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Ernstes und Heiteres aus einer Landgemeinde - Hansbove.de

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<strong>Ernstes</strong> <strong>und</strong> <strong>Heiteres</strong><br />

<strong>aus</strong> <strong>einer</strong> <strong>Landgemein<strong>de</strong></strong><br />

Ein Elbmarschenhof um 1880 – 1890<br />

Erinnerungen von Emma Benöhr, verh. Lohmeyer ( * 1875 + 1950 )<br />

Nordseite <strong>de</strong>s Hofes Arnh<strong>aus</strong>en mit Haupteingang<br />

1


Inhaltsverzeichnis<br />

Komm mit zum R<strong>und</strong>gang durch H<strong>aus</strong> <strong>und</strong> Hof ..................................... 5<br />

Im Garten <strong>de</strong>r Duft von Goldlack <strong>und</strong> Reseda...................................... 10<br />

Sich geborgen fühlen in <strong>de</strong>r Großfamilie ................................................ 14<br />

Viel Spaß mit Onkel Otto <strong>und</strong> Tante Tine ............................................. 18<br />

Von <strong>de</strong>r Frühjahrsbestellung bis Weizenhahn ..................................... 21<br />

Das Backh<strong>aus</strong> <strong>und</strong> seine Freu<strong>de</strong>n ............................................................... 26<br />

Jubel um Ostern, Pfingsten, Weihnachten ............................................ 28<br />

Sommerliche Ausfahrten in die Umgebung ........................................... 31<br />

Das Wichtigste, Kin<strong>de</strong>r, ist die Schule! .................................................. 34<br />

abschließen<strong>de</strong>s Wort ........................................................................................................... 40<br />

Erläuterung einiger Ausdrücke .................................................................. 41<br />

2


ARHNHAUSEN<br />

Der Hof " Im Fel<strong>de</strong> " im Mittelteil Gro<strong>de</strong>n zwischen Gro<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Ritzebüttel gelegen,<br />

war um 1700 im Besitze eines gewissen Joachim Stange; <strong>de</strong>ssen Tochter <strong>und</strong> Erbin Anna<br />

Gissel Stange heiratete am 12. August 1721 Johann Wilhelm Littmann <strong>und</strong> so wur<strong>de</strong><br />

dieser Besitzer. Aber schon 1725 am 06. Dezember verkaufte Littmann <strong>de</strong>n Hof an Peter<br />

Martens, <strong>de</strong>r später ( 1756 ) Schultheiss zu Gro<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. Schultheiss Martens<br />

war Sohn <strong>de</strong>s Peter Martens, Bürgers in Ritzebüttel, <strong>und</strong> s<strong>einer</strong> Frau Rebecca, geb.<br />

Wilms, <strong>einer</strong> Nachkommin <strong>de</strong>s Johann Wilms in Döse, <strong>de</strong>r 1697 " zu Gottes Ehren <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>r Kirchen Döse zur Zier<strong>de</strong> " ein großes Epitaphium gestiftet hatte, gemalt von <strong>de</strong>m<br />

Maler Nicol<strong>aus</strong> Bernütz, das jetzt in <strong>de</strong>r Altenwal<strong>de</strong>r Kirche hängt. Schultheiss Martens<br />

war verheiratet mit Catharina, geb. Neuh<strong>aus</strong>, Tochter <strong>de</strong>s Peter Neuh<strong>aus</strong>, H<strong>aus</strong>manns<br />

in Oxste<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ren Mutter Margarete wie<strong>de</strong>r eine geborene Martens war. Des<br />

Schultheissen Martens älteste Tochter Rebecca, geb. am 30. März 1738, heiratete <strong>de</strong>n<br />

Apotheker zu Ritzebüttel Jacob Friedrich Voss.<br />

Schultheiss Peter Martens, ein im Lan<strong>de</strong> sehr angesehener Mann, trat vom Schultheissenamte<br />

im Juni 1760 zurück <strong>und</strong> bezog bis zu seinem To<strong>de</strong> um 1790 eine Wohnung bei<br />

<strong>de</strong>r Kirche in Gro<strong>de</strong>n, nach<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Hof seinem Sohne Cl<strong>aus</strong> Martens übergeben hatte.<br />

Dieser war eine Zeitlang Lan<strong>de</strong>seinnehmer gewesen. Er verkaufte später <strong>de</strong>n Hof "<br />

Im Fel<strong>de</strong> " an Georg Wilhelm Ayecke. Von <strong>de</strong>ssen Sohn Johann Hinrich Ayecke kaufte<br />

ihn 1826 Jacob Hinrich Benöhr.<br />

Dieser war bis zum Jahre 1827 hamburgischer Lotsenkapitän gewesen. Er war verheiratet<br />

mit Anna Margaretha Wichmann, <strong>einer</strong> Tochter <strong>de</strong>s Christian Wichmann, <strong>de</strong>r von<br />

1783 bis 1805 hamburgischer Blüsenmeister auf Neuwerk war. Nach Jacob Hinrich<br />

Benöhrs To<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> sein Sohn Christian Benöhr <strong>de</strong>r Besitzer <strong>de</strong>s Hofes, <strong>de</strong>m unter<br />

<strong>de</strong>m 12. Januar 1843 amtsseitig <strong>de</strong>r Name " ARNHAUSEN " erteilt wur<strong>de</strong>. Hans Christian<br />

Benöhr war seit Dezember 1827 verheiratet mit Catharina Rebecca Krohn. Der<br />

Ahnherr <strong>de</strong>r Familie Krohn ist <strong>de</strong>r Magister Johann Krohn, geb. in Hamburg 1630, seit<br />

1659 Diakonus, von 1679 bis 1711 Pastor in Gro<strong>de</strong>n. Aus s<strong>einer</strong> Ehe mit Maria von<br />

Spreckelsen, Tochter <strong>de</strong>s Hamburger Ratsherrn <strong>und</strong> Ritzebütteler Amtmanns ( 1677-<br />

1680 ) Hartwig von Spreckelsen J.U.Lt., blieb nur <strong>de</strong>r jüngste Sohn Hartwig Heinrich<br />

Krohn am Leben, <strong>de</strong>r Landmann wur<strong>de</strong> <strong>und</strong> sich mit <strong>de</strong>r Witwe Maria Elisabeth Ruge geb.<br />

Ragen <strong>aus</strong> Krummen<strong>de</strong>ich verheiratete. Auf ihn gehen die noch heute blühen<strong>de</strong>n Familien<br />

Krohn zurück.<br />

Auf Hans Christian Benöhr folgte als Besitzer von Arnh<strong>aus</strong>en sein Sohn Schultheiss Otto<br />

Andreas Benöhr, verheiratet mit Antonie geb. Reye, <strong>de</strong>ssen Bildnis von Maler Saffer<br />

die Vorhalle zum Sitzungssaale <strong>de</strong>s Cuxhavener Rath<strong>aus</strong>es schmückt. Von 1918 bis 1937<br />

war Hans Christian Benöhr <strong>de</strong>r Hofbesitzer von Arnh<strong>aus</strong>en, ihm folgte sein Sohn Otto<br />

