfahrens<br />

gegeben sind.<br />

Zu dem auftreten von Pfarrern und Pfarrerinnen im gottesdienst und<br />

bei amtshandlungen ist auch die Verpflichtung zu rechnen, die ein Auftreten<br />

entsprechend der Würde des amtes verlangt (§ 49 abs. 1 Pfg), wobei<br />

in der Regel die amtskleidung anzulegen ist (§ 49 abs. 2 Pfg). 66 – Je nach<br />

Schwere des Verstoßes kann ein Spruchverfahren in betracht kommen (z. b.<br />

bei wiederholter Verletzung der Kleidungsvorschriften), wenn zu erwarten<br />

ist, dass „in vertrauensvoller aussprache“ ein künftiges Fehlverhalten verhindert<br />

werden kann.<br />

b. Christliche unterweisung<br />

der Religionsunterricht ist ein ordentliches lehrfach an allen Volksschule,<br />

berufsschulen und mittleren und höheren Schulen (art. 136 abs. 2<br />

bayerische Verfassung). nach art. 44a Pfg sind Pfarrer und Pfarrerinnen<br />

zur erteilung des Religionsunterrichts verpflichtet. 67 daraus ergibt sich, dass<br />

sie ihn regelmäßig und dem lehrplan gemäß zu halten und eine leistungsgerechte<br />

benotung vorzunehmen haben. Wer dem nicht nachkommt, kann<br />

sich einer amtspflichtverletzung schuldig machen. – auf die sich gegenüber<br />

dem Staat ergebenden Verpflichtungen wird später noch einzugehen sein.<br />

c. Seelsorge<br />

eine hauptverpflichtung geistlicher art ist für Pfarrer und Pfarrerinnen<br />

außerhalb von gottesdienst und amtshandlungen die Seelsorge (§ 32 abs. 1<br />

66 Vgl. auch bekanntmachung über die gottesdienstliche Kleidung der Pfarrer und<br />

Pfarrerinnen vom 08.08.1996 (Kabl S. 249).<br />

67 Vgl. auch Verordnung über die Verteilung des Religionsunterrichts und über das<br />

Regelstundenmaß der Pfarrer und Pfarrerinnen vom 05.12.1996 (Kabl S. 354).


280 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

S. 1 Pfg). Sie ist gerade auch als dienst an allen gliedern ihrer gemeinde<br />

(§ 35 abs. 1 Pfg) anzusehen, wobei eine besondere Verpflichtung zur Wahrung<br />

des bereits behandelten Seelsorgegeheimnisses besteht (art. 6a Pfg).<br />

die nichtwahrnehmung der Seelsorge wird als dienstvergehen schwerlich<br />

nachzuweisen sein. bei bekanntwerden von möglichen Verletzungen dieser<br />

aufgabe ist in erster linie der dienstvorgesetzte zu seelsorgerlichen bemühungen<br />

und Maßnahmen seinerseits gefordert (§ 6 diszg).<br />

3. besondere Pflichten gegenüber der gemeinde<br />

War im Vorstehenden von besonderer Verantwortung vor allem auch für<br />

das geistliche leben in der gemeinde die Rede, gibt es daneben eine größere<br />

Zahl von aufgaben aus den Organisations- und Verwaltungsbereichen, für<br />

die Pfarrer und Pfarrerinnen zuständig sind.<br />

a. Residenz- und Präsenzpflicht<br />

nach § 45 abs. 1 Pfg sind Pfarrer und Pfarrerinnen verpflichtet an ihrem<br />

dienstsitz eine bestimmte Dienstwohnung zu beziehen und diese nach beendigung<br />

des dienstverhältnisses unverzüglich wieder frei zu machen (§ 45<br />

abs. 3 Pfg). gerade bezüglich der Räumung der Wohnung kann es Schwierigkeiten<br />

geben, die – soweit eine amtspflichtverletzung vorliegt – aber<br />

kaum mittels eines Spruchverfahrens zu lösen sein werden, da die dafür<br />

erforderliche einsicht des oder der betroffenen nicht gegeben sein dürfte.<br />

neben der Residenzpflicht haben Pfarrer und Pfarrerinnen nach § 46 und<br />

art. 46a Pfg auch eine Präsenzpflicht, so dass gemeindeglieder – vor allem<br />

in notsituationen – sie rasch erreichen können. es ist gemeindepfarrern<br />

und gemeindepfarrerinnen daher nicht gestattet, sich für längere Zeit aus<br />

dem dienstbereich zu entfernen, wenn sie die dazu erforderliche erlaubnis<br />

nicht haben. Für urlaubszeiten gibt es nach der Pfarrerurlaubsverordnung<br />

besondere Regelungen, 68 die auch bei erkrankung usw. eingreifen können.<br />

bezüglich kirchengerichtlicher entscheidungen zur Residenz- und Präsenzpflicht<br />

wird auf die Rechtsprechungshinweise bei Strietzel verwiesen. 69<br />

b. Zusammenwirken mit Kirchenvorstand und anderen Mitarbeitern<br />

und Mitarbeiterinnen<br />

Pfarrer und Pfarrerinnen sind nicht nur „auf die Fürbitte, den Rat und<br />

die hilfe der gemeinde angewiesen“ (§ 40 Pfg), sondern sie sollen ihrerseits<br />

mit den Mitgliedern des Kirchenvorstands und mit anderen Mitarbeitern<br />

und Mitarbeiterinnen der gemeinde vertrauensvoll zusammenarbei-<br />

68 Verordnung über den urlaub von Pfarrer und Pfarrerinnen vom 27.10.1997<br />

(Kabl S. 366), zuletzt geändert durch VO vom 12.12.2003 (Kabl 2004 S. 9).<br />

69 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 114 ff. m.w.n. in den Fußnoten.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

281<br />

ten (§ 32 abs. 2 Pfg; vgl. auch u. a. § 19 Kirchengemeindeordnung). Sie<br />

sind sich gegenseitige hilfe schuldig, so dass bei fehlender bereitschaft zur<br />

Zusammenarbeit bei Pfarrern und Pfarrerinnen ein dienstvergehen vorliegen<br />

kann. auch in diesem bereich kann, wenn seelsorgerliche bemühungen<br />

nicht ausreichen (§ 6 diszg), ein Spruchverfahren mit einem entsprechenden<br />

Rat (z. b. nach § 29 abs. 1 nr. 2 diszg) geeignet sein.<br />

c. Verwaltungsaufgaben<br />

Pfarrer und Pfarrerinnen sind nach § 33 Pfg zur gewissenhaften erfüllung<br />

der Verwaltungsaufgaben (Geschäfts- und Kirchenbuchführung sowie<br />

bei Vermögens- und Geldangelegenheiten) verpflichtet. In diesem aufgabenfeld<br />

kann es in der Praxis dienstvergehen geben, wobei ein Spruchverfahren<br />

nur bei „Schlamperei“ und leichteren Verstößen geeignet ist. ansonsten<br />

wird ein förmliches Verfahren (z. b. bei Veruntreuung) durchzuführen sein.<br />

d. dienstordnung und Mitarbeit in einer anderen gemeinde<br />

dienstliche Verpflichtungen können sich für Pfarrer und Pfarrerinnen<br />

aus einer dienstordnung (art. 14a und art. 34a Pfg) oder aus einer erforderlichen<br />

Zusammenarbeit mehrerer benachbarter Gemeinden ergeben.<br />

Ob bei Verstößen eine dienstpflichtverletzung vorliegt, ist in jedem einzelfall<br />

auf grund der bestehenden Regelungen zu prüfen und zu entscheiden.<br />

daraus ergibt sich dann auch, welcher Verfahrensweg gegebenenfalls einzuschlagen<br />

ist.<br />

4. besondere Pflichten gegenüber der gesamtkirche<br />

a. Verpflichtung zur Fortbildung<br />

nach § 39 abs. 2 Pfg sind Pfarrer und Pfarrerinnen verpflichtet, sich<br />

regelmäßig fortzubilden, insbesondere durch theologische arbeit im Pfarrkonvent<br />

70 , durch Teilnahme an kirchlichen Fortbildungsveranstaltungen 71<br />

und durch Selbststudium. In einer beharrlichen Weigerung zur Teilnahme<br />

und Mitarbeit im Pfarrkonvent kann demzufolge ein dienstvergehen vorliegen,<br />

das – wenn die Möglichkeiten des § 6 diszg erschöpft sind – zu einem<br />

Spruchverfahren oder einem anderen Verfahren führen kann.<br />

b. Verpflichtung zur Übernahme besonderer aufgaben<br />

Pfarrer und Pfarrerinnen sind nach § 44 abs. 1 Pfg zur Übernahme<br />

„zusätzlicher aufgaben“ verpflichtet. dieser „Mussbestimmung“ können<br />

70 Vgl. Rundschreiben des landeskirchenamtes zum Kostenersatz bei Teilnahme an<br />

Pfarrkonventen und dekanekonventen vom 20.09.1990 (RS 585/3).<br />

71 Vgl. Fortbildungsordnung vom 05.05.1982 (Kabl S. 137), geändert durch bek.<br />

vom 16.09.1985 (Kabl S. 302); aFS-Rahmenkonzept vom 01.01.1992 (Kabl S. 1)<br />

und Fortbildungsrichtlinien vom 25.07.2003 (Kabl S. 233).


282 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

sie sich nicht entziehen, wenn diese zusätzliche aufgabe ihnen bei ihren<br />

sonstigen belastungen und entsprechend ihren Fähigkeiten zugemutet werden<br />

können. Zu diesen aufgaben ist die erteilung des Religionsunterrichts<br />

(art. 44a Pfg) ebenso zu rechnen, wie eine vorübergehende Vertretung<br />

auch außerhalb des dienstbereiches (§ 44 abs. 2 Pfg). – In diesen bereichen<br />

kann eine strikte Weigerung zunächst zu dienstaufsichtlichen (§ 6 diszg)<br />

und sodann ebenfalls zu disziplinarrechtlichen Maßnahmen führen.<br />

c. Verhalten in der Öffentlichkeit<br />

Wie bereits ausgeführt wurde, haben Pfarrer und Pfarrerinnen in ihrem<br />

auftreten „stets die Würde des Amtes“ zu wahren (§ 49 abs. 1 Pfg). diese<br />

Verpflichtung reicht von der angemessenen amtskleidung (§ 49 abs. 2<br />

Pfg) bis zu einer eventuellen politischen betätigung (§ 58 Pfg). letztere<br />

ist grundsätzlich nicht untersagt, sie darf jedoch nicht in Widerspruch zum<br />

auftrag stehen. 72<br />

gesetzlich ausdrücklich geregelt sind die Rechtsfolgen bei Kandidaturen<br />

zu bestimmten politischen gremien (art. 58 a und art. 58 b Pfg), die<br />

eventuell dazu führen können, dass zur Zeit der Kandidatur das Recht zur<br />

öffentlichen Wortverkündigung und zur Sakramentsverwaltung ruht.<br />

landeskirchenrat und landessynodalausschuss haben daneben für politische<br />

Aussagen am 26.10.1987 „leitlinien zu politischen Stellungnahmen<br />

aus den kirchlichen bereich“ erlassen. 73 Schließlich untersagt § 57 Pfg den<br />

Pfarrern und Pfarrerinnen die unterstützung von Körperschaften und Vereinigungen,<br />

„wenn sie dadurch in Widerspruch zu ihrem auftrag treten oder<br />

wenn sie durch die unterstützung in der ausübung ihres dienstes wesentlich<br />

behindert werden.“<br />

ein dienstvergehen kann in diesem ganzen bereich nur vorliegen, wenn<br />

gegen die bestehenden Regelungen wesentlich verstoßen wird. dies wird<br />

insbesondere dann der Fall sein, wenn der Pfarrer oder die Pfarrerin in<br />

eklatanter Weise § 58 abs. 1 Pfg zuwider handelt, wo es heißt, das er bzw.<br />

sie „ihren dienst allen gemeindegliedern ohne ansehen ihrer persönlichen<br />

einstellung schuldig“ ist. des Weiteren darf auf keinen Fall eine kriminelle<br />

oder verfassungsfeindliche Organisation unterstützt werden.<br />

5. Verhalten gegenüber dem Staat<br />

a. erteilung des Religionsunterrichts<br />

die erteilung des Religionsunterrichts beinhaltet nicht nur eine Verpflichtung<br />

als geistliche amtspflicht im engeren Sinn gegenüber der Kirche<br />

72 Grethlein / Böttcher / Hofmann / Hübner, evangelisches Kirchenrecht in bayern,<br />

1994, S. 254 f., m.w.n. S. 256.<br />

73 RS nach 500.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

283<br />

(art. 44 a Pfg), sondern, da ein ordentliches Lehrfach vorliegt (art. 136<br />

abs. 2 bayerische Verfassung), auch eine Verpflichtung gegenüber dem<br />

Staat. die lehrkräfte haben die unmittelbare pädagogische Verantwortung<br />

für den unterricht und die erziehung der Schüler (art. 59 bayeug 74 ).<br />

der Religionsunterricht unterliegt staatlichem Schulrecht und staatlicher<br />

Schulaufsicht. als ordentliches lehrfach bedeutet es – wie bereits ausgeführt<br />

wurde – u. a. die Pflicht zum regelmäßigen und lehrplanmäßigen Abhalten<br />

des Unterrichts und zu einer leistungsgerechten Benotung im Rahmen der<br />

üblichen notenstufen. benotet wird nicht die glaubensüberzeugung, sondern<br />

das im unterricht vermittelte Wissen. 75<br />

bei lehrkräften, die in einem kirchlichen dienstverhältnis stehen, also<br />

auch Pfarrer und Pfarrerinnen, steht ein aus dem dienstverhältnis folgendes<br />

dienstrechtliches Weisungsrecht der Religionsgemeinschaft und nicht dem<br />

Schulleiter zu. dieser hat nur im Rahmen seiner Zuständigkeit (äußerer<br />

unterrichtsablauf und Schulorganisation) ein Weisungs- und beanstandungsrecht<br />

(disziplin im unterricht, anzeigen von Fernbleiben, Teilnahme<br />

an der lehrerkonferenz usw.). 76 Zu irgendwelchen disziplinarischen Maßnahmen<br />

gegenüber diesen kirchlichen lehrkräften ist der Schulleiter nicht<br />

befugt; er muss sich bei Verstößen an den kirchlichen dienstvorgesetzten<br />

des Pfarrers oder der Pfarrerin wenden.<br />

b. Sonstiger dienst im staatlichen bereich<br />

auf Verpflichtungen gegenüber dem Staat, die sich z. b. aus der anstalts-<br />

und Militärseelsorge sowie der Mitarbeit in theologischen Fakultäten ergeben<br />

können, 77 soll in diesem gutachten nicht eingegangen werden.<br />

c. gehorsamspflicht gegenüber dem Staat<br />

eine allgemeine gehorsamspflicht der Pfarrer und Pfarrerinnen gegenüber<br />

dem Staat, die es früher einmal gegeben hat, besteht heute nicht<br />

mehr. 78<br />

Strafbare Handlungen werden indessen in aller Regel zugleich ein dienstvergehen<br />

sein, das je nach der Schwere mit einem disziplinarverfahren<br />

verfolgt wird. Wenn jedoch ein Pfarrer oder eine Pfarrerin wegen einer<br />

erheblichen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt<br />

ist, scheidet er bzw. sie ohne disziplinarverfahren aus dem dienst aus<br />

(§ 117a abs. 1 Pfg), es sei denn, die einleitende Stelle leitet „aus kirchlichem<br />

Interesse“ ein förmliches Verfahren ein (§ 117a abs. 2 S. 1 Pfg).<br />

74 bayerisches gesetz über das erziehungs- und unterrichtswesen (RS 125).<br />

75 Grethlein / Böttcher / Hofmann / Hübner (anm. 65), S. 137.<br />

76 Grethlein / Böttcher / Hofmann / Hübner (anm. 65), S. 137.<br />

77 Grethlein / Böttcher / Hofmann / Hübner (anm. 65), S. 151, m.w.n.<br />

78 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 135.


284 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

d. Freiwillige Meldung zum Wehrdienst<br />

eine dienstliche Verpflichtung für einen Pfarrer gibt es bei einer freiwilligen<br />

Meldung zum Wehrdienst (§ 59 Pfg). er bedarf dazu der „vorherigen<br />

Zustimmung“ (also nach dem juristischen Sprachgebrauch von § 183 bgb:<br />

der einwilligung) seiner vorgesetzten dienststelle. Pfarrerinnen unterliegen<br />

nicht der Wehrpflicht. Sollte sich jedoch eine Pfarrerin freiwillig zum Militärdienst<br />

melden, wird die Regelung des § 59 Pfg entsprechend anzuwenden<br />

sein.<br />

e. annahme und Tragen von staatlichen Orden und ehrenzeichen<br />

eine besondere Regelung hat in § 60 Pfg die annahme und das Tragen<br />

von staatlichen Orden und ehrenzeichen gefunden. die Annahme ist für<br />

Pfarrer und Pfarrerinnen nur nach vorheriger Zustimmung der vorgesetzten<br />

dienststelle zulässig. das Tragen der auszeichnungen ist auf der Amtskleidung<br />

nicht gestattet. Verstöße gegen diese bestimmungen werden in der<br />

Regel höchstens zu dienstaufsichtlichen Maßnahmen führen (§ 6 diszg).<br />

6. besondere Pflichten gegenüber der gemeinschaft der Ordinierten<br />

a. „Pflege“ der gemeinschaft<br />

Mit der Ordination stehen Pfarrer und Pfarrerinnen in einer besonderen<br />

gemeinschaft (§ 39 abs. 1 Pfg), die sie pflegen und in der sie bereit sein<br />

sollen, „in lehre, dienst und leben Rat und ermahnung zu geben und<br />

anzunehmen“ (§ 39 abs. 2 Pfg; vgl. auch § 34 abs. 2 S. 1 Pfg). Sie haben<br />

untereinander „ungeistliches“ Verhalten zu unterlassen und sie sollen einander<br />

„achtung und ehre erweisen“ (§ 39 abs. 3 Pfg). Verstöße gegen<br />

diese Pflichten sind in unterschiedlicher Schwere denkbar und können<br />

neben dienstausichtsmaßnahmen (§ 6 diszg) auch zu disziplinarverfahren<br />

führen. 79<br />

b. Sonstige Pflichten<br />

auf die Übernahme von Vertretungen und auf die Verpflichtung zur Teilnahme<br />

an Pfarrkonventen wurde bereits eingegangen.<br />

7. besondere Pflichten im persönlichen leben<br />

Pfarrer und Pfarrerinnen sind durch die Ordination zu einer lebensführung<br />

verpflichtet, die dem auftrag entspricht (§ 4 abs. 2 Pfg); dies gilt<br />

insbesondere auch für die lebensführung in ehe und Familie (§ 51 Pfg).<br />

diese generalklausel umfasst den gesamten persönlichen lebenswandel.<br />

das Pfarrergesetz trifft in einzelbestimmungen dazu Sonderregelungen.<br />

79 Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 136 f. mit Fallbeispielen.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

285<br />

a. annahme von geschenken<br />

die Möglichkeit der annahme von geschenken ist für Pfarrer und Pfarrerinnen<br />

durch § 50 Pfg erheblich eingeschränkt. ergänzende Regelungen<br />

finden sich in der „bekanntmachung über die annahme von Schenkungen,<br />

Vermächtnissen und Erbschaften durch Pfarrer, Kirchenbeamte und<br />

angestellte im kirchlichen dienst“. 80 nach dieser bekanntmachung dürfen<br />

amtsträger geldgeschenke für sich persönlich nicht annehmen und sonstige<br />

geschenke dann nicht, wenn sie das örtlich herkömmliche Maß überschreiten.<br />

das gilt auch für die annahme von Vermächtnissen und erbschaften,<br />

soweit der Zuwendende mit dem amtsträger nicht verwandt oder befreundet<br />

ist (überraschender Weise lässt diese Regelung Schenkungen usw. unter<br />

Freunden, nicht jedoch unter Verschwägerten zu; vgl. §§ 1589, 1590 bgb).<br />

nach § 50 S. 3 Pfg kann jedoch bei Vorliegen besonderer Verhältnisse ausnahmsweise<br />

eine einwilligung (vorherige Zustimmung!) erteilt werden.<br />

In diesen ganzen bereichen kann es zu erheblichen Zuwiderhandlungen<br />

kommen, die auch zu einem Spruchverfahren führen können. beispielsweise<br />

könnte in einem Fall dann der Rat erteilt werden, begangenes unrecht<br />

wieder gut zu machen (§ 29 abs. 1 nr. 3 diszg), etwa durch Rückgabe des<br />

empfangenen oder – soweit möglich und zulässig – durch Weitergabe an die<br />

Kirchengemeinde oder eine sonstige kirchliche einrichtung.<br />

b. Private Wirtschaftsführung<br />

Zu dem lebenswandel von Pfarrern und Pfarrerinnen ist grundsätzlich<br />

auch ihre private Wirtschaftsführung zu rechnen, die auch unter ihr auftreten<br />

subsumiert werden kann (§ 49 abs. 1 Pfg). In einer erheblichen Verschuldung<br />

kann demzufolge im einzelfall ein Verstoß zu einem dem amt<br />

gemäßen Wandel gesehen werden, wobei es für die Frage der persönlichen<br />

Schuld auf den grund für die Verschuldung ankommt. 81 daraus folgt, dass<br />

zum beispiel erhebliche Spielschulden durchaus zu einem Spruchverfahren,<br />

wenn nicht sogar zu einem förmlichen Verfahren führen können.<br />

c. ehe und Familie<br />

besondere anforderungen an einen vorbildlichen lebenswandel werden<br />

im bereich ehe und Familie gestellt (§§ 51 ff. Pfg). generalsynode und<br />

bischofskonferenz der Vereinigten Kirche haben mit dem Kirchengesetz<br />

zur Änderung des Pfarrergesetzes vom 02.11.2004 u. a. den § 54 Pfg neu<br />

gefasst und die Verpflichtungen bei Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft<br />

oder einem Antrag auf Scheidung einer Pfarrersehe umfassend geregelt.<br />

80 bekanntmachung vom 29.06.1976 (Kabl S. 143).<br />

81 Vgl. Strietzel, disziplinarrecht (anm. 1), S. 151, m.w.n.


286 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

die ehe ist nach evangelischem Verständnis kein Sakrament. die vor<br />

dem Standesamt geschlossenen ehe ist daher auch aus kirchlicher Sicht voll<br />

gültig. Vom augenblick dieser eheschließung sind die ehegatten durch ein<br />

rechtskräftig gegebenes Wort miteinander verbunden. diese ehe genießt den<br />

Schutz des Staates. 82<br />

Mit der kirchlichen Trauung stellen christliche ehepaare ihren gemeinsamen<br />

Weg unter gottes Segen, was mit gebet, Verkündigung von gottes<br />

Wort und handauflegung geschieht. die ehe ist nach gottes Willen und<br />

ihrem Wesen nach unauflösbar; dies bedeutet – nach evangelischer Meinung<br />

– nicht, dass sie in keinem Fall geschieden werden kann.<br />

Mit der anerkennung der von staatlichen gerichten ausgesprochenen<br />

Scheidung wird nicht zum ausdruck gebracht, dass die ehe eine jederzeit<br />

kündbare bindung ist, sondern nur festgestellt, dass fehlbare Menschen den<br />

Willen gottes in bezug auf die ehe verfehlen können. 83 demzufolge führen<br />

eine „normale“ Trennung von Pfarrerseheleuten und deren „normale“<br />

Scheidung nicht zu disziplinarverfahren. Sie können aber auswirkungen<br />

auf den dienst haben, so dass ihnen dieser ganz oder teilweise vorübergehend<br />

untersagt werden kann. 84<br />

einer amtspflichtverletzung im Sinne von §§ 51, 4 abs. 2 Pfg i.V.m. § 3<br />

abs. 2 diszg kann sich ein Pfarrer oder eine Pfarrerin jedoch durch ein<br />

ehewidriges Verhalten schuldig machen, da er bzw. sie schuldhaft gegen die<br />

in der Ordination begründeten Pflichten zu einem dem auftrag gemäßen<br />

Verhalten in ehe und Familie verstößt. 85 eheverfehlungen dieser art können<br />

von beschimpfungen des ehegatte in der Öffentlichkeit, über Misshandlungen,<br />

Trunksucht und nichtzahlung des zustehenden unterhalts bis zu<br />

einer liebesbeziehung (kein ehebruch) zu einem anderen Partner reichen. Je<br />

nach der Schwere des einzelfalles kann in diesen Verfehlungen ein Spruchverfahren<br />

in betracht kommen.<br />

In den vergangenen Jahrzehnten hatten sich die kirchlichen disziplinargerichten<br />

wiederholt mit Fällen des Ehebruchs zu beschäftigen. Zu dieser<br />

Verfehlung eines Pfarrers oder einer Pfarrerin gibt es eine weitgehend einheitliche<br />

Rechtsprechung. 86 erstmals im Jahr 2004 wurde bekannt, dass<br />

zwei ehebruchsfälle nicht in einem förmlichen Verfahren, sondern in einem<br />

Spruchverfahren verhandelt wurden. aus der Rechtsprechung des diszipli-<br />

82 art. 6 abs. 1 gg und art. 124 abs. 1 bayerische Verfassung.<br />

83 Jetter (hg.), evangelischer erwachsenenkatechismus, 5. aufl., 1989, S. 532 ff.<br />

84 Grethlein / Böttcher / Hofmann / Hübner (anm. 65), S. 253.<br />

85 Grethlein / Böttcher / Hofmann / Hübner (anm. 65), S. 253; Strietzel, disziplinarrecht<br />

(anm. 1), S. 144 m.w.n.<br />

86 Rechtssprechungsübersicht aus früheren Jahren: Strietzel, disziplinarrecht<br />

(anm. 1), S. 139 ff.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

287<br />

narsenats der Vereinigten Kirche wird aus dem zu diesem Themenbereich<br />

zuletzt veröffentlichten urteil vom 25. 06. 1999 87 wie folgt zitiert:<br />

„nach dem vom Senat mehrfach vertretenen und zuletzt in den urteilen vom<br />

1.7.1986, aktenzeichen disz 1/86, vom 30.10.1987, aktenzeichen disz 2/87, und<br />

vom 22. 2. 1990, aktenzeichen disz 1/89, bestätigten grundsätzen ist ein Pfarrer,<br />

der seine ehe bricht, grundsätzlich in seinem amt nicht tragbar. In besonderen<br />

Fällen kann die entfernung aus dem dienst erforderlich sein, in anderen Fällen<br />

die amtsenthebung. nur bei Vorliegen besonders mildernder umstände kann auch<br />

die Versetzung auf eine andere Stelle eine ausreichende Maßnahme sein.“<br />

In dem entschiedenen Fall (doppelter ehebruch) hatte die zuständige disziplinarkammer<br />

auf entfernung aus dem dienst erkannt. der disziplinarsenat<br />

hat die berufung des angeschuldigten zurückgewiesen.<br />

In ständiger Rechtsprechung hat in gleicher Weise auch die disziplinarkammer<br />

der evangelisch-lutherischen Kirche in bayern entschieden<br />

und in ehebruchsfällen wiederholt auf amtsenthebung unter Versetzung<br />

in den Wartestand erkannt. In den nicht veröffentlichten entscheidungen<br />

hielt die Kammer diese Maßnahme für angemessen, da die ehe des angeschuldigten<br />

noch nicht geschieden war, er andererseits seine beziehung zu<br />

der ehebruchspartnerin aufrechterhielt. In der Zeit des Wartestandes sollte<br />

er gelegenheit haben, seine Verhältnisse neu zu ordnen.<br />

die Rechtsprechung, insbesondere auch des disziplinarsenats, zeigt, dass<br />

dienstvergehen durch ehebruch als schwere amtspflichtverletzungen zu<br />

würdigen sind, die nur ausnahmsweise (etwa bei einer einmaligen „entgleisung“)<br />

zu einem Spruchverfahren führen können und in aller Regel ein<br />

förmliches Verfahren notwendig machen.<br />

d. homosexualität<br />

ein im kirchlichen bereich noch immer strittiges Thema ist die homosexualität.<br />

leitender bischof Hans Christian Knuth hat in seinem bericht<br />

auf der 1. Tagung der 10. generalsynode der VelKd am 12.10.2003 88 von<br />

der Vollversammlung des lutherischen Weltbundes in Winnipeg und davon<br />

gesprochen, dass „mit dem Thema homosexualität sehr unterschiedliche<br />

erfahrungen und Sichtweisen in großer leidenschaft aufeinander prallten“<br />

und er meinte, „homosexualität sprengt unsere Kirchen“. bei der Frage,<br />

inwieweit in einer homosexuellen Partnerschaft lebende Pfarrer oder Pfarrerinnen<br />

sich eines dienstvergehens schuldig machen können, wird darauf<br />

abzustellen sein, dass das leitbild von ehe und Familie nicht in Frage<br />

87 az: disz 1/98; Rsprb abl. eKd 1999, S. 24 f.<br />

88 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode 2003, S. 46 und 156.


288 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

gestellt werden darf, so dass in einem Pfarrhaus nur die ehegatten und Kinder<br />

in einer gemeinschaft zusammen leben können. 89<br />

die Leitsätze des urteils des Senats für amtszucht vom 08.11.1990 lauten<br />

wie folgt: 90<br />

„1. die auf lebenszeit angelegte ehe ist die einzige Form, in der nach christlicher<br />

auffassung Sexualität praktiziert werden soll. durch eine mit dem anspruch<br />

auf Tolerierung gelebte eheähnlich ausgeprägte homosexuelle Partnerschaft tangiert<br />

ein Pfarrer die glaubwürdigkeit der Verkündigung in erheblichem Maße. er<br />

wird seiner leitbildfunktion nicht gerecht, erzielt vielmehr eine negative Signalwirkung<br />

in der kirchlichen Öffentlichkeit. er begeht damit eine schwerwiegende<br />

amtspflichtverletzung.<br />

2. Von der Maßnahme der entfernung aus dem dienst kann gleichwohl abgesehen<br />

werden – vorausgesetzt, dass der Pfarrer nicht einen anspruch auf anerkennung<br />

seiner gelebten homosexuellen Partnerschaft nach außen öffentlich<br />

vertritt – weil in der innerkirchlichen diskussion offen erscheint, ob ein seine<br />

homosexualität praktizierender Pfarrer in jeder hinsicht als untragbar zu gelten<br />

hat oder ob er noch in irgendeiner Weise begrenzt einsetzbar ist, so dass von einer<br />

eingeschränkten berufsfähigkeit gesprochen werden kann.“<br />

In diesem Verfahren hatte die zuständige disziplinarkammer auf amtsenthebung<br />

unter Versetzung in den Wartestand erkannt, was der disziplinarsenat<br />

bestätigte. das zitierte urteil ist die letzte veröffentlichte entscheidung<br />

zu diesem Themenbereich. Ob bei einer neubefassung mit diesem<br />

bereich der disziplinarsenat seine Rechtsprechung aufrechterhalten oder<br />

abändern würde, kann nicht gesagt werden.<br />

IV. In welchen Fällen darf das Spruchverfahren nicht zur Anwendung<br />

kommen?<br />

1. Im Vorstehenden wurde beispielhaft auf Pflichtarten eingegangen,<br />

bei denen ein Pfarrer oder eine Pfarrerin bei einer Zuwiderhandlung sich<br />

eines dienstvergehens schuldig machen kann. es wurde dargelegt, dass<br />

grundsätzlich in allen bereichen eine ahndung im Spruchverfahren möglich<br />

sein kann, wenn die allgemeinen Voraussetzungen vorliegen. es sind<br />

daher jeweils im konkreten Fall die art und Schwere der amtspflichtverletzung,<br />

die Folgen der Tat, die Schuld des oder der betroffenen zu prüfen<br />

und – nach § 7 diszg – das gesamte Verhalten (auch nach dem dienstvergehen)<br />

zu würdigen.<br />

2. nach Vorliegen des ergebnisses der ermittlungen und Vorlage der<br />

akten durch die zuständige Stelle (§ 13 abs. 6 diszg) hat zunächst die<br />

89 Zu dem ganzen Themenbereich: evangelischer erwachsenenkatechismus,<br />

S. 516 ff.; Grethlein / Böttcher / Hofmann / Hübner (anm. 65), S. 253; Strietzel, disziplinarrecht<br />

(anm. 1), S. 146 ff.<br />

90 az: disz 2/90; Rsprb abl. eKd 1991, S. 23.


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

289<br />

einleitende Stelle diese abwägung nach pflichtgemäßem ermessen vorzunehmen<br />

und sodann zu entscheiden (§ 14 abs. 1 diszg), welchen Verfahrensweg<br />

sie einschlagen will. Wählt sie den Weg des Spruchverfahrens,<br />

kann der Spruchausschuss das Verfahren durchführen, aber auch nach § 28<br />

nr. 3 diszg feststellen, „dass das Spruchverfahren zur bereinigung des<br />

Falles nicht ausreicht“.<br />

3. bei ihren entscheidungen haben die einleitende Stelle und der Spruchausschuss<br />

davon auszugehen, dass der kirchliche gesetzgeber das Spruchverfahren<br />

zwischen disziplinarverfügung und förmlichen Verfahren (§ 14<br />

abs. 1 diszg) „angesiedelt“ und jeder Verfahrensart bestimmte verhängbare<br />

Maßnahmen zugeordnet hat. daher hängt es von der Schwere des<br />

dienstvergehens und den sonstigen allgemeinen Voraussetzungen ab, welche<br />

Maßnahme angemessen ist.<br />

4. darüber hinaus ist zu bedenken, dass die kirchliche disziplinargerichtsbarkeit<br />

Teil des allgemeinen Kirchenrechts ist, das vom Staat und<br />

seiner Rechtsordnung anerkannt ist (art. 140 gg i.V.m. art. 137 WRV).<br />

aus dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche folgt ihre befugnis, in ihren<br />

eigenen angelegenheiten, also auch im disziplinarrecht, eigene Rechtspflegeeinrichtungen<br />

zu schaffen. 91 die glaubwürdigkeit der Kirche gebietet es,<br />

dass sie in ihrem bereich rechtsstaatliche Prinzipien verwirklicht. das hat<br />

sie z. b. durch die gewaltenteilung und die unabhängigkeit der gerichte<br />

verwirklicht und sie tut es auch durch die Wahrung des grundrechts der<br />

„gleichheit vor dem gesetz“ (vgl. art 3 abs. 1 gg; art. 118 abs. 1 bayerische<br />

Verfassung). dieser gleichheitsgrundsatz gewährt die garantie der<br />

gleichen anwendung der gesetze „ohne ansehen der Person“.<br />

5. der gleichheitsgrundsatz verlangt einerseits die einhaltung des legalitätsprinzips<br />

beim Veranlassen von ermittlungen bei bekanntwerden von<br />

Tatsachen i. S. von § 12 abs. 1 diszg, der gleichmäßigen und gerechten<br />

anwendung des Opportunitätsprinzips bei der entscheidung nach § 14<br />

abs. 1 diszg, wie auch die beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung<br />

zu amtspflichtverletzungen. die ermessensentscheidung der einleitenden<br />

Stelle (§ 14 abs. 1 diszg) bzw. die bejahung der eigenen Zuständigkeit<br />

durch den Spruchausschuss (§ 28 nr. 3 diszg) bedürfen daher einer<br />

eingehenden begründung, wenn von entscheidungen der gerichte, insbesondere<br />

des disziplinarsenats – in dem gerade vorliegenden Fall – abgewichen<br />

werden soll. Will die Kirche (bzw. das zuständige gremium) der<br />

herrschenden Rechtsprechung nicht folgen, hat sie nur die Möglichkeit,<br />

sich in einem neuen Verfahren für die Änderung der Rechtssprechung ein-<br />

91 Grethlein / Böttcher / Hofmann / Hübner (anm. 65), S. 397; Anders (anm. 8),<br />

S. 7.


290 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

zusetzen oder durch eine gesetzesänderung zu einer anderen Rechtslage<br />

zu kommen.<br />

V. Welche Erwägungen muss / darf die einleitende Stelle bei der<br />

Ermessensentscheidung nach § 14 Abs. 1 DiszG anstellen?<br />

die einleitende Stelle hat „aufgrund des ergebnisses der ermittlungen“<br />

ihre entscheidung „nach pflichtgemäßem ermessen“ zu fällen (§ 14 abs. 1<br />

diszg) und dabei einen bestimmten Verfahrensweg zu bestimmen. die<br />

Wahlmöglichkeit ist als praktikabel anzusehen, da weder eine abstrakte<br />

umschreibung nach dienstvergehenstatbeständen noch die Festsetzung<br />

einer bestimmten Maßnahme je nach „deliktsqualität“ möglich sind.<br />

Wie bereits dargelegt wurde, hat die einleitende Stelle im Rahmen des<br />

Opportunitätsprinzips seine entscheidung „in geistlicher Verantwortung<br />

nach dem Maßstab der Gerechtigkeit“ zu fällen und dabei die Schwere<br />

der amtspflichtverletzung und das sonstige Verhalten des Pfarrers oder der<br />

Pfarrerin zu berücksichtigen. nach § 7 diszg ist „im disziplinarverfahren<br />

das gesamte Verhalten“ des oder der betroffenen zu würdigen. Zu dem disziplinarverfahren<br />

gehört auch der entscheidungsbereich der einleitenden<br />

Stelle und zu dem „gesamten Verhalten“ auch sein bzw. ihr Verhalten nach<br />

der „Tat“.<br />

daraus folgt die Pflicht der einleitenden Stelle auch das „Nachtatverhalten“<br />

(z. b. ein freiwilliger Stellenwechsel) mit zu bedenken. Sie hat jedoch<br />

das Verfahren „zügig durchzuführen“ (§ 8 diszg) und kann nicht eine<br />

mögliche zukünftige entwicklung im Verhalten des oder der betroffenen<br />

abwarten.<br />

die disziplinarkammer der evangelisch-lutherischen Kirche in bayern<br />

hat wiederholt das Vorliegen der Voraussetzungen von § 80 abs. 4 S. 2<br />

diszg (Versetzung des oder der betroffenen nach Kenntnis des Sachverhalts<br />

der amtspflichtverletzung durch die einleitende Stelle) auch dann<br />

bejaht, wenn die Versetzung mit Zustimmung des oder der betroffenen<br />

erfolgt ist. 92 einen solchen umstand wird auch die einleitende Stelle bei<br />

ihrer entscheidung nach § 14 abs. 1 diszg zu berücksichtigen haben, da<br />

der umstand „im disziplinarverfahren“ (§ 7 diszg) und vor ihrer entscheidung<br />

eingetreten ist.<br />

VI. In welchen Fällen muss der Spruchausschuss eine Entscheidung<br />

nach § 28 Abs. 3 DiszG treffen?<br />

der Spruchausschuss entscheidet nach § 28 abs. 3 diszg, wenn er feststellt,<br />

„dass das Spruchverfahren zur bereinigung des Falles nicht aus-<br />

92 Zuletzt: urteil der disziplinarkammer vom 25.09.2002 (az: TO 141 Kfaz).


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

291<br />

reicht“. diese Feststellung trifft er in richterlicher unabhängigkeit und<br />

unter „bindung an Schrift und bekenntnis und an Recht und gesetz“<br />

(§ 110 abs. 1 diszg). er muss seine Zuständigkeit in jeder lage des Verfahrens<br />

prüfen, denn das gesetz sieht eine Prüfungspflicht nicht nur zum<br />

Zeitpunkt der anhängigkeit bei dem Spruchausschuss vor.<br />

der Spruchausschuss hat bei seiner Prüfung die Schwere der Amtspflichtverletzung<br />

(auch eventuelle neue gesichtspunkte: § 25 diszg), deren Folgen<br />

und die Schuld des Pfarrers oder der Pfarrerin zu berücksichtigen, aber<br />

gleichzeitig auch eine herrschende Rechtsprechung der disziplinargerichte<br />

mit zu bedenken, damit seine entscheidung gegenüber anderen betroffenen<br />

dem Gleichheitsgrundsatz gerecht wird. um letztere Würdigung vornehmen<br />

zu können, muss ihm die Rechtsprechung bekannt sein.<br />

F.<br />

Schlussfolgerungen<br />

das Spruchverfahren hat bisher nicht die bedeutung erlangt, die der<br />

kirchliche gesetzgeber im Jahr 1965 von dieser Verfahrensart erhofft hatte.<br />

es stellt sich daher die Frage, ob dieses Verfahren für disziplinarverfahren<br />

ungeeignet ist oder ob sonstige gründe für die Fehleinschätzung vorliegen.<br />

auf einige mögliche Ursachen soll im nachfolgenden eingegangen werden.<br />

I. Wahrung der Legalitätspflicht<br />

bei bekanntwerden von Tatsachen, die die annahme begründen, dass<br />

ein Pfarrer oder eine Pfarrerin die amtspflicht verletzt hat, hat die zuständige<br />

Stelle die ermittlungen zu veranlassen (§ 12 abs. 1 S. 1 diszg). es<br />

erscheint fraglich, ob dieser Verpflichtung in der Praxis tatsächlich immer<br />

nachgekommen oder nur dort ermittelt wird, wo „schwere“ amtspflichtverletzungen<br />

vorzuliegen scheinen. eine solche handlungsweise würde den<br />

Gleichheitsgrundsatz verletzen. Wenn diese annahme den Tatsachen entspricht,<br />

würden bereits im ermittlungsstadium Fälle ausgeklammert, die<br />

für ein Spruchverfahren geeignet sind.<br />

es ist daher erforderlich, dass die Mitglieder der „zuständigen Stelle“<br />

auf ihre sich aus § 12 abs. 1 S. 1 diszg ergebenden Pflichten regelmäßig<br />

hingewiesen werden.<br />

II. Beschleunigungsgebot<br />

das disziplinarverfahren ist mit Rücksicht auf amt und gemeinde sowie<br />

die betroffenen und ihre Familien „zügig durchzuführen“ (§ 8 diszg). auch


292 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

hierbei handelt es sich um eine „Mussvorschrift“, die von den ermittlungen<br />

der zuständigen Stelle, über die Tätigkeit der einleitenden Stelle bis zur entscheidung<br />

des zuständigen Spruchgremiums zu beachten ist.<br />

daher ist es beispielsweise notwendig, dass – wenn die Voraussetzungen<br />

gegeben sind – unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern, ein untersuchungsführer<br />

oder eine untersuchungsführerin bestellt wird. er bzw. sie<br />

wird, soweit noch im aktiven dienst, auch andere dienstliche Verpflichtungen<br />

haben. der Untersuchungsauftrag sollte aber stets Vorrang vor sonstigen<br />

aufgaben haben.<br />

da § 44 abs. 1 diszg nicht vorsieht, dass der Untersuchungsführer oder<br />

die Untersuchungsführerin im „aktiven“ Kirchendienst stehen muss, kann<br />

auch ein pensionierter Mitarbeiter oder eine pensionierte Mitarbeiterin<br />

oder eine andere Person, die die befähigung zum Richteramt haben sollte,<br />

mit dieser aufgabe betraut werden. nach durchführung der untersuchung<br />

werden die akten wieder der einleitenden Stelle vorgelegt (§ 49 S. 2 diszg),<br />

die sodann gemäß § 14 abs. 1 diszg über den Fortgang des Verfahrens zu<br />

entscheiden hat; also sich auch für ein Spruchverfahren entscheiden kann.<br />

Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch die zeitliche begrenzung<br />

der entscheidungsmöglichkeit der einleitenden Stelle nach einleitung des<br />

disziplinarverfahrens (§ 14 abs. 3 diszg).<br />

III. Maßnahmenkatalog<br />

Im Spruchverfahren sind nach §§ 28 f. diszg nur bestimmte Maßnahmen<br />

möglich. Ob dieser Katalog von Vorhaltungen, Vermahnung und Rat<br />

ausgeweitet werden kann, erscheint fraglich, da sowohl die der disziplinarverfügung<br />

(§ 17 abs. 2 diszg) wie dem förmlichen Verfahren (§§ 80 f.<br />

diszg) vorbehaltenen Maßnahmen für das Spruchverfahren ungeeignet<br />

sind. denkbar wäre allenfalls eine Missbilligung (eine Zurechtweisung,<br />

ermahnung oder Rüge), die aber nach § 80 abs. 1 S. 3 diszg als mögliche<br />

disziplinarmaßnahme ausgeklammert ist. Zudem ist die „Vermahnung“ des<br />

§ 28 nr. 1 diszg nahe „angesiedelt“.<br />

andere denkbare Maßnahmen, wie die Meidung des umgangs mit<br />

bestimmten Personen, das unterlassen des aufsuchens bestimmter lokalitäten<br />

oder die unterziehung einer entziehungskur (z. b. bei alkoholmissbrauch)<br />

sind bereits durch die erteilung eines „Rates“ möglich.<br />

IV. Dokumentierung der Rechtsprechung der Disziplinargerichte<br />

der Spruchausschuss wird eine Feststellung nach § 28 nr. 3 diszg dahingehend,<br />

dass das Spruchverfahren zur bereinigung des vorliegenden Falles<br />

nicht ausreicht, nur fällen können, wenn ihm die Grundsätze der Entscheidungen<br />

der disziplinargerichte, insbesondere des disziplinarsenats, bekannt


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

293<br />

sind. dazu ist mindestens eine dokumentierung der leitsätze erforderlich.<br />

dass dabei die Vertraulichkeit der Personalangelegenheit der einzelnen Fälle<br />

zu wahren ist, ist selbstverständlich.<br />

V. Rechtsmittel<br />

Für die einleitende Stelle kann ein entscheidendes Kriterium für die<br />

nichtwahl des Spruchverfahrens sein, dass sie an der aussprache nur ausnahmsweise<br />

beteiligt (§ 23 abs. 1 S. 4 diszg) und ein Rechtsmittel für sie<br />

nicht möglich ist (§ 32 diszg). Während der betroffene Pfarrer oder die<br />

betroffene Pfarrerin nach Zustellung des Spruches zwei Wochen die Möglichkeit<br />

hat, den Spruch anzunehmen oder nicht darauf einzugehen (§ 31<br />

diszg), hat die einleitende Stelle, also die Stelle, bei der die oberste dienstaufsicht<br />

angesiedelt ist (§ 11 diszg i.V.m. § 3 diszergg), keine Möglichkeit,<br />

den Spruch anzufechten.<br />

es liegt im Wesen des Spruchverfahrens, dass ein Rechtsmittel ausgeschlossen<br />

ist. es wäre aber denkbar, der einleitenden Stelle – wie dem oder<br />

der betroffenen – nach Zustellung des Spruches binnen einer Frist von zwei<br />

Wochen die Möglichkeit von „Gegenvorstellungen“ einzuräumen, über die<br />

der Spruchausschuss zu befinden hat. Mit diesen „gegenvorstellungen“<br />

sollten nur argumente vorgebracht werden können, die nicht bereits im<br />

Spruch bedacht wurden. damit könnte der einleitenden Stelle eine gewisse<br />

„Scheu“ vor dem Spruchverfahren genommen werden.<br />

dabei wird nicht verkannt, dass es die einleitende Stelle zunächst in der<br />

hand hat, den Weg zum Spruchverfahren nach § 14 abs. 1 nr. 4 diszg zu<br />

beschreiten, aber es ist durchaus denkbar, dass sie zwar den Weg dieses Verfahrens<br />

für richtig hält, aber z. b. als Maßnahme an einen Rat zum Pfarrstellenwechsel<br />

gedacht hat, der dann nicht erteilt wurde.<br />

ein berufungsverfahren soll damit nicht eingeführt werden, denn das<br />

Spruchverfahren ist ganz bewusst kein gerichtsförmiges Verfahren, also kein<br />

Rechtsprechungsverfahren. 93<br />

G.<br />

Schlussbemerkungen<br />

In der Vergangenheit ist immer wieder die Frage gestellt worden, ob<br />

die evangelischen Kirchen ein disziplinarrecht brauchen und ob es ihnen<br />

zusteht. das „Ja“ auf diese Frage folgt zunächst aus Art. 28 CA und aus den<br />

beiden Regierweisen, die gott gegeben hat. dabei dürfen Kirchenordnungen,<br />

wie es in art. 28 Ca heißt, „nicht wider das evangelium sein“. auch<br />

93 vgl. Germann (anm. 1), S. 395.


