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Lauter lose Enden? Die Erzählstruktur in Peter Høegs Erzählung

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Michael Auth<br />

<strong>Lauter</strong> <strong>lose</strong> <strong>Enden</strong>?<br />

<strong>Die</strong> <strong>Erzählstruktur</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>Peter</strong> <strong>Høegs</strong> <strong>Erzählung</strong><br />

»Frøken Smillas fornemmelse for sne«<br />

Magisterarbeit<br />

Neuphilologische Fakultät<br />

Universität Tüb<strong>in</strong>gen


Inhalt<br />

1 E<strong>in</strong>leitung .......................................................................................................................... 2<br />

2 <strong>Die</strong> Figuren <strong>in</strong> Frøken Smillas fornemmelse for sne...................................................... 3<br />

2.1 Smilla Qaavigaaq Jaspersen....................................................................................... 3<br />

2.1.1 Multikulturelle Extreme – Familie Qaavigaaq Jaspersen .................................. 5<br />

2.1.2 Smilla – heimatlos <strong>in</strong> Dänemark und Grönland............................................... 12<br />

2.1.3 Geschlechtliche Identität im postkolonialen Niemandsland ............................ 16<br />

2.2 <strong>Die</strong> weiteren Figuren im Roman .............................................................................. 22<br />

2.2.1 <strong>Die</strong> Metamorphose des Mechanikers und se<strong>in</strong>e Beziehung zu Smilla............. 22<br />

2.2.2 Macht, Korruption und der Diskurs des Geldes............................................... 25<br />

2.2.3 Das unschuldige Opfer – Esajas Christiansen.................................................. 32<br />

2.3 Das fragmentierte Subjekt – Figuren <strong>in</strong> Frøken Smilla............................................ 36<br />

3 <strong>Die</strong> Handlungsebene – Diskurse und Genres............................................................... 37<br />

3.1 Der klassische Krimi auf Abwegen – Esajas’ Fall und (k)e<strong>in</strong>e Lösung?................. 38<br />

3.2 Aspekte des Bildungsromans <strong>in</strong> Frøken Smilla – woh<strong>in</strong> führt die Reise?............... 42<br />

3.3 Der postkoloniale Diskurs <strong>in</strong> Frøken Smilla – Kolonisierung ohne Ende ............... 45<br />

3.4 Frøken Smillas ambivalente Symbolik .................................................................... 53<br />

3.5 I har alle svigtet jeres børn – Der Diskurs der leidenden K<strong>in</strong>der............................ 59<br />

3.6 Pluralisierung und Dezentralisierung – Handlungen und Diskurse <strong>in</strong> Frøken Smilla<br />

62<br />

4 Smillas Weltbild – die Welt als <strong>Erzählung</strong>................................................................... 64<br />

4.1 Masser af falsk forgyldn<strong>in</strong>g – Smilla als Erzähler<strong>in</strong> ................................................ 64<br />

4.2 Der absolute space – Smillas abgeschlossenes Universum ..................................... 68<br />

5 <strong>Lauter</strong> <strong>lose</strong> <strong>Enden</strong>? – Frøken Smillas Poetik ............................................................... 80<br />

6 Bibliographie...................................................................................................................82<br />

1


1 E<strong>in</strong>leitung<br />

<strong>Peter</strong> <strong>Høegs</strong> Roman Frøken Smillas fornemmelse for sne feierte bereits kurz nach se<strong>in</strong>er<br />

Veröffentlichung im Frühjahr 1992 <strong>in</strong>ternational große Erfolge. Er wurde <strong>in</strong> mehr als 33 Ländern<br />

veröffentlicht, war unter anderem <strong>in</strong> den USA, Großbritannien und Deutschland monatelang<br />

auf den Bestsellerlisten und hat mittlerweile e<strong>in</strong>e Gesamtauflage von über 20 Millionen<br />

Exemplaren erreicht. Høeg wurde damit <strong>in</strong>nerhalb kurzer Zeit zum <strong>in</strong>ternational erfolgreichsten<br />

skand<strong>in</strong>avischen Schriftsteller des ausgehenden 20. Jahrhunderts. 1<br />

Offensichtlich ist es <strong>Peter</strong> Høeg gelungen mit Frøken Smilla e<strong>in</strong> breites Publikum anzusprechen.<br />

Tatsächlich lassen sich im Roman e<strong>in</strong>e ganze Reihe vielschichtiger Diskurse, Anspielungen<br />

und Intertexte ausmachen. E<strong>in</strong> wichtiger Aspekt für die Lesbarkeit mag dabei se<strong>in</strong>,<br />

dass sich der Roman, so heterogen er bei näherer Betrachtung auch ersche<strong>in</strong>en mag, als spannender,<br />

mit den Genre-üblichen Action-Szenen versehener Thriller gelesen werden kann.<br />

Das Ende des Textes wartet jedoch mit e<strong>in</strong>er Überraschung auf, die sich so gar nicht mit<br />

den Erwartungen an e<strong>in</strong>en klassischen Thriller deckt. Frøken Smillas unerwartetes und verstörendes<br />

Ende, das den Leser mit e<strong>in</strong>em ‚<strong>in</strong>tellektuellen Unbehagen’ entlässt, spaltet denn auch<br />

Rezensenten und Literaturwissenschaftler <strong>in</strong> ihrem Urteil über den Roman.<br />

Dabei verfolgen die wenigen Aufsätze die bisher zu Frøken Smilla erschienen, überwiegend<br />

e<strong>in</strong>en monokausalen Ansatz, widmen sich nur e<strong>in</strong>em Teilaspekt der <strong>Erzählung</strong> oder verkennen<br />

den postmodernen Charakter des Romans. 2<br />

Ich möchte daher <strong>in</strong> der vorliegenden Arbeit versuchen, mittels der <strong>Erzählstruktur</strong> des<br />

Textes e<strong>in</strong>en Überblick über die behandelten Themen und Diskurse zu geben, um so <strong>Høegs</strong><br />

Poetik und damit dem rätselhaften Ende der <strong>Erzählung</strong> auf die Spur zu kommen.<br />

Dazu sollen zunächst die auf der Figurenebene bestimmenden Charakteristika der Protagonisten<br />

herausgestellt werden; anschließend werde ich auf der Handlungsebene <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Auswahl die entscheidenden Gattungen und Diskurse, die dem Text e<strong>in</strong>geschrieben s<strong>in</strong>d, näher<br />

untersuchen. Abschließend soll dann auf der Erzählebene Smillas Erzählverhalten, das<br />

den Text konstituiert, beschrieben werden.<br />

1<br />

Das führte so weit, dass <strong>Høegs</strong> Verleger<strong>in</strong> Merete Ries von e<strong>in</strong>em so genannten Høeg-Effekt sprach, der im<br />

Sog se<strong>in</strong>es Erfolges die <strong>in</strong>ternationale Veröffentlichung anderer skand<strong>in</strong>avischer Autoren begünstigte.<br />

2<br />

Ausgenommen s<strong>in</strong>d davon die Arbeiten von Bo Janson und Lutz Rühl<strong>in</strong>g. Janson wies als Erster auf den genu<strong>in</strong><br />

postmodernen Charakter des Textes h<strong>in</strong>.<br />

2


2 <strong>Die</strong> Figuren <strong>in</strong> Frøken Smillas fornemmelse for sne<br />

2.1 Smilla Qaavigaaq Jaspersen<br />

Nach Esajas’ Beerdigung wird Smilla von Staatsanwalt Ravn abgefangen und zu e<strong>in</strong>er<br />

Vorladung <strong>in</strong>s Kopenhagener Polizeipräsidium zitiert. In e<strong>in</strong>em abgedunkelten Raum zieht<br />

Ravn zwei dicke Umschläge hervor, e<strong>in</strong>en rosafarbenen und e<strong>in</strong>en dunkelgrünen. Als E<strong>in</strong>leitung<br />

für das bevorstehende Verhör verliest er sodann den Inhalt des ersten Umschlags. Wir<br />

erfahren daraus alle möglichen Daten über Smilla – die Namen ihrer Eltern, Smillas Geburtsdatum,<br />

ihre Schulbildung <strong>in</strong> Grönland und Dänemark, ihre Studienfächer an der Universität,<br />

ihre Expeditionen <strong>in</strong> Grönland und Kanada, ihre <strong>in</strong> zahlreichen <strong>in</strong>ternationalen Zeitschriften<br />

veröffentlichte wissenschaftlichen Aufsätze; <strong>in</strong> der Anlage f<strong>in</strong>den sich noch verschiedene<br />

Empfehlungen, die auf ihre außerordentlichen Fähigkeiten als Navigator<strong>in</strong> h<strong>in</strong>weisen. Zusammenfassend<br />

kommt Ravn zu dem Schluss:<br />

På basis af dem synes jeg man må få det <strong>in</strong>dtryk, at man har at gøre med en ung,<br />

meget selvstændig kv<strong>in</strong>de, der har usædvanlige ressourcer, som hun har forvaltet<br />

med ambition og begavelse. (98) 3<br />

[Von daher muß man, me<strong>in</strong>e ich, den E<strong>in</strong>druck gew<strong>in</strong>nen, daß man es mit e<strong>in</strong>er<br />

jungen, sehr selbständigen Frau zu tun hat, die ungewöhnliche Fähigkeiten besitzt<br />

und sie mit Ehrgeiz und Begabung verwaltet hat. (113)] 4<br />

Nun öffnet er den zweiten Umschlag und verliest e<strong>in</strong>en weiteren Bericht, <strong>in</strong> dem ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>ige persönliche Daten über Smilla zusammengefasst s<strong>in</strong>d. Ravn erwähnt daraus die Scheidung<br />

ihrer Eltern zwei Jahre nach der Heirat, den Bruder, der Selbstmord begeht. Smilla, die<br />

sechsmal versucht aus Dänemark zu fliehen. Ihre häufigen Schulverweise <strong>in</strong> Dänemark; das<br />

Abitur, das sie schließlich als Externe im Privatunterricht macht. Ihre Exmatrikulation an der<br />

Universität ohne Abschluss. Ihre politische Beteiligung an e<strong>in</strong>er – so Ravn – als marxistisch<br />

e<strong>in</strong>gestuften grönländischen Partei. Ihre Gesetzesübertretungen, die sich im Laufe der Zeit<br />

angesammelt haben; unter anderem e<strong>in</strong>e Klage wegen Verleumdung im Zusammenhang mit<br />

e<strong>in</strong>em Artikel über die Ausbeutung der Ölvorkommen im Polarmeer. Schließlich ihre E<strong>in</strong>kommensverhältnisse,<br />

die – Smilla ist arbeitslos – darauf schließen lassen, dass sie nach wie<br />

3 Alle <strong>in</strong> Klammern gesetzten Seitenangaben im Text beziehen sich auf folgende Textausgabe: <strong>Peter</strong> Høeg:<br />

Frøken Smillas fornemmelse for sne. København, 1999.<br />

4 Alle nachfolgenden, <strong>in</strong> eckigen Klammern gesetzte Übersetzungen der dänischen Zitate wurden der folgenden<br />

Textausgabe entnommen: <strong>Peter</strong> Høeg: Fräule<strong>in</strong> Smillas Gespür für Schnee. Roman. Aus dem Dänischen von<br />

Monika Wesemann. Re<strong>in</strong>bek bei Hamburg, 1996.<br />

3


vor von ihrem Vater f<strong>in</strong>anziell unterstützt wird. Auch diese Informationen fasst Ravn abschließend<br />

zusammen:<br />

Disse oplysn<strong>in</strong>ger giver et mere kompliceret billede. De tegner et portræt af en<br />

kv<strong>in</strong>de, som aldrig har gjort en uddannelse færdig. Som er arbejdsløs. Som er uden<br />

familie. Som har skabt konflikter, hvor hun end har opholdt sig. Som aldrig har<br />

kunnet tilpasse sig. Som er aggressiv. Og som sv<strong>in</strong>ger ude omkr<strong>in</strong>g politiske<br />

ekstremer. Alligevel er det lykkedes Dem at deltage i ni ekspeditioner på 12 år.<br />

(100)<br />

[<strong>Die</strong> Informationen vermitteln e<strong>in</strong> komplizierteres Bild. Sie zeichnen das Porträt<br />

e<strong>in</strong>er Frau, die nie e<strong>in</strong>e Ausbildung abgeschlossen hat. <strong>Die</strong> arbeitslos ist. <strong>Die</strong> ohne<br />

Familie ist. <strong>Die</strong> überall, wo sie sich aufgehalten hat, Konflikte ausgelöst hat. <strong>Die</strong><br />

sich nie hat anpassen können. <strong>Die</strong> aggressiv ist. Und die um politische Extreme<br />

kreist. Trotzdem ist es Ihnen gelungen, <strong>in</strong> zwölf Jahren an neun Expeditionen<br />

teilzunehmen. (115)]<br />

Ravns Berichte verdeutlichen zweierlei. Zum e<strong>in</strong>en verweisen sie auf Smillas von mehreren<br />

Seiten hochgelobte Kenntnisse über Schnee, sowie auf ihre außerordentlichen Fähigkeiten<br />

als Navigator<strong>in</strong> auf dem Eis. Andererseits zeigt der zweite Bericht wie schwierig (und konfliktreich)<br />

es für Smilla se<strong>in</strong> muss, <strong>in</strong> der dänischen Gesellschaft e<strong>in</strong>en Platz zu f<strong>in</strong>den. Und<br />

Ravn, der den Staat und damit das demokratische Geme<strong>in</strong>wesen repräsentiert, gibt ihr zu verstehen,<br />

dass sie mit diesem Verhalten <strong>in</strong> Dänemark fehl am Platze ist: „I et lille land som vores<br />

er De et sensibelt punkt, frøken Jaspersen“. (100) 5<br />

<strong>Die</strong> beiden Berichte offenbaren aber noch e<strong>in</strong>e weitere, zentrale Eigenschaft Smillas. Sie<br />

enthalten umfangreiche und detaillierte Angaben zu ihrer Biografie, vermögen aber doch nur<br />

die Spitze des Eisberges aufzudecken. Smilla zu charakterisieren, ihre Eigenschaften zu kategorisieren,<br />

ist e<strong>in</strong> schwieriges Unterfangen, wie der Bericht zeigt. Wer also ist Smilla? Lässt<br />

sie sich überhaupt <strong>in</strong> den gängigen Diskursen kategorisieren?<br />

5 [„In e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Land wie dem unserem s<strong>in</strong>d Sie e<strong>in</strong> heikler Punkt, Fräule<strong>in</strong> Jaspersen.“ (115)]<br />

Ravns Bericht offenbart ebenfalls e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> das (<strong>in</strong> der <strong>Erzählung</strong>) perfekt organisierte System der<br />

Bürokratie und des Nachrichtendienstes <strong>in</strong> Dänemark. Im Zuge e<strong>in</strong>er von Smilla gestellten E<strong>in</strong>reisegenehmigung<br />

nach Nordgrönland wurde e<strong>in</strong> umfangreiches Dossier über sie angelegt. Dabei wurden Informationen über ihre<br />

E<strong>in</strong>kommensverhältnisse (und die ihres Vaters) gesammelt, ihr Familienstand e<strong>in</strong>gehend studiert und ihre politischen<br />

Aktivitäten kritisch beobachtet. Als Ergebnis dieser Untersuchung wird Smilla die E<strong>in</strong>reise nach Nordgrönland<br />

schließlich verweigert, da die Behörden sie als Sicherheitsrisiko e<strong>in</strong>stufen.<br />

Der Bericht und die Vorgehensweise der Behörden impliziert e<strong>in</strong>e subtile Kritik. Letztendlich s<strong>in</strong>d es die dänische<br />

Behörden, die darüber entscheiden, ob Smilla <strong>in</strong> ihr ehemaliges Heimatland e<strong>in</strong>reisen darf oder nicht. <strong>Die</strong><br />

den Grönländern <strong>in</strong> postkolonialer Zeit zugesprochene Souveränität wird so unterlaufen – worauf im zweiten<br />

Teil dieser Arbeit noch ausführlich e<strong>in</strong>gegangen werden soll.<br />

4


2.1.1 Multikulturelle Extreme – Familie Qaavigaaq Jaspersen<br />

Smilla hat ihr Studium abgebrochen, hat ke<strong>in</strong>e Berufsausbildung vorzuweisen, ist arbeitslos,<br />

k<strong>in</strong>derlos, hat weder e<strong>in</strong>e Beziehung noch Freunde. Von der gesellschaftlichen Seite aus<br />

betrachtet ist Smilla, wie Ravn mit se<strong>in</strong>em zweiten Bericht betont, gescheitert. Bereits ihre<br />

Familie verweist beispielhaft auf diesen Zustand.<br />

Smillas Mutter ist e<strong>in</strong>e Grönländer<strong>in</strong>, die, tief verwurzelt <strong>in</strong> der traditionellen grönländischen<br />

Lebensweise, der Jagd nachgeht. Smillas Vater h<strong>in</strong>gegen kommt als junger, aufstrebender<br />

Mediz<strong>in</strong>er nach Grönland, um dort auf der Suche nach e<strong>in</strong>er neuen Heilmethode für e<strong>in</strong>e<br />

neurologische Erkrankung se<strong>in</strong>e Karriere voranzutreiben. Größer könnten die Extreme, die <strong>in</strong><br />

der Verb<strong>in</strong>dung von Ane Qaavigaaq und Moritz Jaspersen kulm<strong>in</strong>ieren, kaum se<strong>in</strong>. Mit Smillas<br />

Eltern prallen zwei völlig unterschiedliche Kulturen, soziale Schichten und Lebensauffassungen<br />

aufe<strong>in</strong>ander. <strong>Die</strong>se Spannung hält der Vater nicht lange aus. Er ist weder dem hitzigen<br />

Temperament von Smillas Mutter noch den eisigen Bed<strong>in</strong>gungen Grönlands gewachsen, bald<br />

schon verlässt er die Familie und kehrt nach Dänemark zurück. Smilla h<strong>in</strong>gegen bleibt mit<br />

ihrem Bruder und ihrer Mutter <strong>in</strong> Grönland.<br />

Smillas Familie repräsentiert <strong>in</strong> gewisser Weise die Situation der modernen Familie – die<br />

Eltern, die sich früh trennen, die K<strong>in</strong>der, die den Vater oder die Mutter verlieren und bei e<strong>in</strong>em<br />

Elternteil aufwachsen. Smillas Fall ist aber noch etwas komplexer – vier Jahre nach der<br />

Scheidung ihrer Eltern stirbt ihre Mutter und Smillas Leben ändert sich im Alter von sechs<br />

Jahren noch e<strong>in</strong>mal grundlegend. Der Vater holt sie nach Dänemark, wo er mit ihrer Erziehung<br />

hoffnungslos überfordert ist und Smilla mit e<strong>in</strong>er völlig neuen Umgebung konfrontiert<br />

wird. Ihre weitere Sozialisation f<strong>in</strong>det fortan <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fremden und bald schon verhassten Kultur<br />

statt.<br />

<strong>Die</strong>se traumatischen Ereignisse, der Wechsel von der prä<strong>in</strong>dustriellen grönländischen Jägerkultur<br />

h<strong>in</strong> zur post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft Dänemarks prägen Smillas weitere Biografie.<br />

Ihre K<strong>in</strong>dheit verläuft unstet. Sie wird von verschiedenen Schulen verwiesen und auch <strong>in</strong> den<br />

Internaten, <strong>in</strong> die sie ihr Vater steckt, da er mit ihrer Erziehung nicht mehr zurechtkommt,<br />

bleibt sie nie lang. Smilla versucht <strong>in</strong>sgesamt sechsmal nach Grönland zu fliehen, zweimal<br />

mit Erfolg, doch die Polizei und ihr Vater greifen sie jedes Mal wieder auf und br<strong>in</strong>gen sie<br />

zurück nach Dänemark.<br />

Dabei wird Smilla bereits <strong>in</strong> Grönland mit der dänischen Kultur konfrontiert. In Thule erzw<strong>in</strong>gt<br />

ihr Vater, dass sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong> grönländisches Internat kommt, das ausschließlich von dänischen<br />

Lehrern geführt wird. Hier wird Smilla zum ersten Mal mit der dänischen Sprache kon-<br />

5


frontiert, da sie Lehrer hat, „der ikke kunne ét ord grønlandsk, og heller ikke havde tænkt sig<br />

at lære det“ (115). 6 Für Smilla ist damit bereits von kle<strong>in</strong> auf die dänische Sprache und damit<br />

auch Dänemark negativ konnotiert. Das Entscheidende dabei ist: Ihren traumatischen Lebensabschnitt<br />

und ihre problematische Sozialisation <strong>in</strong> Dänemark lastet sie ihrem Vater an, den sie<br />

für ihre Misere verantwortlich macht und mit Dänemark gleichsetzt. Und an diesem Bild hält<br />

Smilla mit 37 Jahren immer noch fest:<br />

Jeg har sælsk<strong>in</strong>dspels på over en comb<strong>in</strong>ation af broderet uld med lynlås. Set<br />

udefra er vi far og datter med masser af vitalitet og overskud. På nærmere hold er<br />

vi bare en banal tragedie fordelt over to generationer. (35)<br />

[Ich trage e<strong>in</strong>en Seehundspelz über e<strong>in</strong>er Komb<strong>in</strong>ation aus bestickter Wolle mit<br />

Reißverschluß. Von außen betrachtet s<strong>in</strong>d wir Vater und Tochter, voller Vitalität<br />

und strotzend vor Kraft. Bei näherem H<strong>in</strong>sehen jedoch s<strong>in</strong>d wir nur e<strong>in</strong>e über zwei<br />

Generationen verteilte banale Tragödie. (37)]<br />

Paradoxerweise ist Moritz Jaspersens exorbitanter Hang zum Luxus die e<strong>in</strong>zige Ähnlichkeit,<br />

die er nun, zum<strong>in</strong>dest oberflächlich, mit se<strong>in</strong>er Tochter teilt. Bei ihrem ersten Besuch<br />

nach Esajas’ Tod beschreibt Smilla die Karriere ihres Vaters. Se<strong>in</strong> Ehrgeiz hat ihn im Lauf<br />

der Jahre zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternational renommierten Anästhesisten gemacht, der <strong>in</strong> Dänemark zu<br />

den reichsten und angesehensten Bürgern zählt. Se<strong>in</strong> sagenhafter Reichtum hat ihm e<strong>in</strong>e eigene<br />

Insel, e<strong>in</strong>e Yacht im Hafen, e<strong>in</strong>en Bugatti und e<strong>in</strong>e Villa mit angeschlossenem Golfplatz<br />

beschert. Aber der von Vater und Tochter gehegte bürgerliche Materialismus kann nicht verh<strong>in</strong>dern,<br />

dass ihr Verhältnis zutiefst gestört ist. Beim Abschied beschreibt Smilla die Distanz<br />

zwischen ihr und ihrem Vater:<br />

„Der er et snedækket stykke plæne imellem os. Det kunne lige så godt være<br />

<strong>in</strong>landsisen“ (43).<br />

[„Zwischen uns liegt e<strong>in</strong> Stück schneebedeckter Rasen. Es könnte ebensogut<br />

Inlandeis se<strong>in</strong>.“ (46)].<br />

Aber ganz so kalt und distanzlos, wie Smilla das Verhältnis zu ihrem Vater beschreibt,<br />

kann es nicht se<strong>in</strong>. Schließlich lässt sie sich von ihrem Vater aushalten – Moritz’ Geldspritzen<br />

ermöglichen ihr nicht nur e<strong>in</strong> (materiell) sorgenfreies Leben, sie kann so auch ihren Hang für<br />

aufwendige und teure Kleidung ausleben. Um dem materiellen Luxus nicht entsagen zu müssen,<br />

verzichtet Smilla lieber auf den Luxus der Unabhängigkeit, wohl wissend, dass Moritz’<br />

f<strong>in</strong>anzielle Zuwendungen die e<strong>in</strong>zige noch verbliebene Verb<strong>in</strong>dung zu ihr s<strong>in</strong>d. <strong>Die</strong>se Inkonsequenz<br />

gesteht sie sich und Moritz zu. Denn, bei aller Verachtung und Schuldzuweisung<br />

ihrem Vater gegenüber, verb<strong>in</strong>det sie mit ihm, neben ihrem Hang zum Luxus, e<strong>in</strong> bedeuten-<br />

6 [„die ke<strong>in</strong> Wort Grönländisch konnten und auch nicht vorhatten, es zu lernen.“ (133)]<br />

6


des, tiefer liegendes Band. Beide s<strong>in</strong>d auf ihre Weise an Grönland, genauer gesagt an Smillas<br />

Mutter gebunden. Für Smilla bedeutet die kurze Zeit mit ihrer Mutter <strong>in</strong> Grönland die heile<br />

Welt e<strong>in</strong>er geborgenen und glücklichen K<strong>in</strong>dheit, die sie jetzt diametral zu ihrer Zeit <strong>in</strong> Dänemark<br />

setzt. Für ihren Vater bedeutet Smillas Mutter die Liebe se<strong>in</strong>es Lebens, e<strong>in</strong> Band aus<br />

„hvidglødende energi“ (41), 7 e<strong>in</strong>e Frau, die ihn über alle Maßen magisch anzog – und immer<br />

noch anzieht. Ane Qaavigaaq verschw<strong>in</strong>det im Meer und beide wissen, dass diese Trennung<br />

unauflöslich und unumkehrbar ist. Was bleibt, ist die Er<strong>in</strong>nerung, und Moritz Jaspersen <strong>in</strong>strumentalisiert<br />

se<strong>in</strong>e Tochter zum direkten Draht <strong>in</strong> die Vergangenheit:<br />

Til Danmark havde han hentet mig, fordi jeg var det eneste der kunne m<strong>in</strong>de ham<br />

om, hvad han havde mistet. [...] Han var håbløst forelsket i en, hvis molekyler var<br />

suget ud i den store tomhed. Hans kærlighed havde opgivet håbet. Men den havde<br />

klamret sig til er<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen. Jeg var den er<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>g. Under stort besvær havde han<br />

hentet mig, og igennem år havde han udholt en endeløs række af afvisn<strong>in</strong>ger i en<br />

ørken af modvilje for at kunne se over på mig og hvile et øjeblik ved de punkter,<br />

hvorpå jeg måtte ligne den kv<strong>in</strong>de, der var m<strong>in</strong> mor. (108/109)<br />

[Nach Dänemark hatte er mich geholt, weil ich das e<strong>in</strong>zige war, das ihn an das<br />

Verlorene er<strong>in</strong>nern konnte. [...] Er war hoffnungslos <strong>in</strong> jemanden verliebt, dessen<br />

Moleküle <strong>in</strong> die große Leere h<strong>in</strong>ausgesogen worden waren. Se<strong>in</strong>e Liebe hatte die<br />

Hoffnung aufgegeben. Aber sie hatte sich an die Er<strong>in</strong>nerung geklammert. Und<br />

diese Er<strong>in</strong>nerung war ich. Unter großen Mühen hatte er mich geholt, jahrelang<br />

hatte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wüste aus Widerwillen e<strong>in</strong>e end<strong>lose</strong> Serie von Zurückweisungen<br />

ertragen, um zu mir herübersehen und e<strong>in</strong>en Augenblick bei dem <strong>in</strong>nehalten zu<br />

können, was ihn an mir an die Frau er<strong>in</strong>nerte, die me<strong>in</strong>e Mutter gewesen war.<br />

(125)]<br />

Smilla reflektiert und beschreibt Moritz als tragische Gestalt, e<strong>in</strong> Mann der se<strong>in</strong>e regressive<br />

Trauerhaltung nicht überw<strong>in</strong>den kann. Ihm, dem berühmten Mediz<strong>in</strong>er, dem sonst alles<br />

gel<strong>in</strong>gt, wird mit der Verb<strong>in</strong>dung zu Ane Qaavigaaq e<strong>in</strong>e Struktur des Scheiterns aufgedrängt.<br />

Se<strong>in</strong>e Ehe missl<strong>in</strong>gt, se<strong>in</strong>e Frau stirbt und Smilla lässt sich <strong>in</strong> Dänemark nicht nach se<strong>in</strong>en<br />

Vorstellungen assimilieren. <strong>Die</strong> Ursache dieses fortgesetzten Scheiterns liegt, darauf verweist<br />

Smillas Wortwahl explizit, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em irrationalen Moment, das sich Moritz, als rational denkendem<br />

und handelndem Wissenschaftler, völlig entzieht. 8<br />

7 [„weißglühende[r] Energie“ (44)]<br />

8 So beschreibt Smilla ihn bewusst als Opfer: „[F]anget i et land han hadede, af en kærlighed han ikke forstod,<br />

men var bytte for, og ikke syntes at kunne få den r<strong>in</strong>geste <strong>in</strong>dflydelse på [...]. Han sad fast i m<strong>in</strong> mor med en<br />

elastik der var usynlig for verden, men med en effekt og fysisk realitet som en drivrem“ (41) [„[G]efangen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Land, das er haßte, und von e<strong>in</strong>er Liebe, die er nicht verstand, deren Opfer er nur war und auf die er – so<br />

empfand er es – nicht den ger<strong>in</strong>gsten E<strong>in</strong>fluß nehmen konnte. [...] Er h<strong>in</strong>g an me<strong>in</strong>er Mutter mit e<strong>in</strong>em für die<br />

Welt nicht sichtbaren Gummiband, das jedoch die Wirkung und die physische Realität e<strong>in</strong>es Treibriemens besaß.“<br />

(45)]. Wenn man bedenkt, dass Smillas Mutter <strong>in</strong> Grönland als „Fanger“ [„Jäger<strong>in</strong>“] tätig ist, ergeben ihre<br />

Worte sowohl im Übertragenen als auch im Konkreten e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n.<br />

7


Smilla Verhältnis zu ihrem Vater ist von komplexen Strukturen gekennzeichnet. 9 E<strong>in</strong>erseits<br />

missbilligt sie se<strong>in</strong> Verhalten, sie aus eigennützigem Verlangen nach Dänemark geholt<br />

zu haben, andererseits äußert sie offenes Verständnis, da sie sich mit se<strong>in</strong>em Schicksal <strong>in</strong> gewisser<br />

Weise identifizieren kann. 10 Ihren Vater charakterisiert sie als tragische Figur, ihr Verhältnis<br />

zue<strong>in</strong>ander als fortgesetzte Tragödie, und mit diesem Zustand hat sich Smilla mittlerweile<br />

arrangiert.<br />

Im Gegensatz zu den detaillierten Beschreibungen ihres Vater s<strong>in</strong>d Smillas Er<strong>in</strong>nerungen<br />

an ihre Mutter bruchstückhaft. 11 Während sie ihrem Vater mit ambivalenten Gefühlen gegenübersteht,<br />

gehört ihrer Mutter und dem Grönlandbild, das sie verkörpert, ihre ganze Liebe.<br />

Damit beschreibt Smilla ihre Eltern als Oppositionspaar, mit dem positiv konnotierten<br />

Grönlandbild auf der e<strong>in</strong>en und dem negativ besetzten Dänemarkbild auf der anderen Seite.<br />

Stand der Vater symbolisch für die von rationalen und materialistischen Zügen geprägte europäische<br />

Kultur, so betont Smilla mit ihrer Mutter die von der traditionellen grönländischen<br />

Lebensweise geprägte Jägerkultur. Sie verweist damit auch auf die b<strong>in</strong>äre Opposition zwischen<br />

der weiblich besetzten (Mutter) Natur auf der e<strong>in</strong>en und der männlich gesetzten rationalen<br />

Wissenschaft und Technik auf der anderen Seite.<br />

<strong>Die</strong>se Oppositionen werden von Høeg jedoch bewusst gebrochen, wie das Schicksal von<br />

Smillas scheiterndem (und we<strong>in</strong>endem) Vater zeigt. Auch Ane Qaavigaaqs Biographie weist<br />

explizit auf e<strong>in</strong>em Normbruch h<strong>in</strong>. Smillas Mutter versteht es nämlich geschickt die europäi-<br />

9 Darauf verweist auch Smillas von gegenseitigen emotionalen Reaktionen geprägte Verhältnis zu Benja, der<br />

neuen Lebensgefährt<strong>in</strong> ihres Vaters. Sie beschreibt sie zunächst, bewusst herablassend, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Satz mit Moritz’<br />

luxuriöser Wohnzimmere<strong>in</strong>richtung (vgl. S. 35 [S. 37/38]) und wird später, als Benja versucht Smilla mit<br />

e<strong>in</strong>em Verrat aus der Familie zu entfernen, handgreiflich (vgl. S. 242 [S. 283/284]). Smillas Handlungen tragen<br />

deutliche Züge von Eifersucht. Sollten tatsächlich Eisberge zwischen ihr und ihrem Vater liegen, so ist ihre Beziehung<br />

doch nicht so frostig, dass Smilla die Angelegenheiten ihres Vaters völlig kalt lassen.<br />

10 Nachdem Smillas Vater bewusst wird, dass er sie nicht erreichen kann (Smilla hatte kurz zuvor e<strong>in</strong>en weiteren<br />

Fluchtversuch nach Grönland unternommen und ihm mit e<strong>in</strong>em Messer die Hand aufgerissen), bricht er<br />

zusammen und we<strong>in</strong>t: „Du ligner d<strong>in</strong> mor, sagde han. Og så begyndte han at græde.“ (108) [„Du bist wie de<strong>in</strong>e<br />

Mutter, sagte er. Und dann f<strong>in</strong>g er an zu we<strong>in</strong>en.“ (124)] Smilla unternimmt daraufh<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Fluchtversuche<br />

mehr und ihr weiteres Verhalten ihrem Vater gegenüber ist e<strong>in</strong>e Mischung aus Vorwurf, Verständnis und Mitleid.<br />

11 So greift Smilla bei der Beschreibung ihre Mutter unter anderem auf Mythen und Archetypen zurück: „[I]<br />

øjeblikke af stor fortrolighed lader hun mig drikke dem mælk, der bliver ved med at være der, bag huden, som<br />

blodet altid er der. Hun spreder s<strong>in</strong>e ben, så jeg kan gå <strong>in</strong>d imellem dem. [...] Hun elsker aske, spiser den<br />

undertiden direkte ud af bålet, og hun har smurt sig under øjnene med den. I denne duft af brændt kul og<br />

bjørnesk<strong>in</strong>d går jeg <strong>in</strong>d til brystet, der lysende hvidt, med en stor, sart rosa areola. Der drikker jeg så immuk, m<strong>in</strong><br />

mors mælk“ (38). [„[I]n Augenblicken großer Vertrautheit läßt sie mich die Milch tr<strong>in</strong>ken, die immer noch da<br />

ist, unter der Haut ist wie das Blut. Sie spreizt die Be<strong>in</strong>e, damit ich dazwischentreten kann. [...] Sie liebt Asche,<br />

sie ißt sie zuweilen direkt aus dem Feuer und hat sich damit jetzt unter den Augen e<strong>in</strong>geschmiert. In diesem Duft<br />

aus verbrannter Kohle und Bärenfell gehe ich zu ihrer Brust, sie ist leuchtend weiß und hat e<strong>in</strong>e große, zartrosa<br />

Areola, und ich tr<strong>in</strong>ke dann immuk, die Milch me<strong>in</strong>er Mutter.“ (41/42)].<br />

Smillas märchenhafte Er<strong>in</strong>nerungen an ihre Mutter verweisen e<strong>in</strong>erseits auf das verklärte Grönlandbild ihrer<br />

K<strong>in</strong>dheit und brechen andererseits mit der ‚Realitätsebene’ ihres Berichtes. Auf Smillas narratives Verhalten<br />

werde ich im dritten Teil dieser Arbeit ausführlich e<strong>in</strong>gehen.<br />

8


schen E<strong>in</strong>flüsse und Kulturgüter <strong>in</strong> ihre eigene Tradition und Lebensweise zu <strong>in</strong>tegrieren. Ebenso<br />

durchbricht sie das traditionelle Rollenverständnis der grönländischen Gesellschaft.<br />

Nach dem frühen Ausfall ihres Vaters als Versorger der Familie (er erbl<strong>in</strong>det) übernimmt sie<br />

fortan se<strong>in</strong>e Rolle als Jäger. <strong>Die</strong>ses Verhalten war <strong>in</strong> Grönland angesichts der ökonomischen<br />

Notwendigkeit, die e<strong>in</strong> solcher Unglücksfall erforderte, nicht unüblich. H<strong>in</strong>zu kommt das, wie<br />

Smilla anmerkt, <strong>in</strong> Grönland selbstverständliche Wissen, „at hvert af de to køn i sig som<br />

mulighed bærer det modsatte“ (36). 12 Smillas Mutter aber geht e<strong>in</strong>en Schritt weiter – sie ignoriert<br />

die grönländische Norm, der zufolge e<strong>in</strong> Rollenwechsel zwar möglich, e<strong>in</strong> fliegender<br />

Wechsel zwischen den Geschlechtern aber nicht üblich ist – sie ist Mutter und Jäger<strong>in</strong>:<br />

Med m<strong>in</strong> mor var det anderledes. Hun lo og fødte s<strong>in</strong>e børn og bagtalte s<strong>in</strong>e venner<br />

og rensede sk<strong>in</strong>d som en kv<strong>in</strong>de. Men hun skød og sejlede kajak og slæbte kødet<br />

hjem som en mand. (36).<br />

[„Bei me<strong>in</strong>er Mutter war das anders. Sie lachte, gebar ihre K<strong>in</strong>der, tratschte h<strong>in</strong>ter<br />

dem Rücken ihrer Freunde und re<strong>in</strong>igte die Felle wie e<strong>in</strong>e Frau. Und zugleich<br />

schoß sie, fuhr Kajak und schleppte das Fleisch nach Hause wie e<strong>in</strong> Mann.“ (39)]<br />

Ane Qaavigaaq ignoriert und überschreitet ungeniert Norm- und Kulturgrenzen. So nimmt<br />

sie aus der europäischen Kultur nur das an, was sie für sich selbst nutzbr<strong>in</strong>gend verwenden<br />

kann – alles andere lässt sie an sich abprallen:<br />

Dette var hendes svar på den europæiske kultur. Hun åbnede sig for den med en<br />

høflighed, der var fuld af gustent overlæg. Og hun lukkede sig om den og<br />

<strong>in</strong>dkapslede det, hun kunne bruge. [...]<br />

Hun sejlede en kajak, der var bygget som dengang i 1600-talet før kajakkunsten<br />

forsvandt fra Nordgrønland. Men hun brugte en forseglet plasticdunk som<br />

fangstblære. (76–77)<br />

[„Das war ihre Antwort auf die europäische Kultur. Sie öffnete sich ihr mit der<br />

Höflichkeit der kühlen Berechnung. Und sie umschloß diese Kultur und kapselte<br />

e<strong>in</strong>, was sie gebrauchen konnte. Sie fuhr e<strong>in</strong>en Kajak, der so gebaut war wie<br />

damals im 17. Jahrhundert, bevor die Kajakkunst aus Nordgrönland verschwand.<br />

Doch als Fangblase benutzte sie e<strong>in</strong>en versiegelten Plastikkanister.“ (87)]<br />

Mit ihrem Verhalten und ihrer pragmatischen E<strong>in</strong>stellung widerspricht Smillas Mutter<br />

auch der ‚Sozialromantik’ europäischer Ethnographen, die den „drøm om uskyld“ (77) 13 nach<br />

Grönland brachten, wie Smilla betont. Ihre Mutter entzieht sich damit sowohl europäischen<br />

als auch grönländischen normativen Kategorien. <strong>Die</strong>se bewussten Grenzüberschreitungen, das<br />

Wandern zwischen den Kulturen übernimmt Smilla von ihrer Mutter, was <strong>in</strong> den folgenden<br />

Abschnitten noch deutlicher herausgestellt werden soll.<br />

12 [„daß beide Geschlechter das jeweils andere als Möglichkeit <strong>in</strong> sich tragen.“ (39)]<br />

13 [„Traum von der Unschuld“ (87)]<br />

9


Das letzte Mitglied der Familie Qaavigaaq–Jaspersen ist Smillas Bruder. In der <strong>Erzählung</strong><br />

wird er jedoch kaum erwähnt, er bleibt anonym – was Mechthild Krüger dazu führt, <strong>in</strong> ihm<br />

e<strong>in</strong>en „der größten Schwachpunkte des Romans [auszumachen], weil [er] mangelhaft ausgestaltet<br />

ist“. 14 Dabei verweist gerade die Figur des Bruders auf zwei wesentliche Merkmale der<br />

<strong>Erzählung</strong>:<br />

Obwohl Grönland e<strong>in</strong>erseits fortwährend <strong>in</strong> der <strong>Erzählung</strong> thematisiert wird, spielt ke<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong>zige Zeile des Romans auf Grönland selbst (Gela Alta liegt vor Grönland). Alles, was wir<br />

über Grönland erfahren, erfahren wir von Smilla; Smilla aber kann Grönland nur noch als<br />

Zitatfunktion wahrnehmen. Andererseits s<strong>in</strong>d nahezu alle Grönländer, die der Text erwähnt,<br />

entweder bereits tot oder sterben im Laufe der Handlung. 15 Grönland ist im Text nicht nur<br />

‚sprachlos’, die Grönländer selbst (und damit implizit die grönländische Kultur) s<strong>in</strong>d buchstäblich<br />

am Aussterben. Smillas anonymer Bruder steht mit se<strong>in</strong>em Schicksal symbolisch für<br />

diesen Prozess – der (post–)kolonialen Situation der Grönländer. 16<br />

Smilla reflektiert ihre Familiensituation mehrfach im Text. Am deutlichsten jedoch wird<br />

die Problematik ihrer multikulturellen Herkunft, wenn Smilla ihren Namen und se<strong>in</strong>e Bedeutung<br />

reflektiert: „Er jeg mit navn?“ (284). 17<br />

Mit unserem Namen werden wir im Allgeme<strong>in</strong>en identifiziert. Smillas Name steht emblematisch<br />

für die problematische Biografie ihrer multikulturellen Familie. In der Genese ihres<br />

Namens wird das R<strong>in</strong>gen der Kulturen, die Distanz zwischen Dänen und Grönländern und der<br />

europäische Wunsch zu kontrollieren deutlich. Sowohl Smillas Vor- als auch ihr Nachname<br />

spiegeln e<strong>in</strong>en Kompromiss wider, den ihre Eltern mühsam aushandeln. 18 Ihr Nachname besteht<br />

aus dem Familiennamen ihres Vater und dem der Mutter, und verweist auf ihren dänischen<br />

und grönländischen Anteil, ihre multikulturelle Herkunft. Ihr Vorname h<strong>in</strong>gegen ist auf<br />

subtile Weise doppelt kodiert. Er bildet e<strong>in</strong>e Synthese aus dänischen und grönländischen<br />

Komponenten. Das Fundament des Vornamens bildet der grönländische Mädchenname Mil-<br />

14<br />

Mechthild Krüger: „Luksusgrønlænderen, papgrønlænderen, fupgrønlænderen, pladaskgrønlænderen“ –<br />

hvad er jeg? Zur Fragestellung e<strong>in</strong>er postkolonialen Poetik <strong>in</strong> <strong>Peter</strong> <strong>Høegs</strong> Frøken Smillas fornemmelse for sne.<br />