3


Andreas <strong>de</strong>r 1943 fiel.<br />

Der Bauernhof von <strong>de</strong>m hier berichtet wer<strong>de</strong>n soll, trug nicht von Anfang an <strong>de</strong>n<br />

stolzen Namen "Arnh<strong>aus</strong>en". An<strong>de</strong>rthalb Jahrh<strong>und</strong>erte lang hieß er schlicht " Im<br />

Fel<strong>de</strong> ", belegen zwischen Gro<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Ritzebüttel. Er hatte mehrfach <strong>de</strong>n Besitzer<br />

gewechselt, bevor er im Jahre 1826 an Jacob Hinrich Benöhr kam. Dieser war ham-<br />

burgischer Lotsenkapitän in Cuxhaven gewesen <strong>und</strong> wünschte sich nun einen Ruhe-<br />

sitz mit Blick auf die Elbmündung <strong>und</strong> ihren Schiffsverkehr. Ehefrau Anna Marga-<br />

reta teilte diesen Wunsch. Sie war auf Neuwerk aufgewachsen, wo ihr Vater als<br />

hamburgischer Blüsenmeister für das Richtfeuer auf <strong>de</strong>r Insel verantwortlich war,<br />

bevor es dort einen Leuchtturm gab.<br />

Jacob Hinrich war <strong>de</strong>r Urgroßvater <strong>de</strong>s Mädchens Emma, <strong>de</strong>ren Erinnerungen die-<br />

sem Buch zugr<strong>und</strong>e liegen. Zur Zeit als sie Kind war, lebten die Benöhrs in vierter<br />

Generation auf <strong>de</strong>m Hof. Von Großvater Hans Christian hatte es noch geheißen, er<br />

habe für seine Kin<strong>de</strong>r einen H<strong>aus</strong>lehrer gehalten <strong>und</strong> sei nur in Begleitung seines<br />

Reitknechts nach Ritzebüttel geritten.<br />

Jetzt gehörte <strong>de</strong>r Hof Emmas Eltern : Otto Andreas <strong>und</strong> Antonie Benöhr. Hofbe-<br />

sitzer Otto Andreas war nicht nur Landwirt, son<strong>de</strong>rn versah daneben zahlreiche<br />

Ehrenämter, war später Schultheiss <strong>und</strong> gehörte ab 1895 als Abgeordneter für<br />

Ritzebüttel <strong>de</strong>r Hamburger Bürgerschaft an. Seine Frau Antonie, heiß geliebt wie<br />

<strong>de</strong>r Vater, war eine Tochter <strong>de</strong>s angesehenen Ritzebütteler Kaufmanns Georg Wil-<br />

helm Reye. Die bei<strong>de</strong>n Familien, die Benöhrs <strong>und</strong> die Reyes, hielten eng zusammen,<br />

so daß sie in <strong>de</strong>n Erinnerungen Emmas fast zu <strong>einer</strong> Einheit verschmolzen sind.<br />

Wie aber kam <strong>de</strong>r Hof zu <strong>de</strong>m Namen " Arnh<strong>aus</strong>en "? - Damit hatte es folgen<strong>de</strong><br />

Bewandtnis : Großvater Hans Christian Benöhr, zum Zeitpunkt <strong>de</strong>s Hamburger<br />

Bran<strong>de</strong>s von 1842 Chef <strong>de</strong>s 10. Bataillons Bürgermilitär im Amt Ritzebüttel, war<br />

nach Bekanntwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s furchtbaren Geschehens sogleich mit <strong>einer</strong> Abteilung sei-<br />

ner Männer nach Hamburg geeilt. Dort halfen sie zwei Wochen lang bei Bewa-<br />

chungs- <strong>und</strong> Aufräumungsarbeiten.<br />

Nach <strong>de</strong>r Rückkehr erhielt Benöhr die Genehmigung, seinem Hof einen eigenen<br />

Namen zu geben. In <strong>einer</strong> gewichtigen Urk<strong>und</strong>e " Prot. Decretorum Ritzebüttelen-<br />

sis " , datiert " Jovis 12ten Januar 1843 " <strong>und</strong> unterzeichnet vom Amtmann Dr. F.<br />

Sieveking, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Name Arnh<strong>aus</strong>en amtlich bestätigt. - Die kleine Emma pflegte<br />

die Urk<strong>und</strong>e später voll Ehrfurcht zu betrachten. Aber noch eindringlicher wur<strong>de</strong><br />

sie an <strong>de</strong>n Großvater erinnert, wenn sie auf <strong>de</strong>n Dachbo<strong>de</strong>n stieg, wo in <strong>einer</strong> Kam-<br />

mer <strong>de</strong>ssen Tschako <strong>und</strong> <strong>de</strong>r schrecklich große Säbel hingen.<br />

4


Emma Benöhr wuchs auf Arnh<strong>aus</strong>en zusammen mit sechs Geschwistern auf, vier<br />

Brü<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> zwei Schwestern. Sie schil<strong>de</strong>rt die Zeit von 1880 bis etwa 1891, als<br />

sie mit 16 Jahren <strong>aus</strong> <strong>de</strong>r Schule kam.<br />

Hof Arnh<strong>aus</strong>en mit seinen von hohen Eschen, Lin<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Kastanien umgebenen<br />

Wohn- <strong>und</strong> Wirtschaftsgebäu<strong>de</strong>n <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Benöhr'schen Wappenspruch " Veritas<br />

sine timore " ( Wahrheit ohne Furcht ) am Türbalken, war vielleicht nicht in allem<br />

ein typischer Bauernhof; zum Beispiel kaum was <strong>de</strong>n Bildungsweg <strong>de</strong>r Eltern anbe-<br />

langt o<strong>de</strong>r das spätere Studium <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r. Aber typisch war alles an<strong>de</strong>re. So wie<br />

auf Arnh<strong>aus</strong>en gestaltete sich <strong>de</strong>r Tagesablauf auch auf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren größeren Hö-<br />

fen <strong>de</strong>r Gegend. Und <strong>de</strong>r Wechsel <strong>de</strong>r Jahreszeiten prägte hier wie dort das Tun.<br />

Kindheit auf Arnh<strong>aus</strong>en - ein Zauber geht von diesem Rückblick <strong>aus</strong>. Dabei ist alles<br />

mit schlichten Worten gesagt, wie man es <strong>de</strong>n eigenen Kin<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> Enkeln erzählt.<br />

Fürwahr, so kann sich nur jemand erinnern, so bis ins kleinste Detail, <strong>de</strong>r mit ganzer<br />

Seele daran hing.<br />

Doch genug <strong>de</strong>r Einleitung. Das Wort hat Emma Lohmeyer-Benöhr. Ihr fließen die<br />

Bil<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Erinnerungen in spru<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Fülle zu.<br />

Komm mit zum R<strong>und</strong>gang durch H<strong>aus</strong> <strong>und</strong> Hof!<br />

