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Panzergrenadier - Klaus Weniger

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165<br />

5 <strong>Panzergrenadier</strong><br />

9. /Ers. u. Ausb. Rgt.<br />

2. Fallschirm- <strong>Panzergrenadier</strong>-Division<br />

„Hermann Göring“<br />

Die große Freude meiner Eltern, mich endlich wieder<br />

zu sehen, lässt die Anstrengungen der letzten<br />

Wochen schnell überwinden und fast vergessen.<br />

Die gute Stimmung, die sich wohltuend über die<br />

Familie ausbreitet, wird von dem Brief, der vor Tagen<br />

eingetroffen ist, überschattet. Es ist der offizielle<br />

Brief mit dem Einberufungsbefehl. Die haben es<br />

sehr eilig, denke ich und greife schweigend nach<br />

dem Brief und öffne ihn. Die Eltern bleiben neben<br />

mir, sie wollen schnell erfahren, wohin ich eingezogen<br />

werde. Ja, es ist der Einberufungsbefehl, die<br />

Marschpapiere mit dem Militärfahrschein für die<br />

Reichsbahn. Der Text der Papiere fordert mich in<br />

knapper militärischer Form auf, am kommenden<br />

Tag auf die Reise zu gehen. Selbst der Termin für<br />

meine Ankunft in Westpreußen, auf dem Bahnhof in<br />

Straßburg (Brodnika) liegt fest. Noch nicht einmal<br />

richtig ausschlafen lassen die mich. Seht euch das<br />

an, bereits morgen muss ich mich schon wieder von<br />

euch und der Familie verabschieden. Ich fühle es<br />

deutlich, wie mich das Militär mit festem Griff eingefangen<br />

hat. Verärgert stopfe ich die amtlichen Papiere<br />

in den aufgerissenen Umschlag. Jede Freude<br />

war mit einem Schlag einfach kalt erschlagen worden.<br />

„Nur keinen Rost ansetzen“, heißt es doch.


166<br />

Hast du das schon vergessen? Natürlich nicht, aber<br />

einmal im eigenen Bett auszuschlafen, das hätten<br />

sie mich doch lassen können.<br />

Die Familienmitglieder stellen sich auf die Verabschiedung<br />

des jüngsten Familienmitgliedes ein.<br />

Man sieht in mir auch keinen jugendlichen mehr.<br />

Und morgen, wie werde ich den dritten Abschied<br />

überstehen? Und dann wird es einen Abschied geben,<br />

der mehr Fragen aufwirft, als beantwortet werden<br />

können. Wie lange werde ich wegbleiben?<br />

Wann werde ich wieder kommen? Werde ich überhaupt<br />

wieder zurückkommen? Ich habe keinerlei<br />

Vorstellungen von dem, was mich ab morgen erwartet.<br />

Vorsorglich werde ich eine Schutzmauer um<br />

mich herum aufbauen. Daran kann dann alles, auch<br />

meine Furcht vor dem Unbekannten, abprallen.<br />

Jetzt stelle ich alle in mir aufkeimenden Vorahnungen<br />

erst einmal ab. Ich muss es tun, weil ich überleben<br />

will. Die Eltern sollen meine Schutzmauer<br />

nicht merken. Ab jetzt werde ich auch für meine<br />

Familienangehörigen nicht mehr offen zugänglich<br />

sein. Ich weiß nicht, wie ich mich meinen Eltern gegenüber<br />

verhalten soll, damit ihnen der Abschied<br />

nicht so schwer fällt. Es ist mein eiserner Wille und<br />

die mir anerzogene Disziplin. Ich will überleben.<br />

Weil ich nur noch an meine Reise denke, beschäftige<br />

mich schon sehr früh, noch vor dem Aufstehen,<br />

mit dem Kofferpacken. Die eine Nacht im eigenen<br />

Bett hat mir keinerlei Ruhe gebracht. Es wird in der<br />

Familie nicht ausgesprochen, was jeden vor dem<br />

Abschied bewegt. Meine Eltern finden keine Worte.<br />

Mir erscheinen sie übernervös. Wir wissen es, der<br />

heutige Abschied wird einer für eine lange Zeit sein.<br />

Ich bin für jede Minute dankbar, die in Ruhe ver-


167<br />

geht. Ohne Grund, nur um die Zeit totzuschlagen,<br />

suche ich hier und greife da. Es ist ein sinnloses<br />

Tun. Wer kann in den Augenblicken ermessen und<br />

es aussprechen, wie das Leben in diesem verdammten<br />

Krieg, mit all den zu erwartenden Prüfungen,<br />

weitergehen wird? Es kommen keine Antworten.<br />

Zwischendurch ertappe ich mich beim Blick auf<br />

die Armbanduhr. In der nächsten Stunde werde ich<br />

mit dem Eilzug den Bahnhof meiner Heimatstadt<br />

verlassen. Fragen und Antworten gleiten mir, wie<br />

die Zeit, ungefragt und unbeantwortet, zwischen<br />

meinen Fingern davon. Innerlich bin ich bereits auf<br />

meiner Reise. Die in unserem Alter mit sechzehn<br />

Jahren zum Militär einberufenen jungen Männer<br />

verlassen ihr Heim und ihre Familie. Noch erkennen<br />

wir nicht den harten Bruch in unserem Leben. Diesen<br />

werden wir erst zu einem späteren Zeitpunkt,<br />

wenn überhaupt verstehen. Morgen werde ich mich<br />

wieder in eine neue Kameradschaft einfügen. Und<br />

für jeden meiner künftigen Kameraden wird die<br />

Entwicklung zum Einzelkämpfer innerhalb der Gemeinschaft<br />

weitergehen. Wir haben Kenntnis von<br />

den großen Menschenverlusten an den Fronten.<br />

Trotzdem hoffen die meisten von uns auf ein Wiedersehen.<br />

Ich verschwende keinen Gedanken an<br />

meine Zukunft. Da sind Kameraden, die sich aufgegeben<br />

haben. Sie haben es zu Hause auf eine besondere<br />

Art vermittelt, dass sie das Gefühl haben,<br />

nicht wiederzukehren. Trotz aller unterschiedlichen<br />

Gedankenfetzen, die sich mit Unwägbarkeiten herumschlagen,<br />

fühle ich mich von der Hoffnung und<br />

vom Vertrauen begleitet, ja getragen: ich werde den<br />

Krieg überleben. Es ist sicherlich zum Zeitpunkt der<br />

Abreise nur ein Wunsch von vielen, den ich mit mir


168<br />

forttragen werde. Mit diesen Vorstellungen habe ich<br />

mich dann nicht mehr beschäftigt. Mein, nur Stunden<br />

dauernder Kurzaufenthalt zu Hause, verursacht<br />

in mir emotional belastende, kalte und heiße Gefühlsduschen.<br />

Mir fehlt einfach die Fähigkeit mit<br />

meinen Gefühlen umzugehen. Etwas Schmerzhaftes<br />

kommt, wenn auch nur unterschwellig, in mir<br />

hoch. Ich spüre den Druck des Abschieds jetzt sehr<br />

deutlich. „Wenn du in den Zug einsteigst, sage ich<br />

mir, dann bist du dir darüber im Klaren, jetzt wird es<br />

bitterer Ernst. Ich werde die seelischen Belastungen<br />

so gut wie möglich verdrängen. - - Nur jetzt keine<br />

Gefühle zeigen. - - Ablenken! - - Kommt der Zug? - -<br />

- Hoffentlich dauert es nicht mehr so lange. Die Gegenwart<br />

scheint festzustehen, sie bleibt an mir hängen!<br />

Über die Dauer meiner Abwesenheit von meiner<br />

Familie, von meinem Zuhause, bestimmt nun<br />

das Militär: Die Dauer des Einsatzes als Luftwaffenhelfer<br />

lag nicht fest. Beim RAD waren es genau<br />

acht Wochen. Das System der zwingt uns zur eisernen<br />

Selbstbeherrschung. Der Abschied geht weiter.<br />

„Versprich es mir, dass du gut auf dich aufpasst!<br />

- - Ja - - - sei bitte vorsichtig! - - - Ja und komm bald<br />

wieder heim! - - Ja“. Das sind die guten Wünsche,<br />

die mir meine Mutter zuruft. Und ich empfinde all<br />

diese guten Wünsche und Aussagen der Mutter als<br />

peinlich. Und auch mein ständiges „Ja!“ Das kann<br />

doch keine Antwort sein. Das „Ja“ ist mir beim zweiten<br />

Mal schon lästig. Das „Ja“ ist nur eine stereotype<br />

Reaktion. Und wie soll ein 16 Jähriger auf die<br />

guten Wünsche der Mutter antworten? Weil ich mit<br />

der Situation nicht umgehen kann, habe ich innerlich<br />

längst abgeschaltet. Das „Ja“ ist jedoch nicht<br />

als ein Echo zu erklären. Nein, derjenige, der ver-


169<br />

abschiedet wird, nimmt die guten Wünsche als eine<br />

Art Liebeserklärung der Mutter willig und gehorsam<br />

in sich auf. Es darf aber niemand dabei sein und<br />

dieses hören. Die zwischen der Mutter und dem<br />

Sohn bestehenden unausgesprochenen Bindungen<br />

und Gefühlsregungen gehen nur die beiden etwas<br />

an. Und so versteht die Mutter das „Ja“ als mehr als<br />

nur eine simple Reaktion. Dieses alles gehört zum<br />

Ritus zwischen den beiden. Ob Außenstehende so<br />

ein Gespräch als kalt oder unfreundlich empfinden,<br />

interessiert die zwei überhaupt nicht. Die Wünsche<br />

und Hoffnungen graben sich bei beiden tief und unauslöschbar<br />

ein. Bis an das eigene Lebensende<br />

wird er sich an die innigen Wünsche der Mutter zum<br />

Abschied erinnern. Sie haben nun in mir bereits<br />

mehr als ein halbes Jahrhundert überlebt. Mit meinem<br />

Koffer in der Hand marschiere ich mit schnellen<br />

Schritten zum Bahnhof. Mit dem Eilzug verlasse<br />

ich heute Mittag nicht nur meine Heimatstadt zum<br />

dritten Mal, nein, nun auch unwiderruflich meine<br />

Jugendzeit. Meine Reise geht in die unbekannte<br />

Zukunft. Hoffentlich an einen Ort, der weit hinter der<br />

Front liegt. „Was kennst du denn schon von der<br />

Front“ - - fragt mich unerwartet meine innere Stimme.<br />

Sie erwartet eine Antwort. Was ich von der<br />

Front kenne? Nichts! - -Was ich zu kennen glaube,<br />

das habe ich nur gehört oder in den Wochenschauen<br />

gesehen. Es werden im Kino, so ist es bekannt,<br />

die von den Kriegsberichterstattern an verschiedenen<br />

Fronten aufgezeichnete Filme gezeigt. Das sage<br />

ich zu mir, mit voller Überzeugung. Denkste!<br />

Laut spüre ich „Denkste“ als Antwort. Denn bevor<br />

die Filmaufnahmen mit den Berichten in der Wochenschau<br />

der Öffentlichkeit gezeigt werden, müs-


170<br />

sen die ausgewählten Sequenzen geschnitten und<br />

von der Propaganda bearbeitet werden. Anschließend<br />

kommen die laufenden Bilder mit zackiger<br />

Militärmusik und mit „Siegesfanfaren“ unterlegt an<br />

die Öffentlichkeit. Es wird ständig auf die positiven<br />

Leistungen unserer tapferen Krieger hingewiesen.<br />

Gefallene deutsche Soldaten und vernichtetes<br />

deutsches Kriegsgerät, findet man nicht in der Wochenschau.<br />

Filmausschnitte abgeschossener und<br />

brennender sowjetischer Panzer liefert nur die<br />

Feindseite. Berichte von eigenen Verlusten sieht<br />

kein Volksgenosse. Vielleicht ist es technisch nicht<br />

möglich. Der Rückzug der „Deutschen Wehrmacht“<br />

beginnt auf breiter Front im Osten nach dem Verlust<br />

der 6. Armee in Stalingrad Anfang 1943. Es kann<br />

keinen erneuten Vormarsch ohne Halt und Umkehr<br />

geben. Und ohne neue, unverbrauchte aktive Militärkräfte,<br />

das sind frische, noch unerfahrene Soldaten.<br />

Wie sollen dann die Siege kommen? Neuerdings<br />

heißt es sinngemäß: Der Marsch geht an allen<br />

Fronten kämpfend zurück. „Verbrannte Erde“ ist<br />

es, was wir im Osten zurücklassen. Ich habe das<br />

Gefühl: die gewaltigen Explosionen sollen uns junge<br />

Männer auf unsere gewaltigen Leistungen hinweisen,<br />

die unsere Frontkämpfer erbringen. Viele der<br />

unmittelbar nacheinander folgenden Explosionen<br />

gehören einfach nicht zusammen. Eine Manipulation<br />

mit den Filmabschnitten, lassen in mir einen<br />

Zweifel an der Echtheit aufkommen. Ich vermute<br />

stark, dass es sich um gesammelte Aufnahmen, die<br />

aus verschiedenen Zeiten stammen. Der Vernichtungskrieg<br />

erlebt jedoch noch weitergehende Steigerungen.<br />

Es gibt nur noch die erbarmungslose,<br />

barbarische und radikale Zerstörung und Vernich-


171<br />

tung des Feindes. Wird sich der Krieg dabei selbst<br />

zerstören? Und so absurd es auch klingen mag,<br />

genau zu diesem Zeitpunkt des Nachdenkens<br />

befinde ich mich, in dieser Phase des wahnsinnigen<br />

Krieges, mit meinen jungen künftigen Kameraden<br />

auf unserem Weg in den Krieg. Zu einem Zeitpunkt,<br />

wo es nicht mehr vorwärts, sondern nur noch zurück-<br />

geht. Und ich bin auf dem Wege nach Westpreußen.<br />

Ist das - die Ostfront? All diese Gedanken<br />

werden tapfer an die Seite geschoben. Unsere HJ-<br />

Führer haben uns immer nur auf positive Ergebnisse<br />

an den Fronten eingeschworen. Und heute? Was<br />

bedeutet es, wenn man von Frontbegradigungen<br />

hört? Frontbegradigungen sind gleichbedeutend mit<br />

Rückzugs-bewegungen. Dieses passt auf keinen<br />

Fall in unser Gefühlsleben. Schon gar nicht in unsere<br />

Erwartungen, die wir noch durch unsere Verblendung<br />

an den Krieg haben. Das ist bestimmt nur ein<br />

Trick, den die Feindpropaganda über uns ausgießt.<br />

Innerlich werden die Aussagen nur mit dem Bleistift<br />

registriert und unter Verschluss gehalten. So werden<br />

wir die Meldungen, wenn sie sich „hoffentlich<br />

als unrichtig“ herausstellen, wieder ausradieren. Bei<br />

nächster Gelegenheit stellt sich dann heraus, mit<br />

der Rücknahme unserer Truppe an der Stelle X haben<br />

wir mit einem gelungenen Manöver und einer<br />

seitlich geführten Zangenbewegung eine Armee des<br />

Feindes eingekesselt und vernichtet. Wer ahnt oder<br />

weiß es, was der Wahrheit entspricht. Jede positive<br />

Meldung produziert in uns jungen Männern Stolz.<br />

Wir haben, wenn auch vielleicht nur für den nächsten<br />

Augenblick, weil wir nun wieder vorausblicken<br />

können, auf das Ausradieren der alten Meldungen<br />

verzichtet. Es ist uns völlig gleichgültig, ob die Mel-


172<br />

dungen auch den Tatsachen entsprechen und die<br />

echten Plätze beschrieben werden. Meine Gefühle<br />

für meine Sicherheit und meine Unsicherheit<br />

gewinnen wechselweise Oberhand. Also, so<br />

schlimm, wie ich es mir manchmal vorstelle, kann<br />

es und wird es wohl doch nicht an der Front sein.<br />

Dabei denke ich fast zeitgleich wieder an die vielen<br />

Todesanzeigen. An die, mit den Hakenkreuzen in<br />

der Tagespresse. Es ist ein fortwährender Wechsel<br />

in der Selbsttäuschung. Ich erkenne es aber nicht.<br />

Entweder will ich nicht oder ich kann es nicht. Wir<br />

noch bartlosen Männer wollen noch viel erleben.<br />

Wir können uns keiner Täuschung von außen beugen.<br />

Die Todesanzeigen mit dem Eisernen Kreuz in<br />

der Tageszeitung verdränge ich jetzt lieber wieder.<br />

Diese Todesanzeigen gelten auch unseren gefallenen<br />

Schulkameraden. Und schon ist alles wieder<br />

da. Die Gedanken können nicht abgestellt werden.<br />

Was ist mit den Todesanzeigen, die mit dem „Eisernen<br />

Kreuz“ versehen sind? Ich bekomme keine<br />

Antwort, weil ich die Frage mir selbst stelle. Wen<br />

soll ich fragen? Und so wird die Sache einfach unerledigt<br />

abgelegt. Die gewaltige Propagandamaschine<br />

hat im Verlauf des Krieges die Qualität ihrer sensitiven<br />

Ohren laufend gesteigert. Gehen dieser Einrichtung<br />

Gerüchte mit negativem Inhalt von den Volksgenossen<br />

ins Netz, dann folgen von der Propaganda<br />

die Siegesfanfaren. Während des Wehrmachtsberichts<br />

positive Schlagzeilen bringt und zum Abschluss<br />

stramme Marschmusik aus dem Radio erklingt.<br />

Diese mitreißenden Takte der Militärmusik<br />

veranlassen dann die Menschen, auch noch vor<br />

heller Begeisterung, im Takt mit den Fingern auf die<br />

Tischplatte zu trommeln. Spätestens zu diesem


173<br />

Zeitpunkt haben sich die schmerzhaft empfundenen<br />

Gedanken nach Niederlagemeldungen wieder aufgelöst.<br />

Sie sind stets auf der Lauer, bei nächster<br />

Gelegenheit erscheinen sie wieder drohend. Auch<br />

meine Gedanken haben sich nicht aufgelöst, sie<br />

haben sich versteckt. Sie gehen ohne Pause und<br />

Übergang, auf die unmittelbare Zukunft gerichtet,<br />

ununterbrochen weiter. Was auf uns, auf meine<br />

neuen Kameraden und auf mich wartet, liegt noch<br />

so weit weg. Zunächst werden wir eine Ausbildung<br />

erhalten und dann werden wir schon sehen. Einen<br />

zusätzlich erforderlichen Seelenpanzer werde ich<br />

mir am besten jetzt zulegen. Der wievielte es sein<br />

wird, weiß ich nicht mehr. Der Panzer soll mich vor<br />

den Auswirkungen der Gedanken, die mich ständig<br />

bedrohen, und den latent vorhandenen Ängsten,<br />

schützen. Im Bahnhofsgebäude und auf dem Bahnsteig<br />

warten viele uniformierte Männer verschiedener<br />

Waffengattungen sowie Reisende in Zivil. Sie<br />

alle müssen heute nach Berlin. Der Eilzug wird doch<br />

nicht hier eingesetzt, der kommt doch von weit her.<br />

Der ist bestimmt schon überladen. Na, hoffentlich<br />

kann ich mir einen Platz im Zug verschaffen. Was<br />

soll ich machen, wenn mich der Zug nicht mitnimmt?<br />

Wie soll ich dann pünktlich in Brodnika<br />

sein? Der Mittagseilzug ist, wie befürchtet, restlos<br />

überfüllt. Er rollt langsam in den Bahnhof ein. Luft<br />

schnappen. Fenster runter lassen. Der normale<br />

Einstieg wird verwehrt. Wer in den Zug will, der<br />

muss durchs Fenster. Die Mitreisenden mit ihren<br />

Koffern und andere unförmige Gepäckstücke heben<br />

und schieben sich gegenseitig irgendwie in den<br />

Zug. Trotz der herrschenden Enge helfen sich die<br />

Menschen gegenseitig. Denn jeder Einzelne ist ir-


174<br />

gendwann auf die Hilfe eines anderen Menschen<br />

angewiesen. Vielleicht ziehen sie, weil im Westen<br />

von den Bomben verjagt von einem kleinen Keller<br />

nun in einen größeren Keller irgendwo im Osten, wo<br />

sie sich mehr Sicherheit erhoffen. Die Gründe, in<br />

diesen Zeiten auf die Reise zugehen sind vielfältig.<br />

Ich denke: viele Menschen sind nur in Bewegung,<br />

weil sie keine Ruhe mehr finden. Was die Mitreisenden<br />

im Osten erwartet, können sie nicht erkennen.<br />

Wir alle sind in diesem Zug auf der Suche unterwegs.<br />

Es ist kurz nach 12°° Uhr. In der nächsten<br />

Minute erhalten wir das Zeichen für die Abfahrt.<br />

Zwei gute Stunden sind es bis zum Potsdamer-<br />

Bahnhof in Berlin. Knapp 200 Kilometer trennen<br />

mich vom ersten Zielbahnhof. Sitzplatz? Nein, daran<br />

denke ich nicht. Früher habe ich die Fahrt nach<br />

Berlin auch meistens stehend erlebt. Ich hatte damals<br />

immer eine bessere Sicht im Seitengang. Bedächtig<br />

setzt sich der Zug, heftig knarrend in Bewegung.<br />

Er rollt in Richtung Osten. Potsdamer Bahnhof,<br />

ich komme. Bei der herrschenden Enge bekommt<br />

man in dem, für maximal 8 Personen eingerichtete<br />

Abteile kaum Luft. Mit mir fahren 14 Personen<br />

im Abteil zusammengepfercht. Das Fenster<br />

bleibt geschlossen. Mit den mir wohlbekannten Bildern<br />

der Landschaft kommen viele meiner Erinnerungen<br />

an Berlin zurück. In wenigen Minuten werden<br />

wir Magdeburg erreichen. Die überladenen<br />

Waggons geben vor jedem Halt kreischende Geräusche<br />

von sich. Bis zum endgültigen Halt auf dem<br />

Hauptbahnhof Magdeburgs schreien die Bremsen.<br />

Ich sehe eine Menschenmenge, die ihr Gepäck geschultert<br />

hat, um den Zug zu stürmen. Mein Koffer<br />

dient mir, nach dem Aus- und Einsteigen, nunmehr


175<br />

als Sitzplatz im Seitengang des Waggons. Ächzend<br />

verlässt der Zug Magdeburg. Polternd rollt er über<br />

die erste Brücke. Noch einmal geht mein Blick auf<br />

die vorbeiziehende Stadt. Auf dem oberen Rand<br />

eines der hohen Häuser erkenne ich noch einen<br />

Namenszug. Und weiter erinnere ich mich: An der<br />

Stirnseite der Brücke, über die der Zug rollt, steht<br />

der Spruch: „Unsereiner trinkt Bodensteiner“. Mit<br />

einem letzten Blick verabschiede ich mich endgültig<br />

von dieser Stadt. Der Elbstrom kommt langsam in<br />

Sicht, und nach einer geräuschvollen Überquerung<br />

der stählernen Eisenbahnbrücke hat der Eilzug die<br />

Stadt hinter sich gelassen. Ich habe viele gute Erinnerungen<br />

an Magdeburg. Nun entschwindet sie und<br />

löst sich in der warmen, sonnendurchfluteten<br />

Herbstlandschaft auf. Ohne Halt geht es mit der<br />

gleichen Geschwindigkeit weiter, und schon passiert<br />

der Zug den Bahnhof von Burg. Auf der Geraden,<br />

wie mit einem Lineal gezogenen Strecke geht<br />

es durch dichten Wald. Es dauert nicht lange, dann<br />

rollt der Zug durch den Bahnhof von Genthin. Fahrplanmäßig,<br />

ebenfalls ohne einen Halt, geht es durch<br />

Brandenburg. Endlich, nach einem kurzen Halt in<br />

Potsdam nähert sich der Zug endlich Berlin. Die gut<br />

zwei Stunden dauernde Fahrt bringt den Zug dicht<br />

an einen Teil der vielen Wasserflächen Potsdams<br />

heran. Der Fahrgast, der diese Gegend nicht kennt,<br />

kann den Eindruck gewinnen, als rolle der Zug<br />

durch die Havel. Endlich, ich kann es kaum erwarten,<br />

so gegen 14.20 Uhr läuft der Zug in die große<br />

Halle des Potsdamer-Bahnhofs ein. Ich bin in Berlin<br />

und freue mich sehr darüber. Endlich wieder echte<br />

Berliner Luft! Früher, als Junge, als ich fast regelmäßig<br />

meine Sommerferien in Berlin verbringen


176<br />

durfte, bin ich hier auf diesem Bahnsteig immer von<br />

Onkel Bruno abgeholt worden. Ich sehe ihn noch,<br />

wie er neben dem einfahrenden Zug stand und<br />

meine Augen gesucht hat. Heute treffe ich nicht auf<br />

seine suchenden Augen. Heute erwartet mich niemand.<br />

In wenigen Stunden verlasse ich Berlin ohnehin<br />

schon wieder. Von meiner Durchreise wissen<br />

meine Familienangehörigen hier in Berlin nichts. Ich<br />

will keine weitere Begrüßung, und vor allem keinen<br />

zweiten Abschied an einem Tag. Mein Fahrziel in<br />

der späten Nacht ist der Ort Strasburg, der in Westpreußen<br />

liegt. Auf der Durchreise an dieser Stelle<br />

zu verweilen, bedeutet mir, neue Eindrücke zu gewinnen.<br />

Ich will sie mitnehmen. Der Potsdamer-<br />

Bahnhof ist größer als in meiner Erinnerung. Ich will<br />

ihn heute in Ruhe besichtigen. Die Reichshauptstadt<br />

hat schon immer allen Ankommenden Beine<br />

gemacht. Wer kann mir schon sagen, ob ich jemals<br />

mein Berlin und den Potsdamer Bahnhof wiedersehen<br />

werde. Das weiche Licht der wärmenden<br />

Herbstsonne bringt mir sofort viele Erinnerungen an<br />

mein Berlin zurück. Der Potsdamer-Bahnhof verlangt<br />

nun meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Nachdem<br />

ich aus dem Zug ausgestiegen bin rieche ich<br />

sie wieder, die „Berliner-Luft-Geruchsmischung“,<br />

und mit ihr die Erinnerung an meine Kindheit. Von<br />

meinem 10. Lebensjahr an bin ich allein Berlin gefahren.<br />

Ich fühlte und fühle mich hier, an diesem<br />

Ort, einfach gut. Mir ist so, als sei ich heute wieder<br />

mit einem „alten Bekannten“ zusammengetroffen.<br />

Die in ihrer Größe beeindruckende Halle des Bahnhofs<br />

nimmt Züge aus nah und fern auf. Die Ankommenden<br />

steigen schnell aus und die Abreisenden,<br />

werden von den Waggons regelrecht eingeso-


177<br />

gen. Alles geschieht in Eile. Bisweilen dringen<br />

Dampf und Qualm der Lokomotiven als Werbung<br />

bis vor die Fahrkartenschalter in der<br />

Bahnhofsvorhalle. Diese Werbung fordert jeden<br />

Reisewilligen auf, sich die Fahrkarte zu kaufen.<br />

Auch hier herrscht ein ständiges Kommen und Gehen.<br />

Ich habe heute nur die Gepäckträger vermisst.<br />

Trotz des Krieges läuft hier scheinbar alles wie früher.<br />

Der Gesamteindruck des Potsdamer Bahnhofs<br />

sagt mir, dass ich mich hier in einer „Kathedrale“<br />

der Eisenbahn befinde. Nur zur Vervollständigung<br />

meiner Gedanken spreche ich das Bild „Kathedrale“<br />

an. Für mich gehören die Dome und großen Kirchen<br />

in die erste Gruppe der Kathedralen. In die zweite<br />

Gruppe gehören die gewaltigen Gebäude, in denen<br />

die Staatsführung regiert, und die öffentlichen Bauwerke,<br />

in denen Banken oder die großen Geschäfte<br />

etabliert sind. Diese Einrichtungen gehören nach<br />

meinem Verständnis zu den Kathedralen der „Weltlichen<br />

Macht“. Auf einen jungen Mann in meinem<br />

Alter, der den Anblick dieser gewaltigen Gebäude<br />

erst seit seiner Besuche im Kriege gewohnt ist, wirken<br />

die übereinander gestapelten Gesteinsmassen<br />

trotzdem erdrückend. In meinen Schulferien habe<br />

ich mir über die “Kathedralen“ keine Gedanken gemacht.<br />

Man sehe nur auf die großformatigen Steine<br />

der Erdgeschosse. Sie bleiben für mich, die steingewordenen<br />

Zeichen der Macht. Von diesen Attributen<br />

werden Menschen nicht zum Besuch eingeladen.<br />

Diese Form der „Macht“ soll nach meinem<br />

Empfinden, das Lebewesen Mensch untertänig machen<br />

und halten. Nach diesen grüblerischen Gedanken<br />

muss ich jetzt in die Wirklichkeit zurückfinden.<br />

Heute wäre ich gern geblieben. Doch diesmal


178<br />

verlasse ich Berlin mit einem mich plötzlich stark<br />

bedrückendem Gefühl. Weiter trage ich mein Berlin<br />

fest in mir. Daran haben auch die vielen<br />

Zerstörungen und Trümmer nichts ändern können.<br />

Doch nun heißt es auch für mich: ‚Du hast zu gehorchen’.<br />

Noch vor Sonnenuntergang werde ich auf<br />

Kosten der Allgemeinheit zu dem schriftlich festgelegten<br />

Zielbahnhof fahren. Durch die Entfernung<br />

von meiner Heimat und den bevorstehenden Abschied<br />

von Berlin verändern sich meine Gefühle. Mit<br />

dem militärischen Befehl in der Tasche, muss ich<br />

mein Berlin verlassen. Nicht um zurück nach Hause<br />

zu fahren. Jetzt spüre ich, wie ich von einer unbekannten<br />

Kraft verdrängt werde. Ich muss mit dem<br />

Zug in eine mir völlig unbekannte Gegend fahren.<br />

Nun wird es Zeit, dass ich zum „Stettiner-Bahnhof“<br />

komme! Auf meinem Fußweg dahin durchlebe ich<br />

Erinnerungen an einen meiner letzten Besuche<br />

1942: Bereits zu Beginn des Krieges, im Herbst<br />

1939, brauchte man schon sehr viel Geduld, um nur<br />

den telefonischen Kontakt innerhalb von Familien<br />

aufrecht zu erhalten. Die Telefonvermittlung für<br />

Ferngespräche, die ausschließlich per Hand über<br />

das Postamt gingen, waren ständig überlastet.<br />

Nach schweren Luftangriffen auf Berlin war es<br />

plötzlich der Wunsch meiner Mutter: Fahr mit dem<br />

Eilzug nach Berlin und erkundige dich, wie es den<br />

Verwandten geht. Onkel Bruno und Tante Emilie,<br />

sie ist eine Schwester meiner Mutter. Wenn sie Hilfe<br />

benötigen, du bist ja da, du kannst ihnen dann tüchtig<br />

helfen. Es ist Anfang des Winters 1942/1943.<br />

Weit im Westen der Reichshauptstadt, etwa am<br />

Westkreuz, musste ich meinen Zug verlassen. Die<br />

Straßen waren trocken und in kalten Nebel und


179<br />

Dunst gehüllt. Aus technischen Gründen, wie es<br />

amtlich hieß, fuhr der Eilzug nicht bis zum Potsdamer-Bahnhof.<br />

Die Strecke war in der letzten Nacht<br />

bombardiert, und noch nicht wieder freigegeben<br />

worden. Über Nebenstraßen marschierte ich zum<br />

Kurfürstendamm. Rechts und links lagen in den<br />

Straßen die Schuttmassen herabgestürzter Fassaden<br />

auf den Bürgersteigen und der Straße. Und<br />

Qualm kam noch aus einzelnen, nicht vollständig<br />

ausgebrannten Häusern. Zwischen dem Schutt lagen<br />

auf den Straßen zerstörte und verstreute Überreste<br />

der Straßenlaternen und der Oberleitungen<br />

der Straßenbahn mit Halteseilen und Verankerungen.<br />

Diese Anker trugen teilweise noch ihre herausgerissenen<br />

dicken Stein- und Mörtel-Pakete.<br />

Zweiflammige Kandelaber mit den zerbrochenen<br />

Glaskörpern lagen kreuz und quer auf der Straße.<br />

Überbleibsel der Kultur, ein Bild vollkommener Zerstörung.<br />

An verschiedenen Stellen sah ich unter<br />

Druck stehende Wasserschläuche, deren Spritzen<br />

abgesperrt waren, am Straßenrand lagen. Mir waren<br />

die feinen Wasserfontänen, die aus den Löchern<br />

beschädigter Schläuche kamen aufgefallen.<br />

Das Wasser verteilte sich in alle Richtungen. Die<br />

Menschen versuchten an dieser Stelle, Reste beweglicher<br />

Güter zwischen den Trümmern freizulegen<br />

und zu bergen. Sonst lag eine bedrückende<br />

Ruhe über dem Geschehen. Weiter waren andere<br />

verzweifelte Menschen dabei, das Feuer in einem<br />

Keller zu löschen. Unter den Luftschutzhelmen und<br />

mit den Feuerwehrspritzen in den Händen, kamen<br />

sie dennoch nicht zur Ruhe. Fahrzeuge, die seit<br />

dem Einsetzen des Fliegeralarms von den Menschen<br />

verlassen wurden, liegen zerstört oder aus-


180<br />

gebrannt herum. Vereinzelte Bombentrichter, teils<br />

gefüllt mit Wasser oder den Resten der Zivilisation,<br />

zeigen das ganze Elend. Die in den frühen Stunden<br />

des Tages anwesenden, sich abmühenden Menschen<br />

waren neben den aufsteigenden Rauchschwaden,<br />

das einzige Lebenszeichen in den Straßen,<br />

durch die ich meinen Weg suchte. Mein Weg<br />

führte mich an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche<br />

vorbei, weiter auf der Tauentzienstraße bis zum<br />

Wittenbergplatz, beim KaDeWe, marschierte ich<br />

rechts ab in Richtung Martin-Luther Straße. Mein<br />

Weg endete am Haus mit der Wohnung der Verwandten.<br />

Ich konnte das vierstöckige Wohnhaus<br />

nicht mehr von der Straßenseite betreten. Ich suchte<br />

und fand den Weg durch das Nebenhaus in der<br />

nächsten Querstraße. Durch den Seiteneingang<br />

kam ich über den Hof und gelangte über die vom<br />

Staub bedeckte, angerostete eiserne Wendeltreppe<br />

die erste Etage und klopfte an die Küchentür. Nach<br />

einer Weile und erneutem Klopfen wurde die Tür<br />

langsam aufgeschlossen aber noch nicht gleich geöffnet.<br />

Sehr zögerlich öffnete sich die Tür. Die Verwandten<br />

standen lebend vor mir. Sie waren erschrocken,<br />

als sie mich in der Tür sahen. „Wo<br />

kommst du denn her?“ Dieses war die erste Frage,<br />

und sie kam wie aus einem Munde. Ich erzählte<br />

ihnen, warum ich komme. Sie waren sehr erfreut<br />

darüber, dass wir uns so um sie besorgt hatten und<br />

sie nicht vergessen waren. Der Bombenkrieg und<br />

die stundenlangen Aufenthalte im Keller haben beide<br />

sehr mitgenommen. Und ich sollte auch gleich in<br />

der ersten Nacht einen Bombenangriff in Berlin erleben.<br />

Ich saß mit ihnen und den anderen Bewohnern<br />

des Hauses im Keller. Es war auf mich, bezo-


181<br />

gen auf Dauer und Schwere ein starker Luftangriff.<br />

So einen Angriff habe ich vorher nicht erleben müssen.<br />

Eine bei jedem Fliegeralarm gegenwärtige<br />

Angst lähmt die Nerven der Menschen. Nicht auszudenken,<br />

bei einem Luftangriff im Keller verschüttet<br />

zu werden, oder durch einen Wasserrohrbruch<br />

im Keller ertrinken zu müssen. Dann folgt die Angst<br />

vor dem Feuer. Vielleicht mit lebendigem Körper zu<br />

verbrennen. Hier habe ich festgestellt: Dem eigenen<br />

Schicksal kann man doch nicht entkommen. Der<br />

gefühllose und andauernde harte Griff der Unruhe<br />

konnte von den fahlen Gesichtern der hilflosen<br />

Menschen abgelesen werden. Als Ventil, um sich,<br />

wenn auch nur vorübergehend, von dem Druck zu<br />

befreien, diente vereinzelt ein Wimmern oder ein<br />

Aufschrei. Der Luftschutzwart, häufig sind es Frauen,<br />

hielt die Hausbewohner hinter den geschlossenen<br />

Kellertüren fest. Die als „Schutzräume“ bezeichneten<br />

Keller unter den vierstöckigen Häusern<br />

sind den Menschen mit der Dauer des Luftkrieges<br />

zum Überleben in der Hausgemeinschaft vertraut<br />

geworden. Zusammengekauert hockten sie auf ihren<br />

angestammten Plätzen. Das nur spärliche elektrische<br />

Licht ließ die Gesichter grau erkennen. Die<br />

fernen und nahen Explosionen einschlagender<br />

Bomben ließen im Keller den Putz von den Wänden<br />

und Decken abplatzen. Dann kam das häufig flackernde<br />

Licht, nach längeren Unterbrechungen endlich<br />

wieder. Das ungute Gefühl vermittelte den<br />

Menschen, das der Fliegeralarm von Mal zu Mal<br />

länger dauerte. Sie alle beteten und hofften für ihr<br />

Überleben. Nach der endgültigen Entwarnung in<br />

dieser Nacht und einem befreienden Aufatmen, ging<br />

es in die Wohnungen zurück. Im Treppenhaus la-


182<br />

gen Trümmer. In der ersten Etage war der von den<br />

Druckwellen der Explosionen angerichtete Schaden,<br />

sofort erkennbar. Die Fenster zur Straße, von<br />

der Wucht des Luftdruckes zersplittert und auseinander<br />

gerissen, waren in die Räume hineingeflogen.<br />

Zwei Halbstein gemauerte Zwischenwände waren<br />

nahezu eingestürzt. Überall in der Wohnung verteilt<br />

lagen die Reste des herausgebrochenen Parkettfußbodens.<br />

Zerbrochene Möbel und die Teppiche<br />

lagen unter dem Schutt des Krieges. Tapetenreste<br />

an den Bruchstücken der umgestürzten Zwischenwände<br />

waren sichtbar. Ohne Pause begannen wir<br />

mit der Schuttbeseitigung. Der übliche Haushaltseimer<br />

war in der Küche ohne Schaden geblieben.<br />

Auf dem Gehweg vor dem Hause wurde der Schutt<br />

der letzten Nacht auf den Schutt der Vortage gekippt.<br />

Glücklicherweise, so, als wäre ein heimlicher<br />

Wunsch seiner Eltern wahr geworden, traf am<br />

nächsten Tag, mein Vetter auf Urlaub aus Nordnorwegen<br />

ein. Wir konnten nun gemeinsam bei der<br />

Herrichtung der Wohnung helfen. Zunächst mussten<br />

die Fenster instand gesetzt werden. Die ausgebrochenen<br />

alten Fensterteile, soweit wir das Holz<br />

verwenden konnten, nagelten wir notdürftig wieder<br />

zusammen. Dann besorgten wir am nächsten Morgen<br />

den ‚Bezugschein für Glasgeweberollen’. Im<br />

Rathaus Schöneberg haben wir, wenn auch nur<br />

widerwillig, - wahrscheinlich wollten die Amtspersonen<br />

den angeblichen kleinen Rest an Glasgewebe<br />

für den nächsten Ansturm strecken - den Bezugschein<br />

erhalten. Sicher hat das ‚Ehrenkleid des<br />

Führers’, - die Wehrmachtsuniform meines Vetters -<br />

dazu beigetragen, dass wir dann das dringend benötigte<br />

Material auch kaufen konnten. In einem La-


183<br />

den im Hinterhof erhielten wir das Glasgewebe.<br />

Sparsam, in kleinen Stücken, haben wir es dann als<br />

‚Lichtspender’ in die Fensteröffnungen genagelt. Ob<br />

es und wie lange es halten konnte? Das wusste von<br />

uns keiner. Unsere Arbeit konnte in der nächsten<br />

Stunde für immer vernichtet sein. Während der<br />

Ausbesserung sagt mein Vetter: ‚Wir haben uns die<br />

Arbeit gemacht, meine Eltern sind darüber froh.<br />

Doch wie lange wird es halten?’ Materialien für Reparaturen<br />

waren nicht mehr zu bekommen. Mit der<br />

Zeit fehlten auch den älteren Menschen die nötigen<br />

Kräfte, um sich zu helfen. Persönlich habe ich nach<br />

meinem Besuch, Anfang Winter 1942/43 keinen<br />

Kontakt mehr mit den Verwandten. Mein Vetter war<br />

nach seinem Urlaub wieder nach Nordnorwegen zu<br />

seiner Einheit zurückgekehrt. Nach einem vergleichbaren<br />

Luftangriff der letzten Tage bin ich dann<br />

zwei Tage später zurück nach Helmstedt gefahren.<br />

Dieses sind Gedanken an die letzten Tage in Berlin.<br />

Nun haben wir Anfang Oktober 1944. Gegen 14,20<br />

Uhr bin ich am Potsdamer Bahnhof eingetroffen.<br />

Den ersten Abschnitt meiner Reise nach Westpreußen,<br />

wo ich mich morgen in der Frühe beim Militär<br />

zu melden habe, habe ich erreicht. Bei meiner Ankunft<br />

herrscht Sonnenschein, und nun laufe ich bei<br />

strömenden Regen mit dem Koffer in der Hand, in<br />

Richtung Stettiner-Bahnhof. Dort soll am Abend der<br />

zweite Abschnitt meiner Reise beginnen. Auf meinem<br />

Fußmarsch zum Bahnhof „Friedrichstraße“<br />

finde ich in einer Seitenstraße eine Filiale von<br />

„Aschinger“. Vielleicht habe ich Glück und kann<br />

noch von der angebotenen „Suppe mit Einlage, ohne<br />

Marken“ etwas bekommen. „Bestecke sind mitzubringen“,<br />

steht da auf dem Aushang. Na ja, und


184<br />

ich habe kein Besteck, was mache ich mit der Suppe?<br />

Nun lese ich noch den kleingeschriebenen<br />

Nachtrag: ‚Besteckausleihe gegen Pfand’. Ich bezahle<br />

die 20 Reichsmark und erhalte einen mit einer<br />

roten Farbe überzogenen, verbogenen Miet-<br />

Blechlöffel. Der soll mir jetzt helfen, dass ich die<br />

undefinierbare Suppe essen kann. Ich denke im<br />

Stillen, die Menschen, die hier häufiger eine Mahlzeit<br />

zu sich nehmen, haben bestimmt immer das<br />

eigene Essbesteck bei sich. Ich betrachte noch<br />

einmal den roten Blechlöffel. Schon habe ich Kontakt<br />

zu meinem Nachbarn. Sei froh, dass der Löffel<br />

eine Farbschicht hat, denn ohne Anstrich würde dir<br />

die Suppe nicht schmecken. ‚Und wo bleiben die<br />

kleinen und kostenlosen Brötchen?’ frage ich. Mein<br />

Nachbar grinst. ‚Was’, höre ich ihn, seine Frage<br />

klingt leise, Kann man hier etwas ohne Brotmarken<br />

bekommen. ‚Hier gibt es kostenlos kleine Brötchen<br />

für den zahlenden Gast?’ Ich antworte mit ‚Ja, das<br />

ist aber schon lange her’. Grußlos, wie wir uns getroffen<br />

haben trennen wir uns wieder. Ich gebe meinen<br />

Teller und den Löffel an der Essenausgabe ab<br />

und stecke die 20 Reichsmark wieder in meine<br />

Geldbörse. Für mich wird es jetzt Zeit. Pünktlich<br />

erreiche ich den Stettiner Bahnhof. Mein Zug nach<br />

Königsberg steht schon am Bahnsteig. Reisende,<br />

die mit und vor mir auf dem Bahnsteig eintreffen<br />

steigen schnell in den Zug ein. Bei dem Regen<br />

bleibt keiner auf dem kalten und zugigem Bahnsteig.<br />

Komisch denke ich, wartet der Zug vielleicht<br />

auf mich? Schnell steige auch ich ein und suche mir<br />

in einem Abteil einen Eckplatz. Ich setze mich in<br />

Fahrtrichtung auf die rechte Seite. Vereinzelt, steigen<br />

nun zu mir einige Menschen, die mit großem


185<br />

Gepäck, in Form von Koffern und Körben auf die<br />

Reise nach Ostpreußen gehen wollen. Ich denke an<br />

den herrlichen Sonnenschein am Mittag. Da war ich<br />

mit einem Bündel<br />

Erinnerungen beschäftigt und jetzt vom Regen wieder<br />

einmal durchweicht, sitze ich im Zug und werde<br />

in Richtung Ostnordost in die Nacht fahren. Meine<br />

Reise wird über Schneidemühl, Bromberg nach<br />

Strasburg, einer kleinen Bahnstation irgendwo in<br />

Westpreußen gehen. Dieser D-Zug fährt nach Königsberg<br />

weiter. Nach einem lang gezogenen Pfeifton<br />

der Lokomotive und dem kräftigen Pfiff der Trillerpfeife<br />

setzt sich der Zug in Bewegung. Draußen<br />

ist es stockdunkel. Der kalte Regen prasselt gegen<br />

die Fenster. Die Zugabteile sind ungeheizt. Die<br />

Feuchtigkeit meines Anzuges geht mir durch und<br />

durch, bis auf die Haut. Die Abteilbeleuchtungen<br />

sind kriegsbedingt abgedunkelt. Allmählich sind die<br />

Umrisse der Mitreisenden und des Abteils schemenhaft<br />

zu erkennen. Die Fenstervorhänge sind<br />

weitgehend zerrissen, die Verdunklungen sind beschädigt.<br />

Nach kurzer Fahrt fallen alle Reisenden,<br />

jeder mit seinem eigenen knurrenden Magen in den<br />

Schlaf. Ihre halboffenen Münder geben unregelmäßig<br />

leise und laute Schnarchgeräusche von sich. Ich<br />

wende mich nach innen und kehre noch einmal auf<br />

die Eindrücke zurück, die ich auf dem Weg vom<br />

‚Potsdamer zum Stettiner’ gewonnen habe. Viel frischer<br />

Trümmerschutt liegt in den Straßen. Abgekämpft,<br />

in gebückter Haltung, versuchen Menschen<br />

mit Schaufeln und Besen die Fahrbahnen zu säubern.<br />

Die vielen zerstörten oder ausgebrannten<br />

Häuser, die vorgestern, gestern und vielleicht erst in<br />

der letzten Nacht vernichtet worden sind sehe ich


186<br />

jetzt an. Nun stehen sie nur noch für mich als Ruinen<br />

in Reih und Glied. Die Überbleibsel von Wohnkultur.<br />

Wie können und werden die vielen Menschen,<br />

die zwischen und in den Ruinen leben<br />

müssen, damit zurechtkommen? Mir bereitet diese<br />

Katastrophe große seelische Schmerzen. In allen<br />

Städten, die ich bisher im Krieg gesehen habe: ob<br />

in Braunschweig, in Hannover, überall sehen<br />

Trümmer gleich aus. Und diese Trümmer und Ruinen<br />

sind es, die sogar den Namen der jeweiligen<br />

Stadt ausgelöscht haben. Trümmer ohne Hoffnung.<br />

Und die Menschen sind innerlich abgestumpft und<br />

tief entmutigt. Ihre Hoffnungen sind von den umgestürzten<br />

Mauern begraben worden. Aus den Trümmern<br />

herausragende und qualmende Ofenrohre<br />

geben die letzten Lebenszeichen der zerstörten<br />

Häuser. Auch wenn die Menschen in den Trümmern<br />

ohnmächtig sind und nichts gegen ihre aussichtslose<br />

Lage unternehmen können, gehen sie weiter<br />

pflichtbewusst, und der Partei folgend, ihrer kriegswichtigen<br />

Arbeit nach. Die um sie herum zerstörte<br />

Welt nehmen sie nicht mehr voll zur Kenntnis. Und<br />

die Partei fordert immer weiter von jedem deutschen<br />

Menschen einen noch stärkeren Einsatz im<br />

Kampf für den ‚bestimmt kommenden Endsieg’. Die<br />

deutschen Menschen dürfen nur noch siegen. Das<br />

ist ihre ‚völkische patriotische Pflicht’. Denn, sollte<br />

das Volk untergehen, dann wird es nur deshalb<br />

sein, weil es nicht genug gekämpft hat.