In: Heiko Uecker (Hg.): Fragmente e<strong>in</strong>er skand<strong>in</strong>avischen Poetikgeschichte. Frankfurt/M., 1997. S. 303 – 321;<br />

hier S. 307.<br />

15<br />

<strong>Die</strong> meisten Grönländer die im Text erwähnt werden (Smillas Mutter und ihr Bruder, Esajas und se<strong>in</strong> Vater,<br />

sowie die grönländischen Arbeiter der beiden Expeditionen nach Gela Alta) s<strong>in</strong>d bereits tot, als die Handlung<br />

e<strong>in</strong>setzt. Später stirbt Andreas F<strong>in</strong>e Licht und bei Esajas’ Mutter ist es ebenfalls nur e<strong>in</strong>e Frage der Zeit, bis auch<br />

sie, aufgrund ihres chronischen Alkoholmissbrauchs, ihr Leben lässt.<br />

16<br />

Smillas Bruder begeht Selbstmord, da die dänische Firma, bei der er angestellt ist, aus Rationalisierungsgründen<br />

se<strong>in</strong>en Betrieb schließt.<br />

17<br />

[„B<strong>in</strong> ich me<strong>in</strong> Name?“ (332)]<br />

10


laaraq. <strong>Die</strong>sen Namen akzeptiert Smillas Vater nur deshalb, weil er ihn an das dänische mild<br />

er<strong>in</strong>nert. 19 Das alle<strong>in</strong> genügt ihm aber nicht, aus Millaaraq wird Smillaaraq, da ihn dieser<br />

Name an das dänische smil er<strong>in</strong>nert 20 und, wie Smilla anmerkt, „[...] fordi han ønskede at<br />

underkaste alt grønlandsk en transformation, der kunne gøre det europæisk og bekendt“<br />

(284). 21 Smillas Vater offenbart damit das europäische Bedürfnis alles Fremde und Unbekannte<br />

zu unterwerfen, um es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bekannte Kategorie transformieren zu können. E<strong>in</strong> letzter<br />

Namensbildungsprozess f<strong>in</strong>det anschließend statt, der auch noch die letzte grönländische<br />

Komponente aus dem Vornamen elim<strong>in</strong>iert: Smillaaraq wird schließlich zu Smilla.<br />

Smillas Name und se<strong>in</strong>e Genese verweisen explizit auf ihre multikulturelle Herkunft – Er<br />

spiegelt e<strong>in</strong>erseits das R<strong>in</strong>gen der Kulturen <strong>in</strong> der Familie Qaavigaaq–Jaspersen beispielhaft<br />

wider und er enthüllt andererseits mit dem Beitrag des Vaters das dänisch–europäische Verhalten<br />

der grönländischen Kultur gegenüber. Dem Versuch ihres Vaters, den Namen zu ‚entgrönländisieren’,<br />

entspricht se<strong>in</strong> späteres Verhalten, Smilla nach Dänemark zu holen, um sie<br />

an die dänische Kultur zu assimilieren. Mit Smillas Namen und se<strong>in</strong>er Genese sche<strong>in</strong>en ihre<br />

Identität und ihr weiterer Werdegang bereits vorweggenommen.<br />

18 Wie mühsam dieser Prozess ist, zeigt die Tatsache, dass sich beide nicht ‚e<strong>in</strong>fach’ mit e<strong>in</strong>em paritätischem<br />

Kompromiss – e<strong>in</strong>em grönländischen Vor- und e<strong>in</strong>em dänischen Nachnamen (oder umgekehrt) – zufrieden gaben.<br />

19 <strong>Die</strong>ses Attribut beschreibt e<strong>in</strong>e Eigenschaft, die er sich <strong>in</strong> der Beziehung zu Smillas Mutter zwar wünscht,<br />

die der realen Situation aber widerspricht: „[...] det m<strong>in</strong>dede Moritz om det danske mild, der ikke fandtes i<br />

ordbogen over hans og m<strong>in</strong> mors kærlighedsforhold“ (284) [„Weil er Moritz an das dänische Wort mild – das<br />

heißt ‚sanft’ – er<strong>in</strong>nerte, das <strong>in</strong> dem Wörterbuch der Liebesbeziehung zwischen ihm und me<strong>in</strong>er Mutter nicht<br />

vorkam.“ (332)].<br />

20 „[...] fordi jeg efter sigende skal have leet til ham – spædbarnets ubegrænsede tillid, der kommer af, at det<br />

endnu ikke véd hvad der venter [...]“ (284) [„und [weil] ich ihn angeblich angelacht haben soll – mit dem grenzen<strong>lose</strong>n<br />

Zutrauen des Säugl<strong>in</strong>gs, der noch nicht weiß, was ihn erwartet“. (332)]<br />

Auch diese Zuschreibung bricht an der Realität, wenn man das spätere Verhältnis zwischen Smilla und ihrem<br />

Vater betrachtet, wo es für beide Seiten nichts mehr zu lachen gibt. Smillas Name repräsentiert e<strong>in</strong>en Kompromiss,<br />

der der realen Entwicklung der Geschehnisse <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise gerecht wird.<br />

21 [„[...] weil er alles Grönländische <strong>in</strong> etwas Europäisches und Bekanntes umwandeln wollte“. (332)]<br />

11


2.1.2 Smilla – heimatlos <strong>in</strong> Dänemark und Grönland<br />

Smilla unternimmt als K<strong>in</strong>d sechs Fluchtversuche nach Grönland; zwei Mal gel<strong>in</strong>gt es ihr<br />

sogar bis nach Grönland zu kommen, ihr Vater holt sie jedoch jedes Mal wieder zurück. Nun,<br />

mit 37, ist sie <strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht ungebunden. Sie ist arbeitslos, hat ke<strong>in</strong>e Freunde, ke<strong>in</strong>e feste<br />

Beziehung und kaum Kontakt zu ihrem Vater. Was ihr <strong>in</strong> ihrer K<strong>in</strong>dheit verwehrt wurde, steht<br />

ihr nun offen. Was also hält Smilla davon ab nach Grönland zu ziehen, warum bleibt sie im<br />

ungeliebten Dänemark?<br />

Neben der thematisierten Familientragödie ereignet sich <strong>in</strong> Smillas K<strong>in</strong>dheit e<strong>in</strong> weiteres<br />

traumatisches Ereignis, das Smillas kulturelle Identität noch vor dem Tod der Mutter und ihrem<br />

erzwungenen Umzug nach Dänemark <strong>in</strong> Frage stellt. Smilla berichtet von zwei Jagdausflügen,<br />

die sie zusammen mit ihrer Mutter im Alter von fünf Jahren unternimmt. Sie fangen<br />

e<strong>in</strong>en Narwal, e<strong>in</strong> schwangeres Weibchen, das beim Öffnen der Bauchdecke e<strong>in</strong> nahezu vollständig<br />

ausgebildetes Junges offenbart. Während ihre Mutter und die anderen Jäger sich um<br />

den Wal gruppieren und traditionell die Walhaut verspeisen, steht Smilla außen vor:<br />

I måske fire timer stod fangerne, næsten tavse, og så ud i midnatssolen, der på<br />

denne årstid gør lyset uophørligt, og spiste mattak, hvalsk<strong>in</strong>d. Jeg kunne ikke tage<br />

noget som helst i munden. (37)<br />

[Ungefähr vier Stunden lang standen die Walfänger fast schweigend da, sahen <strong>in</strong><br />

die Mitternachtssonne, die zu dieser Jahreszeit das Licht endlos macht, und aßen<br />

mattak, Walhaut. Ich bekam nicht e<strong>in</strong>en Bissen h<strong>in</strong>unter. (40)]<br />

Bei e<strong>in</strong>em weiteren Jagdausflug verschont Smilla <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Akt des Mitleids die gefangenen<br />

Vögel und lässt sie fliegen. Ihre Mutter versucht sie daraufh<strong>in</strong> über die Gesetze der Natur<br />

und der Jagd aufzuklären – vergeblich:<br />

[D]et ændrede <strong>in</strong>tet. Året efter – det var året før hun forsvandt – begyndte jeg at få<br />

kvalme når jeg fiskede. Jeg var da omkr<strong>in</strong>g seks år. Ikke gammel nok til at<br />

spekulere over årsagen. Men gammel nok til at forstå, at det var en fremmedhed<br />

over for naturen. At en del af den ikke mere var tilgængelig for mig på den<br />

selvfølgelige måde den havde været tidligere. (39)<br />

[[E]s änderte nichts. Im Jahr darauf – es war das Jahr, bevor sie verschwand –<br />

wurde mir beim Fischen übel. Ich muß etwa sechs gewesen se<strong>in</strong>. Nicht alt genug,<br />

um über die Ursache nachzugrübeln. Aber alt genug, um zu verstehen, daß es sich<br />

um e<strong>in</strong>e Naturentfremdung handelte. Daß mir e<strong>in</strong> Teil der Natur nicht mehr so<br />

selbstverständlich zugänglich war wie zuvor. (42)]<br />

Smilla ist bereits als K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Außenseiter<strong>in</strong> <strong>in</strong> ihrem Mutterland. <strong>Die</strong> grönländische Kultur<br />

ist ihr ebenso fremd, wie die Jagdtraditionen ihrer Mutter. Und auch die letzte manifeste<br />

B<strong>in</strong>dung an ihr Heimatland bröckelt – In e<strong>in</strong>em schleichenden Prozess entgleitet Smilla ihre<br />

12


Muttersprache. Im Gegensatz zu ihrer Naturentfremdung benennt Smilla die Ursache dieses<br />

Verlustes explizit. Das Fundament legen die dänischen Lehrer, die Smilla <strong>in</strong> ihrem grönländischen<br />

Internat auf dänisch unterrichten. Sie machen Smilla klar, dass Erfolg und Wohlstand,<br />

die Aussicht auf e<strong>in</strong> ‚besseres’ (dänisches) Leben an die dänische Sprachkompetenz gebunden<br />

s<strong>in</strong>d. Moritz holt dann Smilla nach Dänemark:<br />

[...] og der går et halvt år, og det føles som man aldrig vil glemme modersmålet.<br />

Det er dét man gør sig s<strong>in</strong>e tanker på, husker s<strong>in</strong> fortid på. Så møder man en<br />

grønlænder på gaden. Man udveksler fraser. Og pludselig er der et helt alm<strong>in</strong>deligt<br />

ord, man må lede efter. Der går et halvt år til. En ven<strong>in</strong>de tager en med <strong>in</strong>d til<br />

Grønlændernes Hus i Løvstræde. Dér opdager man, at ens eget grønlandsk er til at<br />

pille skilt ad med en negl.<br />

Siden har jeg forsøgt, når jeg har været tilbage, at lære det igen. Som så meget<br />

andet er det hverken rigtigt lykkedes eller mislykkedes. Det er omtrent dér jeg står<br />

med mit modersmål – som om jeg var en seksten-sytten år. (115/116)<br />

[ [...] es vergeht e<strong>in</strong> halbes Jahr, und man hat das Gefühl, daß man die<br />

Muttersprache nie vergessen wird. In der Muttersprache macht man sich se<strong>in</strong>e<br />

Gedanken und er<strong>in</strong>nert sich an se<strong>in</strong>e Vergangenheit. Dann begegnet man auf der<br />

Straße e<strong>in</strong>em Grönländer. Man tauscht Phrasen aus. Und plötzlich sucht man nach<br />

e<strong>in</strong>em ganz gewöhnlichen Wort. Noch e<strong>in</strong> halbes Jahr vergeht. E<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong><br />

nimmt e<strong>in</strong>en mit zum Grönländerhaus <strong>in</strong> der Løvstræde. Dort entdeckt man, daß<br />

man se<strong>in</strong> Grönländisch mit dem F<strong>in</strong>gernagel ause<strong>in</strong>anderpulen kann.<br />

Seitdem habe ich, wenn ich <strong>in</strong> Grönland war, versucht, es wieder zu lernen. Wie so<br />

vieles andere ist es mir weder richtig gelungen noch mißlungen. So weit b<strong>in</strong> ich also<br />

ungefähr mit me<strong>in</strong>er Muttersprache – als wäre ich sechzehn oder siebzehn Jahre<br />

alt. (134)]<br />

Smillas Tragik besteht <strong>in</strong> der Tatsache, dass ihr als Mischl<strong>in</strong>g zwei extrem unterschiedliche<br />

Kulturen e<strong>in</strong>geschrieben s<strong>in</strong>d. Das friedliche Nebene<strong>in</strong>ander beider Kulturen erweist sich<br />

bereits <strong>in</strong> der Ehe von Moritz Jaspersen und Ane Qaavigaaq als Utopie. Und mit Smilla setzt<br />

sich das bikulturelle Scheitern konsequent fort. Bereits <strong>in</strong> ihrem Mutterland wird sie zur Außenseiter<strong>in</strong>;<br />

mit der weiteren Sozialisation <strong>in</strong> Dänemark, dem Verlust der Muttersprache, ist<br />

für Smilla Grönland als ‚Heimat’ endgültig verloren.<br />

<strong>Die</strong> Frage ist nur, ob Grönland jemals ihre Heimat war. In ihrer Er<strong>in</strong>nerung projiziert sie<br />

e<strong>in</strong> stark idealisiertes Bild der Vergangenheit. 22 Dass diese Projektion e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>fachtes Weltbild<br />

darstellt, ist Smilla bewusst; immer wieder brechen die Bilder ihrer frühen Kulturentfremdung<br />

durch und verdeutlichen das Dilemma ihrer Herkunft. Smilla ist zu dänisch für<br />

Grönland und zu grönländisch für Dänemark, <strong>in</strong> beiden Ländern bleibt sie e<strong>in</strong>e Außenseiter<strong>in</strong>.<br />

<strong>Die</strong>sen Widerspruch kann sie nur aushalten, <strong>in</strong>dem sie beide Länder und beide Kulturen auf<br />

Distanz hält. Sie lebt <strong>in</strong> Dänemark und schwärmt für Grönland. In Grönland selbst wäre sie<br />

22 Smilla nimmt Grönland – das zeigen auch die verklärte märchenhaft-archetypischen Er<strong>in</strong>nerungen an ihre<br />

Mutter – vielmehr als Konstrukt denn als ‚wirkliches’ Heimatland wahr.<br />

13


gezwungen, sich ihrer Projektion zu stellen. So aber vermeidet sie den Umzug nach Grönland<br />

und damit die endgültige Preisgabe ihres idealisierten Heimatbildes.<br />

Smilla ist <strong>in</strong> Grönland nach dem Tod der Mutter und des Bruders familiär entwurzelt. Dänemark<br />

h<strong>in</strong>gegen ist seit nunmehr 30 Jahren ihre äußerliche Heimat. Tiefer gehende B<strong>in</strong>dungen<br />

konnte und wollte sie hier jedoch nie e<strong>in</strong>gehen. Sie führt das Leben e<strong>in</strong>er Nomad<strong>in</strong>, was<br />

sie selbst an der E<strong>in</strong>richtung ihrer Wohnung ausmacht:<br />

Iøvrigt er jeg opmærksom på, at jeg har <strong>in</strong>drettet m<strong>in</strong> lejlighed som et hotelværelse.<br />

Uden at få bugt med det <strong>in</strong>dtryk, at den der bor her er på gennemrejse. Når jeg har<br />

brug for at forklare det over for mig selv, tænker jeg på, at m<strong>in</strong> mors familie, og<br />

også hun selv, var en slags nomader. (18)<br />

[Im übrigen weiß ich, daß ich me<strong>in</strong>e Wohnung wie e<strong>in</strong> Hotelzimmer e<strong>in</strong>gerichtet<br />

habe. Ohne den E<strong>in</strong>druck vermeiden zu können, daß diejenige, die hier wohnt, sich<br />

auf der Durchreise bef<strong>in</strong>det. Wenn ich mir das zuweilen selbst erklären muß, dann<br />

denke ich daran, daß die Familie me<strong>in</strong>er Mutter und auch sie selbst e<strong>in</strong>e Art Nomaden<br />

waren. (16)]<br />

Smilla reklamiert für sich das Bedürfnis nach räumlicher Freiheit, das für sie ebenso wichtig<br />

ist wie „mænd har det med deres testikler.“ (101) 23 Ihr Nomadentum äußert sich aber nicht<br />

nur <strong>in</strong> diesen äußerlichen Kategorien. Smillas Bedürfnis nach räumlicher Freiheit verweist<br />

auch auf die <strong>in</strong>neren Räume. Wenn sich Smilla nach dem Verhör bei Ravn <strong>in</strong> ihrer Wohnung<br />

e<strong>in</strong>schließt, verschließt sie sich vor der gesamten äußeren Welt. Ihr Nomadentum führt konsequenterweise<br />

zu e<strong>in</strong>er charakteristischen B<strong>in</strong>dungslosigkeit; Smilla hält, was feste B<strong>in</strong>dungen<br />

und Freundschaften angeht, ihre Umwelt auf Distanz. Bei ihrem ersten Treffen mit Esajas<br />

versucht sie ihn zunächst zu ignorieren, und, nachdem ihr das nicht gel<strong>in</strong>gt, ihn abzuwimmeln.<br />

Den Mechaniker versucht sie ebenso auf Distanz zu halten.<br />

Smilla hat sich <strong>in</strong> Dänemark, ihrem „postkolonialen Niemandsland“ 24 mittlerweile arrangiert.<br />

<strong>Die</strong> Spannung zwischen den Kulturen, die Folgen ihrer traumatischen K<strong>in</strong>dheit vermag<br />

sie <strong>in</strong>des nur auszuhalten, <strong>in</strong>dem sie sich ihren eigenen Freiraum schafft, <strong>in</strong> dem sie alles und<br />

jeden auf Distanz hält. E<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>bruch <strong>in</strong> dieses Refugium wehrt sie vehement und energisch<br />

ab. Nach ihrer ersten Nacht mit dem Mechaniker reagiert sie deshalb auch panisch:<br />

Jeg sv<strong>in</strong>ger benene ud på gulvet. Nu er jeg panisk.<br />

Det er det her, jeg har arbejdet 37 år på at undgå. Jeg har øvet mig systematisk på<br />

det eneste i denne verden der er værd at lære. På at give afkald. Jeg er holdt op med<br />

23 [„Männern [...] ihre Hoden“. (117)]<br />

24 So charakterisiert Lutz Rühl<strong>in</strong>g Smillas Abwesenheit von Heimat. Vgl. Lutz Rühl<strong>in</strong>g: <strong>Die</strong> Entmächtigung<br />

der Metaphysik <strong>in</strong> <strong>Peter</strong> <strong>Høegs</strong> Frøken Smillas fornemmelse for sne. In: Ders.: Opfergänge der Vernunft. Zur<br />

Konstruktion von metaphysischem S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> Texten der skand<strong>in</strong>avischen Literaturen vom Barock bis zur Postmoderne.<br />

Gött<strong>in</strong>gen, 2002. S. 245 – 294; hier S. 252.<br />

14


at håbe på noget som helst. Når praktiseret ydmyghed bliver en olympisk discipl<strong>in</strong>,<br />

så kommer jeg på landsholdet. (178)<br />

[Ich schw<strong>in</strong>ge die Be<strong>in</strong>e aus dem Bett, auf den Boden. Jetzt reagiere ich panisch.<br />

Siebenunddreißig Jahre habe ich daran gearbeitet, genau das zu vermeiden.<br />

Systematisch habe ich das e<strong>in</strong>zige <strong>in</strong> dieser Welt geübt, das lernenswert ist.<br />

Verzichten. Ich habe aufgehört, auf irgend etwas zu hoffen. Wenn praktizierte<br />

Demut zur olympischen Diszipl<strong>in</strong> erklärt wird, komme ich <strong>in</strong> die<br />

Nationalmannschaft. (209)]<br />

Ihren Freiraum kann sie nur aufrechterhalten, <strong>in</strong>dem sie sich kategorisch jeder Art von tiefergehenden<br />

B<strong>in</strong>dungen versagt. Zum<strong>in</strong>dest versucht sie es. Konsequent ist sie nur <strong>in</strong> ihrer<br />

Ziellosigkeit. Smilla lässt sich, das offenbart ihr Verhältnis zum Mechaniker, lieber treiben,<br />

als selbst die Initiative zu übernehmen. Als <strong>Peter</strong> Føjl sie unvermittelt um e<strong>in</strong>en Kuss bittet,<br />

ist Smilla sprachlos: „Jeg har altid tænkt på mig selv som Mutter Skrap med den store kæft.<br />

Nu véd jeg ikke, hvad jeg skal sige“ (113). 25 Smilla agiert nicht, sie reagiert.<br />

Lediglich nach Esajas’ Tod wird Smilla aktiv und beg<strong>in</strong>nt mit eigenen Ermittlungen. Aber<br />

mit jedem Rückschlag resigniert Smilla mehr und ist bereit aufzugeben. So auch, als sie von<br />

Benja an die Polizei verraten wird:<br />

Dette øjeblik bliver det så tydeligt, som det ikke har været siden jeg var lille, at<br />

valgfriheden er en illusion, at livet fører os gennem en række bitre, ufrivilligt<br />

komiske, gentagne konfrontationer med de problemer vi ikke har løst. [...] Så jeg<br />

bøjer hovedet, og <strong>in</strong>dstiller mig på at give op. (241)<br />

[In diesem Augenblick wird es so deutlich wie seit me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>derzeit nicht mehr,<br />

daß die Wahlfreiheit e<strong>in</strong>e Illusion ist, daß uns das Leben durch e<strong>in</strong>e Reihe bitterer,<br />

unfreiwillig komischer, sich wiederholender Konfrontationen mit den Problemen<br />

führt, die wir nicht gelöst haben. [...] Ich senke also den Kopf und stelle mich darauf<br />

e<strong>in</strong> aufzugeben. (283)]<br />

Es ist dann ausgerechnet ihr Vater, der sie vor der Polizei schützt und ihr hilft auf die<br />

Kronos und damit weg von Dänemark zu kommen.<br />

Smilla entlarvt die Freiheit Entscheidungen zu treffen als Illusion. Sie sieht sich selbst als<br />

Spielball des Schicksals, als Produkt ihrer Lebensumstände. Deshalb fühlt sie sich auch nicht<br />

veranlasst, ihr Leben selbst <strong>in</strong> die Hand zu nehmen, ist sie doch immer schon von e<strong>in</strong>er ‚unsichtbaren<br />

Hand’ geführt worden:<br />

Af og til synes jeg, jeg har gjort hvad jeg ville. Alligevel er jeg blevet ført. En eller<br />

anden usynlig hånd har haft fat om nakken på mig, og hver gang jeg mente, at nu<br />

tog jeg et afgørende skridt op imod lyset, har den maset mig længere <strong>in</strong>d i et net af<br />

kloakrør, der løber under et landskab, jeg ikke véd, hvordan ser ud. (132) 26<br />

25<br />

[„Ich habe mich immer als Grobian mit großer Klappe gesehen. Jetzt weiß ich nicht, was ich sagen soll.“<br />

(130)]<br />

26<br />

Ähnlich reflektiert Smilla auf Gela Alta über ihren <strong>in</strong>neren Antrieb: „Jeg har aldrig vænet mig til at gå alene.<br />

Et sted <strong>in</strong>derst <strong>in</strong>de håber jeg at noget skal komme op bag mig og daske til mig. M<strong>in</strong> mor. Moritz. En kraft<br />

15


[Manchmal f<strong>in</strong>de ich, daß ich getan habe, was ich wollte. Trotzdem b<strong>in</strong> ich geführt<br />

worden. Irgende<strong>in</strong>e unsichtbare Hand hat mich am Schlafittchen gehalten, und jedesmal,<br />

wenn ich me<strong>in</strong>te, jetzt mache ich e<strong>in</strong>en entscheidenden Schritt h<strong>in</strong>auf ans<br />

Licht, hat sie mich noch tiefer <strong>in</strong> das Kanalisationsnetz gedrückt, das unter e<strong>in</strong>er<br />

Landschaft verläuft, von der ich nicht weiß, wie sie aussieht. (155)]<br />

Smillas postkolonialer Zustand, die Ursachen ihrer Naturentfremdung, ihre traumatische<br />

Familiensituation und die problematische Sozialisation <strong>in</strong> Dänemark führen zu e<strong>in</strong>em Gefühl<br />

der Ohnmacht, das schließlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e resignative Ziellosigkeit mündet.<br />

2.1.3 Geschlechtliche Identität im postkolonialen Niemandsland<br />

Smillas ‚une<strong>in</strong>deutiger’ Zustand, ihre Exposition zwischen Dänemark und Grönland, wirkt<br />

sich ebenfalls konstituierend auf ihre kulturelle und geschlechtliche Identität aus. Smilla muss<br />

sich schließlich nicht nur <strong>in</strong> ihrer Rolle als Außenseiter<strong>in</strong> <strong>in</strong> Dänemark (und Grönland) sondern<br />

auch <strong>in</strong> der ihr gesellschaftlich zugeordneten Rolle als Frau zurechtf<strong>in</strong>den. Und so wenig<br />

angepasst Smilla sich <strong>in</strong> der dänischen Gesellschaft zeigt, so unangepasst ist sie <strong>in</strong> ihrer Rolle<br />

als Frau.<br />

Dabei entspricht sie re<strong>in</strong> äußerlich durchaus den stereotypen Vorstellungen e<strong>in</strong>er fe<strong>in</strong>en<br />

Dame. Überhaupt legt Smilla viel Wert auf ihr äußeres Ersche<strong>in</strong>ungsbild. Sie kleidet sich elegant,<br />

hüllt sich <strong>in</strong> edle und teure Stoffe und auch ohne Make-up geht es nicht. 27<br />

Smilla betont selbst, wie wichtig Kleidung für sie ist. In nahezu jeder Situation berichtet<br />

Smilla, welche Kleider sie im Augenblick trägt, wer ihre Schneider<strong>in</strong> ist, <strong>in</strong> welchem Bekleidungsgeschäft<br />

sie dieses oder jenes erstanden hat. 28 Selbst als sie nachts <strong>in</strong>s Archiv der Kryolitselskabet<br />

Danmark e<strong>in</strong>steigt, um dort verbotenerweise nach Informationen zu suchen, <strong>in</strong>formiert<br />

sie detailliert über ihr Äußeres:<br />

Jeg har et par langskaftede støvler på, rød rullekravesweater, sælsk<strong>in</strong>dspels fra<br />

Groenlandia, og kiltnederdel fra Scotch Corner. Jeg har erfar<strong>in</strong>g for, at alt er lettere<br />

at bortforklare når man er klædt pænt på. (78)<br />

[Ich habe hohe Stiefel und e<strong>in</strong>en roten Rollkragenpullover an, e<strong>in</strong>en Seehundpelz<br />

von Groenlandia und e<strong>in</strong>en Kiltrock von Scotch Corner. Ich habe die Erfahrung<br />

gemacht, daß sich alles leichter bemänteln läßt, wenn man anständig angezogen ist.<br />

(89)]<br />

udefra.“ (415) [„Ich habe mich nie daran gewöhnt, alle<strong>in</strong> zu gehen. Irgendwo <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Inneren hoffe ich, daß<br />

jemand h<strong>in</strong>ter mich tritt und mich anstößt. Me<strong>in</strong>e Mutter. Moritz. E<strong>in</strong>e Kraft von außen.“ (490)].<br />

27<br />

„[J]eg føler mig nøgen i ansigtet uden sm<strong>in</strong>ke“ (383) [„[I]ch fühle mich nackt im Gesicht ohne Schm<strong>in</strong>ke.“<br />

(452)]. Und Jakkelsen nennt sie ob ihrers pr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong>enhaften Auftretens „dronn<strong>in</strong>gen af Saba“ (265) [„Primadonna“<br />

(310)].<br />

28<br />

Das beg<strong>in</strong>nt bereits auf der ersten Seite, als Smilla – auf Esajas Beerdigung – ausführlich ihren schwarzen<br />

Anzug beschreibt.<br />

16


Smillas ‚Ethno–Look’ kehrt e<strong>in</strong>erseits ihre multikulturelle Veranlagung nach außen, 29 offenbart<br />

andererseits ihre pragmatische Sichtweise zur Kleiderfrage. Als schwarzhaarige Grönländer<strong>in</strong><br />

30 hat es Smilla schon schwer genug <strong>in</strong> Dänemark; mit dem Geld ihres Vaters h<strong>in</strong>gegen<br />

kleidet sie sich wie e<strong>in</strong>e Dame und hat damit mehrmals Erfolg. 31 Smillas Hang für Äußerlichkeiten<br />

verweist e<strong>in</strong>erseits auf ihren Vater, der dieselbe Schwäche für Luxus zeigt, 32 andererseits<br />

auf ihre Mutter, die gegenüber der europäischen Kultur e<strong>in</strong>e außerordentlich pragmatische<br />

E<strong>in</strong>stellung offenbarte. Smilla ist auch hier mehr oder weniger das Produkt ihrer Herkunft.<br />

Aber so wenig diese Herkunft zu e<strong>in</strong>er gesicherten Heimat führt, genauso wenig führt<br />

sie Smilla zu e<strong>in</strong>er homogenen kulturellen Identität. Smilla ist sich dieser Tatsache bewusst,<br />

wenn sie über ihre Pelzmütze von Jane Eberele<strong>in</strong> reflektiert:<br />

Den er i en slags grønlandsk stilart.<br />

M<strong>in</strong> kulturelle identitet har jeg mistet for altid, plejer jeg at sige til mig selv. Og<br />

når jeg har sagt det tilstrækkelig mange gange, vågner jeg op som nu til morgen<br />

med en sikker identitet. Smilla Jaspersen – luksusgrønlænderen (131).<br />

[<strong>Die</strong> ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Art grönländischem Stil gemacht.<br />

Me<strong>in</strong>e kulturelle Identität habe ich für immer verloren, das sage ich mir oft. Und<br />

wenn ich es oft genug gesagt habe, wache ich, wie heute morgen, mit e<strong>in</strong>er<br />

sicheren Identität auf. Smilla Jaspersen – die Luxusgrönländer<strong>in</strong>. (253)]<br />

Smilla kleidet sich auffällig oft mit Pelzmützen, Pelzjacken oder mit Pelz gefütterten<br />

Schuhen. Über ihre Kleidung versucht sie ihrem grönländischen Anteil gerecht zu werden,<br />

aber es bleibt bei e<strong>in</strong>em Versuch. <strong>Die</strong> pseudo-grönländische Pelzmütze e<strong>in</strong>er Edeldesigner<strong>in</strong><br />

ist genauso authentisch wie Smilla selbst. Da Smilla das Land ihrer K<strong>in</strong>dheit <strong>in</strong>zwischen<br />

fremd geworden ist, sie es sogar bewusst vermeidet, verweist ihre Bekleidung (e<strong>in</strong>e Art Grönland<br />

aus ‚zweiter Hand’) konsequent auf ihre gebrochene kulturelle Identität.<br />

Smilla erfüllt (und überzieht) die normativen Anforderungen der Gesellschaft an e<strong>in</strong>e Frau<br />

– was das Äußere betrifft – mit Bravour. Aber neben der zierlichen Dame offenbart Smilla<br />

e<strong>in</strong>e Seite, die so gar nicht zu diesem Frauenbild passen mag.<br />

29 Auf die postkolonialen Aspekte des ‚Ethno–Looks’ verweist Mechthild Krüger <strong>in</strong> ihrer Arbeit: „Während<br />

es sich <strong>in</strong> vielen Ländern zur Kolonialzeit e<strong>in</strong>bürgerte, bei dafür völlig ungeeigneten Temperaturen <strong>in</strong> gestärktem<br />

Hemd und Anzug mit Bügelfalte strammzustehen, holen sich gewiefte Designer <strong>in</strong> postkolonialen Zeiten Anregungen<br />

aus sogenannten ‚primitiven Kulturen’ und lancieren den ‚Ethno–Look’“ (Vgl. Krüger:<br />

Luksusgrønlænderen, S. 304f). Auch dies kann als e<strong>in</strong>e fortgesetzte Art der ‚Ausbeutung’ <strong>in</strong>terpretiert werden.<br />

30 Esajas identifiziert sie bei ihrem ersten Treffen sofort als Grönländer<strong>in</strong>.<br />

31 So z.B. mit Nagel auf dem Dach bei der Untersuchung von Esajas’ Tod, vgl. (S. 17 [S. 15]).<br />

32 Smillas Vater legt viel Wert auf äußere Werte. Se<strong>in</strong> gepflegtes Aussehen, se<strong>in</strong> Designer-Haus und die zierliche<br />

Benja (die hervorragend zur Innene<strong>in</strong>richtung passt, wie Smilla süffisant bemerkt) zeigt er stolz vor. Damit<br />

verweist er auf se<strong>in</strong>e ‚fem<strong>in</strong><strong>in</strong>e’ Seite, die bei ihm wesentlich deutlicher ausgeprägt ist als bei Smillas Mutter<br />

(Victor Halkenvad bezeichnet ihn auch als „lille billige barbersvend“ (193) [„kle<strong>in</strong>er Friseurtyp“ (227)]). Bereits<br />

<strong>in</strong> der Ehe ihrer Eltern gerät das traditionelle Rollenverständnis <strong>in</strong>s Wanken.<br />

17


Smilla ist e<strong>in</strong>e zynische Außenseiter<strong>in</strong>, die ihre Unabhängigkeit liebt und kultiviert. 33 Mit<br />

dem Seehundpelz auf dem Kopf, die Louis–Vuitton Tasche <strong>in</strong> der Hand, kämpft und schlägt<br />

Smilla um sich – und ist damit außerordentlich erfolgreich. 34 Mit Emotionen dagegen ist sie<br />

äußerst zurückhaltend. Smilla we<strong>in</strong>t nicht, und we<strong>in</strong>ende Männer f<strong>in</strong>det sie pe<strong>in</strong>lich. Auf dem<br />

Dach, kurz nach Esajas’ Tod – dem Tod des Jungen, der ihr <strong>in</strong> den letzten e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahren<br />

ans Herz gewachsen ist – weist sie den we<strong>in</strong>enden Mechaniker zurecht:<br />

Det bliver aldrig let for mig at se på at mænd græder. Måske fordi jeg véd, hvor<br />

fatal gråden er for deres selvrespekt. [...]<br />

Mekanikeren er på det stadium hvor han har opgivet at tørre øjnene, hans ansigt er<br />

en maske af slim.<br />

– Der kommer fremmede, siger jeg. (16)<br />

[Es wird für mich nie leicht se<strong>in</strong>, Männer we<strong>in</strong>en zu sehen. Vielleicht, weil ich<br />

weiß, wie fatal das We<strong>in</strong>en für ihre Selbstachtung ist. [...] Der Mechaniker ist <strong>in</strong><br />

dem Stadium, wo er es aufgegeben hat, sich die Augen zu trocknen, se<strong>in</strong> Gesicht<br />

ist e<strong>in</strong>e Maske aus Schleim.<br />

‚Putz dir die Nase’, sage ich. ‚Es kommen Leute’ (15)]<br />

Auch das Jammern ist ihr zuwider:<br />

Jamren er en virus, en dødelig, <strong>in</strong>fektiøs, epidemisk sygdom. Jeg vil ikke høre på<br />

det. Jeg vil ikke belemres med disse orgier af emotionel smålighed. (179)<br />

[Jammern ist e<strong>in</strong> Virus, e<strong>in</strong>e tödliche, <strong>in</strong>fektiöse, epidemische Krankheit. Ich will<br />

das nicht hören. Ich will mich von diesen Orgien emotionaler Kle<strong>in</strong>lichkeit nicht<br />

belämmern lassen. (210)]<br />

Emotionen s<strong>in</strong>d – so sche<strong>in</strong>t es – Smillas Sache nicht. Überhaupt sche<strong>in</strong>en ihr ‚typisch<br />

weibliche’ Verhaltensweisen abzugehen. Sie kocht nicht gerne, isst dafür mit Vorliebe fettes<br />

Fleisch; sie legt nicht viel Wert auf die E<strong>in</strong>richtung ihrer Wohnung und auch für die Ordnung<br />

ihrer Kleider hat sie wenig übrig. Dafür besitzt Smilla e<strong>in</strong>e hohe Schmerztoleranz und e<strong>in</strong>e<br />

niedrige Gewaltschwelle. Wird sie <strong>in</strong> die Enge gedrängt, weiß sie sich mit allen Mitteln zu<br />

verteidigen. 35 Sie geht dann äußerst zielstrebig und mit e<strong>in</strong>er verstörend hohen Gewaltbereitschaft<br />

vor. Dem Mechaniker wirft sie im Archiv der Kryolitselskabet gezielt e<strong>in</strong> Regal entgegen<br />

und schlägt ihn, als er auf dem Boden liegt, mit e<strong>in</strong>er Mess<strong>in</strong>gstange k.o. <strong>Die</strong> ganze Szene<br />

er<strong>in</strong>nert sie an e<strong>in</strong>en Fall aus ihrer K<strong>in</strong>dheit <strong>in</strong> Dänemark, als sie e<strong>in</strong>em körperlich überlege-<br />

33 Mit diesen Stereotypen verweist sie dezidiert auf den e<strong>in</strong>samen Detektiv der hard–boiled Krim<strong>in</strong>alromane<br />

von (u.a.) Chandler und Hammet. Auch Detektiv<strong>in</strong>nen wie Sara Paretskys V.I. Warshawski kopieren die Verhaltensweisen<br />

ihrer männlichen Detektivkollegen. <strong>Die</strong>se Figuren betonen jedoch alle die ‚männliche’ Seite, und<br />

ignorieren dabei bewusst ‚fem<strong>in</strong><strong>in</strong>e’ Eigenschaften. Smilla dagegen bricht mit beiden Stereotypen, <strong>in</strong>dem sie sie<br />

vermischt.<br />

34 Von allen Figuren im Buch ist Smilla e<strong>in</strong>e der wenigen, die am Ende der Handlung noch am Leben ist.<br />

18


nen Jungen auflauert und ihn kaltschnäuzig mit e<strong>in</strong> paar gezielten Schlägen und Tritten niederstreckt:<br />

Han havde 15 kilo forud for mig. Han havde ikke en chance. Han fik aldrig de par<br />

m<strong>in</strong>utter han behøvede, til at br<strong>in</strong>ge sig selv i trance. Jeg slog ham frontalt i<br />

ansigtet, og brækkede hans næse. Så sparkede jeg ham først på den ene, og så på<br />

den anden knæskal, for at få ham ned i en mere operativ højde. Der måtte 12 st<strong>in</strong>g<br />

til at br<strong>in</strong>ge hans næseskillevæg på plads. (86)<br />

[Er hatte mir fünfzehn Kilo voraus. Er hatte ke<strong>in</strong>e Chance. Er bekam nie die paar<br />

M<strong>in</strong>uten, die er brauchte, um sich <strong>in</strong> Trance zu br<strong>in</strong>gen. Ich schlug ihm mitten <strong>in</strong>s<br />

Gesicht und brach se<strong>in</strong>e Nase. Danach trat ich ihm erst gegen die e<strong>in</strong>e, danach gegen<br />

die andere Kniescheibe, um ihn auf e<strong>in</strong>e handlichere Höhe zu kriegen. Zwölf<br />

Stiche waren nötig, um se<strong>in</strong>e Nasenscheidewand wieder zurechtzurücken. (99)]<br />

Smillas Gewaltbereitschaft ist nicht grundlos. Stigmatisiert als Ausländer<strong>in</strong> – das e<strong>in</strong>zige<br />

K<strong>in</strong>d mit schwarzen Haaren und unbeholfenem Dänisch – wurde sie <strong>in</strong> den dänischen Schulen<br />

von ihren Mitschülern aufgrund ihrer grönländischen Herkunft drangsaliert und gequält. Smilla<br />

betrachtet ihre gewalttätigen Aktionen als legitimes Mittel der Verteidigung. 36<br />

<strong>Die</strong> postkoloniale Situation, auch das zeigt die obige Episode, bietet aufgrund der multikulturellen<br />

Konflikte e<strong>in</strong>en Nährboden für Gewalt. Vor allem auf der Kronos, die mit ihrer<br />

multikulturellen Mannschaft e<strong>in</strong>en postkolonialen Umschlagplatz darstellt, nehmen die Angriffe<br />

auf Smilla zu. 37 Auf Smilla werden drei Mordanschläge verübt, sie führt e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />

von ‚kle<strong>in</strong>en’ Kämpfen mit nahezu der Hälfte der Mannschaft auf der Kronos und jedes Mal<br />

ist sie ihren Fe<strong>in</strong>den alle<strong>in</strong>e ausgeliefert. Am Ende der <strong>Erzählung</strong> haben die vielen Ause<strong>in</strong>andersetzungen<br />

Spuren auf ihrem Körper h<strong>in</strong>terlassen. Kurz vor dem Landgang auf die Insel tritt<br />

Smilla vor e<strong>in</strong>en Spiegel und betrachtet ihre Blessuren:<br />

Skulle nogen være <strong>in</strong>teresseret i døden, kunne de med fordel se på mig. Jeg har<br />

taget m<strong>in</strong>e forb<strong>in</strong>d<strong>in</strong>ger af. Der er <strong>in</strong>gen hud på knæskallerne. Mellem hoftebenene<br />

går et bredt, gulblåt felt af blod der er koaguleret under huden, hvor Jakkelsens<br />

merlespiger har ramt mig. I begge håndflader er der flænger der væsker og nægter<br />

at lukke. I nakken har jeg en bule som et mågeæg, samt et område hvor huden er<br />

bristet og har trukket sig væk. Og så har jeg endda været så beskeden, at jeg har<br />

beholdt m<strong>in</strong>e hvide sokker på, så man ikke ser den opsvulmede ankel, ligesom jeg<br />

ikke omtaler de generelle blå mærker eller hovedbunden, der endnu dunker<br />

periodisk efter brandsåret.(381/382)<br />

35 Der Frauenhasser Verla<strong>in</strong>e beschreibt sie denn auch folgendermaßen: „– Selvom man pillede d<strong>in</strong>e arme og<br />

ben af, siger han, – så ville du f<strong>in</strong>de en måde at sparke på.“ (431) [„‚Auch wenn man dir Arme und Be<strong>in</strong>e ausreißen<br />

würde’, sagt er, ‚würdest du noch irgendwie treten.’„ (511)].<br />

36 Auch hier gilt – Smilla reagiert, aber sie agiert nicht, zum<strong>in</strong>dest nicht primär. Auch später im Verlauf der<br />

Handlung, als die Gewalt über sie here<strong>in</strong>bricht (vor allem auf der Kronos), bleibt sie dieser Strategie treu.<br />

37 <strong>Die</strong> Kampfszenen werden im Laufe der <strong>Erzählung</strong>en nicht nur immer häufiger, sie werden auch immer ausführlicher<br />

dargestellt. Høeg beschreibt Gewalt hier tatsächlich als nackte, rohe Gewalt – distanzlos und physisch<br />

detailliert, bis zur Unerträglichkeit gesteigert.<br />

19


[Wenn sich jemand für den Tod <strong>in</strong>teressiert, hätte er etwas davon, wenn er mich<br />

jetzt sehen würde. Ich habe die Verbände abgenommen. Auf den Kniescheiben ist<br />

ke<strong>in</strong>e Haut. Zwischen den Hüftknochen zieht sich e<strong>in</strong> breites, blaugelbes Feld aus<br />

Blut, das unter der Haut koaguliert ist, über den Unterleib, dort, wo mich Jakkelsens<br />