Auf Arnh<strong>aus</strong>en stand die H<strong>aus</strong>tür<br />

meistens offen. Man trat gleich in<br />

die Gartenstube mit Mutters<br />

Klei<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Leinenschrank. Von<br />

dort führte eine Tür in Vaters<br />

Kontor, wo <strong>de</strong>r große<br />

Mahagonischreibtisch <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m H<strong>aus</strong>e seines Großvaters Pastor Weiss stand. Hier<br />

rechnete Vater Sonntagmorgens mit <strong>de</strong>n Tagelöhnern ab; hier hatte er seine Süh-<br />

netermine als Schiedsrichter; hier waren seine Bücher. An <strong>de</strong>r Wand hing eine<br />

Karte <strong>de</strong>s Hofes mit allen zugehörigen Feldstücken. Es war darauf auch noch das "<br />

Neufeld" aufgezeichnet, eine ziemlich große Fläche, die einst <strong>de</strong>r Elbe abgerungen,<br />

dann aber in <strong>einer</strong> Sturmnacht mit allem an<strong>de</strong>ren Land <strong>und</strong> vielen Höfen vom Erdbo-<br />

<strong>de</strong>n verschw<strong>und</strong>en war - ein Raub <strong>de</strong>s wüten<strong>de</strong>n Meeres.<br />

5


Über Vaters Schreibtisch hingen die farbigen Bil<strong>de</strong>r s<strong>einer</strong> Ahnen. Unter <strong>de</strong>r Decke<br />

<strong>de</strong>r große Schiffskompaß, eine Bussole die noch an Urgroßvater Hinrich Benöhr <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>ssen Fahrten als Kapitän erinnerte. - Vom Kontor ging man in die elterliche<br />

Schlafstube. Dort stan<strong>de</strong>n stets drei o<strong>de</strong>r vier Kin<strong>de</strong>rbetten. Wenn wie<strong>de</strong>r ein<br />

Brü<strong>de</strong>rchen o<strong>de</strong>r Schwesterchen zur Welt kam, lag unsere Mutter nebenan im Kon-<br />

tor.<br />

Eine zweite Tür führte von <strong>de</strong>r Gartenstube ins Wohnzimmer. Auf <strong>de</strong>m mit Roß-<br />

haarbezug bespannten Sofa hatten Vater <strong>und</strong> Onkel Otto ihre festen Plätze, dazwi-<br />

schen ein Kind. Mutter, Tante Tine <strong>und</strong> wir an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r reihten uns um <strong>de</strong>n<br />

Tisch herum; das Stubenmädchen aß mit am Tisch.<br />

Über <strong>de</strong>m Wassertisch im Wohnzimmer hing ein Bücherbord mit Bibel, Gesangbuch<br />

<strong>und</strong> etlichen Schriften. Der große weiße Kachelofen strömte im Winter behagliche<br />

Wärme <strong>aus</strong>. Er wur<strong>de</strong> nur mit Holz <strong>und</strong> Torf beheizt; erst später kam die Steinkoh-<br />

le auf. Manchmal nahm Mutter gegen Abend die Glut <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Ofen <strong>und</strong> buk darin in<br />

einem Kasten ein Weißbrot. In <strong>de</strong>r Ofenkasse stand ständig ein Teekessel; wenn er<br />

morgens zu kochen anfing <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Dampf sich im Zimmer verbreitete, tauten an<br />

Wintertagen die Fenster auf.<br />

Der ovale eichene Ausziehtisch war w<strong>und</strong>erbar zum Spielen. Hier haben wir gesun-<br />

gen, gespielt <strong>und</strong> getollt. Vaters <strong>und</strong> Mutters niedrige Lehnstühle stan<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>n<br />

Fenstern, während gegenüber die Eckschränke mit <strong>de</strong>n täglichen Tassen ihren Platz<br />

hatten. An <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n Familienbil<strong>de</strong>r von Großvater Benöhr, unserer früh ver-<br />

storbenen Schwester Clara <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Großeltern Georg Wilhelm <strong>und</strong> Amalie Reye.<br />

Von <strong>de</strong>r Gartenstube ging man gera<strong>de</strong><strong>aus</strong> in die Küche, vorbei am Geschirrschrank<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r großen Wassertonne, in <strong>de</strong>r das Regenwasser gesammelt wur<strong>de</strong>. Der Sprik-<br />

kentisch <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Torftisch enthielten das tägliche Heizmaterial für die Küche; an-<br />

gemacht wur<strong>de</strong> mit Hei<strong>de</strong>. Der sehr große Herd, an <strong>de</strong>n sich zwei Kupferkessel an-<br />

schlossen, nahm mit diesen eine ganze Seite <strong>de</strong>r Küche ein. In <strong>de</strong>n offenen Rauch-<br />

fang mit <strong>de</strong>r seitlich darüber befindlichen Rauchkammer strömte <strong>de</strong>r Rauch, ehe er<br />

in <strong>de</strong>n Schornstein mün<strong>de</strong>te. Seitlich davon: <strong>de</strong>r große Tisch, die Spülbalje, <strong>und</strong> die<br />

immer verschlossene Speisekammer.<br />

Der unterkellerte <strong>und</strong> durch 5-6 Stufen aufgehöhte Nordflügel <strong>de</strong>s Wohnh<strong>aus</strong>es<br />

wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r großen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r kleinen Kellerstube eingenommen. Mit ihren Gipsor-<br />

namenten an <strong>de</strong>r Decke <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Seitenwän<strong>de</strong>n sowie <strong>de</strong>r kunstvoll gestalteten<br />

Ofenecke war die Große Kellerstube ein Festsaal in kl<strong>einer</strong>em Maßstab. Im<br />

6


Schrank waren die vielen Bücher unserer Eltern aufgestellt : die Gesammelten<br />

Werke von Schiller, Goethe, Lessing, Her<strong>de</strong>r, Fritz Reuter, dazu viele schöngeistige<br />

Schriften.<br />

An <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n hingen zwei große Kupferstiche in schwarzen Rahmen. Der eine<br />

stellte dar, wie Hermann von weitem <strong>de</strong>n Flüchtlingszug mit <strong>de</strong>m Wagen von Doro-<br />

thea sieht; das an<strong>de</strong>re Bild zeigte Frie<strong>de</strong>rike beim Brotschnei<strong>de</strong>n für die kleinen<br />

Geschwister, die sie umgeben.<br />

Mutters sehr hübsche Mahagonimöbel - <strong>de</strong>r ovale Ausziehtisch, das Sofa, zwölf Stüh-<br />

le, vier kl<strong>einer</strong>e feine Tischchen, <strong>de</strong>r Spiegelschrank <strong>und</strong> <strong>de</strong>r hohe Tassenschrank -<br />

vervollständigten <strong>de</strong>n Eindruck echter Gediegenheit <strong>und</strong> schlichten Wohlstan<strong>de</strong>s.<br />

Auf <strong>de</strong>m Büchertisch lag unsere große Schnorr'sche Bil<strong>de</strong>rbibel, ferner ein Pracht-<br />

werk mit Bil<strong>de</strong>rn zu Schillers " Glocke " <strong>und</strong> manch an<strong>de</strong>res Buch das zum Betrach-<br />

ten anregte. Vom Eckschrank her glänzten die dreiarmigen silbernen Leuchter; da-<br />

zwischen hing das hübsche Spruchband " In allen Stürmen, in aller Not wird er dich<br />

beschirmen, <strong>de</strong>r treue Gott. "<br />

Doppelte Gardinen, ein großer Teppich <strong>und</strong> die Hängelampe paßten zum Übrigen. Auf<br />

