Alltagsflüche
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Data » Ethnologie und Gruppen » Glaube und Rituale » Arman<br />
Arman<br />
Mozes F. Heinschink / Michael Teichmann<br />
Arman (pl. armaja) geht entweder auf den altindischen Begriff arma (Abfall, Ruinen) oder den<br />
persischen Begriff arman (Wunsch) zurück und bedeutet Fluch oder Lästerung. Als so genanntes<br />
"Erbwort" kommt arman in den meisten Romani-Varianten vor. Grundsätzlich wird zwischen zumeist<br />
harmlosen <strong>Alltagsflüche</strong>n und Verwünschungen unterschieden. Ähnlich wie bei → solax (Schwur)<br />
wird den <strong>Alltagsflüche</strong>n keine übersinnliche Bedeutung beigemessen. Sie drücken vor allem<br />
Redegewandtheit und Humor ihres Sprechers aus. Als wirkungslos werden auch gegen → Gadže<br />
gerichtete Flüche eingestuft. Wie der bei Lovara aufgewachsene Jan Yoors ausführt, dienen sie lediglich<br />
dazu, die Betreffenden zu erschrecken. Ihre Wirkung gründet sich ausschließlich auf die Tatsache,<br />
dass Nicht-Roma daran glauben.<br />
Im Gegensatz zum Schwur – solax –, der sich immer auf den Sprecher selbst bezieht, richten sich<br />
Flüche und Verwünschungen grundsätzlich gegen andere. Charakteristische Elemente sind Anspielungen<br />
auf die gruppeninternen Traditionen, eine bildhafte Sprache und eine äußerst freizügige Wortwahl.<br />
Deftige Ausdrücke sind kennzeichnend für alle Romani-Dialekte, die sich gerade in dieser Hinsicht<br />
oft stark von den Sprachen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Diese Freizügigkeit<br />
ist umso verblüffender, wenn man sich den strengen Moralkodex traditioneller Roma-Gemeinschaften<br />
vor Augen führt. Am deutlichsten wird der Gegensatz zwischen sprachlicher Offenheit und tabuisierter<br />
Realität am Beispiel der Sexualität. Gebräuchliche Wendungen wie " Kures mura da! " ("Auf dass du<br />
mit meiner Mutter schläfst!" / Lovara-Romani) sind in den Augen der Roma reine Bekräftigungsformeln<br />
und beinhalten keine unmoralische Konnotation. Für Nicht-Roma in westlichen Industriegesellschaften<br />
erscheinen sie hingegen ausschließlich vulgär und sind tabuisiert. Auffallend ist, dass die sprachliche<br />
Offenheit in traditionellen Roma-Gemeinschaften dann verschwindet, wenn sich der strenge Moralkodex<br />
auflöst.<br />
<strong>Alltagsflüche</strong><br />
Der Metaphern-Reichtum des Romani kommt in den <strong>Alltagsflüche</strong>n der Kalderaš sehr anschaulich<br />
zum Ausdruck:<br />
Te del o beng ande tute!<br />
"Der Teufel soll in dich fahren!"<br />
Te kořarel tu kako manřo!<br />
"Dieses Brot soll dich blenden!"<br />
Te śorđol ći gođi po drom, te ćidav la ando dikhlořo!<br />
"Verspritzen soll dein Hirn, und ich sammle es in meinem Taschentuch!"<br />
Te ćernol ćo mas pa tu!<br />
"Das Fleisch soll von dir runterfaulen!"<br />
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Te xal tu phuv!<br />
"Die Erde soll dich verschlingen!"<br />
Marel ći bax o khul!<br />
"Scheiße soll dein Glück erschlagen!"<br />
Xas me mulenge kokala!<br />
"Du sollst die Knochen meiner Toten essen!"<br />
Weitere, von Rade Uhlik aufgezeichnete Beispiele für <strong>Alltagsflüche</strong> wären:<br />
Marel tu o Del!<br />
"Gott soll dich strafen!"<br />
Ne xal o beng leski bax!<br />
"Der Teufel soll sein Glück fressen!"<br />
Xan tu e ruv!<br />
"Die Wölfe sollen dich fressen!"<br />
Es gibt zudem eine Reihe von Flüchen, die auf gruppeninterne Traditionen verweisen. Sie sind jedoch<br />
ohne Kenntnis derselben nicht verständlich. Der 1956 in Jugoslawien geborene Rom Trifun Dimić<br />
zeichnete viele Beispiele für diese Fluch- und Verwünschungsvariante auf und veröffentlichte sie in<br />
einer kommentierten Ausgabe.<br />
Mek del o Del, te djilabes sargo čirikljori!<br />
"Gebe Gott, dass du wie ein Vogel singst!" (Anm.: Mulikani čiriklji wurde in der Gruppe Trifun<br />
Dimićs der "Todesvogel" genannt.)<br />
Te del o Del, džućhela te ćeren o abjav katar će kokala!<br />
"Gebe Gott, dass die Hunde aus deinen Knochen ein Festmahl veranstalten!" (Anm.: bezieht sich<br />