294 Fritz Anders<br />

ZevKR<br />

mit dem disziplinarrecht ist nicht in Frage gestellt, dass Jesus Christus allein<br />

seine Kirche regiert und die leitung der gemeinde inne hat. 94<br />

die disziplinargewalt der Kirche ist darüber hinaus ihr Recht, im Rahmen<br />

des öffentlich-rechtlichen dienstverhältnisses disziplinarmaßnahmen<br />

zu verhängen, und zwar auch mit Wirkung für den staatlichen bereich. 95<br />

dieses Recht wird sowohl vom bundesverfassungsgericht 96 als auch von der<br />

europäischen Kommission für Menschenrechte 97 ausdrücklich anerkannt. 98<br />

das disziplinarrecht soll auch eine hilfe und ein dienst in der Kirche sein,<br />

die bzw. der in einem geordneten Verfahren abläuft und von Personen wahrgenommen<br />

wird, die in richterlicher unabhängigkeit entscheiden. Somit hat<br />

das disziplinarrecht sowohl eine theologische wie auch kirchen- und staatskirchenrechtliche<br />

Rechtfertigung. Seine notwendigkeit kann begründeter<br />

Weise nicht in Frage gestellt werden.<br />

eine weitere Frage, die diskutiert wird, sind die Überlegungen zu einem<br />

einheitlichen Disziplinarrecht von VELKD und EKD. 99 auch diesen Überlegungen<br />

stehen keine grundsätzlichen bedenken entgegen, da die Probleme<br />

mit den unterschiedlichen bekenntnissen durch die Schaffung der Möglichkeit<br />

zu ergänzenden gesetzesregelungen durch die VelKd und ihre gliedkirchen<br />

und die einführung eines „lutherischen Senats“ bei dem berufungsgericht<br />

gelöst werden können.<br />

In einem gemeinsamen disziplinargesetz sollte aber das Spruchverfahren<br />

erhalten bleiben, 100 denn es ist eine Verfahrensart, die nicht nur ein kirchliches<br />

Spezifikum ist, sondern auch als „modern“ bezeichnet werden kann.<br />

Im staatlichen Zivilrecht wird seit jeher von einem Vorrang einer gütlichen<br />

einigung einer Streitsache, also durch einen Vergleich, gesprochen, und<br />

in neuerer Zeit wird – unter bestimmten Voraussetzungen – eine vorweggenommene<br />

güteverhandlung bzw. die anrufung einer außergerichtlichen<br />

gütestelle verlangt (§ 278 ZPO). damit soll eine streitige entscheidung<br />

vermieden werden.<br />

Im Strafverfahren finden wir zunehmend absprachen zwischen gericht,<br />

Staatsanwalt und Verteidiger (vor allem in Wirtschaftsstrafsachen), um<br />

umfangreiche Verhandlungen mit großer beweisaufnahme zu vermeiden.<br />

darüber hinaus findet man im Strafrecht als neuere Sanktion auch den sog.<br />

94 Stein, Kirchenrecht in theologischer Verantwortung, 1990, S. 141; Wiesner,<br />

grundfragen aus dem kirchlichen disziplinarrecht, 1960, S. 52.<br />

95 Grethlein / Böttcher / Hofmann / Hübner (anm. 65), S. 112 f.<br />

96 nJW 1983, 2569.<br />

97 nJW 1987, 1131.<br />

98 Vgl. Anders (anm. 13), S. 1; Maurer (anm. 17), S. 616.<br />

99 Tröger, Überlegungen zu einigen Problemen im kirchlichen disziplinarecht, insbesondere<br />

im disziplinargesetz der VelKd, ZevKR 49 (2004) S. 221 ff (237 f).<br />

100 Tröger (anm. 92).


53 (2008) Anwendungsbereich des Spruchverfahrens<br />

295<br />

„Täter-Opfer-ausgleich“ als eine Form der Schadenswiedergutmachung<br />

(§ 46 a Stgb). 101<br />

es können zwar Zivil- und Strafrecht nicht mit disziplinarrecht verglichen<br />

werden und absprachen werden im staatlichen Disziplinarverfahren<br />

grundsätzlich – soweit ersichtlich – abgelehnt, 102 doch zeigt das kirchliche<br />

Spruchverfahren mit der „vertrauensvollen aussprache“ eine hinführung<br />

des oder der betroffenen zur einsicht und zur annahme eines Rates in<br />

freier eigenen entscheidung, wie sie im zivilrechtlichen Vergleich und im<br />

strafrechtlichen „Täter-Opfer-ausgleich“ anklingen. Zudem sieht § 29<br />

abs. 1 nr. 3 diszg eine Schadenswiedergutmachung ausdrücklich vor. das<br />

Spruchverfahren darf aber auf keinen Fall zu irgendwelchen arrangements<br />

führen und es darf die amtspflichtverletzung nicht zu einem „handels- und<br />

Tauschobjekt“ 103 werden. Wie in dem gutachten ausgeführt wurde, werden<br />

sich nur bestimmte amtspflichtverletzungen für das Spruchverfahren<br />

eignen.<br />

abschließend soll der damalige Oberkirchenrat hermann v. loewenich<br />

zitiert werden, der am 18.10.1993 auf der Tagung der generalsynode der<br />

VelKd zu der Situation in jener Zeit ausgeführt hat: 104<br />

„Ich hätte mir eine intensivere bemühung darum gewünscht, dieses Spruchverfahren<br />

in unseren gliedkirchen lebendiger werden zu lassen. es gibt ja darin ganz<br />

wenig Praxis. Wir haben einen gedankenaustausch darüber gehabt, warum das<br />

vielleicht nicht funktionieren könnte. Immerhin ist das Spruchverfahren ein Verfahren,<br />

das der eigenart der Kirche gerecht zu werden versucht, in einem vertrauensvollen<br />

gespräch um einsicht und umkehr wirbt – theologisch gesprochen. es<br />

wird sehr wenig davon gebrauch gemacht, offenbar ist es dann doch ein Fremdkörper<br />

in einem Kirchengesetz, so könnte man fast vermuten.“<br />

die lage hat sich seitdem nur wenig verändert und doch muss das<br />

Spruchverfahren kein „Fremdkörper“ im kirchlichen disziplinarrecht<br />

bleiben. Mit diesem gutachten sollte u. a. auch der Versuch unternommen<br />

werde, die Praxis zu einer stärkere annahme dieser seelsorgerlich geprägten<br />

und ganz besonderen kirchlichen Verfahrensart in geeigneten Fällen zu<br />

motivieren.<br />

101 Germann (anm. 1), S. 617, m.w.n.<br />

102 Maurer (anm. 17), S. 617, m.w.n.<br />

103 Maurer (anm. 17).<br />

104 Syn. Protokoll der lutherischen generalsynode1993, S. 221.


die evangelische Kirche und<br />

der Marken-, Kennzeichen- und namensschutz 1<br />

Philipp Lehmann 2<br />

Spätestens seit der „Jahrestagung Öffentlichkeitsarbeit“ des gemeinschaftswerks<br />

der evangelischen Publizistik (geP) im Mai 2004 wird nun<br />

die Frage nach der „Marke evangelisch“ gestellt. 3 Selbst der eKd-Ratsvorsitzende<br />

bischof huber erwähnte dieses Thema im Mai 2005 in seiner Rede<br />

anlässlich des evangelischen Kirchentages in hannover. 4 und schließlich<br />

widmete der Zukunftskongress der eKd in der lutherstadt Wittenberg im<br />

Januar 2007 der „Marke evangelisch“ sogar einen ganzen Vortrag. 5 allgemein<br />

geht es bei dieser diskussion um die Frage, ob die evangelische<br />

Kirche bzw. der ihr innewohnende evangelische Charakter als Marke gesehen<br />

werden kann und für die Öffentlichkeitsarbeit noch deutlicher herausgestellt<br />

werden sollte.<br />

diese auseinandersetzung mit der „Marke evangelisch“ ist zu begrüßen,<br />

schließlich wird sie zu einer verbesserten Wahrnehmbarkeit der evangelischen<br />

Kirche in der Öffentlichkeit führen. darüber hinaus ist jedoch<br />

festzustellen, dass markenrechtliche detailfragen bisher nur unzureichend<br />

geklärt worden sind. einzig und allein das von der eKd in auftrag gegebene<br />

gutachten, welches im Februar 2006 durch das von Prof. von Campenhausen<br />

geleitete Kirchenrechtliche Institut in göttingen fertig gestellt worden<br />

ist, befasst sich mit ersten speziell markenrechtlichen Problemen im bereich<br />

der Kirchen.<br />

natürlich muss man auch heute noch sagen, dass sich das begriffspaar<br />

„Kirche“ und „Markenrecht“ nach einem krassen Widerspruch<br />

anhört – schließlich gehört das Markenrecht als Teil des gewerblichen<br />

Rechtsschutzes doch zum Wirtschaftsrecht der gewerbetreibenden. und<br />

1 der folgende beitrag wurde am 14. Juni 2007 im Rahmen der evangelischen Kirchenjuristentagung<br />

auf Schloss beuggen als Vortrag gehalten. der Vortragsstil wurde<br />

beibehalten.<br />

2 diplom-Jurist, Rechtsreferendar im bezirk des Oberlandesgerichts braunschweig,<br />

doktorand von Prof. dr. dr. h. c. mult. Axel Frhr. von Campenhausen mit dem dissertationsthema<br />

„Marken-, Kennzeichen- und namensrecht im bereich der Religionsgemeinschaften“<br />

und Wissenschaftliche hilfskraft am Kirchenrechtlichen Institut der<br />

eKd in göttingen in den Jahren 2001 bis 2007.<br />

3 die Referate dieser Jahrestagung sind in der epd dokumentation nr. 28 des Jahres<br />

2004 abgedruckt.<br />

4 Vgl. http://www.ekd.de/kirchentag/huber_glauben_verstehen.html (aufgerufen<br />

am 19. Mai 2007).<br />

5 Vgl. den Vortrag von Claudia Bender unter http://www.ekd.de/ekd_kirchen/070126_<br />

bender.html (aufgerufen am 13. Februar 2007).<br />

Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, band 53 (2008) S. 296–317<br />

© <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> – ISSn 0044–2690


53 (2008) Marken-, Kennzeichen- und Namensschutz<br />

297<br />

dennoch: Mittlerweile ist das Markenrecht und auch das Recht der ihm<br />

verwandten sonstigen Kennzeichen wie unternehmenskennzeichen, Werktitel<br />

und geographischen herkunftsangaben sowie das Recht der Internetdomains<br />

überall im bereich der evangelischen Kirche zu finden. das gleiche<br />

gilt natürlich auch für das namensrecht. die Relevanz all dieser genannten<br />

Rechtsgebiete soll durch den folgenden beitrag verdeutlicht werden.<br />

I. Allgemeine Einführung<br />

a.<br />

Markenrecht<br />

das deutsche Markenrecht ist seit 1995 im gesetz über den Schutz von<br />

Marken und sonstigen Kennzeichen, kurz Markengesetz (Markeng), 6 geregelt.<br />

es löste unter anderem auf grund der Vorgaben der europäischen<br />

Markenrechtsrichtlinie (MRRl) 7 das alte Warenzeichengesetz (WZg)<br />

ab. Seither gibt es auch den begriff des „Warenzeichens“ nicht mehr. der<br />

Rechtsbegriff lautet heute nur noch schlicht „Marke“.<br />

unter einer Marke versteht man ein Zeichen, welches zur unterscheidung<br />

von Waren oder dienstleistungen eines unternehmens von denjenigen anderer<br />

unternehmen geeignet ist. bei solchen Zeichen kann es sich insbesondere<br />

um Wörter, einschließlich Personennamen, abbildungen und sogar um<br />

buchstaben, Zahlen, hörzeichen, dreidimensionale gestaltungen und bloße<br />

Farben handeln (§ 3 Markeng).<br />

das an einer Marke bestehende Markenrecht stellt ein subjektives ausschließlichkeitsrecht<br />

dar, welches mit einem Patent vergleichbar ist. diesem<br />

gegenüber kann eine Marke jedoch beliebig lang geschützt werden. Zudem<br />

kann heutzutage praktisch jedermann Markeninhaber werden, sofern er<br />

Rechtsfähigkeit besitzt (§ 7 Markeng) und der entstehung des Markenschutzes<br />

keine sonstigen absoluten Schutzhindernisse entgegenstehen (§ 8<br />

Markeng).<br />

Im Regelfall entsteht Markenschutz dadurch, dass ein beim deutschen<br />

Patent- und Markenamt (kurz: dPMa) als Marke angemeldetes Zeichen<br />

in das dort in München geführte Markenregister eingetragen wird (§ 4<br />

nr. 1 Markeng). dieser Schutz gilt dann bundesweit. ausnahmsweise kann<br />

Markenschutz auch durch bloße benutzung eines schutzfähigen Zeichens<br />

im geschäftlichen Verkehr erlangt werden, sofern es dabei einen ausreichend<br />

hohen bekanntheitsgrad erworben hat (§ 4 nr. 2 Markeng).<br />

6 Markeng vom 25. Oktober 1994 (bgbl. I S. 3082, ber. 1995 I S. 156).<br />

7 erste Richtlinie des Rates zur angleichung der Rechtsvorschriften über die Marken<br />

89/104/eg vom 21. dezember 1988 (abl. 1989 nr. l 40/1).


298 Philipp Lehmann<br />

ZevKR<br />

Will man seinen erlangten Markenschutz geltend machen, kommt es<br />

zunächst einmal darauf an, dass man mit seiner Marke Priorität besitzt.<br />

der Schutz der eigenen Marke muss also länger bestehen, als der etwaige<br />

Schutz des Verletzerzeichens (§ 6 Markeng). Ist dies der Fall, so kann der<br />

Markeninhaber regelmäßig gegen fremde Zeichen vorgehen, sofern diese<br />

markenmäßig im geschäftlichen Verkehr benutzt wurden und mit seiner<br />

Marke identisch oder zum Verwechseln ähnlich sind (§ 14 abs. 2 Markeng).<br />

dies gilt allerdings nur dann, wenn das Verletzerzeichen auch für<br />

identische oder zumindest ähnliche Waren oder dienstleistungen benutzt<br />

wird, für die auch die Marke Schutz genießt. denn Marken können grundsätzlich<br />

immer nur für ganz bestimmte Waren- oder dienstleistungsbereiche<br />

geschützt werden. ein allumfassender Markenschutz kommt ausnahmsweise<br />

nur dann in Frage, wenn es sich bei der verletzten Marke um eine<br />

solche mit besonders hohem bekanntheitsgrad handelt (§ 14 abs. 2 nr. 3<br />

Markeng).<br />

liegt eine Markenverletzung vor, so kann der Markeninhaber nicht nur<br />

unterlassungs-, sondern auch Schadensersatz-, auskunfts- und Vernichtungsansprüche<br />

gegen den Verletzer geltend machen. ebenso können Strafanträge<br />

gestellt (§ 143 Markeng) und als markenrechtliche besonderheit<br />

löschungsansprüche durchgesetzt werden, sofern es sich bei dem Verletzerzeichen<br />

um eine eingetragene Marke handelt (§§ 49 bis 55 Markeng).<br />

all die genannten ansprüche bestehen jedoch nur solange, wie keine<br />

Schranke des Markenrechts eingreift (§§ 20 bis 26 Markeng). Verletzer<br />

können also gegebenenfalls einwenden, die ansprüche des Markeninhabers<br />

seien z. b. verwirkt, erschöpft oder auf grund mangelnder benutzung der<br />

geschützten Marke ausgeschlossen.<br />

II. Besonderheiten<br />

1. Kirchen als Markeninhaber<br />

Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob Kirchen überhaupt die Tatbestandsmerkmale<br />

einer Marke erfüllen können. denn wie oben bereits<br />

erläutert, handelt es sich bei Marken ja um Zeichen, die zur unterscheidung<br />

der Waren oder dienstleistungen von „unternehmen“ geeignet sind. aber<br />

können die Kirchen wirklich als „unternehmen“ i. S. d. Markeng eingeordnet<br />

werden? dies ist – auch wenn es zunächst absurd klingen mag – zu<br />

bejahen. denn seit dem Wegfall des sog. geschäftsbetriebserfordernisses<br />

im Jahre 1992 wird der unternehmensbegriff besonders weit ausgelegt.<br />

daher kommt es heute nicht mehr auf ein rein wirtschaftliches Verständnis<br />

an und selbst eine gewinnerzielungsabsicht ist nicht mehr von nöten.<br />

Vielmehr stellt schon Fezer fest, dass ein Markeninhaber insoweit auch nur<br />

religiöse oder gemeinnützige Zwecke verfolgen und trotzdem unter den


53 (2008) Marken-, Kennzeichen- und Namensschutz<br />

299<br />

weiten unternehmensbegriff des Markeng subsumiert werden kann. 8 diese<br />

Sicht ist auch schon deshalb schlüssig, weil mittlerweile jede Privatperson<br />

Marken für sich eintragen lassen und dadurch praktisch zum unternehmen<br />

i. S. d. Markeng werden kann.<br />

Weiterhin muss gefragt werden, ob religiöses handeln überhaupt als<br />

„dienstleistung“ i. S. d. Markeng eingeordnet werden kann. denn nach<br />

§ 3 Markeng sind Marken solche Zeichen, die zur unterscheidung von<br />

Waren und dienstleistungen dienen. Wie aber will man den wirtschaftlich<br />

geprägten begriff der „dienstleistung“ kirchlichen aktivitäten wie z. b.<br />

gottesdiensten, Seelsorge oder Konfirmandenunterricht überstülpen? Kann<br />

religiöses handeln also als dienstleistung gesehen werden? auch dieses<br />

ansinnen mag verwundern, gar empören. Wegen der gerade nicht wirtschaftlichen<br />

auslegung des § 3 Markeng erfasst der begriff der dienstleistung<br />

in diesem Zusammenhang aber dennoch alle denkbaren Tätigkeiten;<br />

egal ob wirtschaftlicher oder ideeller natur. auf einen gegenwert in geld<br />

kommt es im heutigen Markenrecht nicht mehr an. dies wird auch durch<br />

die Tatsache belegt, dass schon der gesetzgeber die dienstleistungsbegriffe<br />

„Religiöse erziehung“ (Klasse 41) und „Organisation religiöser Veranstaltungen“<br />

(Klasse 45) in die anlage zur Markenverordnung aufgenommen<br />

hat, damit Marken auch für diese ideell geprägten dienstleistungsbereiche<br />

eingetragen werden können.<br />

betrachtet man zudem § 7 des Markeng, welcher für die Fähigkeit zur<br />

Markeninhaberschaft lediglich das Vorliegen von Rechtsfähigkeit fordert,<br />

so wird klar, dass Kirchen völlig unproblematisch Marken innehaben können.<br />

denn die meisten Kirchen – zumindest solche aus dem bereich der<br />

eKd – besitzen heutzutage den Status einer Körperschaft des öffentlichen<br />

Rechts und stellen somit juristische Personen dar, die von § 7 explizit als<br />

mögliche Markeninhaber genannt werden. landeskirchen, Kirchenkreise<br />

und gar Kirchengemeinden, die regelmäßig auch Körperschaftsstatus<br />

besitzen, 9 können dadurch Markeninhaber werden. gleiches gilt für eingetragene<br />

Vereine.<br />

deshalb verwundert es nicht weiter, dass die Kirchen auch schon tatsächlich<br />

eingetragene Marken besitzen. allein die gesamtzahl überrascht<br />

deutlich. denn insgesamt konnten bereits über 1.300 eingetragene Marken<br />

ermittelt werden, die in deutschland Markenschutz genießen und sich im<br />

besitz von Inhabern aus dem bereich der Kirchen und sonstigen Religions-<br />

8 Vgl. Fezer, Markenrecht, 3. auflage, 2001, § 3, Rn. 85 ff.<br />

9 Vgl. von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. auflage, 2006, S. 140;<br />

von Campenhausen, in: von Mangoldt / Klein / Starck, gg, band 3, 5. auflage, 2005,<br />

art. 137 WRV, Rn. 233; Hollerbach, in: Isensee / Kirchhof, handbuch des Staatsrechts,<br />

band VI, 1989, § 139, Rn. 13 ff.


300 Philipp Lehmann<br />

ZevKR<br />

gemeinschaften befinden. 10 hierin enthalten sind allein 79 Marken, die<br />

unmittelbar den verfassten Kirchen der eKd gehören. Über 300 weitere<br />

Marken stammen aus dem weiteren umfeld der eKd und ihrer landeskirchen,<br />

so dass sich für den bereich der eKd eine gesamtzahl von knapp<br />

400 Marken ergibt. Zu nennen sind hierbei so bekannte Marken wie die<br />

Wortmarke „luther bonbon“ der nordelbischen evangelisch-lutherischen<br />

Kirche, 11 die buchstabenmarke „eKd“, 12 die bildmarke „Facettenkreuz“<br />

der evangelischen Kirche in hessen und nassau, 13 die Wort- / bildmarke<br />

„bethel“ 14 der von bodelschwinghschen anstalten und die Wort- / bildmarken<br />

„diakonie“ 15 und „brot für die Welt“ 16 des diakonischen Werkes<br />

der eKd.<br />

demgegenüber stammen zum Vergleich insgesamt über 430 Marken aus<br />

dem umfeld der Römisch-Katholischen Kirche in deutschland. letztlich ist<br />

jedoch anzumerken, dass selbst die unerwartet hohe gesamtzahl von 1.300<br />

Marken vor dem hintergrund von gut 1,5 Mio. Marken zu sehen ist, die<br />

in deutschland insgesamt Markenschutz genießen. die anzahl kirchlicher<br />

Marken bleibt also letzten endes doch recht überschaubar.<br />

dass Marken aus dem bereich der Kirchen auch nichts neues sind, belegt<br />

die wohl älteste Marke mit einer solchen herkunft. denn die bildmarke<br />

des evangelischen diakonievereins berlin-Zehlendorf wurde bereits am 11.<br />

Juni 1895 für broschen, Kleiderstoffe und druckerzeugnisse zur Registereintragung<br />

angemeldet.<br />

10 Siehe hierzu die im anhang der später erscheinenden dissertation „Marken-,<br />

Kennzeichen- und namensrecht im bereich der Religionsgemeinschaften“ als anlage<br />

1 befindliche auflistung.<br />

11 dPMa-Registernummer: 30559031.<br />

12 dPMa-Registernummer: 30240408.<br />

13 dPMa-Registernummer: 39602621.<br />

14 dPMa-Registernummer: 2054648.<br />

15 dPMa-Registernummer: 30111358.<br />

16 dPMa-Registernummer: 39905960.<br />

17 dPMa-Registernummer: 11336.<br />

17


53 (2008) Marken-, Kennzeichen- und Namensschutz<br />

2. Kirchenspezifische Schutzhindernisse<br />

301<br />

nachdem nun die grundsätzlichen Fragen und begrifflichkeiten geklärt<br />

worden sind, ist auf die absoluten Schutzhindernisse einzugehen, die auch<br />

für evangelische Marken von besonderer bedeutung sind. denn es gilt, dass<br />

ein Zeichen grundsätzlich nicht als Marke geschützt werden kann, wenn<br />

ihm ein Schutzhindernis aus § 8 Markeng entgegensteht.<br />

a.) Fehlende unterscheidungskraft (§ 8 abs. 2 nr. 1 Markeng)<br />

das erste wichtige Schutzhindernis ist das der fehlenden unterscheidungskraft.<br />

dieses hindernis greift dann ein, wenn ein Zeichen vorliegt,<br />

dem gerade aus der Sicht des angesprochenen Publikums die eignung fehlt,<br />

entsprechend gekennzeichnete Waren oder dienstleistungen als von einem<br />

bestimmten unternehmen stammend zu kennzeichnen. 18 So können reine<br />

bildzeichen, die beispielsweise nur aus dem christlichen Kreuz bestehen,<br />

nicht als Marke für religiöse dienstleistungen eingetragen werden. denn in<br />

anbetracht der heutigen Vielzahl von christlichen Religionsgemeinschaften<br />

könnte das angesprochene Publikum nicht unterscheiden, welche christliche<br />

Religionsgemeinschaft konkret hinter der Marke stehen würde. gleiches<br />

gilt auch für das christliche Fischsymbol, den sog. Ichthys. bei reinen<br />

Wortmarken sieht es insoweit ähnlich aus. beispielhaft war der Fall, als die<br />

angemeldete Mehrwortmarke „evangelisch aus guten grund“ wegen mangelnder<br />

unterscheidungskraft durch das dPMa zurückgewiesen wurde. 19<br />

Kreiert man hingegen Zeichen, bei denen Worte und bilder kombiniert<br />

werden, kommt ein Markenschutz schon viel eher in Frage. denn ein zu<br />

schützendes Zeichen kann sehr wohl aus nicht schutzfähigen einzelteilen<br />

bestehen, sofern diese einzelteile dann aber zusammengenommen ein unterscheidungskräftiges,<br />

prägnantes gesamtzeichen bilden. beispielhaft können<br />

hierbei die Wortmarke „evangelische Kirche in deutschland“ 20 und die mit<br />

verschiedenartigen Kreuzsymbolen versehenen landeskirchlichen Wort- /<br />

bildmarken genannt werden:<br />

21 22<br />

18 Vgl. eugh, gRuR 2004, 1027 (1029) – das Prinzip der bequemlichkeit, Tz.<br />

42; bgh gRuR 2002, 1070 (1071) – bar jeder Vernunft; Ingerl / Rohnke, Markeng,<br />

2. auflage, 2003, § 8, Rn. 116.<br />

19 dPMa-az.: 39710378.6.<br />

20 dPMa-Registernummer: 30240736.<br />

21 dPMa-Registernummer: 30020794.<br />

22 dPMa-Registernummer: 30516268.


302 Philipp Lehmann<br />

ZevKR<br />

23 24<br />

b.) Freihaltebedürfnis (§ 8 abs. 2 nr. 2 Markeng)<br />

als zweites Schutzhindernis ist das sog. Freihaltebedürfnis zu erwähnen.<br />

hierbei wird gefragt, ob das betreffende Zeichen für Mitbewerber freigehalten<br />

werden muss, damit diese es weiterhin zur beschreibung ihrer Waren<br />

und dienstleistungen frei verwenden können.<br />

denkt man wiederum an das christliche Kreuz oder den Ichthys, so liegt<br />

für reine bildmarken ein solches Freihaltebedürfnis auch tatsächlich vor.<br />

gleiches gilt für reine Wortmarken, wie z. b. „Kirche 24“ oder „evangelisch<br />

aus gutem grund“. 25 Fügt man solchen Zeichen hingegen andere prägnante<br />

Wort- oder bildbestandteile hinzu, so kann Markenschutz dennoch entstehen.<br />

als beispiel ist auf die Wort- / bildmarke des christlichen Reiseveranstalters<br />

evangtours zu verweisen, welche neben den markanten begriffen<br />

„ObeR lIChTenau – land am dresdner Rand“ auch in Kleindruck<br />

den Ichthys enthält. Kritisch ist jedoch zu sehen, dass das ®-Zeichen (als<br />

Synonym für das aus dem anglo-amerikanischen Markenrecht stammende<br />

„Registered Trademark“), welches in dieser Marke rechts neben dem Ichthys<br />

angebracht worden ist, den ungerechtfertigten eindruck erwecken<br />

soll, dieses unternehmen hätte sich den Ichthys allein als Marke schützen<br />

lassen.<br />

26<br />

c.) Üblich gewordene Zeichen (§ 8 abs. 2 nr. 3 Markeng)<br />

des Weiteren sind üblich gewordene Zeichen nicht schutzfähig. gedacht<br />

sei hierbei an bloße gattungsbegriffe wie „Kirche“, „gemeinde“, „Pfarrer“,<br />

„bischof“, „Messwein“ oder „bibel“, sofern sie für entsprechende Waren-<br />

oder dienstleistungsbereiche geschützt werden sollen. anders ist jedoch der<br />

begriff „diakonie“ zu beurteilen. hierbei handelt es sich nicht mehr um<br />

23 In anmeldung begriffen.<br />

24 dPMa-Registernummer: 304166049.<br />

25 dPMa-az.: 30032973.3 und 39710378.6.<br />

26 dPMa-Registernummer: 30262832.


53 (2008) Marken-, Kennzeichen- und Namensschutz<br />

303<br />

einen rein dienstleistungsbeschreibenden gattungsbegriff, sondern vielmehr<br />

um den hinweis auf ein ganz bestimmtes evangelisches Wohlfahrtsunternehmen.<br />

Fundstellen in einschlägigen lexika belegen dies eindrucksvoll. 27<br />

auch das dPMa hat dies mit der eintragung dieser bezeichnung als einwortmarke<br />

bestätigt. 28 unbefugte dritte dürfen die namen ihrer sozialen<br />

einrichtungen somit nicht mehr an das Wort „diakonie“ anlehnen.<br />

d.) Täuschende Zeichen (§ 8 abs. 2 nr. 4 Markeng)<br />

ebenso wenig genießen Zeichen Markenschutz, die in bezug auf die art,<br />

die beschaffenheit oder die geographische herkunft der durch sie bezeichneten<br />

Waren oder dienstleistungen irreführend sind. Somit scheidet beispielsweise<br />

die eintragung eines Zeichens aus, welches zwar den anschein<br />

einer evangelischen herkunft erweckt, in Wahrheit aber zu einem unbefugten<br />

gewebetreibenden gehört, der nur an dem guten Ruf der Kirche<br />

partizipieren will.<br />

am bedeutendsten sind insoweit aber die Fälle, in denen gewerbetreibende<br />

Zeichen als Marke eintragen lassen, die eine klösterliche herkunft<br />

der Waren (zumeist bier oder andere lebensmittel) suggerieren sollen,<br />

obwohl diese in Wahrheit gar nicht vorliegt. Wertet man die diesbezügliche<br />

Rechtsprechung und literatur der letzten 50 Jahre aus, so zeigt sich,<br />

dass der bgh am ende recht strenge Vorgaben zur benutzung solcher Klosterhinweise<br />

aufgestellt hat. denn aus seiner Sicht dürfen Klosterhinweise<br />

grundsätzlich nur dann verwendet werden, wenn es sich bei dem Verwender<br />

auch tatsächlich um eine religiöse Ordensgemeinschaft oder zumindest<br />

einen betrieb handelt, der in ununterbrochener Folge am Ort eines ehemaligen<br />

Klosters an mönchische Tradition anknüpft. 29<br />

e.) Sittenwidrige Zeichen (§ 8 abs. 2 nr. 5 Markeng)<br />

Zum abschluss ist auch noch auf das Schutzhindernis der Sittenwidrigkeit<br />

einzugehen. denn aus der Sicht der Kirchen und ihrer Mitglieder<br />

werden hierdurch insbesondere Zeichen erfasst, die geeignet sind, religiöse<br />

gefühle zu verletzen. Zumeist folgt diese art der Sittenwidrigkeit gerade aus<br />

27 Siehe nur brockhaus, enzyklopädie in 30 bänden, 21. auflage, 2006, band 6,<br />

S. 760 f.; dIe ZeIT-lexikon in 20 bänden, 2005, band 3, S. 437 sowie duden Fremdwörterbuch<br />

in 10 bänden, 4. auflage, band 5, 1982, S. 181.<br />

28 dPMa-Registernummer: 39954705.<br />

29 urteil des bgh vom 07. november 2002, az.: I ZR 276/99, zu § 3 uWg und<br />

§ 17 abs. 1 nr. 5 lMbg, WRP 2003, 747 (749 und 751) – Klosterbrauerei. Für den<br />

seltenen ausnahmefall, dass ein Klosterhinweis auf der einen Seite diese strengen Vorgaben<br />

nicht erfüllt, auf der anderen Seite aber seit über 150 Jahren unbeanstandet und<br />

nur regional benutzt wird und dem benutzer so ein wertvoller besitzstand an dem<br />

Zeichen entstanden ist, will der bgh die weitere Verwendung eines solchen Klosterhinweises<br />

im hinblick auf den grundsatz der Verhältnismäßigkeit jedoch nicht untersagen<br />

(bgh WRP 2003, 747 = gRuR 2003, 628 – Klosterbrauerei).


304 Philipp Lehmann<br />

ZevKR<br />

der Verbindung religiöser Inhalte mit profanen allerweltswaren. So wurden<br />

angemeldete Zeichen wie z. b. „gott – Quelle des lebens“, „Messias“, „Wir<br />

sind Papst!“, „daleilama“, „evangelisch“ oder „Coran“ seitens des dPMa<br />

zurückgewiesen.<br />

natürlich spielt es in diesem bereich auch eine Rolle, dass die Mitgliederzahlen<br />

der Kirchen sinken und dadurch in absoluten Zahlen gemessen tendenziell<br />

weniger Menschen an religiösen Markeninhalten anstoß nehmen<br />

werden. Jedoch kommt es insoweit immer nur darauf an, dass zumindest<br />

ein beachtlicher Teil des Verkehrs sich in seinen religiösen gefühlen verletzt<br />

sieht. 30 auf eine Mehrheit der Mitglieder einer Religionsgemeinschaft<br />

kommt es von daher ebenso wenig an wie auf eine bestimmte Mindestanzahl<br />

an Personen. darüber hinaus sind nach allgemeiner ansicht sogar<br />

die gefühle religiöser Minderheiten zu berücksichtigen, womit die anhänger<br />

kleiner Religionsgemeinschaften gemeint sind. 31<br />

abschließend ist noch ein aktuelles beispiel einer sittenwidrigen Marke<br />

aufzuzeigen. denn die Marke „adler greift Ichthys“ wurde bereits im Jahre<br />

2002 durch den als rechtsextrem eingestuften hamburger anwalt Jürgen<br />

Rieger 32 für die rechtsextreme „artgemeinschaft wesensgemäßer lebensgestaltung“<br />

33 angemeldet und durch das dPMa eingetragen. da dieser<br />

Verein selbst zugibt, heidnisch zu sein und gegen das Christentum vorgehen<br />

zu wollen 34 und eingedenk der Tatsache, dass der Ichthys in derart kämpferischer<br />

Pose angegriffen wird, ist diese Marke zweifellos als sittenwidrig<br />

zu beurteilen. die Stellung eines entsprechenden löschungsantrages durch<br />

christliche Kirchen steht allerdings immer noch aus.<br />

35<br />

30 bgh gRuR 1964, 136 (137) – Schweizer; bPatge 28, 41(42) – CORan.<br />

31 beschluss des 25. Senats des bPatg vom 03. april 2003 – 25 W (pat) 152/01 – urbi<br />

et orbi, Tz. 15 (Juris); siehe auch Ingerl, die gemeinschaftsmarke, 1996, zu art. 7<br />

abs. 1 lit. f gMV, S. 67 f. und die entscheidung der eidgenössischen Rekurskommission<br />

für geistiges eigentum vom 05. Oktober 2000, az.: Ma-aa 04/00, sic! 2001,<br />

31 – Siddhartha.<br />

32 Siehe nur die Mitteilungen des ndR unter http: / /www1.ndr.de / nachrichten /<br />

niedersachsen / nds3466.html (aufgerufen am 05. Mai 2007); ebenso epd Wochenspiegel,<br />

heft 19, 2007, S. 14.<br />

33 Mitteilung des Verfassungsschutzes nRW, vgl. http://www.im.nrw.de/sch/738.<br />

htm# (augerufen am 04. Mai 2007).<br />

34 Siehe das Vereinsportrait (geschrieben von Almut Gerke) und den Ratgeber „Kirchenaustritt<br />

einfach (und) notwendig“ (geschrieben von dr. Wielant Hopfner), beide<br />

über die homepage der „artgemeinschaft“ unter http: / /asatru.de / nordzeit / index.php<br />

einsehbar (aufgerufen am 04. Mai 2007).<br />

35 dPMa-Registernummer: 302381058.