<strong>einer</strong> Konsole an <strong>de</strong>r Wand breitete <strong>de</strong>r segnen<strong>de</strong> Christus seine Arme <strong>aus</strong>.<br />

Im Sommer stand auch unser Klavier in <strong>de</strong>r Großen Kellerstube, auf <strong>de</strong>m wir<br />

fleißig übten. Sonst kamen wir Kin<strong>de</strong>r selten hierher; aber alle Familienfeste,<br />

Geburtstage, Taufen, Weihnachtsfeiern vereinigten die Familie in <strong>de</strong>r Großen<br />

Kellerstube.<br />

Die schwere Dielentür schloß unsere Wohnung ab gegen die Scheune, die mit<br />

<strong>de</strong>r Wohnung unter <strong>de</strong>m selben Strohdach lag. Hier war rechts <strong>de</strong>r Schrank<br />

für das Pfer<strong>de</strong>geschirr sowie die Schrotkammer. Der Kälberstall bil<strong>de</strong>te <strong>de</strong>n<br />

Übergang zum Kuhstall, während rechts von <strong>de</strong>r Diele <strong>de</strong>r Pfer<strong>de</strong>stall war.<br />

Über <strong>de</strong>r Schrotkammer befand sich die ' Hilgen', d.h. <strong>de</strong>r Schlafraum für<br />

die Knechte. Hier stan<strong>de</strong>n drei sehr breite Betten mit Strohsäcken <strong>und</strong><br />

mächtigen Fe<strong>de</strong>rbetten.<br />

Über <strong>de</strong>m Kuh- <strong>und</strong> Pfer<strong>de</strong>stall lag Stroh, worin die Hühner öfter Eier leg-<br />

ten. Das Ganze war vom großen Heubo<strong>de</strong>n über<strong>de</strong>ckt. Auf <strong>de</strong>m vor<strong>de</strong>ren Teil<br />

stan<strong>de</strong>n die Schrotkisten; auch war hier Lagerraum für alte Maschinen- <strong>und</strong><br />

Eisenteile. Der Mehlbo<strong>de</strong>n mit seinen verschie<strong>de</strong>nen Sieben für feines <strong>und</strong><br />

grobes Weizenmehl stellte die Verbindung zum Heubo<strong>de</strong>n her. Eine kleine<br />

Treppe führte zum Hohen Bo<strong>de</strong>n hinauf. Auf dieser Treppe saß man beim<br />

7


Rupfen <strong>de</strong>s geschlachteten Geflügels <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Krammetsvögel, die Onkel Otto<br />

im Dohnenstieg fing. Neben <strong>de</strong>r Rauchkammer stan<strong>de</strong>n ein Schrank <strong>und</strong> eine<br />

hübsch geschnitzte große Truhe, in <strong>de</strong>r allerlei Vorräte aufbewahrt wur<strong>de</strong>n.<br />

Hier waren auch die kl<strong>einer</strong>en Tonnen mit getrockneten Äpfeln <strong>und</strong> Birnen<br />

untergebracht. Frisch gepflückte Äpfel wur<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Nie<strong>de</strong>ren Bo<strong>de</strong>n auf<br />

Stroh gelagert.<br />

Vom Bo<strong>de</strong>n nun schnell hinab in <strong>de</strong>n Keller ! Er befand sich unter <strong>de</strong>r Großen<br />

Kellerstube <strong>und</strong> war dreiteilig. Im ersten Keller waren die Bor<strong>de</strong> für die vie-<br />

len Milchsatten <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Apfelschrank; <strong>de</strong>r mittlere Keller enthielt <strong>de</strong>n Flie-<br />

genschrank, das große Pökelfaß, das Eierbord <strong>und</strong> ein großes Bord für Spei-<br />

sen; im hinteren Keller lagerten die Kartoffeln, Wurzeln, Sellerie <strong>und</strong> an<strong>de</strong>-<br />

res Gemüse.<br />

An <strong>de</strong>r Ostseite <strong>de</strong>r Scheune gewahrte man die Misten, auf die alle Ställe<br />

mün<strong>de</strong>ten. Die Tür zur Scheune war flankiert von zwei großen Steinen, die<br />

<strong>de</strong>n Eingang schützten beim Einfahren <strong>de</strong>s Heues. Auf diesen Steinen saßen<br />

mittags oft die Knechte, bis <strong>de</strong>r Ruf " Rinkumen ! " erscholl.<br />

Auf <strong>de</strong>r Diele lag manchmal hoch aufgeschichtet Stroh. Wir Kin<strong>de</strong>r krochen<br />

gern hinein <strong>und</strong> machten uns eine Höhle. Eines Tages war ich beson<strong>de</strong>rs tief<br />

in dieses Stroh hineingekrochen, <strong>und</strong> die B<strong>und</strong>e fielen hinter mir herab. Ich<br />

war von <strong>de</strong>m Stroh, das bis unter die Decke reichte, wie eingemauert. Rufen<br />

hätte niemand hören können, selbst wenn zufällig jemand auf <strong>de</strong>r Diele gewe-<br />

sen wäre. Ich glaube, es war das erste wirkliche Schreien zu Gott in <strong>de</strong>r<br />

Not, <strong>und</strong> er half mir, mit aller Kraft nach rückwärts einen Weg zu bahnen,<br />

bis die Füße wie<strong>de</strong>r draußen waren.<br />

An <strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>ställen sahen wir gern zu, wenn die Tiere beim Füttern ihre Köpfe<br />

über die Krippe her<strong>aus</strong>streckten. Im Rin<strong>de</strong>rstall, zur Linken, stand vornean <strong>de</strong>r<br />

große Bulle, dann kamen die Kühe die gera<strong>de</strong> keine Milch gaben, dann die Queenen<br />

<strong>und</strong> das Jungvieh, die Besten, <strong>und</strong> im Kälberstall die größeren Kälber. Ich meine,<br />

wir hatten etwa 60 Stück Rindvieh.<br />

Im Knie zur Kornscheune war <strong>de</strong>r Göpel, i<strong>de</strong>aler Spielplatz für uns Kin<strong>de</strong>r. Wie<br />

herrlich fuhr man im Göpel, vier Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n aufgehängten Sielen, vier Kin<strong>de</strong>r auf<br />

<strong>de</strong>n Stangen. Abwechselnd schoben die größeren Kin<strong>de</strong>r, <strong>und</strong> so s<strong>aus</strong>ten wir herum.<br />

- Die eigentliche Aufgabe <strong>de</strong>s Göpels war für mich nur insofern von Belang, als ich<br />

manchmal nachhüten mußte. Zum Antrieb <strong>de</strong>r großen Dreschmaschine wur<strong>de</strong>n vier<br />

Pfer<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Göpel gespannt, die nach einigen St<strong>und</strong>en mit vier an<strong>de</strong>ren Pfer<strong>de</strong>n<br />

wechselten. Die Häckselmaschine über <strong>de</strong>m Göpel ließ sich mit zwei Pfer<strong>de</strong>n am Gö-<br />