Marlspieker getroffen hat. Beide Handflächen haben Risse, die nässen und<br />

sich nicht schließen wollen. Im Nacken habe ich e<strong>in</strong>e Beule wie e<strong>in</strong> Möwenei und<br />

e<strong>in</strong>e Stelle, an der die Haut weggeplatzt ist und sich zusammengezogen hat. Und<br />

dabei b<strong>in</strong> ich noch so bescheiden gewesen, me<strong>in</strong>e weißen Socken anzubehalten, so<br />

daß man das geschwollene Fußgelenk nicht sieht, wie ich auch die sonstigen blauen<br />

Flecke oder die Kopfhaut nicht erwähne, die wegen der Brandwunde manchmal<br />

immer noch pochend schmerzt. (450/451)]<br />

Smilla benutzt den Spiegel nicht um Lippenstift nachzuziehen oder die Frisur zu richten,<br />

ihre Eitelkeit ist auf e<strong>in</strong> anderes körperliches Objekt gerichtet. Smilla 4betrachtet und zählt im<br />

Spiegel ihre Wunden, und das nicht ohne ‚männlichen’ Stolz: „Her <strong>in</strong>juries become badges of<br />

courage, reveal<strong>in</strong>g an archetypically mascul<strong>in</strong>e attitude“. 38<br />

So stereotyp sich Smilla <strong>in</strong> ihrem Äußeren als Dame gibt, so stereotyp ersche<strong>in</strong>t sie <strong>in</strong> ihren<br />

‚männlichen’ Verhaltensmustern. Smilla kämpft wie ‚e<strong>in</strong> ganzer Mann’, bedient sich dabei<br />

Waffen, die traditionell Männern zugeschrieben werden und untermauert damit ihre<br />

Machtposition. 39 Auf der Kronos improvisiert sie mit e<strong>in</strong>em Schraubenzieher e<strong>in</strong> Messer, mit<br />

dem sie erfolgreich ihre Pe<strong>in</strong>iger lahm legt. 40 Der Mechaniker vergleicht sie denn auch mit<br />

e<strong>in</strong>em aufziehbaren Spielzeugpanzer, den er als K<strong>in</strong>d besaß: „Man kunne ikke stop den. Du er<br />

sådan en mask<strong>in</strong>e, Smilla.“ (393) 41 Und Jakkelsen, den sie mehrmals erniedrigt, 42 spricht ihr<br />

angesichts ihrer Waffe, mit der sie Maurice niederstach, auch physisch männliche Identifikationsmerkmale<br />

zu:<br />

Du er ikke en rigtig kv<strong>in</strong>de. Da jeg trak dig op ad trappen, da så jeg den lille tap<br />

der stak ud af sækken. En skruetrækker. Som en lille stådreng. Du stak ham ned,<br />

mand. (322)<br />

[Du bist gar ke<strong>in</strong>e richtige Frau. Als ich dich die Treppe hochgezogen habe, habe<br />

ich den kle<strong>in</strong>en Zapfen gesehen, der aus dem Sack herausgeguckt hat. E<strong>in</strong> Schraubenzieher.<br />

Wie e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Ständer. Du hast ihn niedergestochen, Mann. (377)]<br />

38<br />

Vgl. Rachel Schaffer: Smilla’s Sense of Gender Identity. In: Clues: A Journal of Detection 19,1 (1998). S.<br />

47 – 60; hier S. 51f. Schaffer setzt sich <strong>in</strong> ihrem Aufsatz ausführlich mit Smillas teils fem<strong>in</strong><strong>in</strong>em, teils maskul<strong>in</strong>em<br />

Wesen ause<strong>in</strong>ander. Leider unterlässt sie es, den Ursachen für dieses Verhalten auf den Grund zu gehen,<br />

wodurch ihre Arbeit stellenweise zu e<strong>in</strong>er etwas oberflächlichen Analyse gerät.<br />

39<br />

Auf diese männliche Seite verweisen die meisten Rezensionen. Smilla wird mal mit James Bond, mal mit<br />

Philip Marlowe oder mit Rambo verglichen.<br />

40<br />

Zuvor hält Smilla die Mannschaft der Kronos mit e<strong>in</strong>em Marlspieker auf Abstand. Ihrem Vater sticht sie als<br />

K<strong>in</strong>d (nach e<strong>in</strong>em weiteren Fluchtversuch) mit e<strong>in</strong>em Skalpell <strong>in</strong> die Hand, und verdeutlicht ihm damit se<strong>in</strong><br />

Scheitern als Erzieher.<br />

41<br />

[„Er war nicht aufzuhalten. Du bist genauso e<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>e, Smilla.“ (465)]<br />

42<br />

Gleich zu Beg<strong>in</strong>n drückt sie ihm, vor der versammelten Mannschaft der Kronos, so brutal die Lippen zu,<br />

dass Jakkelsen, wie Smilla verächtlich anmerkt, „med et hv<strong>in</strong> som en kv<strong>in</strong>de“ [„Kreischend wie e<strong>in</strong>e Frau“<br />

(302)] vor ihr <strong>in</strong> die Knie geht. Vgl. (S. 258).<br />

20


Se<strong>in</strong>e Ansicht über Smillas geschlechtliche Identität untermauert er mit der abschließenden<br />

Bezeichnung ‚mand’ [‚Mann’]. Jakkelsen und der Mechaniker ordnen ihr, mit dem Verweis<br />

auf das Messer und den Spielzeugpanzer, e<strong>in</strong>deutige phallische Elemente zu. Smillas<br />

maskul<strong>in</strong>–phallische Seite gipfelt jedoch <strong>in</strong> ihrer Darstellung des Geschlechtsaktes mit dem<br />

Mechaniker:<br />

I vores gryende gensidige forståelse formår jeg ham til at åbne den lille revne i<br />

penis’ hoved, så jeg kan føre clitoris <strong>in</strong>d og kneppe ham. (186)<br />

[In unserem heraufdämmernden gegenseitigen Verständnis br<strong>in</strong>ge ich ihn dazu,<br />

den kle<strong>in</strong>en Spalt der Eichel zu öffnen, so daß ich die Klitoris e<strong>in</strong>führen und ihn<br />

vögeln kann. (218)]<br />

Smillas Beschreibung verdeutlicht, wie sehr sie mit den von der Gesellschaft zugeordneten<br />

Rollen und Stereotypen spielt. <strong>Die</strong> traditionelle, strikt b<strong>in</strong>är ausgerichtete und festgelegte<br />

Rollenverteilung wird von ihr als Konstrukt entlarvt und aufgelöst. Smillas Rollenspiel er<strong>in</strong>nert<br />

an Judith Butler, die darauf h<strong>in</strong>weist,<br />

„[...] daß das Geschlecht nicht länger als ‚<strong>in</strong>nere Wahrheit’ der Anlagen und der<br />

Identität gelten kann, sondern e<strong>in</strong>e performativ <strong>in</strong>szenierte Bedeutung ist (und also<br />

nicht ‚ist’), die e<strong>in</strong>e parodistische Vervielfältigung und e<strong>in</strong> subversives Spiel der<br />

kulturell erzeugten Bedeutungen der Geschlechtsidentität [...] hervorrufen kann,<br />

sobald sie von ihrer naturalisierten Innerlichkeit und Oberflächlichkeit befreit ist. 43<br />

Es geht hier weniger um die praktische Möglichkeit e<strong>in</strong>es solchen Vorgangs. Smilla teilt<br />

<strong>in</strong> ihrer Eigenschaft als Erzähler<strong>in</strong> den Lesern ihre Interpretation des Geschehens mit. Sie<br />

kehrt den Geschlechtsakt um, <strong>in</strong>dem sie ihn sprachlich verfremdet und damit – <strong>in</strong> Anlehnung<br />

an Derrida – den Phallogozentrismus der Sprache durchbricht und dem Phallus so se<strong>in</strong>e Vormachtstellung<br />

nimmt. Indem Smilla typisch weibliche und männliche Eigenschaften annimmt<br />

und komb<strong>in</strong>iert, dekonstruiert sie jede normative Zuordnung, die e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiges Entweder–<br />

oder e<strong>in</strong>fordert.<br />

43 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Ma<strong>in</strong>, 1991. S. 61.<br />

21


2.2 <strong>Die</strong> weiteren Figuren im Roman<br />

Smilla ist nicht die e<strong>in</strong>zige Figur der <strong>Erzählung</strong>, die sich e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>deutigen Kategorisierung<br />

entzieht. Nahezu alle Hauptcharaktere lassen sich, ebenso wie Smilla, nicht auf e<strong>in</strong> festgelegtes<br />

Verhaltensschema reduzieren.<br />

2.2.1 <strong>Die</strong> Metamorphose des Mechanikers und se<strong>in</strong>e Beziehung zu Smilla<br />

Nach Esajas’ Tod f<strong>in</strong>den Smilla und der Mechaniker, bed<strong>in</strong>gt durch ihre geme<strong>in</strong>samen<br />

Ermittlungen, zue<strong>in</strong>ander. Sie bilden <strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong> ungewöhnliches Liebespaar: Der<br />

bullige, großgewachsene Mechaniker auf der e<strong>in</strong>en, die zierlich kle<strong>in</strong>e Smilla auf der anderen<br />

Seite. Ihre Gegensätzlichkeiten beschränken sich jedoch nicht nur auf das Äußere. Høeg hat<br />

beide Figuren mit jeweils komplementären Eigenschaften ausgestattet. Für den Mechaniker<br />

bedeutet dies, wo Smilla ihre ‚männliche’ Seite zeigt, ersche<strong>in</strong>t er durchgängig mit stereotyp<br />

‚weiblichen’ Eigenschaften. Als Esajas stirbt, we<strong>in</strong>t er und nicht Smilla. Im gesamten Auftreten<br />

wirkt er trotz se<strong>in</strong>er imposanten Statur schüchtern und unsicher, selten selbstbewusst:<br />

Han er meget bred, bjørneagtig, og hvis han rettede duknakken op, ville han være<br />

imposant. Men han holder hovedet nede, måske for at undskylde s<strong>in</strong> højde, måske<br />

for at undgå denne verdens dørkarme. (50)<br />

[Er ist sehr breit und bärenhaft, und wenn er richtig gerade gehen würde, wäre er<br />

imposant. Aber er hält den Kopf gesenkt, vielleicht um se<strong>in</strong>e Größe zu entschuldigen,<br />

vielleicht um den Türrahmen dieser Welt auszuweichen. (55)]<br />

Während Smilla ihren Intellekt beweist und <strong>in</strong> der Art e<strong>in</strong>es Sherlock Holmes Esajas’ Fall<br />

mit Ermittlungen und komb<strong>in</strong>atorischen Schlüssen voranbr<strong>in</strong>gt, ersche<strong>in</strong>t der Mechaniker auf<br />

die passive Rolle des Versorgers reduziert. Er bekocht Smilla mit aufwändigen exotischen<br />

Gerichten und Getränken, br<strong>in</strong>gt Ordnung <strong>in</strong> ihren chaotischen Haushalt und er kümmert sich<br />

nach dem Brandanschlag auf Lichts Boot um die verletzte Smilla. Er sorgt sich um die depressive<br />

Smilla und motiviert sie schließlich die Untersuchungen zu Esajas’ Tod wieder aufzunehmen.<br />

Auch beim Sex ist, wie oben gezeigt, der Rollentausch perfekt. Der Mechaniker<br />

ersche<strong>in</strong>t damit als die männliche Verkörperung e<strong>in</strong>er auf ihre passive Rolle fixierten Frauenfigur,<br />

die dem Helden <strong>in</strong>tellektuell unterlegen ist und allenfalls als Sexobjekt aktiv werden<br />

darf. 44<br />

<strong>Die</strong> passive Rolle des Mechanikers zeigt sich später nochmals, als Smilla klar wird, für<br />

wen er eigentlich arbeitet – von V<strong>in</strong>g wurde er als Aufpasser für Esajas und se<strong>in</strong>e Mutter e<strong>in</strong>-<br />

22


gestellt; auf Gela Alta schließlich soll er für Tørk bei dem Ste<strong>in</strong> tauchen, um dessen Transport<br />

vorzubereiten. Der Mechaniker ist, darauf verweist bereits se<strong>in</strong> Name, e<strong>in</strong> Handlanger, der<br />

mechanisch Aufträge ausführt, ohne über ihren S<strong>in</strong>n zu reflektieren. Mit dieser naiven E<strong>in</strong>stellung<br />

lässt er sich hervorragend als Werkzeug benutzen und lenken. Er glaubt an Tørk und<br />

dessen <strong>Erzählung</strong>en über Diamanten und andere seltene Substanzen, aus denen der Meteorit<br />

angeblich bestehe. <strong>Die</strong>se Erklärung alle<strong>in</strong> genügt ihm, um jegliche Bedenken zu zerstreuen.<br />

Als Smilla ihn auf die tödliche Bedrohung der Würmer bei e<strong>in</strong>em bevorstehenden Tauchgang<br />

h<strong>in</strong>weist, bleibt er stur bei se<strong>in</strong>er und damit Tørks Version. Smilla fasst, angesichts se<strong>in</strong>er<br />

Ignoranz, se<strong>in</strong> Verhalten zusammen:<br />

Barnets begejstr<strong>in</strong>g ved tanken om det gådefulde stof, diamanterne, guldet for<br />

enden af regnbuen. (394)<br />

[<strong>Die</strong> Begeisterung des K<strong>in</strong>des bei dem Gedanken an den rätselhaften Stoff, die Diamanten,<br />

das Gold am Ende des Regenbogens. (466)]<br />

Wie leichtgläubig er sich um den F<strong>in</strong>ger hat wickeln lassen, zeigt sich, als Smilla ihn mit<br />

der Intrige um Esajas’ Tod konfrontiert. Sprachlos offenbart er se<strong>in</strong>e Naivität: 45<br />

Han ryster på hovedet. Han vil ikke tro det. Han er jo på skattejagt. På vej op efter<br />

diamanter. (399)<br />

[Er schüttelt den Kopf. Er will es nicht glauben. Er ist ja auf Schatzsuche. Auf dem<br />

Weg zu Diamanten. (472)]<br />

Se<strong>in</strong>e Motivation lässt sich deshalb auf e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fachen materialistischen Nenner br<strong>in</strong>gen:<br />

– Og dig, Føjl, hvem er du?<br />

Hans ansigt bliver tomt. Det er det spørgsmål, han aldrig i sit liv har taget still<strong>in</strong>g<br />

til.<br />

– Den der gerne vil tjene lidt penge.<br />

– Jeg håber det er mange, siger jeg. – De skal kompensere for to børns død.<br />

Hans mund bliver til en sprække. (396)<br />

[‚Und du, Føjl, wer bist du?’<br />

Se<strong>in</strong> Gesicht wird leer. Das ist e<strong>in</strong>e Frage, zu der er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em ganzen Leben noch<br />

nie Stellung genommen hat.<br />

‚Jemand, der gern e<strong>in</strong> bißchen Geld verdienen möchte.’<br />

‚Hoffentlich ist es viel’, sage ich. ‚Es muß immerh<strong>in</strong> den Tod von zwei K<strong>in</strong>dern<br />

kompensieren.’<br />

Se<strong>in</strong> Mund wird e<strong>in</strong> schmaler Schlitz. (467)]<br />

Se<strong>in</strong>e Geldgier macht ihn, wie Smilla offenbart, zum willigen Werkzeug und Verräter.<br />

44<br />

<strong>Die</strong>se stereotypen Frauenfiguren begegnen uns <strong>in</strong> vielen Krim<strong>in</strong>al– und Actionromanen. Auch e<strong>in</strong>e Filmserie<br />

wie ‚James Bond’ lebt unter anderem von der Kultivierung dieser Frauenrolle.<br />

45<br />

Auch hier lässt er sich gefügig <strong>in</strong> die Ecke drängen. Worten gegenüber wirkt der stotternde und legasthenische<br />

(‚wort–bl<strong>in</strong>de’) Mechaniker hilflos.<br />

23


Andererseits offenbart der Mechaniker Eigenschaften, die nicht <strong>in</strong> das Bild des gutmütigen,<br />

passiven und naiven ‚Bären’ passen. 46 Er rettet Birgo Lander bei e<strong>in</strong>em Tauche<strong>in</strong>satz vor<br />

dem sicheren Tod und setzt dabei – heldenhaft – se<strong>in</strong> eigenes Leben aufs Spiel. Er fragt Smilla<br />

nach e<strong>in</strong>em Kuss und <strong>in</strong>itiiert damit den Anfang ihrer Beziehung. Auch se<strong>in</strong>e Größe und<br />

Stärke wirken sich zuweilen vorteilhaft aus und verleihen ihm e<strong>in</strong> Gefühl der Überlegenheit.<br />

Als Smilla sich auf der Kronos <strong>in</strong> der Dusche versteckt und ihn mit ihrem Schraubenzieher<br />

niederstechen will, 47 ist der Mechaniker souverän Herr der Lage. Er nimmt ihr die Waffe aus<br />

der Hand und entschärft die Situation: „Alt har været roligt, overlagt, neddæmpet“ (365) 48 .<br />

Andererseits kann er se<strong>in</strong>e Größe und Stärke selten wie hier zu se<strong>in</strong>em Vorteil e<strong>in</strong>setzen. So<br />

attestiert ihm Smilla beim Geschlechtsverkehr „en let, fumlende brutalitet“ (186). 49<br />

Mit dieser Beschreibung fasst Smilla se<strong>in</strong>en widersprüchlichen Charakter zusammen. Se<strong>in</strong>e<br />

Größe, se<strong>in</strong>e ungeheure Stärke kongruieren selten mit se<strong>in</strong>em Verhalten und se<strong>in</strong>en Handlungen.<br />

<strong>Die</strong> Figur des Mechanikers widersetzt sich damit, ebenso wie Smilla, jeder e<strong>in</strong>deutigen<br />

Zuordnung <strong>in</strong> starre Rollenklischees.<br />

Wenn der Mechaniker gerade die komplementären Eigenschaften von Smilla belegt, so<br />

folgt daraus, dass beide e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Basis teilen. Neben den äußerlichen Umständen<br />

(Esajas’ Tod führt sie zusammen) weist Smilla auf den verb<strong>in</strong>denden Charakterzug h<strong>in</strong>:<br />

Jeg har en svaghed for tabere.[...] Måske fordi jeg altid har vidst, at på en måde vil<br />

jeg altid være en af deres. (50)<br />

[Ich habe e<strong>in</strong>e Schwäche für Verlierer. [...] Vielleicht, weil ich immer gewußt habe,<br />

daß ich irgendwie immer e<strong>in</strong>e von ihnen se<strong>in</strong> werde. (55)]<br />

Beide zeigen e<strong>in</strong>e fundamental passive E<strong>in</strong>stellung <strong>in</strong> ihrem Leben, sie lassen sich von den<br />

Umständen ihrer Umwelt treiben. So wie der Mechaniker Tørk und se<strong>in</strong>en Leuten bl<strong>in</strong>d vertraut,<br />

genauso bl<strong>in</strong>d vertraut Smilla dem Mechaniker. Sie ignoriert die zahlreichen Zeichen,<br />

die auf se<strong>in</strong>e bewegte Vergangenheit und se<strong>in</strong>e Rolle als Handlanger Tørks h<strong>in</strong>weisen. Sie<br />

will ihn nicht mit Fragen konfrontieren, um das Glück ihrer Beziehung nicht zu stören. 50<br />

46 Smilla bezeichnet ihn – nachdem er sie verraten hat – als „plysbamse“ [„Teddybär“], der im Laufe der Zeit<br />

se<strong>in</strong>e Füllung verliert und hohl wird. Vgl. (S. 393/394).<br />

47 Da es dunkel ist, erkennen sie sich nicht.<br />

48 [„Alles, was er tut, ist ruhig, überlegt, verhalten.“ (430)]<br />

49 [„Er hat e<strong>in</strong>e leichte, tastende Brutalität“. (218)]<br />

50 <strong>Die</strong> Auffälligkeiten des Mechanikers – se<strong>in</strong>e hervorragenden Kenntnisse der asiatischen Küche, die glatten<br />

und fe<strong>in</strong>en Hände, die er als Mechaniker (als körperlich arbeitender Mensch) kaum haben dürfte und schließlich<br />

die Frage nach se<strong>in</strong>em Lebensunterhalt (er ist arbeitslos) – werden von Smilla bedenkenlos h<strong>in</strong>genommen oder<br />

ignoriert. Als sie die Narben an se<strong>in</strong>en Hand– und Fußgelenken entdeckt, unterdrückt sie ihre Neugier: „Det er<br />

ar. Jeg vil ikke spørge ham om noget“ (180) [„Es s<strong>in</strong>d Narben. Ich will ihn nichts fragen.“ (211)].<br />

24


Erst als der Mechaniker Smilla auf der Kronos an Tørk verrät und sie gezwungen ist, ihr<br />

Bild von ihm zu korrigieren, erkennt sie:<br />

Nu ser jeg ham som han er. Det er ikke et skuffende syn. Det er bare mere<br />

sammensat end jeg først har set [...].<br />

Jeg ser hans tyngde, hans langsomhed, hans handlekraft, hans grådighed, og hans<br />

enfoldighed. Hans behov for en leder, hans farlighed. Jeg ser også hans omhu, hans<br />

varme, hans tålmodighed, hans lidenskab. (396/397)<br />

[Jetzt sehe ich ihn, wie er ist. Es ist nicht unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> enttäuschender Anblick. Er<br />

ist nur komplexer, als ich zuerst gesehen habe.<br />

Ich sehe se<strong>in</strong>e Schwere, se<strong>in</strong>e Langsamkeit, se<strong>in</strong>e Tatkraft, se<strong>in</strong>e Gier und se<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>fältigkeit. Se<strong>in</strong> Bedürfnis nach e<strong>in</strong>er Autorität, se<strong>in</strong>e Gefährlichkeit. Ich sehe<br />

aber auch se<strong>in</strong>e Sorgfalt, se<strong>in</strong>e Wärme, se<strong>in</strong>e Geduld, se<strong>in</strong>e Leidenschaft. (468)]<br />

Smilla erschafft sich ihr eigenes, abstraktes Bild des Mechanikers. Konsequent ignoriert<br />

sie die Zeichen, die auf diesen Bruch h<strong>in</strong>weisen. Mit ihrer Projektion reduziert sie den Mechaniker<br />

auf e<strong>in</strong>e Person, die dem weitaus komplexeren Mechaniker nicht gerecht wird. Erst<br />

als er sie mit se<strong>in</strong>em Verrat aus ihren Träumen reißt, wird sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schmerzhaften Prozess<br />

gezwungen, sich mit diesem ‚realen’ Mechaniker ause<strong>in</strong>ander zu setzen. 51<br />

2.2.2 Macht, Korruption und der Diskurs des Geldes<br />

E<strong>in</strong> Konglomerat aus unterschiedlichsten Interessen und Motiven br<strong>in</strong>gt die Figuren <strong>in</strong><br />

Kopenhagen und später auf der Kronos zusammen. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitliches Bild lässt sich dabei nur<br />

<strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>en charakteristischen Egoismus ausmachen, der nahezu jede Figur antreibt.<br />

Um ihre Interessen durchzusetzen, gehen alle mit großer Sorgfalt und krim<strong>in</strong>eller Energie vor.<br />

Wer die Expedition gefährdet, wird kurzerhand liquidiert.<br />

Dabei arbeitet kaum e<strong>in</strong>er aus Überzeugung für Tørk, die meisten lassen sich durch die<br />

Aussicht auf Geld von ihm für diese schmutzige Arbeit korrumpieren. David V<strong>in</strong>g, Katja<br />

Claussen, Ralf Seidenfaden, Andreas F<strong>in</strong>e Licht sowie e<strong>in</strong> großer Teil der Mannschaft auf der<br />

Kronos haben e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>sam – das Streben nach Geld ist ihre primäre Motivation bei der<br />

Teilnahme an der Expedition. 52 Doch die Motive der Figuren divergieren und zeichnen e<strong>in</strong><br />

vielschichtiges und komplexes Bild der Welt, <strong>in</strong> der sie leben. Da ist der Mechaniker, der se<strong>in</strong>en<br />

Platz <strong>in</strong> der Gesellschaft nicht f<strong>in</strong>den konnte und nun als Arbeits<strong>lose</strong>r dr<strong>in</strong>gend auf e<strong>in</strong>en<br />

Ihre Abhängigkeit vom Mechaniker zeigt sich auch <strong>in</strong> Nebensächlichkeiten wie ihrem Alkohol- und Kaffeekonsum.<br />

Bevor sie mit ihm zusammen kommt, lehnt sie Alkohol und Kaffee mehrmals strikt ab. Später konsumiert<br />

sie beides <strong>in</strong> großen Mengen.<br />

51 Auch <strong>in</strong> dieser Situation offenbaren beide ihre Passivität – der Mechaniker, der auf Anweisung Tørks handelt<br />

und Smilla, die durch ihre (bewusste) Ignoranz diese Situation überhaupt erst provoziert.<br />

25


Unterhalt angewiesen ist; Lukas, der spielsüchtige Kapitän, der sich nur widerwillig an der<br />

Reise beteiligt, um endlich se<strong>in</strong>e Spielschulden begleichen zu können; Maria und Fernanda,<br />

die beiden philipp<strong>in</strong>ischen Prostituierten, die sich mit dem verdienten Geld e<strong>in</strong>e bessere Zukunft<br />

erträumen; Verla<strong>in</strong>e, Tørks rechte Hand, der se<strong>in</strong>en Chef eigentlich hasst und der es<br />

kaum erwarten kann, endlich ausbezahlt zu werden.<br />

Daneben gibt es noch Figuren wie den Mediz<strong>in</strong>er Loyen, der nicht für Geld arbeitet, sondern<br />

sich für vorgeblich höhere Ziele e<strong>in</strong>setzt, letztendlich aber von dem krankhaften Ehrgeiz<br />

geleitet wird „[d]en klogste i universet“ (40) 53 zu werden. Loyen verkörpert den Typ des<br />

skrupel<strong>lose</strong>n, selbstsüchtigen Wissenschaftlers, der selbst vor Versuchen an Menschen nicht<br />

zurückschreckt, um an se<strong>in</strong> großes Ziel, den Nobelpreis, zu gelangen.<br />

Auch das Dreiecksverhältnis zwischen den Geschäftsführern der Geo<strong>in</strong>form, Ralf Seidenfaden,<br />

Katja Claussen und Tørk Hviid offenbart e<strong>in</strong> komplexes Geflecht an Motiven. Primär<br />

geht es auch ihnen ums Geld, daneben zeigt sich zwischen Seidenfaden und Claussen e<strong>in</strong> als<br />

Liebesverhältnis getarntes Machtspiel, das Claussen für sich entscheiden kann – und das sich<br />

<strong>in</strong> der Verb<strong>in</strong>dung zwischen ihr und Tørk fortsetzt.<br />

Es liegt nun nahe, diese Figuren aufgrund ihrer skrupel<strong>lose</strong>n Gewaltbereitschaft als Gruppe<br />

der ‚Bösen’ zu bezeichnen. 54 Wie bei jedem dualen Schema würde dies e<strong>in</strong>e Gruppe der<br />

‚Guten’ implizieren, die sich so <strong>in</strong> der <strong>Erzählung</strong> jedoch nicht ausmachen lässt. Zwar gibt es<br />

e<strong>in</strong>ige Figuren, die sich dem eifrigen Streben nach Geld nicht anschließen und bereit s<strong>in</strong>d<br />

Smilla bei ihrer Suche nach der Wahrheit zu unterstützen, aber auch diese Figuren offenbaren<br />

e<strong>in</strong>en ambivalenten Charakter, der jede e<strong>in</strong>deutige Kategorisierung ad absurdum führt. Ravn<br />

ist Smilla gegenüber zunächst sehr misstrauisch. Er lädt sie zum Verhör und droht ihr sogar<br />

mit Gefängnis und Folter, sollte sie ihre Ermittlungen nicht e<strong>in</strong>stellen. Später sche<strong>in</strong>t er wie<br />

ausgetauscht – nun hilft und unterstützt er Smilla wo er kann und setzt dabei noch se<strong>in</strong>e Karriere<br />

aufs Spiel. Ähnlich verhalten sich der Gerichtsmediz<strong>in</strong>er Lagermann und die Archivar<strong>in</strong><br />

Elsa Lüb<strong>in</strong>g.<br />

Bernard Jakkelsen zeigt ebenfalls widersprüchliche Eigenschaften im Umgang mit Smilla.<br />

Zunächst ersche<strong>in</strong>t er als dumpfer hero<strong>in</strong>süchtiger Macho, erweist sich am Ende aber als äußerst<br />

cleverer und hilfsbereiter Junge, der das Netz der Abhängigkeiten auf der Kronos richtig<br />

52<br />

In V<strong>in</strong>gs Anwaltskanzlei herrscht bereits im Treppenhaus, wie Smilla feststellt, „duften af penge“ (135)<br />

[„der Duft von Geld“ (157)].<br />

53<br />

[„der Klügste im Universum“ (43)]<br />

54<br />

So werden sie z.B. bei Tr<strong>in</strong>e Søndergaard und bei Mechthild Krüger kategorisiert. Vgl. Tr<strong>in</strong>e Søndergaard:<br />

Kv<strong>in</strong>den og barnet. Om de religøse referencer i <strong>Peter</strong> <strong>Høegs</strong> romaner. In: Synsv<strong>in</strong>kler 18 (1997), 61 – 75; hier S.<br />

70f; und Krüger: Luksusgrønlænderen, S. 308f.<br />

26


e<strong>in</strong>schätzt und Smilla mit e<strong>in</strong>em genialen Trick das Leben rettet. Lediglich se<strong>in</strong>e fatale<br />

Selbstüberschätzung wird ihm schließlich zum Verhängnis. 55<br />

Der Mechaniker offenbart se<strong>in</strong>en ambivalenten Charakter <strong>in</strong> umgekehrter Reihenfolge. Zu<br />

Beg<strong>in</strong>n ist er neben Smilla der Sympathieträger der <strong>Erzählung</strong>, zeigt aber gegen Ende se<strong>in</strong><br />

zweites Gesicht, da auch er sich vom Geld korrumpieren lässt. All diese Figuren verdeutlichen<br />

das unvermeidliche Scheitern e<strong>in</strong>er auf E<strong>in</strong>deutigkeiten festgelegten Kategorisierung.<br />

Der ambivalente Charakter der Figuren setzt sich <strong>in</strong> der Umkehrung der Rollenverhältnisse<br />

fort. Kehren wir noch e<strong>in</strong>mal zu der Darstellung Katja Claussens und ihres Machtverhältnisses<br />

zu Ralf Seidenfaden zurück:<br />

Katja Claussen besitzt e<strong>in</strong>e enorme physische und psychische Präsenz. Auf der Kronos<br />

quält und drangsaliert sie ihren Liebhaber Ralf Seidenfaden vor den Augen der gesamten<br />

Mannschaft. 56 Später entdeckt Smilla, wie Claussen Seidenfaden mit e<strong>in</strong>em Gürtel schlägt,<br />

was er über sich ergehen lässt, da es ihn offensichtlich sexuell erregt. Ähnlich wie im Verhältnis<br />

zwischen Smilla und dem Mechaniker (und <strong>in</strong> gewisser Weise zwischen Smillas Mutter<br />

und ihrem Vater) ersche<strong>in</strong>t hier das normativ festgelegte Rollenverhältnis aufgebrochen<br />

und <strong>in</strong>s Gegenteil verkehrt. Als Seidenfaden am Ende auf Gela Alta Katja Claussen zurückhalten<br />

will, auf Smilla loszugehen, schlägt sie ihm mit e<strong>in</strong>em gezielten Schlag den Mund blutig.<br />

Sie dom<strong>in</strong>iert ihn, maßregelt ihn und verbietet ihm zu sprechen oder zu handeln. Körperliche<br />

Gewalt, sexuelle Dom<strong>in</strong>anz und das Redemonopol s<strong>in</strong>d hier an e<strong>in</strong>e Frau gebunden:<br />

„The women <strong>in</strong> this novel are far more strong-willed than the men“. 57 <strong>Die</strong>se E<strong>in</strong>schätzung<br />

Schaffers gilt mit e<strong>in</strong>er großen Ausnahme – Tørk Hviid.<br />

Tørk ist der große Planer, das Thriller–Masterm<strong>in</strong>d, der es vermag die Figuren <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Umkreis zu manipulieren und so die unterschiedlichen Interessen der Expeditionsteilnehmer<br />

für se<strong>in</strong>e eigenen Interessen zusammenzubr<strong>in</strong>gen. Wenn Smilla auf Gela Alta konsterniert<br />

bemerkt:<br />

Det er sådan jeg har oplevet verden siden jeg forlod Grønland. Som kæder af<br />

tvang. (428)<br />

[So habe ich die Welt erlebt, seit ich Grönland verlassen habe. Als e<strong>in</strong>e Kette aus<br />

Zwängen. (506)]<br />

so muss sie sich am Ende der <strong>Erzählung</strong> e<strong>in</strong>gestehen, dass h<strong>in</strong>ter diesem subtilen Geflecht aus<br />

Abhängigkeiten Tørk steht, der alle Fäden <strong>in</strong> der Hand hält:<br />

55<br />

Smilla führt diese Selbstüberschätzung auf se<strong>in</strong>en Hero<strong>in</strong>rausch zurück. Jakkelsen ist nicht geldsüchtig, mit<br />

se<strong>in</strong>er Hero<strong>in</strong>sucht steht er jedoch am Ende der oben genannten Kette der Abhängigen.<br />

56<br />

Sie reißt ihm, als subtile Machtdemonstration, e<strong>in</strong> Haarbüschel aus.<br />

57<br />

Vgl. Schaffer, a.a.O. S. 57.<br />

27


Han har ført mig herop. Hele vejen fra skibet har han ført mig.<br />

Først nu ser jeg hans brillans som planlægger. (431)<br />

[Er hat mich hierhergeführt. Den ganzen Weg vom Schiff bis hierher hat er mich<br />

geführt.<br />

Erst jetzt sehe ich se<strong>in</strong>e Brillanz als Planer. (510)]<br />

Smilla, die so viel auf ihre Unabhängigkeit hält, muss von Tørk erfahren, dass er sie bereits<br />

<strong>in</strong> Kopenhagen für sich arbeiten ließ:<br />

Katja og Ralf ville have haft bremset dig allerede i København. Men jeg så<br />

mulighederne. Du ville udpege hvad vi havde overset. Som V<strong>in</strong>g og Loyen havde<br />

overset. Som man altid overser. (416)<br />

[Katja und Ralf wollten dich schon <strong>in</strong> Kopenhagen bremsen. Aber ich habe de<strong>in</strong>e<br />

Möglichkeiten gesehen. Du würdest uns zeigen, was wir übersehen hatten. Was<br />

V<strong>in</strong>g und Loyen übersehen haben. Was man immer übersieht. (491)]<br />

Sie ersche<strong>in</strong>t damit neben dem Mechaniker und den anderen Expeditionsteilnehmern als<br />

weiteres kle<strong>in</strong>es Rädchen <strong>in</strong> Tørks komplexem (und unsichtbarem) Machtnetzwerk. 58 Smillas<br />

Wunsch, als Individuum ihr Leben frei und ohne Zwänge selbst zu gestalten, wird angesichts<br />

Tørks Manipulation als Illusion, als Ohnmacht des E<strong>in</strong>zelnen entlarvt. Das von Tørk ausgelegte<br />

Netz aus Zwängen und Abhängigkeiten verweist darüber h<strong>in</strong>aus auf e<strong>in</strong>en grundlegenden<br />

Diskurs, dem sich ke<strong>in</strong>e Figur der <strong>Erzählung</strong> entziehen kann. <strong>Die</strong> Kle<strong>in</strong>– und Großkrim<strong>in</strong>ellen,<br />

die Handlanger und die Planer, sie alle treibt die Gier nach Geld zusammen <strong>in</strong> Tørks<br />

Expedition. Tatsächlich ist das Geld das grundlegende Movens der Handlung, das oberste<br />

Kettenglied <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er langen Kette aus Abhängigkeiten und Zwängen.<br />

Dabei erschafft Tørk nicht die Abhängigkeit, die das Geld <strong>in</strong> der Welt impliziert, er ist lediglich<br />

der raff<strong>in</strong>ierte Planer, der se<strong>in</strong> Netzwerk auf Grundlage dieser primären Machtstruktur<br />

entwickelt. ‚Geld regiert die Welt’; von diesem beherrschenden Grundsatz ist Tørk selbst<br />

nicht ausgenommen – als Mikrobiologe nutzt er se<strong>in</strong>e wissenschaftliche Ausbildung ausschließlich<br />

zur privaten Geldvermehrung: In Thailand arbeitete er an e<strong>in</strong>er neuen Art Rauschgift,<br />

das konzentrierter ist als Hero<strong>in</strong> und damit süchtiger macht, mit dem sich also noch mehr<br />

58 Wie tief greifend Tørks E<strong>in</strong>fluss wirkt, zeigt sich auf der Kronos, als Smilla die Erklärungen des Mechaniker<br />

als Tørks Worte entlarvt: „Bag hans klicheer kan jeg høre Tørks stemme.“ (396) [„H<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>en Klischees<br />

höre ich Tørks Stimme.“ (468)].<br />

Dabei trifft Smilla Tørk bewusst erst im letzten Drittel des Buches. Davor tritt er allenfalls als Phantom <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung.<br />

Er verfolgt Smilla, lauert ihr auf und meldet sich am Telefon, gibt aber nie se<strong>in</strong>e Identität preis. Smilla<br />

spürt zwar, dass h<strong>in</strong>ter Loyen, V<strong>in</strong>g und Licht noch e<strong>in</strong>e größere Macht stehen muss: „[b]ag de tre er der noget<br />

andet, noget større, noget mere hensynsløst“ (186) [H<strong>in</strong>ter den dreien steckt etwas anderes, etwas Größeres,<br />

etwas Rücksichts<strong>lose</strong>res“ (218)], br<strong>in</strong>gt diese Person aber erst spät mit Tørk <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung.<br />

28


Geld verdienen lässt. Und von Smilla nach se<strong>in</strong>er Motivation befragt, gibt er freimütig zu,<br />

was er sich von der Expedition nach Gela Alta erhofft: „– Pengene, [...] Flere penge.“ (429) 59<br />

Tørks netzförmige Organisation <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem grundlegenden Diskurs des Geldes<br />

verweist hier auf Foucaults Machtanalyse. Foucault beschreibt die Macht als „subjektlos“<br />

und „<strong>in</strong>tentional“, als etwas,<br />

das zirkuliert oder vielmehr als etwas, das nur <strong>in</strong> Art e<strong>in</strong>er Kette funktioniert. [...]<br />

<strong>Die</strong> Macht funktioniert und wird ausgeübt über e<strong>in</strong>e netzförmige Organisation.<br />

Und die Individuuen zirkulieren nicht nur <strong>in</strong> ihren Maschen, sondern s<strong>in</strong>d auch<br />

stets <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Position, <strong>in</strong> der sie diese Macht zugleich erfahren und ausüben; [...]<br />

Mit anderen Worten: die Macht wird nicht auf Individuuen angewandt, sie geht<br />

durch sie h<strong>in</strong>durch.60<br />

Macht ist demnach nichts, was e<strong>in</strong>e Person besitzen kann, sie ist ke<strong>in</strong>e Art von Eigentum.<br />

Macht ist dabei ke<strong>in</strong>e „negative Instanz“, der Grund warum die Macht herrscht,<br />

liegt ganz e<strong>in</strong>fach dar<strong>in</strong>, daß sie nicht nur als ne<strong>in</strong>sagende Gewalt auf uns lastet,<br />

sondern <strong>in</strong> Wirklichkeit die Körper durchdr<strong>in</strong>gt, D<strong>in</strong>ge produziert, Lust verursacht,<br />

Wissen hervorbr<strong>in</strong>gt, Diskurse produziert. 61<br />

Deshalb ersche<strong>in</strong>t auch Tørk als Abhängiger se<strong>in</strong>er eigenen Pläne, die genau genommen<br />

e<strong>in</strong>en weiteren von der Macht produzierten Diskurs darstellen. Tørks Sucht nach Geld lässt<br />

ihn Designerdrogen entwickeln, die das Suchtpotential verfielfachen und dabei immer mehr<br />

Abhängige produzieren. Das Rad der Abhängigkeiten dreht sich so immer weiter.<br />

Auch Smilla, die selbst ke<strong>in</strong> Interesse an Geld erkennen lässt, wird von dieser Kette aus<br />

Abhängigkeiten erfasst. Letztendlich s<strong>in</strong>d alle e<strong>in</strong> Teil des geheimnisvollen Machtnetzwerks.<br />

62 Damit gerät aber die Selbstbestimmung des Individuums <strong>in</strong>s Wanken.<br />

So rational und ‚weltlich’ Tørks Motivation für die Expedition nach Gela Alta ersche<strong>in</strong>t,<br />

se<strong>in</strong>e Brillanz als Planer verdankt er e<strong>in</strong>er nach rationalen Maßstäben nicht erfassbaren Ausstrahlung,<br />

der Fähigkeit alle Personen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Umfeld <strong>in</strong> Bann zu ziehen und zu manipulieren.<br />

Selbst Smilla, die ihre Gefühle sonst eher restriktiv handhabt, ist bei ihrem ersten direkten<br />

Aufe<strong>in</strong>andertreffen auf der Kronos fasz<strong>in</strong>iert und h<strong>in</strong>gerissen von Tørks Ausstrahlung:<br />

59<br />

[„Geld, [...] Mehr Geld.“ (508)]<br />

60<br />

Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berl<strong>in</strong>, 1978. S. 82.<br />

61<br />

Foucault: Dispositive, S. 35.<br />

62<br />

E<strong>in</strong>e weitere zentrale Eigenschaft der Macht ist, so Foucault, ihre Tendenz im Verborgenen zu bleiben:<br />

„Das Geheimnis stellt für sie ke<strong>in</strong>en Missbrauch dar, sondern ist unerlässlich für ihr Funktionieren. [...] Ihr<br />

Durchsetzungserfolg entspricht ihrem Vermögen, ihre Mechanismen zu verbergen“. Vgl. Michel Foucault: Der<br />

Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Band 1. Frankfurt a.M., 1983. S. 107.<br />

29


Over for mig, ved bordet i officersmessen, sidder den mand de kalder Tørk. Havde<br />

dette møde fundet sted for ti år siden, havde jeg muligvis forelsket mig i ham.<br />

Det sker at et menneskes udstrål<strong>in</strong>g er sådan, at den glider igennem vores parader,<br />

vores nødvendige fordomme og hæmn<strong>in</strong>ger, og trænger direkte <strong>in</strong>d til <strong>in</strong>dvoldene.<br />

[...]<br />

Fotografierne har fanget hans skønhed, men gjort den livløs, som en statues. De har<br />

ikke gengivet udstrål<strong>in</strong>gen. Den er dobbelt. Som på én gang et pres ud i rummet,<br />

og et sug <strong>in</strong>d imod ham. (312/313)<br />

[Mir gegenüber sitzt am Tisch der Offiziersmesse der Mann, den sie Tørk nennen.<br />

Hätte diese Begegnung vor zehn Jahren stattgefunden, hätte ich mich<br />

möglicherweise <strong>in</strong> ihn verliebt.<br />

Es kann passieren, daß e<strong>in</strong> Mensch e<strong>in</strong>e solche Ausstrahlung hat, daß sie unsere<br />