187<br />

An dieser Stelle möchte ich: den Bildhauer, Graphiker<br />

und<br />

Schriftsteller Ernst Barlach,<br />

1870-1938,<br />

erwähnen.<br />

Ernst Barlach hat über jene unbegreiflichen Prozesse,<br />

die dazu führen, dass Menschen sich wirklich<br />

mit allem abfinden, folgendes formuliert:<br />

„Die Menschen werden sich<br />

mit den unvorstellbaren<br />

Gräueltaten, mit dem Verzicht<br />

auf das Licht zurechtfinden.<br />

Die Dunkelheit über<br />

uns wird sein, als wäre das<br />

Licht nie gewesen und sie<br />

werden sagen, was fragen<br />

wir nach Licht, fort mit Licht<br />

und Helle“.<br />

Aus dem Roman: „Der gestohlene Mond“.<br />

Mein Blick nach innen geht weiter: auf meine letzten<br />

Stunden in der Reichshauptstadt Berlin. Ich denke<br />

an den Anblick, all der Trümmer und all diese in den<br />

Himmel emporragenden Fassaden, mit den leeren<br />

Fensterhöhlen, durch die nie wieder Menschen hinausschauen<br />

werden. Wo die Sonne und der Mond<br />

ins Leere gehen. Wir müssen nur noch diesen Krieg<br />

gewinnen. Also, nur keine Sorgen machen. Wir<br />

werden alles besser aufbauen. Für die Zeit bis zum


188<br />

baldigen Endsieg kommen die kleinen Hakenkreuzfähnchen<br />

aus Papier und die Transparente auf den<br />

Trümmerschutt: „Unsere Mauern brechen, unsere<br />

Herzen nie“. Und: „Führer befiehl, wir folgen dir - -<br />

bis ins Grab“. Den Kriegstoten, den Menschen und<br />

den Papierfähnchen werden weitere Menschen und<br />

Papierfähnchen folgen. Die Fähnchen werden weiter<br />

über den Trümmern flattern, bis zu dem Zeitpunkt,<br />

wo auch sie vom Regen aufgeweicht sind.<br />

Die erschlagenen Menschen werden, wie die Fähnchen,<br />

tiefer unter dem Trümmerschutt verschwinden.<br />

Wofür stehen die Hakenkreuzfähnchen? Wann<br />

werden sie keine Papierfähnchen mehr haben?<br />

Überlebende haben an den Resten der Hauseingänge<br />

mit Kreide Mitteilungen hinterlassen. Sie geben<br />

Auskunft über das Schicksal und den Verbleib<br />

einzelner Personen und Familien, die in den zerstörten<br />

Häusern gelebt haben. Manchmal sind es<br />

mehrere Familienmitglieder, die der Bombenkrieg<br />

gemordet hat. Angehörige und Bewohner finden<br />

sich vor den Trümmern der Häuser ein, in denen sie<br />

selbst einmal gelebt haben. Sie suchen ihre Mitmenschen.<br />

Männer und Väter, die von den Fronten<br />

auf Heimaturlaub kommen, stehen vor den Trümmern<br />

ihres Lebens. Sie müssen auch teilweise den<br />

Verlust ihrer Angehörigen verkraften. Suchende<br />

Fronturlauber, die vor den Resten der Häuser stehen,<br />

in denen sie mit der Familie gelebt haben, und<br />

nun nur noch die Namen ihrer Angehörigen mit<br />

Kreide angeschrieben finden, werden die genannte<br />

Unterkunft aufsuchen. Sie hoffen darauf dort ihre<br />

Angehörigen wieder zu finden. Ihr Wunsch ist nun,<br />

dass diese Bleibe noch existiert. Da sind Soldaten<br />

die aus dem Krieg auf Urlaub kommen oder auf der


189<br />

Durchreise sind, Soldaten, die aus dem Lazarett<br />

kommen, die ihre Angehörigen finden.<br />

Andere Soldaten und Zivilisten, die ihrerseits an<br />

dem Verlust ihrer Familie, ihrer Freunde zugrunde<br />

gehen, suchen eine geeignete Möglichkeit sich zu<br />

töten. Feldgraue, die an dem Verlust zerbrechen,<br />

kehren um und fahren zurück zu ihrer Frontfamilie.<br />

Dort suchen sie zur Erlösung von der Not den Tod<br />

an der Front. Bilder und Erfahrungen haben sich in<br />

mir festgesetzt. Diese Ereignisse, die uns ständig<br />

begleiten, bedrücken mich sehr. Ich bin ein Teil des<br />

Krieges geworden. Ich werde alles mich belastende<br />

weiter verdrängen. Wohl wissend, was alles bisher<br />

geschah, stürme ich weiter. Ab Morgen mit meinen<br />

neuen Kameraden, von der Partei-Propaganda bearbeitet,<br />

marschieren wir gemeinsam in den Krieg.<br />

Während der langen Eisenbahnfahrt in dieser Nacht<br />

ist mir jedes Gefühl für Zeit und Raum abhandengekommen.<br />

Die „Aschinger-Suppe“, die ich nahe<br />

der Friedrichstraße in Berlin verzehrt habe, hat sich<br />

längst verbraucht. Mein Magen schreit lauthals: „Ich<br />

habe Hunger!“ Ich spüre plötzlich, wie sich die Geschwindigkeit<br />

des Zuges abnimmt. Daran erkenne<br />

ich jetzt aus dem leichten Schlaf und meinen Gedanken<br />

erwachend, wieder einen nahenden Bahnhof.<br />

In wenigen Augenblicken wird der D-Zug anhalten.<br />

Mit quietschenden Bremsen steht er dann, wie<br />

festgenagelt. Ich bin hellwach. Mit der Handkante<br />

wische ich die feuchten Ablagerungen von der<br />

Glasscheibe des Abteilfensters. Suchend geht mein<br />

Blick in die Dunkelheit. „Na, das würde mir jetzt<br />

noch fehlen, wenn ich mein Ziel verpasst hätte“<br />

denke ich. Ich bin plötzlich nervös. Was steht da auf<br />

dem unbeleuchteten Bahnhofsschild? - - Ist es


190<br />

Strasburg/Westpr. Hat vielleicht eine Sinnestäuschung<br />

den Namen der Zielstation - nur für mich<br />

erkennbar - aufgemalt? - - - Nein, es stimmt, ich bin<br />

da! - - Schnell raus! - - Mensch, mache hin treibe<br />

ich mich an, bevor der Zug weiterfährt. Mit einem<br />

Satz, so als hätte mich der Zug hinausgeworfen,<br />

stehe ich neben meinem Koffer, in Strasburg im<br />

Regen auf dem Bahnsteig. Da ist kein „Hurra! Ich<br />

bin in Westpreußen!“. Dieses Westpreußen ist für<br />

mich nur ein Landstrich auf der Landkarte. Dort<br />

kann ich ihn finden. Hier, am Bahnhof, sagt mir<br />

„Westpreußen“ und das mitten in der Nacht überhaupt<br />

nichts. Ich habe noch nicht einmal mitbekommen,<br />

ob mit mir noch jemand ausgestiegen ist.<br />

Ein, zwei Türen schlagen zu. Ein Pfiff, und schwerfällig<br />

bewegt sich der Zug vorwärts. Er nimmt wieder<br />

Fahrt auf. Meine Augen treffen noch einmal auf<br />

die an den Einstiegen der Waggons befindlichen<br />

kleinen blassblauen Lichter Ich stehe immer noch<br />

mit meinem knurrenden Magen, meinem Koffer auf<br />

dem Bahnsteig. Wir drei verabschieden uns nun<br />

von dem D-Zug. Ein wehmütiger Blick, als könne ich<br />

mich nicht von dem Zug trennen, folgen meine Augen<br />

den kleiner werdenden, abgedunkelten roten<br />

Lichtern des letzten Waggons. Noch einen Augenblick.<br />

Nun hat sich der Zug in der Dunkelheit und im<br />

niedergehenden Sprühregen aufgelöst. „Ach, was<br />

soll ich in denn in Königsberg?“ Hier ist mein Ziel.<br />

Mit einem Schlag hat mich die Wirklichkeit wieder.<br />

Der Regen verhindert ein ungehindertes Aufschauen.<br />

Das Bahnhofsgebäude ist nicht recht zu erkennen.<br />

Um mich herum absolute Leere. Die Außenbeleuchtung<br />

ist ausgeschaltet. Bei dem Dreckswetter<br />

und mitten in der Nacht auf diesem Bahnsteig,


191<br />

komme ich mir zum ersten Mal in meinem Leben<br />

abgemeldet und verlassen vor. Ich ziehe mit<br />

meinem Koffer los. Nach gut fünfzig Schritten stehe<br />

ich vor einer hohen doppelten Tür. „Warteraum für<br />

Reisende“ steht schwarz auf dem weißen Emailschild.<br />

Ich öffne den rechten Türflügel und betrete<br />

einen großen, abgedunkelten Raum. Meine Schritte<br />

höre ich auf den geölten Dielenbohlen. Die Stiefel<br />

hinterlassen nasse Abdrücke. Eine blassgelb wirkende<br />

Funzelbeleuchtung hängt an einer langen<br />

Leitung von der Decke herab. Die hinteren Ecken<br />

des Raumes liegen, vom Mobiliar verdeckt, im Dunkeln.<br />

Mir kommt es vor, als sei ich in einer Friedhofskapelle<br />

gelandet. Hier herrscht Grabesstille.<br />

Sind hinter dem schwarzen, samtenen Tuch Bilder?<br />

Als ich den Raum vor einigen Augenblicken betrat,<br />

hat sich sofort ein seltsamer Geruch in meiner Nase<br />

festgesetzt. Es ist eine Mischung aus Fußbodenöl,<br />

faulenden Kartoffeln und feuchtem Kalk. Als Einziger<br />

habe ich für diese Nacht hier Zuflucht gefunden.<br />

Nach und nach zeigen sich mir die Einrichtungsgegenstände.<br />

Bei der Betrachtung der Theke aus<br />

dunklem Holz. denke ich wegen der Größe an einen<br />

Fürstensarg. Allein im diesem Warteraum sitze ich<br />

an dem hölzernen, hellgescheuerten Tisch. Den<br />

metallisch glänzenden Rand der Theke nehmen<br />

meine Augen zur Kenntnis. Sie umarmen anschließend<br />

den in der Ecke stehenden runden, gusseisernen<br />

Ofen. Er präsentiert sich in seiner ganzen<br />

Schönheit und Größe. Das leicht geknickte Ofenrohr,<br />

das hinter der jetzt kalten Wärmequelle angebracht<br />

ist, zeigt wie ein riesiger schwarzer Zeigefinger<br />

fast senkrecht in die Höhe. Das Rohr hält sich<br />

an der getünchten Wand fest. Mich friert beim An-


192<br />

blick des Ofens. Was soll es, es ist Krieg, da macht<br />

es doch nichts aus, wenn man eine Nacht ohne<br />

Wärme verbringt. Selbst eine Mehrzahl von kalten<br />

Nächten würde mir nichts bedeuten. Diese Tatsache<br />

erinnert mich sofort an meine Luftwaffenhelferzeit,<br />

damals im Lager bei Immendorf. Die Müdigkeit<br />

lässt alle Gedanken an den Wärmespender absterben.<br />

An meinem Holztisch bleibe ich sitzen. Den<br />

Kopf habe ich auf die Unterarme gelegt. Ich schlafe<br />

endlich in meinen klammen Sachen ein. Von Zeit zu<br />

Zeit wache ich nur deshalb auf, weil mir die Arme<br />

eingeschlafen sind. Nur mein vor Hunger grollender<br />

Magen begleitet meinen Schlaf. „Es gibt nichts zu<br />

essen“. - Mit dem Gedanken: Hoffentlich löscht<br />

niemand das Licht, falle ich in einen bleischweren<br />

Schlaf. Doch nach Minuten, so scheint es mir, bin<br />

ich wieder hellwach. Kommt da vielleicht noch ein<br />

späterer Zug in der Nacht? Oder erst gegen Morgen?<br />

Mit der Hoffnung, auf dem richtigen Bahnhof<br />

gelandet zu sein, schlafe ich dann zwischendurch<br />

wieder ein. Draußen wütet der Regen ohne Pause.<br />

Später weckt mich ein Bediensteter der Reichsbahn.<br />

Leicht gerädert, aber schon wieder hellwach,<br />

springe ich auf, schnappe meinen Koffer und treffe<br />

auf dem Bahnsteig einige junge Männer die wohl<br />

gerade mit dem Zug angekommen sind. Na, Gott<br />

sei Dank, diese Nacht hat ja nur ein paar Stunden<br />

gedauert. Ohne „Großen Bahnhof“ werden wir von<br />

einem Uniformierten unserer Truppe auf einem<br />

Fahrzeug in Marsch gesetzt und kommen noch am<br />

späten Vormittag, kurz vor Einbruch der erneuten<br />

Dunkelheit, im Lager an. Für mich ist es an diesem<br />

Tag nicht richtig hell geworden. Sicher liegt es an<br />

der Jahreszeit und an der Ortslage im Osten. Mit


193<br />

Stacheldraht umzäuntes Gelände wird von mehreren<br />

Doppelposten bewacht.<br />

Der Dauerregen arbeitet immer noch kräftig. Den<br />

Rest des Weges marschieren wir durch knöcheltief<br />

schlammigen Untergrund. Mit dem Dreck an den<br />

Stiefeln betreten wir eine neue Baracke. Sie ist kalt<br />

und feucht. Es riecht nach frischem Holz und nach<br />

Bittermandelöl. Aus Mangel an Sitzgelegenheiten<br />

setzen wir uns auf geschlossene graue Holzkisten.<br />

Nun warten wir, wie gelernt, geduldig wie Schafe,<br />

auf die Verpflegung. Werden wir heute noch eingekleidet?<br />

Wo haben die hier ihre Kleiderkammer? Ist<br />

dieser große Raum mit den gestapelten Kisten unsere<br />

Unterkunft? Wo werden wir schlafen? Wir<br />

müssen feststellen, dass es mit der Einkleidung<br />

heute nichts wird. Hier ist überhaupt kein Betrieb.<br />

Mit uns, den Figuren in Zivil, kann man gar nichts<br />

anfangen. Wir stammen, der Gedanke entwickelt<br />

sich so nach und nach, sicher aus einer Fehlbestellung,<br />

und wir sind nun die Fehlsendung. Es dauert<br />

noch lange, dann erhalten wir Essen und Trinken.<br />

Wir sitzen und jeder erhält zum Kommissbrot eine<br />

dicke Scheibe Jagdwurst und einen Becher mit lauwarmem<br />

Malzkaffee. Die dicke Scheibe Jagdwurst<br />

trocknet vor unseren Augen ein. Fragen von uns<br />

kommen keine. Was sollten wir und wen können wir<br />

fragen? Wir haben doch nur zu Antworten. Es<br />

herrscht allgemeine Funkstille Diese erste Nacht<br />

verbringen wir in der Baracke. Wir sitzen weiter auf<br />

den mit Schießpulver gefüllten Kisten. Heute, wo ich<br />

noch einmal den Text überarbeite, stelle ich fest,<br />

dass es bereits damals Verbindungen zu dem<br />

Schiesspulver gegeben hat. Das Schießpulver war<br />

für uns das kommende Kanonenfutter bestimmt.


194<br />

Unseren Aufenthalt, in diesem von aller Welt verlassenen<br />

Lager, haben wir uns ganz anders<br />

vorgestellt. Unsere Erwartungen, haben wir viel zu<br />

hoch angesetzt. Die Soldaten im Lager Rippin, würden<br />

sich auf uns angehende Soldaten freuen. Wir<br />

sind doch gekommen, so war der Gedanke, um mit<br />

ihnen nach unserer Ausbildung endlich in den Krieg<br />

zu kommen. An die Front! Was sollen wir später<br />

berichten, wenn wir hier nur in der Baracke sitzen.<br />

Doch die Annahme war bereits im Ansatz falsch.<br />

Wir machen den Kameraden, die hier ihren Dienst<br />

leisten, nur zusätzliche Arbeit. Sie nehmen uns<br />

noch nicht einmal zur Kenntnis. Welch eine Ernüchterung<br />

macht sich in diesen Stunden in mir breit.<br />

Außerhalb des eingezäunten Lagers sehen wir gelegentlich<br />

Soldaten. Sie sind immer zu zweit unterwegs.<br />

Über dem Mantel tragen sie geschultert das<br />

Gewehr, den Stahlhelm auf dem Kopf und je zwei<br />

Stielhandgranaten zwischen dem Mantel und Koppel.<br />

Nur durch die geschlossenen Fenster können<br />

wir unsere Beobachtungen machen. Wir kommen<br />

nicht vor die Tür. Das heißt: wir sind in der Baracke<br />

selbst nur festgesetzte Zivilisten. Voll Stumpfsinn,<br />

Leere und Langeweile vergehen die Stunden, Tage<br />

und Nächte. Hier lernen wir die „Hohe Schule“ des<br />

Soldatenlebens kennen: Es ist das Warten! Wie<br />

heißt es doch: „Die längste Zeit des Lebens wartet<br />

der Soldat vergebens“. Früher habe ich diesen<br />

Ausdruck als einen Spaß angesehen, heute spüre<br />

ich die Wahrheit. Draußen herrscht Sauwetter! An<br />

die einzelnen Uhrzeiten für unsere Versorgung mit<br />

der Nahrung und Getränken kann ich mich nicht<br />

mehr erinnern. Mir erscheint es, als läuft die Versorgung<br />

regelmäßig. Es fehlt mir die Erinnerung, ob


195<br />

wir in den Tagen eine ordentliche Waschmöglichkeit<br />

benutzen konnten. Selbst an die beim Militär<br />

vorhandene Latrine erinnere ich mich nicht. Unser<br />

Gepäck steht immer noch ungeöffnet an der Stelle,<br />

an der wir sie nach unserer Ankunft abgestellt haben.<br />

Unsere Kleidung ist über die Tage und Nächte<br />

längst am Körper getrocknet. Beim nächsten Regen,<br />

der auch für uns kommt wird sich die Kleidung<br />

wieder dehnen. Mein Anzug ist wie die allgemeine<br />

Kleidung eine echte Kriegsausgabe! Die früher üblichen<br />

Stoffe, gibt es nicht mehr. In den Kriegsjahren<br />

kommen nach und nach Stoffe zur Verarbeitung, die<br />

im allgemeinen Sprachgebrauch, aus „Kartoffelkraut“<br />

hergestellt werden. Jedenfalls war die am<br />

Körper getrocknete Kleidung geschrumpft. So enden<br />

die Ärmel der Jacke fast am Ellenbogen und<br />

die Hosen haben Hochwasser. Mit Erkältungen,<br />

Halsschmerzen und Schnupfen haben wir dank der<br />

Spritzen keine Probleme. Das kennen wir nicht.<br />

Nach etwa vier Tagen werden wir ohne jede Ankündigung,<br />

wieder mit unserem Gepäck in Marsch<br />

gesetzt. Ohne eine Erklärung, wohin es gehen wird,<br />

bringt uns ein Befehl unserer Einheit wieder in Bewegung.<br />

Mit einem LKW und später zu Fuß geht es<br />

weiter. Kommen wir vielleicht, an einen noch trostloseren<br />

Ort, als an den vorigen? Vielleicht können<br />

wir das Warten woanders noch besser lernen. Wir<br />

verlassen im Regen den Ort der grenzenlosen Öde.<br />

Völlig von der Umwelt abgekapselt, haben wir die<br />

Tage und Nächte wie „Sträflinge“ abgesessen. Ich<br />

blicke nicht zurück. Unser gemeinsames Ziel für<br />

heute ist ein von den Militärs willkürlich festgelegter<br />

Haltepunkt ohne Bahnsteig, irgendwo an einer Eisenbahnlinie.<br />

Auf keiner Landkarte ist diese Stelle


196<br />

als „Haltestelle“ vermerkt. Wir noch Zivilisten erreichen<br />

zu Fuß die vorgesehene Stelle am doppelten<br />

Schienenstrang. Das Erlebnis und die Erfahrungen<br />

mit „Rippin“ in Westpreußen, vergessen wir ganz<br />

schnell. Auf der mannshohen Böschung und einer<br />

aufgehäuften Schotterunterlage liegen Holzschwellen,<br />

die den doppelten Schienenstrang tragen. Vor<br />

uns liegen, etwa in Augenhöhe die Gleispaare. Ich<br />

sehe auf die Köpfe der Schwellen. Nach einer Weile<br />

erkenne ich, die vom Regen glänzenden S-förmigen<br />

Klammern, die in die Stirnseiten der Schwellen eingeschlagen<br />

sind. An diesen S-Klammern halten sich<br />

meine Augen fest. Die S-Klammern ziehen mich in<br />

ihren Bann. Ich fühle, wie sie mich anblinzeln. Sie<br />

scheinen mich zu fragen: ‚Was suchst du hier? - - -<br />

Hau bloß ab! - - Wir wollen schlafen’. Stumpf und<br />

wortlos warten wir. An einem langsam lauter werdenden,<br />

schnurrenden Rollgeräusch eiserner Räder<br />

erkennen wir, dass ein Zug kommt. Der feine Dauerregen<br />

hat nach einer kurzen Pause, seine Tätigkeit<br />

wieder voll aufgenommen. Zögerlich trudelt der<br />

Zug heran und bleibt mit lautem Quietschen stehen.<br />

Die Lokomotive schnauft und die Speisewasserpumpe,<br />

sie gehört zum Dampfkessel, gibt einen<br />

gleichbleibenden Takt an. Wie von Geisterhand gesteuert,<br />

werden von innen nacheinander zwei Waggontüren<br />

geöffnet. Die Waggons müssen mit Menschen<br />

und ihrem Gepäck überfüllt sein, denn man<br />

kann von außen ihre Füße sehen. Und da sollen wir<br />

auch noch einsteigen? - - - „Steigen Sie ein und<br />

halten Sie den Eisenbahnbetrieb nicht auf“, überschlägt<br />

sich eine schnarrende Militärstimme, von<br />

den Soldaten, die uns hierher begleitet haben. Der<br />

Einstieg wird außerordentlich schwierig. Jeder von


197<br />

uns Zivilisten ist gezwungen, die Böschung und den<br />

schräg ansteigenden Schotterunterbau<br />

des Gleiskörpers zu überwinden. Mit großer Anstrengung<br />

erreiche ich mit einer Hand die erste Stufe<br />

des Einstiegs. Über die drei Stufen am Ein- und<br />

Ausstieg, zieht sich jeder nach und nach, das Gepäck<br />

vor sich herschiebend, abwechselnd mit der<br />

einen und der anderen Hand empor. Nach einigem<br />

Knurren haben wir es endlich geschafft. Wir dringen<br />

als Fremdlinge in den Transportzug ein und sind im<br />

Waggoninneren angekommen. Wir haben die vor<br />

uns stehenden Menschen weiter in die Enge gedrückt.<br />

Der letzte Absatz des Stiefels eines Kameraden<br />

ist noch fast draußen, da wird die Tür von<br />

außen mit voller Wucht zugeschlagen. Der mit einem<br />

Schlag nach oben springende Bügel der<br />

Schließeinrichtung landet, wegen des fehlenden<br />

Schutzbügels, mit einem heftigen Schlag in seinem<br />

Rücken. Und das nur, weil er nicht schnell genug im<br />

Waggon war. Den heftigen Schmerz des kraftvollen<br />

Schlags kommentiert er mit ‚Verdammte Sch.....’<br />

Und von draußen höre ich noch: ‚Na, die sind wir<br />

nun endlich wieder los’. Welch ein Stumpfsinn! Wären<br />

denn die Kameraden, die wir hier zurück lassen,<br />

nicht lieber mit uns mitgefahren? Wer weiß das<br />

schon. Ich denke: bei den älteren Soldaten, die hier<br />

mit uns zur Haltestelle gekommen sind, kommen<br />

die gleichen Anzeichen nach innerer Ablehnung.<br />

Genauso, wie bei den älteren Munitionskanonieren,<br />

damals an der „AchtAcht“. Nach meiner Ansicht<br />

kann die bei den Soldaten übliche Verblödung wohl<br />

kaum noch gesteigert werden. Mein Empfinden wird<br />

dabei noch von dem dauernden Regen und der<br />

Vorwinterlichen Zeit gestärkt. Was werden die Män-


198<br />

ner dieser Einheit in Rippin machen, wenn die Sowjets<br />

ihren Vormarsch in Richtung Westen<br />

vorantreiben? Der Zug rollt weiter. Dass er rollt, das<br />

habe ich wirklich gar nicht mehr mitbekommen. Zunächst<br />

sind wir damit beschäftigt, Platz für uns und<br />

unser Gepäck zu organisieren. Auf dem verdreckten<br />

Fußboden, im schmalen Seitengang des Waggons,<br />

schieben, heben und drücken wir unsere Gepäckstücke.<br />

Na endlich, wir fallen auf und zwischen<br />

sie. An Schlaf ist nicht zu denken. Erst vor sich hin<br />

dämmern, dann wegen Übermüdung und vor Hunger<br />

einschlafen. Mit unserer immer noch feuchten<br />

Kleidung nehmen wir die kleinen Wasserlachen unserer<br />

Gepäckstücke vom Fußboden auf. Zu den<br />

Toiletten und den Waschmöglichkeiten, gibt es keinen<br />

Zutritt. Diese kleinen Räume sind, wie wir durch<br />

die geöffnete Tür erkennen, bis zur Decke mit Reisegepäck<br />

und Ausrüstungsgegenständen vollgestopft.<br />

Und keiner der Anwesenden Wehrmachtsangehörigen<br />

wird in der Nacht von seinem Sitzplatz<br />

aufstehen. Sie warten nun nicht mehr ungeduldig<br />

auf das Ziel der Reise. Sie haben sich eingerichtet.<br />

Sie sitzen alle völlig bewegungslos auf ihren erkämpften<br />

Sitzplätzen. Keiner spürt die Beckenknochen<br />

des Nachbarn. Daran haben sie sich auch<br />

schon lange gewöhnt. Sie schwitzen das Wasser<br />

aus ihren Körpern buchstäblich durch die Rippen.<br />

Der Zug rollt weiter durch die Nacht. Über Posen<br />

erreichen wir Frankfurt/Oder. Jetzt steht es wohl<br />

fest. Wir fahren nach Berlin. Es wird bis zu unserem<br />

Ziel noch eine beachtliche Strecke sein. Gott sei<br />

Dank sind die Fenster dicht. Von wegen: „Warmer<br />

Mief ist besser als kalter Ozon“. Und: „Es ist schon<br />

manch einer erfroren aber noch keiner erstunken“.