8


pel betreiben, <strong>und</strong> die großen Mahlsteine mit drei. Die Aufgabe <strong>de</strong>s Nachhüters<br />

bestand darin, daß man in umgekehrter Richtung wie die Pfer<strong>de</strong> ging <strong>und</strong> diese<br />

durch ständiges " Hü-hott !" in Gang hielt. Nur <strong>de</strong>n faulen Rühen mußte man mit<br />

<strong>de</strong>r Peitsche schlagen; er legte sich manchmal im Geschirr hin, wenn die Pfer<strong>de</strong> um-<br />

gespannt wur<strong>de</strong>n. Ich habe nie verraten, wieviel Angst ich beim Nachhüten hatte,<br />

<strong>de</strong>nn ich schämte mich <strong>de</strong>swegen.<br />

Vater konnte vom Häckselbo<strong>de</strong>n <strong>aus</strong> durch ein Sprachrohr "Hü-hott!" rufen, womit<br />

das Nachhüten durch uns Kin<strong>de</strong>r dann unnötig war. Ich erinnere mich, daß Vater<br />

stets ein fre<strong>und</strong>liches Wort für <strong>de</strong>n kleinen Antreiber hatte, wenn er am Göpel<br />

vorbeikam.<br />

Hinter <strong>de</strong>m Göpel lag <strong>de</strong>r Schafstall. Es wur<strong>de</strong>n auf Arnh<strong>aus</strong>en 8 - 10 Schafe<br />

gehalten, die die Wei<strong>de</strong>n kahlfressen mußten, so daß keine Grasbüschel stehen<br />

blieben. Im Frühling hatte <strong>de</strong>r Schafstall seine beson<strong>de</strong>re Anziehungskraft, wenn<br />

die kleinen Lämmer dort bei <strong>de</strong>n Schafmüttern waren. Am 1. April gehörte es zu<br />

<strong>de</strong>n regelmäßigen Aprilscherzen, daß gesagt wur<strong>de</strong>, ein Schaf habe gelammt. Der<br />

leichtgläubige kleine Bru<strong>de</strong>r lief dann spornstreichs hin, um das Lämmchen zu be-<br />

sehen.<br />

Unter <strong>de</strong>r Treppe zu <strong>de</strong>n Hilgen - dies war ein beliebtes Versteck beim Spielen -<br />

befand sich die große Pumpe. Von hier <strong>aus</strong> wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r draußen stehen<strong>de</strong> Örnblock<br />

für die Pfer<strong>de</strong> vollgepumpt. Ein Rohr leitete das Wasser in <strong>de</strong>n Rin<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Schaf-<br />

stall, in <strong>de</strong>ren Krippen das Wasser zweimal täglich entlangfloß, was wir gern beob-<br />

achteten.<br />

Neben <strong>de</strong>r " Abweise ", wo Pflüge, Eggen <strong>und</strong> sonstiges Ackergerät abgestellt wur-<br />

<strong>de</strong>n, war die Wagenremise. Sie barg <strong>de</strong>n schönen braunen Schlitten, mit <strong>de</strong>m Be-<br />

nöhr'schen Wappen verziert, in <strong>de</strong>m man, in Stroh <strong>und</strong> tiefem Fußsack verpackt,<br />

mollig aufgehoben war. Bei Ausfahrten rannten zwei gute Pfer<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>m Glok-<br />

kengeschirr bespannt, auf <strong>de</strong>r Schneebahn dahin, die uns ja lei<strong>de</strong>r nicht je<strong>de</strong>s<br />

Jahr beschert wur<strong>de</strong>. Eine große Chaise für beson<strong>de</strong>rs festliche Gelegenheiten<br />

<strong>und</strong> ein Landauer mit grünem Plüschbezug, vier Sitzen vorn <strong>und</strong> zwei Sitzen beim<br />

Kutscher, stan<strong>de</strong>n für Fahrten bereit.<br />

Unten war in <strong>de</strong>r Wagenremise <strong>de</strong>r H<strong>und</strong>estall eingebaut, in <strong>de</strong>m unsere Juno ihren<br />

Platz hatte, ein großer schwarzer Hofh<strong>und</strong>, <strong>de</strong>r uns mit seinen treuen Augen so<br />

fre<strong>und</strong>lich ansah <strong>und</strong> mit <strong>de</strong>m zottigen Schwanz we<strong>de</strong>lte, wenn er gefüttert wur<strong>de</strong>.<br />

Er lag an <strong>einer</strong> Kette, die an einem Draht entlanglief, welcher um die Ecke <strong>de</strong>r<br />

Scheune führte. So konnte er je<strong>de</strong> Person sehen, die vom Nor<strong>de</strong>r- <strong>und</strong> Sü<strong>de</strong>rtrift-<br />

stück über <strong>de</strong>n Hof kam.<br />

9


Auf <strong>de</strong>m Remisebo<strong>de</strong>n befand sich ein Taubenschlag, mit <strong>de</strong>m Ausflug zum Hof.<br />

Girrend saßen dort die Tauben auf ihren langen Stangen. Wir hatten große Freu<strong>de</strong>,<br />

wenn Mutter sie fütterte <strong>und</strong> die Tauben um sie herumschwirrten. Nach<strong>de</strong>m ein-<br />

mal vergessen wor<strong>de</strong>n war, <strong>de</strong>n Taubenschlag abends zu schließen, war in <strong>de</strong>r<br />

Nacht ein Iltis eingedrungen <strong>und</strong> hatte neun Tauben zerrissen. Die an<strong>de</strong>ren hatten<br />

sich fluchtartig davongemacht. Danach hat Mutter keine Tauben mehr halten mö-<br />

gen. Der Geruch <strong>de</strong>s Wildtieres war durch nichts zu vertreiben.<br />

An <strong>einer</strong> Planke entlang führte von <strong>de</strong>r großen Dielentür ein Steinweg zur Schwei-<br />

nescheune, in <strong>de</strong>r vornean <strong>de</strong>r Hühnerstall war. In einem geräumigen Brutstall saßen<br />

dort die Glucken, von einem Drahtgitter zuge<strong>de</strong>ckt, das je<strong>de</strong>n Mittag eine St<strong>und</strong>e herun-<br />

tergenommen wur<strong>de</strong>, damit die Glucken fressen konnten. Dahinter lag <strong>de</strong>r eigentliche Hüh-<br />

nerstall mit <strong>de</strong>n schräg übereinan<strong>de</strong>r geschichteten Stangen <strong>und</strong>, an <strong>de</strong>r Wand, <strong>de</strong>n vielen<br />

Nestern zum Legen. Ich erinnere, daß wir in <strong>de</strong>r Hochsaison etwa 40 Eier täglich bekamen.<br />

Die kleinen Kücken beobachteten wir zu gern beim Ausschlüpfen <strong>aus</strong> <strong>de</strong>n Eiern. Eines Mor-<br />

gens lagen an die vierzig größere Kücken tot im Hühnerstall. In <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Nacht wach-<br />

ten Vater <strong>und</strong> ein Tagelöhner abwechselnd im Brutstall. Als <strong>de</strong>r Tagelöhner ein leises Ge-<br />

räusch vernahm, sah er gera<strong>de</strong> noch <strong>de</strong>n Schwanz eines Mar<strong>de</strong>rs in einem <strong>aus</strong>gehöhlten<br />