53 (2008) Marken-, Kennzeichen- und Namensschutz<br />

3. geltendmachung des Markenschutzes durch die Kirchen<br />

305<br />

In bezug auf die geltendmachung des Markenschutzes bestehen des Weiteren<br />

drei Problembereiche, die aus der eigenart der Kirchen resultieren und<br />

beim umgang mit dem Markenrecht dringend beachtet werden sollten.<br />

a.) Merkmal des handelns im geschäftlichen Verkehr<br />

dieses Tatbestandsmerkmal zieht sich wie ein roter Faden durch das<br />

gesamte Markeng. So können markenrechtliche ansprüche beispielsweise<br />

immer nur dann gegen einen unbefugten dritten entstehen, wenn dieser sein<br />

Zeichen auch im geschäftlichen Verkehr benutzt hat (§§ 14 ff. Markeng).<br />

hierbei sieht man wieder, dass das Markenrecht eigentlich auf den bereich<br />

der Wirtschaft abzielt. Jedenfalls ist gerade für den bereich der Kirchen zu<br />

klären, ob es hier überhaupt und – wenn ja – inwieweit zu einem handeln<br />

im geschäftlichen Verkehr kommen kann. Schließlich könnte auch den Kirchen<br />

oder einer ihnen zugehörigen Institution einmal vorgeworfen werden,<br />

sie verletzten mit ihren Zeichen fremde Markenrechte.<br />

natürlich mag allein der gedanke, Kirchen könnten überhaupt geschäftlich<br />

handeln, empören. und dennoch: das Tatbestandsmerkmal des handelns<br />

im geschäftlichen Verkehr wird heute – wie schon im hinblick auf<br />

die begriffe „unternehmen“ und „dienstleistungen“ – nach allgemeiner<br />

ansicht sehr weit und seit dem Wegfall des geschäftsbetriebserfordernisses<br />

nicht mehr rein wirtschaftlich verstanden. danach ist ein handeln im<br />

geschäftlichen Verkehr schon dann zu bejahen, wenn die Zeichenbenutzung<br />

der Förderung eines beliebigen eigenen oder fremden geschäftszweckes<br />

dienen soll. dafür bedarf es jedoch weder einer gewinnerzielungsabsicht<br />

noch einer entgeltlichkeit. 36 allerdings besteht auf der anderen Seite auch<br />

dahingehend einigkeit, dass rein private aktivitäten kein handeln im<br />

geschäftlichen Verkehr darstellen. 37 hierzu werden nach ansicht namhafter<br />

autoren gerade auch „kirchliche aktivitäten“ gezählt. dies soll allerdings<br />

nur dann gelten, wenn mit einer solchen handlung ausschließlich<br />

private bzw. kirchliche Interessen verfolgt werden. Sobald aber nebenher<br />

„auch“ geschäftliche Interessen vorhanden sind, soll bereits dieses teilweise<br />

geschäftliche handeln die anwendbarkeit markenrechtlicher Vorschriften<br />

auslösen können. 38<br />

36 bgh gRuR 1987, 438 (440) – handtuchspender; Ingerl / Rohnke, (Fn. 18),<br />

§ 14, Rn. 48.<br />

37 eugh WRP 2002, 1415 – arsenal FC, Tz. 40; bgh gRuR 1987, 438<br />

(440) – handtuchspender; Ströbele / Hacker, Markeng, 8. auflage, 2006, § 14, Rn.<br />

29. 38 Vgl. Ingerl / Rohnke, (Fn. 18), § 14, Rn. 53; Schweyer, in: von Schultz, Kommentar<br />

zum Markenrecht, 2002, § 14, Rn. 11; von Gamm, MarkenR 2001, 392 (396).


306 Philipp Lehmann<br />

ZevKR<br />

die fraglichen aktivitäten im bereich der Kirchen sollten also stets genau<br />

auf ihren Charakter hin untersucht werden. denn eines steht fest: entgeltliche<br />

dienstleistungen der diakonie im bereich der Kranken- und altenpflege<br />

sowie der Kinderbetreuung sind trotz ihres ideell motivierten hintergrundes<br />

als geschäftliches handeln i. S. d. Markeng anzusehen.<br />

grenzwertig sind hingegen alle sonstigen kirchlichen aktivitäten. Vorsicht<br />

ist daher selbst bei der Verbreitung kirchlicher druckerzeugnisse oder<br />

bei einstellung von Inhalten in kirchliche Internetseiten zu wahren. demgegenüber<br />

wird aber der Kernbereich an religiösen handlungen wie etwa<br />

die abhaltung von gottesdiensten und die durchführung von seelsorgerischen<br />

gesprächen niemals als geschäftlich angesehen werden dürfen. Jedoch<br />

ist der Fall „aktion Rumpelkammer“ stets im hinterkopf zu behalten, bei<br />

dem das bundesverfassungsgericht die einordnung einer Werbung für eine<br />

Kleidersammlung von der Kanzel herab als geschäftliches handeln toleriert<br />

hat. 39 denn trotz der vorrangigen ideellen Ziele, die damals mit der Kleidersammlung<br />

verfolgt wurden, geschah dieser aufruf demnach zumindest zu<br />

„auch“ geschäftlichen Zwecken im Sinne des Wettbewerbsrechts. da das<br />

Markenrecht nach allgemeiner Meinung nur ein spezieller unterfall des<br />

Wettbewerbsrechts ist, 40 kann diese ansicht des bundesverfassungsgerichts<br />

auch auf das markenrechtliche Tatbestandsmerkmal übertragen werden.<br />

Somit muss bei markenrechtlichen Sachverhalten besonders im bereich<br />

der Kirchen immer gefragt werden, ob eine handlung nicht zumindest zu<br />

„auch“ geschäftlichen Zwecken erfolgt.<br />

b.) Risiken der anspruchsgeltendmachung<br />

darüber hinaus kann die geltendmachung von markenrechtlichen<br />

ansprüchen für die Kirchen und ihre zugehörigen Institutionen auch zu<br />

einem Imageverlust führen. Schließlich haftet sowohl den markenrechtlichen<br />

als auch den sonstigen kennzeichenrechtlichen ansprüchen der<br />

geschmack des Wirtschaftsrechts an. das weiß selbst der juristische laie.<br />

die Kirchen können also durch die anspruchsgeltendmachung in die ecke<br />

der gewerbetreibenden gedrängt werden.<br />

das ganze kann an den besonders zu beachtenden Fällen der sog.<br />

Markenparodie noch einmal verdeutlicht werden: bei der Markenparodie<br />

versuchen dritte durch die komische oder auch kritische Verfremdung<br />

bekannter Marken große aufmerksamkeit in den Medien zu erlangen, um<br />

39 beschluss des ersten Senats des bVerfg vom 16. Oktober 1968 – 1 bvR<br />

241/66 – bVerfge 24, 236 (245) = nJW 1969, 31 – aktion Rumpelkammer (lumpensammler).<br />

40 urteil des Reichsgerichts vom 30. april 1928 – II 542/27, RgZ 120, 325<br />

(328) – Sonnengold; urteil des bgh vom 11. Juni 1954, bghZ 14, 15 (18) – Frankfurter<br />

Römer; Baumbach / Hefermehl, WettbewerbsR, 18. auflage, 1995, allg. einf., Rn.<br />

101; bussmann / Pietzker / Kleine, gewerblicher Rechtschutz, 3. auflage, 1962, S. 94.


53 (2008) Marken-, Kennzeichen- und Namensschutz<br />

307<br />

ihre jeweilige botschaft zu verbreiten. Im evangelischen bereich sind daher<br />

bekannte Marken und ähnliche bezeichnungen wie „bahnhofsmission“,<br />

„brot für die Welt“, „brot statt böller“ oder „die losungen“ betroffen.<br />

beispielsweise wurde die Marke „brot für die Welt“ des diakonischen<br />

Werkes parodiert, indem dritte das Zeichen „brot für die geZ“ schufen,<br />

um gegen die anstehende erhöhung der geZ-gebühren zu protestieren.<br />

41<br />

Ferner kam ein dritter auf die Idee, die als bekannte benutzungsmarke<br />

einzustufenden „losungen“ der herrnhuter brüdergemeine in „dosungen“<br />

umzudichten und fortan in blechdosen gepresste bibelsprüche zu verkaufen.<br />

gerade in den Fällen, in denen die parodistische Verfremdung solch<br />

bekannter Marken offensichtlich ist, kann selbst eine notwendige markenrechtliche<br />

untersagung durch den kirchlichen Markeninhaber jedoch zu<br />

Kritik und dem Vorwurf der humorlosigkeit führen. In diesen Fällen ist<br />

also besonders mit bedacht vorzugehen.<br />

das gleiche gilt aber auch für alle sonstigen Fälle, in denen kirchliche<br />

Marken verletzt werden. da ein markenrechtliches Vorgehen regelmäßig<br />

unerlässlich ist, um die eigene Marke überhaupt am leben zu erhalten und<br />

den guten glauben an sie zu sichern, sind gerade kirchliche Institutionen<br />

gefordert, ihre diesbezüglichen Vorgehensweisen von einer aufklärenden<br />

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu umrahmen. nur so kann der bevölkerung<br />

und den Medien gegenüber frühzeitig die notwendigkeit eines markenrechtlichen<br />

Vorgehens verdeutlicht und die gefahr eines Imageverlustes<br />

minimiert oder sogar ganz gebannt werden.<br />

c.) Schranken des Markenrechts<br />

an dieser Stelle sind noch zwei der Schranken des Markenrechts hervorzuheben,<br />

die gerade für die Kirchen von besonderer Wichtigkeit sind.<br />

41 dPMa-Registernummer: 39905960.


308 Philipp Lehmann<br />

ZevKR<br />

So zeigt nämlich die Schranke der Verwirkung i. S. d. § 21 Markeng einerseits<br />

sehr eindrucksvoll, was im Fall einer nur zögerlichen oder gänzlichen<br />

unterlassung einer anspruchsgeltendmachung passiert. nehmen wir nur<br />

den Fall des „Malteserkreuzes“: da der katholische Malteserorden mit seinen<br />

bierbrauenden lizenznehmern Jahrzehnte lang nicht gegen den schwedischen<br />

Spirituosenkonzern V&S, welcher den „Malteserkreuz aquavit“<br />

produziert, vorgegangen war, nahm am ende sogar dieser Spirituosenhersteller<br />

selbst die Malteser markenrechtlich auf unterlassung in anspruch.<br />

und dies auch noch mit erfolg. Vor dem Olg hamburg wurde letztlich der<br />

Vergleich geschlossen, dass der Malteserorden für alle Zukunft und zudem<br />

weltweit sein berühmtes Malteserkreuz nicht mehr für Spirituosen verwenden<br />

darf. 42 gerade die Kirchen und die ihnen nahe stehenden Institutionen<br />

laufen also gefahr, auf grund ihrer eigenart doch auf ein Vorgehen gegen<br />

Markenverletzungen zu verzichten und so am ende alle oder zumindest<br />

Teile ihrer Markenrechte für immer zu verlieren.<br />

andererseits ist auch noch besonders auf die Schranke der rein beschreibenden<br />

benutzung gem. § 23 Markeng hinweisen. hiernach können markenrechtliche<br />

ansprüche gegen ein dritten dann nicht geltend gemacht<br />

werden, wenn dieser die fremde Marke in lauterer art und Weise nur zur<br />

beschreibung seiner eigenen Waren oder dienstleistungen benutzt. So gibt<br />

es beispielsweise unzählige Marken, die Kirchengebäude in Verbindung mit<br />

anderen bestandteilen beinhalten, um auf die geographische herkunft der<br />

Ware oder dienstleistung hinzuweisen. Wegen dieser rein beschreibenden<br />

benutzung stehen Kirchengemeinden, in deren eigentum sich ein solches<br />

Kirchengebäude befindet, regelmäßig keine markenrechtlichen ansprüche<br />

gegen den dritten zu. Überhaupt hat die Rechtsprechung schon mehrfach<br />

bestätigt, dass die abbildung des Wahrzeichens einer Stadt – wie z. b. dem<br />

Kölner dom – von allen ortsansässigen gewerbetreibenden grundsätzlich<br />

frei benutzt werden kann. 43<br />

4. außenwirkung kirchlicher Rechtssätze<br />

auch auf das Kirchenrecht ist noch kurz eingehen. Zu fragen ist nämlich,<br />

ob kirchliche Rechtssätze eine auswirkung auf das Markenrecht haben<br />

können. dies ist auch tatsächlich der Fall. denn insbesondere bei der Verletzung<br />

von Marken bedarf es nach § 14 abs. 2 Markeng stets einer Zeichenbenutzung<br />

„ohne Zustimmung“ des Markeninhabers. Verabschiedet also<br />

eine Kirche oder eine ihrer untergliederungen einen Rechtssatz (was auch<br />

42 Vgl. lg hamburg nJOZ 2006, 1746 – Malteser-bier und bzgl. des geschlossenen<br />

Vergleichs siehe JuVe Rechtsmarkt, 02/07, S. 71.<br />

43 Vgl. bghZ 14, 15 (19) – Frankfurter Römer; Olg Jena gRuR 2000, 435<br />

(436) – Wartburg; zum Kölner dom: lg Köln gRuR 1954, 210 (211) und bPatg vom<br />

26. September 2006 – 27 W (pat) 35/06 (Juris).


53 (2008) Marken-, Kennzeichen- und Namensschutz<br />

309<br />

dringend zu empfehlen ist), wonach bestimmte kirchliche Institutionen eine<br />

Marke der Kirche benutzen dürfen, so handelt es sich um eine art lizenz<br />

i. S. d. § 30 Markeng. die benutzer verwenden die Marke in solchen Fällen<br />

dann nach außen hin mit Zustimmung des Markeninhabers, so dass eine<br />

Markenverletzung regelmäßig ausscheidet.<br />

Weiterhin könnte eine landeskirche oder gar die eKd auch eine art<br />

„Richtlinie zum umgang mit Marken“ erlassen, um Know-how zu bündeln,<br />

einheitlich aufzutreten und Kosten zu sparen. In dieser Richtlinie könnte<br />

festgelegt werden, dass nur eine ganz bestimmte Institution die bestehenden<br />

Markenrechte auch geltend machen darf (gedacht sei etwa an eine Zentralstelle<br />

für Markenfragen). Im Prozess vor weltlichen gerichten würde diese<br />

kircheninterne Richtlinie dann auch über die Prozessführungsbefugnis entscheiden.<br />

der deutsche Caritasverband hat dies im Übrigen schon mit einer<br />

ausführlichen Regelung in seiner Satzung beispielhaft vorgemacht. 44<br />

5. bestehen eines allgemeinen eintragungsbedürfnisses?<br />

nach alledem stellt sich die Frage, ob für kirchliche Symbole, namen und<br />

sonstige Zeichen ein allgemeines eintragungsbedürfnis besteht. diese Frage<br />

ist mit einem „Jein“ zu beantworten. denn die dargestellten Problempunkte<br />

und besonderheiten sind auf der einen Seite nicht schwerwiegend genug, um<br />

von der Markeneintragung grundsätzlich abzuraten. Vielmehr sollten die<br />

Verantwortungsträger der evangelischen Kirche noch einmal alle markanten<br />

und bekannten Symbole, namen und logos aus ihrem Verantwortungsbereich<br />

in augenschein nehmen und die eintragungsfähigkeit prüfen lassen.<br />

gerade in der heutigen rechtlich ausdifferenzierten gesellschaft können insbesondere<br />

Symbole und logos am effektivsten über das Markenrecht vor<br />

Missbrauch geschützt werden. denkt man nur an die eingangs erwähnte<br />

Marke „luther bonbon“ der nordelbischen evangelischen Kirche, wird<br />

dies auch deutlich. denn nur die Markeneintragung kann sicherstellen, dass<br />

die Verwendung dieser bezeichnung auch in Zukunft durch die Kirche kontrolliert<br />

und Trittbrettfahrern das handwerk gelegt werden kann.<br />

dieses allgemeine eintragungserfordernis besteht allerdings immer nur<br />

dann – und hierin liegt der verneinende Teil der antwort, wenn die fraglichen<br />

Symbole und logos auch in nennenswertem umfang in der Öffentlichkeit<br />

benutzt werden oder zumindest zukünftig benutzt werden sollen.<br />

Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die bloßen namen von kirchlichen<br />

44 Siehe § 21 der Satzung des deutschen Caritasverbandes, welcher den Kreis der<br />

benutzungsberechtigten festlegt und vorgibt, dass diese berechtigten bei Kenntniserlangung<br />

von Verstößen gegen die „Caritas“-Marken den Vorstand zu informieren<br />

haben und auch nur dieser oder die diözesan-Caritasverbände solche Rechtsverstöße<br />

verfolgen dürfen; vgl. www.caritas.de/8833.html (aufgerufen am 21. Mai 2007).


310 Philipp Lehmann<br />

ZevKR<br />

Institutionen regelmäßig ausreichenden namensrechtlichen Schutz über<br />

§ 12 bgb genießen.<br />

b.<br />

Kennzeichenrecht<br />

um den Schutz von Zeichen umfassend beurteilen zu können, sind neben<br />

den marken- auch die sonstigen kennzeichenrechtlichen Vorschriften zu<br />

beachten. Schließlich bemisst sich der Schutz eines Zeichens immer danach,<br />

wie und in welchem Zusammenhang es gerade benutzt wird. Verwendet<br />

man eine eingetragene Marke beispielsweise nur als Titel eines Werkes, wird<br />

sich die lösung des betreffenden Falles eher nach dem Werktitelrecht der<br />

§§ 5, 15 Markeng richten. gleiches gilt, wenn ein Zeichen zwar als Marke<br />

eingetragen ist, in der konkreten Situation aber nur als unternehmenskennzeichen<br />

i. S. d. § 5 abs. 2 Markeng verwendet wird. genauso gut kann bei<br />

einer Marke, die eine geographische angabe enthält, das Recht der geographischen<br />

herkunftsangaben der §§ 126 ff. Markeng eingreifen. und auch<br />

bei Streitigkeiten über Internet-domains kommt es stets darauf an, wie eine<br />

derartige domain benutzt wird. Solche Fälle können sowohl nach Marken-,<br />

als auch nach Kennzeichen- oder gar nach namensrecht zu lösen sein.<br />

I. Unternehmenskennzeichen (§ 5 Abs. 2 MarkenG)<br />

als erstes ist das unternehmenskennzeichen i. S. d. § 5 abs. 2 Markeng<br />

zu nennen. Mit unternehmenskennzeichen ist der name, die Firma oder<br />

eine ähnliche bezeichnung eines unternehmens oder unternehmensteils<br />

gemeint. Man kann somit vom namensrecht der unternehmen sprechen.<br />

das in den §§ 17 ff. handelsgesetzbuch geregelte Firmenrecht, welches<br />

die Firma nur in ihrer tatsächlich in das handelsregister eingetragenen<br />

Form vor Verwechslungen schützt, hat wegen dieses engen Schutzumfanges<br />

seit der Kodifizierung des unternehmenskennzeichens im Markeng<br />

hingegen an bedeutung verloren. Im gegensatz zum Firmenrecht entsteht<br />

ein unternehmenskennzeichenrecht auch nicht erst durch eintragung ins<br />

handelsregister, sondern regelmäßig schon allein durch die benutzung eines<br />

mit namensfunktion ausgestatteten, unterscheidungskräftigen Zeichens im<br />

geschäftlichen Verkehr. 45 ein so entstandenes unternehmenskennzeichen ist<br />

über § 15 Markeng ähnlich wie eine Marke geschützt.<br />

auch die Kirchen haben schon bekanntschaft mit den unternehmenskennzeichen<br />

gemacht. beispielsweise wurden die oben genannten Klo-<br />

45 Vgl. bgh gRuR 2002, 972 (973) – FROMMIa; Ströbele / Hacker, (Fn. 37), § 5,<br />

Rn. 27.


53 (2008) Marken-, Kennzeichen- und Namensschutz<br />

311<br />

sterfälle teilweise auch nach § 15 Markeng beurteilt, sofern die fraglichen<br />

unternehmensnamen unwahre Klosterhinweise wie z. b. „Klosterbrauerei“<br />

enthielten.<br />

da die Kirchen darüber hinaus auch zehntausende an Werken, einrichtungen<br />

und sonstigen unternehmungen besitzen, die einen eigenen namen<br />

haben und diesen auch im geschäftlichen Verkehr benutzen – man denke<br />

nur an namen wie „Kd-bank“, „ecclesia Versicherungsdienst“, „Radio<br />

Paradiso“ und „evangelisches und Johanniter Klinikum niederrhein“<br />

oder die vielen namen der diakonie- und Sozialstationen – bestehen auch<br />

entsprechend viele unternehmenskennzeichenrechte, die gegen identische<br />

oder verwechslungsfähig ähnliche unternehmensnamen verteidigt werden<br />

sollten.<br />

II. Werktitel (§ 5 Abs. 3 MarkenG)<br />

das ebenfalls seit 1995 im Markeng kodifizierte Werktitelrecht stellt<br />

neben dem Marken- und dem unternehmenskennzeichenrecht ein weiteres<br />

wichtiges Rechtsgebiet dar. es handelt sich wie der name schon sagt, um<br />

das Recht an dem Titel eines Werkes. Mit Werk sind insoweit alle denkbaren<br />

Werkarten gemeint, also vor allem druck-, Film- und Fernsehwerke.<br />

Wie beim unternehmenskennzeichenrecht entsteht der Titelschutz durch<br />

bloße aufnahme der benutzung eines unterscheidungskräftigen Titels im<br />

geschäftlichen Verkehr. 46<br />

Im bereich der Kirchen gab es auch bereits einige berührungspunkte<br />

mit dem Werktitelrecht. Zwar kann die evangelische Kirche wie schon im<br />

Markenrecht grundsätzlich keinen Schutz für den Titel „die bibel“ geltend<br />

machen, da auch an dieser Stelle ein überragendes Freihaltebedürfnis<br />

zugunsten der anderen christlichen Religionsgemeinschaften vorliegt. an<br />

vielen anderen Werken aus dem evangelischen bereich, die unterscheidungskräftige<br />

Titel aufweisen, bestehen aber sehr wohl Werktitelrechte i. S. d.<br />

§ 5 abs. 3 Markeng – genannt seien hier nur Titel von druckwerken wie<br />

„Chrismon“, „Zeitzeichen“, „epd Wochenspiegel“, „nordelbische Stimmen“<br />

oder „evangelischer Kirchenbote“.<br />

auch „die losungen“ der herrnhuter brüdergemeine fallen unter den<br />

werktitelrechtlichen Schutz. Zwar weisen sie einen beschreibenden anklang<br />

auf, jedoch hat die seit 277 Jahren fortwährende herausgabe dieser büchlein<br />

dazu geführt, dass in allen einschlägigen lexika unter „losungen“ auf<br />

die brüder-unität herrnhut verwiesen wird. 47 eine ausreichend hohe Ver-<br />

46 Vgl. bgh gRuR 2000, 70 (72) – SZene; Ströbele / Hacker, (Fn. 37), § 5, Rn.<br />

80. 47 brockhaus, enzyklopädie in 30 bänden, 2006, band 17, S. 170; dIe ZeIT-lexikon<br />

in 20 bänden, 2005, band 9, S. 132; duden, das große Wörterbuch der deut-


312 Philipp Lehmann<br />

ZevKR<br />

kehrsgeltung lässt sich somit nicht mehr bestreiten und das bestehen von<br />

Werktitelschutz ist festzustellen.<br />

Von nachteil für die evangelische Kirche war hingegen der Fall<br />

„Chrisma / Prisma“. hierbei war vor der einführung des evangelischen<br />

Monatsmagazins „Chrisma“ offenbar das werktitelrechtliche Konfliktpotential<br />

unterschätzt worden. denn kurz nach der einführung nahm<br />

der du Mont <strong>Verlag</strong> aus Köln den kirchlichen herausgeber wegen werktitelrechtlicher<br />

Verwechslungsgefahr in bezug auf seine Fernsehbeilage<br />

„Prisma“ erfolgreich auf unterlassung in anspruch. das evangelische<br />

Monatsmagazin musste dann kurzerhand in seinen heutigen Titel „Chrismon“<br />

umbenannt werden. 48<br />

III. Geographische Herkunftsangaben (§ 126 MarkenG)<br />

letztlich werden im Markeng auch noch die als geographische herkunftsangaben<br />

bezeichneten Kennzeichen geregelt. hierbei handelt es sich<br />

gem. § 126 Markeng um namen von Orten, gegenden, gebieten oder<br />

ländern und sonstige angaben, die im geschäftlichen Verkehr zur Kennzeichnung<br />

der geographischen herkunft von Waren oder dienstleistungen<br />

benutzt werden. Wie sich aus § 127 Markeng entnehmen lässt, ist dieses<br />

Rechtsgebiet dazu da, sowohl hersteller als auch Verbraucher vor irreführenden<br />

geographischen hinweisen zu schützen.<br />

die besonderheit der geographischen herkunftsangaben besteht im<br />

gegensatz zu allen vorigen Kennzeichenrechten allerdings darin, dass sie<br />

grundsätzlich nicht zugunsten einer einzelnen Person monopolisiert werden<br />

können. Vielmehr haben alle an dem geographisch bezeichneten Ort ansässigen<br />

das Recht, die entsprechende geographische herkunftsangabe für ihre<br />

Waren und dienstleistungen zu verwenden. 49<br />

auch im bereich der Kirchen ist das Recht der geographischen herkunftsangaben<br />

zu beachten. Zwar gelten diese Vorschriften wiederum nur<br />

dann, wenn ein handeln im geschäftlichen Verkehr vorliegt. Wegen der weiten<br />

auslegung dieses Tatbestandsmerkmals sollten jedoch auch kirchliche<br />

Institutionen in ihren Marken und sonstigen Kennzeichen keine angaben<br />

verwenden, die über die geographische herkunft der so bezeichneten Waren<br />

oder dienstleistungen irreführen könnten.<br />

schen Sprache, 3. auflage, band 6, 1999, S. 2461; der grosse herder, nachschlagewerk<br />

für Wissen und leben, 1954, band 5, S. 1454.<br />

48 Siehe http://www.tagesspiegel.de/medien/archiv/23.11.2000/ak-me-10523.html<br />

(aufgerufen am 23. März 2007).<br />

49 Vgl. bgh gRuR 2001, 73 (77) – Stich den buben; Ingerl / Rohnke, (Fn. 18),<br />

Vor §§ 126–129, Rn. 1; Ströbele / Hacker, (Fn. 37), § 126, Rn. 4; a.a. Fezer, (Fn. 8),<br />

§ 126, Rn. 4.


53 (2008) Marken-, Kennzeichen- und Namensschutz<br />

313<br />

demgegenüber können die Kirchen aber auch von dem Recht der geographischen<br />

herkunftsangaben direkt profitieren. denn über § 127 abs. 2<br />

Markeng lassen sich Waren und dienstleistungen, die aus dem einflussbereich<br />

der Kirchen stammen, auch besonders schützen. dies muss immer<br />

dann gelten, wenn eine Ware oder dienstleistung angeboten wird, die<br />

gerade für die herkunft aus den Produktionsstätten einer bestimmten<br />

Kirche bekannt und zugleich nach dem entsprechenden herstellungsort<br />

benannt ist. So darf etwa kein weiterer anbieter in herrnhut damit beginnen,<br />

Weihnachtssterne als „herrnhuter Sterne“ zu bezeichnen. die geographische<br />

angabe wäre insoweit zwar korrekt, jedoch würden die Sterne nicht<br />

aus den Produktionsstätten dieser Religionsgemeinschaft stammen.<br />

IV. Domainrecht<br />

Weiterhin ist das Recht der Internetadressen, das sog. domainrecht zu<br />

nennen. bei diesem handelt es sich allerdings nicht um ein echtes Kennzeichenrecht,<br />

sondern nur um eine Vertragsmodalität zwischen domaininhaber<br />

und der jeweiligen domain-Vergabestelle. 50 denn die Vergabestelle teilt<br />

im Rahmen eines nutzungsvertrages letztlich nur eine bestimmte Internetadresse<br />

zu, unter der der domaininhaber seine Inhalte zugänglich machen<br />

kann. Für das domainrecht ist regelmäßig nur der adressteil von belang,<br />

der sich zwischen dem anfangkürzel „www“ und der adressendung, der<br />

sog. Top-level-domain wie z. b. „.de“, befindet. 51 So lautet beispielsweise<br />

die Internetadresse der evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck<br />

„www.ekkw.de“. Folglich ist der Mittelteil „ekkw“ (Second-level-domain<br />

genannt) für die domainrechtliche beurteilung ausschlaggebend.<br />

da es – wie schon gesagt – ein eigenständiges domainrecht nicht gibt,<br />

werden Streitfälle stets über die bekannten Vorschriften des Wettbewerbs-,<br />

Marken-, Kennzeichen- oder namensrechts gelöst. Kollidiert also eine<br />

domain mit einem fremden Recht, so ist aus der art der domainbenutzung<br />

und der eingestellten Inhalte zu ersehen, welche der vorgenannten Rechtsvorschriften<br />

eingreifen. So konnte beispielsweise das diakonische Werk der<br />

eKd erfolgreich seine Markenrechte an der aktion „brot für die Welt“ verteidigen,<br />

als sich ein dritter die domain „bfdw.net“ sichern wollte.<br />

In anbetracht der Tatsache, dass heutzutage beinahe jeder Kirchenchor<br />

einen eigenen Internetauftritt besitzt, ist der rechtliche umgang mit<br />

domains auch für die evangelische Kirche von besonderer bedeutung.<br />

um das domainrechtliche Konfliktpotential von anfang an zu begrenzen,<br />

50 beschluss des bVerfg vom 24. november 2004 – 1 bvR 1306/02, nJW 2005,<br />

589; Ingerl / Rohnke, (Fn. 18), nach § 15, Rn. 37; a.a. Fezer, (Fn. 8), § 3, Rn. 301<br />

(Recht sui generis).<br />

51 Vgl. bgh gRuR 2005, 262 (263) – soco.de; Ströbele / Hacker, (Fn. 37), § 15,<br />

Rn. 40.


314 Philipp Lehmann<br />

ZevKR<br />

ist es empfehlenswert, zumindest die zentralen und vor allem prägnanten<br />

domains unter den in deutschland gängigen Top-level-domains wie „.de“,<br />

„.com“, „.net.“, „.org“ und „.eu“ unverzüglich zu sichern und dabei auch<br />

ähnliche Schreibweisen der domain (Singular / Plural / bindestrichvarianten)<br />

einzubeziehen.<br />

C.<br />

Namensrecht<br />

abschließend ist der Fokus noch auf das namensrecht des § 12 bgb<br />

zu richten. denn sobald es um Marken- und sonstige Kennzeichenrechte<br />

geht, können auch namensrechtliche aspekte schnell von belang sein. Viele<br />

namen i. S. d. § 12 bgb sind nämlich auch als unternehmenskennzeichen<br />

oder Marken geschützt. In Streitfällen ist also zunächst einmal das anwendbare<br />

Recht zu bestimmen. hierbei kommt es einerseits wieder auf die art<br />

und Weise der Verwendung des fraglichen Zeichens an; je nachdem, ob diese<br />

namens- oder markenmäßig erfolgt.<br />

Kann dabei ein namensmäßiger gebrauch festgestellt werden, so ist andererseits<br />

weiter zu fragen, in welchem umfeld diese Verwendung geschieht.<br />

denn nach ständiger Rechtsprechung des bgh steht der namensschutz aus<br />

§ 12 bgb dann hinter den spezielleren Vorschriften der §§ 14, 15 Markeng<br />

konkurrenzrechtlich zurück, wenn ein handeln im geschäftlichen Verkehr<br />

gerügt wird. 52 Spielt ein Fall hingegen im nicht geschäftlichen Verkehr, so<br />

wird regelmäßig nur der namensschutz aus § 12 bgb in Frage kommen.<br />

Steht die einschlägigkeit von § 12 bgb aber fest, so bedarf es allgemein<br />

auf Seiten des anspruchstellers zunächst einmal eines schutzfähigen<br />

namens. hierunter wird mittlerweile nicht mehr nur der bürgerliche name<br />

einer natürlichen Person subsumiert, sondern in analoger anwendung<br />

auch derjenige einer juristischen Person – einschließlich der Religionsgemeinschaften<br />

mit Körperschaftsstatus. Selbst unterscheidungskräftige<br />

Wappen, Siegel und sonstige Zeichen mit namensfunktion (aktuell sogar<br />

der name „Kloster andechs“) 53 wurden schon entsprechend über § 12<br />

bgb geschützt. 54<br />

52 bgh gRuR 2005, 430 – mho.de; gRuR 2002, 622 (623) – shell.de; gRuR<br />

1998, 696 (697) – Rolex-uhr mit diamanten; Ingerl / Rohnke, (Fn. 18), nach § 15,<br />

Rn. 4; Ströbele / Hacker, (Fn. 37), § 2, Rn. 55.<br />

53 urteil des Olg München vom 15. Februar 2007 – 29 u 3166/06, WRP 2007,<br />

560 = MarkenR 2007, 163 – Kloster andechs mit kritischer anmerkung von Lehmann<br />

(MarkenR 2007, 245 ff.), wonach der betreffende Fall nicht über § 12 bgb, sondern<br />

wegen des handelns im geschäftlichen Verkehr über die §§ 14, 15 Markeng hätte<br />

gelöst werden müssen.<br />

54 Vgl. nur bghZ 119, 237 – universitätsemblem und bgh gRuR 1976,<br />

644 – Kyffhäuser.


53 (2008) Marken-, Kennzeichen- und Namensschutz<br />

315<br />

als weitere Voraussetzung bedarf es dann in den Fällen der sog. namensanmaßung<br />

noch des unbefugten gebrauchs eines gleichen namens durch<br />

einen dritten. ein solcher namensgebrauch liegt allerdings nicht in jeder<br />

Verwendung eines namens. Vielmehr stellen nur solche namensverwendungen<br />

einen tatbestandsmäßigen namensgebrauch dar, die geeignet sind,<br />

aus der Sicht des Verkehrs eine sog. namensmäßige Zuordnungsverwirrung<br />

auszulösen und die Interessen des namensinhabers zu verletzen. 55 als<br />

insoweit ausreichend wird aber schon erachtet, wenn der namensinhaber<br />

durch die namensverwendung zu bestimmten einrichtungen, gütern oder<br />

erzeugnissen in beziehung gesetzt wird, mit denen er nichts zu tun hat. 56<br />

gleiches gilt, wenn der eindruck entstehen kann, der namensinhaber habe<br />

dem benutzer ein Recht auf namensverwendung eingeräumt. 57<br />

gerade der namensschutz aus § 12 bgb hat im bereich der Religionsgemeinschaften<br />

schon seit jeher eine große Rolle gespielt. die bekannten<br />

Fälle zum namenshinweis „katholisch“ schafften es sogar bis vor das<br />

bundesverfassungsgericht. dieses bestätigte auch den namensschutz der<br />

Römisch-Katholischen Kirche weitgehend, so dass diese nunmehr grundsätzlich<br />

gegen alle Institutionen vorgehen kann, die sich als „katholisch“<br />

bezeichnen. 58<br />

Im bereich der evangelischen Kirche finden sich hingegen nur wenige<br />

namensstreitigkeiten. Zu nennen sind die Fälle „Johanniter-bier“ und<br />

„Johanniter-unfall-hilfe“, in denen sich der Johanniterorden allerdings<br />

nur in letzterem Fall erfolgreich auf § 12 bgb berufen konnte. lediglich ein<br />

Streit ist veröffentlicht worden, in dem der namenshinweis „evangelisch“<br />

von belang gewesen ist. damals anfang der 80er Jahre kam es zwischen<br />

der evangelischen Kirche in hessen und nassau und der evangelischen<br />

Kirche von Kurhessen-Waldeck einerseits und einer neugegründeten Religionsgemeinschaft<br />

andererseits zu einem Prozess. dabei ging es u. a. um die<br />

Führung neugeschaffener namen wie „evangelisch-lutherische augustana-<br />

Kirchengemeinde“ und „evangelisch-lutherische Kirchengemeinschaft in<br />

den ländern der bundesrepublik deutschland – elKd“. das angerufene<br />

lg Kassel stellte sich jedoch auf die Seite der eKhn und der eKKW sowie<br />

letztlich auch auf Seiten der mitbetroffenen eKd und VelKd und bejahte<br />

auf grund einer nicht zu leugnenden Verwechslungsgefahr diverse namens-<br />

55 bgh nJW 2005, 978 (979) – Pro Fide Catholica; gRuR 2002, 622 (624) – shell.<br />

de; gRuR 1996, 422 (423) – J.C.Winter.<br />

56 bgh nJW 2005, 978 (979) – Pro Fide Catholica; ebenso schon bgh gRuR<br />

2002, 917 (919) – düsseldorfer Stadtwappen; bghZ 119, 237 (245) – universitätsemblem.<br />

57 bgh gRuR 2002, 917 (919) – düsseldorfer Stadtwappen; bghZ 119, 237<br />

(245) – universitätsemblem.<br />

58 Vgl. beschluss des bVerfg vom 31. März 1994 – 1 bvR 29/94, nJW 1994,<br />

2346 – namenschutz der katholischen Kirche; ebenso urteil des bgh vom 24. november<br />

1993 – XII ZR 51/92, nJW 1994, 245.


316 Philipp Lehmann<br />

ZevKR<br />

rechtliche unterlassungsansprüche. 59 die neugegründete Religionsgemeinschaft<br />

hatte fortan den gebrauch ihrer namen zu unterlassen.<br />

aus diesem urteil lässt sich allerdings kein derart umfassender namensschutz<br />

ableiten, wie dies für den namenshinweis „katholisch“ bestätigt<br />

worden ist. denn gerade gegenüber Institutionen, die sich als „evangelisch“<br />

bezeichnen, können die Kirchen der eKd nicht einwenden, dieser begriff<br />

stehe namensrechtlich nur ihnen allein zu. dies ist der klare unterschied<br />

zum namensrecht der Römisch-Katholischen Kirche. auf grund der<br />

Tatsache, dass das attribut „evangelisch“ dennoch in vielfältiger art und<br />

Weise und über einen sehr langen Zeitraum hinweg für Institutionen aus<br />

dem bereich der evangelischen landeskirchen verwendet wurde, ergibt<br />

sich gleichwohl ein namensschutz. dies deshalb, weil der begriff insoweit<br />

zugunsten der landeskirchen Verkehrsgeltung erreicht hat. Immer dann,<br />

wenn das Wort „evangelisch“ namensmäßig verwendet wird, liegt es also<br />

doch nahe, dass die angesprochenen Verkehrskreise auf eine Verbindung<br />

zur evangelischen Kirche schließen. diese namensmäßige Zuordnung wird<br />

auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass insbesondere mehrere Freikirchen<br />

den begriff ebenfalls in ihren namen führen. 60 denn schließlich werden in<br />

diesen namen Zusätze wie „frei“, „selbständig“ oder „methodistisch“ verwendet,<br />

die für eine abgrenzung zu den namen der evangelischen landeskirchen<br />

sorgen. 61<br />

darüber hinaus können sich aber auch noch Möglichkeiten aus dem vereins-<br />

und firmenrechtlichen gebot der namenswahrheit ergeben. denn aus<br />

diesem gebot folgt, dass namen unzulässig sind, die sich ersichtlich dazu<br />

eignen, über verkehrswesentliche eigenschaften – wie z. b. die art, größe,<br />

umfang und bedeutung des Vereins oder des unternehmens – zu täuschen. 62<br />

Somit kann gegenüber neugegründeten „evangelischen“ Institutionen, die<br />

einen namen auswählen, durch den sie seitens des Verkehrs fälschlicher-<br />

59 urteil des lg Kassel vom 07. Januar 1983 – 8 O 330/82, ZevKR 31 (1986)<br />

S. 362 = Kirche 21, 1 – ev.-luth. augustana-Kirchengemeinde. hiergegen legte die<br />

neugegründete Religionsgemeinschaft zwar noch berufung beim Olg Frankfurt a.M.<br />

ein, blieb dann in der hauptverhandlung jedoch säumig. durch das entsprechende Versäumnisurteil<br />

des Olg vom 04. Oktober 1985 – az.: 25 u 94/83 (unveröffentlicht)<br />

wurde das erstinstanzliche urteil schließlich endgültig rechtskräftig.<br />

60 gedacht sei hierbei an den bund evangelisch-Freikirchlicher gemeinden, die<br />

Selbständige evangelisch-lutherische Kirche, die evangelisch-Methodistische Kirche,<br />

den bund Freier evangelischer gemeinden oder die Vereinigung evangelischer Freikirchen.<br />

61 Ähnlich lg Kassel ZevKR 31 (1986) S. 362 (365) = Kirche 21, 1 (4) – ev.-luth.<br />

augustana-Kirchengemeinde.<br />

62 Zum Vereinsnamen: Olg Frankfurt a.M. nJW-RR 2002, 176 (177); Olg<br />

hamm nJW-RR 1999, 1710 (1711); Heinrichs, in: Palandt, bgb, 66. auflage, 2007,<br />

§ 57, Rn. 2; Habermann, in: Staudinger, bgb, 2005, § 57, Rn. 6; zum Firmennamen:<br />

bghZ 44, 287; 53, 69; Roth, in: Koller / Roth / Morck, hgb, 6. auflage, 2007, § 18,<br />

Rn. 5 ff.; Hopt, in: baumbach / hopt / Merkt, hgb, 32. auflage, 2006, § 18, Rn. 9 ff.