199<br />

Wenn sie im Zug das gleiche Schicksal haben, so<br />

eng eingepfercht sitzen müssen, dann können sie<br />

auch gemeinsam die immer wieder genutzte Atemluft<br />

teilen. Nach meiner Ansicht gibt es für diese<br />

allgemein eingesetzten Ausdrücke überzeugende<br />

Gründe. Je nach Jahreszeit verhalten sich die Soldaten<br />

entsprechend den herrschenden Wetterverhältnissen.<br />

Bei Kälte hocken sie einfach dichter zusammen.<br />

Sie suchen die Nähe zu dem Kameraden<br />

wegen der Kälte. In den übrigen Zeiten hocken sie<br />

in lockerer Form zusammen. Draußen peitscht der<br />

Regen gegen die von der Nacht ausgefüllten und<br />

geschlossenen Waggonfenster. Verdunklungen sind<br />

nicht vorhanden. Vorhänge in den Abteilen, sofern<br />

man die Stoffreste als solche bezeichnen kann, sind<br />

zugezogen. Es gibt kein Licht. Wo kommen bloß all<br />

die Soldaten her? Ihre vollgestopften Rucksäcke,<br />

hängen von der Decke oder stapeln sich über ihnen<br />

in den Gepäcknetzen bis zur Decke. Ich werde es<br />

nicht erfahren, woher der Zug kommt. Ich frage<br />

nicht. Für die Männer ist es nur wichtig, ungestört<br />

gerollt zu werden. Erst am Zielbahnhof, wo immer<br />

der sein wird, werden die während der Fahrt ausdruckslosen<br />

Menschen langsam zu einer gewissen<br />

Normalität zurückkehren. Diese schlafende, gesichtslose<br />

Masse Mensch wabert und schaukelt im<br />

gleichen Rhythmus, genauso, wie die Räder sich<br />

unter den Waggons an den Achsen der Drehgestelle<br />

drehen. Die rollenden Räder, ihre Sprünge über<br />

die paarweise angeordneten Schienenstöße, rütteln<br />

und schütteln uns ohne jedes Zartgefühl hart durch.<br />

Ich glaube, dass wir am Ende dieser Nachtfahrt völlig<br />

gerädert, mit abgewetzten blanken Nervenenden<br />

am Ziel ankommen werden. Durch die geöffnete


200<br />

Abteiltür, die sich nahe an meinem Kopf befindet,<br />

kann ich meine Umgebung gut erkennen. Mit der<br />

Dauer des Krieges zeigt sich auch hier die unbarmherzige<br />

Wirkung einer mangelnden Versorgung der<br />

Menschen mit Nahrungsmitteln. Es betrifft seit Beginn<br />

des Krieges, seit September 1939, alle Wehrmachtsangehörigen<br />

die durch den Krieg hin und her<br />

pendeln. Denke ich nur an die langen Strecken die<br />

mit der Eisenbahn bewältigt werden. Von den verschiedenen<br />

Fronten im Westen und dann im Osten.<br />

Keineswegs dürfen die Truppenteile, die in Nordeuropa,<br />

bis nach Nordnorwegen und Finnland und die<br />

im Süden, in Italien eingesetzt sind vergessen werden.<br />

Jetzt schreiben wir das Jahr 1944 und etwa<br />

den 10. Tag des Monats Oktober. Durstig, hungrig<br />

und verdreckt, in der Zivilkleidung, die über Nacht<br />

wieder an unseren Körpern getrocknet sind, fahre<br />

ich mit den jungen Männern im gleichen Zug auf<br />

Kosten des Militärs und der Allgemeinheit durch die<br />

Gegend. Mein Geruchssinn ist mir in der Zeit von<br />

dem Einsatz als Luftwaffenhelfer im Januar 1944<br />

bis jetzt so gut wie abhandengekommen. Wahrnehme<br />

ich nur noch den Geruch der Erde, von<br />

brennenden und qualmenden Gegenständen und<br />

den Gestank der Verwesung, der Zersetzung, der<br />

Fäulnis wahr. Waren da sonst noch andere Gerüche?<br />

Mir stellt sich zum Beispiel die Frage nicht,<br />

wann und wo ich mich in den letzten Tagen habe<br />

waschen können. Ich erinnere mich nicht an eine<br />

ordentliche Wasserstelle in Rippin / in Westpreußen.<br />

Hat es da überhaupt sanitäre Anlagen gegeben?<br />

Selbst wenn es all diese Einrichtungen gegeben<br />

haben sollte, dann habe ich sie vollkommen<br />

vergessen. Von sowjetischen Schlachtfliegern blei-


201<br />

ben wir bei dem Sauwetter sicher verschont. Trotz<br />

aller Widrigkeiten der letzten Tage und dieser Nacht<br />

erreichen wir am frühen Morgen Berlin. „Alles aussteigen,<br />

der Zug endet hier!“. Alles funktioniert wie<br />

einstudiert. Einige der Landser holen aus ihren<br />

Rucksäcken den zusammengerollten Mantel heraus<br />

und ziehen ihn über die Uniform. Den Rucksack<br />

nehmen sie auf und marschieren zum Bahnhof hinaus.<br />

Ich sehe, die Soldaten sind nur vereinzelt in<br />

Gruppen erkennbar. Die große Zahl von ihnen verschwindet<br />

allein in der Masse. In dieser Kleiderordnung<br />

erscheinen Frontsol daten seit einiger Zeit im<br />

Straßenbild. ‚Das sieht ungepflegt aus, es ist eine<br />

Schande, dass die Männer so rumlaufen’ müssen.<br />

Selbst in dieser schweren Zeit, finden sich noch<br />

Menschen, die nach Ordnung verlangen. Diese und<br />

vergleichbare Bemerkungen, die Landser hören so<br />

etwas nicht. Anmerken will ich eine Begegnung an<br />

einem U-Bahnhof. Auf den Treppenstufen zu einer<br />

U-Bahnstation in Berlin, sah ich einen Soldaten, der<br />

mit einem zerknitterten Mantel bekleidet, seinen<br />

schweren Rucksack ordentlich auf dem Rücken von<br />

einem Offizier angehalten wurde. Der Fronturlauber<br />

hat den Offizier nicht gegrüßt. Der in seiner sauberen<br />

Offiziers-Uniform Gekleidete machte auf der<br />

Stufe kehrt und forderte den Soldaten lautstark auf,<br />

ihn ordentlich zu grüßen. Die heftige Reaktion des<br />

Soldaten hat den Offizier blass werden lassen. Anwesenden<br />

Zivilisten zeigten sich, schweigend, vom<br />

Mut des Soldaten beeindruckt. Der akkurate Offizier<br />

hat den Frontsoldaten laufen lassen. Was die Männer,<br />

die von irgendeiner Front auf Urlaub kommen,<br />

treibt, ist der Wunsch ihre Familienangehörigen<br />

wieder in die Arme zu nehmen. Wir sind nun auf


202<br />

dem Wege zu unserer Kaserne in Reinickendorf –<br />

Ost. An alten und frischen Trümmern gehen wir<br />

vorbei. Wie sieht es mit der U-Bahn aus? Die U-<br />

Bahn fährt nur eingeschränkt nur auf einigen Strecken.<br />

Mit der S-Bahn? Und wie ist es mit der Straßenbahn?<br />

Ohne Oberleitungen? ‚Das kannste alles<br />

vergessen. Da geht wohl kaum etwas’. Auf beiden<br />

Seiten der Straßen liegen frische Trümmer, und<br />

auch eine vor einigen Minuten auf die Straße herabgestürzte<br />

Hausfront. Der Staub wird noch eine<br />

lange Zeit über dieser Stelle liegen. Der eine oder<br />

andere Straßenbahnzug liegt umgestürzt, ausgebrannt<br />

oder zertrümmert auf oder neben den Schienen.<br />

An vielen Stellen sind die Menschen mit Aufräumungsarbeiten<br />

beschäftigt. Sie schaufeln den<br />

Schutt der zerbombten Häuser von den Straßen in<br />

die Hausreste. Selbst mit Besen versuchen sie<br />

Grund in die Unordnung zu bringen. Seit meiner<br />

Abreise vor einigen Tagen hat sich hier nichts geändert.<br />

Beim Anblick der frischen Trümmerberge, ist<br />

es wohl doch nicht so gut, wieder hierher, nach Berlin<br />

zu kommen. Wir sind auf Befehl einfach wieder<br />

hier. In der Ferne, in Rippin, da sehnte ich mich<br />

nach Berlin. Nach Berlin, das sich über die langen<br />

Kriegsjahre grundlegend verändert hat, nach der<br />

Stadt, zu der ich mich immer hingezogen fühle. Berlin,<br />

ich bin heute zurückgekommen! In Erinnerung<br />

bleiben wird in mir aber nichts anderes von Berlin,<br />

als das Berlin, das ich noch als Junge kennen gelernt<br />

habe. Nur so kann ich Berlin in meinem Herzen<br />

behalten. Gegenwärtig, wo ich das ganze Elend<br />

vor Augen habe, da sind meine Gefühle für diese<br />

Stadt stark belastet. All meine Liebe zu Berlin ist<br />

vom ‚Heute’, wir sind im Oktober 1944, aufgefres-


203<br />

sen worden. Die Wirklichkeit verfolgt jeden von uns<br />

ständig mit dem Bombenkrieg, mit dem Tod und<br />

den Trümmern. Auch ich kann dieser Wirklichkeit<br />

nicht entfliehen. In der Hoffnung, bald eine Mahlzeit<br />

zu erhalten, meldet sich bei mir der Magen mit heftigem<br />

Knurren. Es war ein langer Weg vom Ankunftsbahnhof<br />

bis zum Haupteingang unserer Kaserne.<br />

Jeder von uns Zivilisten sucht für sich, er ist<br />

ja zum Einzelkämpfer erzogen worden, seinen Weg<br />

zur Hauptwache der ‚HG-Kaserne’. Denn jeder hat<br />

von uns den Ehrgeiz dort als erster anzukommen.<br />

Meine Annahme, dass wir nun hier am Stammsitz<br />

der ‚Division Hermann Göring’ freundlich empfangen<br />

werden, war bereits beim Anblick der Wachmannschaft<br />

verschwunden. Auch hier sind wir nur<br />

Zivilisten. Doch irgendwie, ich kann es nicht beschreiben,<br />

machen sie uns Mut. ‚Wenn Sie erst<br />

einmal von den Ausbildern spanlos umgeformt worden<br />

sind, dann werden Sie Soldaten sein’. Wir, sind<br />

es vier oder sind es sechs junge Männer, die auf<br />

dem Umweg über Rippin hier ankommen, marschieren<br />

nun, von einem Unteroffizier begleitet durch ein<br />

gepflegtes, parkähnliches Anwesen. Die Kasernenanlage<br />

scheint riesig zu sein. Wir kommen an zweigeschossigen<br />

Gebäuden vorbei, die einen hellen<br />

Außenanstrich haben. Die Häuser stehen zwischen<br />

Kieferngruppen. Welch ein Kontrast zu dem Aufenthalt<br />

im Lager Rippin / Westpreußen. Eingefasst sind<br />

auch hier, wie beim Reichsarbeitsdienst, die Gebäude<br />

von gepflegten Rasenflächen. Die makellosen<br />

Asphaltstraßen und die geharkten Wege machen<br />

den Eindruck tiefen Friedens. ‚Hier ist es, als<br />

sei Frieden’, stelle ich fest. Die vergangenen Tage,<br />

auch die Trümmer in Berlin verschwinden auf ein-


204<br />

mal aus meinen Gedanken. Die in Augenblicken<br />

wieder gefundene positive Grundeinstellung nun<br />

endlich in die gewünschte Uniform zukommen wird<br />

von der hier herrschenden Ordnung unterstützt und<br />

verstärkt. Weit hinter diesen modernen Gebäuden<br />

stehen am Ende des beachtlichen Geländes, viergeschossige<br />

Bauten für die Rekruten. Diese Gebäude<br />

hinterlassen bei uns, die wir aus Rippin hier<br />

angekommen sind einen starken Eindruck. In meiner<br />

Erinnerung habe ich alte Kasernen mehrstöckige<br />

rote Ziegelsteinbauten. Wir Zivilisten sind nach<br />

der Auffassung des Militärs, junge Männer, die noch<br />

nicht richtig marschieren können. Deshalb heißt es<br />

bei den Ausbildern: ‚Die Rekruten müssen richtig<br />

ans Laufen gebracht werden’. Hier, in dieser Kaserne,<br />

werden wir in einem Umformprozess vom Zivilisten<br />

zum Soldaten gemacht. In einem Teil des Rekrutenblocks<br />

werden wir, mit den anderen heute<br />

eintreffenden jungen Männern, die Anzahl ist mir<br />

nicht bekannt, ich schätze wir sind zusammen etwa<br />

Einhundertzwanzig bis Einhundertfünfzig Mann in<br />

den Militärdienst übernommen. Mir ist die Zusammenführung<br />

aller angehenden Rekruten nicht aufgefallen.<br />

Nach der beim Militärdienst üblichen Registrierung<br />

und der Einkleidung jungen Männer, treten<br />

alle auf der Rückseite des Rekrutenblocks im weißen<br />

Drillichzeug an. Es folgt die Aufstellung der<br />

Kompanie. Angetreten in drei Reihen stehen wir<br />

„Neuen“ ungeordnet und warten. Wir werden namentlich<br />

aufgerufen. Jede einzelne Gruppe besteht<br />

aus 10 Rekruten, dem Unteroffizier als Gruppenführer<br />

und aus seinem Stellvertreter, einem Gefreiten.<br />

Nach Aufruf des zehnten Mannes übernimmt der<br />

namentlich aufgerufene Unteroffizier mit seinem


205<br />

Stellvertreter seine Gruppe. Während der Wartezeit<br />

haben wir, die angehenden Rekruten, die<br />

Unteroffiziere in Ruhe anschauen können. „Na klar“,<br />

genau diesen Unteroffizier, der unsere Gruppe<br />

übernimmt und seinen Stellvertreter, den Gefreiten,<br />

von denen beiden wollte ich keinen für unsere<br />

Gruppe. Ich denke: ‚Wo kommen die bloß her?<br />

Ausgerechnet diese beiden Typen haben wir nun<br />

am Hals’. Ob mir ein anderer Unteroffizier besser<br />

gefallen hätte? Das kann ich nicht sagen. Sicher<br />

wäre ich auch da voreingenommen gewesen.<br />

Kommt unser Unteroffizier, der Gruppenführer vielleicht<br />

aus Ostpreußen? Diese Frage stellt sich sofort,<br />

denn schon früher waren beim Militär die Gruppenführer<br />

Männer, die am lautesten brüllen. Man<br />

sagt ihnen nach, dass sie den richtigen Ton für die<br />

Behandlung der Rindviecher haben. Somit sind sie<br />

bestens geeignet mit uns jungen Rekruten umzugehen.<br />

Auf Kommando steht in Windeseile die Kompanie<br />

mit den drei Zügen und den Gruppen vor dem<br />

Spieß angetreten. Der Spieß, Hauptfeldwebel, ‚Mutter<br />

der Kompanie’, brüllt wie von ihm erwartet, seine<br />

Kommandos. „Kompanie - - still gestanden. - - richt<br />

- - euch, - - -Augen - - gerade - aus. Zur Meldung an<br />

- - „die Augen- - links’ Es folgt die Meldung an den<br />

Kompaniechef. Dieser sieht zum ersten Mal seine<br />

Kompanie. Nach der Begrüßung übernimmt der<br />

Spieß die Kompanie. Den Namen des Unteroffiziers,<br />

unserer Gruppe, habe ich vergessen.<br />

Jedoch den Namen des Gruppenführer-<br />

Stellvertreter, den kleinen‘, Dackelbeinigen Gefreiten,<br />

den werde ich nie vergessen. - An dieser Stelle<br />

muss ich einmal über diesen Mann lästern. Es ist<br />

keine Diskriminierung der Person. -Es ist der Gefrei-


206<br />

ter Neuf. Er kommt aus Saarbrücken. Ein richtiges<br />

kleines Ekelpaket. Wir nennen ihn wegen seiner<br />

Körpergröße ‚Mündungsschoner’. Am nächsten<br />

Morgen werden wir von unserem Spieß, vor dem<br />

Morgenappell mit den Worten „Guten Morgen, Amateurfosen“<br />

begrüßt. Diese Begrüßungsformel empfinde<br />

ich als eine Aussage des Spießes, der uns<br />

jungen Rekruten damit sagen will, dass er der<br />

Spieß ist. Und das wir mit unseren Problemen immer<br />

zu ihm kommen können. Weiter will er damit für<br />

alle Zeiten in unsere Herzen einmarschieren. Bei<br />

mir hat er sich festgesetzt. Mit diesem Ruf hat er<br />

sich als ‚Mutter und gleichzeitig als Vater’ idealisiert.<br />

Alle unsere derzeitigen Vorgesetzten, vom Gruppenführerstellvertreter<br />

bis einschließlich des Kompaniechefs,<br />

den Oberleutnant, sind ausschließlich<br />

für unsere Ausbildung zuständig. Sie sind, wie wir<br />

erfahren und gelernt haben „Ausbilder“. Auf sie allein<br />

wird es ankommen, wie gut wir unsere Lektionen<br />

lernen. Und wie es in der ‚Heeresdienstvorschrift’,<br />

wir bei der Luftwaffe, werden den gleichen<br />

Text haben, geschrieben steht: Wir werden eine<br />

harte Ausbildung erhalten. Die Ausbilder haben die<br />

lautesten Stimmen. Keiner von Ihnen hat Fronterfahrung.<br />

Nach Abschluss und Abnahme der fertig<br />

ausgebildeten Truppe, werden wir dann unsere<br />

fronterfahrenen Vorgesetzten erhalten. Diese Information<br />

haben wir so nebenbei während einer Unterrichtsstunde<br />

erhalten. Die dann aufzustellenden<br />

einzelnen Gruppen werden aus Frontsoldaten und<br />

uns jungen Soldaten neu gebildet. Die Kameraden<br />

mit der Fronterfahrung befinden sich zur Zeit als<br />

Verwundete oder als Kranke in Lazaretten. Dass


207<br />

unser Bataillon niemals fronterfahrene Soldaten<br />

erhalten wird, ist uns gegenüber nie geäußert<br />

worden. Von der Waffenkammer erhält jeder Rekrut<br />

sein Gewehr, einen Karabiner 98 k. Mit Platzpatronen<br />

werden wir unsere Schießausbildung auf dem<br />

Übungsgelände durchführen. Für eine „qualifizierte<br />

und hervorragende“ Ausbildung der Rekruten erhalten<br />

unsere Ausbilder von Zeit zu Zeit, doch sehr<br />

vereinzelt, Kriegsverdienstkreuze - Zweiter Klasse,<br />

ohne Schwerter. Die Chefausbilder überreichen die<br />

Auszeichnungen anlässlich eines besonderen Appells.<br />

Wer eine derartige Auszeichnung erhält, trägt<br />

diese mit großem Stolz. So, als sei es das ‚Ritterkreuz’.<br />

Der Gefreite Neuf. aus Saarbrücken, betreut<br />

uns weiter militärisch. Zusätzlich ist er für den Post<br />

ein- und - Ausgang der Rekruten der Gruppe zuständig.<br />

Bevor er einem Soldaten aus der Gruppe<br />

die Post aushändigt, lässt er ihn je nach Lust und<br />

Laune zwanzig oder fünfzig Liegestütze machen.<br />

Auch bei ihm steht der gebrüllte Ton an erster Stelle.<br />

Ich erinnere mich: Während der ersten beiden<br />

Wochen bekomme ich von meiner Mutter etwa<br />

zweimal in der Woche ein Paket mit einem großen<br />

Quarkstollen. Diese besondere Behandlung eines<br />

Rekruten mag der Mündungsschoner gar nicht. Der<br />

Inhalt jedes Paketes wird brüderlich in der Gruppe<br />

geteilt. Wegen der militärischen Kommando- und<br />

Befehlsstruktur, wir sind als Rekruten noch in der<br />

Grundausbildung, habe ich ihn nicht an der Verteilung<br />

meiner „Zuckerstücke“ teilnehmen lassen. Ich<br />

kann sogar wegen des Versuches, einen Vorgesetzten<br />

zu bestechen, Ärger bekommen. Ich empfinde<br />

es seit unserer ersten Kontaktaufnahme, dass<br />

er mich besonders tief in sein Herz geschlossen


208<br />

hat. Während unserer Ausbildung kann er unsere<br />

Gruppe nach seiner Lust attackieren. Ich denke, wir<br />

sind ihm alle viel zu lang geraten. Sind wir mit unserem<br />

ersten Zug auf dem Marsch, dann bilden die<br />

drei Stellvertreter der Gruppenführer des Zuges<br />

immer das Schlusslicht. Das heißt, wenn wir unsere<br />

Schrittlänge um wenige Zentimeter verlängern,<br />

dann muss der Gefreite Neuf. bei seiner Körperlänge<br />

„Riesenschritte“ machen.<br />

*’Lästern über etwas’ gehörte auch während des Zweiten Weltkrieges zum<br />

festen Bestandteil des Soldatenlebens. Mit der Lästerei konnte man den<br />

Druck des harten Dienstes über das geöffnete Ventil ‚Lästern und meckern’<br />

verbal herauslassen.<br />

Die Ausbildung beim Reichsarbeitsdienst war in den<br />

Grundzügen mit der Grundausbildung bei HG vergleichbar.<br />

Eine zweite oder dritte Grundausbildung<br />

wurde wohl immer deshalb erforderlich, weil keine<br />

Ausbildung so gut und erfolgreich sein kann, wie<br />

die, die gerade durchgeführt wird.<br />

HG = Hermann – Göring.<br />

Das Militär lässt keinerlei persönliche Bindungen<br />

zwischen den Soldaten zu. Außerhalb der Kasernenmauer<br />

liegt an einem Fußweg eine parallel verlaufende<br />

Straße. Dahinter stehen hohe Kiefern. Sie<br />

verdecken den freien Blick auf ein riesiges Übungsgelände.<br />

Am südlichen Ende unseres großen Rekrutenbaues<br />

marschieren wir durch das Tor auf das<br />

gegenüberliegende Gelände. Nach der Ausbildung<br />

im Gelände marschieren wir den gleichen Weg<br />

zackig, mit einem Lied auf den Lippen in die Kaserne<br />

zurück. Zwei Tage vergehen, da erleben wir unsere<br />

erste Nachtübung, die Gruppenweise geordnet,<br />

durchgeführt wird. Der Unteroffizier erklärt uns


209<br />

den Polarstern. Er erklärt uns, wo und wie wir ihn<br />

finden. Wo der Nordstern, auch Polarstern genannt<br />

ist, da ist Norden. ‚Merken Sie sich das. Behalten<br />

Sie diese Tatsache und verankern Sie diese in Ihrem<br />

Gedächtnis. Sie werden es später noch gebrauchen,<br />

wenn Sie sich im Gelände verlaufen haben.<br />

Mit Hilfe des Polarsterns, einer richtigen Karte<br />

und dem Kompass, den Sie bei sich tragen, finden<br />

sie immer zurück zu Ihrer Einheit’. Geradezu gläubig<br />

nehmen wir diese militärisch wichtige Grundwahrheit<br />

zur Kenntnis. Ich habe das Gefühl: bei dieser<br />

Einheit bin ich gut aufgehoben. Der Unteroffizier<br />

geht fast freundschaftlich mit uns um. Doch bereits<br />

am nächsten Tag ändert sich der Ton. Er verschärft<br />

sich bis zum Brüllen. Nachtübungen, Grundwehrdienst,<br />

dann Ausbildung an den Waffen. Gruppenweise<br />

wechseln sich die Ausbildungen im Gelände<br />

ab. Es vergehen nur wenige Tage in der Kaserne,<br />

da fliegen wir, ohne eine Erklärung, hinaus und landen<br />

in der Barackenkaserne in Hohenschöpping.<br />

Hohenschöpping liegt mit der S-Bahn zu erreichen,<br />

eine Station vor Velten. Nach Velten bin ich nicht<br />

gekommen. Hier kommen wir wieder in jämmerlichen<br />

Holzbaracken. Baracken ähnlich der abgebrannten<br />

Unterkünfte bei Immendorf, damals bei<br />

der AchtAcht! Hier in Hohenschöpping nimmt der<br />

harte Drill auf dem betonierten Kasernenhof kein<br />

Ende. Nein, der Drill wird weiter und weiter, bis zum<br />

Umfallen praktiziert. Selbst dann werden wir weiter<br />

geschliffen, wenn auch unsere Ausbilder lange wissen,<br />

dass wir schnelle Burschen sind. Wir können<br />

sogar, und dieses ist die vollendete Kür der Grundausbildung<br />

mit affenartiger Geschwindigkeit ‚Auf<br />

dem Koppelschloss kehrt machen’. Und dieses na-


210<br />

türlich, ohne dabei irgendwo anzustoßen. Diese<br />

Redensart ist durch den harten, fast unmenschlich<br />

zu nennenden Drill, auch Schleiferei genannt, in<br />

Hohenschöpping entstanden. Eine Alternative ist<br />

erforderlich, damit wir nicht einseitig ausgebildet<br />

werden. Wir sind sogar auf Kommando fähig, ‚Unter<br />

der Grasnarbe wandeln’. Das heißt, wir können uns<br />

so flach auf dem Erdboden bewegen, dass uns kein<br />

Feind sehen kann. Mit dem Drill gibt es kein Ende.<br />

Wir können uns anstrengen, wie wir wollen. Die<br />

Ausbilder haben ihre Befehle, und diese führen sie<br />

stumpfsinnig und gnadenlos aus. Es muss entsprechend<br />

des Leitsatzes: „Die Knochen dürfen über<br />

Nacht nicht den beim Militär so gefürchteten Rost<br />

ansetzen“, gehandelt werden. Selbst wenn die Ausbilder<br />

ihre Brüllstimmen verlieren verbergen sie es<br />

meisterhaft. Wozu gibt es Trillerpfeifen! Man gewinnt<br />

auch den Eindruck: „Wer von den Ausbildern<br />

am lautesten brüllt, der wird von den Vorgesetzten<br />

gehört und wahrgenommen“. Diese Aussage kann<br />

aber nicht stimmen, denn die Ausbilder brüllen immer<br />

weiter. Ihre Vorgesetzten registrieren ihr brüllen<br />

wohl doch nicht. Sie verlangen die Brüller und hören<br />

die Schreier mit Wohlgefallen. In Ergänzung zu der<br />

permanenten Schleiferei erfolgt die Ausbildung an<br />

allen Waffen, die uns zur Verfügung stehen. Da ist<br />

der Karabiner 98k, die Braut des Soldaten.<br />

Das Karabinerschloss* haben wir zu jeder Zeit in die Einzelteile zerlegen<br />

und wieder zusammenbauen können.<br />

Auf unserem Gelände lernen wir den Umgang mit<br />

der Übungs- Stielhandgranate und anschließend<br />

das Werfen mit der scharfen Handgranate. Ein anderer<br />

Ausbilder gibt uns die Einweisungen und die


211<br />

Ausbildung am Maschinengewehr 42. Von der großen<br />

Feuerkraft hören wir: Man kann mit dem MG 42<br />

in der Minute 2000, ja, zweitausend Schuss abfeuern.<br />

Dass diese Leistung nur theoretisch möglich<br />

ist, wird dagegen verschwiegen. Wir lernen am MG,<br />

wie man unter anderem die Fähigkeit erwirbt, einen<br />

heißgeschossenen MG-Lauf ohne Schwierigkeit zu<br />

wechseln. Jetzt wird es ernst! Aus meiner Gruppe<br />

werden fünf Mann zum Schießen mit dem MG befohlen.<br />

Wir erhalten fabrikneue, bisher noch nicht<br />

beschossene Maschinengewehre. Im Abstand von<br />

wenigen Metern liegen die eingewiesenen Schützen<br />

nebeneinander und hinter ihrem MG. Ein Munitionsgurt<br />

mit 50 Schuss wird in die Ladevorrichtung<br />

eingeführt. Der erste Soldat erhält den Schießbefehl.<br />

Dann folgt das Kommando: „5 Schuss, - - -<br />

Feuer frei“. Der MG-Schütze nimmt darauf das MG<br />

hinter dem Abzug hoch und stemmt seine Schulter<br />

fest hinter den Kolben. Als Ziel stehen in einer Entfernung<br />

von etwa 200 m, in der Tiefe des Geländes<br />

gestaffelt Pappkameraden, von etwa einem Quadratmeter<br />

Größe. Sie stellen den Stahlhelm mit dem<br />

Kopf und einem Teil der Schulter eines Soldaten<br />

dar. Das ist der Feind! Mit dem Finger am Abzug,<br />

die Augen über die Zieleinrichtung auf den „Pappkameraden“<br />

gerichtet und gezielt, drückt der Schütze<br />

über den Druckpunkt ab. Das Schloss trägt den<br />

Schlagstift zum Schießen und den Hebel zum Sichern.<br />

Im Bruchteil einer Sekunde sind die fünf<br />

Schuss hintereinander gefeuert. Niemand von uns<br />

kann sie zählen. Der Feuerbefehl wiederholt sich<br />

und der nächste Schütze hat die 50 Schuss in gleichen<br />

Schritten abgegeben. Dabei gelingt es ihm,<br />

das anpeilte Ziel, einen der Pappkameraden, zu


212<br />

treffen. Mir dagegen ist das Glück beim Schießen<br />

nicht beschieden. Mein erster Einsatz am MG 42<br />

endet damit: 1. ich habe den Pappkameraden nicht<br />

getroffen. 2. in einem Durchgang habe ich die 50<br />

Schuss in und durch die blattlosen Baumkronen der<br />

hohen Buchen geschossenes folgt der Befehl „Achtung“.<br />

Ich stehe neben dem Maschinengewehr<br />

stramm. Sie haben es mir in die Ohren gebrüllt: Ich<br />

sei unfähig und zu dämlich zum Sch - - - - -. Sie<br />

schieben noch nach: Diese Aussage soll mich unbedingt<br />

tief in meiner Seele treffen: ‚Sie werden<br />

niemals ein tauglicher Maschinengewehrschütze’.<br />

Mit meiner mangelhaften Leistung habe ich das<br />

doch gerade bewiesen. Zur Strafe renne ich nun,<br />

mit der Gasmaske vor dem Gesicht, in jeder Hand<br />

einen mit Munition gefüllten Munitionsbehälter ausgestattet,<br />

einen aufgeschütteten Sandberg hinauf<br />

und herunter. Unter den gebrüllten Sätzen des Vorgesetzten<br />

springe ich in den Ring: „Sie sollen laufen<br />

und nicht rutschen. Halten Sie ihre Knie und Knochen<br />

zusammen. Von Hinsetzen hat hier niemand<br />

etwas gesagt“. Immer wieder mühe ich mich ab, um<br />

die Spitze des Sandberges zu erreichen. Der vorhandene<br />

Raum zwischen der Gasmaske und meinem<br />

Gesicht hat sich nach wenigen Augenblicken<br />

mit beißendem Schweiß gefüllt. Meine Arme erreichen<br />

fast eine Länge, dass die Munitionskästen<br />

über den Erdboden schleifen. Später, da sollte ich<br />

doch noch froh darüber sein, kein tüchtiger MG-<br />

Schütze geworden zu sein. Ich bin überzeugt, meine<br />

damaligen Gespräche im Lazarett mit Gerd Lü.<br />

beschützten mich auch später. Daran anschließend<br />

folgt die Einweisung und Ausbildung an den neuen<br />

Sturmgewehren 44, sowie an anderen Gebrauchs-


213<br />

gegenständen die zur Vernichtung des Menschen<br />

dienen. Unsere Ausbildung wird nur von der<br />

Mittagspause unterbrochen. Vor dem ‚Essen Fassen’<br />

ist ein Appell fällig. Die Fingernägel müssen<br />

sauber, die Hände gewaschen sein, die Essschüssel<br />

und das Essbesteck haben vor Sauberkeit zu<br />

glänzen. Die Speise empfangen wir in dicken weißen<br />

Steingutschüsseln. Drei oder vier kleine, lauwarme,<br />

alt und graue Pellkartoffeln werden ins<br />

Krätzchen geworfen. Am Tisch pellt jeder Soldat<br />

seine kalten Kartoffeln mit seinem Besteck-Messer.<br />

Und anschließend geht es wieder hinaus ins Gelände.<br />

Unsere „Vorturner“ können, wie sie sagen, unsere<br />

zarten Stimmen unter der Gasmaske nicht hören.<br />

So brüllen wir die Lieder unter der Gasmaske<br />

und verbessern damit das Handwerk eines <strong>Panzergrenadier</strong>s.<br />

Die Ausbildung am Granatwerfer steht<br />

auf dem Tagesplan. Dieses Vorhaben wird jedoch<br />

auf einen anderen Tag verschoben. Dafür marschiert<br />

der erste Zug am nächsten Morgen mit den<br />

Gewehren 98 k zum Scharfschießen auf einen<br />

Schießstand, dieser liegt etwa zwei Kilometer von<br />

der Kaserne entfernt im Wald. Damit die jungen<br />

Soldaten wirklich das Letzte aus sich herausholen,<br />

werden wir auf dem Marsch dorthin - psychologisch<br />

behandelt und fertig gemacht. Immer kräftig singen,<br />

man höre nichts, durchdringt es die Ohren der Rekruten.<br />

Plötzlich erfolgt das Kommando: ‚Volle Deckung!<br />

Achtung! Stehen Sie stramm. Tiefflieger* von<br />

rechts ab in den Graben. Achtung!“ - - Antreten und<br />

dann weiter marschieren. Ob das Ergebnis des<br />

Schießens mit dem Karabiner schlecht oder gut<br />

war, das spielte keine Rolle. Das Kommando: ‚Tiefflieger<br />

von rechts’ ist lediglich ein Befehl, der befolgt


214<br />

werden muss. Es hätte auch ‚Panzer von links’ heißen<br />

können. Wichtig allein war die ständige<br />

Bewegung im Gelände, und dafür wurde keine Gelegenheit<br />

ausgelassen. In unregelmäßigen Abständen<br />

müssen wir in einem Waldstück 24 Stunden<br />

lang Wache schieben. Nahe unserer Kaserne bewachen<br />

wir die, augenblicklich vom hohen Schnee<br />

zugedeckten, vorhandenen Panzer verschiedener<br />

Typen, die Halbkettenfahrzeuge, LKW und PKW.<br />

Jeweils drei Stunden Wache und drei Stunden Pause.<br />

Der Dreistunden-Rhythmus geht uns schon<br />

nach dem zweiten Wechsel gewaltig auf den Geist.<br />

Es ist einfach nicht zu glauben: Wir müssen abgestellte<br />

Kriegsgeräte bewachen. Das Wacheschieben<br />

kommt mir wie ein böser Traum vor. In diesen 24<br />

Stunden Wache stehen wir im tiefen Schnee. Drei<br />

Stunden im Schnee, danach für drei Stunden von<br />

draußen, in einem ungeheizten Beton-Tiefbunker.<br />

Die wachfreie Zeit müssen wir in dem Bunker<br />

verbringen. Senkrecht steigen wir in einen tiefen,<br />

schmalen Schacht ab. Jede Stufe nach unten vermehrt<br />

in mir Platzangst. Die im Betonbunker herrschende<br />

Kälte, die Nässe und das am Boden einige<br />

Zentimeter hoch Wasser steht bringt mich fast um.<br />

In den nassen, klammen Uniformen am unterkühlten<br />

Körper verbringen wir hier die Zeit bis zum<br />

nächsten Wachwechsel. Unsere angetauten, nassen<br />

Schnürstiefel bleiben an den Füßen. Wir sind<br />

gezwungen, auf den schmalen eisernen Betten,<br />

vierfach übereinander angeordnet, zu ruhen. Nur<br />

mit alten, moderig riechenden, schmutzigen Decken<br />

können wir uns in diesem Bunker zudecken. Diese<br />

Decken werden von uns und vielen anderen Kameraden<br />

benutzt. Diese Decken sind gewiss seit ihrer


215<br />

ersten Anlieferung, dass scheint lange her zu sein,<br />

in dieser Höhle. Mit welcher Decke werde ich mich<br />

beim nächsten 24-Stunden-Einsatz zudecken? Tageslicht<br />

haben die verdreckten Decken nach meiner<br />

Meinung nie gesehen. Unsere nachfolgenden Kameraden<br />

werden sie auch benutzen. Keiner von uns<br />

wird sich dazu äußern. Zum Gehorsam erzogen,<br />

werden wir die 24 Stunden Wache ohne zu murren<br />

ableisten. Innerlich bin ich nicht mit dem Zustand<br />

des Bunkers einverstanden. Doch wen interessieren<br />

meine Gedanken. Einen Kameraden ansprechen,<br />

das gibt nur Ärger. Drei oder viermal war ich zusammen<br />

mit der Gruppe in diesem Bunker. An diesem<br />

Außenposten habe ich keinen, unserer Ausbilder-Offiziere<br />

gesehen. Der höchste Dienstgrad, an<br />

den ich mich erinnere ist ein Feldwebel. Und in diese<br />

Höhle, in diesen Bunker, kommt keiner der Herren<br />

Offiziere. Die sitzen, und davon bin ich überzeugt,<br />

bestimmt nach Dienstschluss bequem in ihrem<br />

Offizierskasino. Nur dort finden sie neben ihren<br />

persönlichen Kleinkriegen untereinander auch die<br />

nötige Zeit, um mit der Hand über ihren Ärmelstreifen<br />

zu streichen. Was sie mit uns treiben, empfinde<br />

ich als reine Schikane. Doch da steht die Absicht<br />

dahinter, dass wir beim Fronteinsatz nicht einfach<br />

fliehen, wenn es einmal schwierig wird. Mit Erkältungen,<br />

mit Halsschmerzen oder sonstigen Ausfallerscheinungen<br />

haben wir nichts zu tun. Ich erinnere<br />

mich an meine achtzehn Spritzen, die ich innerhalb<br />

von fünf Monaten bekommen habe. Wir alle haben<br />

sie ohne Ausnahme bekommen. Niemand hat uns<br />

gesagt wofür und/oder wogegen die Spritzen gut<br />

sind. Eine besondere Auszeichnung für unsere<br />

Gruppe ist es, wenn wir, unter der Aufsicht eines


216<br />

Unteroffiziers, zur Brandwache in die Stadtmitte von<br />

Berlin fahren. Das ist das Zuckerbrot, damit sollen<br />

wir wieder aufgebaut werden. Wir tragen die gleichen<br />

Uniformen wie die Panzersoldaten. Es ist unsere<br />

schwarze Ausgehuniform. Sie hat an der Spitze<br />

der Kragen, weiße Spiegel mit je einer silberfarbenen<br />

Schwinge. Die Division Hermann Göring eine<br />

Eliteeinheit der Luftwaffe. Die Division war im Laufe<br />

der Zeit ihrer Entwicklung, auch mit Fallschirmjägern,<br />

<strong>Panzergrenadier</strong>en und Panzereinheiten ausgestattet<br />

worden. Über die schwarzen Spiegel an<br />

den SS-Uniformen habe ich bereits berichtet. Die<br />

weißen Spiegel gehören ausschließlich Division<br />

HG. Das Hoheitsabzeichen mit Hakenkreuz, den<br />

Luftwaffenadler, tragen wir über der Brusttasche.<br />

Der dunkelblau eingefasste Ärmelstreifen, mit dem<br />

Namenszug ‚HERMANN-GÖRING’, ist am rechten<br />

Unterarm angenäht. Das Koppelzeug tragen wir<br />

sichtbar umgeschnallt. Auf unseren Fahrten in die<br />

Stadt werden wir gelegentlich von Zivilisten angesprochen:<br />

„Was seid ihr denn für Soldaten, habt<br />

Panzeruniformen an, tragt den Luftwaffenadler und<br />

habt weiße Spiegel?“ Auf unsere Ärmelstreifen<br />

kommen sie erst, wenn sie uns eine längere Zeit<br />

gemustert haben. „Wir fliegen die neuen Flugzeuge<br />

mit Holzgas“ antwortet der Unteroffizier jedes Mal,<br />

mit einem gequälten Lächeln auf den Lippen. Das<br />

ist das einzige Lächeln, das wir bei ihm sehen. Zur<br />

Brandwache eingeteilt, sitzen wir tatenlos herum.<br />

Auf unserer Rückfahrt nach Hohenschöpping sind<br />

wir froh, wenn die Nacht mehr oder weniger ruhig<br />

geblieben war Ich erinnere mich an den letzten<br />

Brandschutzeinsatz. Ich wollte unbedingt wissen,<br />

wie es hinter einer großen Bühne aussieht. Auf ei-


217<br />

gene Faust habe ich mir das Theater hinter dem<br />

„Eisernen Vorhang“ genauer angesehen. In einer<br />

der vielen Garderoben finde ich ein mit weißen Fliesen<br />

bis an die Decke gekacheltes Bad. Eine übergroße<br />

Badewanne, die bis zum Überlauf mit Löschwasser<br />

gefüllt ist, nimmt ihren Platz an der Längsseite<br />

ein. Da ich warmes Wasser dem Wasserhahn<br />

entnehmen kann, habe ich sofort das Wasser gewechselt.<br />

Nahezu bis zum Hals sitze ich im tiefen,<br />

warmen Wasser. „So wie hier hast du in deinem<br />

Leben noch nie gebadet“ stelle ich voller Freude<br />

fest. An der hellgefliesten Wand ist ein funktionstüchtiger<br />

Telefonapparat installiert. Von hier aus<br />

rufe ich meine Verwandten an und erzähle ihnen<br />

von meinem Wannenbad. Die Wanne mit kaltem<br />

Wasser aufgefüllt, verlasse ich die von mir sehr ordentlich<br />

gesäuberte Einrichtung. Tage später erhalte<br />

ich zusammen mit einem anderen Kameraden<br />

den lang ersehnten Stadtausgang. „Benehmen in<br />

der Öffentlichkeit“ wird in Lehrstunden behandelt.<br />

Der Besuch des Scheunenviertels, wo auch immer<br />

dieses Viertel in Berlin liegt, ist uns strikt verboten.<br />

Warum der Besuch des Viertels ausdrücklich für<br />

uns verboten ist, weiß ich nicht. In der staubfrei gebürsteten<br />

Ausgehuniform, die Hände und Fingernägel<br />

sauber, mit einem sauberen Kamm und frischem<br />

Taschentuch ausgerüstet, erhalten wir zwei<br />

auf der Schreibstube den Tagesurlaubschein. Wie<br />

der Blitz eilen wir nach der Abmeldung an der Wache<br />

durch das Kasernentor zum S-Bahnhof Hohenschöpping.<br />

Unser Weg führt an Standardbaracken<br />

vorbei. Hinter einer hohen Einzäunung aus doppelreihig<br />

angeordnetem, eng verlaufendem Stacheldraht<br />

stehen verschiedene Baracken. Frauen in


218<br />

dunkelolivefarbenen Uniformen, sie sehen aus wie<br />

altgediente Infanteristen, sind auf dem Vorplatz.<br />

Diese Einrichtung gehört zum „Konzentrationslager<br />

Sachsenhausen“ höre ich durch Zufall. Niemand<br />

weiß, wo das „Sachsenhausen“ ist. Und es ist auch<br />

nicht gut, so etwas zu wissen. Mit der S-Bahn fahren<br />

wir gemeinsam bis zum Bahnhof Zoologischer<br />

Garten. Hier wollen wir uns am Abend zur Rückfahrt<br />

treffen. Die umliegenden Straßen sind, soweit das<br />

Auge reicht, voller Unrat. Lose Akten, Zeitungen<br />

und sonstige Papiere, fliegen durch die Gegend.<br />

Zwischen zerbrochenen Möbeln liegt ein großer<br />

Haufen Glassplitter. Der andauernde Wind wirbelt<br />

und treibt den losen Müll zusammen mit dem Gestank<br />

nach Brand durch die Straßen. Der feine,<br />

dichte Staub in der Atmosphäre zeigt meinen Augen<br />

bereits am Mittag eine müde Sonne, und die Temperatur<br />

bleibt trotzdem angenehm warm. Vom<br />

Bahnhof Zoo kommend, gehe ich durch die Joachimsthaler<br />

Straße. Etwa zweihundert Meter trennen<br />

mich vom Kurfürstendamm. Links von mir liegen<br />

auf dem Asphalt ungeschützte Versorgungsleitungen.<br />

Zwischen den Menschen, die auf mich zukommen,<br />

erblicke ich einen Leutnant des Heeres.<br />

Den werde ich mit meinem gestreckten linken Arm<br />

grüßen. Warum, das weiß ich nicht. Ist es Übermut?<br />

Sehe ich keine andern Uniformträger? Ich grüße die<br />

Uniform des Offiziers mit erhobenem und ausgestrecktem<br />

linken Arm. Ich sehe nur seine Gestalt,<br />

nicht sein Gesicht. Der Offizier grüßt. Ich spüre wie<br />

er stehen bleibt. Dieses nehme ich aber nur im Unterbewusstsein<br />

wahr. Als er sich umdreht, halte ich,<br />

wie auf Kommando gedrillt inne. In diesem Augenblick<br />

fühle ich die Gehorsams-Pflicht. Erstaunt höre


219<br />

ich seine Stimme, die etwas Ziviles hat. ‚Wo kommen<br />

Sie denn plötzlich her?’. Hatte er gemerkt,<br />

dass ich ihn mit dem linken ausgestreckten Arm<br />

gegrüßt habe? Überrascht drehe ich mich um. Ich<br />

warte auf - - doch da schießt es mir schon durch<br />

den Kopf, ich erkenne das Gesicht dieses Mannes<br />

sofort wieder. Die Sache mit dem Gruß hat er gar<br />

nicht bemerkt. Im Lazarett meiner Heimatstadt waren<br />

wir Bettnachbarn. Damals im Mai - Juni 44, da<br />

war er Fähnrich. Ja, mit einem Wiedersehen hat<br />

keiner von uns gerechnet. Der Leutnant ist auf Heimaturlaub.<br />

Er hat seine Frontbewährung als Fähnrich<br />

ohne Verwundung überstanden. Wir freuen uns<br />

beide, wie große Jungen, über unser Wiedersehen.<br />

Er will mich in meiner Kaserne in Hohenschöpping<br />

besuchen. Wir verabschieden uns. Über den Kurfürstendamm<br />

gehe ich den bisher beschriebenen<br />

Fußweg. Es ist die gleiche Strecke, die ich schon<br />

als Junge gelaufen bin. U-Bahn fahren? Straßenbahn<br />

fahren? Das war einmal. Weiter an der ‚Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche’<br />

vorbei gehe ich entlang<br />

der Tauentzienstraße bis zum „KaDeWe“ am<br />

Wittenbergplatz. Vor dem U-Bahnhof Wittenbergplatz,<br />

gegenüber vom „KaDeWe“, klafft ein riesiger<br />

runder Krater. Die Decke über den U - Bahn-<br />

Gleisen hat eine Bombe durchschlagen. Von oben<br />

sind die Schienen der Bahn sichtbar. Daneben, am<br />

Eingangsgebäude zur U-Bahn Station Wittenbergplatz<br />

liegt neben den Straßenbahnschienen ein<br />

ausgebrannter Triebwagen der Straßenbahn. Mein<br />

Weg endet vor dem Wohnhaus, in dem meine Verwandten<br />

in der ersten Etage leben. Die noch vorhandenen<br />

Mieter haben, wie ich sehe die große<br />

Haustür von außen mit Schuttbergen zugepackt und


220<br />

die Innenseite mit zerbrochenen Möbelteilen zugestellt.<br />

Sie wollen, wie ich bei meinem Besuch höre,<br />

Einbrechern keine Möglichkeit geben, die noch<br />

nutzbaren Wohnungen im Haus zu plündern. Unser<br />

Wiedersehen ist für mich belastend. Einerseits freuen<br />

sie sich mich zu sehen, fragen mich aus, wo ich<br />

mich zur Zeit aufhalte, andererseits haben sich der<br />

Onkel Bruno und Tante Emilie sehr verändert. Beide<br />

fühlen sich alt und müde. Der von mir noch erwartete<br />

Antrieb und ihre lebensbejahende Einstellung<br />

ist ihnen abhandengekommen. Der Bombenkrieg<br />

hat ihnen allen Mut genommen. Gemeinsam<br />

mit meinem Vetter, haben wir im Winter 42, vor zwei<br />

Jahren, die Fenster zur Straße hin notdürftig mit<br />

Glasgewebe reparieren können, seine Eltern haben<br />

in den letzten Wochen nichts gehört. Ich denke, der<br />

hat ein hartes Soldatenleben. Als Obergefreiter, er<br />

sagte mir, als wir uns das letzte Mal bei der Fensterreparatur<br />

gesehen haben, er habe nun seinen<br />

höchsten Dienstgrad erreicht und er warte darauf,<br />

endlich von Kirkenes fortzukommen. Meine Kusine,<br />

verheiratet, zwei Kinder, hat ihren Mann, einen<br />

Hauptmann der Luftwaffe nicht an der Front im<br />

Kaukasus, sondern durch einen tragischen Unfall in<br />

Bremen verloren. Er war vor Wochen von der Front<br />

in den Generalstab befohlen worden. Ob die Fenster<br />

bei Onkel Bruno und Tante Emilie in Berlin-<br />

Schöneberg noch heute existieren? Ich weiß es<br />

nicht und ich habe auch nicht danach gefragt. Wir<br />

sitzen in einem Zimmer zur Hofseite zusammen. Es<br />

war mein letzter Besuch bei den Verwandten. Zwei<br />

oder drei Tage nach dem überraschenden Treffen<br />

auf der Joachimtalerstraße meldet sich der Leutnant<br />

in Hohenschöpping. Über den ‚Offizier vom Dienst’