Balken verschwin<strong>de</strong>n. Das Tier hatte sein Nest auf <strong>de</strong>m darüberliegen<strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>bo<strong>de</strong>n <strong>und</strong><br />

wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Nacht darauf gefangen.<br />

In <strong>de</strong>r Schweinescheune führte ein Gang an <strong>de</strong>n drei Koben entlang. Hatte eine Sau Ferkel<br />

bekommen, so übte die Schweinescheune eine beson<strong>de</strong>rs starke Anziehungskraft auf uns<br />

<strong>aus</strong>. Zwölf o<strong>de</strong>r vierzehn solch niedlicher sauberer Tierchen lagen dann rosig <strong>und</strong> friedlich<br />

bei ihrer Mutter o<strong>de</strong>r liefen umher. Beim Ferkeln mußte von einem Tagelöhner o<strong>de</strong>r Knecht<br />

nachts gewacht wer<strong>de</strong>n, damit die Sau nicht ihre eigenen Kin<strong>de</strong>r auffraß.<br />

Jetzt nur noch kurz ein Blick in <strong>de</strong>n Entenstall. Er war unter <strong>de</strong>r Treppe zum Hei<strong>de</strong>bo<strong>de</strong>n.<br />

Der Schweinejunge mußte je<strong>de</strong>n Morgen die Enten tasten <strong>und</strong> diejenigen im Stall zurück-<br />

lassen, die im Laufe <strong>de</strong>s Tages ein Ei legen wür<strong>de</strong>n. Alle an<strong>de</strong>rn begrüßten mit lautem "<br />

Quak-quak ", daß sie endlich nach draußen durften.<br />

Im Garten <strong>de</strong>r Duft von Goldlack <strong>und</strong> Reseda<br />

Unser Garten auf Arnh<strong>aus</strong>en, wie war er so schön ! Durch die Pforte in <strong>de</strong>r Dor-<br />

nenhecke kam man in seinen Schatten <strong>und</strong> Blütenduft. Gleich rechts stand die klei-<br />

ne weiße Laube, mit <strong>de</strong>m Sandplatz zum Spielen für uns Kin<strong>de</strong>r. Vom Rasen her<br />

leuchtete ein großes, meist mit Stiefmütterchen bepflanztes Beet <strong>de</strong>m Besucher<br />

entgegen. Es war eingefaßt von einem dicken Kranz doppelter Marienblümchen. Zu<br />

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ei<strong>de</strong>n Seiten davon die länglichen Beete mit Maiglöckchen <strong>und</strong> Portulak. Hier<br />

wur<strong>de</strong>n ein Reck <strong>und</strong> ein Barren fleißig zum Turnen benutzt. Den Abschluß bil<strong>de</strong>ten<br />

vier herrliche Lin<strong>de</strong>n, die wie ein Dom sich gen Himmel reckten. Ein langer Tisch<br />

mit weißen Bänken <strong>und</strong> zwei Lehnstühlen lud zum Kaffeetrinken ein.<br />

Nach rechts hinüber erblickte man eine Anzahl Johannisbeersträucher, <strong>und</strong> links -<br />

ebenfalls mit Buchsbaum eingefaßt - eine große Rabatte mit <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten<br />

Ziersträuchern: blühen<strong>de</strong> gelbe Johannisbeere, Jasmin, einfache <strong>und</strong> gefüllte<br />

Deutzien, Schneeball, Syringen, Man<strong>de</strong>lbäumchen <strong>und</strong> viele an<strong>de</strong>re.<br />

Eines notwendigen kleinen Häuschens muß ich noch Erwähnung tun, das versteckt<br />

hinter <strong>de</strong>n Tannen stand: das " Lusthäuschen " mit drei Sitzen für Erwachsene <strong>und</strong><br />

einem kleinen, mit <strong>einer</strong> Stufe aufgetreppt, für Kin<strong>de</strong>r. Manche Sitzung ist hier<br />

abgehalten <strong>und</strong> bei großem Familienbesuch manche Debatte <strong>de</strong>r Vettern geschla-<br />

gen wor<strong>de</strong>n.<br />

Blumen gab es an vielen Stellen im Garten. Da war das Frühlingsbeet mit <strong>de</strong>n<br />

Schneeglöckchen, Zilla, blauen <strong>und</strong> roten Leberblümchen. Nach Sü<strong>de</strong>n zu schloß sich<br />

das Beet mit <strong>de</strong>n herrlichen weißen Lilien an. Abgeschirmt hinter <strong>de</strong>n Ziersträu-<br />

chern stand die Figur <strong>de</strong>s Götterboten Merkur, <strong>und</strong> etwas weiter längs das weiße<br />

Standbild <strong>de</strong>r Venus. Das Ganze umran<strong>de</strong>t <strong>und</strong> eingefaßt von einem breiten Strei-<br />

fen Immergrün.<br />

Im hinteren Garten, neben <strong>de</strong>r Blutbuche <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Rhodo<strong>de</strong>ndren wuchsen Rosen.<br />

In <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s hier angelegten Beetes hatte Mutter ihre Agrapant <strong>und</strong> Kallas,<br />

umgeben von einem Kreis von Tabakpflanzen. Nahebei blühen<strong>de</strong> Geranien <strong>und</strong> Fuch-<br />

sien, gelbe Pyreterum <strong>und</strong> blaue Lobelien.<br />

Kiesbestreute Wege führten zur Laube am " Berg ". Ihre Weinranken waren mei-<br />

stens so beschnitten, daß heller Sonnenschein in die Laube fluten konnte. Hier ge-<br />

wahrte man ein Beet hochstämmiger Rosen, <strong>de</strong>ren Duft sich mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r darunter<br />

gesäten Rese<strong>de</strong>n mischte. - Der " Berg " war von meinem Großvater Hans Christian<br />

Benöhr angelegt, mit <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> die bei <strong>de</strong>r Schaffung von Entwässerungsgräben<br />

gewonnen wor<strong>de</strong>n war. Dieser Arnh<strong>aus</strong>ener Privatberg mit s<strong>einer</strong> krönen<strong>de</strong>n weißen<br />

Bank, überschattet von <strong>einer</strong> Hängewei<strong>de</strong>, war im Frühling über <strong>und</strong> über mit stark<br />

duften<strong>de</strong>n Veilchen be<strong>de</strong>ckt. Welch herrlichen Ausblick hatte man von hier <strong>aus</strong><br />

über unsere Fel<strong>de</strong>r nach Cuxhaven <strong>und</strong> Ritzebüttel bis zum Meer !<br />

Der sogenannte Mittelgarten bil<strong>de</strong>te <strong>de</strong>n Übergang vom Zier - zum Obstgarten.<br />

Neben <strong>de</strong>n Apfelbäumen liebte ich hier beson<strong>de</strong>rs die gelben Pflaumen <strong>und</strong> die bei-<br />