53 (2008) Marken-, Kennzeichen- und Namensschutz<br />

317<br />

weise einer landeskirche zugeordnet werden, ebenfalls rechtlich vorgegangen<br />

werden.<br />

d.<br />

Ergebnis<br />

die bedeutung des Marken- und sonstigen Kennzeichenrechts ist für den<br />

bereich der evangelischen Kirche weitaus größer, als bisher angenommen<br />

werden konnte. die vielen berührungspunkte belegen dies nachhaltig.<br />

Trotz einiger durch die eigenart der Kirchen auf dem wirtschaftsrechtlichen<br />

gebiet des Marken- und Kennzeichenrechts verursachten besonderheiten<br />

und Problempunkte birgt diese art des Rechtsschutzes weitaus mehr<br />

Chancen als Risiken.<br />

auch der namensschutz über § 12 bgb kann und muss – soweit einschlägig<br />

– durch die evangelische Kirche zum Schutz gegen Missbrauch<br />

konsequent genutzt werden.<br />

all diese Schutzvorschriften werden der evangelischen Kirche dabei helfen,<br />

ihre namen, Symbole, logos und sonstige Kennzeichen weitgehend vor<br />

Verwässerung und Missbrauch durch unbefugte dritte zu schützen.


die juristische Person des evangelischen Kirchenrecht<br />

Hendrik Munsonius<br />

I.<br />

Ausgangslage<br />

die juristische Person ist ein Renner der rechtswissenschaftlichen auseinandersetzung.<br />

Zweihundert Jahre ist darüber gestritten worden, ohne<br />

daß bis heute jedem klar ist, worum es genau geht. die Fülle der oft schwer<br />

verständlichen – manchmal auch merkwürdig anmutenden – literatur<br />

ist beträchtlich. und es wird weiter über dieses Thema geschrieben – so<br />

zumindest für das Zivil- und Verwaltungsrecht. 1 das römisch-katholische<br />

Kirchenrecht kennt ein ausgeklügeltes System der juristischen Personen, das<br />

völlig unabhängig von jeder staatlichen Rechtsordnung funktioniert. und<br />

auch darüber wird geschrieben. 2 Im evangelischen Kirchenrecht hat Dietrich<br />

Pirson in einem Vortrag 1970 über „Juristische Personen des kirchlichen<br />

Rechts” gehandelt. 3 Viel mehr ist allerdings nicht zu finden. 4<br />

1. Die Frage nach dem Rechtsstatus im evangelischen Kirchenrecht<br />

nach einer Formulierung von Germann ist das Kirchenrecht „die Form,<br />

in der sich die gemeinschaft der getauften auf die Verheißung der gegenwart<br />

gottes hin darüber verständigt, welches kirchliche handeln als geistlich<br />

angezeigt verantwortet werden soll.” 5 die gemeinschaft der getauften<br />

handelt nicht und verständigt sich auch nicht in unmittelbarer Interaktion<br />

aller mit allen über das kirchliche handeln, sondern durch die bildung von<br />

1 Zusammenfassend für das 19. Jahrhundert: Wolff, Organschaft und Juristische<br />

Person I. Juristische Person und Staatsperson, 1933, S. 1–87 m.w.n.; für das 20. Jahrhundert:<br />

Raiser, der begriff der juristischen Person, acP 199 (1999) S. 104 (121 ff.)<br />

m.w.n.; siehe auch: John, die organisierte Rechtsperson. System und Probleme der Personifikation<br />

im Zivilrecht, 1977, S. 22 ff.; zu den disparaten bewertungen ebd. S. 17 f.<br />

2 Aymans / Mörsdorf, Kanonisches Recht, bd. 2, 13. auflage, 1997, S. 454 ff.; Hallermann,<br />

die Vereinigungen im Verfassungsgefüge der lateinischen Kirche, 1999; zur älteren<br />

Rechtslage: Lammeyer, die juristischen Personen der katholischen Kirche, 1928.<br />

3 Pirson, Juristische Personen des kirchlichen Rechts, ZevKR 16 (1971) S. 1–23.<br />

4 ansätze finden sich insbesondere noch bei: Achilles, die aufsicht über die kirchlichen<br />

Stiftungen der evangelischen Kirchen in der bundesrepublik deutschland, Jus eccl.<br />

32, 1986, S. 30 f.; Bock, die beteiligung kirchlicher dienste, Werke und einrichtungen<br />

an der Synode, ZevKR 40 (1995) S. 121 (148 ff.); Christoph, art. Juristische Person,<br />

kirchliche, lKStKR II, S. 357 ff.; ders., das Werkegesetz der Vereinigten evangelischlutherischen<br />

Kirche deutschlands, in: germann / de Wall, bürgerliche Freiheit und<br />

christliche Verantwortung, FS link, 2003, S. 67 ff.<br />

5 Germann, Kriterien für die gestaltung einer evangelischen Kirchenverfassung, in:<br />

Kirche(n) in guter Verfassung, epd-dokumentation nr. 49/2006, S. 24 (26); dazu ders.,<br />

die gerichtsbarkeit der evangelischen Kirche, Ms. 2001, S. 143 ff.<br />

Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, band 53 (2008) S. 318–336<br />

© <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> – ISSn 0044–2690


53 (2008) Die juristische Person des evangelischen Kirchenrecht<br />

319<br />

Organisationen (gruppen, gemeinden, Körperschaften). bei den gegenwärtigen<br />

bemühungen, angesichts einer Verknappung der Ressourcen<br />

und einer Pluralisierung der lebensformen gleichzeitig Strukturen zu vereinfachen<br />

und arbeitsformen zu differenzieren, 6 treten Fragen nach dem<br />

Rechtsstatus der verschiedenen Organisationen deutlicher in erscheinung.<br />

da sind einerseits die Rechtsträger im Verfassungsaufbau der Kirche, d.h.<br />

die Kirchengemeinden, Mittelstufenverbände, landeskirchen und landeskirchlichen<br />

Zusammenschlüsse. andererseits gibt es daneben eine Vielzahl<br />

von gruppen, Verbänden, gemeinschaften, Werken, diensten und einrichtungen.<br />

diese werden teilweise durch kirchenleitende Organe ins leben<br />

gerufen, andere entstehen durch freie Initiative. 7<br />

die Frage nach dem kirchenrechtlichen Status dieser verschiedenen<br />

Organisationen stellt sich zunächst aus einer rein kirchlichen Perspektive.<br />

es ist nötig zu wissen, wer an dem kirchlichen Rechtsverkehr, d.h. der Verständigung<br />

über das kirchliche handeln teilnehmen kann und an die ergebnisse<br />

dieser Verständigung gebunden ist. diese Frage stellt sich innerhalb<br />

jeder rechtlich verfaßten Partikularkirche. Sie ist aber auch bei jeder zwischenkirchlichen<br />

Vereinbarung und jeder begründung einer gemeinsamen<br />

Rechtsordnung (wie derjenigen der eKd, der VelKd oder der ueK) zu<br />

beantworten. 8 Staatskirchenrechtlich stellt sich das Problem, welche freien<br />

Träger der Kirche so zugeordnet sind, daß sie am Selbstbestimmungsrecht<br />

der Kirche teilhaben. Wenn eine solche Zuordnung gegeben ist, bedarf es<br />

außerdem einer gewährleistung, daß der Regelungsbedarf, der dadurch entsteht,<br />

daß bestimmte staatliche Regelungen nicht anwendbar sind, durch die<br />

geltung von Kirchenrecht befriedigt wird. 9<br />

die Rechtsformen des staatlichen Rechts können diese Fragen nicht<br />

beantworten. der Rechtsstatus ist vielmehr durch das Kirchenrecht eigenständig<br />

zu bestimmen. dabei ist der besonderheit der Kirche als einer durch<br />

göttliches handeln gegründeten größe, die in ihrer geschichtlichen Realität<br />

durch menschliches handeln gestaltet wird, Rechnung zu tragen. 10 der<br />

kirchenrechtliche Status von Organisationseinheiten hat in den Rechtsordnungen<br />

der landeskirchen auf unterschiedliche Weise seinen niederschlag<br />

6 Härle / Preul, Kirche, Marburger Jahrbuch Theologie VIII, 1996, S. VII.<br />

7 Bielitz, Privatrechtliche Organisationsformen in der evangelischen Kirche, ZevKR<br />

47 (2002) S. 56; Stein, evangelisches Kirchenrecht, 3. auflage, 1992, S. 157 ff.<br />

8 Pirson, die Ökumenizität des Kirchenrechts, in: Rau / Reuter / Schlaich, das Recht<br />

der Kirche, bd. 1, Zur Theorie des Kirchenrechts, 1997, S. 499 ff.; ders., die protestantischen<br />

Kirchen im universalkirchlichen Zusammenhang, in: essener gespräche zum<br />

Thema Staat und Kirche 37 (2003) S. 23 ff.<br />

9 Christoph, Kirchliche Rechtsetzung im diakonischen bereich, ZevKR 34 (1989)<br />

S. 406 ff.; ders., der gemeinsame Rechtsrahmen von Kirche und diakonie, ZevKR 49<br />

(2004) S. 465 ff.<br />

10 Munsonius, das undeutliche Wort „gemeinde“, ZevKR 53 (2008) S. 61 ff.


320 Hendrik Munsonius<br />

ZevKR<br />

gefunden. dabei ist zwischen den Rechtsträgern im Verfassungsaufbau und<br />

den übrigen Trägern zu unterscheiden.<br />

2. Rechtsträger im Verfassungsaufbau<br />

es gibt drei Merkmale, durch die sich der kirchenrechtliche Status der<br />

Rechtsträger im Verfassungsaufbau zusammenfassend charakterisieren läßt:<br />

(1.) eine Verpflichtung auf den auftrag der Kirche, (2.) die Selbständigkeit,<br />

mit der die eigenen aufgaben wahrzunehmen sind, und (3.) die einbindung<br />

in die kirchliche Ordnung. 11<br />

die genannten aspekte finden sich in allen Verfassungsordnungen in verschiedener<br />

ausprägung wieder. Sie werden durch detaillierte aussagen über<br />

die aufgaben, den Zuständigkeitsbereich, die Organe und die einbindung<br />

in das Verfassungsgefüge (insbesondere die Vertretung in Synoden) konkretisiert.<br />

auffällige unterschiede gibt es bei der differenzierung der Rechtsstellung<br />

nach staatlichem und der nach kirchlichem Recht. die Verfassungen der<br />

VelKd und der landeskirchen bayern, braunschweig, Kurhessen-Waldeck<br />

und baden unterscheiden explizit zwischen beiden Rechtsstellungen. 12 an<br />

der unterscheidung von Pfarrgemeinde und Kirchengemeinde in der grundordnung<br />

baden sei dies veranschaulicht: die Pfarrgemeinde wird als die<br />

„örtliche kirchenrechtliche einheit” bezeichnet, in deren gebiet der kirchliche<br />

auftrag wahrgenommen wird (art. 13 abs. 1 gO.bad). Wenn eine<br />

gemeinde die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts besitzt<br />

(art. 23 gO.bad), ist sie Kirchengemeinde. diese hat die aufgabe, für die<br />

äußeren Voraussetzungen zur erfüllung des kirchlichen auftrags zu sorgen<br />

(art. 27 gO.bad). der Zuschnitt von Pfarr- und Kirchengemeinde kann<br />

sich unterscheiden. es handelt sich dann um verschiedene größen, die als<br />

Rechtsträger kirchlichen oder als Rechtsträger auch staatlichen Rechts agieren<br />

können. der Zusammenhang bleibt dadurch gewahrt, daß jede Pfarrgemeinde<br />

einer Kirchengemeinde angehört.<br />

andere Kirchenverfassungen beschränken sich auf die Feststellung, daß<br />

die Rechtsträger im Verfassungsaufbau Körperschaften öffentlichen Rechts<br />

11 Munsonius, Kriterien kirchenaufsichtlicher genehmigungen, ZevKR 52 (2007)<br />

S. 666 (667 f.); Wagenmann, Zur Selbstverwaltung in der Kirche, in: brunotte / Müller /<br />

Smend, FS erich Ruppel, 1968, S. 210 ff.<br />

12 VELKD: art. 1 abs. 3 Verfassung i.d.F. vom 3.3.2007 (abl.VelKd bd. VII<br />

S. 370), siehe dazu auch die begründung zum Kirchengesetz vom 18.10.2005 (abl.<br />

VelKd bd. VII S. 306); Baden: art. 12 abs. 2 i.V.m. art. 23, art. 34 grundordnung<br />

vom 28.4.2007 (Kabl. S. 81); Bayern: art. 8 Verfassung i.d.F. vom 6.12.1999 (Kabl.<br />

2000 S. 10), zuletzt geändert 6.4.2006 (Kabl. S. 128); Braunschweig: 20 Verfassung<br />

i.d.F. vom 7.5.1984 (Kabl. S. 14), zuletzt geändert 19.11.2005 (Kabl. 2006 S. 2); Kurhessen-Waldeck:<br />

grundordnung i.d.F. vom 24.11.2004 (Kabl. S. 190), zuletzt geändert<br />

25.5.2006 (Kabl. S. 218).


53 (2008) Die juristische Person des evangelischen Kirchenrecht<br />

321<br />

sind, wobei diese bezeichnung vor dem hintergrund der historischen entwicklung<br />

zugleich als hinweis auf die Rechtsstellung nach staatlichem<br />

Recht und auf die kirchenrechtliche Körperschaftsqualität verstanden<br />

werden kann. 13<br />

3. Werke<br />

der Rechtsstatus von Werken und einrichtungen ist in sehr unterschiedlicher<br />

Weise ausgestaltet. es finden sich bestimmungen in den Kirchenverfassungen,<br />

in besonderen Kirchengesetzen und den einzelnen Ordnungen<br />

oder Satzungen.<br />

a. Werkegesetz der VelKd<br />

die VelKd hat in ihrem Werkegesetz die Verleihung einer „kirchlichen<br />

Rechtspersönlichkeit” vorgesehen (§ 1 S. 3 Werkeg.VelKd). 14 dieser Status<br />

kann durch kirchliche Werke erworben werden, die die grundlagen aus<br />

art. 1 bis 3 Verf.VelKd bejahen und mit ihrem Wirkungskreis das gebiet<br />

einer gliedkirche überschreiten (§ 1 Werkeg.VelKd). die anerkennung<br />

geschieht auf antrag durch übereinstimmenden beschluß von bischofskonferenz<br />

und Kirchenleitung (§ 2 Werkeg.VelKd). Zu den Rechtsfolgen<br />

der anerkennung gehören die Selbständigkeit des Werkes, die ständige<br />

Fühlung zwischen dem Werk und der VelKd, genehmigungsbedürftigkeit<br />

von Änderungen der Satzung oder Ordnung und eine Verständigung vor<br />

der bestellung leitender Organmitglieder (§ 3 Werkeg.VelKd). Weiterhin<br />

gelten das arbeits- und das datenschutzrecht der VelKd unmittelbar (§ 4<br />

Werkeg.VelKd). Schließlich kann die VelKd einblick in die haushalts-<br />

und Rechnungsunterlagen nehmen, oder das Werk kann sein Vermögen auf<br />

die VelKd übertragen, wo es nach den Vorschriften des Kirchenrechts als<br />

Sondervermögen geführt wird (§ 5 Werkeg.VelKd). außerdem ist vorgesehen,<br />

daß das Werk auf die Rechtsstellung verzichten, oder diese ihm<br />

durch die VelKd wieder entzogen werden kann (§ 6 Werkeg.VelKd).<br />

durch das Werkegesetz wird der gedanke der doppelten Rechtspersönlichkeit<br />

nach staatlichem und kirchlichem Recht, der sich für die VelKd<br />

bereits aus der Verfassung ergibt, über die Rechtsträger im Verfassungsaufbau<br />

hinaus auf privatrechtlich organisierte Werke übertragen.<br />

13 Frost, Strukturprobleme evangelischer Kirchenverfassung, 1972, S. 62, 171, 301;<br />

Pirson, universalität und Partikularität der Kirche, Jus eccl. 1, 1965, S. 186.<br />

14 Kirchengesetz über die Stellung lutherischer kirchlicher Werke zur Vereinigten<br />

Kirche i. d. F. vom 6.11.1997 (abl. VelKd bd. VII S. 52); Christoph, Werkegesetz<br />

(anm. 4).


322 Hendrik Munsonius<br />

ZevKR<br />

b. Weitere Regelungen<br />

das Werkegesetz der VelKd enthält fast vollständig die gesichtspunkte,<br />

die auch in etlichen landeskirchen auf die eine oder andere Weise geregelt<br />

worden sind. ein aspekt, der dort nicht berücksichtigt ist, ist in der Verfassung<br />

der nordelbischen ev.-luth. Kirche besonders ausgeprägt. 15 dort wird<br />

betont, daß die dienste und Werke mit den Kirchengemeinden und Kirchenkreisen<br />

in einer „kirchlichen einheit” stehen. besonderes gewicht hat die<br />

einbindung der dienste und Werke in die entscheidungsstrukturen der landeskirche.<br />

dienste und Werke auf der ebene des Kirchenkreises gehören dem<br />

Konvent der dienste und Werke an (art. 45 Verf.neK). der Konvent wählt<br />

Mitglieder der Kirchenkreissynode und kann anträge an die Kirchenkreissynode<br />

und den Kirchenkreisvorstand richten (art. 31 abs. 2 lit. d, 45 abs. 3<br />

und 4 Verf.neK). auf der ebene der landeskirche besteht die Kammer für<br />

dienste und Werke als gemeinsame arbeitsebene (art. 61–63 Verf.neK).<br />

die Kammer hat beratungsfunktion, antragsrecht bei Kirchenleitung und<br />

Synode und wählt 18 der 140 Mitglieder der landessynode.<br />

In einigen landeskirchen gewinnt man einen etwas merkwürdigen eindruck.<br />

In art. 116 der Verfassung der ev.-luth. landeskirche hannnovers 16<br />

findet sich beispielsweise eine Regelung darüber, daß rechtsfähigen Vereinen<br />

und Stiftungen des Privatrechts die Rechtsstellung einer Körperschaft oder<br />

Stiftung des Kirchenrechts verliehen werden kann. es bleibt aber völlig<br />

unklar, was sich aus dieser Rechtstellung ergeben soll. M. W. gibt es nur eine<br />

bestimmung, wonach Körperschaften des Kirchenrechts parteifähig vor<br />

dem Rechtshof der Konföderation evangelischer Kirchen in niedersachsen<br />

sind. In anderen landeskirchen gibt es Regelungen über bestimmte Rechtsfolgen,<br />

die sich aus der Stellung als Werk oder Verband der Kirche ergeben,<br />

ohne daß geklärt ist, welche Organisationen diese Stellung innehaben. So<br />

ist in der Kirchenordnung der evangelischen Kirche in hessen und nassau<br />

ein Rat der Werke und Verbände vorgesehen, bei dem nicht klar ist, wer<br />

ihm angehört. 17<br />

Für eine Vielzahl von Organisationen werden die auftretenden Fragen in<br />

der Ordnung oder Satzung geregelt. dies mag im einzelfall zu angemessenen<br />

lösungen führen. es erschwert jedoch einen Vergleich und die gestaltung<br />

komplexer Rechtsbeziehungen, weil eine umfassende einbindung in<br />

das Rechtsleben der Kirche nur aufgrund einer Typenbildung möglich ist.<br />

15 Verfassung der nordelbischen ev.-luth. Kirche i.d.F. vom 8.2.2005 (Kabl. S. 44),<br />

zuletzt geändert 4.12.2007 (Kabl. S. 291); Göldner / Blaschke, Verfassung der nordelbischen<br />

evangelisch-lutherischen Kirche, 1978.<br />

16 Verfassung der ev.-luth. landeskirche hannovers i.d.F. vom 1.7.1971 (Kabl.<br />

S. 189), zuletzt geändert 12.12.2007 (Kabl. S. 243).<br />

17 art. 61 abs. 3 Ordnung der ev. Kirche in hessen und nassau i.d.F. vom<br />

24.11.2003 (Kabl. 2004 S. 100), zuletzt geändert 25.11.2006 (Kabl. 2007 S. 11);<br />

Bock (anm. 4), S. 153 ff.


53 (2008) Die juristische Person des evangelischen Kirchenrecht<br />

II.<br />

Der Begriff der juristischen Person und seine<br />

Verwendbarkeit im Kirchenrecht<br />

323<br />

angesichts dieser uneinheitlichkeit der kirchenrechtlichen Regelungen<br />

soll versucht werden, durch anwendung des begriffes „juristische Person”<br />

einen grundstatus zu bestimmen, mit dem die einzelregelungen abgeglichen<br />

werden können.<br />

1. Begriffsverständnis im staatlichen Recht<br />

a. grundbedeutung<br />

aus der eingangsbemerkung ist schon hervorgegangen, daß der begriff<br />

der juristischen Person im staatlichen Recht anlaß zu umfangreichen und<br />

tiefschürfenden auseinandersetzungen gegeben hat. dies kann und braucht<br />

hier nicht nachgezeichnet zu werden. Für die Klärung eines kirchenrechtlichen<br />

Personbegriffs reicht es, sich auf den funktionalen Kern zu beschränken.<br />

als juristische Person wird eine rechtlich geregelte Organisation<br />

bezeichnet, der die geltende Rechtsordnung eine eigene allgemeine Rechtsfähigkeit<br />

zuerkennt und Rechte und Pflichte zugeordnet werden können. 18<br />

damit die Zuordnung der Rechte und Pflichten eindeutig sein kann, muß<br />

jede Rechtsperson durch name und Sitz individualisierbar sein. um Rechte<br />

wahrnehmen und Pflichten erfüllen zu können, bedarf die Person einer<br />

handlungsorganisation. der mündige Mensch handelt für sich selbst. die<br />

juristische Person braucht dazu ein Statut, in dem die Willensbildung und<br />

die Vertretung durch Organe geregelt werden. 19<br />

b. entstehung<br />

damit eine juristische Person am Rechtsverkehr teilnehmen kann, muß<br />

sie vom Rechtssystem als solche anerkannt sein. Für die anerkennung<br />

haben sich drei Systeme herausgebildet, die in abwandlungen und Kombinationen<br />

allen bestimmungen zugrunde liegen: 20<br />

(1) Im System der freien Körperschaftsbildung liegt eine generelle erlaubnis<br />

zur bildung juristischer Personen vor. dabei können Mindestvorgaben<br />

18 Flume, allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts I/2, die juristische Person, 1983,<br />

S. 29; Raiser, (anm. 1), S. 137.<br />

19 John, (anm. 1), S. 74 ff., 92 ff.; Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. auflage, 1960,<br />

S. 180 f.; Pawlowski, allgemeiner Teil des bgb – grundlehre des bürgerlichen Rechts,<br />

7. auflage, 2003, Rn. 99, 129 ff.<br />

20 Beitzke, Konzessionssystem, normativbestimmungen und freie Körperschaftsbildung,<br />

ZhR 108 (1941) S. 32 ff.; Röhl, allgemeine Rechtslehre, 2. auflage, 2001,<br />

S. 448 f.


324 Hendrik Munsonius<br />

ZevKR<br />

zu erfüllen sein wie eine Mindestzahl an Mitgliedern, ein Mindestmaß an<br />

Organisation und Stetigkeit und die errichtung eines Statuts.<br />

(2) Im System der normativbedingungen sieht die Rechtsordnung Typen<br />

für die bildung juristischer Personen vor. durch ein eintragungsverfahren<br />

kann gewährleistet werden, daß die gesetzlichen gestaltungsvorgaben eingehalten<br />

werden.<br />

(3) das Konzessionssystem macht eine staatliche genehmigung zur Voraussetzung<br />

und bietet so die Möglichkeit zu individuellen lösungen sowie<br />

einer weitergehenden Prüfung und einwirkung.<br />

die errichtung öffentlich-rechtlicher juristischer Personen geschieht<br />

durch Spezialgesetz oder durch hoheitsakt aufgrund eines gesetzes. 21<br />

c. differenzierungen<br />

besteht hinsichtlich der funktionalen Voraussetzungen und der formalen<br />

entstehungsbedingungen weitgehend Konsens, gibt es im übrigen anlaß<br />

zur auseinandersetzung. dabei geht es in den verschiedenen Rechtsgebieten<br />

(Zivil-, Straf-, Verfassungs- und Verwaltungsrecht) um jeweils eigene Fragestellungen,<br />

die von den Sachzusammenhängen und den durch das Rechtssystem<br />

umzusetzenden Wert- und Ordnungsvorstellungen abhängen. Für<br />

die juristische Person ergeben sich damit abhängig von den Spezifika des<br />

Rechtsbereiches unterschiedliche anforderungen. dies soll hier nicht im<br />

einzelnen nachgezeichnet, sondern nur bezogen auf die besonderheiten des<br />

Kirchenrechts entwickelt werden.<br />

2. Rechtsfähigkeit im Kirchenrecht<br />

a. Rechtsfähigkeit<br />

dem dargestellten begriffsverständnis ist immanent, daß einer juristischen<br />

Person subjektive Rechte zugewiesen werden, also handlungsmöglichkeiten<br />

eröffnet und diejenigen anderer Rechtssubjekte begrenzt werden.<br />

das Spezifikum des subjektiven Rechts liegt darin, daß der berechtigte die<br />

Möglichkeit erhält, die einhaltung von normen als eigene angelegenheit im<br />

Wege von rechtlich geordneten Verfahren durchzusetzen. 22<br />

Im staatlichen Recht hat die Zuerkennung subjektiver Rechte ihren<br />

sachlichen grund in der anerkennung der sittlichen Person als Zweck an<br />

sich. Menschen sind danach frei, eigene Interessen zu verfolgen. anlaß für<br />

die Positivierung subjektiver Rechte besteht, wenn die Verwirklichung des<br />

damit verbundenen Schutzzwecks anderenfalls gefährdet wäre. Im Privat-<br />

21 Wolff / Bachof / Stober, Verwaltungsrecht I, 11. auflage, 1999, § 34 Rn. 6.<br />

22 Germann, gerichtsbarkeit (anm. 5), S. 194; Jellinek, System der subjektiven<br />

öffentlichen Rechte, 2. auflage, 1905, S. 44; Röhl, (anm. 20), S. 356 ff.


53 (2008) Die juristische Person des evangelischen Kirchenrecht<br />

325<br />

recht sind subjektive Rechte nötig, um die Freiheit der Individuen mit dem<br />

Freiheitsgebrauch der anderen auszugleichen. Im öffentlichen Recht dienen<br />

die subjektiven Rechte der Sicherung eines Freiraums selbstbestimmter<br />

lebensführung gegenüber dem hoheitlich handelnden und dem allgemeinwohl<br />

verpflichteten Staat. 23<br />

b. der sachliche grund kirchlicher Rechtsfähigkeit<br />

diese begründung für die Zuschreibung subjektiver Rechte kann nicht<br />

einfach auf das Kirchenrecht übertragen werden. denn Kirchenrecht dient<br />

weder dem Schutz von einzelinteressen noch einem allgemeinwohl, sondern<br />

der Verwirklichung des kirchlichen auftrags. 24 nicht der Wille der handelnden<br />

sondern gottes Wille soll dabei verwirklicht werden. dieser Verkündigungsauftrag<br />

trifft Kirchenmitglieder und kirchliche Organe in gleicher<br />

Weise, so daß von Interessengegensätzen oder einem hoheitsanspruch<br />

nicht gesprochen werden kann. aus diesem grund ist verschiedentlich die<br />

Möglichkeit von subjektiven Rechten im Kirchenrecht abgelehnt worden. 25<br />

da jedoch der sachliche grund für die Zuerkennung subjektiver Rechte<br />

nicht bestandteil der funktionalen begriffsbestimmung ist, kann der begriff<br />

des subjektiven Rechts gleichwohl Verwendung im Kirchenrecht finden,<br />

wenn ein eigenständiger sachlicher grund für die Zuerkennung subjektiver<br />

Rechte gegeben ist.<br />

dieser sachliche grund ist nicht beim Schutz der Freiheit von Individuen<br />

sondern beim kirchlichen auftrag als grund des Kirchenrechts überhaupt<br />

zu suchen. die lehre vom Priestertum aller gläubigen verweist darauf, daß<br />

alle Kirchenmitglieder berufen sind, an der Verwirklichung dieses auftrages<br />

mitzuwirken. d.h. sie sind am kirchlichen handeln und der Verständigung<br />

hierüber beteiligt. 26 Subjektive Rechte im Kirchenrecht können dazu dienen,<br />

23 Germann, gerichtsbarkeit (anm. 5), S. 196; Herdegen, in: Maunz / dürig, gg<br />

(Stand: Feb. 2005), art. 1 Rn. 18; Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie,<br />

in: ders. / hassemer, einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der<br />

gegenwart, 6. auflage, 1994, S. 30 (73), mit hinweis auf Kant; Rüthers, Rechtstheorie.<br />

begriff, geltung und anwendung des Rechts, 1999, § 2 Rn. 66.<br />

24 Pirson, Zum personellen geltungsbereich kirchlicher Rechtsvorschriften, ZevKR<br />

27 (1982) S. 115 (119); ders., Innerkirchliche grundrechte aus der Sicht der evangelischen<br />

Kirchenrechtslehre, ZRg Kan.abt. 67 (1981) S. 338 (358).<br />

25 Schellhase, Subjektive Rechte in der Ordnung der evangelischen Kirche. ein<br />

beitrag zur Rechtsstellung des einzelnen in der Kirche, 1969, S. 235 ff., 309 f.; Smend,<br />

glaubensfreiheit als innerkirchliches grundrecht, ZevKR 3 (1953/54) S. 113 (125);<br />

siehe auch: von Campenhausen, Selbstverwaltung – autonomie – eigenständigkeit im<br />

Kirchenrecht und im Staatskirchenrecht, in: von Mutius (hg.), FS von unruh, S. 977<br />

(981) = ders., gesammelte Schriften, Jus eccl. 50, 1995, S. 56 (60 f.); Wagenmann,<br />

(anm. 11), S. 225.<br />

26 Härle, allgemeines Priestertum und Kirchenleitung nach evangelischem Verständnis,<br />

in: ders. / Preul (anm. 6), S. 61 (66 f.); Herms, die lehre im leben der Kirche, in:<br />

ders., erfahrbare Kirche, 1990, S. 119 (128); H. M. Müller, Kirche in der demokra-


326 Hendrik Munsonius<br />

ZevKR<br />

diese beteiligung zur besseren Verwirklichung des kirchlichen auftrags zu<br />

gewährleisten. „ein Recht in der Kirche ist die dem einzelnen im Interesse<br />

des richtigen kirchlichen handelns zugewiesene Position”, ihm kommt<br />

damit eine hilfsfunktion zu. 27<br />

c. anlaß für die Positivierung subjektiver Rechte<br />

anlaß für die Positivierung subjektiver Rechte besteht im Kirchenrecht<br />

zunächst aus praktischen gründen. denn nicht alle gläubigen nehmen in<br />

gleicher Weise an der gestaltung des kirchlichen lebens teil. Weil nicht<br />

alle alles tun können, ist es notwendig, aufgaben bestimmten beteiligten<br />

zuzuweisen und diese mit den Kompetenzen auszustatten, die sie für die<br />

erfüllung ihrer aufgaben brauchen. Ziel einer Kirchenverfassung muß sein,<br />

die verschiedenen beteiligten so miteinander ins Verhältnis zu setzen, daß<br />

alle möglichst wirkungsvoll zur Verwirklichung des kirchlichen auftrags<br />

zusammenwirken. um die hiernach notwendige differenzierung der Rollen<br />

zu ordnen und die wechselseitige beeinflussung der beteiligten zu gewährleisten,<br />

ist es – wenn nicht notwendig – zumindest sinnvoll, dies durch Zuerkennung<br />

subjektiver Rechte im Kirchenrecht zu tun. 28<br />

anlaß für die Positivierung subjektiver Rechte besteht außerdem, weil die<br />

Kirche in ihrer geschichtlichen Realität keine unverfälschte communio sanctorum<br />

ist. durch die Möglichkeit verbindlichen entscheidens wird faktisch<br />

Macht ausgeübt. 29 diese Machtausübung ist zwar ihrerseits an den auftrag<br />

und das Recht der Kirche gebunden. Schon allein wegen der beschränkten<br />

erkenntnisfähigkeit aber auch wegen der Sündhaftigkeit, von der weder die<br />

gläubigen noch die Kirche vollständig befreit sind, kann es dazu kommen,<br />

daß Kirchenglieder in ihrer Mitwirkung ohne sachlichen grund beeinträchtigt<br />

werden, womit nachteilige Wirkungen für die Verwirklichung des kirchlichen<br />

auftrags einhergehen. 30 darum ist es auch in der Kirche berechtigt,<br />

einzelnen beteiligten subjektive Rechte zuzuerkennen und so die Möglichkeit<br />

zu geben, in rechtlich geordneten Verfahren dasjenige, was zur erfül-<br />

tie – demokratie in der Kirche?, ZevKR 44 (1999) S. 324 (337 f.) = ders., bekenntnis<br />

– Kirche – Recht, Jus eccl. 79, 2005, S. 128 (141 f.).<br />

27 Pirson, geltungsbereich (anm. 24), S. 120, 122; ders., grundrechte (anm. 24),<br />

S. 360; ders., grundrechte in der Kirche, ZevKR 17 (1972) S. 358 (376). In der Statuslehre<br />

Jellineks findet sich ein entsprechender gedanke im aktiven Status, in dem der<br />

bürger an der staatlichen Willensbildung teilnimmt. Siehe dazu Germann, gerichtsbarkeit<br />

(anm. 5), S. 201 f. unter hinweis auf Jellinek, (anm. 22), S. 86 f., 136 ff.<br />

28 Herms, (anm. 26), S. 135; H. M. Müller, (anm. 26), S. 337 f. = S. 141.<br />

29 Lange, glaubenslehre II. 2001, S. 340; Pirson, grundrechte (anm. 24), S. 363;<br />

Preul, „Recht – Macht – gerechtigkeit” als Thema einer neu zu konzipierenden Kybernetik,<br />

in: Mehlhausen (hg.), Recht – Macht – gerechtigkeit, 1998, S. 708 (716).<br />

30 Ehnes, die bedeutung des grundgesetzes für die Kirche, insbesondere grundrechte<br />

in der Kirche, ZevKR 34 (1989) S. 382 (389); Härle, dogmatik, 3. auflage,<br />

2007, S. 582; Preul, Kirchentheorie. Wesen, gestalt und Funktionen der evangelischen<br />

Kirche, 1997, S. 232 f.


53 (2008) Die juristische Person des evangelischen Kirchenrecht<br />

327<br />

lung des kirchlichen auftrags angezeigt ist, zur geltung zu bringen. durch<br />

die ausübung subjektiver Rechte wird so individualisierte Verantwortung<br />

für den der ganzen Kirche gegebenen auftrag wahrgenommen. 31<br />

III.<br />

Voraussetzungen einer juristischen Person des Kirchenrechts<br />

die individualisierte Verantwortung für den der ganzen Kirche gegebenen<br />

auftrag kann nicht nur von einzelnen Kirchengliedern, sondern unter den<br />

nachfolgend darzustellenden Voraussetzungen auch von Organisationen<br />

wahrgenommen werden.<br />

1. Wesens- und Lebensäußerung der Kirche 32<br />

der sachliche grund einer individuellen Rechtsstellung im Kirchenrecht<br />

liegt in der Mitwirkung bei der Verwirklichung des kirchlichen auftrags. 33<br />

dabei können drei Formen der Mitwirkung unterschieden werden. Zentrale<br />

Vollzüge der Kirche sind nach artikel 7 der Confessio augustana (Ca) die<br />

Verkündigung des evangeliums und die Feier der Sakramente. dies sind<br />

die Wesensäußerungen und zentralen Kennzeichen der Kirche. 34 Zu diesen<br />

Kennzeichen trete weitere hinzu. denn durch evangeliumsverkündigung<br />

und Sakramentsfeier bewirkt der heilige geist glauben, aus dem gute<br />

Werke als Frucht hervorgehen, wie dies in Ca 6 festgehalten ist. diese guten<br />

Werke sind weitere Kennzeichen der Kirche und können als deren lebensäußerung<br />

bezeichnet werden. Schließlich gibt es Vollzüge der Kirche, die<br />

dazu dienen, die Voraussetzungen für die bereits genannten Wesens- und<br />

lebensäußerungen zu schaffen. auch diese können als lebensäußerungen<br />

bezeichnet werden. Weil der glaube auf gott als die „alles bestimmende<br />

Wirklichkeit” 35 bezogen ist und damit das ganze leben durchzieht, kann ein<br />

numerus clausus der lebensäußerungen nicht festgestellt werden. 36 Während<br />

es bei den Wesensäußerungen unmittelbar einsichtig ist, daß es um die<br />

Verwirklichung des kirchlichen auftrags geht, können die lebensäußerungen<br />

eine gestalt annehmen, bei der diese Verbindung zusätzlich verdeutlicht<br />

31 Germann, gerichtsbarkeit (anm. 5), S. 168, 203 ff.; Herms, (anm 26), S. 126.<br />

32 die bezeichnung „Wesens- und lebensäußerung” der Kirche hat in einem erlaß<br />

des leiters der Kirchenkanzlei der deutschen evangelischen Kirche Verwendung gefunden<br />

(gbl.deK 1940 S. 39) und ist später in die grundordnung der eKd eingegangen.<br />

Sie wird seither vielfältig rezipiert aber nicht expliziert.<br />

33 Pirson (anm. 3), S. 16 f.<br />

34 Christoph, Rechtsrahmen (anm. 8), S. 468 mit hinweis auf Härle, (anm. 30),<br />

S. 569 ff.<br />

35 Härle, (anm. 30), S. 211 f.<br />

36 Vgl. Holstein, die grundlagen des evangelischen Kirchenrechts, 1928, S. 350.


328 Hendrik Munsonius<br />

ZevKR<br />

werden muß. 37 Tritt eine Organisation als Wesens- oder lebensäußerung<br />

der Kirche in erscheinung, erfüllt sie die materiellen Voraussetzungen der<br />

kirchlichen Rechtsfähigkeit.<br />

2. Organisation<br />

a. Statut<br />

die funktionalen Voraussetzungen einer juristischen Person des Kirchenrechts<br />

sind eine ausreichende Organisation um im Rechtsverkehr handlungsfähig<br />

zu sein, wie dies schon bei der darstellung des begriffs der<br />

juristischen Person nach staatlichem Recht festgehalten worden ist, und die<br />

anschlußfähigkeit an die Kirchenrechtsgemeinschaft. damit ist gemeint,<br />

daß die Organisation durch ihr Selbstverständnis, ihre Organisation und<br />

ihre handlungsweise in der lage sein muß, sich in die verbindliche Verständigung<br />

über das geistlich angezeigte kirchliche handeln einzufügen.<br />

dies setzt zunächst eine Zweckbestimmung voraus, die auf die Teilhabe an<br />

der Verwirklichung des kirchlichen auftrags im Rahmen von Schrift und<br />

bekenntnis gerichtet ist. außerdem muß das Selbstverständnis dadurch<br />

bestimmt sein, an der Verwirklichung des kirchlichen auftrags nicht isoliert,<br />

sondern innerhalb der kirchlichen Rechtsgemeinschaft arbeiten zu wollen.<br />

b. bekenntnisbindung<br />

da es zwar eine universale Rechtsgemeinschaft des Kirchenrechts gibt,<br />

die Rezeptionsautonomie aber bei den Partikularkirchen liegt, sind auch<br />

die Rechtsordnungen nur partikular ausgebildet. 38 die Partikularität ist<br />

durch territoriale und konfessionelle Merkmale bestimmt. dabei kommt<br />

den konfessionellen unterschieden eine besondere bedeutung zu. denn jede<br />

Partikularkirche versteht ihr bekenntnis als zutreffende Interpretation des<br />

Wortes gottes. das bekenntnis garantiert so nach dem jeweiligen Selbstverständnis<br />

die apostolizität der Kirche, d.h. die Identität mit der Kirche der<br />

37 H. M. Müller, diakonie in deutschland, ZevKR 47 (2002) S. 475 (489 f.) = ders.,<br />

bekenntnis – Kirche – Recht, S. 430; Neebe, apostolische Kirche. grundunterscheidungen<br />

in luthers Kirchenbegriff und besonderer berücksichtigung seiner lehre von<br />

den notae ecclesiae, 1997, S. 229; H.-R. Reuter, der begriff der Kirche in theologischer<br />

Sicht, in: Rau / Reuter / Schlaich (hg.), das Recht der Kirche I. Zur Theorie des Kirchenrechts,<br />

1997, S. 23 (62).<br />

38 Herms, Schleiermachers lehre vom Kirchenregiment, in: Köpf (hg.), Wissenschaftliche<br />

Theologie und Kirchenleitung, FS Schäfer, 2001, S. 203 (244); Müller, der<br />

lehrbegriff der leuenberger Konkordie und die Frage der Kirchengemeinschaft, Kud<br />

25 (1979) S. 2 (13 f.) = ders., bekenntnis – Kirche – Recht, S. 14 (25 f.); Pirson, die<br />

protestantischen Kirchen (anm. 8), S. 23; Scheuner, die ökumenische gemeinschaft<br />

der Kirchen, ZevKR 21 (1976) S. 351 (355 ff.).