Paraden und unsere notwendigen Vorurteile und Hemmungen unterläuft und direkt<br />

<strong>in</strong> die E<strong>in</strong>geweide e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gt.<br />

<strong>Die</strong> Fotografien haben se<strong>in</strong>e Schönheit e<strong>in</strong>gefangen, sie jedoch leblos werden<br />

lassen wie die e<strong>in</strong>er Statue. Sie haben die Ausstrahlung nicht wiedergegeben, und<br />

das ist e<strong>in</strong>e doppelte. Man wird <strong>in</strong> den Raum h<strong>in</strong>ausgedrückt und zugleich zu dem<br />

Mann h<strong>in</strong>gesogen. (366/367)]<br />

Smilla weiß um Tørks Beteiligung an Esajas’ Tod, dennoch muss sie sich e<strong>in</strong>gestehen:<br />

„Når han forlader et rum rammes man af kraftesløshed“ (424). 63 Tørks überirdisch anmutendes<br />

Charisma br<strong>in</strong>gt Smilla mit zwei Begegnungen <strong>in</strong> Kopenhagen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung, als sie<br />

nachts e<strong>in</strong>er Person begegnet, die e<strong>in</strong>en hellen weißen Sche<strong>in</strong> wie e<strong>in</strong>e magische Aura um den<br />

Kopf erkennen lässt. 64 Auf der Kronos erkennt Smilla schließlich Tørk als das nächtliche<br />

Phantom und den Ursprung dieses seltsamen Leuchtens – Tørks „næsten metallisk hvidt“<br />

Haare. (313) 65<br />

Se<strong>in</strong>e schneeweiße Haare verweisen ebenfalls auf verb<strong>in</strong>dende Elemente zwischen ihm<br />

und Smilla. Geldmangel brachte die Familie Hviid nach Grönland, wo Tørk – wie Smilla –<br />

e<strong>in</strong>ige Jahre se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit verbrachte. Tørk spricht diese Geme<strong>in</strong>samkeiten Smilla<br />

gegenüber explizit an: „Du og jeg, vi kunne have haft glæde af h<strong>in</strong>anden“ (419). 66 Auch er ist<br />

e<strong>in</strong> Experte <strong>in</strong> Sachen Eis und Schnee. Auf Gela Alta klassifiziert er den Gletscher wissenschaftlich<br />

korrekt, während Smilla schweigt. 67 Mehrmals wird er mit grönländischen Attributen<br />

charakterisiert – Smilla vergleicht ihn mit e<strong>in</strong>em Eisbären, 68 und Victor Halkenhvad attestiert<br />

dem jungen Tørk, nachdem er aus Grönland zurückgekehrt ist: „Drengen var is.“ (195) 69<br />

63<br />

[„Wenn er e<strong>in</strong>en Raum verläßt, überfällt e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong> Gefühl der Kraftlosigkeit.“ (502)]<br />

64<br />

„Over figuren er der en lysnen i rummet, som en hvid hat eller en glorie“ (198/199) [„Über der Gestalt<br />

schwebt e<strong>in</strong>e Erhellung, wie e<strong>in</strong> weißer Hut oder e<strong>in</strong> Gloriensche<strong>in</strong>“ (233)], und etwas später: „Og over hovedet,<br />

som en halo eller en krone, noget hvidt, måske en hat“ (224) [„Und über dem Kopf, wie e<strong>in</strong> Heiligensche<strong>in</strong> oder<br />

e<strong>in</strong>e Krone, etwas Weißes, vielleicht e<strong>in</strong> Hut“ (262)].<br />

65<br />

[„fast metallisch weiß[e]“ (367)]<br />

66<br />

[„Du und ich, wir hätten etwas vone<strong>in</strong>ander haben können.“ (496)]<br />

67<br />

Vgl. (S. 416/417) [S. 492]<br />

68<br />

Vgl. (S. 224) [S. 263]<br />

69<br />

[„Der Junge war Eis.“ (229)]<br />

30


Der charismatische und sche<strong>in</strong>bar übermächtige Planer Tørk wird jedoch am Ende von<br />

den Umständen se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit – die im Roman ausführlich erörtert werden – wieder auf den<br />

Boden der Tatsachen zurückgeholt. Smilla offenbart am Ende des Textes Tørks Schwächen,<br />

als dieser ihr ausführlich und stolz von se<strong>in</strong>en Entdeckungen über den Meteoriten berichtet:<br />

Han taler for at få opmærksomhed og anerkendelse. Under selvsikkerheden og den<br />

tilsyneladende saglighed er en vild stolthed og triumf over hvad han har fundet ud<br />

af [...]. Som altid når en voksen bliver gennemsigtig, er det barnet der træder frem.<br />

(423)<br />

[Er redet, um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen. Unter der Selbstsicherheit<br />

und der sche<strong>in</strong>baren Sachlichkeit liegen e<strong>in</strong> wilder Stolz und e<strong>in</strong> Triumph<br />

über das, was er herausbekommen hat. [..] Und wie immer, wenn e<strong>in</strong> Erwachsener<br />

durchsichtig wird, tritt das K<strong>in</strong>d hervor. (501)]<br />

H<strong>in</strong>ter dem Streben nach Ruhm, Geld und Macht offenbart Tørk e<strong>in</strong> grundlegendes Bedürfnis<br />

nach Anerkennung und Lob für se<strong>in</strong>e Arbeit. Falls Tørk tatsächlich e<strong>in</strong> „patriarkalsk<br />

og ond gud“ 70 se<strong>in</strong> sollte, so ist es mit se<strong>in</strong>er Allmacht nicht weit her. Weit davon entfernt<br />

absolut zu se<strong>in</strong>, 71 scheitert Tørk am Ende des Romans an se<strong>in</strong>er Gegenspieler<strong>in</strong> Smilla, die<br />

ihn mit traumwandlerischer Sicherheit aufs Eis führt und damit se<strong>in</strong>e wahns<strong>in</strong>nigen Allmachtsphantasien<br />

bricht.<br />

70<br />

[„patriarchalischer und bösartiger Gott“] – So charakterisiert ihn Tr<strong>in</strong>e Søndergaard. Vgl. Søndergaard:<br />

Kv<strong>in</strong>den og barnet, S. 70.<br />

71<br />

Nach Foucaults Machtanalyse s<strong>in</strong>d (wie eben gezeigt) Zuschreibungen wie ‚absolut’ ohneh<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Kategorien,<br />

die auf Individuen angewendet werden können.<br />

31


2.2.3 Das unschuldige Opfer – Esajas Christiansen<br />

Wurden alle Figuren bisher als mehr oder weniger ambivalente Charaktere dargestellt, so<br />

ersche<strong>in</strong>t diese Beschreibung <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf Esajas Christiansen problemtisch.<br />

Esajas wird von <strong>Peter</strong> Høeg nicht – wie die meisten Figuren der <strong>Erzählung</strong> – <strong>in</strong>nerhalb gesellschaftlicher<br />

Kategorien und Diskurse konstruiert und dekonstruiert. Esajas ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong><br />

erster L<strong>in</strong>ie als unzweideutig unschuldiges K<strong>in</strong>d, das Høeg als das ultimative Opfer der <strong>Erzählung</strong><br />

stilisiert.<br />

Esajas wird früh aus se<strong>in</strong>er grönländischen Heimat nach Dänemark, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> fremdes Land<br />

und e<strong>in</strong>e fremde Kultur gebracht. Er muss mit ansehen, wie se<strong>in</strong> Vater, der bei dem geheimnisvollen<br />

Ste<strong>in</strong> taucht, vor se<strong>in</strong>en Augen tot zusammenbricht. Als Halbweise erlebt er den<br />

schleichenden Verfall se<strong>in</strong>er chronisch alkoholisierten Mutter, die sich langsam aber sicher zu<br />

Tode tr<strong>in</strong>kt. Schlimmer noch: Ihr alkoholisierter Dauerzustand führt dazu, dass sie sich kaum<br />

um Esajas kümmert, der psychisch und physisch vernachlässigt aufwächst. Als Smilla das<br />

erste Mal auf ihn trifft, streift er verwahrlost <strong>in</strong> Unterhosen durchs Treppenhaus, wo ihn Smillas<br />

für e<strong>in</strong>en Hund hält. Esajas ist unterernährt, ungenügsam gekleidet und selten gewaschen.<br />

Nach e<strong>in</strong>em besonders harten W<strong>in</strong>ter und der vierten Mittelohrentzündung <strong>in</strong> Folge zeigt auch<br />

se<strong>in</strong> Körper Anzeichen e<strong>in</strong>er dauerhaften Schädigung – er ist fortan schwerhörig.<br />

Neben dieser familiären Problematik gerät Esajas zunehmend <strong>in</strong> die postkolonialen<br />

Macht– und Kapital<strong>in</strong>teressen der Gruppe um Tørk. Esajas’ Körper wird zum Objekt ihrer<br />

Interessen, da er sich, ebenso wie se<strong>in</strong> Vater, mit den tödlichen Parasiten <strong>in</strong>fiziert hat, diesen<br />

Befall jedoch seltsamerweise überlebt. 72 Loyen lässt sich auf se<strong>in</strong>er ehrgeizigen Jagd nach<br />

dem Nobelpreis die Gelegenheit den Wurm näher zu studieren nicht entgehen und lädt Esajas<br />

deshalb regelmäßig im Krankenhaus vor. Da Esajas von der Expedition zudem e<strong>in</strong> strategisch<br />

wichtiges Tonband mitgehen ließ, gerät er bald auch <strong>in</strong> Tørks Visier, der ihn, um an das Band<br />

zu gelangen, bis auf das Dach e<strong>in</strong>es Hauses jagt, von wo Esajas schließlich <strong>in</strong> den Tod stürzt.<br />

Aber selbst die Totenruhe wird Esajas nicht gewährt. Se<strong>in</strong> Körper stellt für Loyen immer<br />

noch e<strong>in</strong> hoch<strong>in</strong>teressantes wissenschaftliches Objekt dar, mit dem möglicherweise ruhmreiche<br />

Erkenntnisse auf der Jagd nach wissenschaftlichen Preisen zu gew<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d. Er nimmt<br />

an Esajas e<strong>in</strong>e Muskelbiopsie vor und penetriert se<strong>in</strong>en Körper noch e<strong>in</strong> weiteres, letztes Mal.<br />

72 Esajas war se<strong>in</strong>em Vater <strong>in</strong> den See nachgesprungen, um ihn zu retten. Dass Esajas nicht an den Folgen der<br />

Infizierung stirbt (wie alle anderen) führt Loyen auf Esajas’ k<strong>in</strong>dliches (unschuldiges?) Alter zurück.<br />

32


Familiär vernachlässigt, von Tørk und Loyen misshandelt, ist Esajas das Opfer e<strong>in</strong>er Gesellschaft<br />

des späten 20. Jahrhunderts voller Geld– und Machtgier und Verachtung für das<br />

Leben.<br />

Neben den tragischen Umständen und den Misshandlungen, die Esajas’ kurzes Leben<br />

bestimmen, heben ihn se<strong>in</strong> Wesen und se<strong>in</strong>e Charakterzüge auffallend von den anderen Figuren<br />

ab. Smilla weist mehrmals und ausführlich auf Esajas’ besondere Art h<strong>in</strong>. Sie betont se<strong>in</strong>e<br />

ausgesprochene Höflichkeit und den vorurteilsfreien Respekt, den er ihr und anderen Menschen<br />

gegenüber zeigte:<br />

Det kunne ske, når jeg læste højt for ham, eller hvis vi lyttede til „<strong>Peter</strong> og ulven“,<br />

at m<strong>in</strong> opmærksomhed blev fanget af noget andet, at m<strong>in</strong>e tanker løb af med mig.<br />

Efter et stykke tid rømmede han sig. En venlig, en retledende, en sigende rømmen.<br />

Den sagde så meget som: Smilla – du sover dig bort fra mig. (113)<br />

[Wenn ich ihm vorlas oder wir uns ‚<strong>Peter</strong> und der Wolf’ anhörten, passierte es<br />

schon mal, daß me<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit von etwas anderem gefesselt wurde, daß<br />

me<strong>in</strong>e Gedanken mit mir durchg<strong>in</strong>gen. Nach e<strong>in</strong>er Weile räusperte er sich. E<strong>in</strong><br />

freundliches, e<strong>in</strong> belehrendes, e<strong>in</strong> vielsagendes Räuspern. Es hieß soviel wie: Smilla<br />

– du döst dich weg von mir. (131)]<br />

Der Mechaniker nennt ihn ehrfürchtig ‚Baronen’ [‚den Baron’], als Wertschätzung und<br />

Anerkennung se<strong>in</strong>es besonderen Charakters:<br />

Når et kælenavn bliber hængende, er det fordi det har fanget en dybere sandhed. I<br />

dette tilfælde var det Esajas’ værdighed. Som havde noget at gøre med, at han var<br />

så selvsupplerende. At det var så lidt, han havde brug for at få tilført fra verden for<br />

at være tilfreds. (91)<br />

[Wenn e<strong>in</strong> Spitzname hängenbleibt, dann deshalb, weil er e<strong>in</strong>e tiefere Wahrheit<br />

e<strong>in</strong>gefangen hat. In diesem Fall war es Jesajas Würde. <strong>Die</strong> etwas damit zu tun hatte,<br />

daß er so selbstgenügsam war. Daß ihm die Welt nur so wenig zuführen mußte,<br />

damit er zufrieden war. (105)]<br />

Esajas’ selbstgenügsamer und bescheidener Charakter zeigt sich jedoch vor allem im Umgang<br />

mit den zahlreichen Entbehrungen, die er als vernachlässigtes K<strong>in</strong>d ertragen muss:<br />

Ofte var der <strong>in</strong>gen mad, når Esajas kom hjem. Ved bordet sad Juliane med s<strong>in</strong>e<br />

venner, og der var smøger og latter og tårer og et massivt spiritusmisbrug, men der<br />

var ikke så meget som en femmer til at gå ned og købe pommesfritter for. Han<br />

beklagede sig aldrig. Han skældte aldrig s<strong>in</strong> mor ud. Han surmulede ikke.<br />

Tålmodig, tavs, agtpågivende vred han sig bort under de udstrakte hænder, og gik<br />

s<strong>in</strong> vej. [...] Han kunne sidde i m<strong>in</strong> stue en time eller længere uden at sige at han<br />

var sulten. Fastholdt af en ekstrem, næsten stupid, grønlandsk høflighed. (233)<br />

[Oft war ke<strong>in</strong> Essen da, wenn Jesaja nach Hause kam. Am Tisch saß Juliane mit ihren<br />

Freunden, es gab Zigaretten und Gelächter, Tränen und massiven Alkoholmißbrauch,<br />

aber ke<strong>in</strong>e müde Mark, mit der er sich an der nächsten Ecke Pommes<br />

frites hätte kaufen können. Er beklagte sich nie. Er schimpfte se<strong>in</strong>e Mutter nie aus.<br />

Er maulte nicht. Geduldig, schweigend, achtsam wand er sich aus den ausgestreck-<br />

33


ten Händen und g<strong>in</strong>g. Um, wenn möglich, e<strong>in</strong>e andere Lösung zu f<strong>in</strong>den. Manchmal<br />

war der Mechaniker zu Hause, manchmal ich. Er konnte e<strong>in</strong>e Stunde oder länger<br />

bei mir im Wohnzimmer sitzen, ohne zu sagen, daß er Hunger hatte. Gefesselt<br />

von e<strong>in</strong>er extremen, fast stupiden grönländischen Höflichkeit. (273)]<br />

Misshandlungen erträgt er ebenso schweigsam wie geduldig. 73 Esajas’ stoische Art, auf<br />

die Gewalt, die über ihn here<strong>in</strong>bricht, zu reagieren, se<strong>in</strong>e beispiel<strong>lose</strong> Bescheidenheit und se<strong>in</strong><br />

ungewöhnlicher Respekt heben se<strong>in</strong>en Opferstatus hervor: Esajas’ Charakter ist bewusst diametral<br />

zu den Eigenschaften se<strong>in</strong>er Pe<strong>in</strong>iger angelegt, die ja nach immer mehr Geld, Macht<br />

und Ruhm streben und dabei grundlegende ethische Werte mit den Füßen treten. Esajas dagegen<br />

sche<strong>in</strong>t Bescheidenheit, Sanftmut und Respekt beispielhaft vorzuleben. Auf diesen Aspekt<br />

verweist Elsa Lüb<strong>in</strong>g mit Nachdruck, wenn sie Smilla gegenüber von Esajas spricht:<br />

Når man havde mødt ham, forstod man hvorfor der står skrevet, at uden I bliver<br />

som børn igen, kommer I ikke i Paradis. (68) 74<br />

[Wer ihn kennengelernt hat, hat begriffen, warum geschrieben steht, wenn ihr nicht<br />

werdet wie die K<strong>in</strong>der, so wird euer nicht das Himmelreich. (77)]<br />

Und Smilla wendet Elsa Lüb<strong>in</strong>gs biblische Worte am Ende der Reise auf der Kronos <strong>in</strong>s<br />

Metaphysische:<br />

Der kunne være noget i Esajas’ øjne, en viden ældre end hans alder, ældre end<br />

nogens alder, en dyb <strong>in</strong>dsigt i voksenverdenen. (405)<br />

[Jesaja hatte manchmal etwas <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Blick, e<strong>in</strong> Wissen, das älter war als se<strong>in</strong><br />

Alter, älter als das Alter von irgend jemandem, e<strong>in</strong>e tiefe E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Erwachsenenwelt.<br />

(479)]<br />

Für Smilla ist Esajas e<strong>in</strong> S<strong>in</strong>nstifter, ihre private Utopie; für sie repräsentiert er die Hoffnung<br />

auf e<strong>in</strong> besseres, menschlicheres Dase<strong>in</strong>, auf e<strong>in</strong>e friedliche und harmonische, von gegenseitigem<br />

Respekt getragene Beziehung zwischen Dänen und Grönländern.<br />

Aber Esajas ist offensichtlich zu gut für diese Welt. Als K<strong>in</strong>d, noch dazu vernachlässigt,<br />

ist er der Gewalt und der Gier der Gesellschaft schutzlos ausgeliefert. Er stirbt und Smillas<br />

Vision von e<strong>in</strong>em besseren Leben erweist sich damit als echte Utopie – ohne Aussicht auf<br />

Verwirklichung.<br />

Høeg zeichnet Esajas als utopischen, s<strong>in</strong>nstiftenden ‚Weltretter’, der jeglicher Ambivalenz<br />

entbehrt, der se<strong>in</strong>en Mitmenschen ehrlich und ohne ‚Maske’ (wie beispielsweise der Mechaniker<br />

oder Tørk) begegnet – und dieses Bild will Høeg offenbar nicht brechen. Esajas er-<br />

73 Als Smilla ihn e<strong>in</strong>mal schlägt (Esajas war über brüchiges Eis gelaufen), bleibt se<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Kommentar:<br />

„det kan man vel så vænne sig til, sagde han“ (280) [„daran kann man sich wohl auch gewöhnen“ (328)].<br />

74 Dass Esajas den Namen e<strong>in</strong>es biblischen Propheten und Märtyrers trägt, hat mehr als nur symbolischen<br />

Charakter, was im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlicher erörtert werden soll.<br />

34


sche<strong>in</strong>t als das unschuldige naive K<strong>in</strong>d, das der grausamen Welt der Erwachsenen nicht gewachsen<br />

ist und deshalb stirbt. 75<br />

75 Wobei Smillas Vorstellung von Esajas als Utopie, als ‚<strong>in</strong>terkulturellem Vermittler’ zwischen Dänen und<br />

Grönländern (er wächst zweisprachig auf) mehr als fragwürdig ersche<strong>in</strong>t: Der Grönländer Esajas erlebt als kle<strong>in</strong>er<br />

Junge auf e<strong>in</strong>er dänischen Expedition den Tod se<strong>in</strong>es Vaters; später <strong>in</strong> Dänemark wird er von Loyen und den<br />

anderen Dänen verfolgt und drangsaliert. Auf se<strong>in</strong> problematisches soziales Umfeld (<strong>in</strong> Dänemark) und auf die<br />

traumatischen Erlebnisse der Expedition und deren Folgen reagiert Esajas ebenso drastisch wie konsequent:<br />

schwerhörig, <strong>in</strong>trovertiert und verschlossen nimmt er se<strong>in</strong>e Umwelt nur selektiv wahr.<br />

35


2.3 Das fragmentierte Subjekt – Figuren <strong>in</strong> Frøken Smilla<br />

Wenn wir die Eigenschaften der oben behandelten Figuren zusammenfassen, lassen sich<br />

zwei wesentliche Merkmale feststellen:<br />

<strong>Die</strong> Figuren zeichnen sich e<strong>in</strong>erseits durch stereotypes Verhalten aus. Da ist Smilla, deren<br />

Verhalten uns an James Bond, an Sherlock Holmes, an irgende<strong>in</strong>en Action– oder Krimihelden<br />

er<strong>in</strong>nert. Der unglaubliche Reichtum ihres Vaters und die mystische Darstellung ihrer Mutter<br />

verweisen h<strong>in</strong>gegen auf Archetypen des Märchens. Der Mechaniker ist der bullige, etwas tölpelhafte<br />

Beschützer, der sich rührend um Smilla kümmert. Und Smillas Gegenspieler Tørk<br />

er<strong>in</strong>nert an den „brilliant, reckless mad-scientist found <strong>in</strong> half the low-budget sci-fi movies<br />

ever made“. 76<br />

Andererseits, und das ist das Entscheidende, bricht Høeg mit diesen Stereotypen. Smilla<br />

hat ebenso viele weibliche wie männliche Seiten, dass e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Zuordnung <strong>in</strong>nerhalb<br />

gesellschaftlich festgelegter Rollen versagen muss. Ähnliche Eigenschaften zeigt der Mechaniker,<br />

dessen Metamorphose ihn am Ende als loyales Mitglied der Gegenpartei ersche<strong>in</strong>en<br />

lässt. Selbst der unnahbare, num<strong>in</strong>ose Tørk wird schließlich schwach und scheitert ganz<br />

‚menschlich’ im und am Eis. Nahezu jede Figur im Roman zerfällt an ihrem polyvalenten<br />

Charakter; die multiplen stereotypen Eigenschaften bewirken die Fragmentisierung des Subjekts,<br />

dem jede E<strong>in</strong>deutigkeit abhanden gekommen ist. Høeg negiert hier die Idee e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>heitlichen<br />

Subjekts, das noch <strong>in</strong> den Texten der Moderne die Protagonisten konstituierte.<br />

<strong>Die</strong> Ursachen für diese Brechungen s<strong>in</strong>d vielfältig. Smilla bricht an den multikulturellen<br />

Gegensätzen ihrer Herkunft. Und ihre Existenz, die Verb<strong>in</strong>dung ihrer Eltern, gründet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Moment des Zufalls. 77 <strong>Die</strong> Welt ist, so offenbart der Text, e<strong>in</strong> komplexer Ort, an dem das<br />

Leben der Figuren (fremd-)bestimmt wird durch Unwägbarkeiten und durch die vielfältigen<br />

und komplexen Machtstrukturen, wie der Diskurs der Nebenfiguren um Tørk, das Streben<br />

nach Macht, Ruhm und Geld, zeigt.<br />

76 So Brad Leithauser <strong>in</strong> The New Republic vom 1. November 1993.<br />

<strong>Die</strong> Künstlichkeit der Figuren garantiert e<strong>in</strong>en hohen Wiederkennungseffekt bei den Lesern, erhöht die Lesbarkeit<br />

und ist damit sicherlich e<strong>in</strong> Grund für den enormen Erfolg des Buches. Zwar wird Smillas Persönlichkeit<br />

fragmentarisch dargestellt, aber die e<strong>in</strong>zelnen Komponenten, aus denen sich Smilla ‚zusammensetzt’, s<strong>in</strong>d homogene<br />

stereotype Bilder, die uns vertraut ersche<strong>in</strong>en.<br />

77 Smilla betont mehrmals die Irrationalität, die dieser Beziehung zugrunde lag.<br />

36


3 <strong>Die</strong> Handlungsebene – Diskurse und Genres<br />

Der Handlungsverlauf <strong>in</strong> Frøken Smillas fornemmelse for sne ist so vielschichtig und<br />

komplex, dass selbst fachkundige Rezensenten an der e<strong>in</strong>fachen Wiedergabe des Textes<br />

scheitern. 78 Was für die Figuren gilt, setzt sich auf der Handlungsebene fort. Høeg bedient<br />

sich – ganz im S<strong>in</strong>ne der Postmoderne, <strong>in</strong> deren Folge sich e<strong>in</strong>e Nivellierung zwischen ‚anspruchsvoller’<br />

Literatur und Massenkultur beobachten lässt – vertrauter Gattungen, um se<strong>in</strong>e<br />

Handlung voranzutreiben. 79 Inhaltlich orientiert sich der Roman an den literarischen Vorbildern<br />

des klassischen Krim<strong>in</strong>alromans, des actiongeladenen Thrillers sowie des Science–<br />

Fiction–Romans. <strong>Die</strong>se drei Gattungen etablieren den roten Faden, der die Leser durch die<br />

Handlung führt und aufgrund se<strong>in</strong>er stereotypen Handlungsmuster e<strong>in</strong>en hohen Wiedererkennungswert<br />

beim Leser garantiert. 80<br />

<strong>Die</strong> <strong>Erzählung</strong> ist <strong>in</strong> drei verschiedene Abschnitte aufgeteilt, die sich sowohl nach räumlichen<br />

als auch nach <strong>in</strong>haltlichen Aspekten unterscheiden lassen:<br />

Im ersten Teil Byen [‚die Stadt’], der ausschließlich <strong>in</strong> Kopenhagen spielt, dreht sich zunächst<br />

alles um Esajas’ Tod und dessen Aufklärung. In der Großstadt dom<strong>in</strong>iert der Krimiplot.<br />

Smilla analysiert die Spuren, die Esajas h<strong>in</strong>terlassen hat, und kommt dabei nach und<br />

nach e<strong>in</strong>er Intrige auf die Spur, die weite Kreise <strong>in</strong> Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zieht.<br />

Der zweite Teil des Romans Havet [‚das Meer’] spielt auf hoher See und beschreibt, wie<br />

Smilla auf dem Schiff der Verbrecher, der Kronos, ihre Untersuchungen zu Esajas’ Fall weiter<br />

vorantreibt. Als Außenseiter<strong>in</strong> an Bord muss sie sich gegen die Übergriffe der Mannschaft<br />

behaupten, die ihr offen nach dem Leben trachtet. In diesem Spannungsfeld geraten die Umstände<br />

zu Esajas’ Tod immer mehr <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund, Smilla muss <strong>in</strong> wilden Verfolgungsszenen<br />

ihr Leben auf dem Schiff verteidigen.<br />

Je weiter sich das Schiff dem Eis und se<strong>in</strong>em eiskalten Ziel, dem Barrengletscher nähert,<br />

umso mehr gleitet die <strong>Erzählung</strong> <strong>in</strong>s Fantastische ab. Der dritte und gleichzeitig kürzeste Teil<br />

der <strong>Erzählung</strong>, Isen [‚das Eis’], spielt auf der fiktiven Insel Gela Alta vor der Westküste<br />

Grönlands. <strong>Die</strong> Frage nach Esajas’ Tod ist hier nun be<strong>in</strong>ahe vollständig <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund<br />

78 Wie z.B. Franz Rottenste<strong>in</strong>er mit se<strong>in</strong>er fragwürdigen Zusammenfassung im Lexikon der Krim<strong>in</strong>alliteratur.<br />

Vgl. Franz Rottenste<strong>in</strong>er: „Fräule<strong>in</strong> Smillas Gespür für Schnee“. In: Lexikon der Krim<strong>in</strong>alliteratur, 5. Erg.-Lfg.<br />

August 1994. S. 1 – 4.<br />

79 Zu den Merkmalen postmoderner Kunst sei auf den Aufsatz von Jameson verwiesen: Frederic Jameson:<br />

Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In: Andreas Huyssen (Hg.): Postmoderne: Zeichen<br />

e<strong>in</strong>es kulturellen Wandels. Re<strong>in</strong>bek bei Hamburg, 1986. S. 45 – 102; hier S. 46f und passim.<br />

80 <strong>Die</strong>ser Faktor dürfte auch zu dem ungeme<strong>in</strong> großen Erfolg des Buches beigetragen haben.<br />

37


gerückt vor dem weitaus größeren Rätsel des außerirdischen Ste<strong>in</strong>es und den nicht m<strong>in</strong>der<br />

geheimnisvollen Parasiten.<br />

3.1 Der klassische Krimi auf Abwegen – Esajas’ Fall und (k)e<strong>in</strong>e Lösung?<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n der Handlung ersche<strong>in</strong>t Frøken Smillas fornemmelse for sne wie e<strong>in</strong> klassischer<br />

Krim<strong>in</strong>alroman; e<strong>in</strong> Junge fällt vom Dach und stirbt. War es e<strong>in</strong> Unfall oder war es Mord,<br />

warum musste Esajas sterben? Zwei Instanzen machen sich daran diesen Fall zu untersuchen<br />

– die Polizei und Smilla Jaspersen, die, im Gegensatz zu den Behörden, davon überzeugt ist,<br />

dass es ke<strong>in</strong> Unfall war.<br />

<strong>Die</strong>se Eckdaten markieren die Exposition des Krim<strong>in</strong>alromans: E<strong>in</strong> ungeklärter Todesfall,<br />

e<strong>in</strong> Detektiv, der den Fall untersucht und e<strong>in</strong> potentieller Mörder, den es gilt aufzuspüren.<br />

Esajas’ Tod bildet die Rahmenhandlung, die, zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> der ersten Hälfte des Romans, den<br />

Spannungsbogen aufrechterhält und den Leser <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Bann zieht.<br />

Høeg bedient sich nicht nur e<strong>in</strong>es vertrauten und populären Genres, auch se<strong>in</strong>e Detektiv–<br />

Held<strong>in</strong> ist an bekannte literarische Vorbilder angelehnt. Smilla, die Spurenleser<strong>in</strong>, er<strong>in</strong>nert mit<br />

ihrem <strong>in</strong>tuitiven Spürs<strong>in</strong>n und ihrer brillanten Komb<strong>in</strong>ationsgabe an Sherlock Holmes und<br />

den klassischen Detektionsroman. Wenn sie als e<strong>in</strong>same Detektiv<strong>in</strong> meist resigniert durch die<br />

Großstadt zieht und mit ihrer zynischen Art ihre Umwelt auf Distanz hält, verweist das auf die<br />

desillusionierten Anti–Helden des hard–boiled Krim<strong>in</strong>alromans, wie Philip Marlowe oder<br />

Sam Spade.<br />

Aber Høeg begnügt sich nicht mit dem e<strong>in</strong>fachen Krimiplot, er dreht das Gattungskarussell<br />

munter weiter. Smillas Ermittlungen führen sie immer mehr <strong>in</strong> den Untergrund, <strong>in</strong> das<br />

Labyr<strong>in</strong>th der Stadt und der Gesellschaft. 81 Nach und nach kommt sie e<strong>in</strong>er groß angelegten<br />

Intrige auf die Spur. H<strong>in</strong>ter Esajas’ Fall steht nicht e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Täter, sondern e<strong>in</strong> klassisches<br />

Komplott, <strong>in</strong> das namhafte Personen aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft verwickelt s<strong>in</strong>d.<br />

Esajas’ Fall ist weitaus komplexer, als dies zu Beg<strong>in</strong>n den Ansche<strong>in</strong> hat. Der sche<strong>in</strong>bar unbedeutende<br />

Tod e<strong>in</strong>es Jungen <strong>in</strong> Kopenhagen verweist auf e<strong>in</strong> noch viel größeres, globales<br />

Verbrechen, das sich anschickt die gesamte Menschheit zu bedrohen. <strong>Die</strong>ses Handlungsmuster<br />

– auch hier folgt Høeg den Gesetzen der Gattung – ist an den Polit– oder Verschwörungs-<br />

81 <strong>Die</strong> entscheidenden H<strong>in</strong>weise auf die Expeditionen nach Gela Alta erhält Smilla <strong>in</strong> Räumen, die sich unter<br />

der Erde bef<strong>in</strong>den: im Archiv der Kryolitselskabet f<strong>in</strong>det sie die ersten H<strong>in</strong>weis auf die Expeditionen; im Keller<br />

ihres Hauses angelt sie Esajas’ Kassettenband aus e<strong>in</strong>em dunklen Loch. Und der rätselhafte Ste<strong>in</strong> schließlich<br />

liegt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Höhle unter dem Eis.<br />

38


thriller angelehnt, der sich, nachdem Smilla die Intrige aufgedeckt hat und ihr Wissen verteidigen<br />

muss, immer mehr zu e<strong>in</strong>em rasanten Actionthriller entwickelt. Der ursprüngliche Fall,<br />

der den Ste<strong>in</strong> überhaupt erst <strong>in</strong>s Rollen br<strong>in</strong>gt, gerät darüber immer mehr <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund.<br />

Der rote Faden des Romans verschiebt sich allmählich von Esajas’ rätselhaftem Tod <strong>in</strong> Kopenhagen<br />

h<strong>in</strong> zu dem weitaus rätselhafteren, tödlichen Ste<strong>in</strong> auf Gela Alta.<br />

Aber Høeg folgt nicht schablonenhaft den stereotypen Handlungsmustern der erwählten<br />

Gattungen, er bricht schließlich mit deren Gesetzen. Denn, ob nun Krimi– oder Thrillerplot,<br />

ke<strong>in</strong>er der e<strong>in</strong>geführten Handlungsstränge führt am Ende des Romans zu der gewohnten und<br />

befriedigenden Auflösung. Auf der Reise nach Gela Alta rekonstruiert Smilla zwar mit Tørks<br />

Hilfe die Umstände, die zu Esajas’ Fall führten, aber e<strong>in</strong>e vollständige Aufklärung bleibt ihr –<br />

und damit dem Leser – verwehrt. <strong>Die</strong> vollkommene, objektive Wahrheit über Esajas’ Tod<br />

erweist sich als Illusion, die Smilla nicht auflösen kann, und das liegt <strong>in</strong> der Natur der Sache.<br />

Smilla vermag Esajas’ Spuren im Schnee dank ihres enzyklopädischen Wissens und ihres<br />

Gefühls für Schnee zwar zu deuten, sie erkennt jedoch selbst, dass dies e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> subjektive<br />

Auslegung ist, die sich schwerlich anderen vermitteln lässt. Schließlich ist die Beweislage<br />

klar und für alle offensichtlich:<br />

Bortset fra Esajas’ spor er der <strong>in</strong>gen. Der har på snefladen <strong>in</strong>gen anden været end<br />

han. (16)<br />

[Außer Jesajas Spuren gibt es ke<strong>in</strong>e anderen. Auf der Schneefläche ist außer ihm<br />

niemand gewesen. (14)]<br />

Auf dem Dach versucht sie Ravn von ihrer <strong>in</strong>tuitiven Erkenntnis zu überzeugen, dass neben<br />

Esajas noch e<strong>in</strong>e weitere Person auf dem Dach gewesen se<strong>in</strong> muss, gesteht sich jedoch<br />

selbst e<strong>in</strong>, wie s<strong>in</strong>nlos das ist:<br />

Vi er nu på vej ud i det der skal siges, men ikke kan forklares. [...]<br />

Jeg kan selv høre, hvor utilstrækkeligt det må lyde. (45)<br />

[Jetzt bewegen wir uns auf das zu, was gesagt werden muß, sich aber nicht erklären<br />

läßt. [...]<br />

Ich höre selber, wie unzulänglich das kl<strong>in</strong>gen muß. (49)]<br />

Esajas ist ohne erkennbare Fremde<strong>in</strong>wirkung vom Dach gestürzt, Smillas Deutungen se<strong>in</strong>er<br />

Spuren im Schnee stellen e<strong>in</strong>e Interpretation dar, die sich aufgrund der Beweislage weder<br />

rational noch objektiv e<strong>in</strong>deutig belegen lässt. Smilla ist es demnach, entgegen den Gesetzen<br />

des klassischen Detektivromans, unmöglich die Ereignisse am Ende des Romans vollständig<br />

39


aufzuklären, ihre Auflösung mag <strong>in</strong> sich schlüssig se<strong>in</strong>, bleibt aber spekulativ. 82 Damit bewegt<br />

sich Høeg mit se<strong>in</strong>er <strong>Erzählung</strong> im Bereich des postmodernen Krim<strong>in</strong>alromans, der,<br />

diametral zur modernen Krim<strong>in</strong>algeschichte, jeden allumfassenden Wahrheitsanspruch oder –<br />

mit Derrida gesprochen – jeden Logozentrismus negiert und bewusst verwirft.<br />

Der moderne Krim<strong>in</strong>alroman feierte mit der „Aufklärung e<strong>in</strong>es Krim<strong>in</strong>alfalles die ‚Aufklärung’“<br />

selbst, wie Alida Bremer <strong>in</strong> ihrer Untersuchung zur Poetik des modernen und postmodernen<br />

Krim<strong>in</strong>alromans nachzeichnet. 83 <strong>Die</strong> Lösung aller Rätsel ist der wesentliche Bestandteil<br />

des klassischen Krim<strong>in</strong>alromans, die Gattung def<strong>in</strong>iert sich über die E<strong>in</strong>haltung dieses<br />

Schemas. 84 In das Chaos der Zeichen und Spuren schlägt der Detektiv auf se<strong>in</strong>em Weg<br />

e<strong>in</strong>en lichten Pfad, an dessen Ende uns die Auflösung erwartet. 85 Der postmoderne Krim<strong>in</strong>alroman<br />

spielt bewusst mit dieser Erwartungshaltung. Er kopiert den klassischen Plot des Krimis,<br />

verweigert aber die Auflösung am Schluss, oder pervertiert sie. 86 Er betont die pr<strong>in</strong>zipielle<br />

‚Unlesbarkeit’, die Une<strong>in</strong>deutigkeit der Zeichen, die sich nicht endgültig und logisch entschlüsseln<br />

lassen, da sie nicht mehr auf e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>deutigen Signifikanten verweisen. 87<br />

Auch Frøken Smillas fornemmelse for sne zw<strong>in</strong>gt dem Leser e<strong>in</strong>e ambivalente Lektüre<br />

auf. Letztendlich kann sich jeder, wie Smilla, se<strong>in</strong>e eigene Deutung zu Esajas’ Fall zusam-<br />

82 In der Sekundärliteratur wird zumeist behauptet, Smilla löse den Fall am Ende auf Gela Alta. Dabei wird<br />

jedoch übersehen, dass Smilla, wie oben dargestellt, den Fall ausschließlich subjektiv auflöst und abschließt.<br />

Unangenehme Fragen, wie die Beteiligung des Mechanikers an Esajas’ Tod, klammert sie bewusst aus – und<br />

das, obwohl Smilla ‚ahnt’, dass er mit Esajas auf dem Dach war: „Nu er det også dig, der var bag ham på taget“<br />

(390) [„Irgendwie bist du mit dabeigewesen. Irgendwie bist jetzt auch du h<strong>in</strong>ter ihm auf dem Dach gewesen.“<br />

(461)]. Letztendlich bleibt für den Leser die ursprünglich zentrale Frage des Romans, warum Esajas von dem<br />

Dach stürzt, offen. Von e<strong>in</strong>er objektiven Lösung des Falles ist Smilla meilenweit entfernt. Warum dennoch der<br />

E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>er Auflösung entsteht, soll im letzten Teil dieser Arbeit erläutert werden.<br />

83 Vgl. Alida Bremer: Krim<strong>in</strong>alistische Dekonstruktion: Zur Poetik der postmodernen Krim<strong>in</strong>alromane.<br />

Würzburg, 1997. S. 11. Vgl. auch die Arbeiten von Brecht und Bloch, die übere<strong>in</strong>stimmend die Modernität des<br />

Krim<strong>in</strong>alromans hervorheben, da er verborgenen Strukturen nachspürt und diese aufdeckt. Beide Arbeiten f<strong>in</strong>den<br />

sich <strong>in</strong> dem folgenden Sammelband: Jochen Vogt (Hg.): Der Krim<strong>in</strong>alroman. Poetik – Theorie – Geschichte.<br />

München, 1998.<br />

84 Jorge Luis Borges fügt h<strong>in</strong>zu, dass der Krim<strong>in</strong>alroman gerade <strong>in</strong> chaotischen Zeiten beruhigend wirke, da er<br />

„nicht ohne Anfang, Mitte und Ende auskommt“, also e<strong>in</strong>e klare Struktur besitze. Vgl. Vogt: Der<br />

Krim<strong>in</strong>alroman, S. 9. Interessanterweise nimmt gerade die Filmfassung von Frøken Smillas fornemmelse for sne<br />

diese Struktur auf, wenn zu Beg<strong>in</strong>n der Absturz des Meteoriten zusammen mit der E<strong>in</strong>blendung e<strong>in</strong>er Jahreszahl<br />

(„1879 A.D.“) gezeigt wird – e<strong>in</strong>e Szene, die Høeg im Buch bewusst auslässt. Der Roman macht ke<strong>in</strong>e näheren<br />

Angaben zum Absturzort und –jahr. Den K<strong>in</strong>ogängern wollte man offenbar den ohneh<strong>in</strong> schon schwer verdaulichen<br />

Stoff der <strong>Erzählung</strong> nicht noch durch e<strong>in</strong>e achronische Struktur ohne ausgewiesenen Anfang verkomplizieren.<br />

85 Auch die Romane der amerikanischen hard-boiled-school orientieren sich an diesem Schema. Zwar ist auch<br />

hier e<strong>in</strong>e Entmächtigung des Detektivs festzustellen – die Wahrheit, die er aufdeckt, bleibt nutzlos und <strong>in</strong>effektiv,<br />

da sie von der Gesellschaft ignoriert wird – aber dem Detektiv bleibt immerh<strong>in</strong> der Trost, den Fall ‚objektiv’<br />

zu e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong> anerkannten Auflösung gebracht zu haben.<br />

86 Wie Eco, der se<strong>in</strong>en Detektiv <strong>in</strong> Der Name der Rose an se<strong>in</strong>er eigenen, falschen Hypothese scheitern lässt.<br />

William von Baskerville deckt alles Mögliche auf, nur nicht den eigentlichen Fall.<br />

87 Dem klassische Krim<strong>in</strong>alroman war die pr<strong>in</strong>zipielle Auflösbarkeit aller Rätsel <strong>in</strong>härent – konnte der Fall<br />

dennoch nicht geklärt werden, lag das primär an der Unfähigkeit des Detektivs, der die (e<strong>in</strong>deutigen) Zeichen<br />

nicht oder falsch <strong>in</strong>terpretierte.<br />

40


menreimen. B<strong>in</strong>äre Kategorien wie ‚richtig’ oder ‚falsch’, mit denen der klassische Krim<strong>in</strong>alroman<br />

operiert, f<strong>in</strong>den hier ke<strong>in</strong>e Anwendung mehr. <strong>Die</strong> Zeichen, die Esajas h<strong>in</strong>terlässt, ermöglichen<br />

viele Interpretationen, lassen sich jedoch nicht auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige, objektive und<br />

absolute Lösung reduzieren.<br />

41


3.2 Aspekte des Bildungsromans <strong>in</strong> Frøken Smilla – woh<strong>in</strong> führt die Reise?<br />

Brecht lobt den Krim<strong>in</strong>alroman, da er den „Kausalnexus“ gesellschaftlicher Umstände<br />

aufzeigt: „<strong>Die</strong> Kausalität menschlicher Handlungen zu fixieren, ist die hauptsächlichste <strong>in</strong>tellektuelle<br />