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<strong>de</strong>n Zwetschenbäume. Zwei Blumenbeete mit Rosen <strong>und</strong> Phlox lagen an <strong>de</strong>m Weg,<br />

<strong>de</strong>r zur Jelängerjelieber-Laube am Leestrom führte.<br />

Den großen Hofgraben überquerend, gelangte man in <strong>de</strong>n alten Obstgarten, in <strong>de</strong>m<br />

die Bäume mit <strong>de</strong>n hellroten Glaskirschen <strong>und</strong> schwarzen Herzkirschen die ersten<br />

Früchte <strong>de</strong>s Jahres boten. Den Astrachan-Apfelbaum <strong>und</strong> die doppelte Bergamott-<br />

birne schätzten wir nicht weniger. Morgens liefen wir gleich vor <strong>de</strong>r Schule in <strong>de</strong>n<br />

Obstgarten, um Obst für die Schulfre<strong>und</strong>e zu sammeln. Mehrere Gravenst<strong>einer</strong>-<br />

bäume, Rotfrange, Pigeon <strong>und</strong> graue Renette boten eine Fülle von Früchten.<br />

Der Obstgarten erstreckte sich bis zum Leestrom <strong>und</strong> wur<strong>de</strong> gesäumt von <strong>einer</strong><br />

doppelten Reihe Erlen <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren Schutzbäumen, die <strong>de</strong>n Wind abhalten sollten.<br />

An die oft von uns heimgesuchten Stachelbeerbüsche <strong>und</strong> die Zierrabatten schloß<br />

sich <strong>de</strong>r Gemüsegarten an. Er lieferte nicht nur Gemüse aller Art, son<strong>de</strong>rn daneben<br />

auch Spaß für uns Kin<strong>de</strong>r. Ich sehe noch die Brü<strong>de</strong>r über die Flucht von Erb-<br />

senbeeten springen, zu Onkel Ottos Entsetzen. " Kerls, daß ihr mir nicht auf die<br />

Beete tretet ! Wollt ihr wohl r<strong>aus</strong> ! "<br />

Johannisbeer- <strong>und</strong> Himbeerplantage, Rhabarber, Sauerampfer, die Mistbeete mit<br />

Kohl- <strong>und</strong> Blumenpflanzen, die sämtlich selbst gezogen wur<strong>de</strong>n, Kohl aller Arten,<br />

Möhren, Schwarzwurzeln, Petersilie <strong>und</strong> etliche Beete mit Stangenbohnen - dies<br />

alles enthielt <strong>de</strong>r Gemüsegarten. Die drei Spargelbeete wur<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>n Morgen <strong>und</strong><br />

Abend von Mutter abgeerntet. Wir Kin<strong>de</strong>r liefen vor ihr her <strong>und</strong> ent<strong>de</strong>ckten die<br />

Spargel, die manchmal kaum <strong>aus</strong> <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> guckten.<br />

Der Gemüsegarten erfor<strong>de</strong>rte viel Arbeit. Es wur<strong>de</strong> auch manches verkauft, das<br />

Mutter für die Han<strong>de</strong>lsfrau zurechtmachen mußte. Damals ging das Gemüse nicht<br />

nach Gewicht, son<strong>de</strong>rn wur<strong>de</strong> im Spint abgemessen, was bei Erbsen <strong>und</strong> kleinem Ge-<br />

müse ja ging, sich aber bei <strong>de</strong>n großen Schwertbohnen, Schmalzbohnen <strong>und</strong> Türki-<br />

schen Bohnen schlecht machen ließ, so daß Mutter das Spint immer hoch aufhäufte .<br />

Und wieviel Arbeit machte das Einmachen für <strong>de</strong>n Winter ! Nicht allein das viele<br />

Geleekochen von Johannisbeeren, Himbeeren <strong>und</strong> Falläpfeln - es mußten auch die<br />

großen braunen Kruken gefüllt wer<strong>de</strong>n mit eingesalzenen Brechbohnen <strong>und</strong> Schnei-<br />

<strong>de</strong>bohnen. Der Herbst brachte die Verarbeitung <strong>de</strong>s Fallobstes im Großen. Ganze<br />

Kiepen voll wur<strong>de</strong>n mit <strong>einer</strong> Maschine geschält, mit <strong>de</strong>m Messer sorgfältig nach-<br />

geputzt, <strong>aus</strong>gestochen, <strong>und</strong> vom Gehäuse <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Wurmstellen befreit. Das Auf-<br />

setzen auf die Bretter besorgten wir Kin<strong>de</strong>r. Je<strong>de</strong>smal wenn gebacken wur<strong>de</strong>,<br />

wur<strong>de</strong>n drei Bretter mit Fallobst vollgesetzt <strong>und</strong> als letztes zum Trocknen in <strong>de</strong>n<br />

12


Backofen geschoben.<br />

Da vom Gemüse die Re<strong>de</strong> war, muß ich an Lina Petersen <strong>de</strong>nken. Ihr Mann, <strong>de</strong>r<br />

schmächtige kleine Hermann Petersen, <strong>de</strong>r auf Arnh<strong>aus</strong>en als Vorschnitter die Fel-<br />

<strong>de</strong>r unter die an<strong>de</strong>ren Tagelöhner aufteilte, hatte von Vater ein Stück Land auf <strong>de</strong>r<br />

Hohen Worth erhalten, wo er später mit Geschick <strong>und</strong> Fleiß Gemüse anbaute. Seine<br />

Frau, die <strong>de</strong>rbe, vierschrötige Lina, brachte dieses zum Verkauf nach Ritzebüttel .<br />

In ihren bei<strong>de</strong>n sehr großen Han<strong>de</strong>lskörben, die sie mittels <strong>einer</strong> hölzernen Tracht<br />

auf <strong>de</strong>r Schulter trug, nahm sie auch unser Gemüse mit. Der Spinat wur<strong>de</strong> nach<br />

Gabsch ( 2 Hän<strong>de</strong> voll ) bemessen <strong>und</strong> in Tücher geknotet. Vier Gabsch kosteten<br />

zwei Groschen. Im Sommer bekam man für 50 Pfennig 13 Eier; im Winter gab es<br />

für <strong>de</strong>n gleichen Betrag 8 Eier. Lina zog mit ihrer Last nach Ritzebüttel <strong>und</strong> rief<br />

dort in alle H<strong>aus</strong>türen hinein : " Eier, Spinot, Arfen, Bohnen, Blaumenkoal." Von<br />

<strong>de</strong>m Erlös unseres Gemüses bekam sie stets <strong>de</strong>n vierten Teil als Lohn.<br />

Der Arnh<strong>aus</strong>er Gemüsegarten war durch eine Dornenhecke gegen die Bleiche abge-<br />

grenzt, die ganz bestückt war mit Pfählen für die Wäscheleinen. Unsere Bleiche<br />

zog sich am Leestrom entlang, <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m man bequem Wasser schöpfen konnte, um<br />

die Wäsche zu besprengen.<br />

Wenn es im Mai endlich wärmer zu wer<strong>de</strong>n begann, ging Mutter mit uns Kin<strong>de</strong>rn auf die<br />