53 (2008) Die juristische Person des evangelischen Kirchenrecht<br />

329<br />

apostel als der wahren Kirche Jesu Christi. 39 die partikularen Rechtsordnungen<br />

können darum nur dann eine anerkennung als juristischer Person<br />

des Kirchenrechts aussprechen, wenn Übereinstimmung, zumindest aber<br />

kein Widerspruch, mit ihren bekenntnisgrundlagen besteht.<br />

c. Kirchenmitgliedschaft<br />

damit stellt sich die Frage, welche anforderungen im hinblick auf die<br />

Kirchenmitgliedschaft zu stellen sind. dabei ist zwischen der Organisation<br />

und ihren Organwaltern und sonstigen Mitarbeitern und Mitgliedern zu<br />

unterscheiden. 40 die kirchliche Rechtspersonalität setzt voraus, daß die<br />

Organisation an der Verwirklichung des kirchlichen auftrags teilnimmt.<br />

Sie muß als Wesens- oder lebensäußerung erkennbar sein. darum ist nicht<br />

zwingend erforderlich, aber anzustreben, daß alle Mitarbeiter oder Mitglieder<br />

ihrerseits die kirchliche Rechtsfähigkeit haben, d.h. Kirchenmitglieder<br />

sind. 41 Wesens- und lebensäußerung der Kirche kann eine Organisation<br />

aber nur sein, wenn ihr handeln vorrangig glaubensbestimmt ist. deswegen<br />

ist wenigstens zu fordern, daß unter den Organwaltern ein bestimmender<br />

einfluß von Kirchenmitgliedern besteht. Soweit eine Organisation durch<br />

Vertreter in Organen der verfaßten Kirche an der Verständigung über kirchliches<br />

handeln teilnimmt, müssen diese Personen selbst Rechtsperson des<br />

Kirchenrechts, sie müssen also Kirchenmitglieder sein. 42<br />

3. Anerkennung durch die kirchliche Rechtsordnung<br />

a. Rechtsformen<br />

Von einer juristischen Person kann erst dann gesprochen werden, wenn<br />

sich aus normen des Kirchenrechts ergibt, daß einer Organisation umfassende<br />

kirchliche Rechtsfähigkeit zukommt. 43 die kirchliche Rechtspersonalität<br />

kann auf verschiedene Weise konstituiert werden.<br />

39 Härle, Kirche VII. dogmatisch, TRe XVIII, S. 292; Neebe (anm. 37), S. 274 f.;<br />

Pirson (anm. 13), S. 156; ders., die protestantischen Kirchen (anm. 8), S. 29 f.<br />

40 Wasse, die Werke und einrichtungen der evangelischen Kirche, ZevKR 4 (1955)<br />

S. 74 (125 f.).<br />

41 Seelemann, Kirchenmitgliedschaft als Voraussetzung kirchlicher arbeitsverhältnisse,<br />

ZevKR 44 (1999) S. 226 (234).<br />

42 Bock, Fragen des kirchlichen Mitgliedschaftsrechts, ZevKR 42 (1997) S. 319<br />

(331); von Campenhausen, Zur Zusammensetzung der Organe kirchlicher Stiftungen<br />

am beispiel der Samariterstiftung nürtingen, in: Kohl u. a. (hg.), Zwischen Markt und<br />

Staat, gS Walz, 2007, S. 124 f., 129; siehe auch Richtlinie des Rates über die anforderungen<br />

der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der eKd und des diakonischen<br />

Werkes der eKd vom 1.7.2005 (abl.eKd S. 413); dazu Schilberg, die Richtlinie über<br />

die anforderungen der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der eKd und ihrer<br />

diakonie, KuR 2006, 150 ff.<br />

43 durch das Merkmal der „umfassenden” Rechtsfähigkeit wird der begriff der<br />

Rechtsperson von dem des Rechtssubjekts unterschieden. an dieser Stelle besteht eine


330 Hendrik Munsonius<br />

ZevKR<br />

(1) Für die Rechtsträger im Verfassungsaufbau ergibt sich das Statut<br />

bereits aus abstrakt-generellen normen des Kirchenrechts. dort finden<br />

sich die Regelungen über die handlungsfähigkeit und die einbindung in<br />

den kirchlichen Rechtsverkehr. Satzungsrecht hat daneben nur ergänzende<br />

Funktion.<br />

(2) Für weitere Organisationen können sich aus einem kirchlichen<br />

Vereins- oder Verbandsgesetz Rahmenvorgaben ergeben, die durch Satzungsrecht<br />

auszufüllen sind. Für die anerkennung sei auf die Systeme des<br />

staatlichen Rechts (System der freien Körperschaftsbildung, System der<br />

normativbedingungen und Konzessionssystem) verwiesen.<br />

(3) Schließlich können juristische Personen des Kirchenrechts aufgrund<br />

einer einzelfallregelung durch ein zu entsprechender normsetzung befugtes<br />

kirchliches Organ gebildet werden.<br />

b. Kriterien<br />

bei der entscheidung über die abstrakt-generelle oder individuell-konkrete<br />

anerkennung von juristischen Personen steht das zuständige kirchliche<br />

Organ im „Koordinatenkreuz von bekenntnis und christlicher gestaltungsfreiheit”.<br />

44 die Voraussetzungen der kirchlichen Rechtsfähigkeit<br />

stehen in engem Zusammenhang mit dem Kirchenverständnis und haben<br />

damit bedeutung über die grenzen einer partikularkirchlichen Rechtsordnung<br />

hinaus (Ökumenizität des Kirchenrechts). 45 es kann nicht davon abgesehen<br />

werden, daß die Verständigung über kirchliches handeln zwischen<br />

denjenigen – und nicht mit anderen – stattfindet, die an der Verwirklichung<br />

des kirchlichen auftrags teilhaben und sich daran gebunden wissen. eine<br />

partikularkirchliche Rechtsordnung kann sich nicht ohne beeinträchtigung<br />

ihrer Kirchlichkeit von diesem Verständnis lösen.<br />

die konkrete ausgestaltung einer kirchlichen Rechtsstellung als teilrechtsfähige<br />

Organisation oder vollrechtsfähige juristische Person ist<br />

wiederum Sache der partikularkirchlichen Rechtsordnung und hängt von<br />

bereits gesetztem vorrangigem Kirchenrecht und Zweckmäßigkeitserwägungen<br />

ab. 46 dabei ist einerseits wahrzunehmen, wie sich die lebenswirklichkeit<br />

der Kirche in ihrer geschichtlichen Realität darstellt, andererseits,<br />

in welchem Maß eine einbindung in die kirchliche Rechtsordnung zur besseren<br />

Verwirklichung des kirchlichen auftrags geboten oder angemessen<br />

differenz zu Pirson (anm. 3), der genau genommen die kirchliche Rechtssubjektivität<br />

untersucht hat.<br />

44 Link, Rechtstheologische grundlagen des evangelischen Kirchenrechts, ZevKR<br />

45 (2000) S. 73 (84).<br />

45 Liermann, Ökumenisches Kirchenrecht, Zeitwende 1930, S. 225 ff. = ders., der<br />

Jurist und die Kirche, Jus eccl. 17, 1973, S. 1 ff.; Pirson (anm. 8).<br />

46 Vgl. Christoph (anm. 14), S. 84 f.; Schwarz / Blaschke, entwicklungstendenzen in<br />

nordelbien, ZevKR 38 (1993) S. 1 (17 ff.).


53 (2008) Die juristische Person des evangelischen Kirchenrecht<br />

331<br />

erscheint. die anerkennung von juristischen Personen des Kirchenrechts ist<br />

damit ihrerseits gegenstand der Verständigung über das als geistlich angezeigt<br />

zu verantwortende kirchliche handeln.<br />

IV.<br />

Rechtsstellung einer juristischen Person des Kirchenrechts<br />

1. Verhältnis von kirchlicher und staatlicher Rechtsstellung<br />

die kirchliche Rechtspersonalität ist vollständig unabhängig von einer<br />

solchen nach staatlichem Recht. ebenso, wie es juristische Personen nach<br />

staatlichem Recht gibt, die nicht durch das Kirchenrecht anerkannt sind,<br />

kann es juristische Personen des Kirchenrechts geben, denen eine Rechtsfähigkeit<br />

nach staatlichem Recht fehlt. Weil die meisten Organisationen<br />

jedoch sowohl am kirchlichen wie am weltlichen Rechtsverkehr teilnehmen,<br />

ist oft eine doppelte Rechtspersönlichkeit gegeben. dabei richtet sich die<br />

Rechtsstellung im kirchlichen Rechtskreis nach Kirchenrecht und diejenige<br />

im weltlichen Rechtskreis grundsätzlich nach staatlichem Recht. 47<br />

allerdings gewährt das staatliche Recht den Kirchen autonomie und<br />

damit die Möglichkeit, ihre Rechtsträger öffentlich-rechtlich zu organisieren.<br />

48 In dem Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts, der den<br />

Rechtsträgern im kirchlichen Verfassungsaufbau eigen ist, hat sich eine<br />

Form der juristischen Person herausgebildet, in der weltliche und kirchliche<br />

Rechtspersonalität zusammenfallen. 49 deren Rechtsstellung richtet sich<br />

auch im weltlichen Rechtskreis nach Kirchenrecht und außerdem nach dem<br />

für alle geltenden gesetz. bei den privatrechtlichen Organisationen gilt für<br />

den weltlichen Rechtskreis aufgrund der Rechtsformenwahl grundsätzlich<br />

staatliches Recht. 50<br />

die geltung des staatlichen Rechts findet ihre grenze am Selbstbestimmungsrecht<br />

der Kirchen nach art. 140 gg i.V.m. art. 137 abs. 3 WRV. 51<br />

daraus ergibt sich, daß Kirchenrecht an die Stelle staatlichen Rechts tritt,<br />

wenn dieses kein für alle geltendes gesetz darstellt. außerdem kann das<br />

staatliche Recht durch eine exemtion die kirchlichen Rechtsträger aus sei-<br />

47 Christoph (anm. 14), S. 77; Germann (anm. 5), S. 41; Pirson (anm. 13), S. 125,<br />

264; ders., Kirchliches Recht in der weltlichen Rechtsordnung, in: brunotte / Müller /<br />

Smend (hg.), FS Ruppel, 1968, S. 296 (298, 307).<br />

48 Von Campenhausen / de Wall, Staatskirchenrecht, 4. auflage, 2006, S. 127 ff.,<br />

257 ff.<br />

49 Frost (anm. 13), S. 62, 171, 301.<br />

50 Muckel, Kirchliche Vereine in der staatlichen Rechtsordnung, hdbStKirchR I,<br />

1994 2 , S. 827 (835 ff.).<br />

51 Von Campenhausen / de Wall, (anm. 48), S. 99 ff.


332 Hendrik Munsonius<br />

ZevKR<br />

nem geltungsbereich ausnehmen. 52 dies gilt für diejenigen Rechtsträger, die<br />

der Kirche zugeordnet sind und darum am Selbstbestimmungsrecht der Kirche<br />

anteil haben. der Kirche zugeordnet sind nach der Rechtsprechung des<br />

bundesverfassungsgerichts Organisationen, die an der Verwirklichung des<br />

kirchlichen auftrags im einklang mit dem bekenntnis und in organisatorischer<br />

Verbindung zur Kirche teilnehmen. 53 diese Voraussetzungen werden<br />

auch von den juristischen Personen des Kirchenrechts, die im übrigen privatrechtlich<br />

organisiert sind, erfüllt. damit sind sie der Kirche zugeordnet<br />

und nehmen an deren Selbstbestimmungsrecht teil. Ihre Rechtsstellung im<br />

weltlichen Rechtskreis kann sich darum insoweit aus Kirchenrecht ergeben,<br />

als staatliches Recht kein für alle geltendes gesetz darstellt oder eine<br />

exemtion vorsieht.<br />

2. Einbeziehung in die kirchliche Ordnung<br />

die anerkennung als juristische Person des Kirchenrechts stellt sich als<br />

umfassende einbindung in die kirchliche Rechtsordnung dar. die kirchliche<br />

Rechtsordnung ist das aggregat der Verständigung über kirchliches handeln<br />

und damit grundlage dieses handelns. dabei regelt das Kirchenrecht<br />

in erster linie die Rechtsbeziehungen zwischen den Rechtssubjekten des<br />

Kirchenrechts. die Verständigung über das kirchliche handeln erstreckt sich<br />

außerdem – im Rahmen der soeben aufgezeigten Möglichkeiten – auf das<br />

handeln im weltlichen Rechtskreis. außer der kirchlichen Praxis in einem<br />

engeren Sinne sind auch die entwicklung und die gewährleistung der kirchlichen<br />

Rechtsordnung ihrerseits als kirchliches handeln zu verstehen.<br />

a. Praxis der kirchlichen Ordnung<br />

das kirchliche handeln, für das die kirchliche Ordnung die grundlage<br />

bildet, manifestiert sich in der Weise, daß bestimmte Träger aufgaben<br />

wahrnehmen und dafür mit Kompetenzen und Ressourcen ausgestattet<br />

werden. Soweit das Kirchenrecht Rechtspositionen zuerkennt, kommen die<br />

Rechtssubjekte als beteiligte von kirchlichen Verwaltungs- und gerichtsverfahren<br />

in betracht. 54 Solange keine genaueren Vorschriften bestehen,<br />

kann die verfahrensrechtliche Stellung aus der Zuweisung von materiellen<br />

52 dies betrifft insbesondere das Mitbestimmungsrecht (Richardi, arbeitsrecht in<br />

der Kirche, 4. auflage, 2003, § 16 Rn. 15 ff.) und das datenschutzrecht (Germann,<br />

das kirchliche datenschutzrecht als ausdruck kirchlicher Selbstbestimmung, ZevKR<br />

48 [2003] S. 446 [459 ff.], Ziekow, datenschutz und evangelisches Kirchenrecht, Jus<br />

eccl. 67, 2002, S. 84 ff.).<br />

53 Glawatz, die Zuordnung der diakonie zur Kirche, ZevKR 51 (2006) S. 352<br />

(359 ff.).<br />

54 Zur entsprechenden anwendung des VwVfg Mainusch, Rechtsprobleme des<br />

kirchlichen Verwaltungsverfahrens, ZevKR 50 (2005) S. 16 (18 ff.).


53 (2008) Die juristische Person des evangelischen Kirchenrecht<br />

333<br />

Rechtspositionen oder der rechtlichen betroffenheit durch kirchliches Verwaltungshandeln<br />

gefolgert werden. 55 Im Übrigen ist auch die ausgestaltung<br />

von Verfahrensstellungen gegenstand der Verständigung über kirchliches<br />

handeln.<br />

alle juristischen Personen des Kirchenrechts nehmen an der Verwirklichung<br />

des kirchlichen auftrags teil. Sie erfüllen damit die grundlegende<br />

Voraussetzung für die Zuwendung kirchlicher Ressourcen. denn alles<br />

kirchliche Vermögen unterliegt einer Zweckbindung an den kirchlichen<br />

auftrag. 56 damit ist noch nicht gesagt, daß ein anspruch auf Zuwendungen<br />

in bestimmter höhe besteht. denn bei der begrenztheit der Ressourcen ist<br />

es notwendig, über die Verteilung zu entscheiden. auch dies ist gegenstand<br />

der Verständigung über das kirchliche handeln. dabei können verschiedene<br />

aspekte wie die effektivität des Mitteleinsatzes, nähe zu den Kernvollzügen<br />

und die gewährleistung einer grundversorgung berücksichtigt werden.<br />

b. entwicklung der kirchlichen Ordnung<br />

die entwicklung der kirchlichen Ordnung findet im Wege von entscheidungen<br />

statt. es ist Funktion der Kirchenleitung, solche entscheidungen mit<br />

Verbindlichkeit für andere herbeizuführen. 57 einer umfassenden einbeziehung<br />

in die kirchliche Rechtsordnung ist immanent, daß die juristischen<br />

Personen des Kirchenrechts an kirchenleitendem handeln anteil haben.<br />

leitendes Prinzip ist dabei nicht die Vertretung von Partikularinteressen,<br />

sondern die gewährleistung von Voraussetzungen dafür, daß die Kirche<br />

ihren auftrag optimal wahrnehmen kann. 58 darum ist zwar ein einbeziehung<br />

aller, die an der erfüllung des kirchlichen auftrags teilnehmen angezeigt,<br />

aber keine schematische gleichbehandlung geboten. Vielmehr kann<br />

zwischen den Rechtspersonen des Kirchenrechts unterschieden werden.<br />

Kriterien dafür können sein, in welchem ausmaß der kirchliche auftrag<br />

durch die Rechtspersonen wahrgenommen wird, die nähe zu den Kernvollzügen<br />

(evangeliumsverkündigung und Sakramentsfeier), das Maß der<br />

Verantwortlichkeit für weitere untergliederungen und sonstige sachlich<br />

begründete gesichtspunkte.<br />

eine wesentliche Funktion bei der Kirchenleitung kommt den Synoden<br />

zu. Sie stellen nach Grundmann ein „verfassungsrechtli ches Funktions-<br />

55 Germann, gerichtsbarkeit (anm. 5), S. 343 ff.<br />

56 Winkel, Zum grundsatz de unveräußerlichkeit kirchlichen Vermögens, ZevKR<br />

46 (2001) S. 418 (429 f.); Kirchengesetz der ev.-luth. Kirche in bayern über die anerkennung<br />

und die finanzielle Förderung von rechtlich selbständigen kirchlichen einrichtungen<br />

und diensten vom 11.5.1998 (Kabl. S. 162).<br />

57 Vgl. Pirson, Von der Kirchenleitung, in: Scholz / dickel (hg.), Vernünftiger gottesdienst,<br />

FS Jung, 1990, S. 156 ff.; Preul (anm. 30), S. 38 ff.<br />

58 Zum Repräsentationsgedanken: Barth, elemente und Typen landeskirchlicher<br />

leitung, Jus eccl. 53, 1995, S. 36 f. m.w.n.


334 Hendrik Munsonius<br />

ZevKR<br />

zentrum ersten Ranges” dar. 59 In ihnen wird die Kirche in der gesamtheit<br />

ihrer untergliederungen repräsentiert. 60 differenzierungen beziehen sich<br />

zum einen auf die Zugangsmodi: die Rechtsträger im Verfassungsaufbau<br />

haben in der Regel gewählte Vertreter; daneben gibt es Möglichkeiten der<br />

berufung und entsendung. Zum anderen ist daran zu denken, hinsichtlich<br />

des Rede-, antrags- und Stimmrechts zu differenzieren. außer der Vertretung<br />

in den Synoden ist ein solche in anderen Organen der Kirchenleitung<br />

oder die ausbildung eigener Vertretungsorgane denkbar, die in institutionalisierten<br />

Kommunikationsbeziehungen mit den Organen der Kirchenleitung<br />

stehen. 61<br />

Für die juristischen Personen des evangelischen Kirchenrechts ist entscheidend,<br />

daß sie nicht von den leitungsstrukturen abgeschnitten sind,<br />

sondern die Möglichkeit haben, auf die entscheidungsfindung zumindest<br />

mittelbar einfluß zu nehmen und so an der Verständigung über kirchliches<br />

handeln teilzunehmen.<br />

c. gewährleistung der kirchlichen Ordnung<br />

die kirchliche Ordnung ist nicht in das belieben der einzelnen akteure<br />

gestellt. Zur Wahrung der Verbindlichkeit und Stabilisierung der kirchlichen<br />

gemeinschaft sind verschiedene Formen der aufsicht vorgesehen. die aufsicht<br />

ist das prozedurale Spiegelbild der einbindung in die Kirchenrechtsordnung.<br />

Juristische Personen des Kirchenrechts unterliegen in dem Maß,<br />

wie sie in die kirchliche Ordnung eingebunden sind, der kirchenrechtlich<br />

geordneten aufsicht. diese reicht für die Rechtsträger im Verfassungsaufbau,<br />

deren gesamte Rechtsstellung aus Kirchenrecht resultiert, weiter als bei<br />

Organisationen in Rechtsformen des staatlichen Rechts. 62<br />

ein spezifisch kirchliches aufsichtsinstrument ist die Visitation, die Funktionen<br />

der geistlichen und rechtlichen aufsicht in sich vereint. grund der<br />

Visitation ist das bemühen, der einheit und apostolizität der Kirche zu<br />

entsprechen. 63 damit geht es im hinblick auf die juristischen Personen des<br />

Kirchenrechts um die gewährleistung der Voraussetzungen für deren kirchenrechtliche<br />

anerkennung, d. h. für deren umfassende einbeziehung in<br />

die kirchliche Ordnung.<br />

59 Grundmann, Verfassungsrecht in der Kirche des evangeliums, ZevKR 11<br />

(1964/65) S. 9 (48); Christoph, art. Synode, evStl, neuausgabe, 2006, Sp. 2432 ff.;<br />

Frost, (anm. 13), S. 314 ff.<br />

60 Barth, (anm. 58), S. 36 f., 56 m.w.n.; Bock, (anm. 4), S. 128.<br />

61 Bock, (anm. 4), S. 129 ff.; Germann, Kriterien, (anm. 5), S. 36 f.<br />

62 Blaschke, art. aufsicht, lKStKR I, 2000, S. 179 f.<br />

63 De Wall, Rechtliche Rahmenbedingungen der Visitation, in: grünwaldt / hahn<br />

(hg.), Visitation – urchristliche Praxis und neue herausforderungen der gegenwart,<br />

2006, S. 29 (35 ff.).


53 (2008) Die juristische Person des evangelischen Kirchenrecht<br />

3. Kirchenrechtliche Intersubjektivität<br />

335<br />

Organisationen, die durch das Kirchenrecht als juristische Person anerkannt<br />

sind, stehen damit in einer elementaren Rechtsbeziehung zu anderen<br />

Rechtssubjekten des Kirchenrechts. dies sind zunächst alle diejenigen, die<br />

ihre kirchliche Rechtspersonalität auf die gleiche partikulare Rechtsordnung<br />

gründen. die kirchliche Rechtsgemeinschaft geht jedoch über die partikularen<br />

Rechtsordnungen hinaus. 64 die Partikularkirchen erkennen auch<br />

andere Partikularkirchen als kirchliche Rechtssubjekte oder gar Vollrechtssubjekte<br />

an. durch deren Rechtsordnung sind weitere Rechtssubjekte des<br />

Kirchenrechts hervorgebracht oder anerkannt. das netz der elementaren<br />

Rechtsbeziehungen erstreckt sich darum über alle Rechtssubjekte, für die<br />

eine solche anerkennungskette festgestellt werden kann.<br />

diese elementare Rechtsbeziehung stellt sich hauptsächlich als Rücksichtnahmegebot<br />

dar. Jede juristische Person des Kirchenrechts nimmt<br />

mit ihren aufgaben und in ihrem Zuständigkeitsbereich an der Verwirklichung<br />

des kirchlichen auftrags teil und bezieht daraus ihre legitimität.<br />

Weil die kirchliche Rechtsordnung dazu dient, das jeweils selbständige<br />

Wirken der Rechtsträger im Sinne einer Optimierung des gesamten kirchlichen<br />

handelns zu ordnen, darf sich keine juristische Person des Kirchenrechts<br />

anmaßen, die aufgaben anderer in deren Zuständigkeitsbereich<br />

wahrzunehmen. 65 die elementare Rechtsbeziehung erlaubt weiterhin, daß<br />

alle juristischen Personen des Kirchenrechts im Rahmen ihrer jeweiligen<br />

Zuständigkeiten miteinander in eine Verständigung über das geistlich angezeigte<br />

kirchliche handeln eintreten, und beispielsweise kirchenrechtliche<br />

Partnerschaften eingehen. diese elementaren Rechtsbeziehungen sind ausdruck<br />

der Katholizität und universalität der Kirche Jesu Christi.<br />

V.<br />

Schluß<br />

der begriff der juristischen Person des evangelischen Kirchenrechts<br />

bezeichnet eine identifizierbare und eigenständige Organisation, die als<br />

Wesens- oder lebensäußerung Kennzeichen der Kirche realisiert und Teil<br />

der verfaßten Kirche ist oder mit ihr in Verbindung steht und durch die<br />

kirchliche Rechtsordnung als Rechtsperson gebildet oder anerkannt worden<br />

ist. Sie ist in die kirchliche Ordnung eingebunden und nimmt an ihrer<br />

entwicklung, Praxis und gewährleistung teil. dies geschieht durch die<br />

64 Siehe oben anm. 45.<br />

65 ein beispiel ist das erfordernis eines dimissoriale, dazu Stein (anm. 7), S. 89 f.;<br />

Brunner, gutachtliche Äußerung zum Verfassungsentwurf der nordelbischen evangelisch-lutherischen<br />

Kirche, ZevKR 21 (1976) S. 379 (407).


336 Hendrik Munsonius<br />

ZevKR<br />

anwendung kirchlichen Rechts, Teilnahme an der Visitation und Teilhabe<br />

an der leitung der Kirche durch Vertretung in den leitungsorganen oder<br />

besondere Organe. eine juristische Person des Kirchenrechts ist fähig, beteiligte<br />

eines kirchlichen Verwaltungs- oder gerichtsverfahrens zu sein, und<br />

erfüllt die Voraussetzungen für die Zuwendung kirchlicher Mittel.<br />

die Frage, welcher kirchliche Rechtsstatus den verschiedenen Organisationen<br />

zuzuerkennen ist, kann nicht einheitlich beantwortet werden,<br />

sondern ist durch die kirchlichen normgeber auszutarieren. dabei ist einerseits<br />

zu vermeiden, daß verschiedene Organisationen, die an der Verwirklichung<br />

des kirchlichen auftrags teilhaben, beziehungslos nebeneinander<br />

stehen. andererseits kann es nicht der Sinn des Kirchenrechts sein, das der<br />

optimalen Verwirklichung des kirchlichen auftrages zu dienen hat, alle<br />

kirchlichen lebensäußerungen in einen einheitlichen Rechtsstatus zu fassen.<br />

die differenzierung von Rechtsstellungen ist geboten, um der gesamtheit<br />

der beteiligten zu einer optimalen Wirksamkeit bei der Verwirklichung des<br />

kirchlichen auftrags zu verhelfen.


eRIChTe und KleIne beITRÄge<br />

Kirchenrechtslehrertagung 2008<br />

Anne-Ruth Wellert und Hendrik Munsonius<br />

die diesjährige Tagung der Mitarbeiter der Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht<br />

fand unter reger beteiligung von etwa 50 Teilnehmern vom 24.–26.<br />

april 2008 erstmalig in den Franckeschen Stiftungen in halle (Saale) statt.<br />

das Tagungsprogramm wurde durch eine Stadtführung von Prof. dr. Heiner<br />

Lück, lehrstuhl für bürgerliches Recht, europäische, deutsche und Sächsische<br />

Rechtsgeschichte der Martin-luther-universität halle-Wittenberg eröffnet und<br />

durch grußworte von Prof. dr. Armin Höland, Prodekan für den bereich Jura<br />

der Juristischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, und von Prof. dr.<br />

Klaus Tanner, dekan der Theologischen Fakultät bereichert.<br />

Thema des eröffnungsvortrags von Prof. dr. Michael Germann, halle, war<br />

„der Status der grundlagendiskussion in der evangelischen Kirchenrechtswissenschaft“.<br />

ausgehend von der beobachtung, daß einerseits die Zeit der grundlagenentwürfe<br />

von Johannes Heckel, Hans Dombois und Erik Wolf vergangen<br />

zu sein scheint, andererseits die grundlagenfragen weiterhin aufmerksamkeit<br />

erfahren, ging es darum, ob und wie die grundlagenfragen des Kirchenrechts<br />

gegenwärtig behandelt werden können. dabei sei die Fortführung der grundlagendiskussion<br />

nicht zuletzt davon abhängig, daß genügend Juristen und Theologen<br />

in den akademischen diskurs einbezogen werden. Für den Juristen bestehe<br />

ein dilemma darin, über die Wirklichkeit der Kirche sprechen zu müssen, ohne<br />

dies theologisch verantworten zu können. ein ausweg könne darin liegen,<br />

diese aussagen in die Form von hypothesen zu kleiden, die von Theologen<br />

beurteilt werden können. das erkenntnisinteresse der grundlagendiskussion<br />

sei nicht, nur zu bestimmen, was Kirchenrecht nicht sei, oder Kirchenrecht in<br />

einen „monistischen“ oder „dualistischen“ begriff zu fassen. es gehe vielmehr<br />

darum, Kriterien für die Frage nach der legitimität von Kirchenrecht zu entwickeln,<br />

um für die Setzung und anwendung von normen gründe angeben zu<br />

können. an diesen Kriterien müsse deutlich werden, daß die Wirklichkeit der<br />

Rechtfertigung auch das erkennen, Wollen und handeln der Menschen verändert.<br />

die bedingungen der legitimität von Kirchenrecht entsprächen darum<br />

denjenigen für die Wirklichkeit der guten Werke, die aus dem glauben fließen.<br />

Statt in überkommenen begriffsoppositionen wie „geist und Recht“, könne die<br />

komplexe Wirklichkeit des Kirchenrechts besser im Modus der Verheißung, d.h.<br />

im bezug auf die eschatologische existenz der Kirche, ausgedrückt werden. die<br />

Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, band 53 (2008) S. 337–351<br />

© <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> – ISSn 0044–2690


338 Anne-Ruth Wellert / Hendrik Munsonius<br />

ZevKR<br />

grundlagenentwürfe hätten die gleiche Wirklichkeit in verschiedenen Sprachformen<br />

zum ausdruck gebracht. Mit ihnen könne darum eklektizistisch und<br />

synkretistisch verfahren werden.<br />

In der aussprache wurde herausgestellt, daß die diskussion der grundlagenentwürfe<br />

ihre berechtigung darin habe, die legitimitätsfrage an das Kirchenrecht<br />

zu stellen. Insofern hätten sie sich durchgesetzt. die diskussion sei aber<br />

fortzusetzen, damit die erkenntnisse nicht zu Formeln erstarren. die entwicklung<br />

sei durch die geschichtliche Situation geprägt gewesen und habe Parallelen<br />

in der verfassungsrechtlichen diskussion. Kritisch hinterfragt wurde, ob die<br />

lehre von den guten Werke der richtige anknüpfungspunkt für die grundlagen<br />

des Kirchenrechts sei, zumal dazu innerhalb der Theologie vieles umstritten sei.<br />

auch könne die kirchliche existenz nicht an ihren leistungen erwiesen werden.<br />

Schließlich wurde auch die Frage aufgeworfen, ob das Kirchenrecht an die juristische<br />

oder die theologische Fakultät gehöre und welche theologische disziplin<br />

(Systematik, Praktische Theologie) das Kirchenrecht zu behandeln habe.<br />

Freitagnachmittag setzte Frau Renate Schulze, darmstadt, die Reihe der Vorträge<br />

mit einem bericht über den „genius loci Justus henning böhmer“ fort,<br />

dessen systematische grundlegung des evangelischen Kirchenrechts – die fünf<br />

bände des Ius Ecclesiasticum Protestantium – in den Jahren 1714 bis 1736 in<br />

halle / Saale entstand und in der druckerei des Waisenhauses der Franckeschen<br />

Stiftungen gedruckt worden ist. der 1674 in hannover geborene Böhmer kehrte<br />

nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Jena zunächst in seine heimatstadt<br />

zurück, bevor er im dienste des grafen von Waldeck nach halle (Saale)<br />

an die 1694 offiziell eingeweihte Fridericiana kam. hier promovierte er 1699<br />

bei Samuel Stryk. Von anfang an ließe sich, so Schulze, das kirchenrechtliche<br />

Interesse Böhmers belegen, wenngleich er sich ebenso mit dem römischen Recht<br />

und der juristischen Praxis beschäftigte. 1711 wurde Böhmer ordentlicher Professor<br />

an der Fridericiana. Für das kirchenrechtliche Wirken Böhmers sei charakteristisch,<br />

daß er ein protestantisches Kirchenrecht auf der grundlage des<br />

kanonischen Rechts entwickelte. als ein Traktat seien so die fünf bücher des<br />

Ius Ecclesiasticum Protestantium mit jeweils in sich abgeschlossenen themenbezogenen<br />

abhandlungen entstanden. hier zeige sich ein wichtiger Zusammenhang<br />

zu den 139 nicht nur kirchenrechtlichen dissertationen, die Böhmer zwischen<br />

1699 und 1747 präsentiert und deren Texte er zum Teil in den Traktat<br />

übernommen habe. als kirchenrechtliches grundthema Böhmers identifizierte<br />

Schulze die Kompetenzen des landesherrn in kirchlichen angelegenheiten (das<br />

sogenannte ius circa sacra) und den diesbezüglich vertretenen rationalen Territorialismus.<br />

abschließend berichtete Schulze über die eindrucksvolle Rezeption<br />

der arbeit Böhmers an der Fridericiana, die sich anhand der Vorlesungen von<br />

Kollegen widerspiegelt, die Werke von Böhmer zugrunde legten.<br />

In der diskussion betonte Schulze auf nachfrage, daß Böhmer in der Tradition<br />

von Thomasius selbstverständlich davon ausgegangen sei, daß der landesherr<br />

das bekenntnis als grundlage für ein „bekenntniskonformes Kirchenrecht“<br />

anerkennt. In der Frage des religiösen eides für die Pfarrer habe böhmer<br />

allerdings nicht offen opponiert, sondern den landesherren lediglich davon<br />

abgeraten, einen solchen eid zur Pflicht zu machen. Zur Verwendung von dis-


53 (2008) Kirchenrechtslehrertagung 2008<br />

339<br />

sertationen im Ius Ecclesiasticum Protestantium ergänzte Schulze, daß ca. ein<br />

drittel des Textes auf dissertationen beruhe. neben dem Schwerpunkt auf der<br />

territorialistischen ausprägung des landesherrlichen Kirchenregiments seien<br />

weitere Themen Böhmers z. b. die Kompetenzen und einkünfte des Pfarrers,<br />

öffentliche Kirchengebete und das eherecht gewesen.<br />

am späten Freitag nachmittag referierte Prof. dr. Claus Dieter Classen,<br />

greifswald, über „Rechtsnachfolge in Kirchenverträge“. Classen nannte als<br />

anlaß seiner Überlegungen die anstehende Fusion der ev. Kirche der Kirchenprovinz<br />

Sachsen und der ev. Kirche in Thüringen zur ev. Kirche in Mitteldeutschland<br />

sowie die Überlegungen zur gründung einer nordkirche. das<br />

Schicksal der Staatskirchenverträge, insbesondere deren territoriale anwendbarkeit,<br />

hänge von dem für sie anzuwenden Rechtsregime ab. eine einordnung<br />

als verwaltungsrechtliche Verträge oder Verträge sui generis ablehnend, befürwortete<br />

Classen die Qualifikation als „staatsrechtliche Verträge“, deren Regime<br />

im grundsatz dem Völkerrecht nachgebildet sei. das Völkerrecht biete als Koordinationsrecht<br />

den besten ansatz, wenngleich es sich heute weiterhin nicht als<br />

geschlossene Kodifikation, sondern als offene Rechtsordnung darstelle. dies<br />

zeige sich nicht zuletzt an den völkerrechtlichen grundsätzen der Rechtsnachfolge<br />

in Verträge. die nicht allgemein ratifizierte Wiener Konvention über die<br />

nachfolge in Staatsverträge (1978) stelle zwar v.a. auf den grundsatz „stabiler<br />

Vertragsgrenzen“ ab. dies habe auch bei Konkordaten bisher stets gegolten.<br />

bei beitritten wie z. b. der ddR zur bundesrepublik deutschland habe allerdings<br />

eher der grundsatz der beweglichen grenzen dominiert. auf der grundlage<br />

der verfassungsrechtlichen besonderheiten des Staat-Kirche-Verhältnisses<br />

resümierte Classen, daß für die Staatskirchenverträge nach dem grundsatz stabiler<br />

Vertragsgrenzen die Verträge bei Rechtsnachfolge der Kirchen nur für das<br />

ursprüngliche Territorium gelten. dies gelte auch für den beitritt einer Kirche zu<br />

einer anderen. eine besondere bedeutung komme in diesen Fällen der Freundschaftsklausel<br />

zu. Sofern das land bei Strukturveränderungen seines kirchlichen<br />

Vertragspartners handlungs- oder anpassungsbedarf aufgrund einer territorialen<br />

Veränderung sehe, müsse es dies frühzeitig mitteilen. eine materielle Veränderung<br />

komme jedoch nicht in betracht, soweit es um verfassungsrechtlich<br />

gesicherte Rechtspositionen ginge oder es, wie bei Staatsleistungen, eine historische<br />

Rechtfertigung gäbe.<br />

In der aussprache wurde diskutiert, ob sich das ergebnis nicht bereits aus<br />

den Verträgen selbst und aus art. 137 abs. 3 WRV ergäbe. auch die Frage nach<br />

einer einordnung der Staatskirchenverträge als Verträge sui generis wurde<br />

erörtert. Classen erläuterte, daß es seiner ansicht nach insbesondere wegen des<br />

Kündigungsrechts ein Rechtsregime bräuchte, in das die Verträge eingeordnet<br />

werden könnten. Kontrovers blieb die Frage, ob die Kirchen vor dem hintergrund<br />

ihrer verfassungsrechtlichen garantien auf bestimmte Organisationsrechte<br />

verzichten können. es wurde darauf hingewiesen, daß bei Kirchenfusionen<br />

oder anderen Zusammenschlüssen die länder aufgrund der Inkongruenz<br />

von landes- und Kirchengrenzen häufig bereits mit allen betroffenen Kirchen<br />

Verträge abgeschlossen hätten.


340 Anne-Ruth Wellert / Hendrik Munsonius<br />

ZevKR<br />

am Samstagvormittag hat Prof. dr. Albert Janssen, hildesheim, einen Vortrag<br />

unter der Überschrift „Fragwürdiger abschied vom usus politicus legis<br />

als grundlage evangelischen Recht- und Staatsdenkens. eine Stellungnahme<br />

zu Wolfgang hubers buch: gerechtigkeit und Recht“ gehalten. Huber gehe<br />

von einem prinzipiellen Zusammenhang von ethik und Recht aus, wonach<br />

das Recht als erhaltungsordnung für das Zusammenleben der Menschen nach<br />

ethischen Prinzipien zu bestimmen sei. die Menschenrechte würden so Zielvorgaben<br />

und Maßstäbe für die Rechtsgestaltung setzen. dieses Rechtsverständnis<br />

finde nach Huber seine entsprechung im biblischen denken. gegenwärtige Verhältnisse<br />

und biblische Vorstellungen könnten sich gegenseitig in Frage stellen.<br />

In seiner theologischen Kritik setzte Janssen bei der erfahrung ein, daß durch<br />

ein Vollzugsdefizit der Mut zum Recht bei Juristen in Staat und Verwaltung<br />

sinke. dagegen sei mit Luther nicht das Christliche zu ethisieren sondern recht<br />

zu unterscheiden: erst durch die unterscheidung von gesetz und evangelium<br />

könne es zur Freiheit von der Welt und zur Welt kommen. aus der Trennung<br />

von Recht und ethik ließen sich Maßstäbe gewinnen, wonach das handeln<br />

des Staates beurteilt werden könne. das Problem der Rechtsethik von Huber<br />

bestehe darin, daß sein Verständnis von Frieden, Freiheit und gerechtigkeit<br />

kaum von einem säkularen zu unterscheiden sei. Kirchenpolitisch sei dies deswegen<br />

relevant, weil sich der ansatz Hubers zunehmend in denkschriften und<br />

Verlautbarungen der eKd niederschlage.<br />

In der diskussion wurde anhand der beispiele Stammzellenforschung, Folter<br />

und Sklaverei herausgestellt, daß es auch in eindeutig erscheinenden Fällen nicht<br />

immer die eindeutigkeit ethischer entscheidungen gebe. es handele sich um<br />

gewissensfragen. das gesetz könne die erstrebte eindeutigkeit nicht schaffen.<br />

das evangelium dagegen könne zur gewißheit verhelfen. bei der berufung auf<br />

das biblische Zeugnis müsse die entwicklung von einer ethisierung der Religion<br />

im alten Testament zur ausfaserung in Rechtssätze, die im neuen Testament<br />

kritisiert wird, beachtet werden. die Menschenrechte seien als ansatz für die<br />

begründung einer Rechtstheorie kaum geeignet, weil ihnen einen politischen<br />

Überschuß eigen sei. Sie stellten insofern einen grenzfall des Rechts dar. die<br />

Konvergenz zwischen kirchlichem und säkularem Verständnis von Frieden,<br />

Freiheit und gerechtigkeit könne als zeitgebundener ausdruck einer zwischen<br />

Staat und Kirche bestehenden einigkeit gesehen werden.<br />

alle Vorträge der Tagung sind für den abdruck in dieser Zeitschrift vorgesehen.<br />

die nächste Tagung der Mitarbeit der Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht<br />

wird vom 23.–25. april 2009 am gleichen Tagungsort stattfinden.