Vergnügung, die uns der Krim<strong>in</strong>alroman bietet“. 88 Letztendlich, so Brecht, zeigt der<br />

Krim<strong>in</strong>alroman damit „wie unser gesellschaftliches Zusammense<strong>in</strong> funktioniert“. 89 Ähnlich<br />

äußert sich Bloch, der das „Entlarvende, Aufdeckende“ 90 der Krim<strong>in</strong>alromane hervorhebt. In<br />

diesem S<strong>in</strong>ne vergleicht Bloch die Krim<strong>in</strong>algeschichte mit dem Roman überhaupt, denn: „es<br />

geht mehr als je auch <strong>in</strong> besseren Schriften entlarvend her“. 91<br />

Ermittelt der Detektiv <strong>in</strong> der Öffentlichkeit, um dort nach den Spuren des Verbrechens<br />

und dessen Auflösung zu suchen, so macht sich der Held des Bildungsromans auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere<br />

Reise, bei der er idealerweise e<strong>in</strong>en Reifeprozess durchläuft, um am Ende geläutert durch Erfahrung<br />

se<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der Gesellschaft neu e<strong>in</strong>nehmen zu können.<br />

Den zentralen Aspekt der Reise greifen gleich mehrere Kritiker auf, die Frøken Smillas<br />

fornemmelse for sne explizit als solch e<strong>in</strong>en Bildungsroman lesen.<br />

So sieht Judy Gammelgaard die Exposition des Romans <strong>in</strong> Smillas pathologischer Bisexualität,<br />

die sie auf ihre fortdauernden Identitätsprobleme (ihre gespaltene kulturelle Identität)<br />

zurückführt. 92 Ausgelöst durch Esajas’ Tod macht sie sich auf e<strong>in</strong>e Reise, bei der sie mit ihren<br />

Er<strong>in</strong>nerungen an Grönland und ihrer Mutter konfrontiert wird: „The boy’s death ushers <strong>in</strong> the<br />

journey which, on a psychological level, takes her back to the pre-oedipal arena that had been<br />

c<strong>lose</strong>d off to her“. 93 <strong>Die</strong> drei an verschiedenen Orten spielenden Kapitel seien deshalb auch<br />

als symbolische Bezugspunkte dieser Reise <strong>in</strong> die eigene Vergangenheit zu denken.<br />

Ähnlich <strong>in</strong>terpretiert Mary Kay Norseng die Handlung des Romans. 94 Auch sie betont<br />

Smillas Reise, <strong>in</strong> der sie den Ausdruck e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>neren Konflikts ausmacht. Smillas Suche nach<br />

Esajas’ Mörder offenbart <strong>in</strong> Wahrheit ihre subtile, lebenslange Suche nach der verlorenen<br />

Mutter: „I would suggest that Smilla’s search for Isaiah can be <strong>in</strong>terpreted as a repetition of a<br />

88 Vogt: Der Krim<strong>in</strong>alroman. S. 36.<br />

89 Vogt: Der Krim<strong>in</strong>alroman. ebd.<br />

90 Vogt: Der Krim<strong>in</strong>alroman. S. 41.<br />

91 Vogt: Der Krim<strong>in</strong>alroman. S. 44.<br />

92 Vgl. Judy Gammelgaard: A Psychoanalytic Read<strong>in</strong>g of <strong>Peter</strong> <strong>Høegs</strong> Novel Miss Smilla’s Feel<strong>in</strong>g for Snow.<br />

In: International Journal of Psychoanalysis 82 (2001): 101 – 116.<br />

93 Vgl. Gammelgaard: A Psychoanalytic Read<strong>in</strong>g, S. 115.<br />

94 Vgl. Mary Kay Norseng: A House of Mourn<strong>in</strong>g. In: Scand<strong>in</strong>avian Studies 69 (1997): 52–84.<br />

42


‘life-long’ if disguised search for her lost mother“. 95 Ihre Reise sei demnach der Versuch e<strong>in</strong>er<br />

lange verdrängten Trauerarbeit.<br />

Am ausführlichsten setzt sich Rolf Højmark Jensen mit dem Entwicklungsaspekt der<br />

Handlung ause<strong>in</strong>ander. 96 Jensen verweist auf den dreigliedrigen Aufbau der <strong>Erzählung</strong>, den<br />

Høeg vom Bildungsroman entlehnt, und der e<strong>in</strong>e symbolische Funktion erfüllt: „De er markører<br />

for hendes <strong>in</strong>dre rejse. [...] På det symbolske plan <strong>in</strong>deholder Frøken Smillas fornemmelse<br />

for sne spor i retn<strong>in</strong>g af dannelsesromanens kompositoriske tre-del<strong>in</strong>g, hjemme-ude-hjem“. 97<br />

Das Rätsel um Esajas’ Tod benutze Høeg, um Smillas Selbsterkennungsprozess <strong>in</strong> Gang zu<br />

setzten: „<strong>Peter</strong> Høeg anvender det krimiagtige plot som en reflektor for Smillas<br />

erkendelsesproces eller hendes ‚dannelsesrejse“. 98 Denn, so Jensen, das größte Rätsel des<br />

Romans ist weder Esajas’ Todesfall noch der mysteriöse Meteorit, Smilla selbst ist „den<br />

største gåde“ 99 der <strong>Erzählung</strong>. Mit dieser E<strong>in</strong>schätzung kann Jensen schließlich die Poetik des<br />

Romans ganz auf die psychologische Entwicklung se<strong>in</strong>er Figuren reduzieren: „Frøken Smillas<br />

fornemmelse for sne handler således betragtet om at forklare og forstå et menneskes liv og de<br />

kræfter, der <strong>in</strong>fluerer på det.“ 100 <strong>Die</strong>s ist jedoch angesichts der Komplexität des Textes e<strong>in</strong>e<br />

„naiv anmutende Interpretation“, 101 wie Lutz Rühl<strong>in</strong>g feststellt, da Jensen, den postmodernen<br />

Charakter der <strong>Erzählung</strong> verkennend, den „Text und se<strong>in</strong>e Held<strong>in</strong> bedenkenlos psychologisch<br />

analysiert [...]“. 102 Jensen entgeht, dass es gerade das heraushebende Merkmal der Figuren<br />

(und dies gilt <strong>in</strong>sbesondere für Smilla) ist, dass sie sich weder <strong>in</strong> e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiges Schema,<br />

noch <strong>in</strong> irgendwelche psychologischen Kategorien zwängen lassen.<br />

Unbestreitbar ist jedoch, dass Høeg die klassische dreistufige E<strong>in</strong>teilung sowie den Aspekt<br />

der Reise an den Aufbau des Bildungsromans anlehnt. 103 Inhaltlich zeichnet er dieses Schema<br />

95 Vgl. Norseng: A House of Mourn<strong>in</strong>g, S. 65.<br />

96 Vgl. Rolf Højmark Jensen: Kv<strong>in</strong>den, kjærligheden og ondskaben. In: Anne-Marie Mai (Hg.): Prosa fra<br />

80'erne til 90'erne. København, 1994. S. 74 – 84.<br />

97 [„Er markiert ihre <strong>in</strong>nere Reise. [...] In diesem S<strong>in</strong>ne verweist Fräule<strong>in</strong> Smillas Gespür für Schnee<br />

symbolisch auf den dreigliedrigen Aufbau des Bildungsromans: zu Hause – Außwärts – nach Hause.“] Vgl.<br />

Jensen: Kv<strong>in</strong>den, kjærligheden og ondskaben, S. 74.<br />

98 [„<strong>Peter</strong> Høeg benutzt die Krimihandlung als Verweis auf Smillas Prozess der Selbsterkenntnis und ihre<br />

Reise im S<strong>in</strong>ne des Bildungsromans.“] Vgl. Jensen: Kv<strong>in</strong>den, kjærligheden og ondskaben, S. 75/76.<br />

99 [„das größte Rätsel”] Vgl. Jensen: Kv<strong>in</strong>den, kjærligheden og ondskaben, S. 75.<br />

100 [„In diesem S<strong>in</strong>ne geht es <strong>in</strong> Fräule<strong>in</strong> Smillas Gespür für Schnee darum, das Leben e<strong>in</strong>es Menschen und<br />

die Kräfte und E<strong>in</strong>flüsse die es bestimmen, zu erklären und zu verstehen.“] Vgl. Jensen: Kv<strong>in</strong>den, kjærligheden<br />

og ondskaben, S. 74.<br />

101 Vgl. Rühl<strong>in</strong>g: <strong>Die</strong> Entmächtigung der Metaphysik, S. 250.<br />

102 Vgl. Rühl<strong>in</strong>g: <strong>Die</strong> Entmächtigung der Metaphysik, ebd.<br />

103 Neben der E<strong>in</strong>teilung <strong>in</strong> die drei großen Abschnitte (Byen, Havet, Isen) ist die <strong>Erzählung</strong> <strong>in</strong> <strong>in</strong>sgesamt 37<br />

Kapitel unterteilt – und diese Zahl entspricht genau Smillas Alter zum Zeitpunkt der Handlung. Auch dies kann<br />

als e<strong>in</strong> weiterer Verweis auf den Bildungsroman gelesen werden: das Buch umfasst Smillas Leben und ihre Lebensgeschichte.<br />

Tatsächlich, und das ist das Entscheidende, gibt der Text Smillas Leben aber nur fragmentiert<br />

wieder, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit.<br />

43


aber nicht e<strong>in</strong>fach nur nach, wie Jensen behauptet, Høeg bedient sich des Pastiche. In Frøken<br />

Smilla wird die Tradition des Bildungsromans nicht fortgesetzt, sondern ausdruckslos imitiert.<br />

Smilla unternimmt zwar e<strong>in</strong>e Reise, die sie weit weg von Zuhause auf e<strong>in</strong>e ferne Insel br<strong>in</strong>gt,<br />

aber hier bricht der Roman unvermittelt ab und Smilla kehrt am Ende des Romans nicht – wie<br />

es das Gattungsschema erfordert – nach Hause zurück. Falls Frøken Smilla tatsächlich e<strong>in</strong>e<br />

<strong>Erzählung</strong> <strong>in</strong> der Tradition des Bildungsromans se<strong>in</strong> sollte, bleibt die Frage, was sie am Ende<br />

f<strong>in</strong>det – Erkenntnis, Klärung des Bewusstse<strong>in</strong>s durch Erfahrung, harmonische Vollendung?<br />

Und warum begibt sich Smilla auf der angeblichen Suche nach der verlorenen Mutter nicht<br />

‚natürlicherweise’ nach Grönland sondern auf e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e unbedeutende Insel vor Grönland?<br />

104 Selbst die Liebesgeschichte, die Beziehung, die Smilla und der Mechaniker aufbauen<br />

(und die noch am ehesten e<strong>in</strong>er Entwicklung gleichkommt), endet unbestimmt. Überlebt der<br />

Mechaniker? Falls ja, wie wird Smilla mit se<strong>in</strong>em Verrat umgehen?<br />

Am Ende bleiben mehr Fragen offen als am Anfang und nichts ist geklärt; die Figuren und<br />

Handlungsstränge verlaufen sich im Schnee auf Gela Alta. Das ursprüngliche Rätsel – die<br />

eigentliche Motivation für Smillas Reise – ist fast völlig vergessen, der Ste<strong>in</strong>, Tørk und der<br />

Mechaniker stehen nun plötzlich im Zentrum der Handlung. Im letzten Drittel des Romans<br />

gerät e<strong>in</strong> völlig neuer Handlungsstrang <strong>in</strong> den Mittelpunkt, der verdeutlicht, dass Smillas Reise<br />

nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e psychologische Bildungsreise <strong>in</strong> der Tradition des Bildungsromans darstellt.<br />

In postmodernen Zeiten ist es dem Helden offensichtlich nicht nur versagt e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache<br />

und abschließende Lösung e<strong>in</strong>es Krim<strong>in</strong>alfalls zu f<strong>in</strong>den, auch der Weg zur Erkenntnis, die<br />

Auflösung psychologischer Spannungen, f<strong>in</strong>det ke<strong>in</strong> Ende.<br />

104 Dass Gela Alta nicht mit Grönland gleichzusetzen ist, sche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>ige Kritiker und Rezensenten geflissentlich<br />

zu übersehen. Høeg verschiebt den Fokus bewusst von Grönland weg <strong>in</strong> die Peripherie, auf e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e fiktive<br />

Insel irgendwo vor der Westküste Grönlands (<strong>in</strong> der Filmfassung wird auch dieser Aspekt nach dem Motto<br />

‚weg vom Unbekannten h<strong>in</strong> zum Bekannten’ bere<strong>in</strong>igt: hier landet der Meteor direkt <strong>in</strong> Grönland).<br />

44


3.3 Der postkoloniale Diskurs <strong>in</strong> Frøken Smilla – Kolonisierung ohne Ende<br />

Im Gegensatz zur Detektivhandlung, die, wie oben gezeigt, im Verlauf der Handlung immer<br />

mehr an Bedeutung verliert, bleibt der postkoloniale Diskurs <strong>in</strong> Frøken Smilla bis zum<br />

Ende der <strong>Erzählung</strong> präsent und aktuell.<br />

Esajas’ Tod, Smillas Ermittlungen, die Reise nach Gela Alta – letztendlich läuft von Beg<strong>in</strong>n<br />

an alles auf e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Ziel h<strong>in</strong>aus: E<strong>in</strong> mysteriöser und (vermutlich) außerordentlich<br />

wertvoller Ste<strong>in</strong> soll von e<strong>in</strong>er privat ausgerüsteten Expedition heimlich auf e<strong>in</strong>er grönländischen<br />

Insel geborgen und nach Dänemark transportiert werden. Tørk, der Drahtzieher dieses<br />

ehrgeizigen Unternehmens, plant den Ste<strong>in</strong> anschließend <strong>in</strong> Dänemark zu vermarkten und zu<br />

Geld zu machen.<br />

Dabei ist Tørks Expedition nicht die erste; von dänischer Seite wurde bereits zweimal zuvor<br />

der Versuch unternommen, den wertvollen Ste<strong>in</strong> zu bergen. 105 Beide Male lief die Organisation<br />

unter dem Deckmantel der staatlichen Kryolitselskabet Danmark, die den Abbau der<br />

grönländischen Kryolithvorkommen organisierte. 106 V<strong>in</strong>g, der F<strong>in</strong>anzleiter der Gesellschaft,<br />

nutzte dabei geme<strong>in</strong>sam mit Loyen die Kryolitselskabet, um beide Expeditionen zu f<strong>in</strong>anzieren.<br />

Im Zeitalter der Kolonisierung bemächtigte sich Dänemark der gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>genden grönländischen<br />

Ressourcen, ob nun auf offiziellem oder <strong>in</strong>offiziellem Wege.<br />

In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts rückte Dänemark offiziell von der Kolonisierung<br />

Grönlands ab und die Grönländer wurden im Zuge der ‚Danisierungspolitik’ den<br />

Dänen gleichgestellt:<br />

Den gamle, ubesmykkede kolonipolitik i Grønland blev på dette tidspunkt<br />

skr<strong>in</strong>lagt. For at give plads for 60erpolitikken – oplær<strong>in</strong>gen af norddanskerne til<br />

samme rettigheder. (123)<br />

[<strong>Die</strong> alte, ungeschm<strong>in</strong>kte Kolonialpolitik <strong>in</strong> Grönland wurde begraben. Um der Politik<br />

der sechziger Jahre Platz zu machen – der Erziehung der Norddänen zu denselben<br />

Rechten. (143)]<br />

Der Gew<strong>in</strong>n an Eigenständigkeit führte für die Grönländer andererseits zum fortgesetzten<br />

Verlust der eigenen Kultur, da die Danisierungspolitik nichts weiter als e<strong>in</strong>e kaum verdeckte,<br />

e<strong>in</strong>seitige Umerziehung der Grönländer zu „Nord-dänen“ bedeutete, wie Smilla erläutert.<br />

Gleichberechtigt s<strong>in</strong>d demnach nur die Grönländer, die ihre eigene Kultur verleugnen und<br />

105 Der Text erwähnt noch e<strong>in</strong>e Nazi-Expedition, die vor dem Krieg versuchte den Ste<strong>in</strong> zu bergen. Europäische<br />

Kolonial<strong>in</strong>teressen, das zeigt der Text, stehen offensichtlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er langen Tradition.<br />

106 <strong>Høegs</strong> fiktive Kryolitselskabet Danmark entspricht der <strong>in</strong> Staatsbesitz bef<strong>in</strong>dlichen Kryolitselskabet Øresund<br />

A/S, die bis zur Schließung der letzten M<strong>in</strong>e 1987 den Kryolithabbau <strong>in</strong> Grönland regelte.<br />

45


stattdessen die dänische annehmen. Nur wer die dänische Sprachkompetenz besitzt, hat beruflich<br />

überhaupt e<strong>in</strong>e Perspektive, wie Smilla resigniert feststellt:<br />

„Alle penge i Grønland klæber til dansk sprog og kultur. De der behersker dansk,<br />

får de lukrative still<strong>in</strong>ger. De andre kan vansmægte på filetfabrikkerne eller i<br />

arbejdsløshedskøerne. (160)<br />

[Alles Geld klebt <strong>in</strong> Grönland an der dänischen Sprache und Kultur. Wer das Dänische<br />

beherrscht, bekommt die lukrativen Posten. <strong>Die</strong> anderen können <strong>in</strong> den Filetfabriken<br />

oder <strong>in</strong> der Arbeits<strong>lose</strong>nschlange verkümmern. (188)]<br />

Andreas F<strong>in</strong>e Licht ist e<strong>in</strong> mustergültiges Beispiel für die erfolgreiche Umerziehung e<strong>in</strong>es<br />

Grönländers zum Norddänen. Er hat <strong>in</strong> Dänemark studiert, spricht akzentfrei dänisch und<br />

siezt Smilla – e<strong>in</strong>e Höflichkeitsform, die im Grönländischen nicht existiert und erst mit der<br />

dänischen ‚Kultur’ <strong>in</strong>s Land kam – und er erwartet das Gleiche von ihr. Licht treibt den kapitalistischen<br />

Gedanken auf die Spitze, als er Smilla e<strong>in</strong>e horrende Summe für die Analyse des<br />

Tonbands abverlangt. Gleichzeitig versucht er Tørk und Claussen mit dem Tonband zu erpressen,<br />

um noch mehr Kapital aus dem Band herausschlagen zu können. Der bl<strong>in</strong>de Sprachwissenschaftler<br />

Licht ist schließlich se<strong>in</strong>en eigenen kulturellen Wurzeln gegenüber bl<strong>in</strong>d geworden.<br />

107 Høeg zeichnet hier die grönländische ‚Selbständigkeit’ als Farce. <strong>Die</strong> postkoloniale<br />

Politik Dänemarks entfremdet die Grönländer von ihrer traditionellen Lebensweise und<br />

zw<strong>in</strong>gt ihnen die dänische Kultur und Sprache auf; das Land wird regiert von ausschließlich<br />

<strong>in</strong> Dänemark ausgebildeten Politikern und Verwaltungsbeamten.<br />

Doch zurück zu Tørks Expedition und den dänischen Hegemonialansprüchen <strong>in</strong> Grönland,<br />

die verdeutlichen, dass <strong>in</strong> kolonialen Zeiten nicht nur die Bodenschätze des unterworfenen<br />

Landes von Interesse s<strong>in</strong>d, sondern auch die Menschen selbst bedenkenlos zur Ware deklariert<br />

werden und so <strong>in</strong> den Akkumulationskreislauf westlicher Kapital<strong>in</strong>teressen geraten. E<strong>in</strong>e<br />

besonders abartige Interpretation dieser E<strong>in</strong>stellung offenbart der Text mit dem Diskurs der<br />

‚wissenschaftlichen’ Experimente, die an Grönländern durchgeführt werden. Loyen, der mehr<br />

über den rätselhaften Parasiten <strong>in</strong> Erfahrung br<strong>in</strong>gen will, schreckt vor Versuchen an Menschen<br />

nicht zurück. Um zu sehen, wie sich der Parasit im menschlichen Körper entwickelt,<br />

pflanzte er Grönländern die Larven direkt <strong>in</strong>s Gewebe, wie Tørk Smilla am Ende des Romans<br />

munter erzählt. Smilla kann es nicht fassen und fragt daraufh<strong>in</strong> nach:<br />

Hvordan bar han sig ad med det?<br />

107 Smilla charakterisiert ihn als den Prototyp des <strong>in</strong>tellektuellen Norddänen: „Tre fjerdedele af de politikere<br />

og embedsmænd der leder hjemmestyret, tilhører hans generation. De var de første grønlændere, der fik<br />

universitetsuddannelse.“ (146) [„Drei Viertel der Politiker und Beamten der grönländischen Selbstverwaltung<br />

gehören se<strong>in</strong>er Generation an. Sie waren die ersten Grönländer, die e<strong>in</strong>e Universitätsausbildung erhielten.“<br />

(171)].<br />

46


Jeg spørger, og så kender jeg svaret. Han har gjort det i Grønland. I<br />

Danmark ville chancen for afslør<strong>in</strong>g være for stor. (423)<br />

[Aber wie hat er das denn gemacht?<br />

Ich frage und kenne die Antwort schon. Er hat es <strong>in</strong> Grönland gemacht. In<br />

Dänemark wäre die Gefahr, dabei erwischt zu werden, zu groß gewesen. (500)]<br />

<strong>Die</strong>se eiskalte Logik führt e<strong>in</strong>ige Jahre später zu weiteren Experimenten, die Loyen nutzt,<br />

um noch mehr Informationen über den Wurm zu erhalten, wie nun Verla<strong>in</strong>e Smilla berichtet.<br />

In e<strong>in</strong>em dänischen Krankenhaus „hvor de ikke spørger om andet end kontonummeret“<br />

(425) 108 pflanzt Loyen die Larve zwei aidskranken Grönländern <strong>in</strong>s Gewebe. Auf e<strong>in</strong>em Monitor<br />

verfolgen die Umstehenden, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er pervertierten Form von Voyeurismus, wie sich die<br />

Larve durch das Fleisch ihrer Wirtskörper gräbt:<br />

Vi fulgte det på ultralyds-scann<strong>in</strong>gen. [...] Vi kunne se alt, hvordan den nåede<br />

hjertet, og så krængede sig ud. Underlivet og alt<strong>in</strong>g. (425) 109<br />

[Wir haben es beim Ultraschallscann<strong>in</strong>g verfolgt. [...]<br />

Wir konnten alles sehen, wie er das Herz erreichte und sich dann umstülpte. Den<br />

Unterleib und alles. (503)]<br />

Loyens und Tørks Vorgehen zeigt, dass sich <strong>in</strong> postkolonialen Zeiten nicht viel geändert<br />

hat. Es s<strong>in</strong>d immer wieder Grönländer, die unter den Wirkungen und Nachwirkungen der dänischen<br />

postkolonialen Herrschaft leiden müssen. Grönland erhielt zwar 1979 mit der E<strong>in</strong>führung<br />

des grönländischen Parlaments, der „Hjemmestyre“, die alle<strong>in</strong>ige Entscheidungsbefugnis<br />

über alle <strong>in</strong>neren Angelegenheiten, aber „kontrollen med udenrigspolitikken, undergrunden,<br />

de militære <strong>in</strong>teresser“ (81) 110 verbleiben, wie Smilla feststellt, <strong>in</strong> dänischer Hand.<br />

Damit zeichnet Høeg Grönland als e<strong>in</strong> nach wie vor ausgebeutetes, teilweise fremdbestimmtes<br />

Land, <strong>in</strong> dem die Kolonisierung nur offiziell beendet wurde. 111 Der dänische E<strong>in</strong>fluss<br />

<strong>in</strong> Grönland ist <strong>in</strong> postkolonialen Zeiten unverm<strong>in</strong>dert, wenn auch subtiler als <strong>in</strong> den<br />

Zeiten des Kolonialismus. Wurde früher der Raubbau von grönländischen Bodenschätzen<br />

durch die staatliche Kryolitselskabet betrieben, so s<strong>in</strong>d es nun global agierende, privat geführ-<br />

108 [„wo sie nur nach der Kontonummer fragen.“ (503)]<br />

109 <strong>Die</strong> bewusste Tötung e<strong>in</strong>es für ‚menschen-unwürdig’ erklärten Lebens unter dem Deckmantel der Wissenschaft<br />

er<strong>in</strong>nert an die unbeschreiblichen Menschenversuche <strong>in</strong> der Zeit des Dritten Reiches; (und tatsächlich<br />

weist Loyens Lebenslauf Verb<strong>in</strong>dungen zum Dritten Reich auf: er war Teilnehmer bei der Nazi-Expedition nach<br />

Gela Alta; und nach dem Krieg meldete sich Loyen freiwillig, um an „afvikl<strong>in</strong>gen af koncentrationslejrene“<br />

(157) [„der Abwicklung der Konzentrationslager“ (184)] teilzunehmen, wie Benedicte Clahn Smilla berichtet).<br />

Loyen ist auf se<strong>in</strong>em Weg zu Ruhm und Ehre jedes Mittel recht.<br />

110 [„die Verfügungsgewalt über die Außenpolitik, die Bodenschätze, die militärischen Interessen.“ (92)]<br />

111 Krüger bezeichnet deshalb auch <strong>Høegs</strong> Darstellung des Postkolonialismus <strong>in</strong> Grönland als „transformierte<br />

koloniale Rolle.“ Vgl. Krüger: Luksusgrønlænderen, S. 315.<br />

47


te Kapitalunternehmen wie Tørks und Claussens Geo<strong>in</strong>form, die sich an grönländischem Besitz<br />

bereichern wollen. 112<br />

Esajas, der <strong>in</strong> das Räderwerk dieses Unternehmens gerät, gehört bereits zur postkolonialen<br />

Generation von Grönländern. Er wächst zweisprachig <strong>in</strong> Dänemark auf – und im Gegensatz<br />

zu den grönländischen Arbeitern (unter ihnen se<strong>in</strong> Vater), die der ‚Kolonial-Generation’ angehören,<br />

überlebt er den Befall des Parasiten; se<strong>in</strong> Körper sche<strong>in</strong>t resistent gegenüber dem<br />

tödlichen Wurm, an dem die älteren Grönländer ausnahmslos sterben. 113 Esajas hatte die<br />

Möglichkeit <strong>in</strong> Dänemark aufzuwachsen und beide Kulturen <strong>in</strong> sich aufzunehmen. Er verkörperte<br />

damit für Smilla die Utopie e<strong>in</strong>er friedlichen, von beiderseitigem Verständnis geprägten<br />

Koexistenz zwischen Dänen und Grönländern. 114 Aber die Postkolonialisten um Tørk zerstören<br />

diesen hoffnungsvollen Ansatz. Esajas, der den Parasitenbefall überlebte, fällt vom Dach<br />

und stirbt. Se<strong>in</strong> postkolonialisierter Körper wird zum Symbol des postkolonisierten Grönland,<br />

das so lange ausgebeutet und ausgeblutet wird, bis nichts mehr vorhanden ist, was sich lohnend<br />

verarbeiten ließe. 115<br />

Wird im Text der bestehende Postkolonialismus als nahezu übergangs<strong>lose</strong>, subtile Fortsetzung<br />

der dänischen Kolonialpolitik dargestellt, so lässt sich dennoch e<strong>in</strong> Bruch zwischen beiden<br />

Perioden, ausgelöst durch den wachsenden E<strong>in</strong>fluss des Geldes, ausmachen:<br />

Esajas’ Körper wird zwar ausgebeutet, aber dies geschieht nicht unentgeltlich – Juliane<br />

erhält für ihre Bereitschaft (und ihr Schweigen darüber), Esajas zu den monatlichen Untersuchungen<br />

<strong>in</strong>s Krankenhaus zu br<strong>in</strong>gen, Geld. Loyen und Tørk erwerben also Esajas’ Körper,<br />

um an ihm ihre Versuche durchzuführen. Juliane wiederum ist auf dieses Geld angewiesen, da<br />

sie von der Sozialhilfe, die ihr der Staat gewährt, nicht leben kann. 116 Auf die Sozialhilfe ist<br />

112<br />

Dass der Wandel vom Kolonialismus der Kryolitselskabet h<strong>in</strong> zum postkolonialen Vorgehen der Geo<strong>in</strong>form<br />

übergangslos vor sich geht, zeigt die Beteiligung von V<strong>in</strong>g, der als ehemaliger F<strong>in</strong>anzrat der Kryolitselskabet<br />

die ersten Expeditionen organisierte und der nun auch bei der aktuellen Expedition se<strong>in</strong>e Hände im Spiel hat.<br />

113<br />

Der Parasit kann damit im übertragenen S<strong>in</strong>ne als e<strong>in</strong>e Verkörperung des Kolonialismus betrachtet werden:<br />

Er dr<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> die <strong>in</strong>neren Organe se<strong>in</strong>es Wirtskörpers vor, breitet dort se<strong>in</strong>e Larven aus und zerstört so den gesamten<br />

Organismus. <strong>Die</strong>se ‚Unterwanderung’ er<strong>in</strong>nert an das Vorgehen der Kolonisatoren, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em langsamen<br />

und schleichenden Prozess <strong>in</strong> die fremde Kultur e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen, diese aushöhlen und sich dabei von ihrem ‚Wirtskörper’<br />

– der Kolonie – ernähren. Esajas’ Immunität den Parasiten gegenüber kann <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne als (zunächst)<br />

erfolgreiche Abwehr gegen die dänische Ausbeutung verstanden werden.<br />

114<br />

„Esajas var ved at lykkes. Han ville kunne være nået frem. Han ville kunne have optaget Danmark i sig, og<br />

transformeret det, og være blevet både-og.“ (77) [„Jesaja wäre fast gelungen. Er hätte ankommen können. Er<br />

hätte Dänemark <strong>in</strong> sich aufnehmen, es transformieren und Sowohl-Als-auch se<strong>in</strong> können.“ (87)].<br />

115<br />

Hier sei noch e<strong>in</strong>mal darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass Loyen selbst Esajas’ toten Körper noch nutzbr<strong>in</strong>gend für<br />

se<strong>in</strong>e Untersuchungen missbraucht.<br />

116<br />

Schließlich muss sie ihren Alkoholkonsum f<strong>in</strong>anzieren. Nebenbei besitzt sie, wie Smilla <strong>in</strong> ihrer Wohnung<br />

bemerkt, e<strong>in</strong>en neuen großen Fernseher – Konsumgüter, die die dänischen Kolonisatoren als Bestandteil ihrer<br />

‚Kultur’ nach Grönland brachten und den Grönländern vermittelten, dass der Besitz dieser Waren erstrebenswert<br />

48


sie angewiesen, da ihr Mann bei der zweiten Expedition an dem Parasitenbefall starb. Juliane<br />

ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Netz aus Abhängigkeiten gefangen, dessen Ursprung auf die postkolonialen Interessen<br />

der Dänen Tørk und Loyen an dem Meteoriten zurückzuführen ist. <strong>Die</strong> fatalen Konsequenzen<br />

der dänischen Unternehmungen müssen alle<strong>in</strong> die Grönländer tragen. Dabei ist es<br />

unerheblich, ob die Grönländer <strong>in</strong> ihrer Heimat bleiben; denn auch den Grönländern, die ihrer<br />

Heimat den Rücken kehren und nach Dänemark ziehen, ergeht es nicht besser, wie Høeg exemplarisch<br />

an der Familie Christiansen aufzeigt. Der Vater stirbt, der Sohn stirbt, und bei der<br />

Mutter ist der Exitus aufgrund ihres pathologischen Alkoholkonsums nur noch e<strong>in</strong>e Frage der<br />

Zeit; der Exodus aus Grönland endet <strong>in</strong> der familiären Katastrophe. 117 Høeg spart dabei nicht<br />

mit Kritik am dänischen Wohlfahrtstaat, den er angesichts des fortdauernden Leides der<br />

Grönländer <strong>in</strong> Grönland und Dänemark als Farce darstellt:<br />

Boligkøen i Nuuk er 11 år. Derefter får man et hummer, et læskur, en knaldhytte.<br />

(160)<br />

[<strong>Die</strong> Wartezeit für e<strong>in</strong>e Wohnung <strong>in</strong> Nuuk beträgt elf Jahre. Danach kriegt man e<strong>in</strong>e<br />

Bude, e<strong>in</strong>e Schutzhütte, e<strong>in</strong>en Schuppen. (188)]<br />

Nachdem die Grönländer von ihrer traditionellen Lebensweise entfremdet und zu Abhängigen<br />

gemacht wurden, s<strong>in</strong>d sie nun auf die Großzügigkeit der dänischen Verwaltung angewiesen.<br />

<strong>Die</strong> Konfrontation mit der westlichen Bürokratie nimmt dabei zuweilen bizarre Züge<br />

an. Smilla, die <strong>in</strong> Julianes Wohnung nach H<strong>in</strong>weisen zu Esajas’ Tod sucht, wundert sich über<br />

die Unmengen von Schriften und Dokumenten, die die Behörden Juliane aufzw<strong>in</strong>gen:<br />

Der er en f<strong>in</strong> og sart ironi i, at selv en næsten analfabetisk tilværelse som Julianes<br />

har afkastet dette bjerg af papir. (29)<br />

[<strong>Die</strong> Tatsache, daß selbst e<strong>in</strong>e fast analphabetische Existenz wie die von Juliane<br />

e<strong>in</strong>en solchen Berg von Papier e<strong>in</strong>gebracht hat, entbehrt nicht e<strong>in</strong>er fe<strong>in</strong>en und zarten<br />

Ironie. (31)]<br />

Und Juliane lässt Smilla <strong>in</strong> ihrer Wohnung gewähren, da sie schon so lange „under<br />

myndighedernes elektronmikroskop“ liegt, dass „hun er holdt op med at forestille sig, at man<br />

kan have noget for sig selv.“ (28) 118<br />

sei. <strong>Die</strong>ser e<strong>in</strong>seitige Kulturtransfer verlief (und verläuft) ‚erfolgreich’, wie Juliane Christiansen oder Andreas<br />

F<strong>in</strong>e Licht zeigen.<br />

117 Das ‚Aussterben’ der Grönländer zieht sich durch die gesamte Handlung. Von allen im Text erwähnten<br />

Grönländern ist Smilla am Ende die e<strong>in</strong>zig Überlebende (und genau genommen ist sie e<strong>in</strong> Mischl<strong>in</strong>g), alle anderen<br />

sterben: Familie Christiansen (Julianes Tod ist absehbar); Andreas F<strong>in</strong>e Licht; Smillas Mutter sowie ihr Bruder;<br />

die grönländischen Arbeiter bei beiden Expeditionen, sowie die Grönländer, die durch Loyens Experimente<br />

sterben. Høeg zeigt damit auf drastische Weise, dass die die Grönländer nicht nur unter den (post)-kolonialen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen leiden, sie gehen daran zugrunde.<br />

118 [„unter dem Elektronenmikroskop der Behörden, daß sie sich schon gar nicht mehr vorstellen kann, daß<br />

man etwas ganz für sich haben kann“ (29)]. Der Staat, der sich offensichtlich soviel Mühe gibt, se<strong>in</strong>e Sozialhil-<br />

49


Wird die gegenwärtige postkoloniale Situation von Høeg als äußert problematisch dargestellt,<br />

so verheißt auch die Zukunft nichts Gutes für Grönland. Smilla erwähnt die gigantische<br />

Ölplattform Jo<strong>in</strong>t-Venture-Warrior, 119 die vor der Küste Grönlands realisiert werden soll – e<strong>in</strong><br />

geme<strong>in</strong>schaftliches Projekt von Dänemark, den USA und der Sowjetunion, die sich nun alle<br />

an den grönländischen Ölvorkommen bereichern wollen. Postkolonialismus wird hier als e<strong>in</strong><br />

globales, von kapitalistischem Interesse getriebenes Phänomen dargestellt, allerd<strong>in</strong>gs mit<br />

demselben primären Ziel wie zu kolonialen Zeiten – dem Raubbau der Bodenschätze. Und die<br />

Mannschaft der Kronos ist e<strong>in</strong> Teil dieser neuen, weltumspannenden Ausprägung des Postkolonialismus,<br />

wie Smilla bitter feststellt:<br />

Er det ikke historien der gentager sig? Har Europa ikke altid forsøgt at tømme s<strong>in</strong>e<br />

kloakker i kolonierne? Er Kronos ikke igen straffefangerne på vej til Australien,<br />

fremmedlegionen på vej til Korea, engelske commandosoldater på vej til<br />

Indonesien? (301)<br />

[Wiederholt sich die Geschichte nicht? Hat Europa nicht immer versucht, se<strong>in</strong>e<br />

Kloaken <strong>in</strong> den Kolonien auszuleeren? Ist die Kronos nicht das Ganze noch e<strong>in</strong>mal,<br />

Sträfl<strong>in</strong>ge auf dem Weg nach Australien, die Fremdenlegion auf dem Weg<br />

nach Korea, britische Kommandosoldaten auf dem Weg nach Indonesien? (352)]<br />

<strong>Die</strong> Hierarchie auf der Kronos funktioniert wie <strong>in</strong> alten Zeiten. Der Philipp<strong>in</strong>o Verla<strong>in</strong>e ist<br />

Tørks Handlanger, der Mann für die groben Arbeiten, bei denen Tørk sich nicht die Hände<br />

schmutzig machen will. Und Verla<strong>in</strong>e, der Tørk und dessen arrogante Art hasst, nimmt diese<br />

Erniedrigung <strong>in</strong> Kauf, da er am Ende der Expedition mit Drogen ausbezahlt werden soll. Drogen<br />

die für den neuen grönländischen Markt bestimmt s<strong>in</strong>d, wie Smilla erkennen muss:<br />

For bare ti år siden smuglede de spiritus og cigaretter herop. Det er allerede forbi.<br />

Det er allerede de gode gamle dage. Nu er der masser af koka<strong>in</strong> i Nuuk. Der er en<br />

grønlandsk overklasse nu, der lever som europæere. Der er det f<strong>in</strong>este marked<br />

heroppe. (393)<br />

[Vor gerade mal zehn Jahren haben sie Alkohol und Zigaretten hier herauf geschmuggelt.<br />

Das ist <strong>in</strong>zwischen vorbei. Das s<strong>in</strong>d schon die guten alten Zeiten. Jetzt<br />

gibt es <strong>in</strong> Nuuk massig Koka<strong>in</strong>. Und e<strong>in</strong>e grönländische Oberschicht, die wie die<br />

Europäer lebt. Hier oben ist der beste Markt. (464)]<br />

Damit s<strong>in</strong>d die ehemaligen Kolonien unter sich. Der grönländische Drogenmarkt wird von<br />

e<strong>in</strong>em Philipp<strong>in</strong>o kontrolliert, der diese Drogen unter der Leitung e<strong>in</strong>es Dänen entwickelte.<br />

Anstatt sich geme<strong>in</strong>sam gegen die Unterdrückung und Bevormundung der e<strong>in</strong>stigen Koloni-<br />

feempfänger (die meisten davon Grönländer, wie Smilla betont; vgl. (S. 33) [S. 35]) zu durchleuchten und zu<br />

verwalten, gibt sich erstaunlich schnell und unbürokratisch bei den Untersuchungen zu Esajas’ Tod. Der Fall<br />

wird kurzerhand zu den Akten gelegt, da es für den ermittelnden Kommissar erwiesenermaßen e<strong>in</strong> Unfall war.<br />

Smilla freilich führt die eilige E<strong>in</strong>stellung der Ermittlungen auf die Tatsache zurück, dass es sich hier „bare om<br />

en skide grønlænder“ (31) [„bloß um e<strong>in</strong>en Scheißgrönländer“ (33)] handelt.<br />

119 Deren Name bereits s<strong>in</strong>nbildlich die aggressive Vorgehensweise der westlichen Kolonialmächte andeutet.<br />

50


almächte zu wehren, richtet sich der Hass nun gegen andere ehemalige Kolonien, die bewusst<br />

diffamiert werden, um den eigenen Stand aufzuwerten. So macht Verla<strong>in</strong>e Smilla gegenüber<br />

unmissverständlich klar, was er von den Grönländern hält:<br />

Jeg troede, at grønlændere var lavbenede og kneppede som sv<strong>in</strong>, og kun arbejdede<br />

når de var sultne. [...]<br />

Sådan er det med primitive mennesker. Når de har maverne fyldte, kan de ikke se<br />

nogen grund til at arbejde. (280/281)<br />

[Ich habe immer geglaubt, Grönländer hätten kurze Be<strong>in</strong>e, würden wie die<br />

Schwe<strong>in</strong>e ficken und nur arbeiten, wenn sie Hunger haben. [...]<br />

So ist das mit primitiven Menschen. Wenn sie den Bauch voll haben, sehen sie<br />

ke<strong>in</strong>en Grund mehr zum Arbeiten. (329)]<br />

Und er weist Smilla, die ihn duzt, dezent darauf h<strong>in</strong>, doch bitteschön von der Höflichkeitsform<br />

Gebrauch zu machen. 120<br />

Høeg zeigt den Postkolonialismus nicht e<strong>in</strong>fach als Zustand ‚nach’ der Kolonisierung,<br />

sondern als dynamisch, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fortdauernden Prozess begriffen. Was sich wandelt ist lediglich<br />

die Ausprägung des Kolonialismus, die Konsequenzen für die ‚ehemaligen’ Kolonien<br />

bleiben davon unberührt – ihre Ressourcen werden weiterh<strong>in</strong> von anderen ausgebeutet, sie<br />

selbst bevormundet und ihre Traditionen von der westlichen Kultur verdrängt. 121 Wie erfolgreich<br />

dieser Prozess ist, zeigen Figuren wie Licht und Verla<strong>in</strong>e, die sich bemühen ihren ‚Kolonialherren’<br />

nachzueifern und dabei die eigenen kulturellen Werte verleugnen.<br />

Am Ende der <strong>Erzählung</strong> scheitert Tørks Plan, den Meteoriten zu entwenden und nach Dänemark<br />

zu transportieren. Smilla vereitelt se<strong>in</strong>e Expedition und br<strong>in</strong>gt damit Tørks ehrgeiziges<br />

Vorhaben zum Scheitern. Vorerst. Denn schon bald werden sich Nachfolger f<strong>in</strong>den und<br />

e<strong>in</strong>e neue Expedition nach Gela Alta ausrüsten. 122 Es ist nur e<strong>in</strong>e Frage der Zeit, schließlich<br />

ist der Ste<strong>in</strong> viel zu wertvoll, se<strong>in</strong> Rätsel zu mächtig, um von anderen potentiellen Postkolonialisten<br />

ignoriert zu werden. Mit etwas Geld wird sich auch hier e<strong>in</strong>e neue Mannschaft f<strong>in</strong>den,<br />

die zu allem bereit ist.<br />

120 „– Hvad er dit sprog? – Deres, siger han blidt, – hvad er Deres sprog.“ (259) [„‚Was ist de<strong>in</strong>e Muttersprache?’<br />