221<br />

meiner Kompanie hat er einen Besuchstermin erhalten.<br />

Zusammen verbringen wir einen friedlichen<br />

Nachmittag in unserem Soldatenheim. Über den<br />

Krieg haben wir nicht gesprochen. Nur persönliche<br />

Dinge waren von Bedeutung. Bevor er wieder seinen<br />

Dienst antreten wird, telefonieren wir noch einmal<br />

miteinander. Der Krieg trennt uns auf seine<br />

Weise. Ich bedaure es sehr, ich habe nie wieder<br />

etwas von ihm gehört. Die kommenden eigenen<br />

Eindrücke, der ständige Wechsel im Geschehen,<br />

haben seinen Namen in meinem Gedächtnis gelöscht.<br />

Es war eine gute Begegnung mit ihm. Hoffentlich<br />

hat er den Krieg überlebt. Im vorerwähnten<br />

Soldatenheim findet unsere Weihnachtsfeier, es ist<br />

das Weihnachtfest 1944 statt. An der Stirnseite des<br />

Saales ist ein Spruch angebracht: „Gott schütze uns<br />

vor Wetter und Wind und vor Kameraden, die keine<br />

sind“. Diesen Spruch habe ich mir gemerkt. An Kameradschaft<br />

habe ich zu dem Zeitpunkt noch geglaubt.<br />

Kompanieweise wird in dem großen Raum<br />

die militärische Feier abgehalten. An langen Tischen<br />

sitzen wir jungen Soldaten und feiern Weihnachten.<br />

Militärische Weihnachtsfeiern sollen etwas<br />

Besonderes sein, sagen unsere Vorgesetzten. Die<br />

langen Tische sind mit weißem Papier von der Rolle<br />

gedeckt und mit Tannenzweigen geschmückt. Vor<br />

jedem Soldaten steht ein leerer weißer Teller. Das<br />

Essbesteck hat jeder mitzubringen. Nach einer Ansprache,<br />

gespickt mit kriegswichtigen Parolen en,<br />

gibt es nach dem Essen noch irgendwelche Marketenderwaren.<br />

Schuhcreme, ein Stück RIF-Seife,<br />

Schreibpapier von „Schreibste ihm, Schreibste ihr“,<br />

das waren die wertvollsten Geschenke. Da waren<br />

einige ältere Kameraden, sie kamen aus Lazaret-


222<br />

ten, die haben sich über die Verteilung von Tabak in<br />

Form kleiner, loser Häufchen auf kleinen<br />

Papierzetteln mit einigen Blättern Zigarettenpapier<br />

sehr verärgert gezeigt. Sie haben ihre Verärgerung<br />

erklärt. Der für die ordentliche Abwicklung unserer<br />

Weihnachtsfeier befohlene Hauptmann J. hat sich,<br />

wie wir erfahren haben, an den Zuteilungen bereichert.<br />

An die Öffentlichkeit ist davon aber nichts<br />

getreten. Ein deutscher Offizier einer Eliteeinheit<br />

soll seine Soldaten bestohlen haben! Der Hauptmann<br />

habe, so ist es bekannt, Umgang mit Damen,<br />

die von ihm gepflegt werden. Mit Sicherheit haben<br />

die Damen von dem Hauptmann Zuwendungen erhalten,<br />

die für die Soldaten bestimmt waren. Dieses<br />

„Leitbild“ ist inzwischen verschwunden, abkommandiert<br />

worden. Die Weihnachtsfeier war zu einer belanglosen,<br />

faden Veranstaltung, verkommen. Nur.<br />

angefüllt mit Durchhalte-Parolen. Noch vor Anbruch<br />

des neuen Tages, gegen 3. °° Uhr marschiert die<br />

Kompanie zu einer nahe liegenden Kiesgrube.<br />

„Dämmerungsschießen“ ist angesagt. Bei den sich<br />

ständig verändernden Lichtverhältnissen sollen wir<br />

mit unseren neuen Sturmgewehren 44 auf die in der<br />

Kiesgrube aufgestellten Pappkameraden schießen.<br />

Mit meinen Kameraden aus der Gruppe liege ich im<br />

seitlichen Abstand von etwa zwei Metern auf der<br />

Erde. Wir zielen in die Nacht und können noch nicht<br />

„Kimme und Korn“ in Deckung bringen. Wir erhalten<br />

„Einzelfeuer - - - Feuer frei“. Wir schießen, als das<br />

Tageslicht gerade anbricht, und wir die Zieleinrichtungen<br />

erkennen und die Pappkameraden sehen.<br />

Ein großer Hund, ein Spitz mit honigfarbenem Fell,<br />

hat unsere Schießerei gehört. Er irrt jetzt in der<br />

ausgedehnten Kiesgrube herum. Es ist streunender


223<br />

Einzelgänger nehme ich an. Weglaufen könnte er,<br />

aber es scheint mir, er weiß in diesem Augenblick<br />

nicht wohin. Das ist etwas nach dem Herzen unseres<br />

Kompaniechefs‚ Einzelfeuer einstellen’. Oberleutnant<br />

T. verlangt ein Sturmgewehr. Er, unser<br />

Verheizer, jetzt sehr aufgeregt, zielt auf den Hund.<br />

Er wird uns zeigen, wie man den Feind vernichtet.<br />

Zum Feind erklärt, schießt er auf den Hund. Der<br />

erste und der zweite Schuss gehen in den Sand. Er<br />

will ihn sicher nur verjagen, denke ich noch. Mit<br />

dem dritten Schuss trifft er ihn mit einem Streifschuss.<br />

Der Hund schreit und winselt laut auf. Er<br />

wird ihn töten, ihn nicht verjagen. Warum tut er das?<br />

Er ist Forstmeister, Beamter, und jetzt schießt er<br />

hier auf einen Hund? Der nächste Treffer bringt kein<br />

Ende für das leidende Tier. Wieder ein Streifschuss.<br />

Mit einem noch größeren Aufschrei reagiert das Tier<br />

fürchterlich. Nun springt ein Ausbilder zur Erlösung<br />

des Hundes auf und erschießt ihn. ‚Na, wie habe ich<br />

das gemacht’ liegt es triumphierend auf dem Gesichtsausdruck<br />

unseres Kunstschützen, des Herrn<br />

Oberleutnant T. Er strahlt über das ganze Gesicht<br />

und ist der Überzeugung, er habe den erlösenden<br />

Schuss abgegeben. Welch ein menschlicher Versager!<br />

Noch sind wir uns nicht der Tragweite bewusst,<br />

als der Stab der Frontoffiziere bei uns eintrifft. Die in<br />

der Kaserne in Hohenschöpping stationierten Kompanien<br />

werden an den nächsten Tagen einzeln und<br />

nacheinander für den Fronteinsatz im Gelände geprüft<br />

und abgenommen. Für uns ist das ab jetzt kein<br />

Spiel mehr, es wird jetzt Ernst. Kompanie nach<br />

Kompanie rückt aus und wird der Reihe nach auf<br />

unserem Gelände eine Übung unter dem Befehl von<br />

Oberst M. durchführen. Einige Tage vor dem Däm-


224<br />

merungsschießen haben wir unsere Karabiner gegen<br />

die neuen Sturmgewehre 44 in der Waffenkammer<br />

getauscht. Von nun an marschieren wir<br />

nicht mehr mit Platzpatronen im Gewehr ins Gelände.<br />

Unsere Sturmgewehre 44 haben je Magazin 30<br />

Schuss Munition. Unsere Kompanie marschiert als<br />

letzte zur Abnahme aus. Unser Kompaniechef befiehlt:<br />

Die Kompanie rückt in unserer Ausgehuniform<br />

aus. Es ist die schwarze Uniform der Panzersoldaten.<br />

Wir sind etwa zwei Kilometer auf der Straße<br />

marschiert, da erscheint plötzlich ein Offizier des<br />

Stabes und stoppt unseren Marsch. Unser Kompaniechef<br />

erhält die Anweisung sofort mit der Kompanie<br />

zurück zu marschieren. Innerhalb von zwanzig<br />

Minuten sind wir in unserer normalen Uniform angetreten<br />

und marschieren auf der Straße in Richtung<br />

des Übungsgeländes. Vor unserem Auftritt als letzte<br />

Kompanie haben sich die Kompaniechefs aller Einheiten<br />

nach der jeweiligen Abnahme ihrer Soldaten<br />

zusammengesetzt um sich zu informieren, was dem<br />

Oberst M. aufgefallen ist. Es geht, wie man beim<br />

Morgenappell gehört hat, nur um Verbesserungen<br />

beim Fronteinsatz. So habe ich es in Erinnerung.<br />

Ich denke: Nachdem wir mit unserer Ausgehuniform<br />

nicht über den Acker gescheucht werden, uns noch<br />

einmal umziehen mussten, kann es sich nicht nur<br />

um Verbesserungen beim künftigen Einsatz handeln.<br />

Wir glauben in unserer Gruppe: Nach der jeweiligen<br />

Manöverkritik will der nächste Kompaniechef<br />

seinen Haufen besonders gut über die Abnahme<br />

bringen. In diesem Zusammenhang wird nicht<br />

die Frage gestellt, wie man eine Kompanie am besten<br />

verheizen kann. Wichtig ist doch nur, unser<br />

Kompaniechef wird gut bei seinen Vorgesetzten


225<br />

angesehen. Unser Ausbilder-Kompaniechef, der<br />

Herr Oberleutnant T. benutzt jetzt häufig seine Lieblingsvokabel<br />

„Verheizen“. Wir kennen diesen Ausdruck<br />

nur von ihm. Wir sind noch nicht dahinter gekommen,<br />

warum er diesen Begriff jetzt so häufig<br />

benutzt. Zunächst schien es wohl nur ein dümmliches<br />

Gerede zu sein, um uns kleinen Soldaten etwas<br />

Besonderes zu sagen. Für ihn sind alle Soldaten<br />

nur zum Kämpfen da, Töten und Sterben, das<br />

ist unsere Aufgabe. Wir müssen den Endsieg für<br />

unseren Führer erkämpfen. Ihm haben wir Treue<br />

und Gehorsam versprochen. Dieses werden wir<br />

einhalten. Er wird sich hüten, uns zu sagen was wir<br />

für ihn sind. Unsere Vorgesetzten sind, bis zur Aufstellung<br />

einer Marschkompanie zum Fronteinsatz<br />

nur ‚Ausbilder’. Oberst M. sieht uns auf dem Marsch<br />

ins Gelände und übernimmt den Befehl über die<br />

Kompanie. Es folgt eine kurze Ansprache. Er sagt<br />

uns, was er bei der Abnahme erwartet. Die Befehle<br />

werden nun ausschließlich von ihm erfolgen. Sie<br />

sind so durchzuführen, wie sie uns in der Ausbildung<br />

und im Drill vermittelt worden sind. Spätere<br />

Nachbehandlungen durch unsere Ausbilder sind<br />

ausgeschlossen. Wir zeigen den Vormarsch im Gelände<br />

unter außerordentlich erschwerten Bedingungen.<br />

Aus zwei oder drei schweren Maschinengewehren<br />

werden wir beim ‚Sprung auf Marsch,<br />

Marsch’, in 2 m Höhe über Kopf beschossen. Die<br />

Geschosse pfeifen schneidend um unsere Ohren<br />

und über unsere Köpfe hinweg. Und wir spüren<br />

auch, dass wir von vorn beschossen werden. Jetzt<br />

wird es sich herausstellen, ob wir uns auch wirklich<br />

„unter der Grasnarbe“ vorwärts bewegen können.<br />

Nach etwa zwei Stunden im Gelände ist die militäri-


226<br />

sche Übung mit dem Marsch zurück in die Kaserne<br />

wie gewohnt, stramm und einem Lied auf den<br />

Lippen abgeschlossen. Nach dem Mittagsappell<br />

und dem Mittagessen haben wir zwei Stunden<br />

Bettruhe. Nur der „UvD“ und die Mannschaft der<br />

Schreibstube haben Dienst. Unsere Ausbilder, bis<br />

einschließlich Feldwebel mit Portepee und Unteroffiziere,<br />

erhalten ihrerseits eine Nachbehandlung im<br />

Gelände. Die Offiziere des Bataillons werden sich in<br />

der Zeit den Abschlußbericht anhören. Die militärische<br />

Abnahme der in Hohenschöpping stationierten<br />

Kompanien unseres Bataillons ist damit abgeschlossen.<br />

Nun sind wir fronttauglich. Auf dem Vorplatz<br />

an den Garagen steht unerwartet ein „Panzer<br />

III“. Den hat man uns über Nacht gebracht, stellt<br />

einer der Ausbilder-Unteroffiziere fest. Bei der Betrachtung<br />

des Panzers sehen wir ein großes Loch in<br />

der Panzerung. Die explodierende Granate hatte<br />

einen Teil Panzerung herausgesprengt. Von dem<br />

an dieser Stelle einmal sitzenden Soldaten ist nur<br />

die festgebrannte Sitzfläche der Hose übrig geblieben.<br />

Obwohl der Innenraum des Panzers weitgehend<br />

ausgeräumt war, konnte man das Geschehene<br />

an den Spuren nachvollziehen. Unser Bataillon,<br />

oder ein Teil davon, sollte ursprünglich an „Panzerjägern“<br />

ausgebildet werden. Zu dem Zeitpunkt, als<br />

wir hier ankamen, waren einige dieser Stahlkolosse<br />

vorhanden. Doch außer unserer Ausgehuniform<br />

haben wir keinen weiteren Panzer gehabt. Für eine<br />

Panzerausbildung kommt das alles nicht mehr in<br />

Frage, weil das erforderliche Personal fehlt. Meinen<br />

Kameraden und mir ist dieser Begriff „Verheizen“<br />

erst seit der Vereidigung bekannt. Verheizen, das<br />

heißt nichts anderes, als die „Truppe“ beim Front-


227<br />

einsatz ins feindliche Feuer schicken. Wie unschwer<br />

zu erkennen ist, unsere Truppe wird nur auf den<br />

Angriff ausgebildet. Eine Verteidigung in einer Stellung<br />

ist nicht vorgesehen. “Vorwärts stürmen“ heißt<br />

die Parole. Ich denke: die ständige Benutzung dieser<br />

Aussage durch unseren Kompaniechef entspricht<br />

einer besonders perfiden Grundhaltung eines<br />

Menschen. Beim Oberleutnant T. wirkte „Verheizen“<br />

noch vergnüglich. Er war „Ausbilder-<br />

Offizier“. Die Front braucht er nicht zu fürchten, solange<br />

er macht was seine Obrigkeit von ihm und<br />

seinen Gleichgesinnten verlangt. Nachbehandlungen<br />

heißt: Sollte die geforderte Leistung nicht von<br />

den Soldaten erbracht werden, dann haben wir in<br />

der Kompanie kein Strafexerzieren zu befürchten.<br />

Es wird sicher die letzte Mittagspause beim Militär<br />

sein. Vielleicht war es ein Geschenk. Das Portepee<br />

ist die Säbelquaste. Diese wird als Auszeichnung<br />

vom Unteroffizier aufwärts am Seitengewehr getragen.<br />

In den nächsten Tagen haben wir Alarmbereitschaft.<br />

Unsere Spinde werden von jedem einzelnen<br />

geleert und gereinigt. Unsere Unterwäsche, bis hin<br />

zum Mantel, alles verstauen wir in unserem Rucksack.<br />

Unsere Ausgehuniform liefern wir auf der<br />

Kammer ab. Die Vorhangschlösser für die Spinde<br />

sind jetzt an den verschlossenen Rucksäcken. Die<br />

Waffen, die neuen Sturmgewehre 44, werden uns<br />

von der Waffenkammer ausgehändigt und bleiben<br />

in unmittelbarer Nähe jedes Soldaten. In der Nacht<br />

liegen sie neben dem Soldaten auf dem Bett, ohne<br />

Magazin und ohne Munition. Die Unterkunft die Baracke<br />

und das Revier wird gesondert von uns gesäubert.<br />

Geschlafen wird in der Uniform, ohne<br />

Schnürstiefel. Zwei Tage vergehen, dann wird der


228<br />

Alarm beendet und alles wird in umgekehrter Reihenfolge<br />

zurückgespult. Waffenrückgabe an die<br />

Waffenkammer, Spinde einräumen und schon sind<br />

wir wieder im alten Trott. Dieses war ein Probealarm.<br />

Am nächsten Nachmittag beginnt das gleiche<br />

Spiel von vorn. Es fehlt der richtige Schwung beim<br />

zweiten Alarm. Nach einer Stunde stellt sich heraus,<br />

dass wir keinen Stellungswechsel machen. Der<br />

zweite Alarm war nur ein Übungsalarm. Alles zurück<br />

Marsch, Marsch. Doch mit einem Schlag, gibt es<br />

plötzlich keine Entwarnung mehr. Wie vom Blitz getroffen,<br />

kommt für uns das Kommando „Alarm“. Die<br />

gerade zurückgetragenen Waffen werden wieder an<br />

die Soldaten ausgegeben. „Die Kompanie tritt innerhalb<br />

von zwanzig Minuten feldmarschmäßig, mit<br />

voller Ausrüstung, im Gang der Baracke an“, brüllt<br />

der „O v D“, der „Offizier von Dienst“. Nun tragen wir<br />

unser Sturmgepäck am Tragegestell eingehakt auf<br />

dem Rücken. Der Brotbeutel mit der „Eisernen Ration“,<br />

das Kochgeschirr, das Besteck, die Feldflasche,<br />

der Feldspaten und nicht zu vergessen, den<br />

Gasmaskenbehälter mit der Gasmaske kommen<br />

alle aufgezählten Gegenstände, geordnet an das<br />

Koppelzeug. Der Stahlhelm sitzt auf dem Kopf. Das<br />

Sturmgewehr befindet sich mit dem Tragriemen an<br />

der rechten Schulter. Der gepackte Rucksack steht<br />

auf dem Fußboden vor jedem Soldaten. Alles geht<br />

in Windeseile über die Bühne. Wir haben es ja vorher<br />

mehr als nur zweimal geübt. Wir verlassen unsere<br />

Baracken-Kaserne in Hohenschöpping. Die<br />

Bettgestelle mit den Matratzen bleiben ohne uns<br />

zurück. Ab jetzt wird es ernst werden. Wir sitzen auf<br />

unseren LKWs und fahren hinaus in die Nacht. Es<br />

geht kein Blick von mir zurück. Meine Gedanken an


229<br />

diesen Ort liegen jetzt in der Vergangenheit abgelegt.<br />

Wohin die Fahrt mit uns in der Nacht geht,<br />

unser Ziel, geht uns nichts an. Mit Tempo geht es<br />

über die Reichsautobahn in Richtung Nord, in Richtung<br />

Stettin. Fahren die uns jetzt an die Oder? Auf<br />

der Fahrt stelle ich mir plötzlich die Frage: Aus welchem<br />

Grund ist unser Bataillon nicht mit älteren,<br />

fronterfahrenen Soldaten ausgestattet worden? Wo<br />

sind denn unsere Frontkämpfer? Antworten auf diese,<br />

für uns doch lebenswichtige Frage, erhalte ich<br />

nicht. Haben wir überhaupt diese Frage gestellt?<br />

Bestimmt nicht. Den Ausbilder-Kompaniechef,<br />

Oberleutnant T. die Kompanie- und Zugführer und<br />

die Ausbilder sind wir nicht losgeworden. Einen Gedanken<br />

daran, ob wir die letzten sind, die eine Ausbildung<br />

erhalten haben, verschwenden wir nicht.<br />

Die Ausbilder, die uns neben dem ständigen Exerzieren<br />

das Töten beigebracht haben, sind jetzt mit<br />

uns auf dem Wege an die Front. Noch in der Nacht<br />

erreichen wir Greiffenberg. Ich denke, dass es jetzt<br />

Mitte Januar 1945 ist. Vor einem großen Gebäude<br />

steigen wir von den Fahrzeugen ab. Unsere Rucksäcke<br />

bleiben auf den LKWs. Feldmarschmäßig<br />

ausgestattet, marschieren wir, der Erste Zug, weiter.<br />

Nach etwa drei Kilometern erreichen wir gegen<br />

5. °° Uhr Günterberg. Es ist noch stockdunkel. Hier<br />

werden wir zum Dienst eingeteilt. Fünf Kameraden<br />

meiner Gruppe finden in einem Kuhstall Unterkunft,<br />

vier Mann und ich werden mit unserem Gruppenführer,<br />

dem Unteroffizier, zur nahe liegenden Reichsstraße<br />

198 abkommandiert. In Blickrichtung Nord –<br />

GRAMZOW bringen wir rechts neben der Straße<br />

ein Maschinengewehr in Stellung. Alle an unserem<br />

Posten vorbeifahrenden Fahrzeuge werden von


230<br />

einer Sondereinheit der Feldjäger angehalten und<br />

überprüft. Später werden wir abgelöst. Auf Befehl<br />

unseres Feldwebels hat der Bauer sein Wohnzimmer<br />

ausräumen und den Fußboden mit Stroh ausfüllen<br />

müssen. Möbel raus, Stroh rein. Bis zum<br />

nächsten Umzug findet die Gruppe eine trockene<br />

Unterkunft. Vom Holzfußboden merken wir nichts.<br />

Das Stroh gibt uns Wärme. Unser Gruppenführer<br />

hat die Bäuerin „gebeten“, sie solle uns Pellkartoffeln<br />

kochen. Als Ausbilder fehlte ihm die Härte eines<br />

Frontkämpfers. Seine Annahme, die Bäuerin würde<br />

uns freiwillig zu den Pellkartoffeln eine „Stippe“ liefern,<br />

erfüllte sich nicht. Es gab nur warme Pellkartoffeln.<br />

Nach zwei Tagen machen wir Stellungswechsel.<br />

Wie in den letzten beiden Tagen, fliegen<br />

tagsüber zu unregelmäßigen Zeiten zwei sowjetische<br />

„IL-2 m3 Sturmowik“ Schlachtflugzeuge auf<br />

beiden Seiten der Front nach Norden und Süden.<br />

Wir nennen sie, „Max und Moritz“. Vereinzelt<br />

schleudert einer der MG-Schützen die eine oder<br />

andere handliche Bombe aus seiner nach hinten<br />

offenen Kabine. Sie machen damit Störfeuer. Unsere<br />

eigenen Flugzeuge sind sicher an anderen Stellen<br />

der Oderfront im Einsatz. Hier zeigen sie sich<br />

nicht. Am Tage und in den Nachtstunden meldet<br />

sich unregelmäßig die sowjetische Artillerie mit ihrem<br />

Störfeuer. Das vor uns liegende freie Gelände<br />

zur Oder wird von der Sowjetartillerie mit Granaten<br />

belegt. Nachts hören wir die Abschüsse der Granaten<br />

aus den Geschützen auf der östlichen Oderseite.<br />

Geräuschvoll gurgeln sie über die Oder und<br />

schlagen nach Sekunden mit großem Krachen irgendwo<br />

ein. Es sind jeweils vier Granaten. Ihre Explosionen<br />

hinterlassen flache Trichter auf dem Ac-


231<br />

ker. Wir können nicht voraussehen, wann und wo<br />

die nächsten Granatensalven einschlagen werden.<br />

In einer „Auffanglinie“ haben wir mit der Kompanie<br />

Stellung bezogen. Die Entfernung zur Oder kennen<br />

wir nicht. Wenn wir aus unserer Stellung abgelöst<br />

werden, dann liegen wir in einem etwas höher gelegenen<br />

Waldstück. Dort haben wir, mit je vier Mann,<br />

ein Zelt aus Dreieckzeltplanen gebaut. Jeder Soldat<br />

hat seine Dreiecksplane. Die Seitenwände der quadratisch<br />

ausgehobenen Erdlöcher sind seitlich mit<br />

Faschinen befestigt, damit uns der Sand nicht beim<br />

Schlafen verschüttet. Die Kompanie ist, wenn auch<br />

in einzelnen Zügen voneinander getrennt, beim Appell<br />

mit Nennung der Tageslosung vergattert worden.<br />

Unsere, zur Wache befohlenen Kameraden<br />

können nun zu jeder Tageszeit wohl hauptsächlich<br />

in der Nacht verdächtige Geräusche ansprechen<br />

und nach der Tageslosung fragen. Sollte sich eine<br />

oder mehrere Personen in der Nähe unseres Lagers<br />

bewegen, so können die Kameraden diese<br />

festnehmen. ‚Halt, wer da? Nennen Sie die Tageslosung’.<br />

Die letzte Entscheidung über den Gebrauch<br />

der Waffe ist festgelegt. Jeder Soldat darf nur seine<br />

Waffe geladen und gesichert mit zum Wachdienst<br />

nehmen. Aus Sicherheitsgründen ist es bei Strafe<br />

verboten, die Waffe seines von der Wache abzulösenden<br />

Kameraden zu übernehmen. Eines Nachts<br />

fällt unerwartet ein Schuss. Das Geschoss ist in<br />

eine Kiefer eingeschlagen. Die vorgeschriebene<br />

Meldung, warum der Schuss gefallen ist, ist geschrieben.<br />

Alles hat seine Ordnung zu haben, alles<br />

muss nachweisbar sein. Was wäre, wenn der<br />

Schuss einen Kameraden getötet hätte? Die Frage,<br />

warum dieses geschehen konnte, wird nicht weiter


232<br />

verfolgt. In windstillen, klaren und eiskalten Nächten<br />

kommt regelmäßig ein Doppeldecker der Sowjets<br />

über unseren Wald gesegelt. Die Richtung, aus der<br />

er kommt, ist immer die gleiche. Mit einer Reihe<br />

weißglühender Leuchtkugeln überprüfen die Sowjets,<br />

ob wir schlafen. Wir schlafen nicht, wir sind<br />

hellwach. Es ist eine „Nähmaschine“ (aus der deutschen<br />

Landser Sprache), ein altertümlicher Doppeldecker<br />

der Sowjets, vom Typ U-2. Heute Nacht erwarten<br />

wir sie noch. Zwischen den hohen Kiefern<br />

befindet sich unser Feuerplatz. Um einen Kreis von<br />

etwa 2,00 m Durchmesser ist ein Graben von fast<br />

50 cm Breite ausgehoben worden. Dort stellen wir<br />

unsere Füße ab. Der Aushub dient uns als Schutz<br />

und Rückenlehne. Tag und Nacht sitzen Kameraden,<br />

die keine Aufgaben oder keine Wache haben,<br />

am wärmenden Feuer. Das alles hat mit Lagerfeuerromantik<br />

nichts zu tun. Die Nächte sind teilweise<br />

bitter kalt. Die Wachfreien liegen auf der sandigen<br />

Erde und schlafen in den zweimal zwei Meter großen<br />

Erdlöchern unter den Zelten aus Dreieckszeltplanen.<br />

Trotz des Schlafens bleiben die Ohren weit<br />

geöffnet. Jeder lauscht in die Stille der Nacht. Aus<br />

weiter Entfernung können wir die U2, die Nähmaschine<br />

hören. Sie kommt langsam aber sicher wie<br />

bisher, über unseren Kiefernwald. Noch bevor die<br />

Maschine unseren Wald erreicht, haben wir unser<br />

Lagerfeuer mit dem abgetrennten Deckel eines<br />

Blechfasses und mit dem Sand des Bodens abgedeckt.<br />

- -Da, - - jetzt ist sie gleich über uns. Ihr Erkennungszeichen<br />

ist der schnarrende Motor. Gekonnt,<br />

erstirbt der Motor mit einem Schluckauf. Fast<br />

geräuschlos, nur mit den singenden Tönen der<br />

Spanndrähte des Doppeldeckers, die durch den


233<br />

Flugwind erzeugt werden, segelt die Maschine hoch<br />

über uns hinweg. Mit je einem feinen Knall platzen<br />

über unseren Köpfen nacheinander etwa zehn<br />

Leuchtkugeln. Ihre weithin hell weiß glühenden Kugeln<br />

gleiten und schweben an kleinen Fallschirmen<br />

über die Wipfel der hohen Kiefern. Nach kurzer<br />

Brenndauer wird das Licht der Leuchtkugeln nacheinander<br />

wieder abgeschaltet. Dieses sind harmlose<br />

Geschenke, die uns der Vogel mitbringt. Nach<br />

einer Weile kommt dann, mit einem lauten<br />

„Brrrupp“, das Motorgeräusch wieder an unsere Ohren.<br />

Regelmäßig erleben wir das gleiche Spiel. Andere,<br />

tödliche Geschenke, wirft der „Vogel“ Gott sei<br />

Dank, nicht auf uns. Keiner von uns hat das Flugzeug<br />

je gesehen. Und die Sowjets haben uns am<br />

Boden ebenfalls nicht ausfindig gemacht. Das nehme<br />

ich jedenfalls an. Was kann geschehen, wenn<br />

wir ohne Befehl unserer Vorgesetzten mit unseren<br />

Sturmgewehren durch die Baumkronen auf den Vogel<br />

schießen? Mit Sicherheit wären dann ihre Kameraden<br />

mit Bomben gekommen. In solchen Situationen<br />

sind auch Soldaten keine Selbstmörder. Unsere<br />

Kriegsführung sagt: schlafende Hunde werden<br />

wir nicht wecken. Im Anschluss, das heißt: neben<br />

unserer Einheit hat sich ein Bataillon der Marineinfanterie,<br />

oder ein Teil davon, eingerichtet. Etwa 100<br />

m von uns entfernt steht ihre Feldküche. Sie ist dort<br />

mit einem beleibten Küchenbullen, dem Küchen-<br />

Feldwebel, in Stellung gegangen. In einem gesonderten<br />

getarnten Küchenfahrzeug werden, mit anderen<br />

Nahrungsmitteln, verschiedene Sorten Trockengemüse<br />

in dicken Papiersäcken ständig unter<br />

Verschluss gehalten. Da wir zu dem Fahrzeug keinen<br />

Zugang haben können, konzentrieren wir uns


234<br />

auf die angebrochenen Säcke des Trockenfutters.<br />

Die befinden sich unter der Sitzklappe<br />

der Protze* an der Feldküche. Der Raum unter dem<br />

Sitz ist für die Munition der Kanone vorgesehen.<br />

Und da sind nun die angebrochenen Säcke mit dem<br />

Trockengemüse untergebracht. Wir haben sofort<br />

heraus bekommen, dass wir das Trockenfutter am<br />

besten in unseren Hosentaschen unterbringen können.<br />

Wir haben zu jeder Zeit den Zugriff. Und für<br />

unseren Nachschub an Futter werden wir schon<br />

sorgen.<br />

Die Protze ist der Vorderwagen für eine Kanone. Gezogen<br />

wurde die Protze mit der daran angehängten<br />

Kanone von Pferden.<br />

Zu unserem Glück hat der Küchenbulle die Sitzklappe<br />

nie mit einem Vorhangschloss fest verschlossen.<br />

Das hängt nur als Attrappe dran. Seit<br />

seiner Ankunft haben wir alles, was mit Mundvorräten<br />

zu tun hat, längst aus unseren Viermannzelten<br />

beobachtet. Wir laufen von jetzt an, mit mehr als<br />

einer Handvoll von dem Trockengemüse, bevorzugt<br />

werden Mohrrüben, in unseren Hosentaschen herum.<br />

So etwas Gutes kennen wir nicht. Unsere eigene<br />

Verpflegung kommt unregelmäßig in Essenbehälter.<br />

Unsere Verpflegung ist mengenmäßig als<br />

ausreichend zu bezeichnen. Von der Qualität ist sie<br />

essbar. Vom Geschmack kann keine Rede sein Der<br />

Hunger entscheidet über die Qualität. Unsere Brotration:<br />

ein Drittel Kommissbrot pro Tag.. Die zur<br />

Verteilung kommende Jagdwurst trocknete bereits<br />

bei der Ausgabe. Fett und Kunsthonig war für mich<br />

nicht so wichtig. Nach dem Genuss von Kunsthonig,<br />

selbst in kleinster Menge, bekam ich für einen Tag<br />

heftiges Sodbrennen. Dagegen ist mir das trockene


235<br />

Gemüse immer willkommen. Dass wir ständig unter<br />

Hunger leiden, weiß der Dicke. Aus welchem Grund<br />

sollten wir uns sonst an seine Einrichtung anschleichen.<br />

Er braucht uns nur in unsere hungrigen Augen<br />

zu sehen. Er ist uns vielleicht wie seinen eigenen<br />

Kindern, zugetan. Fast regelmäßig reinigen wir<br />

seinen voluminösen Kochtopf. Vor der eigentlichen<br />

Reinigung schneiden wir den angesetzten Boden<br />

der dicken Suppe aus seiner Gulaschkanone heraus.<br />

Von Zeit zu Zeit, wenn die Luft rein ist, meldet<br />

er sich mit Handzeichen. Noch, bevor er seine Hand<br />

wieder herunter genommen hat, sind wir bereits zur<br />

Stelle. Die am Boden festsitzende oder angebrannte<br />

Der Küchenfeldwebel hat keine Kanone, sondern<br />

eine „Gulaschkanone“ und eine Pferdebespannung.<br />

Für die Protze gab es bei der Wehrmacht keine andere<br />

Bezeichnung. Nahrung schmeckt uns jetzt<br />

besser als jeder Kuchen. Mir kommt es vor, als<br />

würde er häufiger als üblich den Rest der Suppe am<br />

Boden anbacken lassen. Täglich, etwa in der Mittagszeit,<br />

ist er mit seiner Gulaschkanone unterwegs<br />

zu seiner Truppe, um die frische Suppe abzuliefern.<br />

Wir freuen uns jedes Mal, wenn er seinen Standort<br />

in unserer Nähe wieder eingenommen hat. Dann<br />

melden sich bei uns gleich die „Pawlowschen Hunde“.<br />

Heute bleibt der Stellplatz seiner Gulaschkanone<br />

verwaist. Wie es sich dann herausstellt, haben<br />

ihm die Sowjets mit ihrer Artillerie den großen<br />

„Fress-Koch-Topf“ mit samt Protze und den beiden<br />

Pferden unter dem Hintern weggeschossen und<br />

dabei unseren Dicken und seine Zwei Pferde getötet.<br />

Unser, immer zu Scherzen aufgelegte „Dicke“<br />

war plötzlich nicht wiedergekommen. Er war, zusammen<br />

mit seiner Feldküche und seinen beiden


236<br />

Pferden „auf dem Felde der Ehre, für Führer, Volk<br />

und Vaterland“ gefallen. Sein Tod und der Verlust<br />

seiner guten Küche, war für uns sehr schmerzlich.<br />

Mit einem Schlag gab es seine Gulaschkanone und<br />

sein Trockengemüse nicht mehr. Die neue Küche<br />

fand einen anderen Standort. Für uns war sie nun<br />

nicht mehr erreichbar. Einige Nächte später lässt<br />

uns die eigene Körperwärme in unseren Erdlöchern<br />

nicht mehr schlafen. Jeder von uns hat sich über<br />

dem Brustbein die Haut blutig gekratzt. Kratzen ist<br />

für jeden von uns unangenehm. Die heimliche Kratzerei<br />

war für jeden von uns tabu, darüber spricht<br />

man nicht. Einer der Kameraden hat etwas gemeldet.<br />

Ohne Verzug wird die Kompanie einem Sanitätsfeldwebel<br />

vorgeführt. Der braucht sich die Ergebnisse<br />

der Kratzerei nicht lange anzusehen. Die<br />

Männer haben Läuse! Für uns ist es kein schrecklicher<br />

Gedanke, wenn man mit Läusen herumläuft.<br />

Dass Läuse Überträger von Typhus auf den Menschen<br />

sind, davon haben wir nie etwas gehört. Typhus,<br />

dieses Wort kennen wir. Das ist aber kein<br />

Begriff für uns. Läuse sind eine unabwendbare Zugabe<br />

zum Soldatenleben aus kriegsbedingtem<br />

Mangel an Hygiene. Wir haben nie warmes Wasser<br />

und kaum Seife. Kernseife hat die Mutter zu Hause.<br />

Somit besteht für uns keine Möglichkeit, den üblichen<br />

Waschgang regelmäßig zu erledigen. Wir finden<br />

diesen Mangel gar nicht schlimm. Andere Soldaten<br />

sind ja schon Jahre im Krieg und im Dreck.<br />

Versuche, den Biestern ein Garaus zu machen,<br />

scheitert aus Mangel an wirksamen Mitteln. Und die<br />

Läuse zwischen den Daumennägeln zu zerquetschen<br />

und sie damit ausrotten, ist ein absolut untaugliches<br />

Mittel. Die Kompanie marschiert zu ei-


237<br />

nem nahe gelegenen Gehöft. Hier empfangen wir<br />

neue Unterwäsche. Jeder wirft seine verdreckte<br />

Unterwäsche in einen offenen, mit weißer Kalkmilch<br />

gefüllten Behälter. Die saubere Unterwäsche gibt<br />

mir das Gefühl von Sauberkeit auch ohne Waschen.<br />

Darüber kommt unsere verdreckte alte Uniform. Die<br />

verlauste Unterwäsche sind wir los. Nun haben wir<br />

keine Läuse mehr! Im Vertrauen auf eine Lause<br />

freie Zukunft marschieren wir zurück in unsere<br />

Waldstellung. Tage darauf verlassen wir die Stellung<br />

und marschieren nach Biesenbrow. Im Saal<br />

einer Gaststätte finden wir unser Nachtlager. Draußen<br />

schneit es zum wiederholten Mal und der Frost<br />

ist angesagt. Mitgekommen sind die, von uns noch<br />

nicht erkannten, Nissen die sich an den Knopflöchern<br />

und in den Falten des Uniformstoffes festsitzen.<br />

Nun schlagen wir uns mit dem Nachwuchs der<br />

Läuse herum. Die sind noch viel hungriger als die<br />

alten, die vielleicht noch in der Kalkmilch schwimmen.<br />

Die jungen, mit den roten Punkten im transparenten<br />

Körper, quälen uns gewaltig. Es ist nicht verständlich,<br />

dass wir nicht über die geeigneten Mittel<br />

verfügen um diese Läuseplage zu töten. Von unseren<br />

Vorgesetzten hören wir nichts. Na ja, wir haben<br />

doch unsere „Ausbilder“ bei uns. Haben die keine<br />

Schwierigkeiten mit den Läusen? Wir werden doch<br />

die Schnauze halten. Und wir haben doch erst vor<br />

Tagen frische Unterwäsche bekommen. Also, da<br />

gibt es nichts zu meckern. Damit wir nicht einrosten,<br />

marschieren wir täglich von Biesenbrow nach Günterberg,<br />

um dann abends wieder in einem Saal einer<br />

Gaststätte in Biesenbrow zu landen. Zwischendurch<br />

bauen wir unsere Stellungen im Welsebruch<br />

weiter aus. Wir bauen an Schützengräben, und pla-


238<br />

gen uns mit dem Aushub der Einmann- und Zweimannlöcher.<br />

Dann hocken wir stundenlang in den<br />

Zweimannlöchern und warten auf den Ernstfall. Wir<br />

übernachten nun auch in den bunkerähnlichen Unterständen.<br />

Ein Blechofen soll uns in der nassen<br />

und kalten Erde Wärme geben. Um den Rauch<br />

nach außen abführen zu können, wird dafür eine<br />

sonderbare Konstruktion gebaut. Der Unterstand<br />

hat seine Wärme mit dem Rauch gemischt und der<br />

hängt an der Rundholzdecke. Dieses bedeutet,<br />

draußen jagt uns die eisige Kälte in den Unterstand<br />

und im Unterstand jagt uns der beißende Rauch<br />

hinaus ins Freie. Gesägte Rundhölzer mit Holzstangen<br />

bilden zusammen halbwegs geeignete Sitz und<br />

Liegeflächen. Gegen den Qualm schütze ich mich<br />

mit dem vom Militär gelieferten, gestrickten Ohrenschützer,<br />

den ich mir ganz über das Gesicht ziehe.<br />

Die Ohrenschützer bestehen aus einem dehnbaren,<br />

gestrickten Schlauch. Dieser wird über den Kopf<br />

gezogen, wobei das Gesicht frei bleibt. An die Kälte,<br />

an den frischen Schnee, der in der letzten Nacht<br />

gefallen ist, an den Dreck gewöhnen wir uns<br />

schnell. Gestern haben wir zusätzlich zu unserer<br />

normalen Uniform eine dickere, innen weiße und<br />

außen mit Tarnmusterung versehene Zusatzkleidung<br />

erhalten. Diese Bekleidung hält, wie es sich<br />

beim ersten Einsatz herausstellt, nur kurzfristig etwas<br />

die Kälte ab. Nach wenigen Stunden dringt<br />

schon die Nässe bis auf die Haut durch. Sie kriecht<br />

uns bis in die Knochen. Die sehr eingeschränkten<br />

Bewegungsmöglichkeiten in den Löchern und in der<br />

dicken Uniform erziehen uns, nun auch Kälte und<br />

Nässe des Winters zu ertragen. Bei dem Sauwetter<br />

lassen uns sogar unsere Läuse in Ruhe. Was aber,


239<br />

wenn es draußen warm wird? Darüber schweigen<br />

wir. Keiner der Kameraden hat sich über die Nässe<br />

und Kälte geäußert. Nur nicht negativ auffallen.<br />

Sonst kommen unweigerlich die Pferde und ihre<br />

großen Köpfe ins Spiel von wegen Denkens. Nach<br />

kurzer Zeit, so nach zwei Tagen, sind wir wieder auf<br />

der Suche nach neuen Plätzen, an denen wir uns<br />

wieder mit dem Eingraben beschäftigen. Wir dürfen<br />

auf keinem Fall müde werden. Was uns gut tut ist<br />

Marschieren und mit unseren Feldspaten verschieden<br />

große Löcher in die Erde graben. Nach Tagen<br />

und Nächten in den neuen Löchern sind wir froh,<br />

wieder -in unseren aufgeweichten Stiefeln- in unseren<br />

Wald zu kommen, wo wir noch immer den Besuch<br />

einer „U 2“ in den Nächten haben. An das häufige<br />

Schneetreiben haben wir uns gewöhnt. Bisher<br />

sind wir von Angriffen der sowjetischen Armee verschont<br />

geblieben. Gelegentlich hören und sehen wir<br />

ihr Störfeuer. Ich erinnere mich an die Bauernstube<br />

in Günterberg, da war es noch am besten, da haben<br />

wir auf Stroh schlafen können. Das war in den ersten<br />

Tagen in der Natur, außerhalb einer ordentlichen<br />

Kaserne. Wir leben in vollem Vertrauen darauf,<br />

dass unsere Verantwortlichen alles richtig machen.<br />

Vertrauen ist das, was wir noch haben. Wir<br />

behalten es aber in uns unter Verschluss. Unser<br />

Kompaniechef, Oberleutnant T. kommt heute auf<br />

einem Apfelschimmel angeritten. Er begleitet uns<br />

jetzt wie ein Feldherr seine (Armee) von Biesenbrow<br />

nach Günterberg. Am Ende des Tages begleitet<br />

er uns zurück. Seitlich abgesetzt wiegen sich<br />

beide Körper unharmonisch über den Acker dahin.<br />

Für die Marschordnung der Kompanie sind die Zugführer,<br />

die Leutnants, zuständig. Diese geben die


240<br />

Kommandos, wenn der Alte nicht dabei ist. Eines<br />

Tages zeigt uns der Chef, wie gut er mit seinem<br />

Pferd harmoniert. Er will uns sein Können vorführen.<br />

Im Galopp preschen beide über das leicht gefrorene<br />

Gelände heran und setzen vor einem Straßengraben<br />

zum Sprung an. Zack! Der Gaul setzt<br />

über den Straßengraben. Ja, er sollte! - - - Ja, Er<br />

sollte es ja auch. - -Ich kann es nicht beurteilen, ob<br />

der Absprung wirklich stimmt, der Graben nicht zu<br />

tief oder zu breit war. Das Pferd steht plötzlich wie<br />

aus einem Guss, so als wäre es vom Blitz getroffen,<br />

fest auf der Absprungstelle. Oberleutnant T. hat den<br />

großen Sprung über den Graben allein ausgeführt.<br />

Von einer eleganten Landung auf dem schneebedeckten<br />

Sommerweg war nicht zu sprechen. Unbeirrt<br />

marschieren wir weiter. In uns allen, das behaupte<br />

ich einfach, hat sich, wenn auch nur für einen<br />

Moment Schadenfreude entwickelt. Jetzt humpelt<br />

er gramgebeugt, auf den Spazierstock gestützt,<br />

herum. Wir sehen sein schmerzverzerrtes Gesicht.<br />

Der Offizier, der sich auf den Spazierstock abstützen<br />

muss, kommt sich auch noch vor wie der personifizierte<br />

„Alte Fritz“. Oberleutnant T. im Augenblick<br />

jedenfalls ein Quell der Heiterkeit, kommt nun<br />

ohne seinen Apfelschimmel. Der bleibt zunächst<br />

verschwunden. Ich denke: das Pferd wird sich von<br />

der Attacke erholen müssen. Vielleicht hat er auch<br />

das Pferd, wie damals den Hund in der Kiesgrube,<br />

aus Wut erschossen. Uns ist der Pferdepfleger, ein<br />

Obergefreiter, erhalten geblieben. Er ist der einzige<br />

Soldat mit Fronterfahrung. Nach einer Verwundung<br />

ist er zu uns gekommen. Mit unseren Übungen zwischen<br />

Biesenbrow und Günterberg, unseren Erdarbeiten<br />

im Gelände und den Aufenthalten in unserem


241<br />

Wald, sind wir pausenlos in Bewegung und voll beschäftigt.<br />

Mit Fug und Recht werden wir später<br />

einmal sagen können: wir hätten den Welsebruch<br />

mit unseren Feldspaten allein umgegraben. Eines<br />

Abends haben sie uns in Günterberg in einem geschlossenen<br />

Hof einen Farbfilm „Das Bad auf der<br />

Tenne“ gezeigt. Einsetzendes Störfeuer der sowjetischen<br />

Artillerie unterbricht jeden Filmabend. Wir<br />

haben uns mit dem gezeigten Teil, es war vielleicht<br />

erst der Anfang der zweiten Filmrolle, zufrieden gegeben.<br />

In Günterberg habe ich gegen meine Absicht,<br />

nie wieder diesen blöden Kunsthonig zu essen,<br />

verstoßen. Mein Magen hat sofort rebelliert.<br />

Das mir zustehende eine Drittel eines Kommissbrotes<br />

habe ich in meinen Brotbeutel gesteckt. Ich<br />

werde es in den nächsten Tagen als Zubrot verzehren.<br />

An die folgende Episode erinnere ich mich sehr<br />

genau: Wie es zu dem Treffen mit der Frau des<br />

Schulmeisters kam, das weiß ich nicht mehr. Ich<br />

denke: sie hat mich angesprochen und mich zum<br />

Mittagessen eingeladen. Dieses habe ich als Soldat<br />

ablehnen müssen. Ich bat sie, mir von meinen hartgewordenen<br />

Brotresten eine Brotsuppe zu kochen.<br />

Mein Kochgeschirr, angefüllt mit der Suppe habe<br />

ich zur verabredeten Zeit, innerhalb der Mittagspause<br />

dankend entgegen genommen. Da waren kein<br />

Zucker, kein Kakao und keine Früchte in der Brotsuppe.<br />

Vor Hunger hat mir die leicht gesalzene dicke<br />

Suppe gut geschmeckt. Soldaten unserer Kompanie<br />

haben jetzt im Winter eine Kartoffelmiete eines<br />

Bauern aufgebrochen und daraus Kartoffeln<br />

geklaut. Der Inhalt der Miete, die Kartoffeln waren<br />

alle gefroren und damit nicht mehr essbar. Dieser<br />

Einbruch in den Vorrat an Nahrungsmittel fremder


242<br />

Eigentümer ist vom Militär nicht weiter verfolgt worden.<br />

Ich muss noch den Schluss der Filmvorführung<br />

ergänzen. Bis zum endgültigen Abzug aus dieser<br />

Gegend benutzen wir die im Film eingesetzte Floskel<br />

‚Bombolo’ als Gruß. Kameraden aus unserer<br />

Einheit erwidern den Gruß mit ‚Avanti’. Tage später<br />

kommen wir zu dritt von einem Spähtrupp zurück.<br />

Mit gewaltigem Hunger ziehen wir drei Mann in den<br />

Wald. Wir müssen auf unser Essen warten. ‚Kameraden,<br />

heute gibt es jede Menge Suppe’, ruft einer<br />

unserer Kameraden frohgelaunt in den Wald. Tatsächlich,<br />

in den Essenskübeln ist an diesem Abend<br />

mehr dicke Kartoffelsuppe als sonst üblich. Und<br />

heute sind Fleischstücke darin. Die Kochgeschirre<br />

werden abgefüllt. Jeder von uns beeilt sich und<br />

sucht sich einen geeigneten Platz auf dem Waldboden.<br />

Schon ist der Löffel in der Hand. Gierig stürzt<br />

sich jeder auf sein Essen. Bah, - - was für ein Hundefraß?<br />

- - Kein Wunder, soviel Essen war doch<br />

noch nie für die über Tage abwesenden Kameraden<br />

übrig geblieben. Man hätte es ja wissen müssen.<br />

Das Essen ist mit der Rache des Oberleutnants T.<br />

gekocht. Diese nicht mundgerechten Fleischstücke<br />

stammen von seinem Gaul. Uns dienen sie jetzt als<br />

Wurfgeschosse. Ob all die anderen Kameraden das<br />

Essen genossen haben bezweifele ich stark. Das<br />

Saubermachen des Kochgeschirrs und des Essbestecks<br />

ist eine äußerst delikate Angelegenheit.<br />

Es gibt nur Essen, wenn jeder ein sauberes Kochgeschirr<br />

beim Appell vorzeigt. Das Reinigen ist jedoch<br />

äußerst schwierig. Angetrocknete Essensreste<br />

aus dem Kochgeschirr zu entfernen, ist fast unmöglich.<br />

In unserem Wald gibt es kein Wasser. Dagegen<br />

haben wir keinen Mangel an feinem Sand. Am


243<br />

Ende ist jedes Kochgeschirr zum Essensempfang<br />

blitzsauber. Mit dem Schnee kommen weitere<br />

physische Belastungen auf uns zu. Der Schnee hat<br />

draußen in der Nacht wieder alles zugedeckt. Vom<br />

Wacheschieben in den nassen Stiefeln zeigen sich<br />

bei den Trägern die ersten Anzeichen von Frost an<br />

den Füßen. Für uns gibt es keine andere Möglichkeit,<br />

als die Zähne zusammenzubeißen und durchzuhalten.<br />

Eine Krankmeldung ist für uns nicht drin.<br />

Die Füße sind ja noch dran. Nicht nur meine Stiefel<br />

haben Risse vom Stacheldraht. Auch ich habe an<br />

den großen Zehen die ersten Zeichen von Frost. Ich<br />

versuche, andere Stiefel zu bekommen. Mein Zugführer,<br />

Leutnant, ein angeberischer Wichtigtuer, will<br />

mir neue Schnürstiefel besorgen. Morgen bin ich in<br />

Berlin sagt er mir. Welche Größe? 48 sage ich. Sie<br />

leben auf verdammt großem Fuß, meint er. Zwei<br />

Nächte später fliegen mir, mit dem Aufruf meines<br />

Namens, ein Paar neue, eingefettete Stiefel auf<br />

meine Decke, unter der ich fest schlafe. Ich bin froh<br />

über die Stiefel und bedanke mich. Für seinen persönlichen<br />

Einsatz will er dann auch täglich mehrmals<br />

von mir gelobt werden. Es ist schon ein Maulheld,<br />

unser Zugführer. Ein junger Leutnant der es<br />

versteht nach oben zu buckeln und nach unten zu<br />

treten. Er ist jeden Tag mit seinen wilden Sprüchen<br />

unterwegs. Wir sollen uns darauf einstellen. Er sieht<br />

bereits vor seinen Augen: ‚Die auf der Ostseite der<br />

Oder festsitzenden sowjetischen Truppen sind mit<br />

aller Kraft zu vernichten’. Er ist der Auffassung,<br />

dass die Sowjets nicht fähig seien, hierher zu kommen.<br />

Er spricht ständig von den bolschewistischen<br />

Untermenschen, die es zu vernichten gilt. Wir machen<br />

uns über sein Gerede keine Gedanken. Vor


244<br />

Tagen haben wir eine Kolonne sowjetischer Kriegsgefangener<br />

gesehen. Sie sind mit Sicherheit in<br />

ihren braunolivfarbenen Uniformen schon einige<br />

tausend Kilometer bis hierher an die Oder gelaufen.<br />

Es ist nicht erkennbar, was sie unter ihren unterschiedlich<br />

langen, verdreckten und zerschlissenen<br />

Mänteln tragen. Mit einem groben Strick Wäscheleine<br />

halten sie ihre Kleidung zusammen. Mit breiten<br />

Käppis, verdecken sie ihre kahlgeschorenen<br />

Köpfe. An den Schultern oder auf dem Rücken<br />

hängen Beutel. Runde, verbeulte, vom offenen<br />

Feuer schwarz gefärbte Blechbehälter mit Tragebügel<br />

sind am Körper festgemacht. An einer Abfallgrube<br />

greifen sie nach Essensresten. Die sind dort<br />

wahrscheinlich vor ein bis zwei Tagen abgekippt<br />

worden. Schnell füllen sie ihre Blechbehälter. Wo<br />

kommen die Sowjets plötzlich her? Ich verstehe es<br />

nicht, wie können die plötzlich neben uns erscheinen.<br />

Es ist uns verboten, sie anzusehen, doch ich<br />

sehe sie aus den Augenwinkeln an. Das sind unsere<br />

schlimmsten Feinde, die wir vernichten müssen.<br />

Das wird uns täglich verbal vermittelt. Doch den<br />

Feind so unvermittelt zu sehen, ihn auf menschliche<br />

Art so nahe zu spüren? Ich kann es nicht beschreiben.<br />