53 (2008) Ein Kirchenkonflikt in der katholischen Schweiz<br />

ein Kirchenkonflikt in der katholischen Schweiz<br />

bemerkungen zum „Fall Röschenz“ 1<br />

Christoph Winzeler<br />

I.<br />

Sachverhalt und gesetzliche Vorgaben<br />

341<br />

1. Seit 2003 kritisierte Franz Sabo, römisch-katholischer Pfarradministrator<br />

in Röschenz (Kanton basel-landschaft), mit unterstützung seiner Kirchgemeinde<br />

die hierarchie der Kirche und v.a. den für ihn zuständigen bischof von<br />

basel, Kurt Koch. er trug seine Kritik auch in die Öffentlichkeit und wiederholte<br />

z. b. einmal auf der Kanzel entsprechende Sätze aus der Sonntagspredigt für eine<br />

nachrichtensendung des Schweizer Fernsehens. Wegen seines zerrütteten Vertrauens<br />

in Pfarradministrator Sabo entzog ihm der bischof 2005 die kirchliche<br />

Sendung („Missio canonica“) 2 .<br />

2. nun kennt basel-landschaft – wie zahlreiche Schweizer Kantone – für die<br />

Römisch-katholische Kirche eine dualistische Ordnung 3 . neben der kanonisch<br />

verfassten, von Papst und bischöfen hierarchisch geleiteten Kirche steht eine<br />

kantonalrechtliche 4 , demokratisch aufgebaute 5 , die materielle unterstützung<br />

von bistum und Pfarreien bezweckende 6 , mit Steuerrecht versehene „landes-<br />

1 entscheid des landeskirchenrates der Römisch-katholischen landeskirche basellandschaft<br />

vom 31. Mai 2006 (Verfügung Kirchgemeinde Röschenz); urteil des<br />

Kantonsgerichts des Kantons basel-landschaft vom 5. September 2007; analyse<br />

des landeskirchenrates der Römisch-katholischen landeskirche basel-landschaft<br />

vom 7. november 2007 betreffend urteil des Kantonsgerichts basel-landschaft vom<br />

5. September 2007 in Sachen Kirchgemeinde Röschenz; Stellungnahme des bischofs<br />

von basel vom 12. november 2007. alle abgedruckt in: Schweizerisches Jahrbuch für<br />

Kirchenrecht (nachstehend SJKR) 12 (2007), S. 251 ff.<br />

2 Urban Fink-Wagner, der „Fall Röschenz“, in: Schweizerische Kirchen-Zeitung<br />

(nachstehend SKZ) 173 (2005), S. 832 ff.; Kurt Koch, Offener brief an die Mitglieder<br />

der Pfarrei St. anna in Röschenz, in: SKZ 174 (2006), S. 250.<br />

3 Christoph Winzeler, einführung in das Religionsverfassungsrecht der Schweiz,<br />

basel / genf / Zürich 2005 (Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht, bd. 16),<br />

S. 51 ff. m.w.h.<br />

4 gestützt auf §§ 136 ff. Kantonsverfassung vom 17. Mai 1984, Systematische<br />

gesetzessammlung des Kantons basel-landschaft (nachstehend SgS-bl), Ziff. 100,<br />

und das Kirchengesetz vom 3. april 1950, SgS-bl, Ziff. 191.<br />

5 dazu statt vieler: Felix Hafner, Kirche und demokratie, betrachtungen aus<br />

juristischer Sicht, in: SJKR 2 (1997), S. 37 ff.; Daniel Kosch, demokratisch – solidarisch<br />

– unternehmerisch, Organisation, Finanzierung und Management in der katholischen<br />

Kirche in der Schweiz, basel / genf / Zürich 2007 (Freiburger Veröffentlichungen<br />

zum Religionsrecht, bd. 19), S. 7 ff.; Ders., das Kreuz der Kirche mit der demokratie,<br />

in: Orientierung 71 (2007), S. 168 ff.<br />

6 dazu statt vieler: Urs Josef Cavelti, System und Funktion der staatskirchenrechtlichen<br />

Organe in der Schweiz, in: louis Carlen (hrsg.), Räte der Kirche zwischen Recht<br />

und alltag, Vorträge an einer Tagung an der universität Freiburg (Schweiz), Freiburg<br />

i.Ü. 1987 (Freiburger Veröffentlichungen aus dem gebiete von Kirche und Staat,<br />

bd. 24), S. 31, wonach es aufgabe dieser kantonalrechtlichen Körperschaften ist, „die


342 Christoph Winzeler<br />

ZevKR<br />

kirche“ 7 . Ihre Kirchgemeinden, zu denen Röschenz gehört, sind jeweils einer<br />

Pfarrei zugeordnet. arbeitgeberin der Seelsorgenden in den Pfarreien ist die<br />

Kirchgemeinde. die landeskirche hat sich am 10. Februar 1976 eine Kirchenverfassung<br />

gegeben 8 ; ihre für den vorliegenden Fall einschlägigen bestimmungen<br />

lauten wie folgt 9 :<br />

㤠46 Seelsorge. die Seelsorge wird in den Kirchgemeinden und in der landeskirche<br />

durch Seelsorgende mit kirchlicher Sendung ausgeübt.<br />

§ 47 Vorbehalt kirchlichen Rechts. 1 Für die Wahl und die anstellung der Seelsorgenden<br />

bleiben die bestimmungen des kirchlichen Rechts vorbehalten.<br />

2 Für die Tätigkeit im innerkirchlichen bereich unterstehen die Seelsorgenden<br />

den zuständigen kirchlichen Vorgesetzten.“<br />

3. Zudem genießt die römisch-katholische Kirchgemeinde Röschenz auf<br />

grund von §§ 49 und 50 der Kirchenverfassung das in der Schweiz verbreitete<br />

Recht auf demokratische Wahl ihres Pfarrers 10 , das jedoch auf einen Pfarradministrator<br />

und somit den vorliegenden Fall nicht zur anwendung kommt (wie<br />

generalvikar Roland-Bernhard Trauffer im Vorspann zur Stellungnahme des<br />

bischofs mit Recht betont 11 ). Indes bedürfen – so §§ 46 und 47 der Kirchenverfassung<br />

– alle „Seelsorgenden“, also auch Pfarradministratoren, für ihre Tätigkeit<br />

der kirchlichen Sendung 12 . nicht ausdrücklich in der Kirchenverfassung<br />

steht, dass die Kirchgemeinde beim nachträglichen Wegfall dieser Voraussetzung<br />

einen Seelsorger zu entlassen hat 13 . So aber – und mit rechtlich überzeugender<br />

begründung – hat der landeskirchenrat als aufsichtsorgan über die basellandschaftlichen<br />

Kirchgemeinden am 31. Mai 2006 entschieden 14 .<br />

finanziellen und administrativen Voraussetzungen für die Seelsorge zu schaffen“, also<br />

nicht selber Kirche zu sein, sondern die kanonischen amtsträger zu unterstützen.<br />

7 Zum Verhältnis zwischen landeskirche und Kirche: Felix Hafner / Urs Brosi,<br />

bischöfliche Personalentscheide und landeskirchliches Recht, gutachten, basel 2007,<br />

S. 8 ff.<br />

8 Verfassung der Römisch-katholischen landeskirche des Kantons basel-landschaft<br />

vom 10. Februar 1976, SgS-bl, Ziff. 196.<br />

9 erläutert bei: Hafner / Brosi, Personalentscheide (anm. 7), S. 12 ff.<br />

10 Zum Pfarrwahlrecht der Schweizer Katholikinnen und Katholiken, das teils auf<br />

alte Patronats- und Präsentationsrechte, teils auf paritätische Kirchengesetzgebungen<br />

des 20. Jahrhunderts mit ausdrücklichem oder stillschweigendem einverständnis der<br />

bischöfe zurückgeht: Kosch, demokratisch (anm. 5), S. 101 ff.; Dieter Kraus, Schweizerisches<br />

Staatskirchenrecht, hauptlinien des Verhältnisses von Staat und Kirche auf<br />

eidgenössischer und kantonaler ebene, Tübingen 1993 (Jus ecclesiasticum, bd. 45),<br />

S. 383 ff.; Hans Beat Noser, Pfarrei und Kirchgemeinde, Studie zu ihrem rechtlichen<br />

begriff und grundsätzlichen Verhältnis, Freiburg i.Ü. 1957 (Freiburger Veröffentlichungen<br />

aus dem gebiete von Kirche und Staat, bd. 13), S. 80 ff.; Christoph Winzeler,<br />

Kirchen in der staatlichen Rechtsordnung, eine vergleichende umschau aus schweizerischer<br />

Sicht, in: René Pahud de Mortanges / gregor a. Rutz / Christoph Winzeler (hrsg.),<br />

die Zukunft der öffentlich-rechtlichen anerkennung von Religionsgemeinschaften,<br />

Freiburg i.Ü. 2000 (Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht, bd. 8), S. 86 f.<br />

11 SJKR 12 (2007), S. 322.<br />

12 So auch das Kantonsgericht (erw. 4.4, SJKR 12 [2007], S. 267).<br />

13 Vgl. das im auftrag des römisch-katholischen landeskirchenrates von basellandschaft<br />

entstandene gutachten: Hafner / Brosi, Personalentscheide (anm. 7),<br />

S. 32 ff., welches den später ergangenen entscheiden in dieser Sache zugrunde liegt.<br />

14 SJKR 12 (2007), S. 252 ff., insoweit bestätigt vom Kantonsgericht (erw. 4.4–4.6,<br />

SJKR 12 [2007], S. 267 ff.).


53 (2008) Ein Kirchenkonflikt in der katholischen Schweiz<br />

343<br />

4. diesen entscheid hat die Kirchgemeinde Röschenz beim Kantonsgericht<br />

Basel-Landschaft in liestal angefochten. am 5. September 2007 hob das<br />

gericht den entscheid des landeskirchenrates auf, u. a. weil der bischof den<br />

entzug der kirchlichen Sendung nicht angemessen begründet bzw. Pfarrer Sabo<br />

nicht ausreichend dazu angehört habe 15 , und hielt in der zusammenfassenden<br />

erw. 11 fest 16 ,<br />

„dass der entzug der missio canonica gestützt auf die dem gericht vorliegenden<br />

akten und die aussagen der Parteien als Verletzung des gehörsanspruches<br />

des betroffenen Pfarradministrators qualifiziert werden muss. deshalb ist der<br />

nach kanonischem Recht allenfalls gültige und rechtskräftige missio-entzug für<br />

die grundrechtsgebundenen Organe der landeskirche als unbeachtlich zu qualifizieren.<br />

es besteht aufgrund der unbeachtlichkeit des innerkirchlichen missio-entzuges<br />

auch keine Verpflichtung zur auflösung des arbeitsverhältnisses<br />

zwischen der Kirchgemeinde und ihrem Pfarradministrator. die Vorinstanz hat<br />

damit aufgrund der konkreten ausgangslage die beschwerdeführerin zu unrecht<br />

angewiesen, das arbeitsverhältnis mit ihrem Pfarradministrator aufzulösen, was<br />

zu einer gutheißung der beschwerde führen muss.“<br />

5. landeskirchenrat und bischof haben auf einen Weiterzug des urteils an<br />

das bundesgericht verzichtet 17 , dazu jedoch öffentlich Stellung genommen 18 . Im<br />

Rückblick fühlt sich der bischof an die behandlung eines seiner amtsvorgänger,<br />

Eugène Lachat, erinnert, der 1873, nachdem er seinen gläubigen die beschlüsse<br />

des ersten Vatikanums verkündet hatte, von den bistumskantonen aus Solothurn<br />

vertrieben wurde und in luzern Zuflucht nehmen musste 19 .<br />

A. Zustimmungswürdiges<br />

II.<br />

Ein schwieriges Urteil<br />

6. das gericht anerkennt grundsätzlich, dass die Kirchgemeinde das arbeitsverhältnis<br />

mit einem Seelsorger, dem die kirchliche Sendung entzogen wurde,<br />

beenden muss (erw. 4.4–4.6) 20 . diese auslegung von §§ 46 und 47 der Kirchenverfassung<br />

lässt sich denn auch schlechterdings nicht bestreiten. Sie entspricht<br />

im Übrigen dem Selbstbestimmungsrecht sowohl der landeskirche (§ 137<br />

15 SJKR 12 (2007), S. 256.<br />

16 SJKR 12 (2007), S. 306 f.<br />

17 Wohl nicht zuletzt, weil der Sachverhalt vor bundesgericht nur noch sehr begrenzt<br />

hätte überprüft werden können: art. 97 abs. 1 bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005<br />

(bgg), Systematische Sammlung des bundesrechts (nachstehend SR), Ziff. 173.110;<br />

Peter Karlen, das neue bundesgerichtsgesetz, die wesentlichen neuerungen und was<br />

sie bedeuten, basel 2006, S. 38 f.<br />

18 SJKR 12 (2007), S. 312 ff. bzw. 322 ff.<br />

19 SJKR 12 (2007), S. 330; Victor Conzemius, eugène lachat (1863–1884) – bischof<br />

im Kulturkampf, in: urban Fink / Stephan leimgruber / Markus Ries (hrsg.), die<br />

bischöfe von basel 1794–1995, 2. aufl., Freiburg i.Ü. 1996, S. 144 ff.<br />

20 SJKR 12 (2007), S. 267 ff.


344 Christoph Winzeler<br />

ZevKR<br />

abs. 1 der Kantonsverfassung) als auch des kirchlich zuständigen bischofs<br />

(art. 15 bV 21 ).<br />

7. die Zuständigkeit des landeskirchenrates zur Aufsicht über die Kirchgemeinden<br />

(§ 24 bst. k der Kirchenverfassung) 22 umfasst das Recht, von einer<br />

Kirchgemeinde die entlassung eines rechtswidrig amtierenden Seelsorgers zu<br />

verlangen (erw. 5.3–5.12) 23 :<br />

„Zusammenfassend gelangt das gericht zum Schluss, dass der landeskirchenrat<br />

auch ohne explizite gesetzliche ermächtigung aufgrund seines in § 24<br />

lit. K KiV grundsätzlich festgeschriebenen aufsichtsrechts die Kirchgemeinde<br />

verbindlich anweisen kann, bei Vorliegen eines rechtswidrigen Zustandes in<br />

bezug auf die personalrechtliche Situation ihres Pfarradministrators das arbeitsverhältnis<br />

mit diesem administrativ zu beenden“ (erw. 5.11).<br />

B. Fragwürdiges<br />

1. unvollständige und unzutreffende Wahrnehmung des Sachverhalts<br />

8. aufgrund einer von landeskirchenrat und bischof bestrittenen 24 , unvollständigen<br />

und teilweise irrigen Wahrnehmung des Sachverhalts kommt das<br />

gericht zu einer wohl unzutreffenden Abfolge der Ereignisse (erw. 9.6–9.8) 25 .<br />

In einem gespräch vom 9. Februar 2005 habe der zuständige bischofsvikar<br />

dem Pfarradministrator den entzug der kirchlichen Sendung angekündigt<br />

und mit Schreiben vom 18. März 2005 „förmlich“ auf ende September des<br />

gleichen Jahres eröffnet. bei der umstrittenheit des Sachverhalts fällt hier<br />

die urteilsbegründung im Vergleich zu ihrer sonstigen ausführlichkeit durch<br />

unverständliche Kürze auf. Mit einer Rückweisung der angelegenheit an den<br />

landeskirchenrat wäre das gericht besser gefahren als mit dem eigenen, jetzt<br />

vorliegenden urteil.<br />

9. der landeskirchenrat weist auf namentlich zwei Fehlbeurteilungen des<br />

gerichts hin 26 :<br />

– das Schreiben vom 18. März 2005 trug die unterschriften des generalvikars<br />

und zuständigen bischofsvikars; aber zum entzug der kirchlichen Sendung<br />

wäre einzig der bischof selber zuständig gewesen. deshalb konnte jenes<br />

Schreiben aufgrund kanonischen Rechts noch nicht das massgebliche dekret<br />

sein.<br />

– auch inhaltlich erfolgte der entzug der Sendung erst am 28. September 2005;<br />

die voraus gegangenen briefwechsel und gespräche waren durchaus noch<br />

entscheidungsoffen 27 . das deckt sich mit der Stellungnahme des bischofs 28.<br />

21 bundesverfassung der Schweizerischen eidgenossenschaft vom 18. april 1999<br />

(nachstehend bV), SR, Ziff. 101.<br />

22 erläutert bei: Hafner / Brosi, Personalentscheide (anm. 7), S. 46 ff.<br />

23 SJKR 12 (2007), S. 270 ff.<br />

24 SJKR 12 (2007), S. 314 ff. bzw. 326 f.<br />

25 SJKR 12 (2007), S. 300 ff.<br />

26 SJKR 12 (2007), S. 314 ff.<br />

27 Teilweise abweichend die auffassung des landeskirchenrates im vorinstanzlichen<br />

entscheid, SJKR 12 (2007), S. 254, wonach der entzug ursprünglich am 9. Februar


53 (2008) Ein Kirchenkonflikt in der katholischen Schweiz<br />

345<br />

10. Wegen der zu frühen datierung des entzugs der kirchlichen Sendung<br />

erscheint dem gericht die einräumung des rechtlichen gehörs durch den bischof<br />

irrigerweise als verspätet (erw. 9.8) 29 . das wiederum führt zu den Äußerungen<br />

des gerichts über die Heilbarkeit einer Gehörsverletzung (erw. 9.4–9.5) 30 , wozu<br />

eine „strenge Praxis“ zu befolgen sei (erw. 9.5) 31 .<br />

2. grundrechtsbindung des bischofs?<br />

11. das gericht wirft bischof Koch also die Verletzung eines grundrechts<br />

vor, nämlich des Anspruchs auf rechtliches Gehör aufgrund von art. 29 abs. 2<br />

bV (erw. 8.10) 32 . ein Kernsatz des urteils lautet, der bischof sei an die grundrechte<br />

gebunden, „soweit sich sein handeln auf öffentlich-rechtliche Verhältnisse<br />

auswirkt“ (erw. 8.1–8.10) 33 , und nicht nur, soweit er vom Staat verliehene<br />

hoheitsgewalt ausübt. dies führt sehr weit und rechtfertigt eine vertiefte auseinandersetzung<br />

mit dem urteil.<br />

12. Zunächst geht das urteil von der Prämisse aus, die öffentlichrechtliche<br />

Anerkennung der Römisch-katholischen Kirche durch den Kanton binde die<br />

anerkannte Kirche – wie den Staat – an die grundrechte. Insoweit fehlt dem<br />

urteil jedoch einerseits die berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts der<br />

Religionsgemeinschaften (s. nachstehend Ziff. 13 ff.), andererseits die gebotene<br />

differenzierung zwischen Staat, landeskirche und bischof (s. nachstehend<br />

Ziff. 17).<br />

13. dass die öffentlichrechtliche anerkennung nicht automatisch, sondern<br />

erst nach sorgfältiger Interessenabwägung zu einer grundrechtsbindung der<br />

Kirche führt, hat Felix Hafner in seiner habilitationsschrift überzeugend dargelegt<br />

34 :<br />

2005 erfolgt, nach zwei unterredungen des bischofs mit dem Pfarradministrator am<br />

28. September 2005 teilweise zurückgenommen, durch eine bedenkzeit von sechs<br />

Monate ausgesetzt und schliesslich am 6. Oktober 2005 endgültig ausgesprochen worden<br />

sei. auch diese Sicht führt zum ergebnis, dass der entzug erst nach anhörung des<br />

betroffenen erfolgte, weil der ursprüngliche entscheid durch den zweiten nicht einfach<br />

bestätigt, sondern unter anhörung des Pfarradministrators in Wiedererwägung gezogen<br />

worden war. demnach hat der bischof den entzug am 28. September 2005 vorerst<br />

für sechs Monate und am 6. Oktober 2005 endgültig ausgesprochen.<br />

28 SJKR 12 (2007), S. 326 f.<br />

29 SJKR 12 (2007), S. 301 f.<br />

30 SJKR 12 (2007), S. 298 ff.<br />

31 Vgl. zu den Voraussetzungen einer solchen heilung: Helen Keller, garantien fairer<br />

Verfahren und des rechtlichen gehörs, in: detlef Merten / hans-Jürgen Papier (hrsg.),<br />

handbuch der grundrechte, bd. 7/2: grundrechte in der Schweiz und in liechtenstein,<br />

heidelberg / St. gallen / Zürich 2007, Rz. 57 ff.; Alfred Kölz / Isabelle Häner, Verwaltungsverfahren<br />

und Verwaltungsrechtspflege des bundes, 2. aufl., Zürich 1998,<br />

Rz. 131; Jörg Paul Müller, grundrechte in der Schweiz, Im Rahmen der bundesverfassung<br />

von 1999, der unO-Pakte und der eMRK, 3. aufl., bern 1999, S. 517 ff.<br />

32 SJKR 12 (2007), S. 294.<br />

33 SJKR 12 (2007), S. 287 ff.<br />

34 Felix Hafner, Kirchen im Kontext der grund- und Menschenrechte, Freiburg i.Ü.<br />

1992 (Freiburger Veröffentlichungen aus dem gebiete von Kirche und Staat, bd. 36),<br />

S. 332 f. ebenso: Giusep Nay, Schweizerischer Rechtsstaat und Religionsgemeinschaften:<br />

hilfen und grenzen, in: adrian loretan / Toni bernet (hrsg.), das Kreuz der Kirche


346 Christoph Winzeler<br />

ZevKR<br />

„der Staat vermittelt den Kirchen die öffentlichrechtliche anerkennung vor<br />

allem wegen ihrer der kollektiven grundrechtverwirklichung dienenden Zweckbestimmung.<br />

es wäre daher widersprüchlich, wenn er die kirchliche Wirksamkeit<br />

gerade in bereichen, wo die Kirchen die ihnen zukommenden grundrechte<br />

selbstbestimmend realisieren, wiederum durch bindung an die individuellen<br />

grundrechte der von kirchlichen Rechtsakten betroffenen Personen einschränken<br />

oder gar verbieten könnte. Mit anderen Worten: Wo die öffentlichrechtlich<br />

anerkannten Kirchen von Verfassungs wegen Freiheit gegenüber dem Staat beanspruchen,<br />

können Private nicht den Staat bemühen, um die kirchliche Freiheit<br />

zugunsten ihrer individuellen glaubensfreiheit einzuschränken. der optimale<br />

ausgleich von kollektiver Kirchenfreiheit und individueller glaubensfreiheit<br />

gebietet es, von einer grundrechtsbindung in denjenigen bereichen abzusehen,<br />

in denen der Staat die öffentlichrechtlich anerkannten Kirchen den privatrechtlichen<br />

Religionsgemeinschaften gleichstellt, indem er ihnen zur Verwirklichung<br />

ihrer Kultusaufgaben das Recht auf Selbstbestimmung einräumt.“<br />

14. eine grundrechtsbindung der Kirche ist also nicht unmittelbare und<br />

zwingende Folge ihrer öffentlichrechtlichen anerkennung durch den Staat,<br />

sondern muss im Einzelnen begründet werden. denn die anerkennung einer<br />

Kirche bedeutet, wie Urs Josef Cavelti schon 1954 hervorgehoben hat, „weder<br />

eine Veränderung des Wesens ihrer obrigkeitlichen gewalt, noch ein abhängigkeitsverhältnis<br />

vom Staat“ 35 .<br />

15. dem gericht ist der Vorwurf nicht zu ersparen, den ausgleich der einander<br />

entgegen stehenden grundrechtspositionen und damit die herstellung<br />

„praktischer Konkordanz“ (Giusep Nay) 36 verfehlt zu haben. So mangelt dem<br />

urteil eine differenzierende Würdigung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts<br />

37 , das nicht minder „direkt“ auf der Verfassung „fußt“ als die von der<br />

mit der demokratie, Zum Verhältnis von katholischer Kirche und Rechtsstaat, Zürich<br />

2006, S. 41: „die behörden sorgen dafür, dass die grundrechte, soweit sie sich dazu<br />

eignen, auch unter Privaten wirksam werden (art. 35 abs. 3 bV). In diesem Rahmen<br />

sind Kirchen und Religionsgemeinschaften unabhängig von der öffentlich-rechtlichen<br />

anerkennung an die grundrechte gebunden. der Staat verpflichtet diese indes nicht<br />

nur, die grundrechte zu beachten, er gewährt ihnen zugleich das grundrecht der Religionsfreiheit.<br />

das führt zu einer Kollision zwischen dem aus dieser abgeleiteten Selbstbestimmungsrecht<br />

der Religionsgemeinschaften und einer grundrechtsbindung, soweit<br />

sie ihrem Selbstverständnis zuwider läuft. dieses Spannungsfeld ist auf dem Weg der<br />

praktischen Konkordanz mit einer Interessenabwägung in anwendung des Verhältnismässigkeitsprinzips<br />

aufzulösen. dazu muss hier der hinweis genügen, dass prinzipiell<br />

die Religionsfreiheit den Vorrang geniessen muss, da deren garantie sonst weitgehend<br />

illusorisch würde“ (hervorhebung im Original).<br />

35 Urs Josef Cavelti, die öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften im schweizerischen<br />

Staatskirchenrecht, Freiburg i.Ü. 1954 (Freiburger Veröffentlichungen aus<br />

dem gebiete von Kirche und Staat, bd. 8), S. 27.<br />

36 Nay, Rechtsstaat (anm. 34), a.a.O.<br />

37 Zum Selbstbestimmungsrecht in der Schweiz: Ueli Friederich, Selbstbestimmungsrecht<br />

von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften, in: ders. / Roland J.<br />

Campiche / René Pahud de Mortanges / Christoph Winzeler, bundesstaat und Religionsgemeinschaften,<br />

SJKR-beiheft 4 (2003), S. 69 ff. m.w.h.; Winzeler, Religionsverfassungsrecht<br />

(anm. 3), S. 38 ff. m.w.h.


53 (2008) Ein Kirchenkonflikt in der katholischen Schweiz<br />

347<br />

Kirchgemeinde geltend gemachte grundrechtsbindung des bischofs (erw. 8.7) 38 .<br />

Wenn das gericht apodiktisch zum Schluss kommt, eine kirchliche Verfahrensregel<br />

könne nicht gegenstand des Selbstbestimmungsrechts sein (erw. 8.9) 39 ,<br />

folgt es einer im 19. Jahrhundert von der protestantischen Obrigkeit vertretenen<br />

auffassung, wonach „äußere Verhältnisse“ einer Kirche keine glaubensfrage<br />

seien und daher nicht unter dem Schutz der Verfassung ständen 40 . auch biete<br />

das innerkirchliche beschwerdeverfahren aufgrund von c. 1732 ff. CIC „im<br />

Vergleich zur staatlichen gerichtsbarkeit keinen genügenden Rechtsschutz“,<br />

heißt es etwa (erw. 4.2) 41 , ohne dass z. b. näher geprüft worden wäre, ob dem<br />

Pfarradministrator auf diesem Weg das rechtliche gehör offen gestanden hätte.<br />

einem römisch-katholischen amtsträger sollte die ausschöpfung der kirchlichen<br />

Rechtsmittel zumutbar sein, bevor er staatlichen Rechtsschutz gegen die Kirche<br />

in anspruch nimmt.<br />

16. Sehr wohl entspricht es nun jedoch bewährter Staatspraxis in der Schweiz,<br />

die anerkannte Kirche wenigstens partiell an die grundrechte zu binden, wobei<br />

nach Sachbereichen differenziert werden muss:<br />

– Setzt eine Kirche die ihr vom Staat übertragene hoheitsgewalt gegen ihre<br />

Mitglieder ein, kann sie zur befolgung rechtsstaatlicher grundsätze verpflichtet<br />

werden. das ist etwa der Fall, wo die Kirche für die nachführung<br />

ihrer Mitgliederlisten oder die bemessung und erhebung der Kirchensteuer<br />

auf den Staat zurückgreifen darf. hier kann der Staat die Kirche zur einhaltung<br />

rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze und des datenschutzes anhalten<br />

42 . darüber hinaus aber von der anerkannten Kirche eine demokratische<br />

Ordnung zu verlangen, setzt entweder das einverständnis der Kirche 43 oder<br />

die Wahrung der Voraussetzungen einer grundrechtseinschränkung voraus<br />

(art. 36 bV), soweit dadurch in das Selbstbestimmungsrecht eingegriffen<br />

wird (s. vorstehend Ziff. 15). denn die Religionsfreiheit (art. 15 bV), in deren<br />

38 SJKR 12 (2007), S. 291, wobei schon das gutachten Hafner / Brosi, Personalentscheide<br />

(anm. 7), S. 35 den grundrechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts und<br />

mit ihm den Verweis auf das kanonische Recht gering zu veranschlagen scheint: nach<br />

ihm „kann es sich dabei nicht um eine blinde befolgungspflicht im Sinne einer unbesehenen<br />

oder ausnahmslosen Vollstreckung eines bischöflichen entscheids durch die<br />

landeskirche und die Kirchgemeinden handeln. dies ergibt sich einerseits daraus, dass<br />

landeskirchen und Kirchgemeinden am öffentlichen Recht partizipieren und damit den<br />

grundrechtsbindungen einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft unterliegen, die – weil<br />

sie aus dem höherrangigen Recht stammen – stärker zu gewichten sind als die in der<br />

landeskirchenverfassung enthaltenen Verweise auf lehre und Rechtsordnung der<br />

römisch-katholischen Kirche.“ Soweit diese Verweise dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht<br />

entspringen, ist auch ihre Sedes materiae im höherrangigen Recht, nämlich<br />

der Religionsfreiheit (art. 15 bV) zu verorten.<br />

39 SJKR 12 (2007), S. 293 f.<br />

40 So der bundesrat in seiner botschaft zum bundesbeschluss vom 22. Juli 1859<br />

betr. die lostrennung schweizerischer landesteile von auswärtigen bistumsverbänden:<br />

bbl 1859 II S. 94 f.<br />

41 SJKR 12 (2007), S. 265 f.<br />

42 Winzeler, Religionsverfassungsrecht (anm. 3), S. 57 f. m.w.h.<br />

43 bei reformierten landeskirchen i.d.R. eine Selbstverständlichkeit.


348 Christoph Winzeler<br />

ZevKR<br />

korporativem Teilgehalt das Selbstbestimmungsrecht wurzelt, steht nach heutiger<br />

lehre auch einer öffentlichrechtlich anerkannten Kirche zu 44 45 .<br />

– bedarf der Staat für einen Personalentscheid des Votums einer kirchlichen<br />

behörde (z. b. des bischofs), kann er dieses nach deutscher lehre nur, aber<br />

immerhin vorfrageweise auf Willkür überprüfen 46 . Wolfgang Rüfner bezieht<br />

sich beim entsprechenden hinweis nicht zuletzt auf die bischöfliche „Missio<br />

canonica“. das dürfte auch vor schweizerischen gerichten mehrheitsfähig<br />

sein (vgl. das Willkürverbot in art. 9 bV). allerdings liegt Willkür nur bei<br />

sachlich grob verfehlten, schlechterdings unbegründbaren entscheiden vor 47 .<br />

Im Fall Röschenz war jedoch nicht Willkür, sondern die angebliche gehörsverletzung<br />

entscheidungsgrund (zusammenfassend erw. 11, s. vorstehend<br />

Ziff. 4) 48 .<br />

– eine art Kehrseite des Willkürverbots ist die in der Rechtsprechung verbreitete,<br />

aus bundesstaatlicher oder fachlicher Zurückhaltung begründete<br />

Ohne-not-Praxis. nach ihr pflegt ein oberinstanzliches gericht vom ermessen<br />

der Vorinstanz „nicht ohne not“ abzuweichen und so deren Sachkunde<br />

oder Sachnähe zu berücksichtigen 49 . Zwar findet diese Rechtsprechung keine<br />

unmittelbare Stütze in der bundesverfassung, aber sie stellt gleichsam ein<br />

gegenstück zum Willkürverbot dar. Soweit die Oberinstanz nämlich unter<br />

art. 9 bV nur grobe Fehlentscheide aufheben darf, muss sie Vertretbares<br />

gelten lassen und darf nicht ohne Weiteres das ermessen der Vorinstanz<br />

durch ihr eigenes ersetzen. nun hat sich die Ohne-not-Praxis über das Willkürverbot<br />

hinaus verbreitet, findet ihre grenze aber dort, wo sonst der Staat<br />

seinen Rechtsschutzauftrag vernachlässigte (art. 29a bV und § 141 abs. 3–4<br />

der Kantonsverfassung). ursprünglich ist die Ohne-not-Praxis auf Fälle des<br />

Rechtsfolgeermessens zugeschnitten, doch kann sie auch bei der auslegung<br />

44 Wenn sie einen religiösen Zweck verfolgt und der grundrechtsbetätigung ihrer<br />

Mitglieder spezifisch zudient: Yvo Hangartner, Verfassungsmässige Rechte juristischer<br />

Personen des öffentlichen Rechts, in: Walter haller / alfred Kölz / georg Müller / daniel<br />

Thürer (hrsg.), Festschrift für ulrich häfelin zum 65. geburtstag, Zürich 1989,<br />

S. 122 f.; Ders., Rechtlicher grundrahmen der Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften,<br />

in: René Pahud de Mortanges / erwin Tanner (hrsg.), Kooperation<br />

zwischen Staat und Religionsgemeinschaften nach schweizerischem Recht, basel / genf /<br />

Zürich 2005 (Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht, bd. 15), S. 94.<br />

45 So nunmehr: Giovanni Biaggini, bundesverfassung der Schweizerischen eidgenossenschaft,<br />

Mit auszügen aus der eMRK, den unO-Pakten sowie dem bgg [bundesgerichtsgesetz],<br />

Zürich 2007, art. 15 n. 16; Bernhard Ehrenzeller, glauben, gewissen<br />

und Weltanschauung, in: Merten / Papier, handbuch (anm. 31), S. 314 anm. 71; Pierre<br />

Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen eidgenossenschaft, 2. aufl., bern 2007,<br />

S. 111.<br />

46 Wolfgang Rüfner, Zuständigkeit staatlicher gerichte in kirchlichen angelegenheiten,<br />

in: Joseph listl / dietrich Pirson (hrsg.), handbuch des Staatskirchenrechts der<br />

bundesrepublik deutschland, bd. 2, 2. aufl., berlin 1995, S. 1097.<br />

47 Müller, grundrechte (anm. 31), S. 467 m.w.h.<br />

48 SJKR 12 (2007), S. 306 f.<br />

49 Statt vieler: bge 129 II 342, erw. 3.2; Kölz / Häner, Verwaltungsverfahren<br />

(anm. 31), Rz. 644 f.; Pierre Tschannen / Ulrich Zimmerli, allgemeines Verwaltungsrecht,<br />

2. aufl., bern 2005, Rz. 22 und 28.


53 (2008) Ein Kirchenkonflikt in der katholischen Schweiz<br />

349<br />

unbestimmter Rechtsbegriffe ein Stück weit Platz greifen 50 (beispiel: die<br />

bundesgerichtliche Überprüfung von entscheiden des bankenaufsichts- oder<br />

Wettbewerbsrechts, wo besondere Fachkenntnisse der Vorinstanz hereinspielen).<br />

In einem Fall wie Röschenz, wo zweifellos der landeskirchenrat<br />

sachkundiger und sachnäher als das Obergericht war, hätte das einen Sinn<br />

ergeben, auch wenn der landeskirchenrat nicht zu den Organen der Rechtsprechung<br />

i.e.S. gehört. Offenkundig rächt sich nun das Versäumnis der<br />

Römisch-katholischen landeskirche des Kantons basel-landschaft, in § 55<br />

ihrer Kirchenverfassung die entscheide des landeskirchenrates unmittelbar<br />

der beschwerde an das Kantonsgericht unterstellt und kein eigenes Kirchengericht<br />

geschaffen zu haben (was § 141 abs. 1 der Kantonsverfassung vom<br />

17. Mai 1984 eigentlich verlangt hätte) 51 .<br />

– Schliesslich ist zwischen der Rechtsstellung von amtsträgern und jener von<br />

laien zu unterscheiden. ein Pfarrer oder Pfarradministrator mit Verantwortung<br />

für die Seelsorge in seiner Pfarrei darf einer strengeren loyalitätspflicht<br />

gegenüber dem bischof unterliegen als die ihm anvertrauten laien 52 . das<br />

zu respektieren, muss dem Staat aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der<br />

Kirche geboten sein.<br />

17. das urteil ermangelt der gebotenen Differenzierung in Bezug auf die<br />

Grundrechtsbindung von Staat, Landeskirche und Bischof. ein großteil der<br />

literaturzitate des gerichts betrifft den Staat als hauptadressaten der grundrechte.<br />

gegenüber dem bischof können sie nur begrenzt und mutatis mutandis<br />

anwendung finden (s. vorstehend Ziff. 16), ist er doch seinerseits Träger eines<br />

grundrechts, nämlich des in art. 15 bV wurzelnden Selbstbestimmungsrechts<br />

(s. vorstehend Ziff. 15). das bedingt eine sorgfältige abwägung der einschlägigen<br />

grundrechtspositionen (s. vorstehend Ziff. 13 und 15), woran es das<br />

gericht weitgehend fehlen lässt. namentlich die bezüge des Falls zum kanonischen<br />

Recht werden zu einem guten Teil ausgeblendet. bei der landeskirche<br />

geht die grundrechtsbindung zweifellos weiter als beim bischof, ist sie doch<br />

eine Organisation staatlichen Rechts, aber zugleich weniger weit als beim Staat<br />

selber, da sie in einer dienenden Funktion zur Kirche steht 53 . hinzu kommt, dass<br />

50 Ulrich Häfelin / Georg Müller / Felix Uhlmann, allgemeines Verwaltungsrecht,<br />

5. aufl., basel / genf / Zürich 2006, Rz. 446c f.<br />

51 Was jedoch dem Kantonsgericht keine Pflicht zum nichteintreten auferlegt,<br />

nachdem § 55 der Kirchenverfassung selber das Kantonsgericht als zuständig erklärt.<br />

So jedoch, m.e. unzutreffend: Walter Gut, Fehlender Respekt gegenüber der Kirchen-<br />

und Religionsfreiheit, Zum urteil des Kantonsgerichtes basel-landschaft vom 5. September<br />

2007 im Fall der röm.-kath. Kirchgemeinde Röschenz, beilage zu SKZ heft 11<br />

(2008), S. V f.<br />

52 Wie es auch – per analogiam – wohl einer Volksschullehrerin, aber nicht ihren<br />

Schülerinnen verboten werden darf, im unterricht religiöse Kleidung zu tragen (bge<br />

123 I 296 = Pra 1998 nr. 47): René Pahud de Mortanges, aktuelle Rechtsfragen zum<br />

Islam in der Schweiz, in: urs altermatt / Mariano delgado / guido Vergauwen (hrsg.),<br />

der Islam in europa, Zwischen Weltpolitik und alltag, Stuttgart 2006 (Religionsforum,<br />

bd. 1), S. 276 ff.; Christoph Winzeler, Ordnung oder Freiheit? die zwei Paradigmen der<br />

Judikatur des Schweizerischen bundesgerichts zur Religionsfreiheit als Individualrecht,<br />

in: altermatt / delgado / Vergauwen, op.cit., S. 283 ff. und 290.<br />

53 Cavelti, System (anm. 6), a.a.O.


350 Christoph Winzeler<br />

ZevKR<br />

die fachliche und sachliche nähe der landeskirche zum Tatbestand dem gericht<br />

hätte nahelegen können, nicht ohne not vom durchaus vertretbaren entscheid<br />

der Vorinstanz abzuweichen (s. vorstehend Ziff. 16 drittes lemma).<br />

III.<br />

Möglichkeiten für das weitere Vorgehen<br />

18. es liegt ein juristisch rechtskräftiges Urteil des Kantonsgerichts vor 54 ,<br />

doch das ihm zugrunde liegende Problem ist nach wie vor ungelöst. So fragt sich,<br />

welche Möglichkeiten den beteiligten für die Zukunft offen stehen.<br />

19. eine Wiederholung des entzugs der kirchlichen Sendung durch den<br />

bischof ist diesem nicht zumutbar, weil er dazu einen kanonisch gültigen Rechtsakt<br />

nachspielen müsste.<br />

20. So gesehen, kann der bischof die dinge staatsrechtlich auf sich beruhen<br />

lassen und ggf. kirchenrechtliche Maßnahmen anordnen, soweit das nicht schon<br />

geschehen ist. entsprechende Maßnahmen sind aber im diesseits von begrenzter<br />

Wirkung, weil sie der bischof nicht mit Verwaltungszwang gegen die Kirchgemeinde<br />

durchsetzen kann. das gilt für die am 22. Oktober 2005 ausgesprochene<br />

Suspendierung des Pfarradministrators vom Priesteramt (c. 1333 CIC),<br />

und es gälte auch für seine allfällige exkommunikation (c. 1331 i.V.m. c. 1371<br />

n. 2 CIC), die der erzbischof von bamberg 55 auf ersuchen des bischofs von<br />

basel aussprechen müsste. eine exkommunikation aller Mitglieder der Kirchgemeinde<br />

wäre theoretisch denkbar, jedoch in juristischer und pastoraler hinsicht<br />

fragwürdig. denn einerseits müsste allen gemeindegliedern ein entsprechendes<br />

Verschulden zur last gelegt werden können (c. 1321 § 1 CIC) 56 , doch<br />

gibt es in Röschenz natürlich auch bischofstreue Katholikinnen und Katholiken.<br />

andererseits wäre eine solche Maßnahme unverhältnismäßig, was nicht im<br />

kanonischen Recht, aber im pastoralen ermessen des bischofs eine Rolle spielen<br />

dürfte. deshalb hätte sich eine solche Maßnahme wohl auf die – juristisch für<br />

den arbeitsvertrag mit dem Pfarradministrator verantwortlichen 57 – Mitglieder<br />

des Kirchgemeinderates zu beschränken.<br />

21. der landeskirchenrat kann, weil das Problem in der Kirchgemeinde Röschenz<br />

fortdauert, ein neues Verwaltungsverfahren gegen die Kirchgemeinde ein-<br />

54 Wogegen ein Revisionsbegehren nur zulässig wäre, wenn (1.) das urteil durch eine<br />

Straftat beeinflusst wurde, (2.) im nachhinein „erhebliche Tatsachen oder beweismittel<br />

aufgetaucht sind, an deren geltendmachung die Partei im früheren Verfahren ohne Verschulden<br />

verhindert gewesen ist“, oder (3.) das urteil einen „schweren und offensichtlichen<br />

Rechtsmangel“ in sich trägt: § 23 S. 2 gesetz über die Verfassungs- und Verwaltungsprozessordnung<br />

vom 16. dezember 1993, SgS-bl, Ziff. 271, i.V.m. § 40 abs. 2<br />

bst. a und c Verwaltungsverfahrensgesetz vom 13. Juni 1988, SgS-bl, Ziff. 175.<br />

55 In dessen bistum Franz Sabo inkardiniert ist.<br />

56 dazu statt vieler: Klaus Mörsdorf, Kirchenrecht, bd. 3, 11. aufl., Paderborn /<br />

München / Wien / Zürich 1979, S. 389 f.; René Pahud de Mortanges, Zwischen Vergebung<br />

und Vergeltung, eine analyse des kirchlichen Straf- und disziplinarrechts,<br />

baden-baden 1992 (Rechtsvergleichende untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft,<br />

Folge 3, bd. 23), S. 111 ff.<br />

57 § 53 abs. 1 Kirchenverfassung.


53 (2008) Ein Kirchenkonflikt in der katholischen Schweiz<br />

351<br />

leiten und versuchen, es so zu gestalten, dass dem Pfarradministrator das rechtliche<br />

gehör in einer art zuteil wird, die sowohl dem bischof möglich ist 58 als<br />

auch dem gericht, wenn es nochmals angerufen wird, genügt.<br />

– einerseits müsste der landeskirchenrat darauf bestehen, dass nur er – als<br />

behörde staatlichen Rechts – zur einräumung des gehörs verpflichtet und in<br />

der lage ist. der bischof kann sinnvollerweise um eine Mitwirkung gebeten<br />

werden, unterliegt aber in der ausübung seines kirchlichen amtes nicht dem<br />

staatlichen Verfassungs- und Verwaltungsrecht.<br />

– andererseits hätte der landeskirchenrat – in gemeinsamer abklärung mit<br />

dem bischof – den Sachverhalt übersichtlich und vollständig so darzulegen,<br />

dass ein weiteres Missverständnis ausgeschlossen wird.<br />

22. Rechtlich sind auch Kombinationen der verschiedenen Möglichkeiten des<br />

kanonischen und kantonalen Rechts denkbar.<br />

23. Schließlich gibt es „unjuristische“ Möglichkeiten: entweder die Reihe<br />

der bislang erfolglosen Gesprächsversuche fortzusetzen oder den Fall ungelöst<br />

zu lassen, bis er sich von selber löst. dass dies unter allen gesichtspunkten am<br />

Wenigsten befriedigt, versteht sich von selbst.<br />

58 nachdem eine pastoral begründete anhörung auch von der ekklesiologie her,<br />

also theologisch geboten sein kann (Respektierung der Menschenwürde allerdings nach<br />

beiden Seiten). Vgl. neuerdings: Römisch-katholische Zentralkonferenz der Schweiz,<br />

Zusammenarbeit zwischen kirchlichen und staatskirchenrechtlichen Instanzen bei<br />

schwierigen Personalentscheiden, grundsatzüberlegungen und praktische empfehlungen<br />

der Kommission für Religionsrecht und Staatskirchenrecht, Zürich 2008.