‚Ihre’, sagt er sanft, ‚was ist Ihre Muttersprache.’“ (303)].<br />

Verla<strong>in</strong>e zeigt damit parallele Eigenschaften zu Andreas F<strong>in</strong>e Licht, der ebenfalls die eigenen kulturellen<br />

Wurzeln verleugnet und auf der Höflichkeitsform beharrt. Smilla ersche<strong>in</strong>t dieses Verhalten grotesk: „Intet under<br />

solen så grotesk som den kolde europæiske høflighed virkeliggjort i den tredje og fjerde verden. (259) [„Nichts<br />

unter der Sonne ist so grotesk wie die <strong>in</strong> der dritten oder vierten Welt praktizierte kalte europäische Höflichkeit.“<br />

(303)].<br />

121 Und dieser Verdrängungsprozess eröffnet neue Absatzmärkte: Julianes Besitz besteht im Wesentlichen aus<br />

e<strong>in</strong>em neuen Fernseher und ihrer täglichen Ration Alkohol; Tørks neu entwickelte Drogen sollen <strong>in</strong> Grönland<br />

abgesetzt werden, wo nun der Markt für Drogen vorhanden ist.<br />

122 H<strong>in</strong>zu kommt die im Text nicht geklärte Frage ob Tørk weiterlebt. Høeg lässt diese Entscheidung bewusst<br />

offen, als H<strong>in</strong>weis auf die jederzeit mögliche Fortsetzung der Expedition.<br />

51


<strong>Die</strong> postkoloniale Ausbeutung f<strong>in</strong>det nur e<strong>in</strong> vorläufiges Ende auf Gela Alta, auch hier<br />

verweigert Høeg die abschließende und beruhigende Lösung aller Spannungsmomente. E<strong>in</strong>e<br />

befriedigende Auflösung des Postkolonialismus ist auch deshalb nicht <strong>in</strong> Sicht, weil der Prozess<br />

des Postkolonialismus noch nicht abgeschlossen ist; er dauert <strong>in</strong> Grönland (und anderen<br />

ehemaligen Kolonien) fort, wie der Text e<strong>in</strong>drucksvoll darlegt.<br />

Zudem bemüht sich Høeg die Ambivalenz des Kolonialismus aufzuzeigen, der sich nicht<br />

ausschließlich auf se<strong>in</strong>e negativen Seiten reduzieren lässt, wie Smilla selbst e<strong>in</strong>gestehen muss:<br />

Da de i 30rne spurgte Ittussaarsuaq, der som barn havde vandret med s<strong>in</strong> stamme<br />

og slægt <strong>in</strong>d over Ellesmere Island, og til Grønland, i den emigration, [...] da man<br />

spurgte hende – en dame på måske 85 år – der havde gjort hele den moderne<br />

koloniser<strong>in</strong>gsproces med, fra stenalderen til den trådløse radio, hvordan livet nu<br />

var i forhold til dengang, da sagde hun uden tøven „Bedre – det er meget sjældnere<br />

at <strong>in</strong>uit dør af sult.“<br />

Følelser skal flyde rent for ikke at forplumre. Problemet med at kunne komme til at<br />

hade koloniser<strong>in</strong>gen af Grønland med et rent had, er at den uomtvisteligt, hvad man<br />

ellers afskyr den for, har afhjulpet den materielle nød i et liv der var det hårdeste<br />

noget sted på jorden. (295/296)<br />

[Als man <strong>in</strong> den dreißiger Jahren Ittussaarsuaq, die als K<strong>in</strong>d mit ihrem Stamm und<br />

ihrer Familie über Ellesmere Island nach Grönland <strong>in</strong> die Emigration gewandert<br />

war, <strong>in</strong> der die kanadischen Eskimos zum erstenmal seit siebenhundert Jahren mit<br />

den <strong>in</strong>uit von Nordgrönland <strong>in</strong> Berührung kamen, als man sie – e<strong>in</strong>e Dame von<br />

vielleicht fünfundachtzig Jahren, die den gesamten modernen<br />

Kolonisierungsprozeß vom Ste<strong>in</strong>zeitalter bis zum draht<strong>lose</strong>n Radio mitgemacht<br />

hatte – fragte, wie denn das Leben jetzt im Verhältnis zu damals sei, sagte sie ohne<br />

Zögern: ‚Besser – die <strong>in</strong>uit sterben jetzt sehr viel seltener vor Hunger.’<br />

Gefühle müssen klar fließen, um sich nicht zu verwirren. Man kann so weit<br />

kommen, daß man die Kolonisierung von Grönland mit re<strong>in</strong>em, unverfälschtem<br />

Haß haßt. Das Problem ist nur, daß sie – weshalb immer man sie auch verabscheut<br />

– unbestreitbar der materiellen Not des Lebens, das das härteste der Welt war,<br />

abgeholfen hat. (346)]<br />

Wie bei der Figurencharakterisierung entzieht sich der Text auch bei der Bewertung des<br />

(Post-)Kolonialismus e<strong>in</strong>fachen b<strong>in</strong>ären Oppositionen wie ‚gut’ und ‚böse’. Smilla demonstriert,<br />

dass man e<strong>in</strong>em vielschichtigen Problem nicht gerecht wird, <strong>in</strong>dem es vere<strong>in</strong>fachend auf<br />

negative (oder positive) Aspekte e<strong>in</strong>geschränkt wird. <strong>Die</strong> Drogenproblematik, die nun auch <strong>in</strong><br />

größerem Maße auf Grönland überzugreifen droht, verdeutlicht dies: Herstellung, Vertrieb<br />

und Verkauf s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> globales Problem, das sich nicht e<strong>in</strong>fach auf koloniale oder postkoloniale<br />

Ursachen reduzieren lässt, wie Smilla resignierend feststellt:<br />

De er ikke mere noget der er lokalt [...] Sker der noget i Grønland, har det<br />

forb<strong>in</strong>delse med noget andet i S<strong>in</strong>gapore. (236)<br />

[‚Es gibt nichts Internes mehr’, sage ich. ‚Wenn <strong>in</strong> Grönland etwas passiert, hängt<br />

das mit etwas anderem <strong>in</strong> S<strong>in</strong>gapur zusammen.’ (277)]<br />

52


3.4 Frøken Smillas ambivalente Symbolik<br />

<strong>Die</strong> unterschiedlichen Diskurse und Genres laufen <strong>in</strong> Frøken Smilla, wie im Falle der Detektivgeschichte<br />

oder des Entwicklungsromans, ihrem jeweiligen Gattungsschema zuwider,<br />

und führen, wie der eben behandelte Diskurs des Postkolonialismus zeigt, <strong>in</strong>s Leere, ohne<br />

dem Leser e<strong>in</strong>e befriedigende Auflösung mitzugeben. Der Roman sperrt sich ganz offensichtlich<br />

gegen jeden e<strong>in</strong>deutigen, vere<strong>in</strong>fachenden und abschließenden Lösungsansatz. Høeg verstärkt<br />

diesen Effekt, <strong>in</strong>dem er dem Text e<strong>in</strong>e bewusst ambivalente Symbolik e<strong>in</strong>schreibt, die<br />

aufgrund vielfältiger Deutungsmöglichkeiten jede e<strong>in</strong>deutige Interpretation unmöglich macht.<br />

Auf der Ebene der Figuren verwendet Høeg die Namen e<strong>in</strong>iger Charaktere, um explizit<br />

deren ambivalentes Verhalten aufzuzeigen. <strong>Die</strong>se doppeldeutige Namenssymbolik tritt am<br />

deutlichsten bei der Figur des Mechanikers <strong>Peter</strong> Føjl zutage:<br />

Se<strong>in</strong> Vorname (abgeleitet von Petrus) verweist e<strong>in</strong>erseits auf den rätselhaften Ste<strong>in</strong> selbst,<br />

bei dem er am Ende tauchen wird, andererseits konnotiert se<strong>in</strong> Namenspatron e<strong>in</strong>en christlichen<br />

Intertext, zu dem sich im Lebenslauf des Mechanikers auch tatsächlich e<strong>in</strong>e Entsprechung<br />

f<strong>in</strong>den lässt: Smilla erwähnt mehrmals die auffälligen schwarzen Narben an den Handund<br />

Fußgelenken des Mechanikers, die, wie wir schließlich erfahren, von e<strong>in</strong>er Rettungsaktion<br />

stammen, bei der er Birgo Lander unter E<strong>in</strong>satz se<strong>in</strong>es eigenen Lebens vor dem sicheren<br />

Ertr<strong>in</strong>ken rettete. Der Mechaniker musste dabei nicht nur große Schmerzen ertragen, se<strong>in</strong>e<br />

Schnittwunden führten zu „skyer af blod“, 123 die um ihn herum aus dem Wasser aufstiegen. 124<br />

Das ‚Blutopfer’ des Mechanikers und die dabei erlittenen ‚Wundmale’ an Händen und Füßen<br />

er<strong>in</strong>nern an den Opfertod Jesu. Letztendlich bleibt es aber bei diesem symbolischen Verweis,<br />

der Mechaniker ist nicht Jesus und se<strong>in</strong>e Heldentat eben nur e<strong>in</strong>e Seite se<strong>in</strong>es zwiespältigen<br />

Charakters. Am Ende der Geschichte erkennt auch Smilla se<strong>in</strong> zweites Gesicht und ihr wird<br />

klar, dass er e<strong>in</strong> Teil von Tørks Komplott ist. 125 Auf diese negative Seite se<strong>in</strong>es Charakters<br />

verweist symbolisch se<strong>in</strong> Nachname, dessen negative Konnotation e<strong>in</strong>en wahren Assoziationsreigen<br />

bei Kritikern und Rezensenten auslöst:<br />

123 [„Wolken von Blut.“ (287)]<br />

124 Er sprang im Trockenanzug <strong>in</strong>s Wasser, so dass sich durch den enormen Druck im tieferen Wasser die<br />

Kanten des Anzugs <strong>in</strong> die Haut schnitten. Vgl. (S. 244) [S. 287]<br />

125 E<strong>in</strong>en weiteren farbsymbolischen H<strong>in</strong>weis auf den Verrat des Mechanikers f<strong>in</strong>det sich am Ende der Handlung,<br />

als er für Tørk bei dem Ste<strong>in</strong> taucht und dabei e<strong>in</strong>en gelben Taucheranzug trägt – die Farbe, die Judas gewöhnlich<br />

auf Abendmahldarstellungen zeigt, und die <strong>in</strong> der christlichen Ikonographie auf se<strong>in</strong>en Verrat verweist.<br />

53


So entspricht für Krüger ‚Føjl’ dem dänischen føjelig, da der Mechaniker sich als gefügiger<br />

Handlanger <strong>in</strong> Tørks Händen erweist. 126 Andererseits kann ‚Føjl’ auch als dänisch fejl<br />

ausgelegt werden, wie Rühl<strong>in</strong>g vorschlägt, da sich der Mechaniker „ja tatsächlich als ‚falscher<br />

Fünfziger’ erweist“. 127 Norseng assoziert ‚Føjl’ mit dem englischen feel oder foil – „Both have<br />

connotations“. 128 Hans Henrik Møller sieht <strong>in</strong> ihm gar e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis auf <strong>Peter</strong> Freuchen,<br />

dem dänischen Abenteurer und Autor zahlreicher Märchen. 129 Am Ende verweist der Name<br />

vielleicht auf den ähnlich kl<strong>in</strong>genden Namen des Autors <strong>Peter</strong> Høeg selbst? 130<br />

Bei so vielen Deutungsangeboten lässt sich nur e<strong>in</strong>es mit Sicherheit feststellen: die Ambivalenz<br />

des Mechanikers, der sich nicht e<strong>in</strong>fach kategorisieren lässt und am Ende genauso offen<br />

und auslegbar bleibt wie die vielfachen Deutungsmöglichkeiten se<strong>in</strong>es Namens, die den<br />

Leser entweder <strong>in</strong> die Irre führen oder schlichtweg überfordern. Es ist e<strong>in</strong> Teil von <strong>Høegs</strong><br />

Strategie, den Text bewusst gegen vere<strong>in</strong>heitlichende Interpretationsansätze zu sperren, und<br />

diese mehrdeutige Namenssymbolik nur bei e<strong>in</strong>em Teil der Figuren – und auch dort äußerst<br />

widersprüchlich – zu verwenden. 131 <strong>Die</strong> übrigen Figuren tragen Namen, die sich nur schwerlich<br />

e<strong>in</strong>er symbolischen Bedeutung zuordnen lassen. Folgt man dennoch e<strong>in</strong>er Spur, so führt<br />

diese <strong>in</strong>s Leere. 132<br />

Deutlich wird dies bei Esajas. Se<strong>in</strong>e häufig zitierten gütigen Eigenschaften wie Milde und<br />

Genügsamkeit, se<strong>in</strong> gewaltsamer, unfreiwilliger Tod und schließlich se<strong>in</strong> Name selbst er<strong>in</strong>nern<br />

an den biblischen Propheten Jesaja. 133 Doch auch diese Parallelen s<strong>in</strong>d spekulativ, re<strong>in</strong><br />

126<br />

Vgl. Krüger: Luksusgrønlænderen, S. 319.<br />

127<br />

Vgl. Rühl<strong>in</strong>g: <strong>Die</strong> Entmächtigung der Metaphysik, S. 287.<br />

128<br />

Vgl. Norseng: A House of Mourn<strong>in</strong>g, S. 74.<br />

129<br />

Vgl. Hans Henrik Møller: <strong>Peter</strong> Høeg – Or the Sense of Writ<strong>in</strong>g. In: Scand<strong>in</strong>avian Studies 69 (1997). S. 29<br />

– 51; hier S. 41.<br />

130<br />

Schließlich nimmt Høeg selbst an dem textuellen Spiel der Bedeutungen teil, das sich durch den gesamten<br />

Text zieht: Elsa Lüb<strong>in</strong>g überreicht Smilla den Code, der Smilla den verbotenen Zugang zum Archiv der Kryolitselskabet<br />

öffnen soll – diese sechsstellige Zahl entspricht aber gerade <strong>Høegs</strong> Geburtsdatum (17-05-57). Und Elsa<br />

Lüb<strong>in</strong>g br<strong>in</strong>gt abschließend e<strong>in</strong>e weitere symbolische Ebene e<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem sie, <strong>in</strong> Anspielung auf die Offenbarung<br />

des Johannes, den geheimen Schlüssel und das Archiv als „Dødens og Dødsrigets nøgler“ (74) [„die Schlüssel<br />

des Todes und des Totenreiches“ (84)] bezeichnet. Das alles s<strong>in</strong>d letztendlich <strong>in</strong>tellektuelle Spielereien, die die<br />

Bedeutung des Textes mehr zerstreuen als erhellen.<br />

131<br />

Andreas F<strong>in</strong>e Licht verdeutlicht mit se<strong>in</strong>em Namen den zynischen Umstand, ebenso bl<strong>in</strong>d für se<strong>in</strong>e Kultur<br />

wie für se<strong>in</strong> Umfeld zu se<strong>in</strong> – <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er bl<strong>in</strong>den Geldgier verkennt er die Bösartigkeit Tørks, der ihn schließlich<br />

von Verla<strong>in</strong>e töten lässt. Beim Staatsanwalt Ravn mag man an den Raben der nordischen Schöpfungsgeschichte<br />

denken; aber im H<strong>in</strong>blick auf Ravns Verhalten im Roman führt diese Assoziation <strong>in</strong>s Leere.<br />

132<br />

Wie im Falle Verla<strong>in</strong>es, dessen Name e<strong>in</strong>en historischen Diskurs evoziert – er er<strong>in</strong>nert an den französischen<br />

Dichter Paul Verla<strong>in</strong>e und dessen problematischem Verhältnis zu se<strong>in</strong>em Dichterfreund Rimbaud, ganz<br />

ähnlich wie das zwanghafte Verhältnis zwischen Tørk und Verla<strong>in</strong>e. Aber auch dieser Intertext ist re<strong>in</strong> oberflächlicher<br />

Natur und sperrt sich gegen e<strong>in</strong>e weiterführende E<strong>in</strong>ordnung <strong>in</strong> den Kontext der Handlung.<br />

133<br />

Jesaja klagte die gesellschaftlichen Missstände se<strong>in</strong>er Zeit an und prophezeite dem Gottesvolk e<strong>in</strong>en von<br />

Gott gesandten Retter (der von der christlichen Hermeneutik als der Messias ausgelegt wurde), der nicht nur dem<br />

auserwählten Volk selbst, sondern der ganzen Menschheit e<strong>in</strong>e friedliche und heilvolle Zukunft br<strong>in</strong>gen sollte.<br />

Jesajas Texte s<strong>in</strong>d von Selbstbeherrschung geprägt, er gibt sich nicht rachsüchtig (wie andere Propheten) und<br />

se<strong>in</strong> Märtyrertod verleiht ihm heldenhafte Züge. Vgl. Otto Kaiser: Jesaja – Jesajabuch. In: Gerhard Müller (Hg.):<br />

54


oberflächlicher Natur und führen bei tiefergehender Betrachtung <strong>in</strong>s Leere. 134 Zwar kann se<strong>in</strong><br />

Name als Verweis auf e<strong>in</strong>en biblischen Intertext gelesen werden, letztendlich ist Esajas aber<br />

e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er grönländischer Junge im Vorschulalter, der <strong>in</strong> die postkolonialen Verstrickungen<br />

um Tørk gerät, die schließlich se<strong>in</strong>en Tod herbeiführen.<br />

<strong>Die</strong>se ambivalente, oberflächliche und verwirrende Symbolik f<strong>in</strong>det auch im weiteren<br />

Text Anwendung. Nicht nur die Figuren (und ihre Namen) evozieren ambivalente Deutungsmöglichkeiten,<br />

nahezu der gesamte Text kann auf unterschiedliche Weise symbolisch <strong>in</strong>terpretiert<br />

werden:<br />

So lässt sich das Wasser, das <strong>in</strong> der <strong>Erzählung</strong> als Gegensatz zum Eis e<strong>in</strong>e zentrale Rolle<br />

spielt, auf vielfältige Weise symbolisch <strong>in</strong>terpretieren. Für Smilla ist es das Element, das ihrer<br />

Mutter den Tod brachte. Sie selbst hat seitdem panische Angst vor dem Wasser, <strong>in</strong>sbesondere<br />

vor dem Meer. 135 Andererseits bildet das Wasser die biologische Grundvoraussetzung für<br />

Leben überhaupt. <strong>Die</strong> dem Wasser <strong>in</strong>härente symbolische Ambivalenz verweist damit auf die<br />

Dualität von Leben und Tod (was <strong>in</strong> dem Akt der Taufe se<strong>in</strong>e religiöse Entsprechung f<strong>in</strong>det)<br />

und beschreibt e<strong>in</strong>en zentralen Diskurs des Romans. 136<br />

<strong>Die</strong>ses duale Schema f<strong>in</strong>det se<strong>in</strong>e Fortsetzung <strong>in</strong> den rätselhaften Würmern, die es schaffen<br />

<strong>in</strong> der unwirtlichen, lebensfe<strong>in</strong>dlichen Umgebung des geheimnisvollen Ste<strong>in</strong>es zu überleben,<br />

und die als Parasiten für die Menschen absolut tödlich s<strong>in</strong>d. Auch der Wurm (oder als<br />

symbolischer Überbegriff die Schlange) wird <strong>in</strong> der kulturellen Wertung zwiespältig betrach-<br />

Theologische Realenzyklopädie. In Geme<strong>in</strong>schaft mit Horst Robert Balz et.al., Bd. 16. Berl<strong>in</strong>/ New York, 1987.<br />

S. 636 – 659.<br />

Im Handlungsnexus des Textes kann Esajas’ Fall durchaus als ‚weltrettend’ <strong>in</strong>terpretiert werden: Se<strong>in</strong> tödlicher<br />

Sturz setzt e<strong>in</strong>e Kette von Ereignissen <strong>in</strong> Gang, <strong>in</strong> deren Folge Smilla Tørks Verschwörung auf die Spur<br />

kommt und schließlich verh<strong>in</strong>dert, dass der Ste<strong>in</strong> und mit ihm die tödlichen Parasiten aus ihrer Isolation (die<br />

bisher e<strong>in</strong>e Epidemie verh<strong>in</strong>dert hat) nach Dänemark gebracht werden. Smilla gel<strong>in</strong>gt es damit e<strong>in</strong> apokalyptisches<br />

Szenario – die massive Ausbreitung der Parasiten <strong>in</strong> der bewohnten Welt – (vorerst) abzuwenden.<br />

134<br />

<strong>Die</strong>s gilt im übrigen auch für die weiteren biblische Intertexte der <strong>Erzählung</strong>. So zitieren bei e<strong>in</strong>em Gespräch<br />

die profunde Bibelkenner<strong>in</strong> Elsa Lüb<strong>in</strong>g und Smilla explizit Abschnitte aus der Offenbarung des Johannes,<br />

die aber nichts weiter als stereotype Schablonen darstellen, für die sich im Text zwar Entsprechungen f<strong>in</strong>den<br />

lassen (so kann die Bedrohung durch die Parasiten als apokalyptisches Untergangsszenario ausgelegt werden),<br />

aber eben nur Andeutungen darstellen. Vgl. (S. 73/74) [S. 83/84] und (S. 125) [S. 145/146].<br />

135<br />

Vgl. Smillas ausführliche Darlegung ihrer Wasser- und Meeresphobie am ersten Tag an Bord der Kronos<br />

(S. 251/252) [S. 291/293]. In mehreren Kulturen führt der Weg zum Totenreich über das Wasser. Smilla verb<strong>in</strong>det<br />

diesen Aspekt symbolisch mit dem Tod ihrer Mutter, wenn sie Esajas e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich warnt, nicht auf Eisschollen<br />

zu laufen, denn: „[...] at glider du, så kurer du <strong>in</strong>d under isen, og så tager strømmen dig med ned til Nerrivik,<br />

havets moder, hvorfra du aldrig vender tilbage“ (280) [„[...] wenn man ausrutscht, unter das Eis rutscht und e<strong>in</strong>en<br />

die Strömung nach Nerrivik h<strong>in</strong>untertreibt, zur Mutter des Meeres, von der man nie zurückkehrt.“ (328)];<br />

[me<strong>in</strong>e Hervorhebung].<br />

136<br />

Auf Smillas metaphorische Rezeption über die Verb<strong>in</strong>dung von Wasser, Leben und Tod soll im letzten<br />

Teil dieser Arbeit näher e<strong>in</strong>gehen werden.<br />

55


tet und verweist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er symbolischen Deutung ebenfalls auf die duale Verb<strong>in</strong>dung von Leben<br />

und Tod. 137<br />

Der Text operiert mit diesen Ambivalenzen. Das zeigt sich schließlich – und vor allem –<br />

bei dem mysteriösen außerirdischen Ste<strong>in</strong>, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Höhle auf e<strong>in</strong>er fiktiven Insel vor<br />

Grönland liegt. Der Ste<strong>in</strong> ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Eigenschaft des Dauerhaften und Unvergänglichen <strong>in</strong><br />

vielen Kulturen e<strong>in</strong> Symbol göttlicher Macht. Auf e<strong>in</strong>em Ste<strong>in</strong> (Petrus) gründet die christliche<br />

Kirche ihre Basis, und für den Islam ist der schwarze Meteoritenste<strong>in</strong> (!) der Ka’aba <strong>in</strong> Mekka<br />

als das Symbol der Mitte größtes Heiligtum und Pilgerstätte für gläubige Moslems. 138 Ste<strong>in</strong>e<br />

symbolisieren die „Gebe<strong>in</strong>e der Mutter Erde“ 139 und gelten <strong>in</strong> vielen Kulturen als Ursprung<br />

des Lebens; andererseits verweisen sie als starre und leb<strong>lose</strong> Materie auf negative Eigenschaften<br />

wie Kaltherzigkeit und Hass.<br />

Letztendlich verdeutlicht nichts so sehr den polyvalenten Deutungsüberschuss der Symbole<br />

<strong>in</strong> Frøken Smilla wie der rätselhafte und undurchdr<strong>in</strong>gliche Ste<strong>in</strong> auf Gela Alta, der sich<br />

nach rationalen Maßstäben nicht kategorisieren lässt. Selbst Smilla, die nüchterne und abgeklärte<br />

Wissenschaftler<strong>in</strong>, greift angesichts des überwältigenden Anblicks der Gletscherhöhle<br />

und des Ste<strong>in</strong>s auf religiöse Konzepte zurück, um das, was sie da sieht, begreifen zu kön-<br />

nen. 140<br />

Rummet er en kirke. Over os rejser der sig en hvælv<strong>in</strong>g som må være m<strong>in</strong>dst 15<br />

meter høj, som må nå op i nærheden af gletscherens overflade. Rundt langs kuplen<br />

er der brudflader [...].<br />

De lange isspyd synes at flyde. Prismatisk glitrende drypper de ned fra loftet og<br />

strækker sig mod jorden. Måske er der titus<strong>in</strong>d, måske er der flere. Nogle af dem er<br />

sammenhængende, som kæder af nedhængende, gotiske katedraler [...]. (427)<br />

[Der Raum ist e<strong>in</strong>e Kathedrale. Über uns erhebt sich e<strong>in</strong> Gewölbe, das m<strong>in</strong>destens<br />

fünfzehn Meter hoch se<strong>in</strong> und bis <strong>in</strong> die Nähe der Oberfläche des Gletschers<br />

reichen muß. Um die Kuppel, wo es e<strong>in</strong>gestürzt ist, hat es Bruchflächen [...]<br />

<strong>Die</strong> langen Eisspieße sche<strong>in</strong>en zu schwimmen. Prismatisch glitzernd tropfen sie<br />

von der Decke und strecken sich zur Erde. Vielleicht s<strong>in</strong>d es zehntausend,<br />

vielleicht mehr. E<strong>in</strong>ige davon hängen zusammen wie Ketten aus herabhängenden<br />

gotischen Kathedralen, andere s<strong>in</strong>d ganz kurz und sitzen dicht bei dicht. (505)]<br />

137<br />

Im biblischen Kontext ist die Schlange negativ konnotiert als Bild der Sünde (und des durch sie verursachten<br />

Todes). Wegen ihrer Fähigkeit zur Häutung wird sie jedoch auch als Symbol des Lebens (so beim Äskulapstab)<br />

dargestellt. Aber andererseits kann der Wurm im Text auch e<strong>in</strong>fach nur, ohne jede symbolische Bedeutung,<br />

als Wurm gesehen werden. <strong>Høegs</strong> Text kennzeichnet, dass alle Lesarten möglich s<strong>in</strong>d.<br />

138<br />

E<strong>in</strong>en ähnlich religiös-metaphysischen Zusammenhang f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> Kubricks 2001 – A Space Odyssey,<br />

wo e<strong>in</strong> schwarzer außerirdischer Monolith unbekannter Herkunft zum Initiator <strong>in</strong>telligenten Lebens auf der Erde<br />

wird.<br />

139<br />

Mit dem Verweis auf die Erdgött<strong>in</strong> Gaia. Auch Lovelocks Gaia-Hypothese wird mehrmals <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung<br />

mit dem rätselhaften Ste<strong>in</strong> erwähnt.<br />

140<br />

Tatsächlich kann auch die Höhle auf Gela Alta mit dem mystischen Ste<strong>in</strong> <strong>in</strong> ihrem Inneren mit e<strong>in</strong>em biblischen<br />

Intertext <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht werden – <strong>in</strong> der christlichen Ikonographie wird der Stall von Bethlehem<br />

meist als Felsengrotte dargestellt und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Felsengrab wurde Jesus bestattet.<br />

56


Der Ste<strong>in</strong> vers<strong>in</strong>kt letztendlich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen Bedeutungsvielfalt. Er ist Alles und<br />

Nichts und der Text lässt se<strong>in</strong>e Rätsel bewusst offen. So kann der Ste<strong>in</strong> von Tørk hervorragend<br />

für se<strong>in</strong>e Absichten <strong>in</strong>strumentalisiert werden, <strong>in</strong>dem er das metaphysische Unbehagen,<br />

das der Ste<strong>in</strong> auslöst, re<strong>in</strong> pragmatisch im H<strong>in</strong>blick auf se<strong>in</strong>e Vermarktungsmöglichkeiten<br />

betrachtet:<br />

Det er ikke vigtigt, hvordan t<strong>in</strong>gene virkelig forholder sig. Det vigtige er, hvad<br />

mennesker tror. De vil tro på denne sten [...].Mennesker venter på denne sten.<br />

Deres tro og forventn<strong>in</strong>g vil gøre den virkelig. Vil gøre den levende, uanset<br />

hvordan det ellers forholder sig med den. [...]<br />

De vil nå alle mulige konklusioner, som ikke hver for sig er vigtige. Det vigtige er<br />

de kræfter af frygt og forhåbn<strong>in</strong>g som vil blive sat fri. (428/429)<br />

[Es ist nicht wichtig, wie sich die D<strong>in</strong>ge wirklich verhalten. Wichtig ist, was<br />

Menschen glauben. Sie werden an diesen Ste<strong>in</strong> glauben. [...] <strong>Die</strong> Menschen warten<br />

auf diesen Ste<strong>in</strong>. Ihr Glaube und ihre Erwartung werden ihn wirklich machen.<br />

Werden ihn lebendig machen, gleichgültig, welche Bewandtnis es tatsächlich mit<br />

ihm hat. [...]<br />

Sie werden alle möglichen Schlußfolgerungen ziehen, die jede für sich genommen<br />

unwichtig s<strong>in</strong>d. Das Wichtige s<strong>in</strong>d die Kräfte aus Furcht und Hoffnung, die damit<br />

freigesetzt werden. (507)]<br />

Aber genau darauf zielt <strong>Høegs</strong> Poetik <strong>in</strong> Frøken Smilla gerade ab – die bewusste Irreführung<br />

der Leser, die letztendlich e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Interpretation des Textes unmöglich machen<br />

soll.<br />

Wie sehr Høeg auf der symbolischen Ebene mit den Signifikanten spielt, verdeutlicht<br />

schließlich der Name des Schiffes, mit dem sich die Expedition nach Gela Alta begibt. Kronos<br />

verweist auf die griechische Mythologie und das Göttergeschlecht der Titanen 141 und wird<br />

aufgrund der sprachlichen Nähe gerne mit Chronos, der antiken Personifikation der Zeit, verwechselt.<br />

Høeg verwendet aber bewusst beide Assoziationen. 142 So spricht Smilla e<strong>in</strong>mal angesichts<br />

der ständigen Gefahr getötet zu werden von der Kronos und ihrer Umwelt als Ort des<br />

„<strong>in</strong>ferno“ (376) und als „undergangsverden“ (383), 143 andererseits verspürt sie auf der Kronos<br />

das Gefühl der Zeitlosigkeit: „at vi aldrig er sejlet, men er forblevet ubevægelige i tid og rum<br />

[...]“ (316). 144<br />

141 Der Gott Kronos tötet und verschl<strong>in</strong>gt fünf se<strong>in</strong>er sechs K<strong>in</strong>der; Zeus überlebt als e<strong>in</strong>ziger, da se<strong>in</strong>e Mutter<br />

Kronos mit e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>del gepackten Ste<strong>in</strong> überlistet.<br />

142 E<strong>in</strong>ige Rezensenten gebrauchen beide Begriffe bedenkenlos als Synonym (so z.b. Jensen: „Kronos (græsk:<br />

chronos: tid)“ [„Kronos (griechisch: chronos: Zeit)“]; vgl. Jensen: Kv<strong>in</strong>den, kjærligheden og ondskaben, S. 81).<br />

Da werden dann Kronos und Chronos – je nachdem was gerade besser <strong>in</strong> den Interpretationszusammenhang<br />

passt – abwechselnd verwendet.<br />

143 [„Untergangswelt“ (452)]<br />

144 [„daß wir nie abgefahren s<strong>in</strong>d, sondern unbeweglich <strong>in</strong> Zeit und Raum stehen [...].“ (371)]<br />

57


Høeg dekonstruiert jedoch symbolisch den Zusammenhang mit der griechischen Mythologie,<br />

als Smilla zu Beg<strong>in</strong>n ihrer Ermittlungen <strong>in</strong> Kopenhagen die Kronos im Hafen entdeckt<br />

und nun wissen möchte, wo und unter wessen Namen das Schiff registriert ist. Über Telefon<br />

erfährt sie, dass im <strong>in</strong>ternationalen Schiffsregister mehrere Schiffe verzeichnet s<strong>in</strong>d, die unter<br />

dem Namen Kronos laufen. Letztendlich bleiben aber zwei Schiffe zur Auswahl, die größenmäßig<br />

dem Schiff im Hafen entsprechen – e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Griechenland und e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Panama registriertes<br />

Schiff. Am Ende ist es aber gerade nicht das griechische Schiff, sondern das aus Panama.<br />

All dies ist Teil von <strong>Høegs</strong> Spiel der Bedeutungen, das den Leser zunächst dazu ‚verführt’,<br />

e<strong>in</strong>em ‚offensichtlichen’ Verweis zu folgen, der jedoch so polyvalent angelegt ist, dass<br />

alle Versuche der Deutung <strong>in</strong>s Leere laufen oder von Høeg selbst im Text dekonstruiert werden.<br />

<strong>Die</strong> Symbole und Intertexte sperren sich, wie der Text überhaupt, gegen jede e<strong>in</strong>seitige<br />

Determ<strong>in</strong>ierung. Ähnlich wie bei der Auflösung der Detektivhandlung kann sich auch hier<br />

jeder Leser se<strong>in</strong>e eigenen symbolischen Bedeutungszusammenhänge erschließen, die sich<br />

objektiv jedoch niemals e<strong>in</strong>deutig verifizieren lassen.<br />

58


3.5 I har alle svigtet jeres børn – Der Diskurs der leidenden K<strong>in</strong>der<br />

Im ersten Abschnitt dieser Arbeit hatte ich dargelegt, wie Esajas von Høeg als das ultimative<br />

Opfer der <strong>Erzählung</strong> und ohne jegliche Ambivalenz dargestellt wird. Auf der Handlungsebene<br />

legt Høeg nun dieser Darstellung e<strong>in</strong>en umfassenden Diskurs der leidenden K<strong>in</strong>der<br />

zugrunde. Denn Esajas ist nicht das e<strong>in</strong>zige Opfer, nicht das e<strong>in</strong>zige K<strong>in</strong>d, das von se<strong>in</strong>en<br />

Eltern vernachlässigt wird und verwahrlost aufwachsen muss. Høeg zeigt e<strong>in</strong>e ganze Bandbreite<br />

psychischer und physischer Misshandlungen, die K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> der Welt der Erwachsenen<br />

erleiden müssen:<br />

Smilla wird von ihrem Vater aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen und nach Dänemark<br />

gebracht. Nachdem er mit ihrer Erziehung nicht zurechtkommt, schiebt er sie kurzerhand<br />

<strong>in</strong>s Internat ab. Moritz handelt aus re<strong>in</strong> egoistischen Motiven. Er <strong>in</strong>strumentalisiert Smilla<br />

als private Trauerhilfe, als Kompensation für se<strong>in</strong>en Verlust ihrer Mutter – e<strong>in</strong>e Tatsache,<br />

die Smilla ihm nicht verzeihen kann:<br />

Til hver en tid vil jeg misbillige, når voksne lader den kærlighed, de ikke selv har<br />

kunnet tage trykket af, gå ud over små børn. (109)<br />

[Ich werde immer mißbilligen, wenn Erwachsene den Druck der Liebe, den sie<br />

nicht haben loswerden können, an kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dern auslassen. (125)]<br />

Dabei fehlt es Smilla nicht an Materiellem, Moritz, der vermögende Starmediz<strong>in</strong>er versorgt<br />

sie mit allem was sie braucht. Smilla leidet viel mehr an der Isolation und dem Anpassungsdruck,<br />

den sie als Außenseiter<strong>in</strong> <strong>in</strong> der dänischen Gesellschaft erfährt – und all dies<br />

führt sie auf ihren Vater zurück, der sie erst nach Dänemark schleppte und dann im Stich ließ.<br />

Auch Bernard Jakkelsen ist als Jugendlicher e<strong>in</strong> Außenseiter <strong>in</strong> der erwachsenen Welt der<br />

Kronos. Se<strong>in</strong> älterer Bruder Lukas ignoriert ihn und verheimlicht ihr verwandtschaftliches<br />

Verhältnis vor der Mannschaft. Jakkelsen wächst ohne Eltern und brüderlichem Beistand auf<br />

Schiffen auf und ist dabei doch „for ung og alt, alt for mager til at være sømand“ (253), 145 wie<br />

Smilla bei ihrem ersten Aufe<strong>in</strong>andertreffen feststellt. Jakkelsens hagere Gestalt ist e<strong>in</strong> Symptom<br />

se<strong>in</strong>er Drogensucht, um die se<strong>in</strong> Bruder weiß, aber nicht reagiert und Jakkelsen schließlich<br />

das Leben kostet. Narkotisiert versucht er im Rausch der Selbstüberschätzung von der<br />

Kronos zu fliehen und wird dabei von Verla<strong>in</strong>e erstochen.<br />

145 [„zu jung und viel, viel zu mager, um Seemann zu se<strong>in</strong>.“ (295)].<br />

59


Besonders ausführlich widmet sich der Text Tørks K<strong>in</strong>dheit, die deutliche Parallelen zu<br />

Esajas’ leidvoller Sozialisation aufweist. In e<strong>in</strong>em Brief von Victor Halkenhvad erfährt Smilla<br />

die erniedrigenden Umstände se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit:<br />

De boede i Brønshøj, i et kvarter der ikke eksisterer mere. Haveskure af bølgeblik.<br />

[...] Drengen gik for lud og koldt vand. Huller i tøjet, rødøjet, fik aldrig en cykel,<br />

blev pryglet i den lokale proletarskole fordi han var for svag af sult til at forsvare<br />

sig. (195)<br />

[Sie wohnten <strong>in</strong> Brønshøj, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Viertel, das es nicht mehr gibt. Wellblechgartenschuppen.<br />

[...] Der Junge war total vernachlässigt. Durchlöcherte Klamotten, rote<br />

Augen, kriegte nie e<strong>in</strong> Fahrrad, wurde <strong>in</strong> der Proletenschule des Viertels verprügelt,<br />

weil er vor Hunger so schwach war, daß er sich nicht verteidigen konnte.<br />

(228/229)]<br />

Tørk wird von se<strong>in</strong>en Eltern vernachlässigt, ist schlecht gekleidet, unterernährt und viel zu<br />

schwach für die raue Umwelt des Armenviertels <strong>in</strong> dem er aufwächst. Tørks Vater, e<strong>in</strong> mittel<strong>lose</strong>r<br />

Komponist, zeigt dabei, ebenso wie Smillas Vater, e<strong>in</strong>en charakteristischen egoistischen<br />

Trieb – er widmet sich ausschließlich den abstrakten Sphären se<strong>in</strong>er Musik, die er über alles<br />

stellt und darüber se<strong>in</strong>e Familie vergisst.<br />

Esajas schließlich ist das mit Abstand jüngste Opfer der <strong>Erzählung</strong>. Se<strong>in</strong> Körper ist bereits<br />

vor dem Todessturz von Verletzungen gezeichnet, da se<strong>in</strong>e Mutter sich nicht ausreichend um<br />

ihn kümmerte. Halb verhungert und mangelhaft gekleidet ist er se<strong>in</strong>er Umwelt umso mehr<br />

schutzlos ausgeliefert.<br />

Smilla, Jakkelsen, Tørk, Esajas, alle teilen dieselbe traumatische K<strong>in</strong>dheit. Vernachlässigt<br />

von ihren Eltern und misshandelt von ihrer Umwelt s<strong>in</strong>d sie Außenseiter der Gesellschaft, die<br />

unverschuldet dieses Leid ertragen müssen.<br />

Von diesen Parallelen abgesehen verläuft jedoch die weitere Entwicklung bei allen <strong>in</strong>dividuell<br />

verschieden. Tørk sche<strong>in</strong>t sogar se<strong>in</strong>e Motivation und se<strong>in</strong>e Gier aus den erniedrigenden<br />

Umständen se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit zu beziehen, Jakkelsen h<strong>in</strong>gegen scheitert an ganz ähnlichen Umständen.<br />

146 E<strong>in</strong>e kausale Beziehung zwischen der Sozialisation und dem weiteren Werdegang<br />

lässt sich daraus jedenfalls nicht direkt ablesen. Das ist auch Smilla klar, die versucht, sich<br />

Tørk als den kle<strong>in</strong>en hilf<strong>lose</strong>n Jungen vorzustellen, der er e<strong>in</strong>mal war, aber dieses Bild bricht:<br />

Jeg må give op, billedet mislykkes, spl<strong>in</strong>tres, opløses. Manden ved siden af mig er<br />

helstøbt, og samtidig flydende, smidig, et menneske, der har hævet sig over s<strong>in</strong><br />

fortid så der nu ikke mere er spor af den. (379)<br />

146 <strong>Die</strong>ser Gegensatz führt noch weiter: Tørk produziert Drogen und Jakkelsen, der Junkie, konsumiert sie.<br />

Tørk konnte offensichtlich se<strong>in</strong> eigenes Unglück erfolgreich verdrängen und schlägt nun Profit aus dem Leid<br />

anderer.<br />

60


[Ich muß aufgeben, das Bild mißl<strong>in</strong>gt, zersplittert, löst sich auf. Der Mann neben<br />

mir ist aus e<strong>in</strong>em Guß und zugleich fließend, geschmeidig, e<strong>in</strong> Mensch, der sich<br />

über se<strong>in</strong>e Vergangenheit h<strong>in</strong>ausgehoben hat, so daß jetzt ke<strong>in</strong>e Spur mehr davon<br />

übrig ist. (447)]<br />

Und nicht alle Figuren sche<strong>in</strong>en an e<strong>in</strong>er traumatischen K<strong>in</strong>dheit zu leiden. Der Mechaniker<br />

beispielsweise verlebte e<strong>in</strong>e gewöhnliche, bürgerliche K<strong>in</strong>dheit und entwickelte sich dennoch<br />

(oder deswegen?) zum korrupten und geldgierigen Verbrecher, der ebenfalls an Esajas’<br />

Tod beteiligt ist. <strong>Die</strong> Vorgänge, die den Lebenslauf e<strong>in</strong>er Person bestimmen, s<strong>in</strong>d viel zu<br />

komplex, als dass sie sich e<strong>in</strong>fach mit e<strong>in</strong> paar Daten der Sozialisationsphase determ<strong>in</strong>ieren<br />

ließen. 147<br />

Was jedoch bleibt, und was Høeg im Text nicht weiter dekonstruiert, ist der Tod des kle<strong>in</strong>en<br />

Esajas, den Høeg als das ultimative Verbrechen des Textes gestaltet. Se<strong>in</strong> Tod kann <strong>in</strong><br />

diesem S<strong>in</strong>ne symbolisch als das Verbrechen e<strong>in</strong>er Gesellschaft <strong>in</strong>terpretiert werden, die ihre<br />

K<strong>in</strong>der vernachlässigt und sie physisch und psychisch misshandelt. 148 <strong>Die</strong>se dem Text implizite<br />

Anklage formuliert Victor Halkenhvad explizit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an Moritz: „I har alle svigtet<br />

jeres børn. Og der skal en gammel svans som mig til at fortælle jer det“ (195). 149<br />