Ich nehme sie doch als Lebewesen zur Kenntnis.<br />

Sie wirken abgestumpft und gesichtslos. Sie<br />

tragen ihre Köpfe geneigt. Der eine oder andere<br />

Kriegsgefangene könnte wohl bei einem Blickkontakt<br />

mit einem meiner Kameraden oder mit mir aus<br />

der Kolonne herausgeholt werden. Ich meine: Jeder<br />

einzelne dieser Kriegsgefangenen hat seit seiner<br />

Festnahme Angst. Unsere Machthaber haben die<br />

Sowjets zu Untermenschen erklärt. Sie sind unsere<br />

ärgsten Feinde. Besser gesagt: Für uns existieren


245<br />

sie nicht. Deshalb beachten wir sie nicht. In mir hat<br />

ihre Anwesenheit Erschrecken verursacht. Die<br />

Kriegsgefangenen entfernen sie sich langsam von<br />

uns. Was sie an den Füßen tragen, daran habe ich<br />

keine Erinnerung. Wohin sie marschieren, was mit<br />

ihnen geschehen wird, liegt im Dunkeln. Warum bei<br />

den sowjetischen Soldaten die Köpfe kahlgeschoren<br />

wurden, ist mir nicht bekannt. Auch die „Deutsche<br />

Wochenschau“ zeigt nur gefangene Sowjets<br />

mit kahlgeschorenen Köpfen. Meine Kameraden<br />

haben sie auch gesehen, aber sie haben ebenfalls<br />

nie ein Wort über diese Menschen verloren. (es sind<br />

unsere Feinde, die müssen vernichtet werden) ‚Die<br />

Sowjets kommen nicht über die Oder’.Diese Aussage<br />

habe ich noch in meinen Ohren. Unser Zugführer<br />

hat uns heute Morgen nach dem Appell, als seine<br />

Tatsache zum wiederholten Mal lang und breit erklärt.<br />

‚Die Sowjets schaffen das einfach nicht’. ‚Ich<br />

freue mich, gemeinsam mit Ihnen, gegen die Sowjets<br />

für unser Vaterland zu kämpfen’. Vom zehnten<br />

Lebensjahr, das heißt: Von unserer Kindheit an,<br />

sind wir doch zum absoluten Gehorsam erzogen<br />

worden. Dieses bedeutet, uns ist von Anfang an, ab<br />

dem zehnten Lebensjahr die Möglichkeit ‚zu Denken’<br />

verschlossen Als Luftwaffenhelfer haben wir<br />

auf die Bomber unserer Feinde geschossen. Wir<br />

haben ihre Bomber abgeschossen. Wir sind zum<br />

Töten ausgebildet und erzogen worden. Damals fiel<br />

uns das Töten unserer Feinde nicht schwer. Die<br />

Bomber waren ja weit von uns entfernt. Jetzt, hier<br />

hinter der Front, sind wir noch nicht zum wirklichen<br />

Töten eingesetzt. Unser Eid und der Befehl unserer<br />

Vorgesetzten werden meine Kameraden und mich<br />

in dem Augenblick zum Töten zwingen, wenn sie


246<br />

uns den Befehl dazu geben. Gestern Morgen hat<br />

sich unser Leutnant und Zugführer krank gemeldet.<br />

Er müsse sich im Lazarett seinen verstauchten<br />

Rücken behandeln zu lassen, heißt es beim Morgenappell.<br />

‚Wer weiß schon, wobei der sich seinen<br />

Rücken verstaucht hat’. Wir sind uns in unserem<br />

Zug, ohne dass wir darüber nachdenken müssen<br />

einer Meinung: Der ‚Ausbilder-Leutnant’, unser Zugführer,<br />

muss irgendwo etwas früh genug gehört haben,<br />

dass die Kompanie und das Bataillon vor einem<br />

Fronteinsatz steht. Dieses militärische Wissen<br />

hat ihm die Entscheidung ermöglicht, sich vor dem<br />

eigenen Einsatz zu verdrücken. Dafür geht man<br />

schon gern ins Lazarett. Bei uns heißt es: ‚Von wegen,<br />

Zentner schwere Weiber stemmen und nun<br />

liegt er daneben’. So geht es durch unseren Zug.<br />

Wir hören noch: ‚Der Leutnant will alles daran setzen,<br />

damit er schnell wieder zu uns kommen kann’.<br />

Beim Morgenappell erfahren wir in einem Nebensatz<br />

von seinem Abgang ins Lazarett. „Gott sei<br />

Dank, den sind wir los. Den werden wir bestimmt<br />

nie wieder sehen“. Ich erinnere mich noch genau,<br />

es war Mitte April 1945. Während des Morgenappells<br />

macht sich Unruhe in unserer Kompanie breit.<br />

Unsere Vorgesetzten überrumpeln uns mit Meldungen<br />

und Kurzfassungen von Befehlen. Alles dauert<br />

eine gute halbe Stunde. Der eine und der andere<br />

Zug der Kompanie wird plötzlich in Windeseile neu<br />

durchgemischt. Jetzt sind andere Gruppierungen<br />

der Gruppen in neuen Zügen entstanden. Mein alter<br />

Kumpel Heinz. Kl. aus Fürth ist aus meiner Gruppe<br />

herausgenommen worden. Er wird zu einer Panzerbegleitkompanie<br />

abkommandiert. Wir, die wir von<br />

Anfang an seid Berlin zusammen sind, werden von-


247<br />

einander getrennt. Es gibt noch nicht einmal ein<br />

„Mach es gut Kumpel“. Wir verlieren uns innerhalb<br />

eines Augenblicks endgültig aus den Augen. Mit<br />

einem Wiedersehen rechnet keiner mehr. Meine<br />

Hoffnung auf eine Rückkehr aus dem Krieg begleitet<br />

ihn. Er wollte nach dem Krieg Förster werden, so<br />

hatte er es mir mehrmals erzählt. Ich denke, er wäre<br />

der richtige Mann für unseren Wald. In Gedanken<br />

rufe ich ihm nach: „Mach es gut alter Kumpel“. Doch<br />

das alles ist im nächsten Moment schon vorbei und<br />

vergessen. Nun wird es ernst für mich. Ich spüre es.<br />

Da braut sich etwas zusammen. Was wird auf uns<br />

zukommen? Am 18. April 1945 transportiert man<br />

uns zum Bahnhof von Angermünde. Unsere Waffen<br />

und Sturmgewehre werden neuen, jungen Soldaten<br />

übergeben. Wie ich mitbekomme, sollen unsere<br />

Nachfolger im Schnellverfahren zum Fronteinsatz<br />

ausgebildet werden. Ich kann es nicht nachvollziehen.<br />

Wo kommen den unsere Nachfolger her? Ich<br />

erfahre es nicht. Außerhalb des Bahnhofs nimmt<br />

uns ein Transportzug auf. Die Länge des Zuges<br />

kann ich nicht ausmachen, weil der Zug in einer<br />

Rechtskurve steht. Für unsere Verladung gibt es<br />

keinen Bahnsteig. Bis auf unsere Waffen sind wir<br />

feldmarschmäßig ausgerüstet. Der Zug besteht aus<br />

Personenwagen 3. Klasse und gedeckten Güterwagen.<br />

Mir kommt unsere Verladung in den Zug wie<br />

eine heimliche Abreise vor. Wir erfahren nichts. Es<br />

geht alles ohne Lärm, auf Kommando. Und wir eignen<br />

uns für die Verladung in den Truppentransportzug,<br />

wie ein gut eingearbeitetes und geöltes Werkzeug.<br />

Meine vor zwei Tagen zusammengestellte<br />

Gruppe sitzt in einem Abteil der 3. Klasse. Wir warten.<br />

- - - Gegen 15°° Uhr setzt sich unser Zug, lang-


248<br />

sam in Bewegung. Wir fahren, wie wir jetzt von unserem<br />

Gruppenführer hören, in Richtung Berlin.<br />

Werden wir jetzt in Berlin bleiben? Werden sie uns<br />

in Berlin verheizen? Oder wohin geht unsere Reise?<br />

Haben wir nur eine Schonfrist im Welsebruch gehabt?<br />

Wir sind zum Kriegsdienst und zum Töten<br />

unserer Feinde ausgebildet. Unser Bataillon ist für<br />

den Fronteinsatz abgenommen. Was uns nun noch<br />

fehlt, ist der Fronteinsatz. Was jetzt kommt, wissen<br />

wir nicht. Wir sind eingespannt im militärischen Teil<br />

unseres Lebens. Wir ahnen etwas Unaussprechliches.<br />

Was sollen wir aussprechen, dass wir noch<br />

nicht einmal formulieren können? Nur keine Gedanken<br />

machen. Ich beginne - mit der Verdrängung der<br />

Unwägbarkeiten. Spielt da Angst mit, die wir laut<br />

Eid nicht haben dürfen? Am Ende dieser Gedanken<br />

wird stehen: Wir wissen nichts und wollen auch<br />

nichts wissen. Seltsame Sinneswahrnehmungen<br />

habe ich: In mir wird aktiviert, was im nächsten Augenblick<br />

schon wieder verdrängt ist. Mir ist, als wäre<br />

ich gleichzeitig auf verschiedenen Bühnen des Lebens<br />

in Aktionen verwickelt. Ob wir eines Tages<br />

wieder frei sein werden, uns ohne militärischen<br />

Zwang bewegen werden können?<br />

Dieser Gedanke, Frage und Antwort<br />

kann sich in mir nicht entwickeln.<br />

Das steht alles in den Sternen. Der bisher ruhig verlaufende<br />

sonnige Tag zeigt sich mir verstaubt und<br />

abgenutzt. Wir erreichen Berlin-Weißensee. Auf<br />

freier Strecke bleiben wir für Momente stehen. Dann<br />

rollt der Zug langsam weiter. Auf einem parallel laufenden<br />

Gleis bewegt sich ein anderer Militärtrans-


249<br />

portzug. Der zieht mit steigender Geschwindigkeit<br />

an uns vorbei. Der, hauptsächlich aus Flachwagen<br />

bestehenden Zug befördert Panzerfahrzeuge, Halbkettenfahrzeuge,<br />

10,5 cm Geschütze und LKWs.<br />

Die Kameraden von der anderen Feldpostnummer<br />

liegen und stehen zwischen ihrem Kriegsmaterial.<br />

Einige lassen ihre Beine von den Waggons herabbaumeln.<br />

Jeder Feldgraue hat es sich auf seine<br />

Weise bequem gemacht. Die Männer machen auf<br />

mich einen erschöpften Eindruck. Sie nehmen von<br />

uns kaum Notiz. Sind sie auf dem Wege zu einem<br />

Einsatz? Während der Bahnfahrt können sie sich für<br />

eine Zeit wenigstens von den Strapazen erholen.<br />

Nach einigen Augenblicken haben wir sie endgültig<br />

verloren. Der Tag, es ist der 18. April löst sich endlich<br />

auf. Wir taumeln in den tiefen Schlaf oder dösen<br />

vor uns hin. Schlagartig einsetzender Geschützlärm<br />

reißt uns brutal aus dem Schlaf, zurück in die Realität.<br />

Ich höre das Bellen schwerer Flakgeschütze.<br />

Unser im Schritttempo dahin rollender Zug stoppt<br />

abrupt. Auf Befehl stürzen wir hinaus und gehen<br />

nach wenigen Schritten in Deckung. Vor Aufregung<br />

sind wir hellwach, doch die Müdigkeit zwingt uns zur<br />

Ruhe. Mit dem Kommando ‚Achtung!’ jagen wir in<br />

den Zug zurück. Wir führen in einem physisch und<br />

psychisch empfundenen Dämmerzustand Befehle<br />

aus wie Hampelmänner. Es dauert nicht lange,<br />

dann liegen wir wieder neben dem Zug. Dieses<br />

Spiel wiederholt sich in der Nacht mehrmals. Wir<br />

haben vom Morgen des 18.April bis jetzt bei Anbruch<br />

des neuen Tages, es ist der 19.April weder<br />

etwas zu trinken noch zu essen bekommen. Wir,<br />

meine Gruppe und ich sind wie gerädert. Und da<br />

sind dann auch Kameraden mit uns auf der Fahrt,


250<br />

die wohl nie schlafen. Wie oft wir schlaftrunken den<br />

Transportzug über Nacht verlassen haben, weiß ich<br />

nicht mehr. Ich spüre keinen Hunger und keinen<br />

Durst. Meine Sinneswahrnehmungen sind vollkommen<br />

abgeschaltet. Ich empfinde alles um mich herum<br />

gehüllt in eine riesige, undefinierbare, farb- und<br />

geräuschlose Dunstglocke. Das Sprechen findet<br />

nicht mehr statt. Die Nacht zum 19. April 1945 geht<br />

schleppend vorbei. Mir ist, als hätten mehrere<br />

Nächte zur gleichen Zeit stattgefunden. Die Sonne<br />

zeigt uns den neuen Tag. Alles erscheint hell und<br />

freundlich. Man merkt, wie die lähmende Müdigkeit<br />

aus dem Körper schwindet. Der Transportzug rollt<br />

weiter. Vielleicht empfinde ich die Gegenwart des<br />

frühen Morgens für mich nur allein positiv. Kameraden,<br />

wir sind ja mitten in Berlin’ stelle ich überrascht<br />

und mit Verwunderung fest. ‚Wir erreichen gerade<br />

den S-Bahnhof Berlin-Schöneberg’. Und hier hält<br />

der Zug. Die Uhr auf dem Bahnsteig zeigt fast 9°°<br />

Uhr. Einige von uns möchten gern wissen, wo wir in<br />

der letzten Nacht herumgefahren sind. Das kann<br />

doch alles nicht stimmen. Im Norden sind wir gestern<br />

am frühen Abend in Berlin-Weißensee angekommen,<br />

sind dann die Nacht, bis auf die vielen<br />

Halte, doch ständig gefahren. Und jetzt sind wir erst<br />

in Schöneberg? Hier, auf diesem Bahnhof, auf dem<br />

unser Zug nun wieder im Schritt-Tempo weiter fährt,<br />

werde ich zum wiederholtem Mal an meine Zeit als<br />

heranwachsender Jugendlicher in Berlin erinnert.<br />

Den S-Bahnhof Schöneberg kenne ich gut. Es sind<br />

zwei Bahnhöfe, die übereinander angeordnet sind.<br />

Der Zug hält mich fest, obwohl ich ihn gern verlassen<br />

möchte. Aber was soll ich denn noch hier? Meine<br />

Familienangehörigen sind ausgebombt. Ob sie


251<br />

wohl noch leben? Weiter gehen meine Gedanken<br />

nicht. Mein Berlin steht jetzt, während wir durch den<br />

Bahnhof von Schöneberg fahren, wohl vor seiner<br />

endgültigen Vernichtung. Einen Untergang der<br />

Reichshauptstadt, mit den über vier Millionen Einwohnern,<br />

kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.<br />

Welch eine Schmach wäre das! Die jahrelangen<br />

Bombenangriffe, die gewaltigen Zerstörungen in der<br />

Stadt, und jetzt kommen auch noch die Sowjets mit<br />

ihren Truppen, Geschützen und Panzern. Sie werden<br />

mein Berlin vernichten, es dem Erdboden<br />

gleichmachen. So stelle ich mir den Untergang vor.<br />

Die sowjetische Artillerie soll bereits, heute ist der<br />

19.April 1945, die östlichen Stadtteile beschießen.<br />

Ich habe hier kein Artilleriefeuer wahrgenommen.<br />

Die Entfernung von hier bis zum Osten Berlins wird<br />

sicher um die 20 Kilometer betragen. Wird man so<br />

ein großes Gebiet, diese Fläche, das gesamte Berlin,<br />

überhaupt einschließen können? Das kann ich<br />

mir nicht vorstellen. Was wird mit all den Menschen<br />

geschehen, die dann in der Falle sitzen? In der Zeit,<br />

wo ich mich mit der Reichshauptstadt beschäftige,<br />

rollt unser Transportzug immer weiter. Weiter, immer<br />

weiter geht unsere Fahrt in den Tag und weiter<br />

ins Ungewisse. Jeder von uns hat seine eigene<br />

Angst. Von meinen Kameraden spricht keiner von<br />

seinen Empfindungen. Es wird alles verdrängt. Uns<br />

ist es verboten, Angst zu haben, das nationalsozialistische<br />

System hat sie uns ausgetrieben. Wie<br />

könnten wir sie zeigen? Wir, die wir alle seit vielen<br />

Jahren gleichgeschaltet sind, haben die uns verordnete<br />

„Sicherung“ damals, mit zehn Jahren, eingebaut<br />

bekommen. Wir sind und leben systemabhängig.<br />

Das System ist eine Art Käfig, der jeden Einzel-


252<br />

nen von uns innerhalb der Gemeinschaft fest umschließt.<br />

Ohne unser System können wir nicht<br />

bestehen. Unser Zug rollt weiter. Jetzt nähern wir<br />

uns dem Bahnhof Berlin-Oberschöneweide. Der<br />

Name wird nur durch Bahnhofsschilder bekannt.<br />

Augenblicke nach dem letzten Schild hält unser<br />

Transport auf freier Strecke. Wohnhäuser sehen wir<br />

nicht. Mit leerem Magen sehen wir mit müden Augenpaaren<br />

in die Gegend, ohne tatsächlich etwas<br />

zu sehen. Wir erkennen nicht einmal, wenn wir uns<br />

dabei gegenseitig anschauen. Gegen 14°° Uhr rollt<br />

es uns weiter in Richtung Süden. Werden wir über<br />

eine Nebenstrecke wieder in die Reichshauptstadt<br />

rollen, dann im östlichen Teil unserer Reichshauptstadt<br />

zum Kriegseinsatz kommen, oder geht unsere<br />

Fahrt fort von hier? Nach einigen Fahrminuten ist<br />

klar: Wir werden nicht in Berlin bleiben. Aber wohin<br />

fahren wir? Wir passieren „Königs-Wusterhausen“.<br />

Mir ist der Ort wegen des „Deutschlandsenders“ auf<br />

der Langwelle bekannt. Die Fahrt führt uns weiter<br />

über Lübben, nach Lübbenau. Dort bleibt unser<br />

Transportzug auf dem Bahnhof, an einem überdachten<br />

Bahnsteig, für eine längere Zeit stehen.<br />

Soweit ich das Bahnhofsgelände von meinem Fensterplatz<br />

einsehen kann, rührt sich hier nichts. Hier<br />

herrscht wieder eine trügerische Ruhe. Selbst die<br />

Luft scheint sich nicht zu bewegen. Das Gefühl von<br />

Durst und Hunger kommt wieder auf. Unerwartet<br />

werden wir von lauten Stimmen auf dem Bahnsteig<br />

abgelenkt, und so treten Hunger und Durst wieder<br />

in den Hintergrund zurück. Was gibt es da zu erfahren?<br />

Zunächst kommen nur einzelne der vorbeifliegenden<br />

Wortfetzen an unsere Ohren. Was wird jetzt<br />

auf dem Bahnsteig, unmittelbar unterhalb des Fen-


253<br />

sters, an dem ich sitze, gesprochen? Wir lauschen<br />

gemeinsam und gespannt. Das Zugpersonal<br />

befindet sich in einer lauten und heftigen Auseinandersetzung<br />

mit unserem Transportoffizier. Wir sehen<br />

diesen Major, mit leicht ergrautem Haar, hier<br />

auf dem Bahnsteig zum ersten Mal. Der Zugführer<br />

der Reichsbahn meldet dem Transportoffizier: ‚Die<br />

Reichsbahn kann die Weiterfahrt dieses Transportzuges<br />

nicht verantworten’. Es folgt die Begründung:<br />

‚Fliehende Menschen kommen aus Richtung Süden<br />

und Osten. Sie kommen mit ihren Habseligkeiten<br />

auf Handwagen, Schubkarren und in Kinderwagen<br />

verstaut’. Deswegen verweigert der Zugführer, der<br />

für den Zug und das Reichsbahn-Personal verantwortlich<br />

ist, die Weiterfahrt in die Richtung aus der<br />

die Fliehenden Menschen kommen. Ich sehe und<br />

höre ohne hinzuschauen, wie der Major seine Pistole<br />

zieht. Er zielt auf den Zugführer und befiehlt, sofort<br />

den bestehenden Befehl auszuführen. „Setzen<br />

Sie den Transportzug sofort in Marsch!“ Es war das<br />

einzige Mal, dass der Major den Zugführer angebrüllt<br />

hat. Alle Eisenbahner in Uniform tragen ihre<br />

Stahlhelme, unter ihnen ist auch eine Frau. Sie ziehen<br />

sich in ihr Abteil zurück. Der Transportführer<br />

bewegt sich zu seinem Abteil und steigt wohl als<br />

letzter in den anfahrenden Zug. Jetzt geht es ohne<br />

Unterbrechung, wenn auch anfangs zögerlich, weiter.<br />

Unser Zug rollt langsam aus dem Bahnhof von<br />

Lübbenau. Er verlässt nach Überquerung der<br />

Hauptstraße die Richtung nach Cottbus und rollt,<br />

Boblitz linker Hand passierend, weiter in Richtung<br />

Calau. Ich schreibe nun eine Art Protokoll des Majors,<br />

das es in dieser Form natürlich nicht gegeben


254<br />

hat. Ich beabsichtige mit meinem Protokoll, mich in<br />

die Gedanken und Empfindungen des Majors<br />

einzufühlen und sie mir für diesen Bericht hier anzueignen.<br />

„Was werden uns die Flüchtlinge bedeuten, die angeblich<br />

vor sowjetischen Truppen, die doch niemand<br />

von uns gesehen hat, die auf der Flucht sein<br />

sollen. Das sind doch hier alles nur Zivilisten. Mich<br />

interessiert nur mein Transport. Der Zugführer hat ja<br />

einsehen müssen, dass er sich wirklich nicht mit<br />

seinem Haufen den Befehlen des Militärs widersetzen<br />

kann. Der hat sich doch am Ende freiwillig, ja<br />

freiwillig, meinem Befehl unterworfen. Um meinen<br />

Auftrag zu erfüllen, hätte ich den Mann glatt umgelegt.<br />

Denn für die Reichsbahn, die den Weitertransport<br />

nicht durchführen wollte, hätte ich mich doch<br />

niemals vor das Kriegsgericht bringen lassen. Mein<br />

Zug fährt nach Senftenberg, dorthin, wo hin er<br />

muss. „Mag da kommen, was da will. Meinen Befehl<br />

werden die von der Reichsbahn schon ausführen.<br />

Wo kommen wir hin, diese Eisenbahner haben uns<br />

doch überhaupt nichts zu melden“. Ich kann mich<br />

nicht beruhigen. Von unserem Geschäft, haben diese<br />

Zivilisten doch überhaupt keine Vorstellung. Die<br />

haben nur das zu tun, was wir von ihnen verlangen.<br />

Befehl ist Befehl. Und der Befehl kommt von mir.<br />

Ich bin noch lange nicht mit den Reichsbahnern am<br />

Ende. Mit dem wiederholten Ausruf: „Befehl ist Befehl“<br />

kann ich mich wieder beruhigen. „Befehl ist<br />

Befehl!“ Damit festige ich meinen Dienstrang. Diese<br />

Leute von der Reichsbahn, - - und diese Flüchtlinge,<br />

wohin soll ich denn meine Gedanken noch lenken.<br />

„Wir müssen die Sowjets besiegen, das ist un-


255<br />

ser Auftrag“. Dieser Befehl schwirrt mir trotz aller<br />

Anstrengung immer durch den Kopf. „In Senftenberg,<br />

da können die vom Stab mit dem Zug und den<br />

Soldaten von mir aus machen, was sie wollen“. Nun<br />

habe ich meine innere Kraft wieder gefunden. Mein<br />

Stolz kommt wieder. Mit meinem nach links und<br />

rechts gelenkten Augenpaar streichele ich über<br />

meine Schulterstücke. Bei meinem nächsten Kasinoabend<br />

werde ich meinen Offizierskameraden zeigen,<br />

was ich für ein tüchtiger Offizier bin. „Bis Senftenberg<br />

habe ich das Kommando über den Zug und<br />

die Truppe!“.<br />

Dass dieses Protokoll annähernd den Gedanken,<br />

des Majors entspricht, das möchte ich annehmen.<br />

So, oder so ähnlich, hat er sich selbst Mut gemacht.<br />

Auf dem Bahnhof in Lübbenau sickern die ersten<br />

Informationen durch. Wir werden über Calau nach<br />

Senftenberg fahren. Unser Transport gehört zur<br />

Neuaufstellung der „Division Hermann Göring“. Der<br />

Raum Bad Muskau wird als erster Einsatzort genannt.<br />

Wer weiß schon wie weit es von hier aus<br />

nach Senftenberg ist, und wie lange es dauern wird,<br />

um dahin zu kommen. Und, ehrlich gesagt, ich will<br />

es plötzlich nicht mehr wissen. Ich schiebe auf diese<br />

Weise den Gedanken an den nahenden<br />

Kriegseinsatz von mir. Darüber, dass man verwundet<br />

oder getötet werden kann, ist unter uns nie gesprochen<br />

worden. Jetzt kann ich feststellen, dass<br />

wir schon abgestumpft sind. Wir sind vom ewigen<br />

Hin und Her, auch ohne einen Fronteinsatz stumpf.<br />

„Fronteinsatz, wie ist das, was passiert da?“ Nach<br />

dem mehrfachen Aus- und Einsteigen in der letzten<br />

Nacht haben sich die mehrschichtigen Papiertüten


256<br />

mit den trockenen Zwiebackstücken, unsere „Eiserne<br />

Ration“, im Brotbeutel aufgelöst, und sind zu<br />

Bruch gegangen. Der eine oder andere meiner jungen<br />

Kameraden hat inzwischen, trotz des strengen<br />

Verbotes, einfach vor lauter Hunger, die „Eiserne<br />

Ration“ verschlungen. Mit sehr gemäßigtem Tempo<br />

passieren wir eine Haltestelle mit dem Namen<br />

„Bischdorf“. Ich muss mir den Namen unbedingt<br />

merken. Warum ich ausgerechnet dieses Schild in<br />

mich hineinstopfe, weiß ich nicht. Es ist, wie ich<br />

beim Vorüberfahren merke, nur das Schild vorhanden.<br />

Einen Ort kann ich nicht sehen. Sollte es mir<br />

später möglich sein, mehr über den Ort in Erfahrung<br />

zu bringen, dann werde ich nachschauen. Ich sitze<br />

immer noch rückwärts zur Fahrtrichtung auf der linken<br />

Seite des Abteils. Von diesem Platz aus habe<br />

ich, mit meinem Kameraden gegenüber, die Auseinandersetzung<br />

zwischen dem Reichsbahnpersonal<br />

und dem Transportoffizier auf dem Bahnhof von<br />

Lübbenau erlebt. Unerwartet bremst jetzt unser Zug<br />

und bleibt auf freier Strecke stehen. Auf der linken<br />

Seite in Fahrtrichtung sehen wir eine Böschung. Es<br />

herrscht absolute Ruhe. Nur, was ist das? Man<br />

kann die Lokomotive schnaufen hören. Die in meinem<br />

Kopf aufkommenden Gedanken entfliehen. Wir<br />

lauschen angestrengt auf? Auf was? Ich habe die<br />

Vorstellung, dass wir mehr Sicherheit haben, wenn<br />

der Zug rollt. Warum? Während der Fahrt können<br />

wir nicht aussteigen. Hoffentlich geht es gleich weiter.<br />

Ich verdränge meine Gedanken. Niemand von<br />

uns wird es sich eingestehen, dass wir uns seit Minuten<br />

in einer äußerst komplizierten Lage befinden.<br />

Die Zeit wirkt, als wäre der Zug an den Schienen<br />

festgeschweißt.


257<br />

Warum bleiben wir jetzt stehen?<br />

Wer hat diesen Halt angeordnet?<br />

Hat vielleicht der Zugführer der Reichsbahn eigenmächtig<br />

gehandelt? - - -Oder was ist da vorn los?<br />

Sind dem Transportoffizier, nachdem er seinen „Befehl“<br />

noch einmal gelesen hat, andere Entscheidungen<br />

möglich geworden? - - - Wie könnte eine Verständigung<br />

zwischen dem Transportoffizier und<br />

dem Zug- und Lokführer gekommen sein? Vor innerer<br />

Anspannung sind mir diese Gedanken zu dem<br />

Zeitpunkt des Geschehens nicht gekommen. Mit<br />

einem heftigen Ruck fahren wir nun doch an. Na,<br />

Gott sei Dank, wir fahren. Wohin geht es? Vom Gefühl<br />

her wird der Zug jetzt geschoben. Geht es nun<br />

wieder zurück? Vielleicht doch nach Berlin? Die<br />

Waggons werden über die Puffer, von der Lokomotive<br />

aus, Tender voraus, gedrückt. Unser Zug rollt in<br />

die Richtung, aus der wir gerade gekommen sind.<br />

Auf diesem Teil der Strecke, von Lübbenau bis hier<br />

in der Höhe von Bischdorf, waren wir auf der sicheren<br />

Spur. Bis hier sind wir doch vorhin schon einmal<br />

gefahren. Die nächste Eisenbahnstation Calau, liegt<br />

vor uns auf der Spur, auf der unser Zug noch nicht<br />

gerollt ist. Wir sind von Angermünde bis hier rund<br />

24 Stunden auf der Schiene unterwegs. Also fahren<br />

wir nun doch nach Berlin zurück? Oder was ist jetzt,<br />

ohne weitere Vorwarnung, zu erwarten? Sitzen wir<br />

etwa schon fest? Knirschende und zerreibende Geräusche<br />

begleiten unseren Zug. Ein durch Mark und<br />

Bein dringendes Dröhnen hören wir durch die offenen<br />

Abteilfenster. Das sind Panzer. Die fabrizieren<br />

mit ihren aufheulenden Motoren einen ohrenbetäubenden<br />

Höllenlärm. Zurückblickend auf den<br />

19.04.1945, komme ich hier zu meiner Anmerkung,


258<br />

die den Weg der sowjetischen Panzer beschreiben<br />

kann, die neben uns, etwa parallel zur<br />

Eisenbahnlinie in die gleiche Richtung wie wir mit<br />

unserem Transportzug gefahren sind. Unser Halt<br />

auf freier Strecke ist weder von der Reichsbahn<br />

noch von dem Transportoffizier veranlasst worden.<br />

Ich glaube eher, dass der Lokführer und der Heizer<br />

die vor dem Zug liegende Strecke und Umgebung<br />

besonders intensiv beobachtet haben. Ich glaube,<br />

dass die Männer auf der Lokomotive die sowjetischen<br />

Panzer erkannt haben. Die Rückführung des<br />

Truppentransporters in Richtung Lübbenau erscheint<br />

mir daher logisch. Die sowjetischen Panzer<br />

fahren durch ein Waldgebiet. Der von den Panzerketten<br />

hochgewirbelte Sandboden wird heftig knirschend<br />

zu feinen Staub zermalmen.<br />

Beim Haltepunkt „Bischdorf“ fahren wir jetzt langsam<br />

über die Weiche zurück auf die rechte Fahrspur.<br />

Und hier, an dieser Stelle, fahren wir an ungefähr<br />

fünf offenen Güterwagen vorbei, die auf dem<br />

Gleis stehen, dass wir gerade verlassen haben. Güterwaggons<br />

ohne Lokomotive? Ich habe vor innerer<br />

Aufgeregtheit keine Lokomotive gesehen. Von dem,<br />

was sich jetzt vor meinen Augen zeigt bin ich atemlos<br />

und gefesselt. Auf den mit Kohlestaub verdreckten<br />

Böden der Waggons stehen, sitzen und liegen<br />

auf Tragen, verwundete deutsche Soldaten. Zum<br />

Teil tragen sie frische Verbände. Wo kommen plötzlich<br />

die verwundeten Kameraden her? Waren die<br />

Waggons ursprünglich an unseren Transportzug,<br />

vielleicht in Lübbenau, angehängt worden? Und das<br />

was ich erlebe, sind die Waggons hier an dieser<br />

Stelle, nach einer Fahrt von rund einem Kilometer,<br />

einfach wieder abgekoppelt worden? Ich kann es


259<br />

nicht begreifen, ich habe den Eindruck, man hat<br />

vorsätzlich die verwundeten Menschen an dieser<br />

Stelle einfach ihrem Schicksal überlassen. Ich fühle<br />

mich beim Anblick der Männer unterdrückt, erschüttert<br />

und geschockt. Ich habe während der schleppenden<br />

Vorbeifahrt an den Waggons in die hohlen,<br />

verzweifelten, traurigen Augen der Männer gesehen.<br />

In ihre hilflosen Augen, die mich und meine<br />

Augen im gleichen Augenblick in voller Verzweiflung<br />

angesehen haben. Ich verspüre ihre tiefe Not. Wer<br />

wird sich jetzt um sie kümmern? Da ist doch kein<br />

Sanitäter, ich sehe jedenfalls keinen, der die Verwundeten<br />

betreuen kann. Und, wie soll der Sani von<br />

einem zum nächsten Waggon kommen? Was ich<br />

hier sehe, das kann ich nicht verstehen. Das gibt<br />

keinen Sinn. Nichts begreife ich. Meine Gedanken<br />

gehen ins Leere. Ich spüre sonst keine Unruhe in<br />

mir. Doch sehr langsam bearbeiten mich meine Gedanken<br />

im Untergrund. Ich empfinde eine in mir<br />

hochsteigende innere Anspannung. Der Pferdepfleger<br />

unseres Kompaniechefs, der Obergefreite, stellt<br />

mit seiner klaren, zutreffenden Aussage fest: „Nun<br />

sitzen wir mitten drin! Mitten, in der verdammten<br />

Sch - - - - - “. Der Rest geht im Lärm von Flugzeugmotoren<br />

unter. Er wird es wissen, er hat als einziger<br />

Fronterfahrung. Unsere Jagd-Maschinen schrauben<br />

sich über unserem Zug in die Höhe. Wir hören sie,<br />

aber schon sind sie wieder verschwunden. Die sowjetischen<br />

Panzer geben uns eine extra geräuschvolle<br />

Vorstellung. Ihre Motoren brüllen in kurzen<br />

Zeitabständen lautstark auf. ‚Mit unserem Geschrei,<br />

so die Sowjets, hämmern wir euch unsere gewaltige<br />

Kraft entgegen’. Wo stecken die Panzer? Das müssen<br />

Höllenmaschinen sein. Die Sowjets haben uns


260<br />

längst gesehen. Die warten nur noch auf uns. Einen<br />

rollenden Transportzug auf Schienen, den können<br />

die sich doch nicht entgehen lassen. Mit dem gewaltigen<br />

Krach der Motoren haben sie ihre T34 in<br />

Stellung gebracht. Durch die heruntergelassenen<br />

Fenster verstärkt sich noch der Krach in den Abteilen<br />

der Eisenbahnwagen. Wir können noch nicht<br />

erkennen, wo sich die Panzer aufhalten. Der durchdringende<br />

Druck von draußen, frisst an unseren<br />

Nerven. Das Dröhnen sitzt tief im Kopf. Nicht nur<br />

unsere Köpfe brummen. Auch unsere Körper. Noch<br />

nicht einmal mit den Augen suchen wir die Umgebung<br />

nach Panzern ab. Wir spüren nichts. Auch<br />

keine Lebensgefahr.<br />

Wohl aber eine innere Starre. Das rollende Geräusch<br />

unseres langsam fahrenden Zuges versucht<br />

uns vorerst zu beruhigen. Unser Transportoffizier,<br />

der Major, hat bestimmt keine Gefahr für die ihm<br />

anvertrauten Männer und für sich selbst erwartet.<br />

Wir zweifeln nicht an seiner Fähigkeit: Der Major ist<br />

seiner militärischen Aufgabe gewachsen. Nach dem<br />

Richtungswechsel geht unsere Fahrt zurück nach<br />

Lübbenau. Jetzt ergreifen die Sowjets die Initiative.<br />

Ihre Panzermotoren schweigen plötzlich.<br />

Ihre Geschütze zielen auf unseren Transportzug.<br />

Sie werden unseren Transportzug angreifen.<br />

In diesem Augenblick unterfahren wir eine lange<br />

Straßenbrücke.<br />

Worauf warten die Sowjets?<br />

Auf den richtigen Augenblick? ---<br />

Wann ist der richtige Augenblick?<br />

Wenn der Truppentransportzug, einschließlich Lokomotive<br />

unter der Brücke durchgefahren ist.


261<br />

Die vorhandene Deckung verlassen hat.<br />

Nur Geduld. - - - - - -. Nur keine Hast.<br />

Wir befürchten etwas, ohne es richtig wahrzunehmen.<br />

------<br />

Das uns Bedrohende ist nebelhaft.<br />

Noch ist es ein Nichts. --- Hoffnung, der Anspannung<br />

zu entgehen? ---- Nichts ist in mir.<br />

Ein sich aussichtslos entwickelndes Gefühl gibt<br />

nichts frei.<br />

Gedrillt, kann keiner von uns jungen Soldaten, wie<br />

auch ich nicht die innere Deckung verlassen.<br />

In mir ist nichts. - - - - - - -Absolut nichts.


262<br />

HIER, AN DIESER STELLE, AUF DIESEM AC-<br />

KER,<br />

DA HAT UNSER MILITÄRISCHER VORGESETZ-<br />

TER,<br />

DEN HEIZER DER REICHSBAHN ABGELÖST.<br />

WIR JUNGEN MÄNNER, IM FORMAT<br />

SO UNTERSCHIEDLICH,<br />

WIE DIE STÜCKE DER STEINKOHLE<br />

AUF DEM TENDER.<br />

WIR WERDEN NUN VON DER GROSSEN<br />

SCHAUFEL<br />

DES HEIZERS AUFGENOMMEN.<br />

WIR SIND NICHT FÄHIG,<br />

UNS AN DER SCHAUFEL FESTZUHALTEN.<br />

WIR WERDEN JETZT, GEMEINSAM IM FEUER<br />

DER PANZERGRANATEN LANDEN.<br />

WIR WERDEN UNSEREM<br />

EID UND GEHORSAM FOLGEN.<br />

WIR WERDEN GEMEINSAMEN IN DEN TOD<br />

GEHEN.<br />

Unser Kompaniechef, Herr Oberleutnant T..., Forstbeamter,<br />

gehört zu den Ausbildern. Während unserer<br />

Umformung vom Zivilisten zum <strong>Panzergrenadier</strong><br />

hat er oft die Vokabel “Verheizen“ benutzt. Hier, an<br />

dieser Stelle, gebe ich ihn als einen der vielen<br />

Verheizer der Soldaten zu erkennen Die Sowjets<br />

haben nur Berlin im Sinn und vor ihren Augen. Da<br />

wollen sie schnell hin. Was sich auf ihrem Wege zu<br />

ihrem Ziel gegen sie stellt, das werden sie mit<br />

Macht überwältigen, niederwerfen und zermalmen.<br />

Jetzt stehen wir ihnen mit unserem Transportzug im


263<br />

Wege. Für uns sollte es noch für einige Augenblicke<br />

so aussehen, als machten wir eine normale Fahrt<br />

durch eine schöne Landschaft. Die bittere Wahrheit<br />

ist mir bewusst geworden, dass die Macht des Militärs<br />

über alle menschliche Vernunft hinaus, sich,<br />

wie bei der Reichsbahn, mit vorgehaltener Pistole<br />

durchsetzt. Die herrschende Macht des Militärs hat<br />

schließlich in Lübbenau, das dem Militär verbriefte<br />

Recht durchgesetzt. Welch eine Heldentat, mit der<br />

wir unser militärisches Spiel beenden werden. Nach<br />

dieser Leistung, und mit diesem Ergebnis, schließt<br />

sich unser Vorhang für immer. Uns bleibt nichts.<br />

Nur die Regungslosigkeit vor dem zu erwartenden<br />

Beschuss.<br />

Wird unser Zug beschossen? --- Noch rollen wir mit<br />

zögernder Schrittgeschwindigkeit. ---- Nein, - der<br />

Zug ist nicht getroffen.<br />

--- noch nicht.<br />

Ist er jetzt getroffen worden? - - nein.<br />

Wo, an welcher Stelle ist unser Zug schon von den<br />

Panzergranaten getroffen?<br />

Gedanken hetzen wie Granatsplitter durch mein<br />

Hirn.<br />

In Fahrtrichtung rechts, für mich klar erkennbar, explodieren<br />

nacheinander zwei Panzergranaten. Das<br />

Mündungsfeuer der Panzer ist nicht zu sehen. Die<br />

Granaten hinterlassen zwei trockene, durchsichtige,<br />

graue Erdfontänen. Direkt links neben dem einzigen<br />

großen, zweigeteilten Busch auf dem Acker sind sie<br />

eingeschlagen. Schlagartig explodieren die nächsten<br />

Granaten aus den Panzerkanonen in unserem<br />

Zug. Der mit jedem Schuss aus den Panzern hoch<br />

wirbelnde Staub verschleiert die Sicht. Der Staub<br />

bleibt regelrecht über dem Geschehen stehen. Der


264<br />

Beschuss unseres Transportzuges geht durch die<br />

sowjetischen Panzer weiter. Ihre hochexplosiven 85<br />

mm Granaten durchschlagen unsere Waggons. Die<br />

nächste Granate schlägt in dem Waggon in Fahrtrichtung<br />

vor uns ein. Mit dem harten, trockenen<br />

Schlag der Explosion reißt allein der Druck mit<br />

Wucht einen Teil des Eisenbahnwagens auseinander.<br />

Wir fliegen, vollkommen betäubt, zwischen dem<br />

Staub der Holz- und Glassplitter durch unser Abteil<br />

und stoßen heftig gegeneinander. Die noch in<br />

Fahrtrichtung teilweise vorhandene Abteiltrennwand<br />

fängt uns auf. Jeder Explosionsknall steckt tief in<br />

den Ohren und in den vom Schock zitternden Gliedern.<br />

Mit dem ersten Einschlag stand der Zug mit<br />

hartem Schlag fest auf den Schienen. Für einen<br />

Moment noch einmal die absolute und gespenstige<br />

Grabesstille. Die Wagentüren fliegen auf, und wir<br />

hechten wie Hasen, vorübergehend stocktaub und<br />

benommen, hinaus. Mein Blickfeld ist stark eingeengt.<br />

Was links und rechts geschieht, kann ich nicht<br />

erkennen. Mit uns fliegen einige Rucksäcke aus<br />

dem Gepäcknetz. Sie haben sich beim Sprung an<br />

den Tragegestellen für das Sturmgepäck an den<br />

Uniformen eingehakt. Kameraden können sich davon<br />

befreien. Ohne Sicht, gehen unsere Sprünge<br />

nacheinander ins Freie. Wir landen nach- und miteinander<br />

in dem abgestorbenen Gestrüpp, das unmittelbar<br />

neben dem Schotter am Rand des Ackers<br />

steht. Ohne Kommando geht alles mit „Sprung-<br />

Aufmarsch- Marsch“ weiter vorwärts. Die Zeit vom<br />

Abschuss bis zum Einschlag und Explosion einer<br />

Granate ist auf der kurzen Distanz von etwa 200 m<br />

bei Direktbeschuss nicht messbar. Abschuss und<br />

Explosion sind ein Schlag. Der Staub der Erde, der


265<br />

mit jedem Schuss aufgewirbelt wird, hängt bleiern<br />

über uns. Die Sowjets können sich nun jede Zeit<br />

nehmen, denn unser Zug wird sich nicht mehr bewegen.<br />

Mit langsamer Schussfolge geht die Vernichtung<br />

unseres Zuges voran. Über die Gesamtlänge<br />

des Transportzuges ist uns nichts bekannt.<br />

Was neben den Soldaten an Kriegsgerät in den gedeckten<br />

Güterwagen mit auf der Fahrt ist, hat keiner<br />

von uns erfahren. Im Augenblick ist nicht erkennbar,<br />

ob der Zug in seiner Länge beschossen wird. Unser<br />

heutiges Endziel haben wir bereits an diesem Punkt<br />

erreicht. Für uns gibt es kein Senftenberg, kein Bad<br />

Muskau mehr. Unser Einsatzort ist hier. Hier, an<br />

dieser Stelle ist plötzlich unsere Front. Aufspringen,<br />

Stürmen, wie gelernt. Dabei Deckung suchen. Nach<br />

jedem zweiten Sprung runter auf den Erdboden.<br />

Und weiter vorwärts Stürmen. Wohin springen wir?<br />

Nach dem dritten, vierten Sprung, wir stehen unter<br />

dem Schock, blitzt Mündungsfeuer eines T34 Panzers.<br />

Zeitgleich spüre ich die Explosion der Granate<br />

in unserem Transportzug. Nur 150 bis 200 Meter<br />

Entfernung zwischen Panzer und Zug. Abrupt<br />

stoppt unser Sprung nach vorn. Ohne Kommando.<br />

Alles zurück auf die andere Seite des Transportzuges.<br />

Verdammt, die sowjetischen Panzer stehen<br />

direkt vor uns. Die Zeit eines einzigen Atemzuges<br />

hat zum Erkennen genügt. Da liegen nun unsere<br />

getöteten Kameraden, mit denen wir vor Augenblicken<br />

noch zusammen im Abteil gesessen haben,<br />

zusammen mit den schreienden Verwundeten zwischen<br />

und vor unseren Füßen. Die Gefallenen sind<br />

mit einem Schlag von all ihren Ängsten befreit. Sie<br />

haben alles überwunden. Uns bleibt die Angst, die<br />

Bestürzung und die Lähmung erhalten. Wie soll ich


266<br />

das jetzt begreifen? Ich begreife nichts. Fetzen der<br />

Schreie werden von den explodierenden Granaten<br />

niedergebrüllt und zerrissen. In diesen Momenten<br />

mache ich eine entsetzliche Entdeckung: In der<br />

Zeit, da wir von den Panzern beschossen werden,<br />

kann keiner von uns Nervenbündeln dem Kameraden<br />

an seiner Seite beistehen. Wir sind wie springende<br />

Bälle auf einer verzerrten Ebene zwischen<br />

den explodierenden Granaten. Blutleer, körperlos,<br />

unzugänglich. Vor meinen Augen erkenne ich keinen<br />

einzigen meiner Kameraden. Ich erhalte keine<br />

Signale. Ich sende keine Signale. Meine Hilflosigkeit,<br />

mein seelischer Zustand, vermittelt mir das<br />

Gefühl einer Untreue meinen Kameraden gegenüber.<br />

Jeder einzelne von uns ist immer nur für sich<br />

allein. Egal, wo wir uns auch aufhalten. Uns verbindet<br />

an dieser Stelle nur die unmittelbare Nähe des<br />

Todes. Zurück, die kleine Böschung hoch und zwischen<br />

Schotter, den Schwellen und Schienen einerseits,<br />

und den Rädern der Eisenbahnwagen mit den<br />

Streben andererseits, bilden ein starkes Hindernis.<br />

Kriechen, Sichtschutz, bloß nirgendwo hängen bleiben.<br />

Alle Bewegungsabläufe: um Deckung zu finden<br />

werden rein mechanisch erledigt. Genauso, wie<br />

man es uns eingedrillt hat. Mein Kopf arbeitet ohne<br />

mein dazutun unentwegt weiter. Wie viele T34 es<br />

sind, findet vor Entsetzen keiner heraus. Das ist der<br />

Wahnsinn! Unsere aufgeriebene Truppe stürmt,<br />

nachdem das schwierige Hindernis des Transportzuges<br />

überwunden ist, in Richtung Westen. Mit den<br />

explodierenden Granaten und den Geschossen aus<br />

ihren Maschinengewehren am Panzer, jagen sie<br />

uns über den Acker. Jede Explosion geht wie ein<br />

stählerner Stich durch meinen Körper. Es gibt für


267<br />

uns keine Deckung. Nun muss ich miterleben und<br />

sehen, wie zwei junge Ausbilder-Leutnants die ihre<br />

Ärmelstreifen, auf die sie bis zu diesem Zeitpunkt<br />

immer stolz waren, abreißen. Mit der Pistole in der<br />

Hand brüllt jeder von ihnen aus voller Kehle „Sammeln“.<br />

Ich sehe, dass die beiden weiter nach rechts<br />

über die Flur laufen. Meine innere Stimme warnt<br />

mich: „Sieh du zu, dass du hier Land gewinnst“. Bei<br />

freier Sicht über das ansteigende Gelände die<br />

Truppe unter Panzerbeschuss zu sammeln, ist doch<br />

glatter Mord an den Soldaten. Im Unterbewusstsein<br />

zieht es mich auch nicht dahin. Ich weiß es nicht<br />

warum ich meinen Weg suche. Jede einzelne abgeschossene<br />

Panzergranate zwingt jeden von uns<br />

immer wieder auf den Boden. Einzelne explodierende<br />

Einschläge höre ich. Wo sie einschlagen jedoch<br />

nicht. Dann verstummt auch das Maschinengewehrfeuer<br />

der Panzer. Der Untergrund, auf dem<br />

ich mich sprungweise und atemlos vorwärts arbeite,<br />

ist ein mit Kies belegter Feldweg. Rechts und links<br />

steht noch das honigfarbene Gestrüpp und Gras<br />

vom Vorjahr. Dieses Hetzen um das eigene Leben<br />

zwingt mich in einen Zustand der nicht mehr realen<br />

Sinneswahrnehmung. Wie betäubt nehme ich gerade<br />

noch die rasenden Schläge des Herzens und<br />

einen Geschmack nach Eisen* wahr. Was wirklich<br />

um mich herum geschieht, kann ich nicht mehr erkennen.<br />

Ich denke nun, ich bin völlig allein auf mich<br />

gestellt. Nur weiter, nur fort von hier. Schließlich<br />

vertraue ich darauf, außerhalb der Reichweite der<br />

Panzergranaten zu sein. Ich höre sie nicht mehr.<br />

Dann finde ich für einige Augenblicke Schutz zwischen<br />

den Trümmern der Straßenbrücke an der


268<br />

Reichsautobahn. Alle Soldaten, die über das ansteigende<br />

Gelände unter Panzerbeschuss<br />

gekommen sind treffen sich in einem Waldstück auf<br />

der Anhöhe<br />

Den Geschmack nach Eisen führe ich auf<br />

den feinen Abrieb der Eisenbahnschienen<br />

zurück. Diesen Staub habe ich während<br />

der zwei Reisetage im und vor Minuten<br />

unter dem Zug verstärkt eingeatmet.<br />

Ich weiß nicht mehr, wie ich in den Wald zu meinen<br />

Kameraden gekommen bin. Das plötzliche Auftauchen<br />

des Majors, nach dem Beschuss und der Vernichtung<br />

unseres Transportzuges wird mir ewig ein<br />

Rätsel bleiben. Auch ich finde mich hier ein*. Wir<br />

alle sind froh, dass wir uns von dem teilweise in<br />

Flammen stehenden Transportzug bis hier absetzen<br />

konnten. Plötzlich erscheint unser Transportoffizier,<br />

der Major. Wo kommt der überhaupt her? Mit ihm<br />

habe ich überhaupt nicht mehr gerechnet. Sollen wir<br />

jetzt unseren Marsch unter seiner Führung zu Fuß<br />

fortführen? Das der Major, aus irgendeiner Deckung<br />

hier aufgetaucht ist, kann ich nicht nachvollziehen.<br />

In Lübbenau ist er doch auf dem Bahnhof, nach der<br />

Auseinandersetzung mit dem Reichsbahnpersonal<br />

in den Zug eingestiegen. Dass er den gleichen Weg<br />

wie all die anderen Soldaten über den Acker gelaufen<br />

sein soll, das kann ich nicht nachvollziehen. Ein<br />

Major läuft doch nicht allein durch das Gelände. Wo<br />

ist seine Offiziersbegleitung geblieben? Uns ist vor<br />

Entsetzen und Erstarrung nicht einmal aufgegangen,<br />

dass uns der Major den sowjetischen Truppen<br />

zum Fressen vorgeworfen hat. Nun schnarrt er, als


269<br />

sei nichts vorgefallen. Dieses ist jedenfalls mein<br />

Eindruck. Mit der allgemein bekannten<br />

überheblichen und blasierten Militärstimme kräht er:<br />

„Wir müssen eine Auffangstellung bauen und die<br />

ersten Angriffe der Sowjets abwehren. Der Ansturm<br />

der sowjetischen Truppen mit ihren Panzern könne<br />

doch hier mit wenigen Mitteln aufgehalten werden“.<br />

Das ist doch unfassbar. Was versteht der unter wenigen<br />

Mitteln? Jemand hinter den Rücken der Kameraden<br />

verkündet wohl lauter als gewollt, voller<br />

Wut:<br />

„Seit wann kann man denn Panzer mit<br />

Verbandspäckchen aufhalten?“<br />

Wie wir jetzt feststellen, haben wir bis auf vereinzelte<br />

Kameraden noch nicht einmal diese Verdammten<br />

Verbandspäckchen. Ein Griff an die Uniformjacke<br />

genügt für diese Erkenntnis. Wir hören jetzt wie die<br />

im Zug mitgeführte Munition in unregelmäßigen Abständen<br />

explodiert. In diesen Minuten wird mir klar:<br />

„Mit Senftenberg, wo wir heute noch hinkommen<br />

sollen, wird es nichts.“.<br />

Morgen und übermorgen wird es neue Ziele geben.<br />

Aber dieses Senftenberg wird dann nicht mehr dabei<br />

sein. Niemand hört noch etwas von Senftenberg.<br />

Mir scheint: Selbst für das Militär hat es den<br />

Ort nie gegeben. Worauf werden wir uns jetzt einrichten<br />

müssen? Von einem Offizier ist weit und<br />

breit nichts mehr zu sehen. In diesen Minuten denke<br />

ich: ob uns jetzt noch jemand aufhalten kann?<br />

Wird man uns einfach laufen lassen? Ist der Krieg<br />

für uns jetzt vorbei? Wir jungen Soldaten begreifen<br />

es nicht, wieso hat dieses alles geschehen können?