ReChTSPReChung<br />

Kirchliches Vermögens- und Finanzrecht<br />

4.<br />

gebührenerhebung<br />

bVerwg, urteil vom 10.4.2008 – 7 C 47.07 –.<br />

§§ 1 I, 6 I, 9 Verwaltungskostenverordnung<br />

für die Vermögens- und Finanzverwaltung in<br />

der ev. Kirche der Kirchenprovinz Sachsen<br />

(VwKostVO) v. 2.10.1999 (Kabl. S. 124);<br />

§ 137 I VwgO; art. 4, 140 gg; art. 137 III,<br />

V WRV.<br />

der Kläger (Kl.) wendet sich gegen die erhebung einer Verwaltungsgebühr durch<br />

die beklagte landeskirche (bekl.). die evangelische Kirchengemeinde l. zu erfurt veräußerte<br />

ein ihr gehörendes grundstück an den Kl. das Konsistorium der bekl. erteilte<br />

für die Veräußerung des grundstücks die nach kirchenrechtlichen Vorschriften erforderliche<br />

kirchenaufsichtliche genehmigung. Für die erteilung der genehmigung erhob<br />

das Konsistorium durch bescheid vom 7.12.2000 von dem Kl. eine gebühr von 2200<br />

dM zzgl. 25 dM auslagen. es stützte den bescheid auf die VwKostVO. der Kl. zahlte<br />

den geforderten betrag, legte aber gleichzeitig gegen den Kostenbescheid Widerspruch<br />

ein, den das Konsistorium zurückwies.<br />

aus den gründen:<br />

die Revision des Kl. ist begründet. das Oberverwaltungsgericht hat unter<br />

Verstoß gegen art. 140 gg, art. 137 WRV angenommen, der Kostenbescheid<br />

der bekl. finde in deren Verwaltungskostenverordnung eine wirksame Rechtsgrundlage<br />

(§ 137 abs. 1 VwgO). 1 bei zutreffender anwendung des bundesrechts<br />

hätte das Oberverwaltungsgericht die berufung der bekl. gegen das<br />

urteil des Verwaltungsgerichts zurückweisen und dem Kl. ferner Prozeßzinsen<br />

zusprechen müssen.<br />

1. der Kostenbescheid bedarf als belastender Verwaltungsakt einer (wirksamen)<br />

ermächtigungsgrundlage. er ist zwar nicht im Wege des Verwaltungszwanges<br />

vollstreckbar, wie das Oberverwaltungsgericht in anwendung irrevisiblen<br />

Thüringer landesrecht dargelegt hat. die bekl. hätte deshalb vor den<br />

1 OVg Weimar, urteil vom 11.4.2007 – 1 KO 1110/04 –, ZevKR 53 (2008) S. 72.<br />

Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, band 53 (2008) S. 352–356<br />

© <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> – ISSn 0044–2690


53 (2008) Rechtsprechung<br />

353<br />

staatlichen gerichten Klage erheben müssen, wenn der Kl. die angeforderten<br />

gebühren nicht in befolgung des Kostenbescheids gezahlt hätte. der Kostenbescheid<br />

setzt aber einseitig die Kostenschuld des Kl. fest. er wird bestandskräftig,<br />

wenn der Kl. ihn nicht rechtzeitig anficht (§ 9 VwKostVO). In einem<br />

anschließenden auf Schaffung eines Vollstreckungstitels gerichteten Klageverfahren<br />

wäre wegen eingetretener bestandskraft des Kostenbescheids nicht mehr<br />

die Rechtmäßigkeit der Kostenforderung, sondern nur noch die Wirksamkeit des<br />

Kostenbescheids zu prüfen. In dieser einseitigen, auf bestandskraft ausgerichteten<br />

Regelung der Kostenschuld des Kl. liegt ein belastender Verwaltungsakt.<br />

2. als Rechtsgrundlage für den Kostenbescheid kommt nur § 1 abs. 1, § 6<br />

abs. 1 VwKostVO in betracht. nach § 1 abs. 1 VwKostVO werden für Verwaltungstätigkeiten<br />

unter anderem des Konsistoriums im bereich der kirchlichen<br />

Vermögens- und Finanzverwaltung Kosten (gebühren und auslagen) erhoben.<br />

nach § 6 abs. 1 VwKostVO ist Kostenpflichtiger, wer die Verwaltungstätigkeit<br />

veranlaßt hat oder zu wessen nutzen sie vorgenommen wird oder wer sich<br />

durch erklärung zur Übernahme der Kosten verpflichtet hat.<br />

das Oberverwaltungsgericht hat diese bestimmungen dahin ausgelegt, daß<br />

als Kostenpflichtiger auch ein außenstehender dritter, wie der erwerber eines<br />

grundstücks herangezogen werden kann. In dieser auslegung sind die § 1<br />

abs. 1, § 6 abs. 1 VwKostVO mit art. 140 gg i.V.m. art. 137 abs. 3 und 5<br />

WRV nicht vereinbar.<br />

a) die bekl. ist nach art. 140 gg i.V.m. art. 137 abs. 5 WRV Körperschaft<br />

des öffentlichen Rechts. die Zuerkennung der Körperschaftsrechte geht einher<br />

mit der Verleihung bestimmter befugnisse, die aus dem Status einer Körperschaft<br />

des öffentlichen Rechts folgen und mit ihm unmittelbar verbunden sind. dazu<br />

gehören insbesondere die dienstherrenfähigkeit, die Organisationsgewalt und<br />

die befugnis zur Rechtsetzung (vgl. hierzu beispielsweise: von Campenhausen /<br />

de Wall, Staatskirchenrecht, 4. aufl., S. 251 ff.; Morlok, in: dreier, grundgesetz,<br />

Komm., art. 137 WRV / art. 140 Rn. 86 ff.). diese unmittelbar mit dem Status<br />

einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verbundene und deshalb schon in<br />

art. 140 gg i.V.m. art. 137 abs. 5 WRV wurzelnde Rechtsetzungsbefugnis ist<br />

gegenständlich auf die normative ausgestaltung der Körperschaft und der aus<br />

ihr abgeleiteten einzelnen Rechte beschränkt. Für eine darüber hinausgreifende<br />

Rechtsetzung bedarf es einer hierauf bezogenen gesonderten staatlichen Verleihung,<br />

an der es hier (unstreitig) fehlt.<br />

Zur Organisationsgewalt einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gehören<br />

Regelungen etwa darüber, welche Ämter mit welchen aufgaben und befugnissen<br />

bestehen und wer diese Ämter verleiht. dazu gehören ferner Regelungen darüber,<br />

wer die Körperschaft im Rechtsverkehr vertritt. Von der Rechtsetzungsbefugnis<br />

im bereich der Organisationsgewalt ohne weiteres umfaßt sind daher<br />

Vorschriften, die vorsehen, daß die Veräußerung eines grundstücks der örtlichen<br />

Kirchengemeinde der beschlußfassung des gemeindekirchenrats und dieser<br />

beschluß seinerseits zu seiner Wirksamkeit der kirchenaufsichtlichen genehmigung<br />

des Konsistoriums der landeskirche bedarf. die staatliche Rechtsordnung<br />

erkennt diese Regelungen an, indem sie auf die Veräußerung von grundstücken<br />

gerichteten Willenserklärungen der Kirchengemeinde bei Fehlen einer derartigen


354 Rechtsprechung<br />

ZevKR<br />

genehmigung die Wirksamkeit versagt, sei es über § 134 bgb oder über die<br />

Regelungen der Vertretungsmacht.<br />

ebenso liegt es noch innerhalb der befugnis zur normativen ausgestaltung<br />

der Organisationsgewalt, wenn die landeskirche ihre Verwaltungstätigkeit von<br />

der Zahlung einer gebühr abhängig macht. So wäre die landeskirche ohne<br />

weiteres aufgrund der ihr verliehenen Rechtsetzungsbefugnis berechtigt, anzuordnen,<br />

daß für die erteilung einer kirchenaufsichtlichen genehmigung zur Veräußerung<br />

eines grundstücks von der begünstigten örtlichen Kirchengemeinde<br />

eine gebühr zu zahlen ist.<br />

b) Zur Organisationsgewalt der Religionsgemeinschaft gehört danach zwar<br />

die innerkirchliche Willensbildung. Sie kann deshalb regeln, ob, an wen und<br />

zu welchen bedingungen ein Vermögenswert, etwa ein grundstück, veräußert<br />

werden soll. Mit der Veräußerung nimmt die Kirche aber am allgemeinen<br />

Rechtsverkehr teil und bewegt sich außerhalb des bereichs, der ihr zur eigenverantwortlichen<br />

Regelung zugewiesen ist. die grenzen einer normativen ausgestaltung<br />

der Organisationsgewalt sind demnach überschritten, wenn bei einer<br />

Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr zulasten der Vertragspartner einseitig<br />

hoheitliche Pflichten, etwa zur Zahlung einer gebühr, begründet werden sollen.<br />

deren Rechtskreis wird vielmehr allein durch die staatliche Rechtsordnung,<br />

namentlich durch das bürgerliche gesetzbuch festgelegt. dabei ist unerheblich,<br />

ob der erwerber eines grundstücks (zufällig) auch der landeskirche angehört.<br />

er wird von der gebührenvorschrift nicht als Mitglied der landeskirche, sondern<br />

als erwerber des grundstücks und damit als Teilnehmer am allgemeinen<br />

Rechtsverkehr erfaßt. die ihm auferlegte Pflicht zur Zahlung einer gebühr wurzelt<br />

nicht schon in seiner Mitgliedschaft zur landeskirche. die ihr mit dem Körperschaftsstatus<br />

verliehene Organisationsgewalt berechtigt die Kirche danach<br />

nicht, die Kosten ihrer innerkirchlichen Verwaltungstätigkeit, hier in gestalt<br />

ihrer aufsicht über die örtlichen Kirchengemeinde, durch einseitig hoheitliche<br />

Regelung auf insoweit außenstehende dritte abzuwälzen. es geht dabei nicht<br />

mehr nur darum, daß die kirchenrechtliche ausgestaltung der innerkirchlichen<br />

Organisation im weltlichen Rechtsverkehr berücksichtigt wird, wie das bei der<br />

beachtung von Vertretungsvorschriften der Fall ist.<br />

c) eine weitergehende befugnis der korporierten Religionsgemeinschaften zur<br />

Rechtsetzung läßt sich nicht aus den entscheidungen des bundesverwaltungsgerichts<br />

und des bundesverfassungsgerichts herleiten, die das Oberverwaltungsgericht<br />

in diesem Zusammenhang anführt.<br />

aa) Zwar hat das bundesverwaltungsgericht in seinem urteil vom 17.3.<br />

1992 – bVerwg 7 C 21.90 – (bVerwge 90, 112 [116]) ausgeführt, eine Religionsgemeinschaft<br />

habe kraft ihrer verfassungsrechtlich gewährleisteten autonomie<br />

(art. 140 gg, art. 137 abs. 3 WRV) grundsätzlich selbst zu entscheiden,<br />

in welcher Weise sie ihre Finanzverhältnisse gestalte. das schließe neben den<br />

traditionellen Finanzierungsformen der erhebung von Steuern oder von Mitgliedsbeiträgen<br />

die Möglichkeit ein, für güter oder dienstleistungen mit unmittelbarem<br />

religiösem oder weltanschaulichem bezug entgelte zu verlangen.<br />

In der entscheidung ging es aber allein darum, ob eine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft<br />

den Schutz des art. 4 gg verliert, wenn sie für


53 (2008) Rechtsprechung<br />

355<br />

güter oder dienstleistungen mit einem unmittelbaren bezug zu ihrer Religion<br />

oder Weltanschauung (beispielsweise für die unterrichtung in den lehren der<br />

gemeinschaft) entgelte verlangt, wenn sie also – anders gewendet – ihr religiöses<br />

oder weltanschauliches bekenntnis kommerzialisiert. daß eine Religionsgemeinschaft<br />

für die benutzung ihrer einrichtungen und für sonstige leistungen an<br />

ihre Mitglieder oder an dritte entgelte verlangen kann, ist auch nach der entscheidung<br />

des bundesverwaltungsgerichts eine Selbstverständlichkeit. damit ist<br />

indes nichts über die hier allein interessierende Frage gesagt, welcher rechtlichen<br />

gestaltungen sie sich zur Regelung der entgeltpflicht und der entgelthöhe sowie<br />

zur durchsetzung ihres entgeltanspruchs bedienen darf. Seinerzeit ging es um<br />

eine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft, die in der Form eines eingetragenen<br />

privatrechtlichen Vereins organisiert war und schon aus diesem grund<br />

sich für die erhebung von entgelten für ihre leistungen nur privatrechtlicher<br />

Formen bedienen konnte (Vertrag, allgemeine geschäftsbedingungen).<br />

bb) daß eine Religionsgemeinschaft mit dem Status einer Körperschaft<br />

des öffentlichen Rechts die erhebung von entgelten für leistungen (Verwaltungstätigkeit)<br />

gegenüber dritten generell hoheitlich gestalten kann, läßt<br />

sich nicht dem urteil des bundesverfassungsgerichts vom 19.12.2000 – 2 bvR<br />

1500/97 – (bVerfge 102, 370 [388]) entnehmen.<br />

nach dieser entscheidung werden den korporierten Religionsgemeinschaften<br />

mit dem Körperschaftsstatus zwar bestimmte hoheitliche befugnisse übertragen,<br />

sowohl gegenüber ihren Mitgliedern als auch anderen gegenüber. das bundesverfassungsgericht<br />

spricht indes nur von bestimmten hoheitlichen befugnissen<br />

und nennt, soweit es um solche gegenüber anderen geht, ausschließlich die<br />

Widmungsbefugnis. den korporierten Religionsgemeinschaften steht als ausprägung<br />

des Körperschaftsstatus auch die befugnis zu, Teilen ihres Vermögens<br />

als sogenannten res sacrae den Status einer öffentlichen Sache zu verleihen.<br />

diese Widmung wirkt dinglich und damit auch gegenüber dritten.<br />

cc) entgegen der auffassung der bekl. läßt sich aus der von ihr angeführten<br />

entscheidung des bundesverfassungsgerichts vom 14.12.1965 – 1 bvR 413,<br />

416/60 – (bVerfge 19, 206 [217]) nicht herleiten, daß den korporierten Religionsgemeinschaften<br />

mit der Verleihung des Körperschaftsstatus ein unbegrenztes<br />

Recht verliehen ist, gebührenrechtliche Vorschriften zu erlassen.<br />

das bundesverfassungsgericht spricht zwar davon, die Religionsgesellschaften<br />

könnten beiträge und gebühren aus eigenem Recht gemäß art. 137 abs. 3<br />

WRV erheben; sie könnten die erhebung solcher beiträge selbständig und ohne<br />

einmischung des Staates ordnen und verwalten. dabei geht es ersichtlich um<br />

Mitgliedsbeiträge als alternative zu Kirchensteuern, insbesondere für die nicht<br />

korporierten Religionsgemeinschaften. Soweit das bundesverfassungsgericht<br />

auch gebühren erwähnt, ist nichts darüber gesagt, in welchen Fällen einseitig<br />

hoheitlich gebühren gegenüber außenstehenden dritten erhoben werden können.<br />

d) Keiner entscheidung bedarf, ob und gegebenenfalls in welchen anderen<br />

Fällen eine korporierte Religionsgemeinschaft dritte zu gebühren heranziehen<br />

kann. Für die (auch in der mündlichen Verhandlung) erörterten beispielsfälle ist<br />

gesondert zu untersuchen, ob der korporierten Religionsgemeinschaft für den


356 Rechtsprechung<br />

ZevKR<br />

jeweiligen gegenstand eine Rechtsetzungsbefugnis zusteht. So mag die befugnis,<br />

Teilen des Vermögens durch Widmung den Status einer öffentlichen Sache zu<br />

verleihen, mit der befugnis verbunden sein, die benutzung der so geschaffenen<br />

öffentlichen Sachen auch öffentlich-rechtlich auszugestalten.


lITeRaTuR<br />

Slenczka,Notger, der Tod gottes und das leben des Menschen.<br />

glaubensbekenntnis und lebensvollzug. göttingen: Vandenhoeck &<br />

Ruprecht. 2003. 335 S.<br />

bei dem hier anzuzeigenden, mit schwer zu verstehendem Titel und untertitel<br />

versehenen buch des berliner Systematikers handelt es sich um eine aufsatzsammlung.<br />

Kirchenrecht im engeren Sinne kommt hier nicht vor. leser und leserinnen<br />

erhofft sich der Verfasser „unter Pfarrerinnen und Pfarrern, lehrerinnen und<br />

lehrern, unter Studierenden der Theologie und interessierten gemeindegliedern“.<br />

unter letzterem nur sind die leser unserer Zeitschrift also angesprochen, die für<br />

die rechtliche Ordnung der Kirche zuständig sind. Interessant sind die abhandlungen<br />

alle. eine anzahl behandelt grundfragen, die zum Interessenbereich der<br />

leser dieser Zeitschrift gehören und erstaunlich aktuelle aspekte enthalten. das<br />

gilt insbesondere für die fünf im ersten Kapitel „grundlagen“ und die drei im<br />

zweiten Kapitel „Warnungen“ abgedruckten abhandlungen und die ausführungen<br />

im vierten Kapitel zu Fragen der Sonntagsheiligung.<br />

Zunächst behandelt der Vf. das „Verhältnis von glaube und bekenntnis“<br />

(S. 16 ff.), „Überlegungen zum Schriftprinzip“ (S. 39 ff.) und „die bekenntnisschriften<br />

als Schlüssel zur Schrift“ (S. 65). die entstehung von bekenntnissen<br />

überhaupt, ihre Funktion als erkennungszeichen und abgrenzung, ihre ausgestaltung<br />

und insbesondere ihre Mitte, nämlich das bekenntnis zu Jesus von<br />

nazareth als herrn und als gott, werden lebendig und fesselnd dargestellt. unter<br />

„gegenwart des bekenntnisses“ werden die vielfach empfundenen modernen<br />

Verstehensprobleme seit dem apostolikumstreit (1890) behandelt. der Vf. zeigt,<br />

wie das richtige auf die Mitte ausgerichtete Verständnis hilft, die bekenntnisse in<br />

ihrer auch heute unverzichtbaren Funktion schätzen zu lernen. das wird in Überlegungen<br />

zum „Schriftprinzip“ und zur behauptung der „Klarheit der Schrift“<br />

bei luther vertieft und dann an hand der lutherischen bekenntnisse der Reformationszeit<br />

noch einmal aufgenommen. Mit Strenge sagt der Vf. den zahlreichen<br />

Zeitgenossen, die dazu neigen, hier nur Verstaubtes und Überholtes zu vermuten:<br />

„Jede Problematisierung des geltungsanspruches der lutherischen bekenntnisse<br />

setzt voraus, daß man sich mit diesem anspruch vertraut macht, und zwar nicht<br />

nur mit dem geltungsanspruch, den die grundordnungen der meisten lutherischen<br />

Kirchen formulieren, sondern mit dem geltungsanspruch, den bekenntnisschriften<br />

selbst erheben“ (S. 67). das exempliziert der Vf. in ebenso knapper wie<br />

klarer Weise an der Ca als Zentrum der bekenntnisschriften, insbesondere an art.<br />

VII (Kirche) als „organisierendes Zentrum“ zwischen art. I–VI (Christologie) und<br />

art. VIII–XIII (Sakramentenlehre). der Vf. lehrt Wichtiges von Zeitgebundenem<br />

zu unterscheiden, was die Verpflichtung der Pfarrer auf die bekenntnisschriften<br />

Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, band 53 (2008) S. 357–374<br />

© <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> – ISSn 0044–2690


358 Literatur<br />

ZevKR<br />

überhaupt erst möglich macht. entsprechend leitet der Vf. den leser zum Zentrum<br />

des Konkordienbuches und auf das bekenntnis als hinführung zur eigenständigen<br />

Schriftlektüre (S. 87 f.).<br />

ein zweiter Komplex von aufsätzen befaßt sich mit dem Verhältnis von Judentum<br />

und Christentum. antinazistischer politischer eifer gepaart mit mangelhafter<br />

theologischer bildung haben hier bekanntlich zu peinlichen umarmungen der<br />

Juden und zu skandalösen Formulierungen in öffentlichen Papieren bis hin zur<br />

Rheinischen Kirchenordnung geführt: die aktualität der bestimmung des Verhältnisses<br />

von altem Testament und neuem Testament und der bemerkungen zur<br />

neuen Israel-Theologie liegen auf der hand.<br />

der Vf. skizziert die bedeutung der entstehung des Konzepts einer Theologie<br />

des alten Testaments. Manchen Zeitgenossen erscheint sie dank dem christlichen<br />

„canonical approach“ als im Keim schon antijudaistisch. Slenczkas zusammenfassende<br />

ausführungen beruhen auf der theologischen Voraussetzung, daß das alte<br />

Testament durch das neue Testament entsteht. das neue Testament bildet den<br />

abschluß eines Traditionsprozesses, der wesentlich eine einheit, ein Kontinuum<br />

sei (S. 93). das aT hat demnach eine doppelte, nämlich christliche und jüdische<br />

Wirkungsgeschichte. die dem bibelleser vertrauten auseinandersetzungen im nT<br />

waren innerjüdisch. es ging um die Frage, was das Jude-Sein konstituiert. Paulus<br />

vertrat dabei den Standpunkt, daß der glaube an Christus die gestalt sei, in der<br />

das Judentum fortlebe (S. 105). und so sei das alte Testament zu lesen.<br />

die aktuellen aufregungen gutartiger Israel-Freunde werden S. 111 ff. („Jesus<br />

Christus und der Israel-bund. bemerkungen zur neueren Israel-Theologie“) eingehend<br />

und in hilfreicher Klarheit dargestellt. „unter dem eindruck von auschwitz“<br />

haben „die Vertreter der neueren Israel-Theologie die schweigende Toleranz liberaler<br />

Vertreter des Judentums und die Zustimmung von Synodenmehrheiten nur<br />

um den Preis des Streites mit den starken Minderheiten in den Synoden und um<br />

den Preis der schweigenden Verachtung für ihre Thesen seitens des orthodoxen<br />

Judentums erhalten. der Streit um gott wird also auch von den Israel-Theologen<br />

nicht geschlichtet, sondern lediglich anderswohin verschoben“ (S. 121).<br />

ein dritter Komplex scheint mir für unsere leser wichtig, nämlich die behandlung<br />

der „deutschen Christen“ im dritten Reich, die heute in der identitätsstiftenden<br />

erinnerung und in Siegergeschichten in Tradition der bekennenden Kirche<br />

(S. 164) als nationalsozialistische Scheusale dargestellt werden. In zwei abhandlungen<br />

(„Kirche zwischen Identität und Relevanz“ [S. 127 ff.] und „das theologische<br />

Programm der ‚deutschen Christen‘ im dritten Reich. historische Überlegungen<br />

mit aktueller abzweckung“ [S. 163 ff.]) zeigt der Vf., daß diese zunächst<br />

eher unpolitische bewegung sich aus dem bedrängenden bewußtsein speiste, daß<br />

Identität und Relevanz der Kirche drastisch zurückgegangen seien. Mit der nSbewegung<br />

schien auch ihnen ein neues Zeitalter angebrochen und damit neue<br />

Chancen gegeben. die deutschchristlichen Theologen sahen sich hierbei im gegensatz<br />

zum establishment der landeskirchen als anwälte des lebendigen und Vorwärtsdrängenden.<br />

Wie bei anderen klugen und weniger klugen deutschen war das<br />

Votum der dC für den nationalsozialismus „kein eigentlich politisches Votum,<br />

sondern ein weltanschauliches Votum gegen die von entwurzelung und haltlosigkeit<br />

geprägte epoche der neuzeit, für eine erneuerung, in der die ursprüng-


53 (2008) Literatur<br />

359<br />

lichen Kräfte lebendig werden, die das ganze des Volkes tragen und in denen<br />

sich letztlich der Wille und anspruch gottes meldet. dieses grundmotiv ist in<br />

allen deutschchristlichen Veröffentlichungen greifbar.“ (S. 169 f.). Sie wollten<br />

mit anderen Worten die modernitätsspezifischen entfremdungserfahrungen mit<br />

gottes Volksgemeinschaft überwinden und verbanden damit Kapitalismus- und<br />

Modernekritik. geistige Vorläufer, wie z. b. Paul Anton de Lagarde (1827–1891)<br />

hatten damit bei Wertkonservativen und Modernitätsmüden europaweit große<br />

Resonanz gefunden.<br />

empfunden wurde also vor allem die volksmissionarische Chance. entsprechend<br />

war die Programmatik des kurzen blütenfrühlings, die aus gründen, die<br />

nach 1960 urständ feierten, in ein Programm der „Kontextualisierung des evangeliums“<br />

führte. Wichtig erscheint mir, daß auslöser ein von vielen geteiltes Krisenempfinden<br />

war, in dem die Jungen das verstaubte Kirchentum missionarisch<br />

erneuern wollten. das ende ist bekannt. erforderliche „anfragen“ stellt der Vf.<br />

S. 176 ff.<br />

Schließlich ist noch auf die abhandlung S. 262 hinzuweisen: „das göttliche<br />

gebot der Feiertagsheiligung und das staatliche Verbot der Sonntagsarbeit“. Von<br />

besonderem Interesse für den Juristen sind hier bemerkungen zur geschichte des<br />

staatlichen Sonntagsschutzes. entgegen verbreiteter Vermutung wurde der Sonntag<br />

von Kaiser Konstantin im Jahr 321 gerade nicht mit exklusiv christlicher Füllung<br />

etabliert, was ihn heute problematisch erscheinen lassen könnte. Im gegenteil<br />

war der religiöse Sinn von Konstantin absichtsvoll nicht eindeutig gewählt. er ließ<br />

den Christen Raum für ihr Verständnis, berücksichtigte aber andere Religionen<br />

und das heidentum auch. danach stand die Möglichkeit des gottesdienstbesuches<br />

für Christen im Mittelpunkt, nicht die enthaltung von arbeit. die begründung<br />

des Sonntags war gar nicht so fern von der unserer heutigen Verfassung, die<br />

vor allem den Rhythmus der alltagsarbeit durch einen Tag „seelischer erhebung“<br />

unterbrochen sehen will. bemerkungen zum Sinn der Sonntagsheiligung sind lohnend,<br />

Slenczkas Folgerungen beherzigenswert.<br />

Jedem, der überhaupt ein theologisches buch in die hand nimmt, kann zur<br />

lektüre geraten werden: er wird auf angenehm lebendige Weise belehrt und er<br />

wird sein Tagesgeschäft mit anderen augen sehen.<br />

Axel von Campenhausen<br />

S t r o h m , Christoph/Freedman, Joseph S./Selderhuis, Herman J.: Späthumanismus<br />

und reformierte Konfession. Theologie, Jurisprudenz und<br />

Philosophie in heidelberg an der Wende zum 17. Jahrhundert. Spätmittelalter<br />

und Reformation, neue Reihe, bd. 31. Tübingen: <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong>.<br />

2006. 374 S.<br />

die elf autoren dieses Sammelbandes gehen der Frage nach, ob und in welcher<br />

Weise konfessionelle Orientierungen am ende des 16. Jahrhunderts in der Theologie,<br />

Jurisprudenz und Philosophie an der universität heidelberg einen nieder-


360 Literatur<br />

ZevKR<br />

schlag gefunden haben. die ein zelnen beiträge gehen auf ein Symposium zurück,<br />

das im Rahmen des Forschungspro gramms „Kulturwirkungen des reformierten<br />

Protestantismus“ stattfand. Sie untersuchen die Situation an der universität<br />

heidelberg, da heidelberg bis zur eroberung durch spani sche Truppen 1622 das<br />

geistige Zentrum des reformierten Protestantismus war. drei Faktoren spielten<br />

dabei eine Rolle: hof, Regierung und universität befanden sich an einem Ort und<br />

aus konfessionellen gründen (der reformierten Konfession in der Kurpfalz) wurde<br />

die geistig-politische elite weit über den bereich des Territoriums rekrutiert und<br />

außerdem zog die biblioteca Palatina gelehrte aus vielen herren länder an. 1 die<br />

universität war mit dem calvinis tisch-exulantischen Profil (ausländeranteil von<br />

1584 bis 1620 durchschnittlich 36,1 %) zu einer echten europäischen Spitzenuniversität<br />

avanciert. 2<br />

bei den Theologen wird eine klare konfessionlle abgrenzung sichtbar, die sich<br />

gegen die sog. gnesiolutheraner und das luthertum der Konkordienformel wendet,<br />

nicht jedoch gegen das melanchthonisch gesinnte luthertum.<br />

die Juristen in heidelberg waren in großer Mehrheit der reformierten Konfession<br />

verbunden. In dem vorliegenden band liest Mahlmann die Prädestinationslehre<br />

georg Sohns (1551–1589) juristisch. 3 Döring widmet sich Samuel Pufendorf<br />

und der heidelberger universität in der Mitte des 17. Jahrhunderts 4 und Strohm<br />

gibt einen Überblick über weltanschaulich-konfes sionelle aspekte im Werk heidelberger<br />

Juristen. 5<br />

die Juristen in heidelberg grenzten sich scharf gegenüber dem „Papismus“<br />

und seinen welt lichen helfershelfern ab. auf innerprotestantische abgrenzungen<br />

wird nahezu völlig verzich tet. die Juristen kritisieren fast durchgängig das ärgerliche<br />

„Theologengezänk“. die etiketten „calvinistisch“ oder „reformiert“ sind in<br />

dieser hinsicht also wenig aussagekräftig. Charakte ristisch für das heidelberger<br />

gelehrtenmilieu zu jener Zeit ist die tiefe Verbundenheit mit der humanistischen<br />

gedankenwelt und die starke Präsenz westeuropäischer beziehungen und erfahrungshorizonte<br />

durch das regierende Fürstenhaus und die besetzungspolitik an<br />

der universität. es liegt ein eher historisch orientierter, gelehrter Sammelband vor,<br />

der aber auch von Juristen zur Kenntnis genommen werden sollte.<br />

Arno Schilberg<br />

1 Wolgast, geistiges Profil und politische Ziele des heidelberger Späthumanismus,<br />

in: Strohm u. a. (hrsg.) Späthumanismus, S. 1 (7 f.).<br />

2 Zwierlein, heidelberg und „der Westen“ um 1600, in: Strohm u. a. (hrsg.) Späthumanismus,<br />

S. 27 (38).<br />

3 S. 255–291.<br />

4 S. 293–323.<br />

5 S. 327–358.


53 (2008) Literatur<br />

361<br />

Mosbacher, Wolfgang: Sonntagsschutz und ladenschluß. der verfassungsrechtliche<br />

Rahmen für den ladenschluß an Sonn- und Feiertagen<br />

und seine subjektiv-rechtliche dimension. berlin: duncker &<br />

humblot. 2007. 417 S.<br />

die diagnose ist eindeutig: der Sonntag ist in gefahr! derzeit findet ein fortgesetzter<br />

angriff auf den Sonntagsschutz statt in gestalt von zumeist wirtschaftspolitischen<br />

und wirtschafts rechtlichen aktivitäten, die auf eine Relativierung des<br />

Sonntags als Tag der besinnung und der arbeitsruhe gerichtet sind. Für dieses<br />

Phänomen gibt es gründe bzw. hintergründe, die sich zu einer „Krise des Sonntags“<br />

bzw. zu einer „Sinnkrise des Sonn- und Feiertagsschutzes“ ver dichtet haben.<br />

Zu den tatsächlichen gründen zählen die fort schreitende Säkularisierung des<br />

öffentlichen und privaten lebens, die zunehmende Pluralisierung der religiösen<br />

lebenswelt in europa, die expandierende Kommerzialisierung der Sonn- und<br />

Feiertage und ein verändertes Frei zeit verhalten. die rechtliche dimension dieses<br />

bedeutungsverlustes offenbart sich zum einen in der normsetzenden Tätigkeit des<br />

gesetz- oder Verordnunggebers. hier ist eine zunehmende liberalisierung zu verzeichnen,<br />

die in eine schleichende aufweichung des Sonntagsschutzes zu münden<br />

droht. dieses gefährdungspotential wird – zum anderen – noch vermehrt durch<br />

die anhaltende Tendenz zu einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis, die oft nur<br />

durch die anrufung der Ver wal tungs ge richtsbarkeit eingefangen werden kann.<br />

Für beide aspekte ist die aktuelle entwicklung des ladenschlußrechts paradigmatisch.<br />

So verwundert es nicht, daß das Verhältnis zwischen dem verfassungsrechtlich<br />

gebotenen Sonntagsschutz und dem ladenschlußrecht derzeit nicht nur die<br />

gerichtsbarkeit und hier insbesondere das bVerfg beschäftigt, sondern auch die<br />

aufmerksamkeit der literatur in zunehmendem Maße auf sich zieht. In der jüngsten<br />

Vergangenheit ist eine Reihe von Monographien zu diesem Thema erschienen<br />

1 , so daß die (vergleichsweise übliche) bemerkung in der arbeit von Wolfgang<br />

Mosbacher, damit solle eine „lücke“ in der wissenschaftlichen bearbeitung des<br />

Spannungsverhältnisses zwischen Sonntagsschutz und ladenschluß geschlossen<br />

werden (S. 25), zumindest fragwürdig ist. Im aktuellen Stadium der diskussion ist<br />

allerdings jeder beitrag willkommen, der in systematischer Weise die Konfliktfelder<br />

bearbeitet und daraus dogmatische Früchte zieht. Schon unter diesem aspekt<br />

und losgelöst von der Frage, ob die dargebotenen Früchte auch hinreichend ausgereift<br />

und schmackhaft sind, ist die lektüre dieser bei Gunnar Folke Schuppert<br />

in berlin entstandenen dissertation lohnenswert.<br />

die arbeit ist in fünf Teile untergliedert. der 1. Teil (S. 28–85) liefert einen<br />

detaillierten und soliden Überblick über die geschichte des Sonntags als Feiertag<br />

und die entwicklung der rechtlichen grundlagen zu seinem Schutz von der<br />

antike bis zur gegenwart. erwähnenswert ist die erläuterung des umstands, daß<br />

das ladenschlußrecht in der ehemaligen ddR nur von geringer bedeutung war:<br />

1 u.a. Westphal: garantie der Sonn- und Feiertage als grundlage subjektiver Rechte,<br />

2003; Stollmann: der Sonn- und Feiertagsschutz nach dem grundgesetz, 2004; Grube:<br />

der Sonntag und die kirchlichen Feiertage zwischen gefährdung und bewährung,<br />

2003.


362 Literatur<br />

ZevKR<br />

„ladenöffnungszeiten sind stets auch vor dem hintergrund der konkreten Verfügbarkeit<br />

von Produkten im handel zu sehen“ (S. 62).<br />

der 2. Teil (S. 86–206) ist der analyse des „verfassungsrechtlichen Rahmens für<br />

Sonntagsschutz und ladenschluß“ gewidmet. die dogmatik zu der einschlägigen<br />

Zentralnorm des art. 140 gg i.V.m. art. 139 WRV ist gegenstand des 1. Kapitels<br />

(S. 86–108). die Rechtsnatur dieser Vorschrift wird mit dem begriff der „einrichtungsgarantie“<br />

beschrieben und demzufolge der „Sonntag als öffentlich-rechtliche<br />

einrichtung“ bezeichnet (S. 89). erst an späterer und über das Stichwortverzeichnis<br />

nicht zu erschließender Stelle (S. 295) erfolgt ein hinweis darauf, daß die „existenzberechtigung“<br />

dieser Rechtsfigur jedenfalls in Teilen der literatur inzwischen<br />

bezweifelt wird; eine inhaltliche auseinandersetzung mit dieser auffassung unterbleibt.<br />

bei der erörterung des Schutzumfangs des art. 139 WRV wird zwischen<br />

einem Kern- und einem Randbereich unterschieden. Während jeder eingriff in den<br />

Kernbereich unmittelbar die Verfassungswidrigkeit der betreffenden Maßnahme<br />

bedeute, komme dem gesetzgeber im Randbereich eine weite ausgestaltungsfreiheit<br />

zu (S. 100). dem Problem einer trennscharfen abgrenzung zwischen Kern-<br />

und Randbereich wird mit einer auflistung von Materien, die dem Kernbereich<br />

zuzuordnen seien, begegnet. Zum Kernbereich sollen zählen (S. 95–97): (1.) eine<br />

angemessene Mindestzahl von staatlich anerkannten Feiertagen und darunter (2.)<br />

eine angemessene Mindestzahl von religiösen Feiertagen; (3.) die Stellung gerade<br />

des Sonntags als Tag der arbeitsruhe und der seelischen erhebung; (4.) die Sieben-Tage-Woche;<br />

(5.) das grundsätzliche Verhältnis „arbeitsruhe an Sonn- und<br />

Feiertagen“ – „arbeit an Werktagen“ und (6.) die Freiheit der Sonn- und Feiertage<br />

vom werktäglichen Charakter. Ob damit das abgrenzungsproblem tatsächlich<br />

zufrieden stellend gelöst ist, mag dahinstehen. Reizvoll wäre es jedenfalls gewesen,<br />

die vertrauten Pfade, die zur dogmatik der vermeintlichen einrichtungsgarantien<br />

führen, zu verlassen und art. 140 gg i.V.m. art. 139 WRV unter dem aspekt der<br />

Schutzpflichtendimension der Religionsfreiheit aus art. 4 abs. 1 und 2 gg zu<br />

betrachten; darauf wird zurückzukommen sein.<br />

Im 2. Kapitel (S. 108–162) wird die materielle Verfassungsmäßigkeit des<br />

Sonntagsschutzes in den aktuellen ladenschluß- bzw. ladenöffnungsgesetzen<br />

untersucht. Zutreffend wird festgestellt, daß die einschlägigen grundrechte der<br />

ladeninhaber, der arbeitnehmer und der Verbraucher auch vor dem hintergrund<br />

der eingangs erwähnten, veränderten tatsächlichen Rahmenbedingungen nicht<br />

verletzt sind.<br />

das 3. Kapitel (S. 163–206) geht der Frage nach, ob die vollständige abschaffung<br />

des einfachgesetzlichen ladenschlußgebotes an Sonntagen verfassungsgemäß<br />

wäre. Im ergebnis zutreffend wird diese Frage verneint: die einschlägigen Regelungen<br />

des arbeitszeitgesetzes, die Sonn- und Feiertagsgesetze und die Tarifvereinbarungen<br />

können im Vergleich zum Schutzniveau des ladenschlußrechts „kein<br />

gleichwertiges Maß an Sonntagsschutz gewährleisten“ (S. 197). die abschaffung<br />

des Sonntagsschutzes in den ladenöffnungsgesetzen sei daher zumindest „unverhältnismäßig“.<br />

bemerkenswert ist (nicht nur) in diesem Zusammenhang die Mitteilung,<br />

daß empirischen untersuchungen zufolge „die lockerung des ladenschlusses<br />

an Sonntagen kein geeignetes Mittel zur Schaffung von arbeitsplätzen<br />

ist“ (S. 168). nach der Feststellung, daß eine vollständige abschaffung des Sonn-


53 (2008) Literatur<br />

363<br />

tagsschutzes nicht in betracht kommt, stellt sich das Folgeproblem, ob für die in<br />

den ladenöffnungsgesetzen vorhandenen ausnahmeregelungen eine verbindliche<br />

„höchstzahl“ für verkaufsoffene Sonntage ermittelt werden kann (S. 201 f.). Zur<br />

berechnung wird ein drittel-Kriterium vorgeschlagen: Wenn an einem drittel der<br />

Sonntage – also ab etwa 20 Sonntagen im Jahr – die ladenöffnung erlaubt werde,<br />

liege eine offensichtlicher Verstoß gegen den verfassungsrechtlich gebotenen Sonntagsschutz<br />

vor; ab etwa 15 verkaufsoffenen Sonntagen beginne der „verfassungsrechtlich<br />

problematische bereich“. die erlaubnis, wie in berlin an 10 Sonntagen<br />

die läden geöffnet zu halten, sei daher unter keinen umständen verfassungswidrig.<br />

Ob sich diese berechnung durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. auffällig ist<br />

jedoch, daß die verfassungsrechtliche legitimität der umfangreichen ausnahmeregelungen<br />

zum Sonntagsschutz nicht hinreichend hinterfragt wird. gerade<br />

angesichts der laufenden – auch (verfassungs-)gerichtlichen – Klärungsprozesse<br />

wären vertiefte und kritische Überlegungen zur Verfassungsmäßigkeit etwa der<br />

bäderregelungen in Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-holstein mit der<br />

Möglichkeit einer generellen Freigabe der ladenöffnung vom 15. dezember bis<br />

zum 31. Oktober (§ 9 abs. 1 ladenöffnungszeitengesetz Schleswig-holstein) hilfreich<br />

gewesen. die abschließende Feststellung, daß die einschlägigen ausnahmetatbestände<br />

insgesamt „auf sachlichen gründen“ beruhen (S. 392), greift zu kurz.<br />

angesichts der zutreffend herausgehobenen religiösen bedeutung des Sonntagsschutzes<br />

dürfte zudem die These, daß zwar nicht an allen, aber zumindest an zwei<br />

adventssonntagen eine allgemeine ladenöffnung erfolgen dürfe (S. 202 ff.), nicht<br />

zu halten sein.<br />

der 3. Teil (S. 207–293) beleuchtet den „Sonntagsladenschluß im bundländer-Verhältnis“,<br />

und hier zunächst die neuverteilung der gesetzgebungskompetenz<br />

für das ladenschlußrecht nach der Verfassungsänderung vom 01.<br />

September 2006 im Zuge der Föderalismusreform. neben den ausführungen<br />

zur partiellen Fortgeltung des § 17 bladSchlg ist die Feststellung nebst belegen<br />

bemerkenswert, daß länderbehörden in den letzten Jahren offensichtlich „aktiv<br />

ausnahmetatbestände des ladenschlußgesetzes überdehnen (aktive Vollzugfehler)<br />

oder passiv gegen rechtswidrige Zustände nicht einschreiten (passive Vollzugsfehler)“<br />