Im Gegensatz zu den anderen Diskursen und Gattungen des Romans dekonstruiert Høeg<br />

diesen Diskurs nicht. Anknüpfend an die Darstellung des ‚ultimativen’ Opfers der <strong>Erzählung</strong>,<br />

Esajas und an die Anklage der postkolonialen Praxis der westlichen Staaten, kann der Diskurs<br />

der leidenden und vernachlässigten K<strong>in</strong>der als <strong>Høegs</strong> Versuch e<strong>in</strong>e moralische Anklage ohne<br />

Doppeldeutigkeiten zu formulieren, gelesen werden. 150<br />

147<br />

Deswegen greift Norseng auch zu kurz, wenn sie den kausalen Zusammenhang des Romans auf die traumatische<br />

K<strong>in</strong>dheit der Figuren reduziert: „Wounded children kill<strong>in</strong>g wounded children, wounded children aveng<strong>in</strong>g<br />

wounded children is the underly<strong>in</strong>g modus operandi of Frøken Smillas fornemmelse for sne“. Dabei lässt<br />

sie die postkolonialen Aspekte der <strong>Erzählung</strong> (und vor allem den Geld- Machtdiskurs) völlig außer Acht. Vgl.<br />

Norseng: A House of Mourn<strong>in</strong>g, S. 61.<br />

148<br />

Der Text lässt die Frage nach dem Täter schließlich explizit offen. Für se<strong>in</strong>en Tod können demnach viele<br />

Personen verantwortlich gemacht werden.<br />

149<br />

[„Ihr habt eure K<strong>in</strong>der alle im Stich gelassen. Und das muß euch e<strong>in</strong>e alte Tunte wie ich erzählen.“ (229)].<br />

Bezeichnenderweise ist es e<strong>in</strong> Homosexueller, e<strong>in</strong> k<strong>in</strong>der<strong>lose</strong>r Außenseiter der Gesellschaft, der den Eltern<br />

(stellvertretend hier Moritz) ihr Versagen vor Augen führt.<br />

150<br />

Dem Diskurs der leidenden K<strong>in</strong>der widmet sich Høeg ausführlich <strong>in</strong> der zwei Jahre nach Frøken Smilla erschienen<br />

<strong>Erzählung</strong> De måske egnede [Der Plan von der Abschaffung des Dunkels. München, 1995]<br />

61


3.6 Pluralisierung und Dezentralisierung – Handlungen und Diskurse <strong>in</strong><br />

Frøken Smilla<br />

So many other puzzles beset the reader of Smilla’s Sense of Snow that, adrift <strong>in</strong> its mazes,<br />

you almost forget to ask, What type of novel is this? Is it a mystery? A techno-thriller? Some<br />

mutant species of science-fiction? 151<br />

Brad Leithausers Verwirrung ist verständlich – <strong>Peter</strong> <strong>Høegs</strong> <strong>Erzählung</strong> br<strong>in</strong>gt auf der<br />

Handlungsebene e<strong>in</strong>e Vielzahl von Diskursen, Handlungen und Genres zusammen, die alle<br />

nicht isoliert nebene<strong>in</strong>ander stehen, sondern formal und <strong>in</strong>haltlich nahtlos <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander greifen.<br />

<strong>Die</strong> anfängliche Detektivgeschichte entwickelt sich zu e<strong>in</strong>em Thriller, der immer mehr<br />

fantastische Elemente aufweist. Smillas Reise endet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weißen Nichts auf e<strong>in</strong>er fiktiven<br />

Insel außerhalb der bewohnten Welt. Aspekte des Bildungsromans mischen sich mit aktuellen<br />

Diskursen wie Postkolonialismus und Globalisierung, rasante Actionszenen f<strong>in</strong>den sich neben<br />

philosophischen und moralischen Fragestellungen. Dazwischen mischen sich noch symbolische<br />

Andeutungen, die auf diverse Intertexte verweisen.<br />

Bezeichnend für <strong>Høegs</strong> Text ist, dass sich weder auf e<strong>in</strong>er oberflächlichen noch auf e<strong>in</strong>er<br />

<strong>in</strong>haltlichen Ebene e<strong>in</strong> zentraler, übergreifender Diskurs oder e<strong>in</strong> durchgehender roter Faden<br />

ausmachen lässt. 152 So ist Esajas e<strong>in</strong>erseits als Leiche die ‚Grundlage’ und der Ausgangspunkt<br />

der Krim<strong>in</strong>alhandlung; andererseits kann se<strong>in</strong> Körper als Symbol für das (post-)kolonialisierte<br />

Grönland, als Verweis auf e<strong>in</strong>en biblischen Intertext oder für die Verbrechen der Gesellschaft<br />

an ihren K<strong>in</strong>der betrachtet werden, je nachdem welchen Diskurs wir gerade zugrunde legen.<br />

Der Text vollzieht damit e<strong>in</strong>en kont<strong>in</strong>uierlichen Bedeutungswandel, sowohl <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Diskurse, die ke<strong>in</strong>e zentrale Lösung, sondern e<strong>in</strong>e Vielzahl von Deutungsvarianten anbieten,<br />

als auch durch die stetigen Diskursüberschneidungen, die ke<strong>in</strong>en durchlaufenden S<strong>in</strong>n erkennen<br />

lassen. 153 <strong>Die</strong> Welt kann eben nicht mehr als e<strong>in</strong>faches, auflösbares Puzzlespiel wie im<br />

klassischen Detektivroman wiedergegeben werden. S<strong>in</strong>n, Bedeutung, Lösungen s<strong>in</strong>d im Text<br />

nicht zentral greifbar, sie werden vielmehr fortwährend aufgeschoben. <strong>Høegs</strong> <strong>Erzählung</strong> betreibt<br />

damit auf der Handlungsebene se<strong>in</strong>e eigene Dekonstruktion. <strong>Die</strong>se Poetik der Differen-<br />

151<br />

Vgl. Brad Leithauser: Thrills and Chills. In: The New Republic, 1. November 1993.<br />

152<br />

Wie dies z.B. noch bei Ecos Der Name der Rose der Fall ist: hier konstituiert die Detektivgeschichte den<br />

gesamten Text.<br />

153<br />

<strong>Die</strong>ser dezentrale Aufbau des Romans, <strong>in</strong> dem Diskurse und Handlungsstränge e<strong>in</strong>ander bed<strong>in</strong>gen, er<strong>in</strong>nert<br />

an Deleuzes und Guattaris Modell des Rhizoms, das e<strong>in</strong> „nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes<br />

System ohne General, organisierendes Gedächtnis und Zentralautomat [ist]; es ist e<strong>in</strong>zig und alle<strong>in</strong> durch<br />

die Zirkulation der Zustände def<strong>in</strong>iert“. Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Rhizom. Berl<strong>in</strong>, 1977. S. 35.<br />

Insofern kann auch das Ende des Textes als e<strong>in</strong>e konsequente Anwendung dieses Modells gelesen werden. E<strong>in</strong>e<br />

62


zierung ermöglicht weder e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige gattungsmäßige E<strong>in</strong>ordnung noch die Festlegung<br />

e<strong>in</strong>es zentralen Diskurses, mit dem wir den S<strong>in</strong>n der <strong>Erzählung</strong> bestimmen könnten.<br />

Andererseits verzichtet Høeg bei so viel Une<strong>in</strong>deutigem und aufgeschobenem S<strong>in</strong>n nicht<br />

auf e<strong>in</strong>deutige Aussagen, wie der Diskurs der leidenden K<strong>in</strong>der zeigt. <strong>Die</strong>ser Bruch mit dem<br />

‚eigentlichen’ Schema des Romans führt uns direkt zum abschließenden Kapitel dieser Arbeit,<br />

das sich Smillas Bedeutung als Erzähler<strong>in</strong> widmet und damit implizit <strong>Høegs</strong> Poetik <strong>in</strong> Frøken<br />

Smillas fornemmelse for sne aufspüren soll.<br />

auflösende Zusammenführung aller Diskurse und Handlungsstränge würde e<strong>in</strong>en Ausgang aus diesem Netzwerk<br />

beschreiben, das sich aber explizit ohne Anfang und Ende def<strong>in</strong>iert.<br />

63


4 Smillas Weltbild – die Welt als <strong>Erzählung</strong><br />

Im ersten Teil dieser Arbeit hatte ich dargelegt, wie Smilla aufgrund ihrer multikulturellen<br />

Exposition sich nicht <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>deutiger Diskurse als ‚e<strong>in</strong>heitliches’ Subjekt kategorisieren<br />

lässt. Nun ist Smilla nicht nur die Protagonist<strong>in</strong>, sondern auch die e<strong>in</strong>zige manifeste Erzähl<strong>in</strong>stanz<br />

des Textes. Wenden wir uns abschließend also noch e<strong>in</strong>mal Smilla zu, und fragen, wie<br />

die Ich-Erzähler<strong>in</strong> Smilla als ‚fragmentiertes’ Subjekt den Text konstituiert.<br />

4.1 Masser af falsk forgyldn<strong>in</strong>g – Smilla als Erzähler<strong>in</strong><br />

Høeg verzichtet <strong>in</strong> Frøken Smilla auf die Objektivität e<strong>in</strong>es allwissenden, auktorialen Erzählers<br />

und setzt e<strong>in</strong>e Ich-Erzähler<strong>in</strong> e<strong>in</strong>, die uns das Geschehen durch ihren Blick, ihre Me<strong>in</strong>ungen<br />

und Ansichten gefiltert wiedergibt. Im Spannungsfeld zwischen objektivem Anspruch<br />

und subjektiver Widergabe steht Smilla, die ausgebildete Naturwissenschaftler<strong>in</strong> mit ihrem<br />

sche<strong>in</strong>bar unbegrenzten enzyklopädischen Wissen, und reflektiert über ihre Perspektive:<br />

Og jeg – hvem er jeg? Er jeg videnskabsmanden, iagttageren? Er jeg den, som har<br />

fået chancen til at se livet delvis udefra? Fra et udsigtspunkt af lige dele ensomhed<br />

og overblik? (223)<br />

[Und ich – wer b<strong>in</strong> ich? B<strong>in</strong> ich die Wissenschaftler<strong>in</strong>, die Beobachter<strong>in</strong>? B<strong>in</strong> ich<br />

diejenige, die die Chance hat, das Leben teilweise von außen zu betrachten? Von<br />

e<strong>in</strong>em Aussichtspunkt aus, der zu gleichen Teilen aus E<strong>in</strong>samkeit und Überblick<br />

besteht? (261)]<br />

Als Naturwissenschaftler<strong>in</strong> hat Smilla gelernt, die Welt objektiv zu betrachten und zu analysieren.<br />

<strong>Die</strong>se Sichtweise ist jedoch e<strong>in</strong>e Illusion, wie sie sich selbst e<strong>in</strong>gesteht, wenn sie <strong>in</strong><br />

langen Passagen über ihre K<strong>in</strong>dheit <strong>in</strong> Grönland und den Streit ihrer Eltern berichtet. Smilla<br />

reduziert und polarisiert die Vergangenheit, wobei ihre Mutter den deutlich positiveren Anteil<br />

bekommt:<br />

Hvordan var m<strong>in</strong> mors rolle i dette? Jeg véd det ikke, og jeg får det aldrig at vide.<br />

De der har forstand på den slags siger, at de to parter altid må være h<strong>in</strong>anden<br />

behjælpelige, når et kærlighedsforhold rigtig skal forlises og slås til vrag. Det er<br />

muligt. Som alle andre har jeg fra jeg var syv år bemalet m<strong>in</strong> barndom med masser<br />

af falsk forgyldn<strong>in</strong>g, og noget af den har vel også sat sig på m<strong>in</strong> mor. (42) 154<br />

154 Smillas subjektiver Blick <strong>in</strong> die Vergangenheit verklärt auch die Arbeit ihres Vaters. Moritz Jaspersen kam<br />

als aufstrebender Mediz<strong>in</strong>er nach Grönland, um dort e<strong>in</strong>e neue Behandlungsmethode zur Heilung e<strong>in</strong>er Nervenerkrankung<br />

zu erproben. Er greift dabei, ähnlich skrupellos wie Loyen, auf Versuche an Grönländern zurück,<br />

anstatt die Experimente <strong>in</strong> Dänemark durchzuführen. Smilla, die ihm offensichtlich nur gute Absichten unterstellt,<br />

drückt dies freilich etwas neutraler aus – sie berichtet, ihr Vater sei nach Grönland gekommen, „[f]or at<br />

behandle den med s<strong>in</strong>e nye teknik.“ (40) [„um sie mit se<strong>in</strong>er neuen Technik [...] zu behandeln.“ (44)]. [Me<strong>in</strong>e<br />

Hervorhebung]<br />

64


[Welche Rolle hatte me<strong>in</strong>e Mutter <strong>in</strong> der ganzen Sache? Ich weiß es nicht und werde<br />

es auch nie erfahren. Leute, die sich <strong>in</strong> so etwas auskennen, sagen, die beiden<br />

Parteien müßten e<strong>in</strong>ander schon behilflich se<strong>in</strong>, wenn e<strong>in</strong>e Liebesbeziehung so<br />

richtig <strong>in</strong> die Brüche gehen und zu Kle<strong>in</strong>holz werden soll. Das ist schon möglich.<br />

Wie! alle anderen habe auch ich me<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>dheit seit me<strong>in</strong>em siebten Lebensjahr<br />

kräftig mit Rauschgold übermalt, und e<strong>in</strong> bisschen hat sich wohl auch an me<strong>in</strong>er<br />

Mutter festgesetzt. (45/46)]<br />

Smillas Er<strong>in</strong>nerungsfragmente an ihre Familie und ihrer Zeit auf Grönland verdeutlichen,<br />

dass ihr e<strong>in</strong> neutraler Blick <strong>in</strong> die Vergangenheit nicht möglich ist. Ihre <strong>Erzählung</strong> ist nichts<br />

weiter als e<strong>in</strong> subjektiv verklärter Bericht, der Wunsch, ihrer traumatischen K<strong>in</strong>dheit wenigstens<br />

etwas Positives abzugew<strong>in</strong>nen, ohne jeden Anspruch auf ‚Wahrheit’ und Objektivität. Da<br />

Smilla von ihrer K<strong>in</strong>dheit nur noch bruchstückhafte Er<strong>in</strong>nerungen geblieben s<strong>in</strong>d, rekonstruiert<br />

sie sich ihre Vergangenheit mit Rückgriffen auf Archetypen oder Mythen, wie das<br />

Beispiel mit ihrer Mutter zeigt. Begriffe wie Wahrheit oder Realität stellen demnach Konstrukte<br />

dar, die nur über subjektive (und damit unweigerlich wertende) Interpretationen zugänglich<br />

s<strong>in</strong>d und so jeden objektiven Anspruch verlieren. Smilla erzählt uns ihre Geschichte,<br />

und <strong>in</strong>dem sie zugleich ihre eigene Glaubwürdigkeit und damit ihren Status als Erzähler<strong>in</strong><br />

reflektiert und <strong>in</strong> Frage stellt, dekonstruiert sie ihren eigenen Bericht. 155<br />

Høeg problematisiert hier aber nicht nur das Erzählen von ‚wahrer’ Geschichte, der gesamte<br />

Erzählvorgang wird gebrochen. Denn, so fragmentiert sich uns Smillas diffuse Nicht-<br />

Identität präsentiert, so zersplittert ersche<strong>in</strong>t der Text, der sich nicht nur <strong>in</strong> <strong>in</strong>haltlicher, sondern<br />

auch <strong>in</strong> formaler H<strong>in</strong>sicht jeder e<strong>in</strong>deutigen Zuweisung entzieht. <strong>Die</strong> <strong>Erzählung</strong> ist<br />

durchzogen von kont<strong>in</strong>uierlichen Perspektivenwechseln zwischen Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft. So gibt Smilla das aktuelle Geschehen im Präsens wieder, dazwischen s<strong>in</strong>d zahlreiche<br />

Rückblenden e<strong>in</strong>geschoben, <strong>in</strong> denen sie von Vergangenem berichtet, und darüber h<strong>in</strong>aus<br />

spielt die gesamte Handlung <strong>in</strong> der Zukunft. 156 Høeg führt <strong>in</strong> Frøken Smilla die Kont<strong>in</strong>uität<br />

des Erzählvorganges pausenlos zum Bruch. Der Text zerfällt ebenso wie se<strong>in</strong>e Figuren und<br />

Handlungen <strong>in</strong> teilweise komplementäre, sich jeder Vere<strong>in</strong>heitlichung entziehende Fragmente.<br />

<strong>Die</strong>se dezentrierte, nicht l<strong>in</strong>eare Erzählweise soll kurz beispielhaft an den ersten drei Abschnitten<br />

des Textes dargestellt werden, <strong>in</strong> denen Smilla Esajas’ Leben und Sterben schildert:<br />

155 Smillas Glaubwürdigkeit als Erzähler<strong>in</strong> wird im Text mehrmals reflektiert. Auf Gela Alta irrt sie zunächst<br />

völlig übernächtigt umher, wobei ihr somnambuler Zustand Halluz<strong>in</strong>ationen verursacht, die sie glauben lassen,<br />

ihre Mutter, Esajas und der Mechaniker wären zusammen mit ihr auf der Insel. „Så er m<strong>in</strong> mor bag mig. [...] Der<br />

begynder at komme halluc<strong>in</strong>ationer, brudstykker af samtaler. Jeg siger noget til Esajas. Han svarer. Mekanikeren<br />

er der også.“ (414/415) [„Da ist me<strong>in</strong>e Mutter h<strong>in</strong>ter mir. Sie weiß es, sie hat es e<strong>in</strong>e Zeitlang gewußt. [...] Nach<br />

und nach kommen Halluz<strong>in</strong>ationen, Bruchstücke von Gesprächen. Ich sage etwas zu Jesaja. Er antwortet. Der<br />

Mechaniker ist auch da.“ (490/491)]. Auch Smillas Fehle<strong>in</strong>schätzung <strong>in</strong> Bezug auf den Mechaniker zeigt, dass<br />

sie alles andere als e<strong>in</strong>e objektive Beobachter<strong>in</strong> des Geschehens ist.<br />

156 Frøken Smilla erschien im Frühjahr 1992, die Handlung spielt aber am Jahreswechsel 1993/94.<br />

65


<strong>Die</strong> <strong>Erzählung</strong> setzt unvermittelt mit Esajas’ Beerdigung e<strong>in</strong>, von der Smilla <strong>in</strong> knappen Worten<br />

berichtet. Im nächsten Abschnitt spr<strong>in</strong>gt der Text zeitlich fünf Tage zurück und Smilla<br />

beschreibt, wie sie Esajas tot auff<strong>in</strong>det. Im dritten Abschnitt spr<strong>in</strong>gt der Text abermals <strong>in</strong> die<br />

Vergangenheit, wo Smilla ihre erste Begegnung mit Esajas schildert. Der folgende Abschnitt<br />

setzt dann am Tag nach Esajas’ Tod e<strong>in</strong> und handelt von Smillas ersten Ermittlungen.<br />

Smillas <strong>Erzählung</strong> stellt die Chronologie der Ereignisse auf den Kopf, sie wechselt mehrmals<br />

<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Abschnittes den Erzähltempus und fügt, ihren Bericht unterbrechend,<br />

immer wieder beiläufig kle<strong>in</strong>e wissenschaftliche Abhandlungen e<strong>in</strong>. <strong>Die</strong> verschiedenen Erzählperspektiven<br />

und der achronologische Verlauf der Handlung brechen so mit der (sche<strong>in</strong>baren)<br />

E<strong>in</strong>heit des Textes; Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion gehen fließend<br />

<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander über.<br />

Ebenfalls problematisiert wird <strong>in</strong> Frøken Smilla die ‚authentische’ Wiedergabe von Emotionen.<br />

Smilla ist nicht fähig sich explizit zu ihren Gefühlen zu äußern. Wenn überhaupt, dann<br />

s<strong>in</strong>d ihre Emotionen an der Struktur ihrer <strong>Erzählung</strong> abzulesen. So versucht Smilla Esajas’<br />

Tod <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em iterativen Erzählakt zu ‚verarbeiten’ – <strong>in</strong> drei verschiedenen Abschnitten des<br />

ersten Kapitels widmet sie sich se<strong>in</strong>er Beerdigung und mit jeder weiteren Erwähnung wird ihr<br />

Bericht ausführlicher und persönlicher, werden immer mehr Rückblicke und Episoden zu Esajas<br />

e<strong>in</strong>geschoben. Nach und nach erfahren wir so, welche Bedeutung Esajas für Smilla hatte<br />

und wie sehr sie unter se<strong>in</strong>em Tod leidet. 157 Gefühle s<strong>in</strong>d hier weniger an den Inhalt gebunden,<br />

sondern werden vielmehr subtil über die narrative Struktur vermittelt.<br />

Høeg bricht <strong>in</strong> Frøken Smilla mit den tradierten Formen des Erzählens. Smilla ist es nicht<br />

mehr möglich Geschichte objektiv und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>heitsstiftenden Moment wiederzugeben,<br />

sie reflektiert zudem ihren Erzählvorgang und stellt ihn damit zugleich <strong>in</strong> Frage. 158 Wenn aber<br />

die Naturwissenschaftler<strong>in</strong> Smilla ihre Geschichte reflektiert und problematisiert, ihre Ver-<br />

157 Auch Smillas wirrer Zustand am Tag nach dem Anschlag auf sie und F<strong>in</strong>e Licht äußert sich unmittelbar <strong>in</strong><br />

der chaotischen, achronologischen und fragmentierten <strong>Erzählstruktur</strong> dieses Abschnitts; vgl. (S. 173–186) [S.<br />

203–218]. Der Tag nach Esajas’ Tod, als Smilla mit den Ermittlungen beg<strong>in</strong>nt, ist <strong>in</strong> der <strong>Erzählung</strong> ähnlich<br />

strukturiert. Vgl. (S. 22–27) [S. 22–28].<br />

158 Auch an Smillas Erzählmonopol kratzt Høeg: schließlich kann Tørk als Meta-Erzähler der Handlung <strong>in</strong>terpretiert<br />

werden, da er im H<strong>in</strong>tergrund Smillas Ermittlungen lenkt und sich damit subtil <strong>in</strong> ihre Geschichte e<strong>in</strong>schreibt.<br />

Und Tørk weist Smilla, die selbst zugibt nicht an Romanen <strong>in</strong>teressiert zu se<strong>in</strong>, auf die Macht der <strong>Erzählung</strong><br />

h<strong>in</strong>: „Det er forfatterne før videnskaben, der ser hvor vi er på vej hen.“ (417) [„<strong>Die</strong> Schriftsteller sehen<br />

früher als die Wissenschaft, woh<strong>in</strong> wir uns bewegen.“ (493)]. Und auf Gela Alta lauscht Smilla gefesselt se<strong>in</strong>en<br />

detaillierten Ausführungen über den Ste<strong>in</strong>, die Parasiten und ihre Bedeutung: „Jeg vil ikke lytte til ham, og ikke<br />

tale med ham, men jeg kan ikke lade være“ (422) [„Ich will ihm nicht zuhören, nicht mit ihm reden, aber ich<br />

kann es nicht lassen.“ (500)]. Hier wird die Erzählsituation umgekehrt – Tørk erzählt und Smilla lauscht gespannt<br />

se<strong>in</strong>er <strong>Erzählung</strong>. Auf Tørks Rolle als manipulativer (‚Lyotardscher‘) Erzähler werde ich im letzten Kapital<br />

näher e<strong>in</strong>gehen.<br />

66


gangenheit nur mehr über Mythen und Stereotypen oder durch Zitieren von Intertexten erreicht,<br />

bricht sie nicht nur mit der Genieästhetik der Moderne, sondern verweist darüber h<strong>in</strong>aus<br />

auf das Scheitern von absoluten, objektiven Kategorien und führt uns die <strong>Erzählung</strong> (die<br />

Smillas wissenschaftliche Anmerkungen e<strong>in</strong>schließt) als genu<strong>in</strong> subjektiv vor.<br />

67


4.2 Der absolute space – Smillas abgeschlossenes Universum<br />

Smillas fragmentierte und dezentrierte Erzählweise ist e<strong>in</strong> weiteres Indiz ihrer gebrochenen<br />

Identität und e<strong>in</strong>e weitere Eigenart des Textes, sich jeder E<strong>in</strong>deutigkeit zu entziehen. Ihr<br />

subjektiver Bericht ermöglicht aber nicht nur e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die <strong>Erzählstruktur</strong> des Textes,<br />

wir erfahren hier implizit ihre Sicht der D<strong>in</strong>ge, ihr Weltbild und ihre Philosophie. Und dabei<br />

bricht der Text e<strong>in</strong> weiteres Mal, denn Smillas subjektives Weltbild ist alles andere als offen<br />

und ambivalent. Aus ihrer heterogenen Identität erschafft sie sich, allen Brechungen und offenen<br />

Diskursen des Textes zum Trotz, ihr privates, <strong>in</strong> sich abgeschlossenes und homogenes<br />

Universum – den absolute space.<br />

Der absolute space ist Smillas metaphysischer Gegenentwurf zur ‚realen’ Welt; <strong>in</strong> ihm<br />

verschmelzen Schnee, Eis und die Mathematik – die Repräsentanten zweier diametral entgegengesetzten<br />

und für Smilla <strong>in</strong> der Außenwelt unvere<strong>in</strong>baren Kulturen. Smilla bildet das<br />

grönländische Eis, die naturverbundene Lebensweise der Inuit ebenso wie das rationale naturwissenschaftliche<br />

Denken der westlichen Welt metaphorisch im absolute space ab, und<br />

führt damit eben jene b<strong>in</strong>ären Oppositionen, die ihre Heimatlosigkeit und ihre une<strong>in</strong>deutige<br />

Identität festlegen zur unzweideutigen E<strong>in</strong>heit. Denn sowohl Schnee und Eis als auch die Mathematik<br />

dienen Smilla symbolisch als Abbilder der Welt, des Lebens überhaupt. So vergleicht<br />

sie die Bildung von neuem Eis mit der Entstehung von Leben, was sie zu der E<strong>in</strong>sicht<br />

br<strong>in</strong>gt, „at is og liv på flere måder hænger sammen“ (14). 159 Und dem Mechaniker erklärt sie:<br />

„[...] talsystemet er ligesom menneskelivet“ (112). 160 Schnee, Eis und die Mathematik verweisen<br />

so <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er von Smilla aufgestellten Kausalkette auf Grönland, denn das komplexe Zahlensystem<br />

ermöglicht<br />

at gøre fyldestgørende rede for isens krystaldannelse. Det er som et stort, åbent<br />

landskab. Horisonterne. Man drager imod dem, og de bliver ved med at flytte sig.<br />

Det er Grønland, det er det jeg ikke kan undvære! (112/113)<br />

[e<strong>in</strong>e erschöpfende Darstellung der Eiskristallbildung [...]. Es ist wie e<strong>in</strong>e große,<br />

offene Landschaft. <strong>Die</strong> Horizonte. Man zieht ihnen entgegen, und sie ziehen sich<br />

immer wieder zurück. Das ist Grönland, und das ist es, ohne das ich nicht se<strong>in</strong><br />

kann! (130)]<br />

Mit Hilfe der abstrakten Mathematik gel<strong>in</strong>gt Smilla die metaphorische Abbildung Grönlands,<br />

sie denkt und strukturiert die ‚reale’ Welt mit den Konzepten ihres imag<strong>in</strong>ären Universums.<br />

Das führt so weit, dass sie Esajas, der wieder zurück nach Grönland will, verdeutlicht,<br />

159 [„daß Eis und Leben auf mehrfache Weise zusammenhängen.“ (12)].<br />

160 [„[dass] das Zahlensystem wie das Menschenleben ist.“ (129)].<br />

68


dass dies zwar nicht möglich sei, sie könnten aber geme<strong>in</strong>sam etwas über Grönland lesen –<br />

„[i] Euklids Elementer...“ (50). Deshalb kann Smilla auch dem Mechaniker gegenüber sagen:<br />

Hvis nogen spurgte mig, hvad der gør mig rigtig lykkelig, så ville jeg svare: Det<br />

gør tallene. Sne og is og tal. (112)<br />

[Wenn mich jemand fragen würde, was mich richtig glücklich macht, dann würde<br />

ich antworten: die Zahlen. Schnee und Eis und Zahlen. (129)]<br />

Mit der Philosophie des absolute space, mit dem Rückgriff auf die metaphorischen Konzepte<br />

von Schnee, Eis und Mathematik erschafft sich Smilla, bei aller Unsicherheit und kultureller<br />

Identitätslosigkeit, e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> sich geschlossenen, e<strong>in</strong>deutigen und absoluten metaphysischen<br />

Zufluchtsort, der bewusst im Gegensatz zur chaotischen, vieldeutigen und unlesbaren<br />

Außenwelt steht: 161<br />

Jeg er ikke fuldkommen. Jeg synes bedre om sne og is end om kærligheden. Jeg<br />

har lettere ved at <strong>in</strong>teressere mig for matematikken end ved at holde af m<strong>in</strong>e<br />

medmennesker. Men jeg har en forankr<strong>in</strong>g til noget i tilværelsen, der står fast. Så<br />

kan man kalde det stedsans, man kan kalde det kv<strong>in</strong>delig <strong>in</strong>tuition, man kan kalde<br />

det hvad der falder én <strong>in</strong>d. Jeg står på et fundament, og længere ned end det kan jeg<br />

ikke falde. Det kan godt være, at jeg ikke har formået at ordne mit eget liv alt for<br />

smart. Men jeg har altid – med m<strong>in</strong>dst én f<strong>in</strong>ger ad gangen – fat i Det absolutte<br />

Rum. (48)<br />

[Ich b<strong>in</strong> nicht vollkommen. Schnee und Eis s<strong>in</strong>d mir lieber als die Liebe. Es fällt<br />

mir leichter, mich für die Mathematik zu <strong>in</strong>teressieren, als me<strong>in</strong>e Mitmenschen zu<br />

mögen. Aber ich b<strong>in</strong> im Dase<strong>in</strong> mit etwas verankert, das fest steht. Man kann das<br />

von mir aus Ortss<strong>in</strong>n nennen oder auch weibliche Intuition, von mir aus kann man<br />

es so nennen, wie es e<strong>in</strong>em gerade e<strong>in</strong>fällt. Ich stehe auf e<strong>in</strong>em Fundament, und<br />

tiefer kann ich nicht fallen. Schon möglich, daß ich es nicht geschafft habe, me<strong>in</strong><br />

eigenes Leben sonderlich clever e<strong>in</strong>zurichten. Aber den Absoluten Raum halte ich<br />

immer fest – m<strong>in</strong>destens mit e<strong>in</strong>em F<strong>in</strong>ger. (52)]<br />

Smilla, die sich sonst gerne treiben lässt, gibt der absolute space e<strong>in</strong> festes, e<strong>in</strong>deutiges<br />

Fundament, das ihre subjektive Sicht der Welt determ<strong>in</strong>iert und das sie sich von niemanden<br />

nehmen lässt. Mit dem Rückgriff auf die Philosophie des absolute space strukturiert und ordnet<br />

Smilla e<strong>in</strong>heitsstiftend ihr Leben.<br />

So auch <strong>in</strong> Esajas’ Fall. Das Rätsel se<strong>in</strong>es Todes ist pr<strong>in</strong>zipiell unlösbar, da die vorhandenen<br />

Spuren und Zeichen nicht e<strong>in</strong>deutig <strong>in</strong>terpretiert werden können. Smilla ignoriert jedoch<br />

diese objektive Unlösbarkeit und br<strong>in</strong>gt den Fall subjektiv zum Abschluss. Mit der bewährten<br />

161 So stellt Smilla der unvollendeten Geometrie der ‚realen’ Welt, <strong>in</strong> der es ke<strong>in</strong>e perfekten Schneekristalle<br />

geben kann, bewusst ihren imag<strong>in</strong>ären metaphysischen Raum entgegen: „I den ydre verden vil der aldrig eksistere<br />

en fuldendt dannet snekrystal. Men i vores bevidsthed ligger den glitrende og lydefri viden om den perfekte<br />

is“ (284) [„In der Außenwelt wird es nie e<strong>in</strong>en vollendeten Schneekristall geben. Doch <strong>in</strong> unserem Bewusstse<strong>in</strong><br />

liegt das glitzernde und makel<strong>lose</strong> Wissen vom perfekten Eis verankert.“ (333)]. Smilla zufolge hat demnach<br />

jeder die Möglichkeit sich diese Welt zu erschließen.<br />

69


Cui-bono-Frage – wem e<strong>in</strong> Ereignis nützt, ist dessen Urheber – identifiziert sie Tørk e<strong>in</strong>deutig<br />

als Esajas’ Mörder. In ähnlicher Weise erhebt sie Esajas zum Heilsretter, zur Symbolfigur der<br />

multikulturellen Verständigung zwischen Dänemark und Grönland, ungeachtet der Tatsache,<br />

dass er als schwerhöriger, traumatisierter Außenseiter isoliert <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Getto aufwächst und<br />

damit e<strong>in</strong>er problematischen Zukunft <strong>in</strong> Dänemark entgegensieht. 162 In Smillas subjektivem<br />

Weltbild werden die im Text zuvor aufgelösten Kategorien wieder zusammengeführt, offene<br />

Diskurse zum Abschluss gebracht und als E<strong>in</strong>heit strukturiert.<br />

Auch die im Text konstant präsente Dialektik von Leben und Tod löst Smilla am Ende des<br />

Romans narrativ auf. Auf der Kronos er<strong>in</strong>nert sich Smilla an e<strong>in</strong>en Abend mit Esajas, an dem<br />

ihr die Endlichkeit aller D<strong>in</strong>ge bewusst wurde – die Möglichkeit se<strong>in</strong>es Todes und das Ende<br />

ihrer Gefühle für ihn. Aber der Tod ist für Smilla ke<strong>in</strong>e abschließende Kategorie, denn selbst<br />

wenn Esajas sterben sollte,<br />

vil han stadig være der, og efter ham hans børn eller andre børn, et hjul af børn, en<br />

kæde, en spiral der krummer <strong>in</strong>d i evigheden.<br />

I sådanne oplevelser af alt<strong>in</strong>gs afslutn<strong>in</strong>g og fortsættelse var jeg meget lykkelig.<br />

(381)<br />

[wird immer noch er dase<strong>in</strong> und nach ihm se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der oder andere K<strong>in</strong>der, e<strong>in</strong><br />

Rad aus K<strong>in</strong>dern, e<strong>in</strong>e Kette, e<strong>in</strong>e Spirale, die sich <strong>in</strong> die Ewigkeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>dreht.<br />

Bei solchen Erlebnissen vom Ende und der Fortsetzung aller D<strong>in</strong>ge war ich sehr<br />

glücklich. (450)]<br />

Smilla löst die Opposition von Leben und Tod auf <strong>in</strong> e<strong>in</strong> unendliches Band, das weder<br />

durch e<strong>in</strong>en Anfang noch durch e<strong>in</strong> Ende festgelegt ist. Und mit den Konzepten von Schnee<br />

und Eis vergegenwärtigt sich Smilla diesen ewigen, fortdauernden Zyklus, da sie Eisbildung,<br />

Schneeschmelze und Auflösung symbolisch auf die Dialektik von Leben und Tod überträgt:<br />

Først som sekskantede, nydannede snefnug. Så som et 48 timer gammelt, nedbrudt<br />

fnug, med flydende konturer. På tiendedagen vil det være et kornet krystal. Efter to<br />

måneder er det kompakt. Efter to år bef<strong>in</strong>der det sig i overgangstilstanden mellem<br />

sne og firn. Efter tre år er det névé. Efter fire år er det blevet til et stort, blokagtigt<br />

gletscherkrystal. [...]<br />

Derefter vil gletscheren støde det ud i havet. Hvorfra det en dag vil bryde op, og<br />

flyde mod nedsmeltn<strong>in</strong>g, opløsn<strong>in</strong>g og optagelse i havet. Hvorfra det en dag vil<br />

rejse sig som nydannet sne. (413/414)<br />

[Erst als sechseckige, neugebildete Schneeflocken. Dann als achtundvierzig<br />

Stunden alte Flocken mit verfließenden Konturen. Am zehnten Tag wird aus jeder<br />

Flocke e<strong>in</strong> körniges Kristall geworden se<strong>in</strong>. Nach zwei Monaten ist sie kompakt.<br />

Nach zwei Jahren bef<strong>in</strong>det sie sich im Übergangszustand zwischen Schnee und<br />

162 Smillas Beschreibung von Esajas offenbart deutlich ihre subjektive Sichtweise. Sie betrachtet sich als se<strong>in</strong>e<br />

eigentliche Mutter, und wenn sie ihn rückblickend charakterisiert, ersche<strong>in</strong>t er mehr e<strong>in</strong>em Engel als e<strong>in</strong>em<br />

Menschen zu gleichen. Esajas wird <strong>in</strong> Smillas verklärender Vorstellung zur Utopie stilisiert, zu e<strong>in</strong>em übermenschlichen<br />

Symbol der Aussöhnung.<br />

70


Firn. Nach drei Jahren ist sie névé. Nach vier Jahren ist sie zu e<strong>in</strong>em großen,<br />

blockartigen Gletscherkristall geworden. [...]<br />

Danach wird der Gletscher sie <strong>in</strong>s Meer h<strong>in</strong>ausstoßen. Von wo sie e<strong>in</strong>es Tages<br />

aufbrechen und zur Schmelze, Auflösung und Aufnahme <strong>in</strong>s Meer schwimmen<br />

wird. Aus dem sie sich e<strong>in</strong>es Tages wieder als neuer Schnee erheben wird. (489)]<br />

Mit den Metaphern von Schnee und Eis, die für Smilla auf den beständigen Wechsel von<br />

Entstehen und Vergehen verweisen, erschafft sich Smilla nicht nur ihr eigenes Weltbild, als<br />

Erzähler<strong>in</strong> konstituiert und strukturiert sie darüber h<strong>in</strong>aus mittels dieser Konzepte Anfang und<br />

Ende ihrer <strong>Erzählung</strong>:<br />

Smilla br<strong>in</strong>gt Esajas’ Fall zum Abschluss, <strong>in</strong>dem sie Tørk als se<strong>in</strong>en Mörder ausmacht.<br />

Aber damit gibt sie sich nicht zufrieden; Smilla betrachtet sich vielmehr als Tørks Nemesis,<br />

wenn sie ihn bewusst aufs brüchige Eis h<strong>in</strong>austreibt, wo Tørk, der die Orientierung verloren<br />

hat, früher oder später e<strong>in</strong>brechen wird. Se<strong>in</strong> plötzliches Ende auf Gela Alta wird von Smilla<br />

dabei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em narrativen Akt regelrecht <strong>in</strong>szeniert – Smilla kopiert mit e<strong>in</strong>er parallele Erzähltechnik<br />

bewusst ihren eigenen Bericht über die die Ereignisse auf dem Kopenhagener Dach,<br />

wenn sie sie schildert, wie Tørk von ihr langsam aber sicher an den Rand der Eisscholle gedrängt<br />

wird. Schnee und Eis beherrschen die Schauplätze am Anfang des Textes bei Esajas’<br />

Beerdigung und am Ende auf Gela Alta, beide Male fällt derselbe Schnee vom Himmel, worauf<br />

Smilla explizit verweist: „Det sner. Store fnug, qanik, som sneen over Esajas’ grav“<br />

(413). 163 Smilla drängt Tørk aufs dünne Eis h<strong>in</strong>aus und kehrt dabei die Ereignisse um, die sich<br />

auf dem Kopenhagener Dach zwischen Tørk und Esajas abgespielt haben:<br />

Det er is der er under mig, jeg er på vej hen over isen, imod ham, som Esajas var<br />

på vej væk fra ham. Det er som om jeg er Esajas. (433)<br />

[Unter mir ist Eis, ich b<strong>in</strong> auf dem Weg über das Eis, zu ihm, so wie Jesaja auf<br />

dem Weg weg von ihm war. Es ist, als sei ich Jesaja. (513)]<br />

Wie Esajas an der Dachkante steht Tørk an der Kante des brüchigen Eises:<br />

Der skal så lidt til for ham. En enkelt uopmærksomhed, og han vil falde som Esajas<br />

faldt.<br />

De hvide felter, hvor sneen er blevet liggende, danner heksagoner i mørket. Vi<br />

løber gennem universet. (434)<br />

[Bei ihm braucht es nicht viel. E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Unaufmerksamkeit, und er fällt, wie<br />

Jesaja gefallen ist.<br />

Wo der Schnee liegengeblieben ist, bilden die weißen Felder <strong>in</strong> der Dunkelheit<br />

Sechsecke. Wir laufen durch das Universum. (514)]<br />

163 [„Es schneit. Große Flocken, qanik, wie der Schnee über Jesajas Grab.“ (488)].<br />

71


Schließlich läuft Tørk von Smilla getrieben aufs offene Wasser zu, wo er, wie Smilla beschreibt,<br />

langsam im Wasser vers<strong>in</strong>kt und stirbt:<br />

Mod dér, hvor strømmen har udhulet isen, så den bliver tynd som en h<strong>in</strong>de, en<br />

fosterh<strong>in</strong>de, og under den er havet mørkt og salt som blod, og et ansigt presser sig<br />

nedefra op mod ish<strong>in</strong>den, det er Esajas’ ansigt, den endnu ufødte Esajas. Han<br />

kalder på Tørk. Er det Esajas der trækker ham til sig, eller er det mig der søger om<br />

på den anden side af ham, for derved at presse ham ud mod den tynde is? [...]<br />

Måske vil isen om et øjeblik give efter under ham. Han vil måske føle det som en<br />

lettelse, at det kolde vand gør ham vægtløs og suger ham ned. [...]<br />

Han vil kun leve et par timer. På et tidspunkt vil han standse op, og kulden vil<br />

forvandle ham, som en istap, en frossen skal lukket om et akkurat flydende liv,<br />

<strong>in</strong>dtil også pulsen stilner, og han bliver ét med landskabet. (435)<br />

[Dorth<strong>in</strong>, wo die Strömung das Eis unterhöhlt hat, so daß es dünn wird wie e<strong>in</strong>e<br />

Haut, e<strong>in</strong>e Eihaut, und darunter ist das Meer, dunkel und salzig wie Blut, und von<br />

unten preßt sich e<strong>in</strong> Gesicht gegen die Eishaut, es ist Jesajas Gesicht, der noch<br />

ungeborene Jesaja. Er ruft: Tørk. Zieht Jesaja ihn zu sich, oder b<strong>in</strong> ich es, die auf<br />

se<strong>in</strong>e andere Seite läuft, um ihn dadurch auf das dünne Eis h<strong>in</strong>auszudrängen? [...]<br />

Vielleicht gibt das Eis unter ihm gleich nach. Er wird es möglicherweise als<br />

Erleichterung empf<strong>in</strong>den, daß das kalte Wasser ihn schwerelos macht und nach<br />

unten zieht. [...]<br />

Er wird nur e<strong>in</strong> paar Stunden leben. Irgendwann wird er stehenbleiben, und die<br />