270<br />

Über gefallene, verwundete oder vermisste Kameraden,<br />

wird nicht gesprochen. Es dauert noch<br />

etwas, da löst sich der versprengte Haufen im Wald<br />

langsam und stillschweigend auf. Wo der Major geblieben<br />

ist, ist mir nicht erzählt worden. Der hat es<br />

doch zugelassen, dass wir uns ohne Führung absetzen.<br />

Mit etwa dreißig anderen Kameraden marschieren<br />

in Richtung Westen. Wir marschieren in<br />

die Dunkelheit. Noch fehlt mir jede Orientierung.<br />

Damit der zusammengewürfelte Haufen nicht vollends<br />

einschläft, marschieren wir im Gleichschritt<br />

weiter. Gesprochen wird nicht. Von Zeit zu Zeit wird<br />

ein Kamerad, der vor Müdigkeit nicht mehr laufen<br />

kann in die Mitte genommen. Dort kann er vom gleichen<br />

Takt unterstützt die Augen schließen. Dieses<br />

mag undenkbar klingen, doch es ist Tatsache. Ich<br />

fasse noch einmal zusammen: Die gewaltige Erschütterung<br />

durch den Panzerbeschuss, die Vernichtung<br />

unseres Zuges hat mich völlig betäubt und<br />

überwältigt. Ich merke es nicht sofort. Noch auf dem<br />

Marsch stelle ich fest, dass die Namen und die Gesichter<br />

meiner Kameraden aus meiner Gruppe, aus<br />

meinem Gedächtnis gelöscht sind. Nur mein alter<br />

Kumpel, Heinz Kl. aus Fürth, ist mir, nach mehr als<br />

einem halben Jahrhundert, mit seinem damaligen<br />

Aussehen und seinem Namen in Erinnerung. Er<br />

war, wie bekannt, nicht in dem Transportzug. Gelegentlich<br />

denke ich noch heute an unsere gemeinsame<br />

Zeit. Die Vernichtung unseres Zuges und unser<br />

Rückzug vor den Panzern sind vorüber. Wie<br />

lange hat dieser Wahnsinn gedauert? Ich erinnere<br />

mich nicht. Ich bin mir sicher, mir ist am „Neunzehnte<br />

April 1945“ jedes Gefühl für Zeit und Raum ab-


271<br />

handengekommen. Dieser Tag, geht in den Abend<br />

und die Nacht über.<br />

Noch heute, nach mehr als 60 Jahren habe<br />

ich sporadisch heftige Träume, die auch mit<br />

der Vernichtung unseres Transportzuges zu<br />

tun haben.<br />

Wir marschieren in dieser Nacht durch Luckau.<br />

Einstöckige Häuser und das Kopfstein-pflaster in<br />

Luckau, habe ich noch vor meinen Augen. Unsere<br />

gefallenen und verwundeten Kameraden haben wir<br />

zurückgelassen. Meine Erinnerungen gehen noch<br />

einmal zurück zu unserem zerstörten Transportzug.<br />

Die Lokomotive, die unseren Zug zurückschiebt,<br />

findet Deckung zwischen der Straßenbrücke und<br />

dem Haus mit den Stallungen. Durch diese Deckung<br />

wird die Lokomotive nicht vollständig zerstört.<br />

An dem, was jetzt hinter uns liegt, sind wir nicht<br />

mehr beteiligt. In alter Manier verdrängen wir alles,<br />

was wir erlebt haben. Das Verdrängte ist erledigt.<br />

Erledigt? Bei mir ist nichts erledigt. In der Nacht<br />

zum 20. April 1945 werden wir von den Sowjets bedrängt.<br />

Die Sowjets, so denke ich, finden selbst in<br />

der Nacht keine Ruhe. Die ihnen gegebenen Befehle<br />

treiben sie an. Wir können sie nicht sehen und<br />

hören. Den Druck ihrer vorwärts Bewegung spüre<br />

ich. Mein Gefühl täuscht mich nicht. Ihre militärische<br />

Macht der Sowjets zwingt den Keil vorwärts. Es ist<br />

nicht ihr Tempo, es ist die, wie ich meine stoische<br />

Ruhe, die sie verbreiten. Am Morgen werden sie<br />

nach Norden schwenken. Sie haben nur noch Berlin<br />

vor ihren Augen. Unsere Weiterfahrt von Lübbenau<br />

nach Calau ist sicher die fragwürdigste Entschei-


272<br />

dung gewesen, die ich bisher beim Militär erlebt<br />

habe. An dieser Stelle muss ich mich zu dem Punkt<br />

„Kameradschaft“ äußern. So, wie ich die<br />

Kameradschaft erlebt habe. Ich gehe an die Stelle<br />

zurück, an der unser Transportzug vernichtet worden<br />

ist. Zwischen Lübbenau und Bischdorf, gegenüber<br />

von Boblitz, dort liegt das Gebiet an dem mir<br />

der Wert, die wahre Kette der Kameradschaft, die<br />

Bande der Brüderlichkeit, unmissverständlich vor<br />

Augen geführt worden ist: Die während meiner Rekrutenzeit<br />

in Berlin bis zum 19. April 1945 gelebte<br />

und erlebte echte Kameradschaft, ist an dieser Stelle<br />

mit einem Schlag in meinen Magen durch das<br />

psychische und physische Gemetzel, dem Blutvergießen<br />

einiger meiner, zur gleichen Zeit mit mir aus<br />

den Zug springenden und dabei von Granatsplittern<br />

der explodierenden Panzergranaten und Mg-Feuer<br />

getroffenen, verwundeten und getöteten Kameraden,<br />

abrupt zerstört worden. Die von den physischen<br />

Anstrengungen der Grundausbildung bis zu<br />

unserer Abnahme zum Fronteinsatz geknüpfte Kette<br />

der Kameradschaft ist an diesem Ort für mich<br />

unwiderruflich zerfallen. Dieses auseinander brechen<br />

der Kette Kameradschaft ist der mangelhaften<br />

Qualifikation unseres Transportoffiziers, seiner Unfähigkeit<br />

eine Truppe zu kommandieren zuzuschreiben.<br />

Der Offizier hat aus Angst, bei Nichterfüllung seines<br />

Auftrages, selbst vor das Kriegsgericht gestellt zu<br />

werden, es wohl überlegt und vorgezogen seine ihm<br />

anvertrauten Männer zu verheizen.<br />

Mir bleibt die Frage: Habe ich mich, wegen<br />

nicht geleistetem Beistand schuldiggemacht,


273<br />

weil ich keinem Kameraden Hilfe leistete?<br />

Bin ich zum Verräter an der Kameradschaft<br />

geworden? Für mich heißt es:<br />

Die Kameradschaft, an die wir gemeinsam<br />

als junge Soldaten glaubten, an der wir auch<br />

nie gezweifelt haben, gibt es in Wirklichkeit<br />

gar nicht. Erst später ist mir das bewusst<br />

geworden: „Die Kameradschaft muss noch<br />

erfunden werden“. Und so denke ich sicher<br />

nicht allein.<br />

Die jungen Männer werden durch den militärischen<br />

Drill von Anfang an in eine „Gemeinschaft“ gezwungen.<br />

Die Gruppe, in der ich mich am Anfang ihrer<br />

Aufstellung im Oktober 1944 befand, ist nur nach<br />

Körperlängen über 1,85 Meter und der Herkunft aus<br />

verschiedenen deutschen Landen aufgestellt worden.<br />

Diese Kriterien galten für die erste Zusammenstellung.<br />

Unsere Gruppe verdiente auch nach der<br />

Neuaufstellung Mitte April 45 in Biesenbrow, nicht<br />

einmal mehr den Begriff der „Übereinstimmung“.<br />

Die zu einer Gruppe gehören, haben sich während<br />

der harten Ausbildung nach und nach zu einer benannten<br />

„Einheit“ zusammenschweißen lassen. Bis<br />

zur Kameradschaft innerhalb einer Gruppe ist es ein<br />

langer Weg. Und eine durch Drill erzwungene „Gemeinschaft“<br />

kann nur in der Nicht-Selbständigkeit<br />

der Mitglieder enden. Das Gefühl von Schicksalsgemeinschaft<br />

innerhalb der Gruppe, entwickelt sich<br />

ausschließlich durch den ständig herrschenden militärischen<br />

Druck. Je stärker der Druck der militärischen<br />

Vorgesetzten, desto fester ist der Zusammenhalt.<br />

Die Auffassung, die „Einheit der Gruppe“<br />

habe etwas mit der „Kameradschaft“ zu tun, kann


274<br />

ich nicht nachvollziehen. Unter den Kameraden einer<br />

Gruppe, zehn Soldaten, (Ohne Gruppenführer<br />

und Stellvertreter) wird sich ein<br />

Vertrauensverhältnis nur sehr langsam entwickeln.<br />

Die Brauchbarkeit der Kette einer Gruppe, ist letztlich<br />

von der Qualität ihrer einzelnen Gliedern abhängig.<br />

Der auf unbestimmte Zeit gegründete Zusammenhalt<br />

hat nur dann Erfolg, wenn jeder Einzelne<br />

den gleichen Vorteil oder Nutzen hat. Auch<br />

dieser Zustand hat für mich noch nichts mit Kameradschaft<br />

zu tun. Bei meiner Ausbildung zum <strong>Panzergrenadier</strong><br />

bis zum Ende des Krieges habe ich<br />

keinen aktiven Frontoffizier und keinen fronterfahrenen<br />

Soldaten erlebt. Unsere Vorgesetzten waren<br />

reine Ausbilder. Sie waren ausschließlich für die<br />

Ausbildung der Soldaten an den Waffen und für den<br />

harten Drill zuständig. Sie haben es allein in der<br />

Hand, ob sich das Vertrauen durch den geringsten<br />

Eingriff weiter positiv oder negativ entwickeln soll.<br />

Überwiegt ein positiver Kameradschaftsgedanke, so<br />

erfolgt mit Sicherheit eine Aufteilung und Trennung.<br />

Dann heißt es, die Kompanie, oder den Zug durchmischen<br />

und neu aufstellen. Dieses geschieht mit<br />

Sicherheit dann, wenn die Vorgesetzten befürchten<br />

müssen, dass sie ihren ausschließlichen Einfluss<br />

auf ihre Truppe verlieren könnten. Das gesamte<br />

Militär, vom obersten Befehlshaber bis zum Gruppenfühler-Stellvertreter,<br />

einem Gefreiten, ist extrem<br />

eifersüchtig. Frühzeitig spüren sie eine denkbare<br />

Beschädigung ihrer Macht. Mit aller Härte und durch<br />

zusätzlichen Drill bekämpfen sie schon eine sich<br />

anschleichende Gefahr. Jede militärische Einrichtung<br />

kann nur nach festgelegten Vorschriften existieren.<br />

In dem System gibt es keine Möglichkeit


275<br />

gegen Vorschriften ohne Bestrafung zu handeln.<br />

Könnte sich da vielleicht schon der Ansatz einer<br />

möglichen Verschwörung oder einer Auflehnung<br />

gegen die Vorgesetzten zeigen? Haben einzelne<br />

Glieder der Gruppe einen besonderen Draht zueinander<br />

gefunden, dann besteht bereits aus der Sicht<br />

des Militärs die Gefahr, der Einflussnahme auf andere<br />

Kameraden innerhalb der Gruppe. Ich erinnere<br />

mich an das gute Verhältnis zu meinem alten Kumpel<br />

Heinz Kl. aus Fürth. Ich bin mir sicher, ich habe<br />

ihn damals aus den vorgenannten Gründen abgeben<br />

müssen. Ein kameradschaftliches Miteinander<br />

gilt nach meiner Überzeugung für jeden Einzelnen<br />

innerhalb einer Gruppe. Das ist aber nicht die Kameradschaft,<br />

wie ich sie letztlich beim Militär verstehe.<br />

Eine echte Kameradschaft kann sich nach<br />

meiner Auffassung erst bei längeren gemeinsam<br />

erlebten Kriegseinsätzen und dem erlebten Verlust<br />

von Kameraden entwickeln. Doch das ist für mich<br />

ein anderes Thema. Zu diesem Punkt halte ich abschließend<br />

fest: In all meinen Gedanken und Fragen<br />

an die und nach der Kameradschaft, ist letztlich<br />

in mir nie ein bitterer Nachgeschmack geblieben.<br />

Meine Augenzeugin des Geschehens, Frau Marie<br />

Orsin aus Groß-Klessow, gibt mir im September<br />

1993 ausführlich Auskunft über ihre Erlebnisse, am<br />

19. April 1945. Ihr gilt an dieser Stelle mein besonderer<br />

Dank für ihre Freundlichkeit und die gegebene<br />

Auskunft. Sie berichtet: „Am 19. April 1945 habe ich<br />

unser Haus und unser Grundstück, dieses liegt etwa<br />

100 m von der zweigleisigen Eisenbahnlinie entfernt,<br />

verlassen. Ich war auf dem Wege von Groß-<br />

Klessow nach Boblitz. Der Schrankenwärter hatte<br />

die Eisenbahnschranke geschlossen und blieb auf


276<br />

seinem Posten. Ich blieb vor der geschlossenen<br />

Schranke stehen und wartete wie auch der Schrankenwärter,<br />

auf einen Zug. Aus Richtung Lübbenau<br />

näherte sich der Zug, der aus Personenwagen und<br />

geschlossenen Güterwagen bestand. Für mich war<br />

es ein ganz normaler Zug. Als er an mir vorüber<br />

fuhr, habe ich an den Fenstern Soldaten gesehen,<br />

die mir zuwinkten. Ich tat das gleiche und freute<br />

mich darüber. Der Zug fuhr in Richtung Bischdorf<br />

und Calau weiter. Nach etwa 30 Minuten, so gegen<br />

16.30°° kam der Zug aus Richtung Calau - Bischdorf<br />

zurück. Die Lokomotive schob den Zug. Die<br />

Schranke war immer noch geschlossen und ich beschloss,<br />

zurück zu unserem Haus zu gehen. Ich<br />

hatte ein ungutes Gefühl in mir. Warum kommt der<br />

Zug zurück? Plötzlich hörte ich das Schießen. Der<br />

Zug wurde beschossen. Der Zug stand plötzlich<br />

ohne Bewegung da. Ich spürte eine furchtbare<br />

Angst in mir. Es schoss mir durch den Kopf: Was<br />

wird in den nächsten Stunden und Tagen mit uns<br />

geschehen? Was haben wir zu erwarten. Der Zug<br />

wurde beschossen und zerstört. Die Soldaten flohen<br />

aus dem Transportzug vor dem Fliegerbeschuss<br />

und dem Panzerbeschuss auf die Anhöhe.<br />

Sie heißt im Volksmund GULIZA. Der Lokführer und<br />

der Heizer lagen bis zum Einbruch der Nacht in der<br />

leeren Kartoffelmiete. Unser Haus wurde nicht beschossen.<br />

Nach meiner Erinnerung sind von den<br />

Panzern mehrere Granaten auf den Transportzug<br />

abgefeuert worden. Polen, die bei Bauern gearbeitet<br />

haben, plünderten den Zug oder das, was davon<br />

übrig geblieben war. Erst am 8. Mai 1945, dem Tage<br />

der Kapitulation, durften wir an die Reste des<br />

Zuges. Die gefallenen Soldaten wurden geborgen


277<br />

und am Bahndamm beerdigt. Drei tote Soldaten<br />

habe ich in dem zerschossenen Zug sitzen sehen.<br />

Sie hatte der Tod beim Kartenspiel überrascht.<br />

Weitere elf gefallene Soldaten lagen verstreut am<br />

Bahndamm“. Ich richtete meine Frage nach dem<br />

Verbleib der verwundeten Soldaten an die Augenzeugin.<br />

Sie konnte mir zu diesem Ereignis keine<br />

Auskunft geben. Sie nannte mir den Namen eines<br />

älteren Herrn, der in Bischdorf lebt. Ich besuchte<br />

den Herrn und bat ihn, mir über das Schicksal der<br />

Verwundeten zu berichten. Meine Frage im September<br />

1993: Was ist aus den verwundeten Soldaten<br />

geworden, die ich auf den offenen Güterwagen<br />

bei Bischdorf gesehen habe? Wo kamen die Kameraden<br />

her? Kamen sie aus dem Lazarett der Stadt<br />

Lübbenau? Ich habe sie mit ihren frischen Verbänden<br />

gesehen und ich habe in ihre verzweifelten Augen<br />

gesehen. Die mündliche Auskunft habe ich<br />

festgehalten: Ich bin am 19. April 1945 noch nicht<br />

hier gewesen. Ich habe mich nach meiner Rückkehr<br />

aus dem Kriege mit den Kriegsereignissen in meiner<br />

Heimat eingehend beschäftigt. „Die Verwundeten*,<br />

die sich ohne Hilfe von den Waggons absetzen<br />

konnten, sollen dieses getan haben. Liegend<br />

transportierte, nicht gehfähige werden wohl eine<br />

Flucht versucht haben. Ihre Fluchtversuche sollen<br />

ohne Erfolg geblieben sein. Alkoholisierte sowjetische<br />

Soldaten sollen die nicht geflohenen verwundeten<br />

Soldaten auf Fahrzeuge verladen und in einen<br />

nahe gelegenen Wald gebracht haben. Die<br />

Sowjets sollen sie dann dort erschossen haben“.<br />

Die Erschießung der Verwundeten Soldaten durch<br />

die Sowjets konnte und kann heute von mir nicht<br />

überprüft werden. Ich kann es daher auch nicht be-


278<br />

stätigen. Meine Gedanken dazu will ich aber äußern:<br />

Eine Verladung der Verwundeten auf Fahrzeuge,<br />

um sie anschließend in einen Wald zu<br />

fahren um sie dort zu erschießen, erscheint mir<br />

nicht überzeugend zu sein. Warum sollten die Sowjets<br />

einen zusätzlichen Transport durchführen? Ich<br />

vermute, dass die Verwundeten Soldaten, wenn<br />

überhaupt, auf ihren Waggons erschossen worden<br />

sind. Dieses wird wohl eher der Wirklichkeit im<br />

Kriegsverlauf zu entsprechen. Die in der Endphase<br />

des Zweiten Weltkrieges und speziell dieses Tages,<br />

mit den schweren Kampfhandlungen auf unserem<br />

Staatsgebiet, lassen das Geschehen überzeugend<br />

erscheinen. Der stürmische Vormarsch der Sowjets<br />

in Richtung auf Berlin war ihnen wichtig. Dass die<br />

Sowjets sich nicht um zurückgebliebene Verwundete<br />

kümmern konnten, wollten oder durften, kann ich<br />

nachvollziehen. Menschlich gesehen, kann man<br />

diese Entscheidung und die Tat, die deutschen<br />

Verwundeten zu erschießen, verurteilen. Können<br />

wir unsererseits völlig ausschließen, dass unsere<br />

Soldaten, bei ihrem stürmischen Vormarsch in der<br />

Sowjetunion, nicht auch gleiches getan haben? Wer<br />

hat unseren kämpfenden Soldaten befohlen, aufgefundene<br />

Verwundete, waffenlose Sowjetsoldaten<br />

und Zivilisten zu Erschießen oder sie einfach verhungern<br />

zu lassen? So unmenschlich es klingen<br />

mag: „Die verwundeten Soldaten konnten in der<br />

Endphase des Krieges nicht mehr in Lazaretten untergebracht<br />

und versorgt werden. Sie waren, wo<br />

immer sie sich aufhielten, nicht mehr vor den Übergriffen<br />

des Feindes sicher. Die verwundeten Soldaten<br />

sind einfach nicht mehr einsatzfähig. Sie sind<br />

nicht kriegsverwendungsfähig. Damals, wann immer


279<br />

es war, waren sie entsprechend ihres Eides verpflichtet<br />

und bereit gewesen, für ihren Führer und<br />

für die Heimat zu kämpfen. Sie haben jetzt nur das<br />

Pech, verwundet oder körperlich beschädigt zu<br />

sein. Die in dem Gebiet vorhandenen Streitkräfte,<br />

die jetzt selbst auf dem Rückzug sind, können sich<br />

nicht mehr mit den Verwundeten belasten. Auch<br />

haben nicht alle Soldaten in unserem Transportzug<br />

von den Verwundeten auf den offenen Waggons<br />

Kenntnis gehabt oder von ihnen gehört. Vielleicht<br />

haben sie auch nicht davon wissen wollen. Viele<br />

waren durch den eigenen Schutzwall, den auch ich<br />

gehabt habe, gegen diese Tatsache geschützt worden.<br />

Ob sie nur nicht hinsehen wollten? Für das<br />

Militär ist es doch das einfachste, die Verwundeten<br />

sich selbst und somit ihrem Schicksal zu überlassen.<br />

Man hat sie im Dreck der offenen Güterwagen<br />

zurückgelassen. Diese Männer werden, wie der<br />

sonstige „Schrott des Krieges“, einfach nicht mehr<br />

beachtet. Man hat sie für alle Zeit vergessen. Ich<br />

frage mich, kann man hier nach der Kameradschaft<br />

fragen? Für mich war sie selbst auf der Flucht! Sagen<br />

wir, so etwas kommt im Krieg immer vor? Denken<br />

wir wirklich so? Diese Aussage, können in meinen<br />

Augen, nur Zivilisten machen. Die Soldaten<br />

werden so ein Geschehen eher verdrängen. Denen<br />

ist es lieber, wenn sie nichts davon hören. Sie können<br />

ja bereits im nächsten Augenblick in eine gleiche<br />

Lage kommen. Wie werden wir uns beruhigen?<br />

Werden wir einfach nicht mehr daran erinnern? Machen<br />

wir es uns nicht zu einfach? Und ich habe mir<br />

damals, am Nachmittag des 19. April 1945, mit<br />

siebzehn Lebensjahren, meine Nerven damit beruhigt,<br />

dass die Verwundeten sicher in ein Lazarett


280<br />

kommen werden. Auch dann, wenn es ein Lazarett<br />

in der Kriegsgefangenschaft sein sollte. War da vielleicht<br />

doch eine Lokomotive vor den Waggons?<br />

Habe ich nicht die Tatsache, abgeschoben zu sein,<br />

mit meiner Frage verdrängt? Sollten die Waggons<br />

mit den Verwundeten, an der Weiche in Bischdorf,<br />

noch auf das rechte Fahrgleis gewechselt haben,<br />

dann gehe ich davon aus, dass es keine Weiterfahrt<br />

in Richtung Lübbenau gegeben hat. Denn wir, mit<br />

unserem Transportzug sind unmittelbar nach der<br />

Durchfahrt der Straßenbrücke unter Panzer-<br />

Beschuss geraten.<br />

Schreiben Amt Lübbenau 23.03.95 Antwort auf Frage 2<br />

Und die verwundeten Soldaten haben dann den<br />

Beschuss unseres Zuges, bei der kurzen Entfernung,<br />

noch gut sehen und hören können. Im Anhang<br />

der zum Buch ausgewählten Bilder wird das<br />

Soldatengrab auf dem alten, geschlossenen Friedhof<br />

der Gemeinde Groß-Klessow / Niederlausitz<br />

beschrieben.<br />

Das ehemalige Soldatengrab * kann nichts darüber<br />

aussagen, wie hoch der wirkliche Verlust an Soldaten<br />

war, die am 19.04.1945 bei der Vernichtung des<br />

Truppentransportzuges getötet worden sind. Dieses<br />

Massengrab sagt noch nicht einmal aus, ob es sich<br />

um „gefallene“ Soldaten handelt, die in dem Transportzug<br />

waren. Auf dem gleichen Friedhof soll es<br />

noch ein weiteres Soldatengrab gegeben haben.<br />

Nach Aussagen von Augenzeugen, halte ich fest:<br />

Bei einem Besuch des Friedhofes der Gemeinde<br />

Groß-Klessow im Mai 1990, die deutsche Vereini-


281<br />

gung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfolgt,<br />

waren weder der auf dem Bild gezeigte Erinnerungsstein,<br />

noch andere Merkmale von beerdigten<br />

Soldaten vorhanden. Wer den Stein bestellt, wer ihn<br />

gefertigt, wer ihn aufgestellt hat und wer ihn schließlich<br />

bezahlt hat, hat bisher niemanden interessiert.<br />

Die Behörden*, waren nicht in der Lage zu erklären:<br />

ob es sich bei den beerdigten Menschen um gefallene<br />

Soldaten aus dem Transportzug handelt. Oder<br />

wie viele Gefallene und Verwundete Soldaten aus<br />

dem Transportzug amtlich registriert worden sind.<br />

Selbst die Frage: wohin die gefallenen Soldaten<br />

später verbracht worden sind, konnte von amtlicher<br />

Seite nicht beantwortet werden. Ich habe in diesem<br />

Zusammenhang den Eindruck gewonnen, dass dieses<br />

Kapitel nicht mehr lückenlos aufgearbeitet werden<br />

kann. Denn die Menschen vor Ort, waren auch<br />

nach der Vereinigung, sicher auch noch aus politischen<br />

Gründen nicht Willens oder nicht in der Lage<br />

waren, die Fragen zu beantworten. Die ehemals<br />

amtlichen Personen werden sich auch heute nicht<br />

mehr äußern. Ich glaube, dass bereits nach dem<br />

Waffenstillstand ab dem 8.Mai 1945 in der sowjetisch<br />

besetzten Zone deutsche Soldaten von den<br />

Sowjets nur als faschistische Krieger gesehen worden<br />

sind. Vielleicht hat die Propaganda der damaligen<br />

Sieger in ihrer Zone dieses Thema zum Tabu<br />

erklärt. Und die Menschen haben diese Beeinflussung<br />

für immer verinnerlicht. In diesem Zusammenhang<br />

möchte ich anfügen, dass ich auf Kriegerdenkmalen<br />

in kleinen Dörfern keine Hinweise auf<br />

den Zweiten Weltkrieg gefunden habe.<br />

Erläuterung:


282<br />

Diese hier folgende Nachbetrachtung ist mir für die<br />

Ausgewogenheit meines Berichtes unerlässlich. Es<br />

ist mir möglich, das Geschehen in diesen Tagen,<br />

auch aus Sicht der Sowjets festhalten. Ich habe in<br />

der „Lausitzer Rundschau“, Calau/NL, vom 16. März<br />

1995 einen Brief veröffentlichen lassen „Ehemaliger<br />

Soldat erinnert sich“. Darauf bekam ich Leserzuschriften,<br />

deren einer einen Artikel „die militärische<br />

Befreiung des Gebietes durch die Rote Armee in<br />

der zweiten Aprilhälfte 1945“ beigefügt war. Es<br />

handelt sich um die Zusammenfassung sowjetischer<br />

Kriegsberichte*, die im nachfolgenden Text<br />

auf das Wesentliche reduziert, ohne<br />

Kommentar wiedergegeben werden. Zur Vervollständigung<br />

meines Berichtes weise ich hier auf die<br />

Kriegslage um den 19.04.45 im Raum von Lübbenau<br />

und Calau/NL in chronologischer Reihenfolge<br />

hin.<br />

Die Vernichtung unseres Militärtransportzuges am<br />

19.04.1945 zeigt die ganze Sinnlosigkeit des Krieges.<br />

Schreiben Amt Lübbenau<br />

vom 23.03.95 Position 1<br />

Amt Lübbenau<br />

Schreiben vom 23.03.95 Frage 1<br />

Schreiben Fritz Jänchen, vom 17.03.95<br />

Beilage sowjetische Kriegsberichte in Kopie<br />

Am 16.04.1945:<br />

Die zwischen den Städten Forst und Bad Muskau<br />

tief gestaffelten deutschen Stellungen liegen an der


283<br />

Neiße. Die Länge der Neiße-Front zwischen den<br />

beiden Städten beträgt rund 30 Kilometer.<br />

Ab 04.15 Uhr in der Frühe werden die deutschen<br />

Stellungen von rund 230 Artilleriegeschützen,<br />

Werfern und Granatwerfern je Frontkilometer innerhalb<br />

von etwa 2,5 Stunden mit Dauerfeuer vernichtend<br />

geschlagen. Zum Verständnis heißt dieses: An<br />

diesem Frontabschnitt haben die Sowjets rund 6900<br />

Rohre zur Vernichtung deutscher Stellungen eingesetzt.<br />

Die Verluste der deutschen Soldaten waren<br />

sehr hoch. Mit diesem Angriff und Durchbruch beginnt<br />

die letzte Großoffensive der Sowjets an diesem<br />

Abschnitt. Die Großoffensive erfolgte unter<br />

dem Marschall der Sowjetunion Iwan Stepanowitsch<br />

Konew, Held der Sowjetunion.<br />

Am 17.04.1945 wird in Calau der Volkssturm mobilisiert,<br />

nachdem Teile der Division Großdeutschland“<br />

abgezogen waren.<br />

Am Morgen des 18. 04.1945<br />

wird in der Nähe von Calau der erste sowjetische<br />

Panzer gesichtet. Die Stadt Calau soll verteidigt<br />

werden. Etwa 350 Soldaten, Volkssturm und Hitlerjugend<br />

sollen den Ansturm der Roten Armee aufhalten.<br />

Gegen 20, °° Uhr ist von Südosten der Feuerschein<br />

und der Brandgeruch in CALAU wahrnehmbar.<br />

Am Morgen des 19 .04. 1945.<br />

Um 6.20 Uhr stehen Abteilungen des 7. Gardepanzerkorps<br />

der 3. Gardepanzerarmee der Roten Armee<br />

vor Bischdorf. Stundenlang rollen die sowjetischen<br />

Panzer durch den Ort in Richtung Schönfeld


284<br />

und Vorberg. Dieses bedeutet, die Rote Armee rollt<br />

weiter in nordwestlicher Richtung.<br />

Gegen 8°° Uhr<br />

heulen in Calau die Sirenen Panzeralarm. Die<br />

Glocken läuten „Sturm“. Die Panzersperren werden<br />

geschlossen.<br />

Gegen 9°° Uhr<br />

hat eine motorisierte SS-Einheit die Stadt Calau in<br />

Richtung Westen verlassen.<br />

Gegen 11°° Uhr<br />

nähern sich von Drebkau Vorausabteilungen der 1.<br />

Ukrainischen Front der Stadt und dem Bahnhof von<br />

Calau. Geschützdonner ist seit einiger Zeit zu hören.<br />

Um den Bahnhof von Calau, der außerhalb der<br />

Stadt liegt, wird heftig gekämpft. Deutsche Sturzkampfbomber,<br />

Ju 87, bombardieren das Heereslager*.<br />

Gegen 12.30 Uhr<br />

kommt aus Lübbenau ein Personenzug mit zwei<br />

Kompanien deutscher Soldaten. Dieses ist der erste<br />

Militärtransport. Noch vor dem Erreichen des Bahnhofes<br />

von Calau wird dieser Transport von sowjetischen<br />

Panzern der 1. Ukrainischen Front vernichtet.<br />

Gegen 13.20 Uhr<br />

schlagen in Calau die ersten Granaten in öffentlichen<br />

Gebäuden ein.<br />

Gegen 13.45 Uhr<br />

wird der erste T34 mit einer Panzerfaust zerstört.<br />

Gegen 15.30 Uhr<br />

fährt der zweite Militärtransport aus Lübbenau ab.


285<br />

Dieser Zug ist auf dem Wege über Calau nach<br />

Senftenberg. In diesem Zug sitzt der Autor des Berichtes<br />

“Der Gesang der Lerche bleibt“ mit seinen<br />

Kameraden. Dieser Transportzug erreicht Calau<br />

nicht mehr. Südlich von Bischdorf hält der Zug auf<br />

freier Strecke. Danach geht die Fahrt zurück nach<br />

Lübbenau. Nach Unterquerung der Straßenbrücke,<br />

es ist die damals von mir nicht erkannte Autobahnbrücke.<br />

gegenüber von Boblitz, wird unser Militärtransport<br />

von sowjetischen Panzern beschossen<br />

und weitgehend vernichtet. Der dritte Militärtransport<br />

ebenfalls auf dem Wege von Lübbenau über<br />

Calau nach Senftenberg, wird zwischen 15°° Uhr<br />

*und<br />

Aus dem Schreiben Hans Schulze Vetschau,19.0.95<br />

Amt Lübbenau, Schreiben vom 23.03.95<br />

16°° Uhr auf dem Bahnhof von Lübbenau von sowjetischen<br />

Panzern in Brand geschossen. Mitgeführte<br />

Munition beginnt zu explodieren. Der mutige<br />

Lokführer hat mit seiner Lokomotive den brennenden<br />

Zug** aus dem Bahnhof Lübbenau in Richtung<br />

Boblitz, auf freies Gelände geschoben. eine selbstlose<br />

Tat hat größeren Schaden im Bahnhofsbereich<br />

verhindern können. Das Heereslager ist ein Depot<br />

für die Versorgung der Wehrmacht Diesem dritten<br />

Zug, sollte noch der vierte und fünfte Transport mit<br />

Soldaten folgen. Darüber gibt es keine konkreten<br />

Informationen Den genauen Zeitpunkt, wann wir<br />

vier Mann, ein Feldwebel, ein Obergefreiter und<br />

zwei <strong>Panzergrenadier</strong>e, als kleine Gruppe unseren<br />

Marsch in Richtung Parchim begonnen haben, das<br />

weiß ich nicht mehr. Ich vermute, dass wir uns in<br />

kleinen Gruppen auf den Weg machen müssen.


286<br />

Einmal kann man uns von Meldestelle zu Meldestelle<br />

überwachen und die Marschverpflegung für vier<br />

Mann kann bei der Ausgabe besser organisiert<br />

werden. Wir folgen ausschließlich den Anweisungen<br />

unseres Marschbefehls. Diesen hat unser<br />

Feldwebel am 20.04.45 bei der ersten Meldestelle<br />

erhalten. Sein Inhalt ist mir nicht bekannt. Nur so<br />

viel ist mir in Erinnerung, wir sollen auf dem kürzesten<br />

Weg nach Parchim in Mecklenburg marschieren<br />

und uns dort melden. Jeden Tag hat der Feldwebel<br />

sich bei der jeweiligen Kommandantur mit<br />

dem Marschbefehl zum Abstempeln zu melden.<br />

Dort erhalten wir auch unsere Tagesverpflegung.<br />

Unser Marsch geht über die Orte Schlieben und<br />

Herzberg durch die „Annaburger Heide“ nach Prettin.<br />

Auf der „Annaburger Heide“ sind mir, beim<br />

Sprung in die Büsche, frische längliche Grabstellen<br />

aufgefallen. Zwischen hohen dunklen Kiefern sind<br />

sie auf dem Waldboden unregelmäßig angeordnet.<br />

Der Gedanke, die Erdhügel könnten erst vor Stunden<br />

entstanden sein, schockt mich vor Entsetzen.<br />

Beim Aufschauen zu den Baumkronen sehe ich<br />

Kleidungsstücke an Ästen hängen, wie sie von Insassen<br />

der Konzentrationslager getragen werden.<br />

Vereinzelt liegen halbverscharrte Kappen der verscharrten<br />

Opfer auf dem Waldboden. Diese furchtbare<br />

Entdeckung veranlasst mich, diesen Wald sofort<br />

zu verlassen. Ich eile schnell auf die Straße und<br />

folge meinen Kameraden. Meine wundgelaufenen<br />

Füße habe ich vor Schreck ganz vergessen. Über<br />

den grausigen Fund spreche ich nicht.<br />

Meine Beobachtungen habe ich in mir archiviert.