(S. 276). dieses erhebliche Vollzugsdefizit beim Sonntagsschutz ist nicht<br />

nur aus rechtsstaatlicher Perspektive bedenklich.<br />

der 4. Teil (S. 294–364) wendet sich der hoch umstrittenen Frage zu, ob und<br />

ggf. in welchem umfang die Regelungen zum Sonntagsschutz subjektiv-öffentliche<br />

Rechte vermitteln, und damit in prozessualer hinsicht zur einklagbarkeit<br />

des Sonntagsschutzes führen. Im 1. Kapitel (S. 294–344) wird zunächst unter<br />

Zugrundelegung der aus dem Verwaltungsprozessrecht bekannten Schutznormtheorie<br />

der subjektiv-rechtliche Status des art. 140 gg i.V.m. art. 139 WRV herausgearbeitet.<br />

Insofern handele es sich um ein Freiheitsrecht mit nicht-grundrechtlichem<br />

Status. dieses subjektive Recht auf Sonntagsschutz stehe allen natürlichen<br />

und juristischen Personen – auch nicht-christlichen Religionsgemeinschaften – zu.<br />

das ergebnis dieser erörterungen läuft zwar der noch überwiegenden auffassung<br />

in der literatur zuwider, ist aber gleichwohl zu begrüßen. allerdings hätten sich<br />

manche gedanklichen Winkelzüge im Zusammenhang mit der „nicht-grundrechtlichen<br />

Freiheitsrecht“-These und in der „Schutznorm“-argumentation vermeiden


364 Literatur<br />

ZevKR<br />

lassen, wenn der subjektiv-rechtliche Charakter des Sonntagsschutzes dogmatisch<br />

auf die Schutzpflichtendimension der Religionsfreiheit aus art. 4 abs. 1 und 2<br />

gg gegründet worden wäre. die zutreffende bemerkung, daß mit art. 139 WRV<br />

„Rahmenbedingungen für die durch art. 4 abs. 1 und 2 gg geschützte Religionsfreiheit<br />

gesichert“ werden (S. 315) sowie der „Rückgriff auf die Kategorien der allgemeinen<br />

grundrechtsdogmatik“ bei der analyse des Inhalts des Rechts auf Sonntagsschutz<br />

(S. 327) weisen bereits deutlich in diese Richtung. ein konsequentes<br />

Fortschreiten auf diesem dogmatischen Weg hätte auch in prozessualer hinsicht<br />

segensreiche Folgewirkungen gezeitigt: es hätte die erkenntnis reifen können, daß<br />

Verstöße gegen den Sonntagsschutz – auch in gesetzesform – mit hilfe der Verfassungsbeschwerde<br />

vor dem bVerfg unterbunden werden können (anders aber<br />

S. 337). Ferner gerät die vermeintliche einordnung des art. 139 WRV als nichtgrundrechtliches<br />

Freiheitsrecht in Kollision mit der These von der Subsidiarität<br />

des art. 2 abs. 1 gg (S. 341), die nur im Verhältnis zu anderen Freiheitsgrundrechten<br />

bestehen kann. Schließlich ist auf einige diskussionswürdige Marginalia<br />

hinzuweisen wie etwa auf die These, daß die religiöse dimension des Sonntagsschutzes<br />

auf kultische handlungen wie gottesdienste beschränkt sei (S. 340). Festzuhalten<br />

bleibt jedenfalls das zutreffende ergebnis, daß der verfassungsrechtlich<br />

verankerte Sonntagsschutz ein subjektives öffentliches Recht vermittelt.<br />

Im 2. Kapitel (S. 344–364) wird der subjektiv-rechtliche Charakter des einschlägigen<br />

einfach-gesetzlichen Sonntagsschutzes untersucht. neben den Sonntagsschutzklauseln<br />

in den lan desverfassungen vermitteln für die arbeitnehmer<br />

auch zahlreiche Vorschriften aus dem ladenschluß- und arbeitszeitrecht entsprechende<br />

Rechtspositionen. Für die Religionsgemeinschaften sind darüber hinaus<br />

auch die Vereinbarungen in den Staatskirchenverträgen relevant.<br />

Im 5. Teil (S. 365–389) werden schließlich die europarechtlichen aspekte des<br />

Sonntagsschutzes beleuchtet. die Überprüfung des Zulässigkeit mitgliedsstaatlicher<br />

Sonntagsschutzregelungen am Maßstab der – gegenwärtigen und im Zuge<br />

des eu-Änderungsvertrages zu erwartenden – Warenverkehrs-, niederlassungs-<br />

und dienstleistungsfreiheit führt zu dem zutreffenden ergebnis, daß aus gemeinschaftsrechtlicher<br />

Perspektive keine bedenken bestehen.<br />

Insgesamt hinterlässt die lektüre einen zwiespältigen eindruck: neben eigenständigen<br />

und innovativen Standpunkten zu einem gegenwärtig stark diskutierten<br />

Thema des Religionsverfassungsrechts steht die frag- und klaglose Rezeption von<br />

Thesen, die längst in die Kritik geraten sind. das buch von Wolfgang Mosbacher<br />

kann gleichwohl als „Meilenstein“ bezeichnet werden, denn die anhaltende diskussion<br />

um den Sonntagsschutz und den ladenschluß ist nunmehr um einen Orientierungspunkt<br />

reicher. Ob dieser Meilenstein zugleich zum Schlußstein taugt,<br />

darf allerdings bezweifelt werden.<br />

Peter Unruh


53 (2008) Literatur<br />

365<br />

To w f i g h , Emanuel Vahid: die rechtliche Verfassung von Religionsgemeinschaften<br />

– eine untersuchung am beispiel der bahai. Jus ecclesiasticum,<br />

bd. 80. Tübingen: <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong>. 2006. 269 S.<br />

die Religionsgemeinschaft der bahai gehört ihrem namen nach zum Standardrepertoire<br />

jedes am deutschen Religionsverfassungsrecht Interessierten. das bundesverfassungsgericht<br />

hat in seinem gleichnamigen beschluß aus dem Jahr 1991<br />

nicht nur die verfassungsrechtlichen Modifikationen des bürgerlichen Vereinsrechts<br />

in seiner anwendung auf religiöse Vereine konkretisiert; es hat vor allem<br />

auch das Wechselspiel zwischen staatlicher definitionskompetenz und religionsgemeinschaftlichem<br />

Selbstverständnis im Rahmen der korporativen Seite der Religionsfreiheit<br />

austariert. nach dem oft bemühten ersten leitsatz des beschlusses<br />

vermögen allein die behauptung und das Selbstverständnis, eine gemeinschaft<br />

bekenne sich zu einer Religion und sei eine Religionsgemeinschaft, für diese und<br />

ihre Mitglieder die berufung auf die Freiheitsgewährleistung des art. 4 abs. 1<br />

und 2 gg nicht zu rechtfertigen; vielmehr müsse es sich auch tatsächlich nach<br />

geistigem gehalt und äußerem erscheinungsbild, um eine Religion und Religionsgemeinschaft<br />

handeln. Für die bahai sah das gericht diese Voraussetzungen als<br />

gegeben an. außer den dürren angaben im Sachbereich des beschlusses und dem<br />

gleichfalls dürftigen vereinsrechtlichen Skelett erfuhr man über die Religion der<br />

bahai indes nichts; ob und inwieweit sich ihr weltliches Kleid, ihre Organisationsstruktur<br />

über den streitgegenständlichen örtlichen Verein hinaus in das religionsverfassungsrechtliche<br />

Formenangebot unter den dynamischen religionssoziologischen<br />

bedingungen der gegenwart einfügen ließe, blieb weitgehend im dunkel.<br />

es ist das Verdienst der hier anzuzeigenden arbeit – einer von Janbernd Oebbecke<br />

betreuten Münsteraner dissertation – zu versuchen, beiden desiderata<br />

abzuhelfen. Emanuel Towfigh unternimmt einen „atypischen Rechtsvergleich“:<br />

gegenstand der untersuchung soll die „Verfassung von Religionsgemeinschaften<br />

einerseits nach dem deutschen Recht und andererseits nach dem religiösen<br />

binnenrecht der Religionsgemeinschaft der bahai“ (Vorwort) sein. die rechtliche<br />

Verfassung von Religionsgemeinschaften verortet der Verfasser konsequent der<br />

„Schnittmenge beider Rechtsordnungen“ (S. 1). er setzt sich das anspruchsvolle<br />

Ziel, sich der rechtlichen Verfassung der bahai aus beiden Richtungen anzunähern.<br />

Zuvor versichert sich der Verfasser im einleitenden Teil der arbeit in<br />

einem Parforceritt wesentlicher Strukturen und der historischen hintergründe<br />

des geltenden Religionsverfassungsrechts als „Fundament und Referenzrahmen“<br />

kollektiv-religiöser betätigung (S. 5). In knappen Worten führt Towfigh von der<br />

mittelalterlichen res publica christiana, über die Reformation, das Zeitalter der<br />

aufklärung und Säkularisation, den Kulturkampf bis in die von Pluralisierung<br />

und globalisierung geprägte gegenwartslage des Religionsverfassungsrechts<br />

(S. 8–24). der historie schließt sich eine holzschnittartige Skizze der verfassungsrechtlichen<br />

garantie der individuellen und korporativen Religionsfreiheit, des<br />

religionsbezogenen diskriminierungsverbotes und des grundsatzes der religiösweltanschaulichen<br />

neutralität an (S. 24–35).<br />

diese ausführungen – mögen sie als einstimmung in das Religionsverfassungsrecht<br />

auch sinnvoll sein – haben ihren anschluss an die beantwortung der For-


366 Literatur<br />

ZevKR<br />

schungsfrage der arbeit freilich nicht recht finden können. der Verfasser schließt<br />

mit einer religionspolitischen positiven bewertung der religionsverfassungsrechtlichen<br />

architektur, mahnt indes seinerseits die Rechtswissenschaft zur politischen<br />

abstinenz.<br />

Solcherart versichert und beruhigt kann sich der leser mit dem Verfasser im<br />

zweiten hauptteil der arbeit der bahai-gemeinde in deutschland zuwenden<br />

(S. 41–121). hier entfaltet Towfigh kundig und eloquent „geschichte, glaube<br />

und lehre“ dieser jüngsten monotheistischen Offenbarungsreligion. den Schwerpunkt<br />

der erläuterungen bildet erfreulicherweise aber die systematische durchdringung<br />

von Rechtsquellen und Organisationsstrukturen der bahai. der Verfasser<br />

geht dabei unter anderem auf die Schriften des Religionsstifters bahaullah<br />

(1817–1892) ausführlich ein, die er als Kern des „ius divinum“ der bahai qualifiziert<br />

(S. 59 f.). Towfigh zeichnet das bild der bahai als einer hierarchisch strukturierten,<br />

weltweiten Religion. als zentrale leitungs- und normsetzungsorgane hebt<br />

der Verfasser die Rolle des „universalen hauses der gerechtigkeit“, der ihm nachgeordneten<br />

nationalen „geistigen Räte“ und der diesen wiederum nachgeordneten<br />

„geistigen Räte“ auf gemeindeebene hervor. Schließlich analysiert der Verfasser<br />

die gemeindestruktur der bahai als „Rechtsgemeinde“, ihre Subordination<br />

unter die übergemeindliche „Räte“-Struktur, die Rekrutierung der Mitglieder<br />

ihrer leitungsgremien durch ein gleiches und freies Wahlverfahren durch die<br />

gemeindemitglieder, des „gottesvolkes“ (S. 107). die Mitgliedschaftsrechte und<br />

-pflichten werden unter nutzung typisch religionsverfassungsrechtlichen Vokabulars<br />

klar erörtert. die deskription endet mit einem kurzen blick auf die in<br />

rechtsfähigen und nicht-rechtsfähigen Vereinen organisierten gemeinden der<br />

bahai in der bundesrepublik (S. 118–121).<br />

der zweite hauptteil der arbeit wechselt von der binnenverfassung der<br />

bahai zur staatlichen Rechtsordnung. hier unternimmt der Verfasser einen<br />

religionsverfassungsrechtlich grundierten Rechtsformenvergleich. dieser zielt<br />

letztlich darauf ab, der bahai-gemeinschaft ein passendes säkulares Kleid zu<br />

schneidern: In einem ersten Schritt subsumiert der Verfasser die bahai unter<br />

den von ihm auf dem boden gängiger dogmatik wohlbegründet konturierten<br />

begriff der Religionsgemeinschaft (S. 124–144). die Qualifikation der bahai<br />

als Religionsgemeinschaft ist ebenso prägnant wie kurz geraten (S. 144). In<br />

einem zweiten Schritt schließlich unterzieht der Verfasser aus dem Kanon<br />

der für Religionsgemeinschaften offen stehenden Rechtsformen die Körperschaft<br />

des öffentlichen Rechts, den eingetragenen Verein und erfreulicherweise<br />

auch die Stiftung und gesellschaft mit beschränkter haftung einer fundierten<br />

analyse (S. 145–162), ob sie nach gründungsaufwand und laufendem aufwand<br />

die bahai unter berücksichtigung deren selbstverständnisgegründeter Organisationsstruktur<br />

adäquat zu verfassen vermögen (S. 163 ff.). der Verfasser bewegt<br />

sich auf wohl bereitetem Feld und entfaltet namentlich die besonderheiten des<br />

religiösen Vereins nach art. 4 gg i. V. m. art. 140 gg, art. 137 abs. 4 WRV auf<br />

der basis der bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben. auch der in den letzten<br />

Jahren eingehend monographisch behandelte Körperschaftsstatus nach art. 137<br />

abs. 5 WRV wird von Towfigh nachgezeichnet – und letztlich als für die bahai<br />

vorteilhafteste Rechtsform qualifiziert (S. 228). die aufgabe der grundsätzlichen


53 (2008) Literatur<br />

367<br />

Zuordnung von staatlichem und religionsgemeinschaftlichem Ordnungsanspruch<br />

betrachtet der Verfasser im Fall der bahai unter anerkennung der staatlichen<br />

„letztentscheidungskompetenz“ (S. 230) als konfliktfrei gelöst; aber auch auf<br />

der „ebene der konkreten gestaltung der Rechtswirklichkeit“ (S. 229) sieht der<br />

Verfasser die Rechtsformen und -figuren des Religionsverfassungsrechts als hinreichend<br />

freiheitsschonend an, der Religionsgemeinschaft der bahai unter achtung<br />

ihres Selbstverständnisses einen säkularen Mantel umzuhängen.<br />

die hier skizzierte arbeit stellt eine ausgewogene beschreibung der Religionsgemeinschaft<br />

der bahai als gegenstand des Religionsverfassungsrechts und<br />

seiner Rechtsformen dar. Sie liefert damit einen soliden beitrag zum Religionsverfassungsrecht<br />

als Rechtsanwendungsordnung. ausgesprochen informativ ist<br />

die Schilderung der binnenstruktur der bahai. hier gewinnt die arbeit klar einen<br />

auch religionswissenschaftlichen Mehrwert. Freilich mag insoweit die nachfrage<br />

gestattet sein, ob sich begriffe und Rechtsfiguren der Kanonistik – über<br />

die erweckung eines vagen Vorverständnisses hinaus – dazu eignen, binnenstrukturen<br />

der bahai zu beschreiben. dem atypischen Rechtsvergleich fehlt noch<br />

das exegetische Instrumentarium. auch die untersuchung der von der staatlichen<br />

Rechtsordnung angebotenen Rechtsformen und ihrer religionsverfassungsrechtlichen<br />

grundierungen bewegt sich allzu oft in bekannten bahnen und hätte in<br />

Teilen vertieft werden können. die Öffnung der staatlichen Rechtsordnung hin<br />

auf die vom Selbstverständnis geprägten Strukturen der bahai findet ihren grund<br />

und ihre grenzen nicht zuletzt in dem Recht der Religionsgemeinschaften, ihre<br />

angelegenheiten in den grenzen der allgemeinen gesetze nach art. 137 abs. 3<br />

WRV i. V. m. art. 140 gg selbst zu ordnen und zu verwalten. dieser Verschränkung<br />

der Rechtsordnungen hätte der Verfasser mehr aufmerksamkeit<br />

schenken müssen. Im sich dann erst eröffnenden, dogmatischen nahfeld könnte<br />

die geschilderte harmonie religiöser und staatlicher Rechtordnung dissonanzen<br />

erfahren. der ertrag der arbeit bleibt aber ungeschmälert: „die Verfassung der<br />

bahai-gemeinde in deutschland ist gemäß den Vorgaben der beiden Rechtssysteme<br />

auszugestalten und erhält so ihr spezifisches Profil.“ (S. 231) – Towfigh<br />

hat dem leser dieses spezifische Profil in klaren Worten und gut begründeten<br />

ergebnissen nahe gebracht.<br />

Michael Droege<br />

Zimmermann, Andreas (hrsg.), unter Mitwirkung von Heinz,<br />

Ursula E.: Religion und internationales Recht. Vortragsreihe am Walther-Schücking-Institut<br />

für Internationales Recht an der universität<br />

Kiel im Wintersemester 2004/05 und Sommersemester 2005. Veröffentlichungen<br />

des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht<br />

an der universität Kiel, bd. 159. berlin: duncker & humblot. 2006.<br />

226 S.<br />

der anzuzeigende band beinhaltet acht Vorträge zum Thema „Religion und<br />

internationales Recht“, die im akademischen Jahr 2004/2005 am Walther-Schük-


368 Literatur<br />

ZevKR<br />

king-Institut für Internationales Recht an der universität Kiel gehalten wurden.<br />

neben Fragen des Völker-, europa- und Internationalen Privatrechts lag ein<br />

Schwerpunkt der Vortragsreihe auf dem Verhältnis von Religion zu Fragen des<br />

internationalen Menschenrechtsschutzes.<br />

Im ersten beitrag analysiert Harald Steiger die historische entwicklung des Völkerrechts<br />

von einem bis zum ende des 18. Jahrhunderts stark religiös geprägten<br />

Recht bis zur heutigen säkularen Völkerrechtsordnung. dabei geht er insbesondere<br />

auf von religiösen einflüssen geformte Völkerrechtselemente vom Vertragsschluss<br />

bis zur bestimmung des gerechten Kriegsgrundes ein. abschließend stellt<br />

er die Frage nach dem bedürfnis einer universellen Wertegrundlage für die heutige<br />

Völkerrechtsordnung. der zweite Vortrag befasst sich mit der völkerrechtlichen<br />

Stellung und Praxis des heiligen Stuhls und des Vatikanstaates im Wandel. der<br />

autor Gerhard Westdickenberg war von 2002 bis 2006 deutscher botschafter<br />

beim heiligen Stuhl. er stellt anschaulich seine in dieser Position gewonnenen einblicke<br />

in die außenpolitik des heiligen Stuhls dar. „Facetten der islamischen Menschenrechtsdiskussion“<br />

sind das Thema des Vortrags von Heiner Bielefeld, leiter<br />

des deutschen Instituts für Menschenrechte. er verdeutlicht, dass das Menschenrechtskonzept<br />

in den islamischen ländern verstärkt in die jeweils eigene Tradition<br />

eingebunden wird, allerdings mit dem Vorbehalt, dass die Menschenrechte mit der<br />

Sharia übereinstimmen müssten. dabei entstehende gegensätze können durch<br />

eine pragmatische handhabung oder liberale Interpretation der Sharia überbrückt<br />

werden. Christoph Grabenwarter behandelt in seinem beitrag zu Religion<br />

und europäischer Menschenrechtskonvention die maßgeblichen entscheidungen<br />

des europäischen gerichtshofs für Menschenrechte zu art. 9 eMRK. Seiner analyse<br />

zufolge fasst das gericht zwar den Schutzbereich der Religionsfreiheit weit,<br />

belasse den Staaten andererseits aber bei der lösung von religiös bedingten Fragestellungen<br />

einen weiten beurteilungsspielraum. Eckart Klein untersucht die Praxis<br />

des Menschenrechtsausschusses nach dem Internationalen Pakt über bürgerliche<br />

und Politische Rechte, dessen Mitglied er von 1995 bis 2002 war, zu art. 18<br />

des Paktes (gedankens-, gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit).<br />

der beitrag von Rainer Hoffmann behandelt das Verhältnis von Religion und<br />

Minderheitenschutz. der Schutz religiöser Minderheiten sei eine hochumstrittene<br />

Problematik des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes, da bereits der begriff<br />

der religiösen Minderheit und der Mehrwert einer anerkennung als solche gegenüber<br />

den Rechten aus der individuellen Religionsfreiheit umstritten sei. aus Sicht<br />

der Internationalen Privatrechts untersucht Haimo Schack dessen Verhältnis zur<br />

Religion anhand der Spannungen zwischen staatlichen und religiösen Rechten im<br />

Familien- und erbrecht. dabei erörtert er insbesondere die bedeutung des ordre<br />

public als grenze des religiösen Rechts und zur bekämpfung von Parallelgesellschaften.<br />

Zum Schluss beschäftigt sich Christian Walter mit dem Verhältnis von<br />

Religion und dem Recht der europäischen union. Obwohl im europäischen Recht<br />

nur an wenigen Stellen überhaupt auf die Religion bezug genommen wird, ergäben<br />

sich z. b. für das kirchliche arbeitsrecht und die karitativen einrichtungen<br />

aufgrund des Wettbewerbsrechts relevante Spannungen.<br />

diese kurze anzeige verdeutlicht das breite Spektrum interessanter Fragestellungen<br />

aus dem bereich des internationalen Rechts im hinblick auf die Reli-


53 (2008) Literatur<br />

369<br />

gion. angesichts der weltweiten religiösen Konflike bleibt die Thematik auch in<br />

Zukunft aktuell.<br />

Anne-Ruth Wellert<br />

M a h l m a n n , Matthias / R o t t l e u t h n e r, Hubert (hrsg). ein neuer<br />

Kampf der Religionen? Staat, Recht und relgiöse Toleranz, Wissenschaftliche<br />

abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und geistesgeschichte,<br />

bd. 39. berlin: duncker & humblot. 2006. 300 S.<br />

der band dokumentiert eine von den herausgebern organisierte Vorlesungsreihe<br />

im Wintersemester 2004/2005 an der Freien universität<br />

berlin. die vier Überschriften, unter denen die insgesamt 12 Vorträge wiedergegeben<br />

werden, lauten „Soziologische, historische und philosophische<br />

grundlagen“, „Perspektiven von Weltreligionen“, „Probleme des deutschen<br />

und europäischen Religionsverfassungsrechts“ und schließlich der im englischen<br />

Original wiedergebene abschnitt „Internationale Perspektiven“.<br />

Schon beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses wird deutlich, dass es<br />

sich um eine Sammlung von beiträgen handelt, die weder abschließend noch<br />

vollständig den großen selbstgesteckten horizont zwischen Politik und<br />

Religion in wissenschaftlicher gründlichkeit abschreiten kann.<br />

hervorzuheben ist die unter der oben genannten Überschrift von Malik<br />

zu findende besprechung von zwei entscheidungen des house of lords<br />

zur Religionsfreiheit, die auf art. 9 der europäischen Menschenrechtskonvention<br />

(eMRK) bezug nehmen (S. 242–269). Im ersten Fall wollten einige<br />

lehrer und eltern aus ihrem glauben ein Recht auf körperliche Züchtigung<br />

gegen das entsprechende staatliche Verbot ins Feld führen. Im zweiten<br />

Fall wollte eine muslimische Schülerin nicht nur das nach den Regeln der<br />

Schuluniform erlaubte Kopftuch tragen, sondern eine größere Robe. In<br />

beiden Fällen unterlagen die Kläger. die argumentation kommt von einem<br />

strikt objektiven „necessitiy-test“ her, wägt dann individuelle (subjektive)<br />

gesichtspunkte ab ohne aber zu einem ergebnis zugunsten der Kläger zu<br />

gelangen. Malik sieht in den einzelnen Voten der Richter allerdings Schritte<br />

hin zu einer „accomodation of differences“ innerhalb einer mulitkonfessionellen<br />

gesellschaft. Interessanterweise findet eine einbeziehung des korporativen<br />

Selbstverständnisses im gegenüber zur individuellen glaubensauffassung<br />

im englischen Kontext des case law nicht explizit statt.<br />

In dem abschnitt „Perspektiven von Weltreligionen“ begnügte sich die<br />

Vorlesungsreihe offenbar damit, neben dem Judentum und dem Islam eine<br />

explizit katholische Sicht aufzunehmen (Gerhard Kruip). das ist gerade deshalb<br />

bedauerlich, weil neben der Tatsache, das damit im blick auf die deutsche<br />

gesellschaft wohl gut die hälfte der hier lebenden Christenmenschen


370 Literatur<br />

ZevKR<br />

praktisch ausgeblendet wird, besonders die Chance, gemeinsamkeiten der<br />

beiden großen christlichen Kirchen in der Perspektive der „Weltreligionen“<br />

zu erörtern sowie die Möglichkeit der exemplifikation von friedlicher konfessioneller<br />

binnendifferenz, ohne not vergeben wurde.<br />

die im untertitel hervorgehobene bedeutung des Stichwortes „religiöse<br />

Toleranz“, wird nicht wie ein roter Faden näher umwoben. das ist bedauerlich,<br />

zumal der begriff der Toleranz zwar in der geschichte von erheblicher<br />

bedeutung bei der ausbildung von religiöser Freiheit ist, aber in der<br />

gegenwärtigen staatskirchenrechtlichen Verfassung rechtlich keine tragende<br />

bedeutung mehr hat. der Staat selbst hat sich gegenüber der Religion „neutral“<br />

zu verhalten, widerstreitende Interessen werden im Wege praktischer<br />

Konkordanz – also grundrechtsabwägungen – entschieden. Für die Toleranz<br />

bleibt dann nur eine gesellschaftliche Prägerolle, wie sie Beate Rudolf<br />

in ihrer Verhältnisbestimmung von Religionsfreiheit, diskriminierungsverbot<br />

und Toleranzgebot (S. 209–237) beschreibt.<br />

Insgesamt wird nicht erkennbar, welche sachliche Tendenzaussage die<br />

herausgeber mit dem aufreizenden Titel beabsichtigten. Zwar kommt<br />

sowohl die bekannte These vom clash of civilization (S. P. Huntington) vor<br />

(Rottleuthner) und Malik spricht in der Überschrift vom „europe’s new<br />

wars of religion“, damit wohl bezugnehmend auf die herausforderung der<br />

Integration von Minderheitenreligionen in einer pluralen (multikulturellen)<br />

gesellschaft. aber inwieweit dies zutreffend mit einem neuen Kampf der<br />

Religionen untereinander in abgrenzung zu einem nicht benannten „alten“<br />

Kampf beschrieben ist, bleibt dunkel. das herausgeber-Team erkennt<br />

zutreffend den bedarf an Klärungen von Positionen, an interreligiösem<br />

dialog und an gesellschaftlicher Integrationsarbeit. hinter dem im Vorwort<br />

(S. 6) angedeuteten anspruch, sich über die grundlagen dieser Topoi nunmehr<br />

„schlechthin“ zu verständigen, bleibt die aufsatzsammlung allerdings<br />

erkennbar zurück. diesen hohen anspruch beiseite lassend, finden sich<br />

spannende und weiterführende gedanken in den nebeneinander stehenden<br />

unterschiedlichen einzelarbeiten.<br />

Hans-Tjabert Conring<br />

G ü n z e l , Angelika: Religionsgemeinschaften in Israel. Jus ecclesiasticum,<br />

bd 77. Tübingen: <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong>. 2006. 342 S.<br />

das Verhältnis zwischen den Religionsgemeinschaften im heiligen land ist<br />

notorisch von Spannungen geprägt – gerade der umstand, daß das „heilige land“<br />

für drei Weltreligionen heilig ist, sorgt für Konfliktpotential. dies gilt umso mehr,<br />

als die Rechtsordnung Israels eine komplexe Verbindung zwischen älterem osmanischem<br />

Recht, bestimmungen aus der britischen Mandatszeit, älteren jüdischen


53 (2008) Literatur<br />

371<br />

Rechtsvorstellungen und auch modernen säkularen ansätzen aufweist. Komplex<br />

ist auch die Regelungsmaterie des israelischen Religionsrechts selbst: Immerhin<br />

versteht sich zwar der Staat Israel als „jüdischer Staat“, dennoch wirkt hier schon<br />

von alters her eine Vielzahl an unterschiedlichsten christlichen Kirchen, jüdischen<br />

gemeindeinrichtungen und auch islamischen Institutionen nebeneinander. Schon<br />

insofern dürfte die von günzel vorgelegte arbeit zur religionsrechtlichen Ordnung<br />

des Staates Israel, die als dissertation bei Robbers in Trier entstand, auf großes<br />

Interesse stoßen.<br />

In der einleitung stellt die autorin zunächst ihr Ziel, ihren untersuchungsgegenstand<br />

und auch ihre Methodik vor. Sie weist darauf hin, daß es sich beim<br />

Religionsrecht in Israel um einen hoch politischen und sehr emotionalen bereich<br />

handelt, dem kein allgemein durchgängiges Ordnungsschema zugrunde liegt und<br />

der der aktuellen tagespolitischen lage unterworfen ist.<br />

Im ersten Kapitel wendet sich günzel dann den grundlagen des Verhältnisses<br />

von Staat und Religion zu. am anfang dieser darstellung steht ein geschichtlicher<br />

abriß, wobei die autorin mit der osmanischen Periode ab dem Jahre 1516 bis<br />

1917 einsetzt. hier steht im Vordergrund die Wirkung der islamischen Oberhoheit<br />

und ihres millet-Systems, das der rechtlichen autonomie anderer Religionen,<br />

namentlich der christlichen Minderheit, in unterschiedlicher Weise grenzen zog.<br />

es folgt eine betrachtung der Rechtslage in der britischen Mandatszeit von 1917<br />

bis 1945. hier wird einerseits die Palestine Order in Council als wesentliche<br />

Rechtsgrundlage für das Verhältnis zwischen staatlicher Ordnung und religiöser<br />

betätigung vorgestellt; ebenso erläutert günzel, inwieweit staatlich anerkannte<br />

Religionsgemeinschaften unter der Mandatsverwaltung wirken konnten und insbesondere<br />

eine eigene religiöse gerichtsbarkeit mit praktisch-weltlicher Relevanz<br />

ausübten. der dritte abschnitt in der geschichtlichen darstellung hat schließlich<br />

die Staatsgründung zum Inhalt, wobei hier vor allem die besondere verfassungsrechtliche<br />

Situation detailliert betrachtet wird. Im zweiten Teil des ersten Kapitels<br />

analysiert günzel die Rechtsgrundlagen für das Verhältnis zwischen dem Staat<br />

Israel und den Religionen: Im einzelnen gewürdigt werden die unabhängigkeitserklärung,<br />

der besonders relevante richterrechtliche Schutz der grundrechte, das<br />

„grundgesetz“ Israels sowie die weitere geltung von anderen Rechtsquellen, welche<br />

die Religionsfreiheit gewährleisten, namentlich die bis heute geltende Palestine<br />

Order in Council und das grundlagenabkommen mit dem heiligen Stuhl aus dem<br />

Jahre 1993. das erste Kapitel wird abgeschlossen mit einem gerade unter dem<br />

gesichtspunkt der praktischen anschaulichkeit erfreulichen demographischen<br />

Teil, der jeweils die zahlenmäßige Relevanz der einzelnen gruppen – rabbinische<br />

und karaitische Juden, Muslime, katholische, orthodoxe und protestantische<br />

Christen, sowie drusen und baha’i – vor augen führt.<br />

das zweite Kapitel gewährt einen Überblick über den Status und die Organisation<br />

der einzelnen Religionsgemeinschaften. den anfang bildet hierbei ein Überblick<br />

über die Kategorien religiöser gemeinschaften, der vor allem begriffliche<br />

bedeutung besitzt: es wird hier zwischen nicht staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften,<br />

staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften und schließlich<br />

der staatlich anerkannten Religion differenziert, wobei die letzte Kategorie vor<br />

allem die muslimische, die jüdische und die drusische gemeinschaft betrifft. auf


372 Literatur<br />

ZevKR<br />

die Klärung der Kategorien folgt die analyse der jeweiligen Rechtsposition, wobei<br />

vor allem der Rechtsprechung staatlicher gerichte in Israel besonderer augenmerk<br />

geschenkt wird. die gliederung folgt wiederum den Kategorien der nicht<br />

staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft, der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft<br />

und der staatlich anerkannten Religion. hinsichtlich der staatlich<br />

anerkannten Religionsgemeinschaften wird insbesondere untersucht, inwieweit<br />

die staatliche anerkennung mit der Verleihung einer Rechtsprechungskompetenz<br />

bezüglich Personenstandsangelegenheiten verbunden ist. ebenso wird auch die<br />

zusätzliche anerkennung von Religionsgemeinschaften als Selbstverwaltungskörperschaften<br />

und deren Voraussetzungen betrachtet. bezüglich staatlich anerkannter<br />

Religionen werden ebenfalls Fragen der gerichtsbarkeit und einer organisatorischen<br />

unterstützung durch den Staat erörtert. der dritte Teil des zweiten<br />

Kapitels betrifft vor allem die in Israel praktisch relevante Jurisdiktion religiöser<br />

gerichte, die namentlich in Personenstandsangelegenheiten auch Wirksamkeit bis<br />

in den weltlichen bereich entfalten können. hier werden Rechtsgrundlage und<br />

Inhaber der Rechtsprechungskompetenz thematisiert, der umfang der gegenwärtigen<br />

Rechtsprechungskompetenz analysiert und vor allem auch die Reichweite wie<br />

auch die grenzen der Rechtsprechungskompetenz, die Organisation der gerichte<br />

und auch ihre beaufsichtigung untersucht.<br />

auf die allgemeine darstellung des Verhältnisses zwischen Religion und Staat<br />

folgt im dritten Kapitel die Klärung des Status und der Organisation von einzelnen<br />

Religionsgemeinschaften. es liegt auf der hand, daß insoweit die jüdische<br />

gemeinschaft, ihre Organisationen und Institutionen, namentlich das Oberrabinat<br />

und die religiösen jüdischen Räte, an erster Stelle der untersuchung stehen.<br />

hieran schließt sich eine betrachtung der muslimischen gemeinschaft an, die sich<br />

in einer stiftungsartigen Weise organisiert. Schließlich betrachtet die autorin die<br />

Organisationsstrukturen der diversen christlichen Kirchen, insbesondere der griechisch-orthodoxen<br />

Kirche, der römisch-katholischen und der mit ihr unierten Kirchen<br />

sowie der anglikanischen bzw. episkopalkirche. Im anschluß hieran wird die<br />

Organisation der drusischen gemeinschaft und die hier bestehende Problematik<br />

des drusischen Rates diskutiert. Schließlich folgt eine betrachtung der nicht anerkannten<br />

jüdischen Religionsgemeinschaften, wozu insbesondere die Karäer sowie<br />

progressive und traditionelle jüdische gruppierungen zählen. günzel erklärt in<br />

Folge die religiöse gerichtsbarkeit der Religionsgemeinschaften im einzelnen, also<br />

die Rabbinatsgerichte, die Shari’a-gerichte, die religiösen drusischen gerichte, die<br />

Kirchengerichte und in einem gesonderten Teil die als Problemfälle herausgestellte<br />

Situation der karaitisch-jüdischen gemeinschaft und der Religionsgemeinschaften<br />

ohne anerkannte religiöse gerichtsbarkeit.<br />

das vierte Kapitel gewährt eine auswertung des befundes im hinblick auf das<br />

religionsrechtliche System in Israel. hier diskutiert günzel vor allem die Frage,<br />

inwieweit in anbetracht des religionsrechtlichen befundes wirklich von einer Trennung<br />

zwischen Staat und Religion in Israel gesprochen werden kann. die autorin<br />

konstatiert zum einen eine institutionelle Trennung von Staat und Religion, aber<br />

zum anderen auch eine institutionelle Verflechtung der anerkannten Religionen<br />

mit dem Staat insbesondere auf dem Feld der religiösen gerichtsbarkeit. aber<br />

auch darüber hinaus stellt günzel fest, daß es eine besondere institutionelle nähe


53 (2008) Literatur<br />

373<br />

einzelner Religionen zum Staat in Israel gibt: dies gilt zunächst sicherlich für die<br />

jüdische gemeinschaft gerade auch vor dem hintergrund des umstands, daß sich<br />

der Staat Israel als jüdischer Staat versteht. hiervon abgesehen stellt die autorin<br />

allerdings auch dar, inwieweit muslimische Institutionen, vor allem muslimische<br />

Treuhänderkomitees, mit dem israelischen Staat kooperieren. Zugleich hebt günzel<br />

jedoch eine Relativierung des Selbstbestimmungsrechts einzelner Religionsgemeinschaften<br />

hervor. der zweite Teil des vierten Kapitels ist der materiellen<br />

Trennung zwischen Staat und Religion in Israel gewidmet, wobei die autorin<br />

die Säkularität des Staates und des staatlichen Rechts vor dem hintergrund der<br />

Selbstbezeichnung des Staates Israels als jüdischem Staat problematisiert und die<br />

„Stufung der Parität“ zwischen den einzelnen Religionsgemeinschaften in ihrem<br />

Verhältnis zum Staat beleuchtet. Schließlich wendet sich günzel der Kooperation<br />

zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften zu, wobei hier wiederum<br />

ein Fokus auf der religiösen gerichtsbarkeit liegt. ein ausblick auf die im Jahre<br />

2003 beschlossene, allerdings noch nicht letztendlich abgeschlossene, auflösung<br />

des Ministeriums der Religionen rundet die arbeit ab.<br />

die landeskundlich und auch in der hebräischen Sprache versierte autorin hat<br />

das buch mit einem Verzeichnis deutscher und hebräischer abkürzungen, einem<br />

literaturverzeichnis, einem dokumentenverzeichnis sowie einem abbildungsverzeichnis<br />

und einem anhang, in dem die Korrespondenz der autorin mit einzelnen<br />

ansprechpartnern abgedruckt ist, ausgestattet.<br />

der autorin ist mit dieser einfühlsamen, sachverständigen und zugleich entscheidungskräftigen<br />

untersuchung eine herausragende darstellung des Verhältnisses<br />

zwischen Religion und Staat in Israel gelungen. hinsichtlich der Verbindung<br />

zwischen liebe zum detail und leserfreundlichkeit ist das Werk nachgerade vorbildlich.<br />

Wer immer die gretchenfrage an den Staat Israel stellen will, wird an<br />

diesem buch nicht vorbeikommen.<br />

Christoph A. Stumpf<br />

O t t o , Lieselotte: handbuch der Stiftungspraxis. Stiftungsrecht, Steuerrecht<br />

und Rechnungslegung bei Stiftungen. Köln: luchterhand. 2006.<br />

653 S.<br />

In den letzten Jahren sind mehrere umfangreiche Werke zum Stiftungswesen<br />

erschienen, die spezielle anliegen aufnehmen und sich als handbücher empfehlen<br />

1 . In diese Reihe gehört das hier anzuzeigende von der Rechtsanwältin Otto<br />

unter Mitarbeit von Rechtsanwältin Kuli verfasste handbuch der Stiftungspraxis,<br />

welches von den landesstiftungsgesetzen des Freistaats bayern und des landes<br />

nordrhein-Westfalen ausgeht und praktische hilfen zur „Stiftungsgründung<br />

1 Vgl. Bertelsmann Stiftung (hrsg.), handbuch Stiftungen. Ziele – Projekte<br />

– Management – Rechtliche gestaltung, 2003 2 , Strachwitz und Merker (hrsg.),<br />

Stiftungen in Theorie, Recht und Praxis. handbuch für ein modernes Stiftungswesen,<br />

2005, dazu die Rezension von Winkel in ZevKR 53 (2008) S. 95, sowie Richter / Wachter,<br />

handbuch des internationalen Stiftungsrechts, 2007.


374 Literatur<br />

ZevKR<br />

durch unternehmer bzw. durch andere natürliche Personen“ verspricht (vgl. S. 5).<br />

Im Teil 1 der Publikation werden vielfältige praktische hinweise zur anwendung<br />

des landesstiftungsrechts, im Teil 2 zum Stiftungssteuerrecht sowie im Teil 3 zum<br />

Rechnungswesen, zur Rechnungslegung und zur Prüfung von Stiftungen gegeben.<br />

eine Zusammenstellung von antworten auf häufig gestellte Fragen und ein „abC<br />

der Stiftung“ im 5. Teil sowie eine dokumentation von Mustern, Formularen,<br />

auszügen aus rechtlichen Regelungen und von Verlautbarungen im Teil 6 schließen<br />

die Publikation ab.<br />

das handbuch kann und will eine eingehende juristische beratung des Stifters<br />

nicht ersetzen. das gilt in besonderer Weise für diejenigen natürlichen oder juristischen<br />

Personen, die eine kirchliche Stiftung errichten wollen. Solche Stifter erhalten<br />

im handbuch von der staatlich eingeräumten kirchlichen Stiftungsaufsicht<br />

oder von kirchlichen Regelungen des Stiftungsrechts nur en passant Kenntnis 2 .<br />

daneben verleiten unpräzise Formulierungen zu Fehlein schätzungen oder Missverständnissen.<br />

das gilt insbesondere für den fehlenden hinweis auf eine kirchliche<br />

anfallberechtigung in der Kommentierung des § 88 Satz 2 bgb (S. 107), für<br />

die vage Formulierung auf der S. 387 des handbuches, dass „kirchliche Stiftungen<br />

… durch eine Kirche gegründet (werden)“ 3 , oder für die fragwürdige empfehlung,<br />

die Renovierung einer Kirche besser durch eine unselbstständige Stiftung<br />

oder durch einen Verein zu unterstützen (S. 36). deshalb wird zwar der im Stiftungs-<br />

und Stiftungssteuerrecht Kundige die praktischen hinweise auch dann zu<br />

schätzen wissen, wenn er fehlende hinweise ergänzen und vage Formulierungen<br />

präzisieren muss. dem unbefangenen Stifter einer kirchlichen Stiftung kann das<br />

handbuch jedoch nur unter Vorbehalt zum gebrauch empfohlen werden.<br />

Burghard Winkel<br />

2 Vgl. dazu z. b. S. 424, Fn. 26 oder S. 614 des handbuches.<br />

3 Vgl. dazu Seifart / v. Campenhausen (hrsg.), handbuch des Stiftungsrechts, 1999 2 ,<br />

§ 25, Rdn. 4.

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