Kälte wird ihn verwandeln, wie e<strong>in</strong>en Eiszapfen, e<strong>in</strong>e gefrorene Schale, die sich<br />

um e<strong>in</strong> gerade noch schwimmendes Leben geschlossen hat; bis auch der Puls<br />

abstirbt und er mit der Landschaft verschmilzt. (515)]<br />

Smilla malt sich Tørks Ende ganz im S<strong>in</strong>ne ihrer e<strong>in</strong>heitsstiftenden Philosophie des absolute<br />

space aus. So wie Schnee und Eis aus dem Wasser geboren werden und schließlich wieder<br />

im Wasser aufgehen, so wird auch Tørk von Smilla narrativ im Wasser aufgelöst. Smilla<br />

beschreibt se<strong>in</strong> fiktives Ende mit den Metaphern von Schnee und Eis, die sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e dunkle,<br />

mehrdeutige Symbolik e<strong>in</strong>webt und die auf den ewigen Kreislauf von Tod und Leben verweisen<br />

– Das Eis, auf dem Tørk läuft, ist dünn wie e<strong>in</strong>e ‚Fruchtblase’, das Wasser unter ihm<br />

‚dunkel und salzig wie Blut’. Später, als ihn se<strong>in</strong>e Kräfte verlassen und er stirbt, wird er vom<br />

Eis e<strong>in</strong>gekapselt wie e<strong>in</strong> ‚schwimmendes Leben’. Und während Tørk über das Eis se<strong>in</strong>em Tod<br />

entgegengeht, presst sich Esajas Gesicht aus dem Wasser von unten an das dünne Eis; es ist<br />

nicht der tote, sondern ‚der noch ungeborene’ Esajas, wie Smilla bemerkt.<br />

E<strong>in</strong> objektiver S<strong>in</strong>n lässt sich <strong>in</strong> Smillas befremdender symbolischer <strong>Erzählung</strong> nicht ausmachen,<br />

rationale wissenschaftliche Kategorien müssen hier zwangsläufig scheitern. Wozu<br />

aber auch nach e<strong>in</strong>em objektiven S<strong>in</strong>n suchen, wo doch Smillas <strong>Erzählung</strong> bewusst als subjektiver<br />

und fiktiver Bericht angelegt ist, der nur <strong>in</strong>nerhalb ihres eigenen Weltbildes e<strong>in</strong>e<br />

schlüssige S<strong>in</strong>nkonstruktion ermöglicht. Denn mit der Philosophie des absolute space löst<br />

Smilla die traditionelle Dichotomie von Leben und Tod <strong>in</strong> e<strong>in</strong> unendliches Band, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ‚Spi-<br />

72


ale, die sich <strong>in</strong> die Ewigkeit dreht’ auf. Smilla macht sich auf die Suche nach Esajas Mörder,<br />

da se<strong>in</strong> Tod e<strong>in</strong> Bruch dieses ewigen Kreislaufs bedeutet:<br />

Måske er det det, som Esajas har givet mig. Som ethvert barn kan give.<br />

Fornemmelsen af men<strong>in</strong>g. Af at der gennem mig, og videre gennem ham, kører et<br />

hjul, en stor og skrøbelig og samtidig nødvendig bevægelse.<br />

Det er den, der blevet brudt. Esajas’ krop i sneen er et brud. (320/321)<br />

[Vielleicht ist es das, was mir Jesaja gegeben hat. Was e<strong>in</strong>em jedes K<strong>in</strong>d geben<br />

kann. Das Gefühl von S<strong>in</strong>n. Das Bewußtse<strong>in</strong>, daß sich durch mich und dann durch<br />

ihn e<strong>in</strong> Rad mit e<strong>in</strong>er großen und empf<strong>in</strong>dlichen und zugleich notwendigen<br />

Bewegung weiterdreht.<br />

<strong>Die</strong>se Bewegung ist nun gebrochen. Jesajas Körper im Schnee ist e<strong>in</strong> Bruch. (376)]<br />

Abschließen bedeutet für Smilla diesen Bruch zu schließen, die Rückkehr <strong>in</strong> die unendliche<br />

Spirale des Universums. Und Tørk, den Smilla für Esajas’ Tod verantwortlich macht,<br />

führt sie <strong>in</strong> ihrer <strong>Erzählung</strong> zu se<strong>in</strong>em fiktiven Ende, <strong>in</strong> den unendlichen Zyklus von Leben<br />

und Tod zurück. Damit ist für Smilla der Bruch versiegelt, der Kreis wieder geschlossen.<br />

Smillas metaphysisches Universum, der absolute space, mit dem sie ihre Welt strukturiert,<br />

ersche<strong>in</strong>t als absoluter und unendlicher Raum, ohne ursächliche und abschließende Instanz.<br />

So ist für Smilla der ‚endnu ufødte’ [‚noch ungeborene’] Esajas weder gestorben noch bereits<br />

wiedergeboren. Geburt, Leben und Tod s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Smillas metaphorischer Sichtweise ke<strong>in</strong>e absoluten<br />

Kategorien, 164 sie verweigert hier vielmehr symbolisch und explizit jeden Verweis auf<br />

e<strong>in</strong>en ursprünglichen Anfang oder e<strong>in</strong> abschließendes Ende. Rationale Kategorien wie ‚Anfang’<br />

oder ‚Ende’ werden von Smilla <strong>in</strong> ihrem absoluten Weltbild <strong>in</strong> nicht objektiv erfassbare<br />

S<strong>in</strong>nkonstruktionen überführt, aufgelöst und damit dekonstruiert.<br />

Smillas Weltbild strukturiert hier nicht nur <strong>in</strong>haltlich die <strong>Erzählung</strong>, es konstituiert vielmehr<br />

auf e<strong>in</strong>er Meta-Erzählebene den Text <strong>in</strong>sgesamt. Denn Smillas Darstellung der Ereignisse<br />

ist nichts weiter als e<strong>in</strong> Produkt ihrer Vorstellung. Wenn sie Tørks Tod parallel zu Esajas’<br />

Fall buchstäblich <strong>in</strong>szeniert, konstruiert sie die <strong>Erzählung</strong> ganz nach ihrem subjektiven Ermessen.<br />

Entscheidend ist, dass Smilla als Erzähler<strong>in</strong> selbst über diesen Interpretationsakt reflektiert.<br />

Im Gespräch mit Tørk offenbart sie, dass ihre Version der Ereignisse auf dem Dach<br />

lediglich e<strong>in</strong> unsicherer Versuch der Deutung darstellt:<br />

Jeg ville bede ham om at give mig kassettebåndet. Men han løb, han havde ikke<br />

genkendt mig. [...]<br />

164 So kann Tørks Tod mit Smillas Erzählweise auch als rückwärtslaufender Geburtsprozess gelesen werden.<br />

Auch der E<strong>in</strong>gang der Höhle auf Gela Alta wird von Smilla symbolisch als Verb<strong>in</strong>dung von Leben und Tod<br />

<strong>in</strong>terpretiert: „Indgangen til afslutn<strong>in</strong>gen har altid været en tunnel. Som <strong>in</strong>dgangen til livet“ (431) [„Der E<strong>in</strong>gang<br />

zum Ende ist immer e<strong>in</strong> Tunnel. Wie der E<strong>in</strong>gang zum Leben.“ (510)].<br />

73


Sporene, lyver jeg. – Jeg så sporene, han havde vendt sig. (433) [Me<strong>in</strong>e Hervorhebung]<br />

[‚Ich wollte ihn bitten, mir die Kassette zu geben. Aber er rannte weg, er hatte<br />

mich nicht erkannt. Glaubte, ich sei e<strong>in</strong> Fremder.’ [...]<br />

‚<strong>Die</strong> Spuren’, lüge ich. ‚Ich habe die Spuren gesehen, er hat sich umgedreht.’<br />

(513)]<br />

Und Tørks fiktives Ende beschreibt sie, bewusst aus dem Präsens ausbrechend, als e<strong>in</strong><br />

mögliches Ereignis e<strong>in</strong>er unbestimmten Zukunft. 165<br />

Der Text erweist sich hier als Smillas subjektives, fiktives Konstrukt 166 und <strong>in</strong>dem sie über<br />

den fiktionalen Charakter ihrer <strong>Erzählung</strong> reflektiert, etabliert sie auf e<strong>in</strong>er metaliterarischen<br />

Ebene e<strong>in</strong>en weiteren Diskurs, der den Erzählvorgang selbst problematisiert. Erzählen<br />

erweist sich <strong>in</strong> Frøken Smilla als genu<strong>in</strong> subjektiver und fiktiver Akt, der jeden objektiven<br />

Anspruch als Widerspruch entlarvt. Denn ‚S<strong>in</strong>n’ ist Smillas Bericht nur als subjektiver S<strong>in</strong>n<br />

zu entnehmen, der letztendlich nur für Smilla selbst zugänglich und vollständig erfassbar ist.<br />

Smilla reflektiert nicht nur ihre eigene <strong>Erzählung</strong> als subjektives Konstrukt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weiteren<br />

Diskurs des Textes entlarvt sie, ganz im S<strong>in</strong>ne Lyotards, die Wissenschaft selbst als <strong>Erzählung</strong>:<br />

Vi accepterer eksistensen af en rund klode, af atomkerner holdt sammen som<br />

dråber, af et rum der krummer, nødvendigheden af at gribe <strong>in</strong>d i det genetiske<br />

165 „Måske vil isen om et øjeblik give efter under ham. Han vil måske føle det som en lettelse [...]“(435)<br />

[„Vielleicht gibt das Eis unter ihm gleich nach. Er wird es möglicherweise als Erleichterung empf<strong>in</strong>den [...]“<br />

(515)].<br />

166 E<strong>in</strong>en weiteren H<strong>in</strong>weise auf den fiktiven, künstlichen Charakter der <strong>Erzählung</strong> liefert die dem Text <strong>in</strong>härent<br />

e<strong>in</strong>geschriebene Symbolik um die Zahl Sechs, die Schlüsselereignisse <strong>in</strong> Smillas und Esajas Leben determ<strong>in</strong>iert:<br />

Esajas stirbt am 18.12, sechs Tage vor Weihnachten im Alter von sechs Jahren; er stürzt vom sechsten<br />

Stock. Smilla ist sechs Jahre alt, als sie <strong>in</strong> Grönland ihre Naturentfremdung erlebt, kurz darauf stirbt ihre Mutter<br />

und Smilla wird von ihrem Vater nach Dänemark gebracht; sie versucht <strong>in</strong>sgesamt sechs Mal nach Grönland zu<br />

fliehen und unternimmt mit zwölf Jahren den letzten Fluchtversuch; Smilla ist 36 Jahre alt, als sie Esajas das<br />

erste Mal begegnet.<br />

<strong>Die</strong> Sechs strukturiert jedoch nicht nur Smillas und Esajas’ Leben, sie wirkt ebenso konstituierend auf der Erzählebene.<br />

So verb<strong>in</strong>det Smilla bei Esajas’ Beerdigung die sechseckige Form se<strong>in</strong>es Sarges mit der Entstehung<br />

von Schneekristallen: „[Kisten] er heksagonal. Iskrystaller har på et vist tidspunkt denne form“ (12) [„[Der Sarg]<br />

ist sechseckig. Zu e<strong>in</strong>em bestimmten Zeitpunkt nehmen Eiskristalle diese Form an.“ (10)]. Am Ende, als Smilla<br />

Tørk aufs Eis treibt, stellt sie auch hier explizit die Parallele zur ersten Szene des Romans her: „De hvide felter,<br />

hvor sneen er blevet liggende, danner heksagoner i mørket“ (434) [„Wo der Schnee liegengeblieben ist, bilden<br />

die weißen Felder <strong>in</strong> der Dunkelheit Sechsecke.“ (514)]. Esajas’ schneebedeckter sechseckiger Sarg verb<strong>in</strong>det<br />

sich so auf der Erzählebene mit Tørks weißem Grab am Ende – Schnee, Eis und Mathematik umklammern narrativ<br />

die erste und die letzte Szene des Buches.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus lässt sich diese subtile Zahlensymbolik auf den Titel der <strong>Erzählung</strong> übertragen: <strong>Die</strong> Objekte<br />

der Außenwelt nehmen wir über unsere fünf S<strong>in</strong>ne war. Als Abgrenzung von diesen fünf rational wahrnehmbaren<br />

S<strong>in</strong>nen kennzeichnen wir darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>en sechsten, nicht anatomisch erfassbaren S<strong>in</strong>n, der auf die Intuition<br />

oder das ‚Gefühl’ verweist. Smillas fornemmelse for sne, ihre <strong>in</strong>tuitive Vorgehensweise bei der Auslegung<br />

der Spuren wird bewusst <strong>in</strong> Opposition zu den rational erfassbaren Kategorien des Verstandes gesetzt.<br />

Über die <strong>in</strong>haltliche Ebene der <strong>Erzählung</strong> h<strong>in</strong>aus wird Smillas Weltbild mit dem impliziten Verweis auf die<br />

Zahl Sechs als geschlossenes Universum präsentiert, das auf e<strong>in</strong>er narrativen Metaebene den Text r<strong>in</strong>gförmig<br />

umschließt. Damit erweist sich Smillas <strong>Erzählung</strong> e<strong>in</strong> weiteres Mal als fiktives Konstrukt.<br />

74


materiale. Ikke fordi vi véd det er rigtigt, men fordi vi tror dem, der har fortalt os<br />

det. Vi er alle videnskabens proselytter. Og i modsætn<strong>in</strong>g til tilhængerne af de<br />

andre religioner kan afstanden mellem os og præsterne ikke mere overskrides.<br />

(400)<br />

[Wir akzeptieren die Existenz e<strong>in</strong>es runden Erdballs, wir akzeptieren die Existenz<br />

von Atomkernen, die wie Tropfen zusammengehalten werden, von e<strong>in</strong>em sich<br />

krümmenden Raum, von der Notwendigkeit des E<strong>in</strong>griffs <strong>in</strong> das genetische Material.<br />

Nicht weil wir wissen, daß das richtig ist, sondern weil wir denen, die es uns<br />

erzählt haben, glauben. Wir s<strong>in</strong>d allesamt Proselyten der Wissenschaft. Doch im<br />

Gegensatz zu den Anhängern anderer Religionen läßt sich der Abstand zwischen<br />

uns und den Priestern nicht mehr überbrücken. (472)]<br />

<strong>Die</strong> Wirklichkeit, deren objektive, über<strong>in</strong>dividuelle Darstellung die Wissenschaft für sich<br />

<strong>in</strong> Anspruch nimmt, ist e<strong>in</strong> Produkt der menschlichen Vorstellung und kann demnach nur als<br />

Repräsentation, als Deutung und <strong>Erzählung</strong> existieren. <strong>Die</strong> Naturwissenschaft ist damit <strong>in</strong><br />

Smillas Augen nichts weiter als e<strong>in</strong> ideologisches Konstrukt. Entscheidend ist Smilla zufolge<br />

nicht die problematische Konstruktion vorgeblich objektiver ‚Wahrheiten’, sondern vielmehr<br />

die unreflektierte Distanzlosigkeit, mit der wir als Anhänger dieser ‚Religion’ die Ergebnisse<br />

der Wissenschaft annehmen.<br />

Dabei ist Smilla, die an der Universität Mathematik und Glaziologie studierte, selbst e<strong>in</strong><br />

Teil des wissenschaftlichen Apparates. Sie hat mehrere Artikel <strong>in</strong> verschiedenen wissenschaftlichen<br />

Zeitschriften zur Gletschermorphologie veröffentlicht, und ihr fortwährender<br />

Drang Schnee zu kategorisieren zieht sich durch die gesamte <strong>Erzählung</strong>. Smilla hat, so sche<strong>in</strong>t<br />

es, nicht nur e<strong>in</strong> Gefühl für Schnee, sondern auch das nachdrückliche Bedürfnis ihn zu verstehen.<br />

<strong>Die</strong>se Motivation führt sie auf die Naturentfremdung zurück, die sie als K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Grönland<br />

erlebte:<br />

Måske er jeg allerede dér begyndt at ønske at forstå isen. At ville forstå er at prøve<br />

at generobre noget vi har mistet. (39)<br />

[Verstehen wollen heißt, daß wir etwas zurückzuerobern versuchen, was wir verloren<br />

haben. (42)]<br />

Doch bereits ihre Wortwahl verweist auf das grundsätzliche Scheitern dieses Ansatzes,<br />

wie Smilla an anderer Stelle explizit ausführt:<br />

Inderst <strong>in</strong>de véd jeg, at det at ville begribe fører til bl<strong>in</strong>dhed, at ønsket om at forstå<br />

har en <strong>in</strong>dbygget brutalitet, der udvisker det, som forståelsen rækker efter. Kun<br />

oplevelsen er følsom. (233/234)<br />

[Insgeheim weiß ich, daß das Begreifenwollen zur Bl<strong>in</strong>dheit führt, daß der Wunsch<br />

zu verstehen e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gebaute Brutalität verbirgt, die verwischt, wonach das Verständnis<br />

greift. Nur das Erlebnis ist empf<strong>in</strong>dsam. (274)]<br />

Und an anderer Stelle:<br />

75


At forklare et fænomen er at fjerne sig fra det. Når jeg begynder at tale om<br />

Qaanaaq, til mig selv eller andre, er jeg ved igen at have mistet, hvad der aldrig<br />

rigtig har været mit. (184)<br />

[E<strong>in</strong> Phänomen erklären heißt, sich davon entfernen. Wenn ich anfange, mit mir<br />

selber oder anderen von Qaanaaq zu reden, habe ich fast wieder verloren, was nie<br />

richtig me<strong>in</strong> gewesen ist. (216)]<br />

Dem wissenschaftliche Drang zu kategorisieren und zu verstehen ist immer schon e<strong>in</strong><br />

Scheitern e<strong>in</strong>geschrieben, da wir bei der Erklärung e<strong>in</strong>es Phänomens auf die begrenzten Möglichkeiten<br />

der Sprache angewiesen s<strong>in</strong>d. Sprache ist e<strong>in</strong> subjektives, ambivalentes Instrument,<br />

mit dem ke<strong>in</strong>e absolute, allumfassende und objektive Darstellung der Wirklichkeit erreicht<br />

werden kann. Nur wenn wir uns auf das primär Unerklärliche rückbes<strong>in</strong>nen, auf die Intuition<br />

und das Gefühl, s<strong>in</strong>d wir, Smilla zufolge, <strong>in</strong> der Lage etwas <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ganzheit zu begreifen,<br />

da dieses Verständnis dann nicht mehr an die Sprache gebunden ist: „På et eller andet<br />

tidspunkt kommer så måske forståelsen. Den vil da altid være ordløs“ (184). 167<br />

Als Ausweg aus den Unzulänglichkeiten der naturwissenschaftlichen Methode wählt sich<br />

Smilla e<strong>in</strong>en privaten metaphysischen Zufluchtsort, der bewusst ke<strong>in</strong>en rationalen Zugang<br />

gewährt. Ihr absolute space bildet e<strong>in</strong>en Gegenentwurf zum naturwissenschaftlichen Modell,<br />

mit dem Smilla bewusst bricht – feststehende b<strong>in</strong>äre Oppositionen (wie die Dichotomie von<br />

Anfang und Ende, Tod und Leben) werden von ihr aufgelöst und <strong>in</strong> ihrem ganzheitlichen<br />

Weltbild zu e<strong>in</strong>er allumfassenden E<strong>in</strong>heit zusammengefügt. 168 Gegenüber Kritik an ihrer subjektiven<br />

Umdeutung und Auflösung naturwissenschaftlicher Kategorien erwidert Smilla mit<br />

Bezug auf Machs Kritik an Newtons absolute space: „Enhver teoretisk forklar<strong>in</strong>g er en reduktion<br />

af <strong>in</strong>tuitionen“ (47). 169 Und auf eben diese Intuition pocht Smilla, wenn sie Esajas’ Spu-<br />

167 [„Irgendwann kommt dann vielleicht das Verständnis. Es wird dann immer wortlos se<strong>in</strong>.“ (216)].<br />

168 Smilla entlehnt ihr metaphysische Universum explizit an Newtons absolute space:<br />

Newton postulierte die Existenz e<strong>in</strong>es absoluten Raumes, der unendlich, homogen, ewig und unzerstörbar sei<br />

und <strong>in</strong> dem alle Bewegungen relativ zu ihm stattfänden, er selbst also ruhe. Newton benötigten diesen absoluten<br />

Raum als absolutes Bezugssystem bei der Formulierung se<strong>in</strong>er Bewegungsgesetze. Er war sich bewusst, dass<br />

se<strong>in</strong> absoluter Raum e<strong>in</strong> metaphysisches Konstrukt darstellte; er betrachtete ihn bewusst als die göttliche, übers<strong>in</strong>nliche<br />

Komponente se<strong>in</strong>er rationalen physikalischen Gesetze. Für die moderne Physik ist die Postulierung<br />

e<strong>in</strong>es absoluten Raumes jedoch nicht mit naturwissenschaftlichem Denken vere<strong>in</strong>bar. Machs positivistische<br />

Kritik an Newtons absolute space bildete die Grundlage für E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s spezielle Relativitätstheorie, die Raum und<br />

Zeit als <strong>in</strong>dividuelle Phänomene beschreibt und damit die Annahme e<strong>in</strong>es absoluten Raumes (und e<strong>in</strong>er absoluten<br />

Zeit) widerlegt (Vgl. dazu auch Max Jammer: Das Problem des Raumes. Darmstadt, 1960. S. 102ff). Smilla<br />

widersetzt sich hier nicht nur bewusst den Theorien der modernen Physik, sondern auch der Zentralthese des<br />

Poststrukturalismus, derzufolge es ke<strong>in</strong>en zentralen, gegenüber allen anderen ausgezeichneten Punkt, geben<br />

kann. Damit impliziert ihr Weltbild e<strong>in</strong>e subtile Kritik an jeder Form von Wissenschaft.<br />

169 [„Jede theoretische Erklärung ist e<strong>in</strong>e Reduzierung der Intuition.“ (51)].<br />

76


en entgegen der rationalen Auslegung der Behörden deutet und <strong>in</strong>terpretiert. Nur weil sie<br />

ihrem Gefühl vertraut, kommt sie Tørks Komplott auf die Spur. 170<br />

Und Tørks Expedition führt schließlich beide zu dem geheimnisvollen Ste<strong>in</strong> auf Gela Alta,<br />

der sche<strong>in</strong>bar alle <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Bann zieht. Nur Smilla versucht sich bewusst der Fasz<strong>in</strong>ation zu<br />

entziehen, sie lässt andere über den Ste<strong>in</strong> sprechen. Wie Tørk, der für Smilla die Ergebnisse<br />

se<strong>in</strong>er Untersuchungen ausführlich zusammenfasst und ihr schließlich se<strong>in</strong>e Ansicht über die<br />

Natur des Ste<strong>in</strong>es darlegt:<br />

Det er ikke vigtigt, hvordan t<strong>in</strong>gene virkelig forholder sig. Det vigtige er, hvad<br />

mennesker tror. De vil tro på denne sten [...].Mennesker venter på denne sten.<br />

Deres tro og forventn<strong>in</strong>g vil gøre den virkelig. Vil gøre den levende, uanset<br />

hvordan det ellers forholder sig med den. (428/429)<br />

[Es ist nicht wichtig, wie sich die D<strong>in</strong>ge wirklich verhalten. Wichtig ist, was<br />

Menschen glauben. Sie werden an diesen Ste<strong>in</strong> glauben. [...] <strong>Die</strong> Menschen warten<br />

auf diesen Ste<strong>in</strong>. Ihr Glaube und ihre Erwartung werden ihn wirklich machen.<br />

Werden ihn lebendig machen, gleichgültig, welche Bewandtnis es tatsächlich mit<br />

ihm hat. (507)]<br />

Mit dieser Aussage offenbart Tørk postmodernes Gedankengut. Ebenso wie Smilla deutet<br />

er die Wirklichkeit als Produkt der subjektiven menschlichen Vorstellung. Für Tørk, den studierten<br />

Biologen, führt das Scheitern des objektiven Anspruchs unweigerlich zum Zusammenbruch<br />

der <strong>in</strong>stitutionalisierten Naturwissenschaft. 171 Tørk ist jedoch gerissen und skrupellos<br />

genug, um aus dieser Erkenntnis se<strong>in</strong>e eigenen Vorteile zu ziehen. Anstatt über die Problematik<br />

der naturwissenschaftlichen Methode weiter zu reflektieren, akzeptiert er die nicht<br />

kategorisierbare Bedeutungsvielfalt des Ste<strong>in</strong>es und <strong>in</strong>strumentalisiert ihn kurzerhand für se<strong>in</strong>e<br />

kapitalistischen Zwecke. Für Tørk bedeutet die postmoderne Erkenntnis lediglich e<strong>in</strong>e weitere<br />

Möglichkeit Geld und Ruhm zu vermehren. <strong>Die</strong> Wissenschaft und auch die Postmoderne,<br />

die über die Wissenschaft reflektiert, bergen demnach immer schon e<strong>in</strong> Macht<strong>in</strong>strument <strong>in</strong><br />

sich, das von rücksichts<strong>lose</strong>n Machtmenschen wie Tørk hervorragend <strong>in</strong>strumentalisiert werden<br />

kann. Smilla fasst diese Erkenntnis zusammen, wenn sie den Ste<strong>in</strong> als Symbol der westlichen<br />

Haltung <strong>in</strong>terpretiert:<br />

170 Und darauf verweist der Titel plakativ. Angesichts Smillas umfangreichen erlernten Wissens über Schnee<br />

wäre es schließlich ebenso angebracht, von Frøken Smillas viden om sne [Fräule<strong>in</strong> Smillas Wissen über Schnee]<br />

zu sprechen.<br />

171 „Videnskabens begrænsede mulighed for at forklare har altid optaget mig. Nu mit eget felt, biologien, den<br />

hviler på zoologiske og botaniske klassificer<strong>in</strong>gssystemer der alle er brudt sammen. Som videnskab har den ikke<br />

mere noget grundlag“ (417) [„<strong>Die</strong> begrenzten Erklärungsmöglichkeiten der Wissenschaft haben mich immer<br />

beschäftigt. Man braucht nur me<strong>in</strong> eigenes Gebiet zu nehmen, die Biologie. Sie basiert auf zoologischen und<br />

botanischen Klassifikationssystemen, die alle zusammengebrochen s<strong>in</strong>d. Als Wissenschaft hat sie ke<strong>in</strong>e Grundlage<br />

mehr.“ (493)].<br />

77


Pludselig er det heller ikke for mig vigtigt om den lever. Pludselig er den et<br />

symbol. Omkr<strong>in</strong>g den udkrystalliseres i dette øjeblik den vestlige naturvidenskabs<br />

holdn<strong>in</strong>g til verden omkr<strong>in</strong>g den. Beregnetheden, hadet, håbet, frygten, forsøget på<br />

at <strong>in</strong>strumentalisere. Og over alt andet, stærkere end nogen følelse for noget<br />

levende: pengebegæret. (429)<br />

[Plötzlich ist es auch für mich nicht mehr wichtig, ob der Ste<strong>in</strong> lebt. Plötzlich ist er<br />

e<strong>in</strong> Symbol. Um ihn kristallisiert sich <strong>in</strong> diesem Augenblick die Haltung, die die<br />

westliche Naturwissenschaft zur Welt um sich herum e<strong>in</strong>nimmt. <strong>Die</strong> Berechnung,<br />

der Haß, die Hoffnung, die Angst, der Versuch zu <strong>in</strong>strumentalisieren. Und über allem<br />

anderen, stärker als irgende<strong>in</strong> Gefühl für etwas Lebendiges: die Geldgier.<br />

(508)]<br />

Für Smilla ist nicht nur die vorgeblich neutrale wissenschaftliche Position e<strong>in</strong>e Illusion,<br />

letztendlich läuft auch <strong>in</strong> der Wissenschaft alles auf e<strong>in</strong>en Macht- und Gelddiskurs h<strong>in</strong>aus. So<br />

dient die Ölplattform Greenland Star ebenso wie die geplante Jo<strong>in</strong>t-Venture-Warrior nicht<br />

nur der Ölförderung und damit kapitalistischen Zwecken, sie kann ebenso als Symbol für den<br />

westlichen Drang zu erobern betrachtet werden, wie Jakkelsen es Smilla gegenüber formuliert:<br />

„Med denne her har de vundet over havet, mand“ (343). 172<br />

Am Ende aber scheitert Tørk mit se<strong>in</strong>em Versuch den Ste<strong>in</strong> zu vere<strong>in</strong>nahmen genauso wie<br />

die Expeditionen vor ihm. Der geheimnisvolle Meteorit aus dem Weltall, dessen Ursprung<br />

weder zeitlich noch räumlich lokalisierbar ist, entzieht sich als Meta-Objekt auf doppelte<br />

Weise jedem Versuch der Kategorisierung. Wenn es schon auf der Erde, mit unseren begrenzten<br />

menschlichen Deutungsmöglichkeiten, unmöglich ist, e<strong>in</strong>e objektive, allumfassende Position<br />

e<strong>in</strong>zunehmen, dann muss erst recht der Versuch scheitern, e<strong>in</strong>en Gegenstand vollständig<br />

zu erfassen, dessen Ursprung im Weltall und damit außerhalb unseres s<strong>in</strong>nlichen Wahrnehmungsvermögens<br />

liegt. Insofern ist der Ste<strong>in</strong> nicht nur e<strong>in</strong> Symbol für den westlichen Eroberungsdrang,<br />

wie Smilla es formuliert, sondern auch Symbol für das Scheitern der westlichen<br />

Wissenschaft mit ihrem Drang zu kategorisieren und zu erobern. Der undurchdr<strong>in</strong>gliche Ste<strong>in</strong><br />

bleibt nach wie vor auf Gela Alta und entzieht sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Polyvalenz jedem Versuch e<strong>in</strong>er<br />

sprachlichen oder konkreten Inbesitznahme.<br />

Smilla erkennt diese Tatsache an. Sie entzieht sich bewusst den vielfältigen Versuchen<br />

den Ste<strong>in</strong> zu erklären. Esajas’ Fall konnte sie noch deuten und abschließen, da se<strong>in</strong> Tod e<strong>in</strong>en<br />

Bruch ihres subjektiven Universums bedeutete, der mit Tørks herbeigeführtem Tod wieder<br />

geschlossen werden konnte. Der Ste<strong>in</strong> h<strong>in</strong>gegen entzieht sich ihrem Weltbild und wird damit<br />

explizit nicht zum Gegenstand ihrer Geschichte. In e<strong>in</strong>er letzten narrativen Geste verweigert<br />

sich Smilla als Erzähler<strong>in</strong> und lässt den Text unvermittelt abbrechen:<br />

172 [„Mit dem D<strong>in</strong>g haben sie das Meer besiegt, Mann.“ (405)].<br />

78


Fortæl os, vil de komme og sige til mig. Så vi forstår og kan afslutte. De tager fejl.<br />

Det er kun det man ikke forstår, man kan afslutte. Det kommer ikke til nogen<br />

afgørelse. (435)<br />

[Erzähl uns, werden sie kommen und zu mir sagen. Damit wir verstehen und abschließen<br />

können. Sie irren sich. Nur was man nicht versteht, kann man abschließen.<br />

<strong>Die</strong> Entscheidung bleibt offen. (516)] 173<br />

Ebenso, wie sich für den zeit<strong>lose</strong>n Ste<strong>in</strong> weder Anfang noch Ende ausmachen lassen, verweigert<br />

Smilla dem Text selbst e<strong>in</strong>e solche absolute Kategorisierung. Jeder Versuch, ihn <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er undurchdr<strong>in</strong>glichen Polyvalenz dennoch zu deuten, oder mit Smillas Worten ausgedrückt,<br />

über ihn zu erzählen, ihn sprachlich zu erfassen, würde e<strong>in</strong>e Reduzierung oder Instrumentalisierung<br />

bedeuten, wie das Beispiel Tørks zeigt. Im Gegensatz zu Tørk führt Smilla die<br />

<strong>Erzählung</strong> jedoch bewusst nicht fort.<br />

Smilla verweigert dem Text <strong>in</strong> Bezug auf den Ste<strong>in</strong> nicht nur das konventionelle Ende, sie<br />

reflektiert hier abschließend noch e<strong>in</strong>mal explizit ihre Rolle als Erzähler<strong>in</strong> – Smilla ist ebenso<br />

wie die Wissenschaft auf die Sprache angewiesen um ihr Weltbild, ihre Geschichte darzulegen.<br />

Der Ausweg aus diesem Dilemma besteht für Smilla nun dar<strong>in</strong>, den subjektiven Charakter,<br />

der <strong>in</strong> jedem sprachlichen Handeln liegt, anzuerkennen und vor allem bewusst zu machen<br />

– die eigene <strong>Erzählung</strong> zu reflektieren und den Text als subjektives Konstrukt, als Fiktion<br />

ohne jeden objektiven Anspruch offen zu legen. Mit dem unerwarteten Abbruch ihrer <strong>Erzählung</strong><br />

löst Smilla diese Forderung e<strong>in</strong>. Sie verweigert sich nicht nur dem wissenschaftlichen<br />

Drang, das Phänomen zu erklären und die <strong>Erzählung</strong> fortzuführen, sie bricht auch mit ihrer<br />

<strong>Erzählung</strong> selbst und verweist damit abschließend auf deren fiktiven Charakter.<br />

173 Wobei die deutsche Übersetzung („<strong>Die</strong> Entscheidung bleibt offen“) hier leider die Worte des dänischen Orig<strong>in</strong>als<br />

entschärft: „Det kommer ikke til nogen afgørelse“ [„Es kommt zu ke<strong>in</strong>er Entscheidung“]. <strong>Die</strong> deutsche<br />

Übersetzung legt uns e<strong>in</strong>e mögliche Entscheidung nahe, während die Aussage des Orig<strong>in</strong>als restriktiv jede abschließende<br />

Deutung verh<strong>in</strong>dert.<br />

79


5 <strong>Lauter</strong> <strong>lose</strong> <strong>Enden</strong>? – Frøken Smillas Poetik<br />

Auf der <strong>in</strong>haltlichen Ebene zitiert Frøken Smillas fornemmelse for sne e<strong>in</strong>e Vielzahl von<br />

Diskursen, Gattungen, symbolischen und <strong>in</strong>tertextuellen Verweisen. Ebenso wie Smilla, die<br />

sich nicht <strong>in</strong>nerhalb gesellschaftlich normativer Kategorien auf e<strong>in</strong>e fixierte Identität festlegen<br />

lässt, entzieht sich der Text jeder e<strong>in</strong>heitlichen, zentralisierenden Kategorie. Alles fragmentiert<br />

und driftet ause<strong>in</strong>ander; Reales mischt sich mit Fantastischem, Profanes mit Bedeutendem.<br />

Statt dem Leser e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Form, e<strong>in</strong>en zentralen Diskurs zu präsentieren, laufen<br />

die Handlungen <strong>in</strong>- und ause<strong>in</strong>ander, die ambivalenten Figuren wandeln sich, Bedeutung und<br />

S<strong>in</strong>n wird fortwährend verschoben.<br />

<strong>Høegs</strong> Poetik <strong>in</strong> Frøken Smilla zielt bewusst auf diese Brechungen ab. Indem er traditionelle<br />

Gattungen zitiert, evoziert er stereotype Erwartungen beim Leser, die dann bewusst<br />

gebrochen werden. S<strong>in</strong>n und Deutungsmöglichkeiten werden dem Leser so gleichzeitig angeboten<br />

und wieder entzogen. E<strong>in</strong>e Traditionsfortsetzung f<strong>in</strong>det nicht statt. Den Text kennzeichnen<br />

vielmehr ironische Brechungen und pastichehaftes Spiel mit den zitierten Formen.<br />

Høeg verweist <strong>in</strong> Frøken Smilla auf zentrale poststrukturalistische und postmoderne Thesen.<br />

Handlungen laufen <strong>in</strong>s Leere und die Diskurse mit ihrer dezentrierenden und problematisierenden<br />

Kraft bleiben offen und ungelöst – der Text entzieht sich so bewusst jeder e<strong>in</strong>deutigen<br />

und abschließenden Interpretation.<br />

Aber Høeg bricht nicht nur auf <strong>in</strong>haltlicher Ebene die unterschiedlichen Figuren, Handlungen<br />

und Diskurse. Indem er mit Smilla e<strong>in</strong>e personale Erzähl<strong>in</strong>stanz e<strong>in</strong>setzt, die ihre eigene<br />

Erzählsituation reflektiert, schreibt er dem Text e<strong>in</strong>en metaliterarischen Diskurs e<strong>in</strong>, der<br />

die <strong>Erzählung</strong> selbst <strong>in</strong> Frage stellt. Und Smilla bricht schließlich mit dem Text, wenn sie<br />

entgegen allen offenen, heterogenen und gebrochenen Diskursen des Textes ihr eigenes subjektives,<br />

abgeschlossenes und homogenes Universum als e<strong>in</strong>heitsstiftenden Gegenentwurf zur<br />

Außenwelt präsentiert. Smillas metaphysischer und hermetischer absolute space läuft so allen<br />

naturwissenschaftlichen und poststrukturalistischen Thesen zuwider.<br />

Es s<strong>in</strong>d Widersprüche wie dieser, die den Text letztendlich charakterisieren – e<strong>in</strong>erseits<br />

bemüht sich Høeg die zitierten Diskurse offen und undeutbar zu gestalten, andererseits verzichtet<br />

Høeg nicht auf moralische Aspekte, wenn er dem Text e<strong>in</strong>e Figur wie Esajas e<strong>in</strong>schreibt,<br />

die dezidiert auf e<strong>in</strong>en Diskurs verweist, der nicht gebrochen wird und so e<strong>in</strong> Plädoyer<br />

für vernachlässigte und misshandelte K<strong>in</strong>der darstellt. Auch mit dem fortgesetzten Leiden<br />

der Grönländer unter den postkolonialen Verhältnissen formuliert er e<strong>in</strong>en gesellschaft-<br />

80


lich sensiblen Diskurs, der jeder Ambivalenz zum Trotz ‚ernst’ genommen werden will. <strong>Die</strong>se<br />

Widersprüche werden nun im Text nicht weiter gebrochen oder reflektiert, und bewirken daher<br />

e<strong>in</strong> Gefühl der Verwirrung beim Leser, der am Ende nicht so recht weiß, was er nun glauben<br />

soll. Aber auch dies mag Teil von <strong>Høegs</strong> Poetik se<strong>in</strong>. Schließlich reflektiert Smilla ihr<br />

Erzählverhalten und weist so darauf h<strong>in</strong>, ihre <strong>Erzählung</strong> als subjektive Geschichte zu rezipieren.<br />

Solchermaßen ist sie aber nur Smilla selbst zugänglich, wie die stellenweise dunkle und<br />

mystische Metaphorik zeigt, die sie <strong>in</strong> Bezug auf ihr Weltbild formuliert und die sich jedem<br />

rationalen Deutungsversuch ‚von außen’ entzieht. Damit läuft aber der Text selbst Gefahr,<br />

ebenso wie der mysteriöse unauflösbare Ste<strong>in</strong> im Meer der Beliebigkeit und Bedeutungslosigkeit<br />

zu vers<strong>in</strong>ken.<br />

Lutz Rühl<strong>in</strong>g wertet das Ende des Romans <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf die pr<strong>in</strong>zipielle Unauflösbarkeit<br />

des Ste<strong>in</strong>s positiv, da es „den <strong>in</strong>strumentalisierenden Tendenzen der westlichen Wissenschaft<br />

und ‚der Vernunft’ e<strong>in</strong>en unüberw<strong>in</strong>dbaren Widerstand entgegensetzt“. 174 Dabei ist es gerade<br />

Tørk, der verdeutlicht, wie auch postmoderne Gedanken <strong>in</strong>strumentalisiert werden können.<br />

Tørk vermag se<strong>in</strong> Umfeld zu manipulieren, da er ebenso wie Smilla die pr<strong>in</strong>zipielle Unauflösbarkeit<br />

des Ste<strong>in</strong>s erkennt und akzeptiert, dass die ‚wahre’ Bedeutung des Ste<strong>in</strong>s auch hier<br />

erst im subjektiven S<strong>in</strong>n, <strong>in</strong> der Deutung jedes e<strong>in</strong>zelnen aufgeht. So lässt er den Mechaniker<br />

glauben, er sei auf e<strong>in</strong>er Schatzjagd, bei der am Ende als Belohnung Diamanten auf ihn warten,<br />

die objektiv nicht im Ste<strong>in</strong> zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. Vom subjektiven Standpunkt aus sche<strong>in</strong>t so<br />

alles möglich zu se<strong>in</strong>, jede Zuschreibung ist ebenso ‚wahr’ wie ‚falsch’. Das postmoderne<br />

Paradigma, objektive Bedeutung zu negieren und tabuisieren, S<strong>in</strong>n und Bedeutung ausschließlich<br />

als subjektive Kategorien anzuerkennen, lässt sich damit, wie Tørk zeigt, hervorragend<br />

als Instrument zur Manipulation missbrauchen.<br />

Das grundsätzliche Problem ist, wie Smilla erkennt, die Sprache selbst, die <strong>in</strong> ihrer Polyvalenz<br />

immer schon e<strong>in</strong> Instrument der Macht darstellt, ob nun im <strong>Die</strong>nst e<strong>in</strong>er Wissenschaft,<br />

e<strong>in</strong>er Ideologie oder e<strong>in</strong>er <strong>Erzählung</strong>. Und da Smilla selbst auf die Sprache angewiesen ist,<br />

um ihre Geschichte zu erzählen, besteht für sie letztendlich nur die Möglichkeit, sich der <strong>Erzählung</strong><br />

selbst zuletzt zu verweigern. Tørk aufzuhalten und die ‚<strong>Erzählung</strong>’ des Ste<strong>in</strong>s zu beenden<br />

gel<strong>in</strong>gt Smilla schließlich nur durch e<strong>in</strong>e narrative Geste. Smillas subjektive Flucht aus<br />

der <strong>Erzählung</strong> bedeutet jedoch ke<strong>in</strong>e tiefergreifende Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der sprachlichen<br />

Problematik, sondern nur e<strong>in</strong>e symbolische Aufschiebung.<br />

174 Rühl<strong>in</strong>g: <strong>Die</strong> Entmächtigung der Metaphysik, S. 278.<br />

81


6 Bibliographie<br />

Primärtext:<br />

– HØEG, PETER: Frøken Smillas fornemmelse for sne. København, 1999.<br />

– HØEG, PETER: Fräule<strong>in</strong> Smillas Gespür für Schnee. Aus dem Dänischen von Monika<br />

Wesemann. Re<strong>in</strong>bek bei Hamburg, 1996.<br />

Sekundärliteratur:<br />

– BLOCH, ERNST: Philosophische Ansichten des Detektivromans. In: Jochen Vogt (Hg.):<br />

Der Krim<strong>in</strong>alroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München, 1998. S. 38–51.<br />

– BREMER, ALIDA: Krim<strong>in</strong>alistische Dekonstruktion: Zur Poetik der postmodernen Krim<strong>in</strong>alromane.<br />

Würzburg, 1997.<br />

– BRECHT, BERTOLT: Über die Popularität des Krim<strong>in</strong>alromans. In: Jochen Vogt (Hg.):<br />

Der Krim<strong>in</strong>alroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München, 1998. S. 33–37.<br />

– BRYLD, CARL JOHAN ET.AL. (Hg.): Dansk litteratur fra runer til graffiti. Viborg 1996.<br />

S. 276–278.<br />

– BUTLER, JUDITH: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M., 1991.<br />

– CALVOCORESSI, PETER: Who’s who <strong>in</strong> der Bibel. München 2 , 1991.<br />

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