auf das Romani-Sprichwort: "Einen Hund sucht man unter Hunden, einen Menschen unter<br />
Menschen.")<br />
Rituelle Verwünschungen<br />
Anders verhält es sich mit den rituellen Verwünschungen, die zu besonderen Anlässen und unter<br />
Voraussetzung einer finanziellen oder emotionellen Abhängigkeit ausgesprochen werden. Sie sind<br />
Ausdruck eines magischen Denkens, das Leben und Weltbild bestimmt. Der Glaube an die Wirksamkeit<br />
dieser Verwünschungen ist in den meisten traditionell lebenden Roma-Gruppen außerordentlich stark<br />
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ausgeprägt. Er beruht auf der Annahme, dass Verwünschungen den Adressaten → rituell verunreinigen<br />
und ihm somit Unglück bringen. Die Sepečides nennen diesen Zustand armandino (verflucht, "unter<br />
Bann"). Je enger die Beziehung der Betroffenen ist, umso stärker wird die Wirkung der Flüche<br />
eingeschätzt.<br />
Amraja sî phare kata kuko, kaj lja tutar sama, vaj avela Řom vaj avela gaźo, vaj kaj najardja tu<br />
vaj pravardja tu! Te dela tu amraja naj mišto. Katar daras proklecil tu svako zaloga kaj dja tu!<br />
(Kalderaš-Romani)<br />
"Verwünschungen wiegen durch jenen besonders schwer, der auf dich aufgepasst, dich erzogen<br />
hat, egal ob Rom oder Gadžo, ob er dich gebadet oder ernährt hat. Wenn er dich verwünscht, ist<br />
es nicht gut. Wenn du dich fürchtest, wird dir jeder kleine Bissen zum Verhängnis, den er dir<br />
gegeben hat." (Kalderaš-Romani)<br />
Eine wesentliche Funktion der rituellen Verwünschungen liegt darin, soziale Kontrolle auszuüben.<br />
Die dadurch entstehenden Abhängigkeitsverhältnisse werden in → kris -Sitzungen auch zur<br />
Wahrheitsfindung und zur Gewährleistung einer übergeordneten Gerechtigkeit eingesetzt.<br />
Die österreichischen Kalderaš kennen allerdings ein Zeremoniell, das unter anderem Flüchen ihre<br />
Wirkung nimmt. Es handelt sich um den im April stattfindenden Versöhnungstag (Jertimos). [→ Bara<br />
]<br />
Quellen<br />
Heinschink, Mozes F. (2002) Unveröffentlichtes Interview mit Dragan Jevremović (Kalderaš).<br />
Wien.<br />
Heinschink, Mozes F. (2002) Unveröffentlichtes Interview mit Fatma Heinschink (Sepečides).<br />
Wien.<br />
Phonogrammarchiv, Österreichische Akademie der Wissenschaften: Sammlung Heinschink:<br />
RT 693 (Sepečides) .<br />
Literatur<br />
Dimić, Trifun (1979) Kana vavas ando foro / Dolazeci sa vasara. Antologija narodne poezije<br />
vojvodjanskih Roma, Novi Sad.<br />
Dimić, Trifun (1985) Romane, Romaja, sovlahimate thaj e bahtarimate. Narodne romske<br />
kletve, zakletve i blagoslovi (= Edicija "Strazilovo" 136), Novi Sad.<br />
Eder-Jordan, Beate (1993) Geboren bin ich vor Jahrtausenden. Bilderwelten in der Literatur<br />
der Roma und Sinti (= Dissertationen und Abhandlungen 32), Klagenfurt.<br />
Fennesz-Juhasz, Christiane / Halwachs, Dieter W. / Heinschink, Mozes F. (1996) Sprache und<br />
Musik der österreichischen Roma. GLS 46, pp. 61-110.<br />
Fonseca, Isabell (1996) Begrabt mich aufrecht. Auf den Spuren der Zigeuner, München.<br />
Heinschink, Mozes F. (2002) Zum Verhältnis zwischen Roma und Landlern. Eine<br />
Spurensicherung, in: Bottesch, Martin / Grieshofer, Franz / Schabus, Wilfried (eds.) Die<br />
siebenbürgischen Landler. Eine Spurensicherung, Wien, pp. 381-408.<br />
Oschlies, Wolf (1986) "Gebe Gott, daß sie Dich auf Messern tragen". Zigeuner-Flüche und<br />
-Segnungen aus Jugoslawien Gießener Hefte für Tsiganologie 1986/3, pp. 145-148.<br />
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http://romani.uni-graz.at/rombase
Data » Ethnologie und Gruppen » Glaube und Rituale » Arman<br />
Schindegger, Florian (1997) Lebensweise von Zigeunern in Wien am Beispiel der Festtradition<br />
der Kalderaš. Wien.<br />
Vossen, Rüdiger (1983) Zigeuner. Roma, Sinti, Gitanos, Gypsies zwischen Verfolgung und<br />
Romantisierung, Hamburg.<br />
Yoors, Jan (1982) Die Zigeuner. Frankfurt.<br />
Mozes F. Heinschink / Michael Teichmann<br />
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http://romani.uni-graz.at/rombase<br />
October 2002 / Graz / Wien, Austria