287<br />

Wir vier haben unerwartet auf einmal den gewaltigen<br />

Elbstrom vor Augen. Wir marschieren über die<br />

zur Sprengung vorbereitete Pontonbrücke auf die<br />

westliche Seite. Verstreut stehen ungeordnet Menschentrauben,<br />

hauptsächlich Soldaten des Heeres,<br />

auf der weiten Elbwiese. Vorgesetzte der einzelnen<br />

Einheiten sind damit beschäftigt, ihre Männer neu<br />

zu formieren. Drei von uns hoffen, wenigstens etwas<br />

an Verpflegung abzustauben. In unseren Uniformen<br />

der Luftwaffe, unserem Ärmelstreifen an der<br />

Jacke, finden wir uns im Glied einer Heereseinheit<br />

wieder. Unser Feldwebel steht abseits und wartet<br />

darauf, was da auf uns zukommen wird. Nach wenigen<br />

Momenten erscheint ein Spieß. Wir erkennen<br />

sehr schnell, dass diese Einheit schon länger besteht.<br />

Und ausgerechnet hier sind wir, nur unserem<br />

Hunger im Nacken folgend, eingedrungen. Aus dem<br />

fremden „Verein“ einfach zu verschwinden, das<br />

können wir nicht. Das sähe ja nach Feigheit aus.<br />

Der Spieß merkt sofort den fremden Stallgeruch*.<br />

Seine Männer kennt er. Noch bleiben sie ruhig stehen.<br />

Plötzlich, wie auf ein Handzeichen des Hauptfeldwebels,<br />

zeigen uns seine Männer, was in ihnen<br />

steckt. Sie schieben uns drei direkt vor die Nase<br />

des Spießes. Welch ein Fressen für den Spieß. Wir<br />

stehen ohne Kommando vor der Front. Unsere Vorführung<br />

war nur kurz. Bis jetzt hatte unser Feldwebel<br />

abgewartet. Nun zeigt er dem Hauptfeldwebel<br />

unsere Papiere. „Sie können nicht in unserer Einheit<br />

bleiben. Sie gehören zur Luftwaffe. Und Sie machen<br />

auch noch Dienst beim ‚Dicken Hermann’. Sie müssen<br />

sich selbst auf den Weg zu ihrer Einheit machen!“<br />

Hier endet unser Versuch, um an zusätzliches<br />

Futter zu kommen. Nun sind wir wieder zu


288<br />

viert auf den Elbwiesen unterwegs. Uns zieht es in<br />

Richtung Norden, nach Parchim. Zu diesem Zeitpunkt,<br />

noch völlig unerwartet fliegt die Pontonbrücke<br />

mit einem wuchtigen Knall in die Luft. Unterschiedlich<br />

große, gesplitterte Holzteile der Brücke<br />

fallen wie Müll auf die vorhandenen Brückenköpfe<br />

und alles, was schwimmfähig und auf dem Wasser<br />

gelandet ist, schwimmt mit dem Fluss davon. Jetzt<br />

hat der Spieß fremde Männer in fremden Uniformen<br />

zwischen seiner Truppe entdeckt. Der Begriff Stallgeruch<br />

ist vielseitig einzusetzen. Mir kommt ein<br />

schrecklicher Gedanke: Mit dem Staub schwimmt<br />

auch unsere Chance an einen ordentlichen Übergang<br />

über diesen Strom nach Ost und nach West<br />

davon. Werden wir überhaupt, wenn wir die Seiten<br />

wechseln müssen, wieder einen trockenen Übergang<br />

finden? Parchim liegt von hier aus gesehen,<br />

im Norden und westlich der Elbe. Am Ende unseres<br />

Marsches nach Parchim müssen wir endgültig auf<br />

der Westseite der Elbe ankommen. Nach dem Verlust<br />

der Pontonbrücke ist für mich jetzt auf der von<br />

uns verlassenen Ostseite eine unwirkliche Ruhe<br />

eingetreten. Von all den Kameraden, die wir zurücklassen<br />

mussten, sprechen wir nicht mehr. Unser<br />

„Dicker“, der Obergefreite, wedelt mit seinem Spazierstock<br />

durch die Luft. Plötzlich rennt er in Windeseile<br />

zu den herrenlosen Kartons, die sich vor<br />

ihm auf der Wiese stapeln. Niemand scheint bisher<br />

die großen Pappkartons bemerkt zu haben. Ich eile<br />

hinter ihm her. ‚Mann, da sind ja Zigarrenkisten<br />

drin!’ Ein Freudenfest für den Dicken. Hier kann er<br />

sich endlich für die nächsten Jahre mit Zigarren<br />

eindecken. Doch er bleibt bescheiden. Geradezu<br />

generös lassen wir die Fundsache liegen. Wir müs-


289<br />

sen weiter. Wir stehen unter dem Druck des<br />

Marschbefehls. Es geht nun für uns an der Ortschaft<br />

Dommitsch vorbei, dann über die „Dübener<br />

Heide“. Unser nächstes Ziel ist die Stadt Gräfenhainichen.<br />

Am Eingang einer Fabrikanlage steht ein<br />

Pförtner.<br />

Er verteilt an die vorbeiziehenden Soldaten Päckchen<br />

mit Feinschnitt-Tabak und Zigarettenpapier.<br />

Nun können wir unsere Zigaretten selbst drehen.<br />

Nach Stunden erreichen wir wieder die Elbe. Auf<br />

einer noch in Betrieb befindlichen Fähre überqueren<br />

nahe der Stadt Coswig den Strom. Wir sind trockenen<br />

Fußes, aber auch wieder auf dem Ostufer, wie<br />

befürchtet gelandet. Während der Überfahrt sagt<br />

uns der Feldwebel: Kameraden, wir sind heute am<br />

Wörlitzer Park vorbei gekommen. Ich habe noch nie<br />

früher etwas von dem Wörlitzer Park gehört. Der<br />

Feldwebel muss es wissen, denn er kommt aus<br />

Cottbus. Allein die Tatsache, wieder auf der Ostseite<br />

der Elbe zu sein, erfüllt mich mit Verdruss. Wenn<br />

wir nicht in den Händen der Sowjets landen wollen,<br />

dann müssen wir irgendwann wieder auf die Westseite<br />

der Elbe wechseln. Hoffentlich haben wir<br />

Glück und finden wieder eine Fähre. Am Westufer<br />

der Mulde, haben die amerikanischen Truppen, so<br />

erfahren wir, eine Pause eingelegt. Der Fluss Mulde<br />

kommt aus dem Süden und mündet bei Dessau in<br />

die Elbe. Und die Elbe fließt hier in Richtung Westen.<br />

Wir marschieren nach Norden. Alle Gedanken<br />

an Gefahr werden schnell von den ständig wechselnden<br />

Eindrücken auf unserem Marsch nach Norden<br />

in den Hintergrund gedrängt. ‚Wir müssen verdammt<br />

aufpassen, die Elbe, die kann uns zum Verhängnis<br />

werden’. Dieses ist der unter uns ausge-


290<br />

sprochene Gedanke. Wo die Sowjets sind, erfahren<br />

wir nicht. ‚Die Sowjets brauchen sich doch nur zu<br />

beeilen, schnappen uns, und wir gehen gemeinsam<br />

nach Sibirien’. Die anstrengenden Märsche in den<br />

letzten Tagen haben uns weiter abstumpfen lassen.<br />

Wie mit einem Schlüssel aufgezogen, marschieren<br />

wir, rein mechanisch in Richtung Parchim. Nun<br />

melden sich Hunger und Durst. Wir vier saßen vor<br />

Tagen in verschiedenen Abteilen des zerstörten<br />

Transportzuges. Gesehen haben wir uns erst nach<br />

dem Verlust unseres Transportzuges. Der Feldwebel<br />

hat unseren Marschbefehl. Wir müssen uns ohne<br />

Verzug in Parchim, in Mecklenburg, melden’,<br />

heißt es im Befehl. Die tägliche Meldung wird von<br />

einer Militärdienststelle mit einem Stempel bestätigt.<br />

Dort erhalten wir auch unsere tägliche Marschverpflegung.<br />

Alles, was zu geschehen hat, läuft militärisch<br />

planmäßig ab. Auch das Warten. ‚Die längste<br />

Zeit des Lebens wartet der Soldat vergebens’.<br />

Stempelalbdrücke mit Datum dienen uns als Bestätigung<br />

unserer Existenz. Sie sind die Hauptsache<br />

auf dem Marschbefehl. Und wehe, wir würden uns<br />

verlaufen, unseren Weg nicht finden. Irgendwo für<br />

ein bis zwei Tage verschwinden. Das Militär kann<br />

keine extra Touren erlauben. Völlig verstaubt, verdreckt<br />

und vom Schweiß äußerlich, wie auch innerlich<br />

verklebt, grau und ausgehungert, marschieren<br />

wir, manchmal sogar im Gleichschritt, weiter nach<br />

Norden. An einer mir nicht mehr bekannten Stelle<br />

haben wir auf unserem Marsch einige Pakete<br />

Knäckebrot organisiert. Jeder von uns versucht mit<br />

dem Knäckebrot, dass in Papier eingewickelt ist<br />

irgendwie fertig zu werden. Mitnehmen kann ich<br />

meine vier Päckchen, in jedem sind vielleicht 250


291<br />

Gramm, nur in den Hosenbeinen meiner Uniform.<br />

Nach und nach ziehe ich mir, so machen es auch<br />

meine drei Kameraden, eine Scheibe davon heraus<br />

und verzehre sie langsam. Ohne Wasser, nur mit<br />

Speichel verarbeitet, habe ich plötzlich meinen Magen<br />

überstrapaziert. Ich habe das Gefühl, als reiben<br />

sich zerbrochene, scharfkantige Dachziegel an den<br />

Magenwänden. Hinzu kommt, das beim Marschieren<br />

das Knäckebrot in den schadhaften Papierhüllen<br />

nach und nach zerbrechen. Zerbröselndes<br />

Knäckebrot klebt jetzt auch schon in den Fußlappen<br />

an den blutig gelaufenen Füßen fest. Seit Ende<br />

März sind meine Füße mit immer denselben Fußlappen<br />

unterwegs. Meinen drei Kameraden geht es<br />

ebenso. Ich kann mich aber nicht von den Resten<br />

des Knäckebrotes trennen. Wer weiß, wann es wieder<br />

etwas zu essen gibt. An den Rückseiten der<br />

Häuser suchen wir Wasserleitungen mit Wasserhähnen.<br />

Doch die vorhandenen Wasserstellen sind<br />

abgesperrt. Die Menschen in den Häusern haben<br />

ihre Wasserleitungen, wie man es im Winter macht,<br />

abgestellt. Menschen haben wir in den Ortschaften<br />

nie gesehen. Sie halten sich versteckt, beobachten<br />

uns aus der Ferne oder sind geflüchtet. Wo ist der<br />

nächste Wasserhahn, der uns Wasser geben kann?<br />

Wir durchstreifen einen Teil des „HOHEN FLÄ-<br />

MING“. Rasten über Nacht in der Nähe der Stadt<br />

Wiesenburg. Nur nicht in Richtung Berlin marschieren.<br />

Weiter geht es nach Norden. Bei Zi-e-sar unterqueren<br />

wir die Reichsautobahn. Unsere müden<br />

Blicke bei der hellen Sonne gehen in Richtung Westen,<br />

nach Magdeburg. Der Marschbefehl treibt uns<br />

aber weiter nordwärts. Wir müssen uns beeilen.<br />

Kurze Verschnaufpausen haben wir nur, um unsere


292<br />

karge Nahrung zu verzehren. Wir funktionieren nur<br />

noch so, einfach so, wie uns befohlen. An manchen<br />

Tagen sind wir ohne einen Tropfen Wasser über die<br />

staubigen Landstraßen und durch Dörfer, ohne<br />

Wasser oder Menschen zu finden, gezogen. Die<br />

Ortsnamen nehmen wir nicht zur Kenntnis.<br />

Im Sonnenschein geht es weiter in Richtung Genthin.<br />

Neun Tage und Nächte sind wir schon zu unserem<br />

neuen Ziel „Parchim“ in Mecklenburg zu Fuß<br />

unterwegs. Dort solle eine neue Division aufgestellt<br />

werden, sagt uns der Feldwebel. Endlich, am<br />

28.April 1945, einem Sonnabend, ziehen wir Vier<br />

am späten Nachmittag in Genthin ein. Hinter dem<br />

Ortsschild von Genthin gehen die Augen unseres<br />

Feldwebels auf die Suche nach einer Waschmöglichkeit.<br />

Die erste Möglichkeit, an eine Wasserstelle<br />

zum Waschen zu gelangen, könnte die vor uns liegende<br />

Gastwirtschaft sein. Doch die Wirtsleute, es<br />

waren nur zwei oder frei Frauen, wollen uns verwahrloste<br />

und verdreckte Krieger nicht haben. Sie<br />

haben nicht direkt Nein! gesagt. Wir hätten den<br />

Menschen in der Gastwirtschaft nur unseren Dreck<br />

und Arbeit hinterlassen. Und, schon stehen wir wieder<br />

auf der Straße. Unser Feldwebel überlegt den<br />

nächsten Schritt, da setzen plötzlich Sirenen mit<br />

jaulendem Flieger-Vollalarm ein. Ach ja, die Sirenen<br />

und die Bomber gibt es ja auch noch. Die habe ich<br />

schon vergessen. Bomber! Die viermotorigen<br />

Bomber nähern sich. Mit dem Nerven fressenden<br />

Motorenlärm überfliegen sie uns. Mit der Stille ist es<br />

schlagartig vorbei. Die über uns hinweg donnernden<br />

Bomber schrecken mich jedoch nicht mehr. Da, - -<br />

ein Fingerzeig aus der Gaststätte, eine Einladung<br />

nun doch zu kommen und wir sind im Gebäude. Wir


293<br />

erhalten warme Getränke und etwas Nahrhaftes,<br />

nachdem wir uns nacheinander in einer großen<br />

Waschschüssel oberflächlich gewaschen haben. Es<br />

ist immer noch Fliegeralarm. Die Bomber haben wir<br />

inzwischen vergessen.<br />

Sie sind nicht mehr zu hören. Mit Einbruch der Dunkelheit<br />

verlassen wir das Haus.Wir stehen in der<br />

Finsternis. In östlicher Richtung erblicken wir am<br />

Horizont den Widerschein eines Flächenfeuers. Unterhalb<br />

der geschlossenen Wolkendecke breitet sich<br />

das Feuer aus. Man riecht hier förmlich den Brandgeruch.<br />

Das wird Brandenburg sein. Verdammt<br />

noch mal, nimmt das alles denn kein Ende? Um uns<br />

herrscht Stille. Im Widerschein der fernen Feuer<br />

erkennen wir langsam unsere Umgebung. Und zu<br />

dieser Zeit, sind die Bomber sicher schon wieder<br />

auf ihrer Rückreise. Da hinten, irgendwo weit weg<br />

im Westen verlieren sich ihre Spuren. Wir sind auf<br />

der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit in<br />

Genthin. In völliger Dunkelheit treffen wir auf einen<br />

leeren, aus etwa zwanzig gedeckten Güterwagen<br />

bestehenden Zug ohne Lokomotive, auf dem Bahnhofsgelände.<br />

Der Zug steht mit offenen Waggontüren<br />

auf dem Abstellgleis und endet unmittelbar vor<br />

dem Prellbock. Für uns gibt es nur noch: Einsteigen<br />

in den letzten Waggon und pennen. ‚Über Nacht<br />

werden die den Güterzug nicht abholen‘ so der<br />

Feldwebel. Völlig übermüdet fallen wir in das vorhandene<br />

alte und brüchige Stroh. Wir schlafen endlich<br />

wieder einmal auf einem Holzboden und auf<br />

Stroh. Viele der letzten Nächte haben wir nur auf<br />

dem Waldboden verbracht. Es ist und bleibt auf<br />

dem Bahnhofsgelände über Nacht ruhig. Zwischendurch<br />

meldet sich der Magen wieder. Es ist das


294<br />

verdammte Knäckebrot. Am frühen Morgen verlassen<br />

wir den Schlafplatz und freuen uns auf einen<br />

sonnigen Tag, der gerade anbrechen will. „Ich habe<br />

gestern unsere Papiere nicht abstempeln lassen,<br />

sagt der Feldwebel ganz beiläufig“. „Das werde ich<br />

heute bei der Ortskommandantur in Genthin nachholen“.<br />

Nachdem wir uns gegenseitig vom Stroh<br />

befreit haben, suchen wir nach einer Möglichkeit,<br />

wo wir endlich mal richtig frühstücken können. „Da<br />

ist heute reiner Luxus angesagt!“ Wir haben bisher<br />

noch nie Geld von unserem Sold ausgeben können.<br />

Mindestens einhundert Reichsmark, in fünf zwanzig<br />

Reichsmark-Scheinen, mit dem Hakenkreuz, hat<br />

jeder von uns bei sich. „Heute werden wir uns etwas<br />

Besonderes erlauben“ meint der Dicke. „Fragen wir<br />

doch einfach den Mann mit der roten Mütze im<br />

Bahnhof“ sagt der Feldwebel. Dieser verschwindet<br />

gerade in seinem Dienstraum. Der kennt sich doch<br />

hier im Ort aus. Er wird uns Auskunft geben’. Heute<br />

Morgen, da sind wir wohl übermütig! Na, ja, bei dem<br />

Gedanken an ein gutes Frühstück. Für einen Augenblick<br />

haben wir sogar den Krieg vergessen. Vielleicht<br />

finden wir ein geöffnetes Café. „Auf, zum<br />

Mann mit der roten Mütze“ meint der Feldwebel. In<br />

wenigen Sätzen haben wir die Gleispaare übersprungen<br />

und stehen vor der Tür zum Dienstraum.<br />

Ohne anzuklopfen, Militär klopft nie an, betreten wir<br />

Vier den Raum. Der Mann hängt gerade seine rote<br />

Mütze auf den Haken. Er dreht sich um und empfängt<br />

uns mit einer schroffen, militärisch knappen<br />

Stimme: „Wo kommen Sie denn her?“. Wir bleiben<br />

völlig ruhig. ‚Was will der von uns?’ - fragt einer<br />

meiner Kameraden. ‚Warum meckert er?’ ‚Da uns<br />

Genthin für die letzte Nacht keine Unterkunft zur


295<br />

Verfügung gestellt hat’, sagt unser Feldwebel arglos,<br />

‚da haben wir da drüben im Güterzug, im letzten<br />

Waggon übernachtet und ausgesprochen gut geschlafen’.<br />

Er zeigt mit dem Zeigefinger seiner linken<br />

Hand in die Richtung der Güterwagen. Das Gesicht<br />

des Eisenbahners färbt sich rot, als wolle er im<br />

nächsten Augenblick platzen, so rot wie seine Mütze.<br />

Dann schreit er los: ‚Verlassen sie sofort meinen<br />

Dienstraum!’. ‚Was soll das mit der Schreierei?<br />

Warum sind Sie so ruppig?’. Erwidert der Feldwebel<br />

mit fester Stimme. Die Antwort ist knapp. Es folgt<br />

nur noch der Ausruf: „Typhus!“ - - - „Typhus*?“<br />

„Kehrt, Marsch - Marsch, Kameraden“ und schon<br />

sind wir wieder draußen auf dem Bahnsteig. Nach<br />

dieser Attacke verlassen wir den Bahnhof in Genthin.<br />

Wir marschieren in die Stadt und suchen ein<br />

Café. Dieser Ort, der sich Genthin nennt, hat uns<br />

nicht gerade freundlich begrüßt und empfangen. Wir<br />

sind hier nicht erwünscht. Mit Genthin haben wir<br />

kein Glück. Da war die Schwierigkeit am letzten<br />

Abend mit der Gaststätte, daran anschließend die<br />

Übernachtung in dem verseuchten Güterzug auf<br />

dem Bahnhofsgelände. Wir legen auch keinen großen<br />

Wert auf diesen Ort**.Wir werden nach dem<br />

Frühstück sofort weiter nach Schollene marschieren.<br />

In der Stadt herrscht eine unwirkliche Ruhe. An<br />

der Hauptstraße, die parallel an einem rechteckigen<br />

Platz vor dem Rathaus einmündet, wird an diesem<br />

Morgen das Schaufenster eines Cafés geputzt.<br />

‚Morgen kann die sowjetische Armee hier sein und<br />

die putzen zum Empfang die Fensterscheiben’ stellt<br />

der Dicke fest und schüttelt dabei sein Haupt. Wir<br />

verlangen Einlass und verstauen uns auf den mit<br />

Plüsch gepolsterten Sitzbänken. Der Dicke meldet


296<br />

sich: ‚Die haben es wohl verstanden mit der Fensterputzerei.<br />

Das Mädchen ist mit ihrem Putzeimer<br />

verschwunden’. Flach liegen, denke ich. Nur schlafen,<br />

das ist mein Wunsch. Ich finde aber keine Ruhe.<br />

Das Knäckebrot raspelt ohne Pause weiter im<br />

Magen. Von meinem Platz, der Plüschbank aus,<br />

sehe ich durch die Gardine auf die gegenüberliegenden<br />

Häuser. Mein Blick trifft auf eine Ansammlung<br />

älterer Männer in Zivil und Hitlerjungen in Uniformen.<br />

Sie sind mit Gewehren und Panzerfäusten<br />

ausgerüstet. Das sind doch die Männer vom „Volkssturm“<br />

geht es durch meinen Kopf. Wollen die hier<br />

einen Privatkrieg veranstalten? Wollen oder sollen<br />

sie auf Befehl ihres örtlichen Parteimenschen vielleicht<br />

die Sowjets aufhalten? Ich denke: die etwa 20<br />

jungen und alten Männer sind innerlich zerrissen.<br />

Einige sind sicher fanatisch und wollen unbedingt<br />

den Befehlen des Führers folgen. Auf mich wirken<br />

die selbst ernannten Krieger wie ein zusammengefegter<br />

Haufen, der nur noch zum Sterben für den<br />

Führer und für das Vaterland angetreten ist. Sie<br />

sind sicher das allerletzte Aufgebot. Hat der obere<br />

„Goldfasan“ sie vor seinem eigenen Abmarsch aufgeboten?<br />

Hat er sich vielleicht gleich danach mit<br />

seiner Familie abgesetzt? Oder war es ein Panzeralarm,<br />

der sie hat antreten lassen? Jetzt erklärt sich<br />

mir auch die hier herrschende trügerische Ruhe.<br />

Unser Feldwebel wird gleich in das Rathaus gehen<br />

und unsere Marschpapiere in der Dienststelle abstempeln<br />

lassen. Daran anschließend wird er sich<br />

um unsere Verpflegung für gestern und heute<br />

kümmern. Ein ohrenbetäubender, dumpfer Knall<br />

erschüttert plötzlich unsere friedliche Welt. Die<br />

Schaufensterscheibe bebt und schwingt, als wolle


297<br />

sie nachgeben oder gar zerspringen. Die Explosion<br />

vernichtet die sonntägliche Stille und damit unser<br />

Frühstück in Genthin. Der über Nacht auf dem<br />

Bahnhof stehende Güterzug war sicher zur Reinigung<br />

und Desinfizierung abgestellt worden. Nach<br />

dem brüchigen und alten Stroh zu urteilen, waren<br />

Menschen mit Typhus transportiert worden. Meine<br />

Ohren sind wie taub. Mein Kopf ist dumpf. Schneller<br />

als erwartet ist hier der Krieg ausgebrochen. Es ist<br />

nicht nachvollziehbar, aber alle Explosionen geschehen<br />

in diesem Kriege ohne jede Vorwarnung.<br />

Sind die trügerischen Zeitphasen der absoluten Ruhe<br />

vor Explosionen ein Zeichen für kommendes<br />

Unheil? Diese Frage kann nicht eindeutig beantwortet<br />

werden. Wir sind hier wieder einmal eiskalt<br />

** In den Jahren nach 1991-93 habe ich mehrmals Genthin<br />

besucht und fand den Ort in einer friedlichen Atmosphäre wieder.<br />

Der Besuch des Cafés brachte sofort die Erinnerungen an<br />

den 28. und 29. und 30. April 1945 zurück.<br />

überrascht worden. Die „Krieger“ da draußen, ja, wo<br />

sind sie? Die sind wie die Vögel fortgeflogen. Ihr<br />

Sammelplatz ist leergefegt. Im Laufschritt verlassen<br />

wir den Gastraum durch die Hintertür, ohne unsere<br />

Zeche zu bezahlen. Wir springen durch den rückwärtigen<br />

Garten und finden uns an der Eisenbahnlinie<br />

Magdeburg-Berlin wieder. „Wir setzen uns nach<br />

Westen ab, in Richtung Burg“, entscheidet unser<br />

Feldwebel. Nach Parchim geht es in Richtung Norden.<br />

Nach etwa zwei Kilometern Dauerlauf verlassen<br />

wir die Bahnlinie und jagen, schnelllaufend,<br />

weiter nach Norden. Es geht über einen Wassergraben,<br />

über Wiesen und Zäune. Da liegt plötzlich,<br />

vor uns, querab eine breite Wasserstraße. Diese


298<br />

hält unseren Marsch auf. Auf der Deichkrone des<br />

Elbe-Havel-Kanals angekommen, lassen wir uns<br />

auf den Boden fallen. Und wieder zerfällt ein Teil<br />

meines Knäckebrotes. „Und wie kommen wir nun<br />

über den Kanal? Wir sind doch völlig umsonst<br />

hierher gerannt“ meint der Dicke. „Sollen wir nun<br />

auch noch an das andere Ufer schwimmen?“ folgt<br />

noch, nachdem er sich wieder beruhigt hat. Den<br />

ersten Schock haben wir überwunden. In westlicher<br />

Richtung liegen Selbstfahrer-Kähne auf unserer<br />

Kanalseite. Von dort kommen, ohne jedes Misstrauen,<br />

Frauen von den Kähnen und bieten uns<br />

warmes Essen an. Ihrer Sprache nach haben wir<br />

hier Niederländer getroffen. Es ist gerade Mittagszeit.<br />

„Da kommen wir ja zur richtigen Zeit“, meint<br />

mein Kumpel. „Die müssen uns mit ihrem Kahn<br />

übersetzen“ sagt der Feldwebel. „Jetzt machen wir<br />

aber erst einmal Pause“ fügt er an. Bei mir haben<br />

sich die Magenschmerzen wieder gemeldet. Nach<br />

Anraten einer der Schifferfrauen versuche ich etwas<br />

zu essen. Die Wärme, die sich mit dem Essen bis in<br />

den Magen verbreitet, empfinde ich als wohltuend.<br />

Das gilt ebenso für die freundlichen Worte der<br />

Frauen. Doch ich bleibe vorsichtig. Da ist nicht nur<br />

das Knäckebrot an den Magenschmerzen und<br />

Krämpfen schuld. Rein äußerlich haben wir die Vernichtung<br />

unseres Transportzuges bei Boblitz bewältigt,<br />

und den sowjetischen Truppen sind wir nicht in<br />

die Hände gefallen. Und die letzten zehn Tage werden<br />

wir später, wenn es möglich sein wird, einmal<br />

verarbeiten. Auf der südlichen Seite des Kanals sehen<br />

wir in Richtung Genthin zwei festgemachte<br />

Lastkähne. Vor einem steht ein Soldat unter Gewehr<br />

auf Wache. Von Zeit zu Zeit betritt ein Mann,


299<br />

in Offiziersuniform gesteckt, torkelnd die Szene.<br />

Von einem wachfreien Soldaten erfahren wir, dass<br />

die Kähne mit Marketenderwaren* vollgestopft sind.<br />

Sie liegen seit Wochen hier. Truppenverbände sollten<br />

die Waren vor Tagen übernehmen. Wenn die<br />

ausbleiben, dann müssten sie die Ladungen in<br />

Brand setzen und die Kähne sprengen. Die Niederländer<br />

kommen nach dem Essen zu uns und bieten<br />

uns Unterkunft und Schutz auf ihren Fahrzeugen<br />

an. Warum sie das tun, können wir nicht erkennen.<br />

Wieso machen sie uns so ein Angebot. Wir können<br />

das nicht annehmen. Das mit dem Schutz kann nur<br />

ein Missverständnis sein. Zu allem Überfluss bieten<br />

sie uns sogar Zivilkleidung an. Sie erzählen, sie<br />

seien mehrfach von deutschen Soldaten überprüft<br />

worden. Weil ihre Papiere in Ordnung sind, würde<br />

man sie in Ruhe lassen. Wir könnten, so sagen sie,<br />

in ihrer Obhut völlig sicher sein. Wir kennen unsere<br />

Leute besser und lehnen ihr Angebot dankend ab.<br />

Unsere Uniformen behalten wir an. Unter keinen<br />

Umständen werden wir sie gegen Zivilsachen tauschen.<br />

In Zivil wäre unsere weitere Existenz gleich<br />

Null. Aus Mangel an einer besseren Unterkunft<br />

verbringen wir eine Nacht unter Deck, auf dem Vorschiff<br />

einer der Kähne. Spät in der Nacht erscheint<br />

der Feldwebel, er ist erfreut über seine Leistung. Mit<br />

sich bringt er eine Kiste mit Bols-Likör in handelsüblichen<br />

Flaschen. Meine drei Kameraden nehmen<br />

sich den Likör zur Brust und so geht für sie die<br />

Nacht vom Sonntag zum Montag, auch nur langsam,<br />

mit dem „an Land gezogenen“ Likör, vorbei.<br />

Der Montagmorgen bricht an. Der sich langsam auflösende<br />

Nebel verspricht uns strahlenden Sonnenschein<br />

für den Tag. - Verdammt noch mal! - - Wir


300<br />

sitzen noch auf dem Südufer. Meine drei „Saufköppe“<br />

haben sicher alles vergessen. Ich denke schon<br />

weiter: Unsere Marschpapiere sind gestern nicht<br />

abgestempelt worden. Und die Verpflegung haben<br />

wir nicht erhalten. Nur mit Verzögerung verlässt der<br />

Alkoholdunst und die Süße des Likörs ihre Köpfe.<br />

Wir müssen sofort über den Kanal, mag da kommen,<br />

was will. Was oder wer hindert uns überhaupt<br />

noch? Also los! - - - Nach einer kurzen Verhandlung<br />

und dem üblichen Palaver setzen uns die Schiffer<br />

mit einer Schottelschaluppe über den Kanal. Ich bin<br />

nun beruhigt. Wir haben am nördlichen Ufer wieder<br />

festen Boden unter den Füßen. Die Gedanken sind<br />

jetzt darauf gerichtet, wie wir nach Schollene kommen.<br />

Der Ort liegt in nördlicher Richtung von unserem<br />

gegenwärtigen Standort. Wir vermuten, dass<br />

wir hier westlich an Genthin vorbei gekommen sind.<br />

Wir werden bald auf die Straße stoßen, die uns den<br />

Weg nach Schollene weist. Wir folgen unserem<br />

Marschbefehl. Das Ereignis mit der gewaltigen Explosion<br />

gestern am Sonntag haben wir unerledigt<br />

abgelegt. Wir haben keinen Menschen getroffen,<br />

den wir dazu hätten befragen können. Auf einem<br />

Feldweg zwischen Äckern nähern wir uns einer<br />

querverlaufenden Landstraße. Diese haben wir<br />

dann einsehen können, nachdem wir an dem Kiefernwald<br />

und an der dichten Schonung vorbei marschiert<br />

sind. Wo geht es weiter? Unser nächstes<br />

Ziel ist Schollene. Vor uns stehen plötzlich, wie aus<br />

einer fremden Welt kommend, vier Frauen in geblümten<br />

Kittelschürzen. Sie stehen mitten auf der<br />

Straße. Was machen die hier, warum halten sie sich<br />

ausgerechnet hier auf? Doch das interessiert uns<br />

nicht. Obwohl wir die von Baumreihen begrenzte


301<br />

Straße aus größerer Entfernung erkennen konnten,<br />

haben wir keine Menschen wahrgenommen. An den<br />

sichtbar gelben Quadraten und dem aufgenähten<br />

blauen „P“ erkennen wir in ihnen polnische<br />

(Zwangs)-Arbeiterinnen. „Sie werden uns sagen<br />

können, wie wir nach Schollene kommen“ meint<br />

unser Feldwebel. Ihre Kennzeichnung, mit dem „P“<br />

* auf ihrer Kleidung beachten wir dabei nicht. Wir<br />

verhalten uns ihnen gegenüber so, als wären sie<br />

normale Spaziergänger.<br />

Marketender: Im 16. bis 19. Jahrhundert, fahrende<br />

Händler, die Truppen begleiteten und versorgten.<br />

Aus -Deutsche Buch Gemeinschaft-. Lexikon 1957,<br />

Ullsteinhaus Berlin 1960. Früher waren die Marketender<br />

Händler bei der Feldtruppe. Bei diesen<br />

Händlern konnten die Soldaten für Ihren Sold einkaufen.<br />

DUDEN 2000<br />

Die vier Frauen mit dem „P“ beachten wir bewusst<br />

nicht weiter. ‚Sie müssen durch diesen Wald bis zur<br />

nächsten Straße gehen’, sagt eine der Frauen in<br />

recht gutem Deutsch. ‚Gehen Sie durch den Wald,<br />

dann weiter auf der Straße, dann kommen Sie an<br />

eine andere Straße mit einem Schild Schollene’ So<br />

war die Auskunft. Na, Gott sei Dank, wir sind auf<br />

dem richtigen Wege. Wir danken ihnen und setzen<br />

unseren Weg fort. Wir gehen und überqueren die<br />

Straße. Noch zwei, drei Schritte um dann in den<br />

angrenzenden Wald zu kommen, da trifft uns völlig<br />

unerwartet der nächste Schlag. Wie von einer Geisterhand<br />

gesteuert, sind wir blitzartig überrumpelt.<br />

Nun stehen wir vier wie versteinert da. Der Schock<br />

sitzt uns nicht nur im Nacken. Ohne jede Vorwarnung,<br />

sind zwei bis an die Zähne bewaffnete, getarnte<br />

deutsche Soldaten aus dem nahe Straßen-


302<br />

graben aufgesprungen. Sie nehmen uns fest. Was,<br />

ein übler Scherz? - - Nein. Ich fühle blitzschnell, die<br />

nehmen ihren Auftrag sehr ernst. - - Geschockt, mit<br />

Flimmern vor den Augen, erkenne ich plötzlich nur<br />

meine Lage. Die zwei bewaffneten Feldgrauen<br />

verbieten uns das Sprechen und bringen uns ganz<br />

schnell ans Laufen. Im Schrecken suche ich innerlich<br />

nach Zeugen. Da sind doch die polnischen<br />

Frauen. Plötzlich werde ich von einer hirnverbrannten<br />

Verwirrung verfolgt. Ich suche den rettenden<br />

Strohhalm. - - - Ich will nicht glauben, dass die polnischen<br />

Frauen plötzlich keine Zeugen für uns sein<br />

könnten. Gott sei Dank, die sind über alle Berge.<br />

Hätte das nicht eine weitere Eskalation unserer Situation<br />

geben können? - - Junge polnische Frauen<br />

als Zeugen für deutsche Soldaten? - - - Etwas<br />

Dümmeres konnte mir nicht einfallen. Und eine eindeutige<br />

Verbindung zwischen uns und den polnischen<br />

Frauen wäre doch schnell gefunden. Unsere<br />

eigenen Soldaten hätten uns, ohne je zur Rechenschaft<br />

gezogen zu werden, einfach umlegen können.<br />

Was haben wir jetzt zu erwarten? Die Soldaten<br />

wissen genau, wo wir herkommen. Sie haben uns<br />

schon auf dem Feldweg, spätestens an der Schonung,<br />

erkennen müssen. Wir sind das gefundene<br />

Fressen für die beiden. Sie haben auch unser Gespräch<br />

mit den Frauen verfolgen können. Wir waren<br />

auf dem Weg nach Schollene. Eine Fluchtabsicht in<br />

Richtung Westen war aus meiner Sicht doch nicht<br />

zu erkennen. Wir wollten uns nicht absetzen, keine<br />

Fahnenflucht begehen. Wir wollten nicht abhauen.<br />

Auch nicht in Richtung Ferchland*. Der Ort Ferchland<br />

war uns bis zu dem Zeitpunkt unserer Festnahme<br />

nicht bekannt. Wir kamen zu Fuß aus der


303<br />

Niederlausitz, haben keinerlei Kontakte zu anderen<br />

Soldaten in diesem Gebiet um Genthin gehabt. Die<br />

Posten müssen uns gegenüber den Ort Ferchland<br />

genannt haben. Sie wollten sicher herausfinden, ob<br />

wir dahin marschieren wollten. Schweigend laufen<br />

wir, von aufgepflanzten Seitengewehren begleitet,<br />

in Richtung Genthin. Wirre Gedanken, Ungereimtheiten,<br />

ja Widersprüchliches, ein ganzes Sortiment<br />

„tief greifender Nervosität“ durchzuckt mein Gehirn.<br />

Dann folgt ein Schritt in die innere Beruhigung. „Es<br />

wird sich alles aufklären lassen“, denke ich. „Es wird<br />

sich doch nachweisen lassen, dass wir keine Deserteure<br />

sind“. Woran das erkennbar sein soll, das<br />

weiß ich nicht. Schon kommen wieder Zweifel auf.<br />

Ich versuche Ordnung in meine Gefühle zu bringen.<br />

Was spricht für uns? ‚Natürlich, es müssen unsere<br />

Marschpapiere nur vervollständigt werden’. - - Die<br />

von unserem Feldwebel mündlich vorzutragenden<br />

Angaben über unseren Marsch bis Genthin kann<br />

man überprüfen. Die letzten Stempel müssen nur<br />

nachgeholt werden. Füge ich als Strohhalm an.<br />

Damit beruhige ich mich wieder. Aber wie lange?<br />

Und auf die uns noch zustehende Verpflegung können<br />

wir notfalls verzichten. Nach weiteren Gedankensprüngen<br />

halte ich unsere Festnahme innerlich,<br />

ohne mich mit meinen anderen Kameraden verständigen<br />

zu dürfen, für Unsinn. Mit dem Gedanken<br />

„Es wird sich schon alles aufklären“ beruhige ich<br />

mich zum wiederholten Male. Ob wir vier uns, durch<br />

das Sprechverbot voneinander getrennt, auf unserem<br />

Weg nach Genthin wirklich beruhigen, kann ich<br />

nicht mehr sagen. In immer kürzeren Abständen<br />

erscheinen wieder und wieder die Bilder unserer<br />

plötzlichen Festnahme vor meinen Augen. Ohne


304<br />

Kontakt miteinander gewinnen wir hoffentlich, wenn<br />

auch jeder nur für sich, langsam wieder an Oberwasser.<br />

Wie lange wir auf der Straße nach Genthin<br />

marschieren, erinnere ich nicht. Wir marschieren<br />

ohne jede Witterung, einfach stumpfsinnig<br />

nebeneinander im Gleichschritt dahin. Treiben die<br />

beiden bewaffneten Posten nur ein Spiel mit uns?<br />

Oder werden sie uns erschießen? Die werden uns<br />

nicht erschießen! Doch Möglichkeiten zu einer Bestrafung<br />

werden die schon finden. Die wachsende<br />

Angst lässt kein Denken zu. Von uns zeigt niemand<br />

eine Reaktion mehr. Wir sehen uns nicht an. Ich<br />

spüre sie physisch, die aufgepflanzten Seitengewehre.<br />

Die Straße, auf der die Soldaten uns festgenommen<br />

haben führt in westliche Richtung nach<br />

Ferchland. Vom Punkt des Überfalls sind es etwa<br />

10 Kilometer bis Ferchland. Wo bringen die uns<br />

hin? Was wird jetzt kommen? Wir sind vogelfrei. Wir<br />

Vier können die Situation, in der wir uns befinden,<br />

nicht begreifen. Mit uns marschiert nur Erbarmungslosigkeit,<br />

Grausamkeit, Barbarei und Tyrannei. Wir<br />

Vier erkennen aber schnell, dass wir in Kürze hilflos<br />

einer absoluten Macht gegenüber stehen werden.<br />

Wie gefährlich die Situation für uns Festgenommene<br />

ist, will ich erklären: Wir vier Männer kommen<br />

von sowjetischen Panzern am 19. April 1945 beschossen<br />

und von der Ostfront in Deutschland verjagt<br />

bei Lübbenau/Niederlausitz an diesen Ort. Am<br />

20. April 1945 erhalten wir von einer Meldestelle<br />

des Militärs den Marschbefehl, uns sofort und ohne<br />

Verzögerung auf den Marsch nach Parchim in<br />

Mecklenburg zu begeben. Jeden Nachmittag haben<br />

wir uns bei einer Meldestelle des Militärs zu melden.<br />

Unser Feldwebel, „Ausbilder“ in unserer Kompanie,


305<br />

trägt die Verantwortung für uns vier. Er geht jeweils<br />

allein in die Meldestelle und kommt anschließend<br />

mit dem abgestempelten Marschbefehl und die<br />

Marschverpflegung für den Tag zu uns zurück.<br />

Dann marschieren wir weiter und rasteten am<br />

Abend irgendwo im Gelände. Entweder unter Bäumen,<br />

am Waldrand oder in einer Scheune. Wir bewegten<br />

uns nicht auf Landstraßen, sondern abgesetzt<br />

annähernd parallel dazu. Durch Dörfer ziehen<br />

wir nur in der Hoffnung dort Trinkwasser aus Wasserhähnen<br />

auf der Rückseite der Häuser zu finden.<br />

Doch sind in der Regel die Wasserhähne abgesperrt.<br />

Die Menschen in den Dörfern haben ohnehin<br />

Angst vor einer Horde unbewaffneter Soldaten, die<br />

verdreckt, ungeordnet an ihren Häusern einfach<br />

vorbei ziehen. Wie es scheint haben die Menschen<br />

auch davon gehört, dass Soldaten Häuser plündern.<br />

Am 28.April hatten wir dann Genthin erreicht. Am<br />

29.April werden wir von einer gewaltigen Explosion<br />

in Genthin, zur Stadt hinaus gejagt. Was an dem<br />

Tage in Genthin geschehen ist, davon haben wir<br />

keine Ahnung. Da wir kein deutsches Militär antreffen,<br />

nehmen wir an, dass wir nun irgendwo im Niemandsland<br />

von deutschen Truppen abgeschnitten<br />

sind. Wir haben uns keine Gedanken gemacht,<br />

denn wir haben den Marschbefehl jeden Tag bis auf<br />

den 29. und 30. April abstempeln lassen können.<br />

Einen Nachweis, dass wir uns korrekt verhalten haben,<br />

ist doch durch das Geschehen in Genthin bei<br />

unserer nächsten Meldestelle nachzutragen und zu<br />

bestätigen. Am 30.April haben wir den Elbe-Havel-<br />

Kanal mit Hilfe der Niederländer überquert. Auf unserem<br />

Marsch erreichten wir die Straße mit den vier<br />

polnischen Frauen. Die Überrumpelung der zwei


306<br />

bewaffneten Soldaten auf uns war gelungen. Zwei<br />

Entscheidungen waren bei unserer Festnahme<br />

möglich. Als erste Entscheidung: Der Vorposten*<br />

der deutschen Einheit, hätten uns sofort auf der<br />

Stelle, ohne Festnahme erschießen können.<br />

Die zweite Entscheidung: sie nehmen uns fest und<br />

bringen uns zurück zu ihrer Einheit. In unserem Fall<br />

war es jedoch so: Wir marschieren noch vor und an<br />

den Vorposten vorbei. Wir vier Mann sind unbewaffnet.<br />

Aus Sicht des Vorpostens musste es nahe<br />

liegend sein, dass wir uns absetzen wollen. Denn<br />

warum laufen wir ausgerechnet nur wenige Meter<br />

an ihnen vorbei? Wir haben keinen Verdacht gehabt,<br />

dass man uns auf unserem Wege nach Parchim<br />

noch einmal aufhalten wird. Auf der anderen<br />

Seite wären wir nicht so dreist gewesen und hätten<br />

die Posten nur provozieren wollen. Ich folgere aus<br />

der Aktion: Wenn unser Feldwebel Frontdiensterfahrung<br />

gehabt hätte, wäre es wohl zu der ersten<br />

Entscheidung der Vorposten gekommen. Auch,<br />

wenn wir im Recht sind, müssen wir uns der militärischen<br />

Willkür beugen. Da. - - Wir werden erwartet.<br />

Aus etwa 50 m Entfernung sehen wir vor uns auf<br />

der Straße einen dekorierten Offizier stehen. Wohl<br />

ein Major, ohne rechten Arm, körperlich stark untersetzt.<br />

Mit seiner gedrungenen Gestalt steht er breitbeinig<br />

und stramm da. Er brüllt und schäumt wo er<br />

uns sieht vor Wut. Wir sind ihm ausgeliefert. Der<br />

Sonnenschein bündelt seine Strahlen auf uns, wie<br />

ein Scheinwerfer, der diese Szene mit seinem grellen<br />

Licht in die Öffentlichkeit reißt. Doch es sind<br />

keine Zuschauer da. Die arrogante, militärisch laut<br />

schnarrende, sich dabei überschlagende und schrille<br />

Stimme brüllt: ‚Traben - sie - an!’ Wir traben an


307<br />

(Laufschritt) und nehmen vor dem Major der Wehrmacht,<br />

die militärisch stramme Haltung ein. Unser<br />

Feldwebel, sofort wieder zuversichtlich, wieder ganz<br />

in seinem Element, beginnt mit der Meldung. Das<br />

zweite Wort hat er noch nicht über seine Lippen<br />

gebracht, da liegt er schon ohne Kopfbedeckung,<br />

von einem beispiellos harten Fausthieb getroffen,<br />

mit blutendem Gesicht nach vorn gestürzt, flach auf<br />

der Straße. Wir drei zucken wie Schafe verkrampft<br />

zusammen. Wir stehen wie vor der Abschlachtung<br />

da. Unser Feldwebel, geschockt, steht auf und<br />

nimmt wieder Haltung an. Das mit Blut verschmierte<br />

Gesicht hat er mit einer Hand abgewischt. Der Rest<br />

trocknet allein. Das blutleere Gesicht wird von den<br />

Spuren des antrocknenden Blutes abgedeckt. Die<br />

Kanonade der Raserei geht weiter. Nun gegen seine<br />

eigenen Soldaten gerichtet, folgt ein verstärkter<br />

Wutausbruch: „Sie hätten diese üblen, feigen<br />

Schweine gleich umlegen sollen. --- Gar nicht erst<br />

festnehmen. --- Jetzt haben wir hier den Ärger damit!“<br />

hämmert der Offizier. Mit hochrotem Kopf zeigt<br />

er sich tobend seinen Soldaten. Wir erleben ihn wie<br />

einen subalternen Diktator, der außer sich ist, der<br />

nur noch vom „Durchhaltefanatismus“ getrieben<br />

wird. Der Vorposten hat die Aufgabe, dass vor einer<br />

Einheit liegende Gelände zu beobachten. Der Vorposten<br />

ist mit unterschiedlichen Vollmachten ausgestattet.<br />

Nach meinem Empfinden hat der Offizier<br />

auf diesem Posten Angst vor dem, was schon bald<br />

auf ihn zukommen wird. Seine Angst macht ihn gefährlich.<br />

Der Major will sich gar nicht mehr beruhigen.<br />

Von diesem Offizier haben wir nichts zu erwarten.<br />

Mit dem Schlag in das Gesicht unseres Feldwebels<br />

ist der seelische Tiefpunkt in uns erreicht. Er


308<br />

brüllt und schreit. „Ab in den Wald!“. Nun brüllt er<br />

noch hinter uns her: „Sie sind in meinen Augen nur<br />

feige Schweine, sie sind in meinen Augen üble<br />

Fahnenflüchtige, Deserteure“. Der Major hat sich<br />

selbst zum „Herrgott“ gemacht.<br />

Er ist felsenfest davon überzeugt: dass wir abhauen<br />

wollten. Bei unserem Marsch durch das Niemandsland<br />

hätten wir nur auf eine günstige Gelegenheit<br />

gewartet. Er unterstellt uns sogar, dass wir unsere<br />

Uniform gegen Zivilsachen getauscht hätten, wenn<br />

uns nicht der Doppel-Posten aufgegriffen hätte. Wir<br />

wollten nach seiner festen Überzeugung nicht mehr<br />

bis zum Endsieg kämpfen. Wir wollten uns vom<br />

Krieg absetzen. Mit weiteren Anwürfen macht er<br />

sich Mut. Nun spricht er sich selbst an: „Die glauben<br />

nicht mehr an den Endsieg. denen werde ich es<br />

jetzt zeigen. Ich werde sie der einzigen Strafe zuführen,<br />

die sie verstehen. Diese feigen Verräter<br />

brechen mit ihrem Eid die Verpflichtung zur Treue<br />

zu unserem Führer. Sie begehen damit den<br />

schlimmsten Verrat an ihren im Kampf gefallenen<br />

Kameraden. An all den Opfern, die in diesem Kriege<br />

ihr Leben für ihren geliebten Führer und für das Vaterland<br />

tapfer gegeben haben. Die Kampfmoral<br />

meiner Truppe muss bis zum Endsieg voll erhalten<br />

bleiben“. Mit seinem Verhalten uns gegenüber, zeigt<br />

der Major seine angeschlagene Macht: Wir vier, und<br />

die noch später festgenommenen Männer sind seiner<br />

Willkür ausgeliefert. Der Major will uns vernichten.<br />

Wir halten die Schnauze. Einen Aufschrei gegen<br />

die Festnahme? Nein! Der Offizier könnte jetzt<br />

seine Pistole ziehen. Er könnte uns mit gezielten<br />

Schüssen niederstrecken. Einfach so. Einfach töten.<br />

Den Rest müssten dann seine Leute machen. Ich


309<br />

komme noch einmal auf die vier Polinnen zurück*:<br />

Haben vielleicht die Vorposten-Soldaten die Frauen<br />

aufgefordert an der Stelle, wo wir auf sie treffen,<br />

stehen zu bleiben um ihrerseits unser Gespräch<br />

besser belauschen zu können? Abwarten! Innerlich<br />

tief abtauchen. Wohin? - - - Zeigt seine Truppe vielleicht<br />

auch schon Auflösungserscheinungen.*Uns<br />

vernichten, bringt bestimmt eine Straffung seiner<br />

Truppe und mehr Ordnung in seinen Laden. Seine<br />

Einheit, hat den im Zick - Zack verlaufenden Schützengraben,<br />

der etwa 250 m vor dem Punkt, an dem<br />

uns der Major festhält gegen die Amerikaner besetzt.<br />

Wir sind dort auf unserem Marsch vorbeigekommen.<br />

Bis auf die Hundemarke haben sie uns<br />

vier unsere persönlichen Sachen und die Papiere<br />

abgenommen. Die beiden Vorposten-Soldaten sind<br />

nicht mehr anwesend. Vermutlich haben sie inzwischen<br />

wieder ihre Position eingenommen. Unter<br />

den Augen der für uns neuen Wachposten, die uns<br />

mit aufgepflanztem Seitengewehr bewachen, sollen<br />

wir nun etwa zwei Meter lange und etwa 60 cm breite<br />

Gruben ausheben. Urplötzlich stehen vor meinen<br />

Augen die Bilder der unregelmäßig angeordneten<br />

Hügel, die ich in einem der Kiefernwälder gesehen<br />

habe. Dort hat man Insassen aus Konzentrationslagern,<br />

auf ihrem Wege ins Ungewisse, umgelegt. Die<br />

dort ermordeten Menschen haben vor ihrem eigenen<br />

Tod die gleiche Angst empfunden, wie es die<br />

Angst ist, die sich in unseren Herzen entwickelt. Die<br />

Angst lähmt uns. Wie lange wird es dauern, bis uns<br />

die Angst getötet hat. Werden wir hier unser Ende<br />

finden? Wir merken und sehen es, wir sind nicht<br />

allein aufgegriffen worden. Vielleicht wird mit jeder<br />

weiteren Festnahme unsere Überlebenschance


310<br />

größer. Ich denke darüber nach, was es mit der<br />

Anwesenheit der vier Polenfrauen auf sich haben<br />

kann. Hat uns vielleicht ihre Gegenwart vor dem<br />

Erschießen bei der Festnahme bewahrt?<br />

Ich verstehe nicht, warum die Polinnen sofort nach<br />

unserer Festnahme verschwunden sind.<br />

Ich vermute: der Major hat an diesem Tage innerlich<br />

eine so starke krankhafte Furcht gehabt, dass er vor<br />

seinen Vorgesetzten, wegen der ihm übertragenen<br />

Aufgabe, nicht mehr bestehen könnte. Das alles<br />

wurde ihm zu viel. Was wird aus ihm werden? Kann<br />

er noch einmal zurück in seine militärische Vergangenheit?<br />

Nicht nur seine Angst, nun wird auch ihn<br />

der Krieg fressen.<br />

Mit uns vier Mann sind weitere zehn bis zwölf Soldaten<br />

in Uniform und einige, die ihre Kleidung gewechselt<br />

haben, in dem Waldstück gelandet. Mit<br />

dem Feldspaten gehen wir, immer im Wechsel, an<br />

die Arbeit. Wir müssen Zeit schinden. Die unter dem<br />

Gras flach liegenden Kiefernwurzeln lassen sich<br />

nicht mit Feldspaten durchtrennen. Unsere Erdarbeit<br />

wird verzögert. Wir müssen versuchen, die Arbeiten<br />

noch weiter zu verzögern. Die Posten bleiben<br />

ruhig. Sie halten sich, etwa 10 Schritt von uns entfernt,<br />

schweigend auf. Welche Gedanken sie bei<br />

dieser Sonderaktion haben, kann ich nicht wahrnehmen.<br />

Ihnen scheint auch dieses hier scheißegal<br />

zu sein. Sie sind abgestumpft. Auf der Straße hält<br />

gerade ein rumpelnder LKW mit Anhänger. Ohne<br />

Zeichen einer Reaktion gesellt sich der Fahrer zu<br />

uns und ist jetzt ein Mitgefangener. Von der Festnahme<br />

verdattert, empört, meldet er sich sogleich<br />

lauthals. ‚Ich habe leere Benzinfässer geladen und


311<br />

bin auf dem Wege nach Jerichow, einem Ort an der<br />

Elbe. Dort soll ich von einem Tankschiff Treibstoff<br />

für eine Panzerabteilung abholen’. Kein Posten hindert<br />

den aufgeregten Mann zu sprechen, seinen<br />

Widerstand gegen die Willkür zu artikulieren. Uns<br />

bleibt weiter das Sprechen verboten. Mich unterdrückt<br />

die Anspannung. Mich beherrscht der Gedanke,<br />

hier im Waldstück einfach umgelegt zu werden.<br />

Alles um mich herum gräbt sich in eine unsichtbare<br />

Wolke ein. Meine Ohren nehmen Wortfetzen<br />

und Geräusche auf, die von den eigenen Nerven<br />

produziert werden. Vor den Augen vorüberziehende<br />

Bilder erkenne ich farblos. Was in mir abgestorben<br />

ist, windet sich schmerzlos aus meinem<br />

Körper. Ich bin nicht aufnahmefähig. Ich stiere Löcher<br />

in die Luft, ich träume. Und da:<br />

Ein ankommendes Motorrad höre ich nicht. Ich sehe<br />

einen Soldaten, der von seinem Motorrad abspringt.<br />

Er trägt einen übergroßen Kradmantel. Eine große<br />

Pistole steckt in einer offenen Pistolentasche. Ein<br />

Stahlhelm sitzt auf seinem Kopf. Der Soldat steht im<br />

nächsten Augenblick auf der Straße vor einem Offizier.<br />

Ich höre keine Meldung, ich nehme sonst<br />

nichts wahr.<br />

Mit einem Klick kehre ich zurück und erkenne den<br />

Kradfahrer, der auf der Straße von seinem Motorrad<br />

mit geschlossenem Mantel abgestiegen ist. Er meldet<br />

sich und überreicht dem Major einen geschlossenen<br />

Umschlag. Es ist der Einarmige, der die Meldung<br />

entgegen nimmt. Der Umschlag geht an den<br />

Kradfahrer zurück, der ihn öffnet. Ich nehme weiter<br />

nichts von dem, was um mich herum geschieht zur<br />

Kenntnis. Es ist sicher ein Melder, der hier auf der


312<br />

Bildfläche erscheint. Wo kommt der her? Wird er<br />

Befehle für den Major haben? Geht es um uns?<br />

Sein Eintreffen bringt einen unmittelbaren Wandel<br />

des bisherigen Geschehens. Nun wird der Fahrer<br />

des LKWs zu seinem Fahrzeug gerufen. Innerhalb<br />

eines Augenblickes sehen die Aufgegriffenen, wenn<br />

auch zögerlich, wieder auf. Ich sehe jetzt mit ruckartigen<br />

Bildsprüngen, dass der Anhänger abgekoppelt<br />

wird. Das Fahrzeug steht plötzlich in Fahrtrichtung<br />

Genthin. Leere Benzinfässer poltern auf das Straßenpflaster.<br />

Soldaten rollen sie an den Straßenrand.<br />

Vorsichtig setzen wir vier uns nun auch in<br />

Bewegung. Dann springen wir, als sei nichts passiert<br />

wie gejagte Hasen aus dem Wald heraus. Wir<br />

tun so, als sei schon alles vorbei. Nur fort von hier!<br />

Gegenseitig helfen wir uns auf die Ladefläche. Da, -<br />

- die Wachposten, mit aufgepflanztem Seitengewehr<br />

sind wieder gegenwärtig und steigen zu uns<br />

Festgesetzten auf das Fahrzeug. Sprechverbot<br />

während der Fahrt. Wohin bringen sie uns? Schaukelnd<br />

geht unsere Fahrt auf dem LKW vorwärts. Die<br />

glänzenden Seitengewehre bewachen uns weiter.<br />

Alle Aktionen laufen völlig mechanisch ab. Einen<br />

Funken Hoffnung trägt jeder, wenn auch versteckt,<br />

auf dem LKW in sich. Unsere Fahrt endet vor dem<br />

Rathaus in Genthin. Am letzten Sonntagvormittag,<br />

das war doch erst gestern, waren wir in dem Café,<br />

das dem Rathaus schräg gegenüberliegt. Von dem<br />

Café nehme ich keine Notiz. Nur an die Volkssturmmänner<br />

und Hitlerjungen, die an der Ecke<br />

standen, erinnere ich mich. Das alles scheint aber<br />

schon so lange her zu sein. Wir verlassen das<br />

Fahrzeug und werden in das aus roten Ziegelsteinen<br />

erbaute Gebäude geführt. Über die breite Trep-


313<br />

pe geht es zum Hochparterre und anschließend auf<br />

der Treppe zur ersten Etage. Wir warten. Die Posten<br />

erinnern alle Wartenden daran, dass wir<br />

Sprechverbot haben.<br />

Obwohl ich von unseren Bewachern nicht berührt<br />

werde, spüre ich physisch die aufgepflanzten Seitengewehre.<br />

Wann hat dieser Unsinn hier ein Ende?<br />

Wenigstens sind wir vier Mann nicht voneinander<br />

getrennt worden. Einer der Mitgefangenen, er<br />

ist in Zivil und steht fast auf Tuchfühlung zwischen<br />

uns, bringt uns durch sein lautes Sprechen in eine<br />

unangenehme Lage. Das Schweigen wird von der<br />

lauten Stimme dieses verstörten Kameraden in Zivil<br />

unterbrochen. Die Posten bleiben ruhig. Er erzählt<br />

uns lauthals seine ganze Militärgeschichte. Vielleicht<br />

war er auf der Flucht. Bei seiner Festnahme,<br />

die ihn sicher überrascht hat, wird er wohl auf die<br />

ihm gestellten Fragen falsch geantwortet haben.<br />

Nun bietet er meinem Kameraden und mir seine<br />

Taschenuhr an. Er möchte, dass seine Uhr als eine<br />

Erinnerung an ihn und an diese Stunde sein soll. Er<br />

erklärt uns beiden, dass er nicht daran glaube, hier<br />

heil heraus zu kommen. Die Posten bleiben ruhig.<br />

Sie scheinen schon Erfahrungen mit Kameraden,<br />

die im Kriege aus den verschiedensten Gründen<br />

geistig verwirrt waren. Auch der Mann, der zwischen<br />

uns steht ist in diesen Momenten nicht mehr<br />

ansprechbar. Er sagt uns sinngemäß, dass er die<br />

Tatsache, Zivilist zu sein, nicht beweisen kann.<br />

Deshalb will er seine Taschenuhr, die ihn durch den<br />

gesamten Krieg, bis an diesen Ort begleitet habe,<br />

verschenken. Niemand von uns will die Taschenuhr<br />

weder anfassen noch haben. Ich halte fest: Wir vier<br />

haben dem verzweifelten Mann in seiner seelischen


314<br />

Not, nur mit geschlossenen Ohren zugehört. Keiner<br />

von uns hat ihm geantwortet. Wir haben uns längst<br />

abgewandt. Aus eigener Angst ums eigene Leben,<br />

die sich bei uns binnen Sekunden aufgebaut hat,<br />

sind wir zu nichts mehr fähig. Mein Hals ist zugeschnürt.<br />

Mein Mund ist verschlossen. Ich kann diesem<br />

Menschen keinen Beistand leisten. Seinen Hilfeschrei<br />

habe ich gehört. Doch ich habe nichts getan<br />

um ihm zu helfen. Mein und damit unser<br />

Schicksal liegt hier auf der Treppe noch völlig im<br />

Dunkeln. Geleitet durch den eigenen Instinkt, selbst<br />

überleben zu wollen, habe ich nicht anders reagiert.<br />

Wir wissen doch selbst nicht, ob wir hier herauskommen<br />

werden. Der weitere Aufstieg auf der<br />

Treppe vollzieht sich sehr zögerlich.<br />

Einige der aufgegriffenen Männer sind durch die<br />

hohe Doppeltür gegangen. Wir haben keinen von<br />

ihnen wieder gesehen. Ich drehe mich zur Seite.<br />

Mein Blick geht frei in den Innenhof des Rathauses.<br />

Ich sehe viele amerikanische Soldaten, die in unserer<br />

Gefangenschaft sind. Teilweise tragen sie noch<br />

ihre Stahlhelme. Zum ersten Mal sehe ich amerikanische<br />

Soldaten in ihren Khakiuniformen. Jetzt<br />

kommen wir Vier an die Reihe. Wir betreten einen<br />

hohen Raum. Unser Feldwebel macht Meldung und<br />

überreicht dem Stadtkommandanten oder seinem<br />

Beauftragten, einem älteren Offizier, unsere<br />

Marschpapiere. Bei der Festnahme haben die Soldaten<br />

uns nichts abgenommen. Der Major, der uns<br />

festgesetzt hat, hat nicht nach unseren Papieren<br />

gefragt. Der wollte bestimmt keine Papiere von uns<br />

sehen, denn dann hätte er uns nicht in den Wald<br />

schicken dürfen. Auf einem ausladenden Kartentisch<br />

liegen Generalstabskarten und -Stabspapiere.


315<br />

Unsere Marschpapiere werden geprüft. Scheinbar<br />

endlose Augenblicke vergehen. Weiter wartend,<br />

fühle ich eine Entkrampfung. Spuren von innerer<br />

Körperwärme kommen zurück .Meine Hoffnung - -<br />

die ersehnte Wendung unserer Lage in die Freiheit<br />

bringt uns langsam zurück ins Leben. Der Schmerz<br />

der Willkür, die Aussichtslosigkeit in der Realität, die<br />

gewaltige Nervenanspannung fällt wie abgeschlagen<br />

von uns ab. Und dieses geschieht genau in<br />

dem Augenblick, wo der Offizier eine Sekretärin<br />

beauftragt, unsere Marschpapiere zu ergänzen und<br />

sie anschließend dem Feldwebel auszuhändigen.<br />

Abgestempelte Marschpapiere mit Datumsangabe<br />

werden ausgehändigt. Gemeinsam, wie auf ein<br />

Kommando, reißen wir die Hacken zusammen, machen<br />

eine Kehrtwendung und treten ab. Ohne einen<br />

Blick zurück sind wir auf der Straße. Die militärische<br />

Willkür, die Brutalität haben wir in übelster Form zu<br />

spüren bekommen. Ein reiner Zufall, oder das Unberechenbare,<br />

das in der Macht der Mächtigen liegt,<br />

lässt Menschen zu Mördern und zu Opfern werden.<br />

Während der Bearbeitung dieses Vorganges kommen<br />

mir meine Gedanken. Was sind die Gründe,<br />

dass uns der Major vernichten wollte?<br />

Ich stelle mir vor: Der Major ist an dieser Stelle hinter<br />

dem Schützengraben seiner Einheit unsicher<br />

geworden. Vor seiner Einheit war bis zum Elbstrom<br />

Niemandsland. Und da laufen deutsche Soldaten<br />

zwischen den Amerikanern und seiner Stellung von<br />

Süden nach Norden vorbei. Das kann doch nicht in<br />

Ordnung sein. Seine Vorposten haben den Auftrag,<br />

deutsche Soldaten, die zwischen den Fronten ’spazieren<br />

gehen’, die bewaffnet oder unbewaffnet sind,


316<br />

die sich auf irgendeine Weise vom Kriegsdienst absetzen,<br />

das heißt, die desertieren, festzunehmen.<br />

Die Aufgegriffenen sind bei ihm abzuliefern. Dieses<br />

scheint mir bis hier eine plausible Erklärung des<br />

Vorganges zu sein. Meine Vermutung ist: Der Major,<br />

dem wir zugeführt werden ist gar kein echter<br />

Frontoffizier. Auf diesem Posten hat er die Grenze<br />

seiner Fähigkeiten überschritten. Militärisch aus<br />

Mangel an Qualifikation, unfähig, den ihm übertragenen<br />

Auftrag zu erfüllen.<br />

Als echter Frontoffizier hätte er die vor seiner Stellung,<br />

vor seinem Schützengraben, aufgegriffenen<br />

Wehrmachtsangehörigen sicher nicht erschießen<br />

lassen. Er hätte sie festgesetzt und sie an seine<br />

Vorgesetzte Abteilung zur Überprüfung der Person,<br />

der Papiere weiter geleitet. Seine angeblichen Befehle<br />

an die Vorposten, die aufgegriffenen Soldaten,<br />

die sich unerlaubt im Niemandsland befinden gleich<br />

an Ort und Stelle zu erschießen, haben die Männer<br />

nicht ausgeführt. Ich denke: Diesen Befehl hat der<br />

Major nie eindeutig gegeben. Vielleicht haben die<br />

Soldaten ihren Major nicht akzeptiert, weil er die<br />

Einheit erst übernommen hat. War es vielleicht nur<br />

eine Kampfgruppe zur Sicherung Genthins? Gedanken<br />

ohne Ende durchziehen mein Hirn. Mit gültigen<br />

Marschpapieren, geht unser Marsch nach<br />

Schollene sofort aber ohne Marschverpflegung weiter.<br />

Die Augen des um Hilfe flehenden Soldaten in<br />

Zivil habe ich noch lange vor meinen Augen. Ich<br />

kann sie nicht vergessen. wird es so friedlich wie in<br />

diesem Moment weitergehen, eine Stunde oder<br />

zwei Tage? Jeder Augenblick birgt neue lebensbedrohende<br />

Von den wartenden Soldaten und Zivili-


317<br />

sten haben wir uns nun aber abgesetzt und somit<br />

diese Begegnung schnell verdrängt. Auch wenn es<br />

nicht glaubhaft sein mag, über unser Erlebnis,<br />

westlich von Genthin haben wir nicht mehr gesprochen.<br />

Zufrieden, diesem Nervenkrieg entkommen<br />

zu sein, ziehen wir weiter. Aber wir sind nicht wirklich<br />

frei. Wir müssen noch den Krieg überstehen.<br />

Wie lange Gefahren. Die amerikanischen Soldaten,<br />

die ich im Innenhof des Rathauses gesehen habe,<br />

waren bei ihrem Stoßangriff am Sonntag bei Genthin<br />

in die Gefangenschaft geraten. In meinen Gedanken<br />

gehe ich noch einmal zurück zu den zwei<br />

Soldaten, die uns aufgegriffen und festgenommen<br />

haben. Ihnen sollen wir dankbar sein, dass sie uns<br />

nicht bei der Festnahme umgelegt haben. Jetzt, da<br />

wir weiter marschieren, stelle ich fest, wir haben<br />

verdammt viel Glück gehabt. Unterwegs nimmt uns<br />

Vier ein LKW mit. Bis in die Nähe von Schollene<br />

können wir auf der Ladefläche mitfahren. Den Rest<br />

des Weges bis Havelberg marschieren wir wieder.<br />

Am Spätnachmittag überschreiten wir die Havelbrücke<br />

in Havelberg. Auf einem Platz neben der<br />

Kirche warten wir auf die Rückkehr unseres Feldwebels.<br />

Er meldet sich bei der Stadtkommandantur<br />

und lässt dort unsere Marschpapiere abstempeln.<br />

Wir erwarten ihn mit der Marschverpflegung zurück.<br />

Der Schock von Genthin steckt uns noch gewaltig in<br />

den Knochen. Wir warten geduldig. Wir müssen<br />

wohl noch zwei Tage bis Parchim marschieren. Ob<br />

es dort eine Ruhepause geben wird? Kaum zu vermuten.<br />

Es war eine verdammte Schinderei, das<br />

Laufen vom Spätnachmittag des 19. April bis heute,<br />

dem 1. Mai 1945. Uns hat das restlos gelangt. Heute<br />

lässt uns der Feldwebel aber länger als gewohnt


318<br />

warten. - - Na, endlich, da erscheint er auf der Bildfläche.<br />

Ohne Umschweife berichtet er: „Kameraden,<br />

hier ist unsere Reise zu Ende Der Stadtkommandant<br />

hat mir gesagt: Ich kann Sie mit ihren Leuten<br />

zwar nicht festhalten, weil Sie zur Truppe von Hermann<br />

Göring gehören. Aber, sie werden Parchim<br />

mit Sicherheit nicht mehr erreichen. Wir nehmen an,<br />

oder haben bereits Meldungen, dass die sowjetischen<br />

Panzer in der kommenden Nacht oder am<br />

frühen Morgen des 2. Mai 1945, irgendwo nördlich<br />

von Wittenberge bis zur Elbe vorstoßen werden. Für<br />

Sie und ihre Männer wird es das Beste sein, wenn<br />

Sie sich unserer, heute aufzustellende Kampfgruppe<br />

anschließen“. Zu unserem Ziel Parchim kommen<br />

wir nicht mehr. „Und uns sagt doch keiner was,<br />

warum wir wie die Idioten hierher gerannt sind“, hält<br />

der Dicke fest. So sprechen wir Vier über unsere<br />

neue Lage. Wir erhalten Waffen und Munition und<br />

werden uns südlich, etwa zwei bis drei Kilometer<br />

von Havelberg entfernt, in dem jungen Gemischtwald<br />

niederlassen. Nachdem uns die Sowjets am<br />

19. April 1945 unseren Transportzug mit ihren T34<br />

Panzern vernichtet haben, da war unsere Reise<br />

nach Senftenberg ins Wasser gefallen. Da gab es<br />

unser wichtiges Ziel, Senftenberg nicht mehr. Morgen,<br />

am 2. Mai 1945, da werden uns die Sowjets<br />

nicht mehr nach Parchim lassen, da sind uns dann<br />

wieder diese verdammten T34 im Wege. Wir stellen<br />

gemeinsam fest: Wir werden kein Ziel mehr erreichen.<br />

Am Abend des 1.Mai 1945 haben wir es noch<br />

nicht erkennen können, aber wir sind an unserem<br />

Ziel angekommen. Die Sowjets treiben uns unaufhaltbar<br />

weiter in die Enge. Mit Feldspaten und Dreieckzeltplane<br />

ausgestattet, erleben wir die Aufstel-


319<br />

lung der Kampfgruppe. Bei der Verteilung der Waffen<br />

entsteht bei den aus verschiedenen Gruppen<br />

stammenden Soldaten ein Durcheinander. Wir sind<br />

uns vollkommen fremd. Bis zum ‚Endsieg’ können<br />

wir auch nicht mehr Kameraden werden. Trotz innerer<br />

Meckerei werden wir die Waffen, alles Beutematerial,<br />

nicht mehr los. Wir müssen sie annehmen<br />

und durch die Gegend schleppen. Damit nicht genug.<br />

Um Gruppenbildungen zu vermeiden, werden<br />

wir Vier auch noch voneinander getrennt. Diese<br />

Tatsache ist für mich sehr bitter, denn nun bin ich<br />

allein. Mit fremden Soldaten sprechen, die um<br />

Grunde nur noch abhauen wollen, das werde ich<br />

nicht. Der Feldwebel bekommt ein Kommando. Der<br />

Obergefreite verschwindet irgendwo zwischen den<br />

älteren Soldaten. Selbst wir beiden jungen <strong>Panzergrenadier</strong>e<br />

werden getrennt. Was die mit uns machen,<br />

das ist alles Schikane in Reinkultur. „Gruppenbildungen<br />

innerhalb der Kampfgruppe, die den<br />

militärisch operativen Forderungen entgegenstehen,<br />

werden nicht geduldet“. Richtig durchmischen und<br />

dann wieder neu aufbauen. So wird es gemacht.<br />

Auf der unbefestigten Straße, die als „Königsallee“<br />

in Havelberg bekannt ist, ziehen wir nach Süden.<br />

Unter amerikanischer Aufsicht, die liegen auf der<br />

Westseite der Elbe, schlagen wir im Wald unser<br />

Nachtlager auf der Ostseite der Elbe auf. Das anschwellende<br />

harte Dröhnen von Panzermotoren, die<br />

Kettengeräusche, nehmen unsere ganze Aufmerksamkeit<br />

in Anspruch. Mit ihrer Höchstgeschwindigkeit<br />

rasseln mehrere Panzerkampfwagen vom Typ<br />

VI Ausf. Tiger an uns vorbei. Die Rohre* haben sie<br />

auf sechs gedreht. Die massiven Stahlkisten wirbeln<br />

und ziehen eine gewaltige Staubwolke hinter sich


320<br />

her. Sie verschwinden so schnell, wie sie gekommen<br />

sind. Ihr Ziel ist sicher Havelberg. Wohin?<br />

Werden sie ihre Fahrzeuge irgendwo am Rand *Bei<br />

normaler Fahrt eines Panzers wird die Kanone mit<br />

Turm nach hinten gedreht und auf einem Stahlgerüst<br />

abgestützt und festgeschraubt. Das Geschütz<br />

in diesem Panzer, eine AchtAcht, hat ein hohes Eigengewicht.<br />

Der auf sechs gedrehte Turm wird so<br />

auf dem Marsch geschont. Hier, auf der Ostseite<br />

der Elbe, sollen die Amerikaner nicht provoziert<br />

werden. Dieser Typ Panzer hat 5 Mann Besatzung,<br />

und 56 t Kampfgewicht. stehen lassen müssen?<br />

Werden sie noch kämpfen? Wie werden wir die<br />

Nacht verbringen. Die Wärme der Sonne nimmt<br />

langsam ab. Ich sitze jetzt auf dem Waldboden und<br />

verzehre meine kärgliche Verpflegung. Die Nacht<br />

kommt, und um mich herum macht alles einen unerwartet<br />

friedlichen Eindruck. Am 2. Mai 1945, gegen<br />

vier Uhr in der Frühe, wird „Stellungswechsel“<br />

befohlen. Die Sonne bemüht sich mit Erfolg. Sie<br />

weckt uns mit ihren wärmenden Strahlen. In Schützenreihe<br />

marschieren wir nach Havelberg zurück.<br />

Über eine Einfahrt kommen wir auf einen gepflasterten<br />

Hof. Zur Straße steht ein Wohngebäude, der<br />

Hof ist von Stallungen eingefasst. Bis zum nächsten<br />

Stellungswechsel bleibt die Kampfgruppe hier. Unsere<br />

Beutewaffen lagern jetzt in einer Ecke des Hofes.<br />

Wir vergessen sie. Mit einem anderen Soldaten<br />

bin ich zur Wache an unserer Einfahrt eingeteilt.<br />

Militär-Fahrzeuge verschiedener Größen fahren in<br />

Richtung Westen. Die Feldgendarmerie regelt den<br />

Straßenverkehr. Gegenwärtig ziehen 15 cm Langrohre,<br />

ohne Lafetten, an uns vorbei. Es herrscht<br />

durch den anwachsenden Verkehr eine betriebsbe-


321<br />

dingte Unruhe auf der Straße. Sind das vielleicht<br />

schon Zeichen der Auflösung? Bei dem Gedränge<br />

hält nun auch noch vor unserer Hofeinfahrt ein kleiner<br />

LKW.<br />

Der versperrt uns die freie Sicht auf den Verkehr’<br />

denke ich. Auf einmal steht der Fahrer des kleinen<br />

LKWs vor mir. Er sucht eine Einheit. Ich kenne die<br />

nicht, denn unsere Kampfgruppe ist erst vor einer<br />

halben Stunde hier eingezogen. ‚Ich habe die Ladung<br />

mit den Stiefeln dabei’, erklärt der Fahrer, sich<br />

dabei hilfesuchend umschauend. ‚Das ist hier, erwidere<br />

ich, ohne zu wissen, was wirklich los ist. Du<br />

bist bei uns richtig! Füge ich meiner Behauptung<br />

hinzu. Neue Stiefel, die kommen mir gerade zur<br />

passenden Zeit. Mensch, da kann ich doch endlich<br />

meine ausgelatschten Stiefel umtauschen’. Der<br />

Fahrer setzt seinen LKW mit Schwung rückwärts<br />

auf den Hof. Nagelneue, unbehandelte Stiefelpaare<br />

wirft der Fahrer auf den Hof, reißt die Plane herunter,<br />

schließt das Fahrzeug und schon hat das Fahrzeug<br />

den Hof verlassen. Bei dem Drunter und Drüber<br />

und der Unruhe ist es vollkommen egal, wo<br />

letztlich die Sendung mit den Stiefeln gelandet ist.<br />

Meine Wache geht zu Ende und ich suche mir als<br />

erstes neue Schnürstiefel. Die haben sogar Schnürsenkel<br />

mitgeliefert. Meine alten Stiefel fliegen an<br />

den Rand. Ich gehe auf die Straße und schaue mich<br />

um. Neben dem Eingang zum Hof hält gerade ein<br />

Funkwagen auf der linken Seite der Straße. Was<br />

bringt der wohl? Von den Soldaten steigt niemand<br />

aus. Soeben höre ich, der Funker hat eine Meldung<br />

von seiner Einheit empfangen. Einer der Soldaten,<br />

der am offenen Fenster des Fahrzeuges sitzt, wie-


322<br />

derholt jetzt lauthals den Funkspruch: ‚Kameraden,<br />

Hitler ist in Berlin gefallen.<br />

- - - - Parole Heimat. - - Kameraden, es geht nach<br />

Hause’. Andere, zufällig an der Straße wartende<br />

Soldaten, hören wie ich diese Meldung. Sie zeigen<br />

keinerlei Reaktion, man hat die Schnauze gestrichen<br />

voll. Und eine so beiläufig gemeldete wichtige<br />

Nachricht, wird überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.<br />

Wer weiß, was dahinter steckt? Es ist gut,<br />

wenn man überleben will, seine Schnauze zu halten.<br />

Die Soldaten trotten, mit der Neuigkeit in ihren<br />

Köpfen, weiter. - - Nur keine Reaktion zeigen. Abgetaucht<br />

bleiben. In diesem Moment ist mir: Diese<br />

Meldung hat niemand gehört, also gibt es sie nicht.<br />

Und noch immer geht alles beim Militär seinen geregelten<br />

Gang. Jedenfalls hat es den Anschein. Das<br />

ist Tarnung! Wirklich alles? Es wird weiter verdrängt<br />

und den Befehlen pariert. Ich sehe auf meine neuen<br />

Stiefel herunter und stelle fest: Über die Stiefellieferung<br />

habe ich mich wohl nur allein gefreut. Meine<br />

alten Stiefel haben kaum einen Monat Dienst im<br />

Gelände überstanden. Einige der Soldaten, die nun<br />

zu der gestern gebildeten Kampfgruppe gehören,<br />

sitzen mit ihren Rücken an das Gebäude gelehnt<br />

auf dem Boden des Hofes. Wo kommen denn die<br />

her? Sie haben sich bewusst, mit ihrem Offiziersstoff<br />

am Leibe, von uns Soldaten abgesondert. Das<br />

sollen, so erfahre ich, überzählige Zahlmeister sein.<br />

Das ist mir egal. Sie sind jetzt in den normalen Militärdienst<br />

eingegliedert. Vom Alter her sind sie nicht<br />

für den Fronteinsatz ausgebildet. Die Militärführung<br />

hat sie von ihren vollen Töpfen fortgejagt. Sie wollen<br />

jetzt unsere Töpfe mit Leerfressen. Doch unsere<br />

Töpfe sind schon lange leer. Mit einem anderen


323<br />

jungen Soldaten, den ich gestern hier getroffen habe,<br />

bin ich auf der Suche nach Naturalien. Denn<br />

ohne eine Erklärung der Kampfgruppen-Leitung<br />

müssen wir auf das Frühstück verzichten.<br />

Hier gibt es nichts<br />

aber davon haben wir jede Menge<br />

Im Angebot sind: kein frisches Brot, keine Butter,<br />

kein Schinken und kein heißer Kaffee. Wurst und<br />

Käse gibt es auch nicht, ja, es gibt auch keine<br />

Mehrfrucht oder Vielfrucht-Marmelade. Bei uns fällt<br />

sogar das zum Trinken erforderliche Wasser in den<br />

Sand. Kein Wort über unsere Lage. Unser Verein<br />

sollte ein Schild über unserem Eingang befestigen:<br />

Das wäre dann keine Propaganda. Es ist die reine<br />

Wahrheit. ‚Seht doch zu, wie ihr durchkommt!’.<br />

Das ist der unausgesprochene Tagesbefehl.<br />

Den militärischen Tagesbefehl kennen wir<br />

noch nicht. Diesen werden unsere Vorgesetzten der<br />

Kampfgruppe nachreichen. Inzwischen durchstöbern<br />

wir Zwei die Umgebung. Wir rennen ziellos<br />

umher und landen auf einem Fabrikgelände. Hier<br />

treffen wir auf eine Menschentraube, die dichtgedrängt<br />

an der Rampe steht. Uns zwei nimmt keiner<br />

der wartenden Menschen zur Kenntnis. Über einen<br />

abseits liegenden zweiten Eingang betreten wir einen<br />

Lagerraum. Aus einem Stapel von Kartons<br />

nimmt jeder von uns nur zwei Dosen heraus. Damit<br />

verschwinden wir und finden uns auf unserem Hof<br />

wieder. Ich schaffe es, trotz aller Schwierigkeiten,<br />

eine der Dosen zu öffnen. Der kräftige Geruch von<br />

gekochtem Fleisch, der aus der handwarmen Büch-


324<br />

se kommt, zwingt mich, ganz schnell einen großen<br />

Bissen von dem Fleisch zwischen die Zähne zu bekommen.<br />

Den nahrhaften Fleischsaft verschmähe<br />

ich aus Unwissenheit. Vom Hunger gepeinigt, mit<br />

zittrigen Händen, versuche ich das Fleisch aus der<br />

Büchse zu zerren. Mit der linken Hand die Büchse<br />

am unteren Ende umfassen und mit der Gabel in<br />

der rechten Hand das Fleisch stückweise herausziehen,<br />

das ist alles eine Sache von Augenblicken.<br />

Der Fleischsaft quillt, von der Handwärme verdünnt,<br />

über den Dosenrand. Er verteilt sich in der linken<br />

Hand und landet am Ende zwischen meinen Füßen<br />

auf dem Erdboden. Unkontrolliert, wacklig vor lauter<br />

Magenknurren, würge ich dieses trockene Fleisch<br />

Bissen für Bissen in mich hinein. Mein Kumpel<br />

macht die gleichen Anstrengungen. Da sitzen wir<br />

beiden, schlagen uns voll und haben keinen Blick in<br />

die Richtung der anderen Kameraden haben. Nach<br />

spätestens dem dritten Biss fangen meine Kaumuskeln<br />

an zu schmerzen. Beim RAD hat man uns<br />

„Schlingen der Nahrung“ erfolgreich beigebracht.<br />

Das habe ich nicht verlernt. Der Schluckauf verlangt<br />

jetzt nach Wasser. Der muss warten. Etwas Trinkbares<br />

suche ich in Gedanken. Der Durst verstärkt<br />

sich. Am Gebäude Hofseite ist kein Wasserhahn.<br />

Gebäude betreten grundsätzlich verboten. Irgendwann<br />

werde ich den Schluckauf verlieren. Das<br />

Würgen der Nahrung macht mir Schmerzen in der<br />

Brust. Der Rest und die andere ungeöffnete Büchse<br />

bleiben liegen. Ich muss laufen, ich muss fort von<br />

hier. Um dann gleich wieder zurück zu kommen.<br />

Mein Kumpel und ich sind innerlich unruhig und so<br />

entscheiden wir, Havelberg zu besichtigen. Wir<br />

Zwei sind wieder unterwegs. Vom Fleisch aus den


325<br />

Büchse gestärkt laufen wir mit vollem Schwung<br />

über die Havelbrücke in die Stadt. An beiden Seiten<br />

sind Kisten mit Sprengstoff auf den Fußwegen gestapelt.<br />

Wie erkennbar, bereiten Pioniere die<br />

Straßenbrücke für eine Sprengung vor. Ähnlich<br />

streunender Hunde jagen wir ziellos weiter durch<br />

die Stadt. Wir funktionieren, von Rastlosigkeit getrieben,<br />

völlig mechanisch. Ich empfinde, dass der<br />

Raum und damit unsere Bewegungsfreiheit in der<br />

Stadt immer kleiner wird. In der Falle sind wir bereits,<br />

nur erkennen wir sie noch nicht. Über eine<br />

zweite Brücke erreichen wir eine Steintreppe. Diese<br />

hasten wir, zwei Stufen auf einmal nehmend, empor.<br />

Oben hängen wir uns sogleich über die Brüstung<br />

und sehen auf den Ort und die Kirche. An der<br />

Kirche haben wir nach unserer Ankunft auf unseren<br />

Feldwebel gewartet. Unsere leeren Augen haben<br />

die Fachwerk- und Ziegelbauten mit den roten Ziegeldächern<br />

gar nicht bewusst zur Kenntnis genommen.<br />

Hier oben suchen wir nichts. Nur unsere nicht<br />

zu erklärende Unruhe hat uns hierher getrieben.<br />

Der auf dieser Anhöhe stehende wuchtige Kirchenbau<br />

aus Feld- und Ziegelsteinen nimmt mich nur für<br />

einen Augenblick gefangen. Der Bau ist größer, als<br />

der, der Kirche in der Stadt. Ist das vielleicht ein<br />

DOM? Die Ruhelosigkeit treibt uns weiter. Wir haben<br />

keine Zeit. Wir springen die Steinstufen wieder<br />

hinunter, rennen zu unseren Kameraden zurück.<br />

Auf dem Rückweg spüre ich etwas. Eine innere<br />

Stimme sagt mir: „Es gibt keinen Ausweg mehr für<br />

dich aus dieser Lage. Du nicht allein, alle sind jetzt<br />

in der Falle“. Vielleicht werden auch die anderen die<br />

Falle, in der wir stecken, in den nächsten Stunde<br />

erkennen. Wir stehen vor dem letzten Hindernis, wir


326<br />

sind eingekeilt von Havel und Elbe. Über die Havel<br />

können wir noch. Aber wo werden wir auf die angekündigten<br />

sowjetischen Panzer treffen? Die sind<br />

sicher an ihrem Ziel bei Wittenberge angekommen.<br />

Unser Weg kann nur noch die Flucht über die Elbe<br />

sein. Wie kommen wir darüber? Gibt es vielleicht<br />

eine Brücke? Ich war noch nicht an der Elbe. Gestern,<br />

am 1.Mai 1945, daran erinnere ich mich. Da<br />

hat man uns Vier, als wir angekommen sind<br />

zwangsweise in die Kampfgruppe gesteckt. Ich<br />

denke: nur nach außen soll es eine geschlossene<br />

Einheit sein. Es ist aber nur ein Haufen ohne ordentliche<br />

Gliederung. Wie man heute Morgen, am<br />

2.Mai 1945 zu erkennen ist, soll sicherlich der Haufen<br />

von Soldaten, die aus unterschiedlichen Truppenteilen<br />

kommen, nur in einer Kampfgruppe gesammelt<br />

werden. Von uns soll sich niemand absetzen.<br />

Hat der zuständige Kommandant von Havelberg<br />

deshalb den Begriff Kampfgruppe gewählt?<br />

Am letzten Abend und über Nacht waren noch weitere<br />

Soldaten eingetroffen. Von den Massen an<br />

Nachzüglern erfahre ich erst heute. Die konnten<br />

doch heute keine weitere Kampfgruppe bilden. Jeder<br />

Soldat, der sich hier eingefunden hat, ob an unsere<br />

Kampfgruppe gebunden oder zu den vielen<br />

Nachzüglern gehört, ist auf der Flucht. Nach den<br />

Erkenntnissen der letzten Nacht und des heutigen<br />

Morgens kann man nur noch von der gewaltigen<br />

Ansammlung „verlorener“ Menschen sprechen. Von<br />

Menschen, die nicht in die sowjetische Kriegsgefangenschaft<br />

wollen, und die nur noch auf ein baldiges<br />

Ende des Krieges hoffen. Und hier setzen sich<br />

meine Empfindungen in die Erkenntnis um, jeder ist<br />

heute, an diesem Ort, für sich allein. Gemeinsam


327<br />

sind wir verloren. Wir erkennen es nur noch nicht.<br />

Ich denke, für die Kampfgruppe wird es spätestens<br />

morgen, am 03. Mai 1945, kein Überleben mehr<br />

geben. Ich mache mir darüber keine Gedanken.<br />

Wir werden keinen weiteren Tag in Freiheit erleben.<br />

Und hier, in oder vor Havelberg werden wir nicht<br />

über Nacht bleiben können. Diese ‚Kampfgruppe’<br />

sucht keine ‚Unterkunft’, und eine Versorgung der<br />

Soldaten ist nicht vorgesehen. Das habe ich längst<br />

verstanden. Und so erkenne ich, der ‚Verein<br />

Kampfgruppe’ befindet sich in Auflösung. Was ist<br />

aus den anderen Truppenteilen geworden, die hier<br />

in und durch den Ort gezogen sind? - - - - Übrigens,<br />

wo wollen die noch hinziehen? Jeder Gedanke ist<br />

völlig ziellos. Ich kann mit keiner Menschenseele<br />

sprechen. Ruhelos ziehen die Gedanken weiter. Sie<br />

suchen den Punkt, wo es für mich zu lebenswichtigen<br />

Entscheidungen kommen muss. Gedanken<br />

machen, das ist nur den Vorgesetzten vorbehalten.<br />

Nachdem sie nicht mehr anwesend sind, werde ich<br />

nun für mich entscheiden. Den führenden Militärs<br />

geht der „Arsch auf Grundeis“, durchschaue ich. Ich<br />

spüre einen sich ständig verstärkenden physischen<br />

Druck, den die näher kommenden sowjetischen<br />

Truppen auf mich machen. Im Augenblick herrscht<br />

noch Ruhe. Wie lange noch? Diesen Druck auf uns<br />

werden sie weiter erhöhen. Das Unheil nähert sich<br />

der Stadt Havelberg. Es ist der 2. Mai 1945. Auf der<br />

Straße eilen junge Männer in SS-Tarnuniformen an<br />

mir vorbei. Jeder von ihnen schleppt vier Panzerfäuste<br />

auf seinen jugendlichen Schultern. Mit hochroten<br />

Köpfen hetzen sie vor Angst, nicht rechtzeitig<br />

an ihr Ziel zu kommen. Sie laufen um ihr Leben. Sie<br />

wollen sicher noch vor den Sowjets an einer be-


328<br />

stimmten Stelle eintreffen, wo sie ihren Feind mit<br />

ihren Panzerfäusten empfangen können. Die Burschen<br />

haben noch nicht einmal ordentliche Stiefel<br />

an den Füßen. Ihre innere Unruhe ist die gleiche,<br />

wie wir Zwei sie vor zwei Stunden bei der abgehetzten<br />

Lauferei durch Havelberg erlebt haben. Der Befehl<br />

ihrer Vorgesetzten an die großen Jungen lautet:<br />

‚Den persönlichen Einsatz bringen und kämpfen für<br />

den Führer, für das Vaterland, bis zum letzten Blutstropfen,<br />

bis zum Endsieg weiter kämpfen’. Der<br />

kompromisslose Wettlauf zwingt sie, gleich Selbstmördern,<br />

in ihren sicheren Untergang. Sie werden<br />

ihren Endsieg bekommen. Die jungen Männer sind,<br />

wenn es hoch kommt, fünfzehn Jahre alt. Sie kann<br />

jetzt niemand mehr aufhalten. Die allgemein herrschende<br />

innere Überreizung und Unruhe dringt in<br />

die bedrängten Soldaten ein. Von den anstürmenden<br />

sowjetischen Truppen, von der Havel und der<br />

Elbe. Ich vergleiche unsere Situation mit einem<br />

Raubtierkäfig. Auf dem Hof spricht mich ein älterer<br />

Gefreiter in Offiziersuniform an. „Kamerad, ich habe<br />

die Möglichkeit, mit einem Boot auf die andere Seite<br />

der Elbe zu fahren. - - Kann ich das tun? - - - dann<br />

fügt er gleichzeitig noch hinzu „dieses bedeutet<br />

doch, - - - ich setze mich unerlaubt von der Truppe<br />

ab“. Ich sehe den Mann an. Ich höre wohl nicht richtig.<br />

- - - Klick! macht es bei mir. Es hat bei mir bis<br />

hierher schon häufiger Klick gemacht. So eine verfängliche<br />

Frage. „Tut mir leid, ich kenne mich hier<br />

nicht aus“. Mit seiner Frage hat er mich wohl irritieren<br />

wollen. Ich weiß doch, Havelberg liegt an der<br />

Havel und nicht an der Elbe. Zu diesem Zeitpunkt<br />

ist mir nicht bekannt, dass man über eine Havel-<br />

Schleuse auf kurzem Wege an die Elbe kommen


329<br />

kann. Die undurchsichtige Lage und der Druck der<br />

Sowjets, nehmen durch ihre Vorwärtsbewegung<br />

ständig zu. Die Sowjets wollen so schnell wie nur<br />

möglich, mit ihrer Sturmspitze die Elbe erreichen.<br />

Sie wollen uns überwältigen und vernichten. Ihre<br />

Absicht spüre ich physisch immer stärker. So real<br />

wie die aufgepflanzten Seitengewehre in Genthin<br />

vor und im Rathaus waren. Gegen die Sowjets können<br />

wir nicht mehr kämpfen. Womit denn? Die Sowjets<br />

haben uns bereits überrannt. So selbstverständlich<br />

wie alle Soldaten, will auch ich aus dieser<br />

lebensbedrohenden Schwierigkeit herauskommen.<br />

Wie das gehen kann und ob es gelingen wird, ich<br />

habe keine Ahnung. Jede Minute wird Möglichkeiten<br />

anbieten und mehrere Hinweise oder Antworten<br />

aufzeigen. „Abwarten und Tee trinken“. „Die Nase in<br />

den Wind halten und die richtige Witterung herausfiltern“.<br />

Alles leichter gesagt als getan. Ich gebe es<br />

zu, es ist alles nur ein dummes Gerede. Dem eigenen<br />

Instinkt folgen. Es gibt aus meiner Sicht nur<br />

noch den Weg bis zur Elbe vor mir. Der Hauptfeldwebel<br />

der Kampfgruppe geht mit einem älteren Offizier<br />

auf dem Hof auf und ab. Von ihrem Gespräch<br />

kann ich trotz größter Anstrengung nichts erfahren.<br />

Inzwischen wandelt sich mit jedem Schritt, draußen<br />

auf der Straße das Bild und die militärische Lage.<br />

Auch haben sich Soldaten unserer Kampfgruppe<br />

langsam, nach und nach abgesetzt. Sie verschwinden,<br />

wie man sagt, in den Büschen. Und da müssen<br />

sie doch wieder herauskommen. Während des allgemeinen,<br />

nicht offenen Aufbruchs nehme ich an,<br />

dass die Soldaten sich in Richtung Elbe absetzen.<br />

Nun stelle ich fest, dass die Aufpasser die „Kettenhunde*“<br />

sich abgesetzt haben. Die für die militäri-


330<br />

sche Ordnung eingesetzten „Großmäuler“ haben<br />

ihre glänzenden „Umhängeschilder*“ hinter einer<br />

der nächsten Hausecken abgelegt. Ihre Erkennungszeichen<br />

sind sehr schnell abgetrennt. Fein<br />

haben sie das gemacht. Sie sind jetzt nur noch Soldaten<br />

des Heeres. So schnell kann man sich verwandeln.<br />

Und keiner merkt etwas davon. Für sie ist<br />

der Krieg vorbei und zu Ende. Rette sich, wer kann!<br />

Bis vor wenigen Minuten haben sie noch an den<br />

sich absetzenden Kameraden mit ihren Geschützen<br />

und den Langrohren der Artillerie herumkommandiert<br />

oder die Kameraden je nach Lust und Laune<br />

kujoniert. Wo ist denn mein letzter Kumpel? Wo ist<br />

der abgeblieben? Der hat sich seitlich auch in die<br />

Büsche verdrückt, ohne sich von mir zu verabschieden.<br />

Wo sind denn nun die beiden Diagonalläufer,<br />

der Offizier und der Spieß? Dieses ständige Laufen,<br />

war nur Tarnung, stelle ich erbost fest. Ich habe<br />

doch nicht geträumt, ich habe die beiden doch gerade<br />

noch gesehen. Ihren Aufbruch habe ich nicht<br />

bemerkt. Jetzt spüre ich, da sie weg sind, wie sich<br />

die Frage: Soll ich noch warten? Soll ich jetzt abhauen?<br />

Finde ich noch jemanden? Vielleicht meinen<br />

letzten Kumpel? Willst du dich nicht auch absetzen?<br />

in mir materialisiert. Ach ja, aber da steckt<br />

mir noch Genthin in den Knochen. Mache ich mich<br />

jetzt zum Freiwild? Marschpapiere habe ich doch<br />

nicht, was dann? - - - Ich setze mich jetzt ab. Damit<br />

sind all die offenen Fragen endgültig beantwortet.<br />

Am Ende unserer Militärzeit haben wir uns, ohne<br />

ein Wort, voneinander und für immer verabschiedet.<br />

An die vielbeschworene Kameradschaft habe ich<br />

während des langsam verlaufenden allgemeinen<br />

Aufbruchs nicht gedacht. Militärpolizei. Mir ist die


331<br />

militärische Bezeichnung dieser Schilder nicht in<br />

Erinnerung. Von der Kampfgruppe habe nichts<br />

mehr gehört. Noch nicht einmal den Namen der<br />

„Kampfgruppe“ habe ich mir merken können. Den<br />

habe ich irgendwo zwischen Havelberg und der Elbe<br />

verloren. Nach dem Namen der Kampfgruppe<br />

habe ich zwischendurch immer wieder gesucht. Ich<br />

denke die Kampfgruppe hatte den Namen „Friedberg“<br />

Von der Stiefellieferung ist am Ende auch<br />

nichts übrig geblieben. Paarweise haben sie ihre<br />

passenden Füße gefunden. Die abgenutzten, aufgerissenen<br />

und schiefgelaufenen, teils von ihren<br />

Nägeln befreiten Stiefel, paarweise und einzeln,<br />

liegen auf einem Haufen in einer Ecke. Auch meine<br />

alten liegen dazwischen. Die Waffen, mit denen wir<br />

gestern noch ausgestattet worden sind, liegen da<br />

als Schrott. Ich haue ab. Innerlich bin ich nicht ganz<br />

gefestigt. Ich laufe, mitgerissen von den vielen Soldaten.<br />

Gemeinsam, schweigend geht es in Richtung<br />

Elbe. Ich fühle mich wie ein Anhängsel, wie ein verlassener<br />

Hund. Die Straße zur Elbe führt eine ganze<br />

Strecke geradeaus durch einen lichten Wald.<br />

Linker Hand sind verlassene Schützengräben.<br />

Stahlhelme und Gewehre liegen, in Reihen wie unter<br />

Aufsicht geordnet, nebeneinander. Die langen<br />

Rohre, die vor Stunden an uns vorbeigerollt sind,<br />

liegen abgelegt, rechts neben der Straße im Dreck.<br />

Ich marschiere zwischen der riesigen Menschenansammlung<br />

abgekämpfter Soldaten. Sie, die bewaffnet<br />

sind, werfen jetzt nacheinander ihre bis hierher<br />

getragenen Gewehre, Pistolen und sonstiges<br />

Kriegsgerät auf einzelne Haufen. Hier sehe ich den<br />

ersten amerikanischen Soldaten, der ganz allein auf<br />

sich gestellt irgendwelche Anweisungen mit seinen


332<br />

Händen gibt. Ein deutscher Offizier kommt in seinem<br />

Kübelwagen, aufrecht neben seinem Fahrer<br />

stehend, angerollt. Der Wagen bleibt etwa zehn Meter<br />

vor dem Amerikaner stehen. Der Offizier salutiert<br />

mit der rechten Hand an seinem Stahlhelm* und<br />

meldet seine Einheit in der Gefangenschaft an. „Ich<br />

melde die - - Einheit - - in die Gefangenschaft“. Ich<br />

habe seine laute, arrogant schnarren de Stimme<br />

gehört. Er bildete wohl mit seinem Fahrer, der<br />

gleichzeitig sein Bursche ist, die Vorhut. Will der<br />

Offizier nun darauf aufmerksam machen, dass er<br />

auf dem anderen Ufer eine für ihn angemessene<br />

Übernachtungsmöglichkeit benötigt. Möglichst ein<br />

Hotel oder auch ein amerikanisches Offizierskasino.<br />

Was für ein eingebildetes Arschloch ist dieser Überläufer.<br />

Das ist kein Frontoffizier, der ist sicher nur<br />

für den Innendienst und das Offizierskasino tauglich.<br />

Der sitzt mitten im Dreck und spielt sich auf, als<br />

sei er ein Fürst. Der amerikanische Soldat winkt ab.<br />

Ohne den Gruß zu erwidern, ruft er in die Richtung,<br />

wo der Offizier in seinem Wagen immer noch steht:<br />

„Raus da, verlass deinen Wagen“ oder so ähnlich.<br />

Mit seinem Ausruf, mit lauter Stimme hervorgebracht,<br />

unterstreicht er seine unmissverständliche<br />

Geste. Der Fahrer stellt den Motor ab, lässt den<br />

Zündschlüssel stecken und steigt aus. Er folgt seinem<br />

Offizier in die Gefangenschaft. So einfach kann<br />

es sein. Die sind noch nicht einmal dabei ins<br />

Schwitzen gekommen. Ich fühle mich, nachdem ich<br />

diese Anmeldung in die Gefangenschaft erlebt habe,<br />

etwas sicherer. Mein Überlebenswille ist jetzt<br />

stärker als je zuvor. Von weitem erkenne ich den<br />

Strom durch das frische Grün an den Bäumen. Es<br />

sind vielleicht noch tausend Meter bis zur Elbe.


333<br />

Zwischen den Soldaten sind auch flüchtende Zivilisten.<br />

Inmitten der Kolonnen erreiche ich den breiten<br />

Elbstrom. Anfangs funktionierten die Feldgrauen<br />

sogar noch im Gleichschritt. Dann marschieren sie<br />

wieder „ohne Tritt“. Ich erreiche einen Zustand, wo<br />

ich die mit mir marschierenden grauen Gestalten<br />

nicht mehr als einzelne erkenne. Sie verlieren ihre<br />

Gesichter. Ihre Gestalten sind graue Objekte.<br />

Marschtritte nehme ich nicht mehr wahr. Westlich<br />

von Havelberg wird die größere Anzahl der von der<br />

Elbe festgehaltenen Soldaten in sowjetische<br />

Kriegsgefangenschaft gehen. Und hier wird eine<br />

unbekannte Anzahl von Soldaten ertrinken. Hier ist<br />

keine Brücke. Eine Fähre gibt es nicht. Viele der<br />

Männer, die nach den Strapazen des Krieges und<br />

der letzten Tage endlich hier die Elbe erreicht haben,<br />

waren an dieser Stelle in ihren Tod gegangen.<br />

Ich habe es mit verschwommen Augen gesehen,<br />

wie Soldaten, in voller Uniform, einschließlich ihrer<br />

Stiefel oder Knobelbecher in den Fluss gestiegen<br />

waren. Wie einige mit leeren Benzinkanistern, aufgepumpten<br />

Schläuchen aus Autoreifen oder mit<br />

anderen ungeeigneten Mitteln versucht haben, auf<br />

die andere Seite der Elbe zu kommen. Die gewaltige<br />

Angst vor der sowjetischen Kriegsgefangenschaft<br />

hat sie regelrecht ins Wasser getrieben. Viele<br />

Kameraden haben den Weg durch das Wasser<br />

nicht geschafft, sie sind vielleicht nach dem ersten<br />

Schritt umkehrt oder sie sind untergegangen. Meine<br />

Konzentration beschränkt sich nur auf meine Existenz.<br />

Nun liegt der breite Strom vor mir. In mir hat<br />

sich alles entschieden. Die Frage, wie ich durch den<br />

Fluss kommen werde, stellt sich mir nicht. Ohne<br />

seelischen Schaden zu nehmen, könnte ich aus


334<br />

dieser Anspannung nicht mehr zurück. Ich erlebe es<br />

deutlich, ich bin jetzt mein eigener Gefangener.<br />

Mein Soldbuch zerreißen, es schnell ins Wasser der<br />

Elbe ablegen, dann die „Hundemarke“ abnehmen,<br />

sie zerbrechen und beide Teile in der Nähe des<br />

Ufers in die Elbe werfen. Mit dem Durchbrechen der<br />

Erkennungsmarke gelte ich nicht mehr als ein lebender<br />

Soldat. Dass ich mich, theoretisch, organisatorisch<br />

gesehen, bereits selbst umgebracht habe,<br />

erkenne ich nicht. Meine Dreiecksplane nimmt meinen<br />

irdischen Besitz auf. Das sind: Meine Uniformhose,<br />

meinen Luftwaffenpullover, meine Brieftasche<br />

Meine neuen Stiefel und mein Fallschirmkappmesser.<br />

Meine Armbanduhr wickle ich mein Taschentuch<br />

und in meine Fußlappen. Zuerst habe ich mich<br />

umgebracht, dann habe ich mich so verhalten, wie<br />

jemand, der auf die Reise geht. Ich habe alles in<br />

meine Dreieckszeltplane gepackt. Die Straße zur<br />

Elbe hin, so ist es an der Pflasterung zu erkennen,<br />

mündet direkt im Fluss. Der breite Strom führt kein<br />

Hochwasser. Gott sei Dank. Er fließt zu dieser Jahreszeit<br />

außergewöhnlich ruhig und ganz lautlos dahin.<br />

In der Unterwäsche, diese stammt noch von der<br />

Entlausung vom März, schwimme ich durch die Elbe.<br />

Vor Angst spüre ich das Wasser nicht, ich spüre<br />

nur einen gewaltigen Zwang in mir, vor allem wegen<br />

der Möglichkeit und dem Risiko, den sowjetischen<br />

Truppen in die Hände zu fallen. „Nur das nicht!“ Der<br />

Gedanke an die Sowjets gibt mir die Kraft, ins Wasser<br />

zu gehen. Nur hinüberkommen und herauskommen<br />

ist wichtig. Mit der Hilfe des Schöpfers<br />

komme ich schwimmend an das rettende Ufer. Die<br />

Wassertemperatur und die Fließgeschwindigkeit<br />

haben für mich keine Bedeutung. Der große Strom


335<br />

fließt, dabei unregelmäßig aufquellende Kreise und<br />

leicht glucksende Strudel hinterlassend, friedfertig<br />

dahin. Mir mache ich keine Gedanken was ich tun<br />

muss oder kann, wenn ich eine Berührung mit einem<br />

Ertrunkenen habe. Auch keinen Gedanken,<br />

wenn mich ein noch nicht Ertrunkener als Rettungsflohs<br />

benutzt und mich unter Wasser zieht. Selbst<br />

bei einer Berührung mit anderen, schwimmfähigen<br />

Gegenständen kann ich doch noch absaufen. Weit<br />

abgetrieben, gelange ich dann an eine der Buhnen,<br />

die mir Halt bietet und an der ich mit allerletzter<br />

Kraft an Land komme. Der große Elbstrom lässt<br />

sich nicht von dem Geschehen im Geringsten beeindrucken.<br />

Ich flüchtete am 2. Mai 1945, zwischen<br />

15 und 17, °° Uhr, in die amerikanische<br />

Kriegsgefangenschaft!<br />

Warum ich an der Elbe mein Soldbuch zerrissen,<br />

meine Erkennungsmarke durchgebrochen habe,<br />

kann ich mir selbst nicht beantworten. Meine letzte<br />

Ruhe hätte ich mit den anderen „Unbekannten Soldaten“,<br />

auf dem Friedhofsteil für die gefallenen Soldaten<br />

in Havelberg gefunden. Nach meiner gelungenen<br />

Heimkehr aus dem Kriege habe ich mir später<br />

Gedanken gemacht, warum ich eine tiefe Verbundenheit<br />

zu dem Ort Havelberg entwickelt habe.<br />

Ich war weniger als 24 Stunden dort. An Bewohner<br />

der Stadt Havelberg habe ich keinerlei Erinnerung.<br />

Ich nehme an, dass sie sich vor den vielen Soldaten<br />

versteckt gehalten haben. Möglich ist auch, dass sie<br />

in den Wäldern Schutz gesucht haben, bis der Krieg<br />

vorüber war. Nur an die gesichtslosen Zivilisten erinnere<br />

ich mich, die auf dem Fabrikgelände an einer


336<br />

Rampe waren, wo sie nach Nahrungsmitteln anstanden.<br />

Jahre später fand ich eine Erklärung für<br />

meine Verbundenheit.<br />

Der Ansturm der sowjetischen Truppen in Richtung<br />

Elbe, auf Havelberg, verkleinerte schrittweise den<br />

noch verbleibenden Freiraum. Zur gleichen Zeit<br />

vergrößerte sich schrittweise die Lebensgefahr. Die<br />

wachsende Angst im Nacken, noch in den letzten<br />

Kriegsstunden Leib und Leben zu verlieren, wurde<br />

von Stunde zu Stunde stärker. Die Stadt Havelberg<br />

brachte mir letztlich meine Freiheit. An diesem Ort<br />

fand ich, allein auf mich gestellt, den richtigen Weg.<br />

Als eine einzelne Person, habe ich im Gelände für<br />

einen einzigen, gezielten Schuss ein gutes Ziel abgegeben.<br />

In Havelberg fand ich dennoch Schutz.<br />

Ich war ein guter Schwimmer. In der Oberschule<br />

habe ich als Sextaner eine Urkunde für die beste<br />

Zeit für 50 m Brustschwimmen erhalten. Ich habe<br />

den Grundschein beim DLRG als Rettungsschwimmer<br />

gemacht. 1943 habe ich mich für den Leistungsschein<br />

gemeldet. Die Prüfung fiel aus, weil<br />

der Prüfer an die Front musste. Wegen der Konzentration<br />

auf das durchschwimmen der Elbe habe ich<br />

zusätzlich Kraft benötigt, um meine Dreieckszeltplane<br />

mit dem Inhalt zu retten. Von einem Gebet<br />

kann ich daher nicht sprechen. Jedenfalls kann ich<br />

mich nicht erinnern.

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