Bleiche. Das jeweils Kleinste wur<strong>de</strong> auf eine dicke wollene Decke gesetzt; wir an<strong>de</strong>ren spiel-<br />

ten herum <strong>und</strong> brachten Mutter Wiesenschaumkraut, <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m sie für je<strong>de</strong>s Kind ein Kränz-<br />

chen flocht.<br />

Der Weg an <strong>de</strong>n Lin<strong>de</strong>n vorbei führt uns wie<strong>de</strong>r zum Wirtschaftshof. An <strong>einer</strong> dieser Lin<strong>de</strong>n<br />

hing ein mächtig dickes Tau, an <strong>de</strong>m die Jugend klettern lernen sollte. Bru<strong>de</strong>r Hans kam nur<br />

bis zur Hälfte hinauf. Als erster war <strong>einer</strong> unserer Dienstjungen, Heinrich Hadler, <strong>de</strong>r See-<br />

mann wer<strong>de</strong>n wollte, oben im Baum. Dafür erhielt er <strong>de</strong>n versprochenen Groschen. - Zwi-<br />

schen <strong>de</strong>n Tannen hindurch kam man zur Schaukel. Sie war im Sommer, wenn viel Besuch bei<br />

uns war, fast immer besetzt. -<br />

Wie viele glückliche Zusammenkünfte hat unser Garten gesehen ! Unter <strong>de</strong>n Lin<strong>de</strong>n haben<br />

am grüngeschmückten Traualtar die Trauungen m<strong>einer</strong> Geschwister Anna, Hans <strong>und</strong> Franz<br />

stattgef<strong>und</strong>en. Ich erinnere, wie einmal <strong>de</strong>r Hamburger Senator Hugo Brand, ein Schwager<br />

von Onkel Wilhelm Reye, auf <strong>de</strong>m Berg zu Vater sagte: " Ein w<strong>und</strong>erbar schöner Besitz !"<br />

Dabei ließen die Gäste <strong>de</strong>n Blick rückwärts schweifen in <strong>de</strong>n Garten <strong>und</strong> nach vorn über die<br />

Kälberwei<strong>de</strong>, Martens Kamp <strong>und</strong> die Ch<strong>aus</strong>see, bis hinüber zur weiten Elbmündung mit ihrem<br />

Schiffsverkehr.<br />

13


Sich, geborgen fühlen in <strong>de</strong>r Großfamilie<br />

Eine Base sagte mir einmal : "Ich habe in meinem ganzen bewegten Leben kein so<br />

harmonisches Ehepaar kennengelernt wie <strong>de</strong>ine Eltern, <strong>und</strong> keine so friedliche Ge-<br />

meinschaft wie eure." Das war es wohl vor allem, was uns auf Arnh<strong>aus</strong>en so glück-<br />

lich sein ließ. Dort war alles von schlichter Echtheit bestimmt. Wir wußten stets,<br />

woran wir waren. Ein " Nein " war bei unseren Eltern ein festes, ruhiges Nein, ein "<br />

Ja " stets ein freudiges, frohmachen<strong>de</strong>s Ja.<br />

Wenn ich etwas zerbrochen hatte, was öfter vorkam, <strong>und</strong> die Scherben sofort zu<br />

Mutter brachte, sagte sie nur : " Kind, nimm dich doch etwas in acht ! Sei doch<br />

nicht immer so flüchtig; nun bring die Scherben gleich auf <strong>de</strong>n Scherbenhaufen<br />

hinters Backh<strong>aus</strong>." Aber wehe wenn ich die Unwahrheit sagte. Als ich einmal eine<br />

kostbare Vase zerbrochen hatte <strong>und</strong> auf Mutters Frage : " Hast Du es getan ?" log<br />

: " Nein ", da hat sie mich ganz unbarmherzig geschlagen. Sie selbst weinte dabei<br />

<strong>und</strong> sagte schließlich : " Kind, Kind, wenn Du etwas Böses getan hast <strong>und</strong> lügst noch<br />

dazu, so ist es dreimal so schlimm. Merk Dir das !"<br />

Solcher Kummer war selten; das Helle überwog. Eine Freu<strong>de</strong> war es je<strong>de</strong>smal, wenn<br />

Vater uns Älteren mitteilte, wir hätten wie<strong>de</strong>r einen kleinen Bru<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r eine<br />

Schwester bekommen. Mutter lag dann hinter <strong>de</strong>m großen Wandschirm im Kontor,<br />

<strong>de</strong>r extra für solche Fälle dazusein schien. Wir durften einzeln hineingehen <strong>und</strong><br />

das Kindlein sehen <strong>und</strong> bew<strong>und</strong>ern. So kleine Fingerchen <strong>und</strong> Bäckchen, <strong>und</strong> richtige<br />

Haare hatte es auch schon ! Zu seinen Füßen im Wagen aber war für uns Große je-<br />

<strong>de</strong>smal eine Zuckertüte, die es uns mitgebracht hatte. Wie artig <strong>und</strong> ruhig waren<br />

wir dann in <strong>de</strong>n nächsten Wochen !, <strong>und</strong> welche Freu<strong>de</strong> erfüllte uns, wenn, von Vater<br />

sorgsam geleitet, unsere Mutter zum erstenmal wie<strong>de</strong>r im Wohnzimmer erschien.<br />

Als dann gar zwei Schwesterchen auf einmal kamen, wußten wir nicht, was wir sagen<br />

sollten. Unsere älteste Schwester, Clara, war sehr früh von uns gegangen. Das Kin-<br />

<strong>de</strong>rmädchen hatte mit ihr gespielt, als sie vier Jahre alt war. Clara hatte sie hinten<br />

am Kleid angefaßt; so liefen die bei<strong>de</strong>n spielend um einen Baum herum, als die Kleine stol-<br />

perte, gegen <strong>de</strong>n Baum fiel <strong>und</strong> sich eine Gehirnerschütterung zuzog. An <strong>de</strong>r ist sie gestor-<br />

ben. - Auch unser Otto starb früh, erst 4 Jahre alt, an Scharlach. Vater <strong>und</strong> Mutter wein-<br />

ten, was ich vorher noch nie gesehen hatte.<br />

Zu <strong>de</strong>n Taufen kamen unsere Onkel <strong>und</strong> Tanten mit ihren Kin<strong>de</strong>rn. Sie waren alle fein ange-<br />

zogen, <strong>und</strong> feierlich <strong>und</strong> still. Der Pastor wur<strong>de</strong> mit einem Wagen abgeholt, <strong>und</strong> wenn er sich<br />

seinen schwarzen Talar <strong>und</strong> die weiße Halskr<strong>aus</strong>e angezogen hatte, ging er <strong>de</strong>m Täufling<br />

14


vor<strong>aus</strong> in die Große Kellerstube, wo alle versammelt waren. Wir Kin<strong>de</strong>r stan<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>s bei ei-<br />

ner Tante, damit wir uns ruhig verhielten während <strong>de</strong>r Pastor eine lange Re<strong>de</strong> hielt. Als er<br />

Max auf <strong>de</strong>r Stirn etwas naß machte, konnte ich von ganz nah zuschauen.<br />

Bei <strong>de</strong>r Taufe von Franz passierte etwas Merkwürdiges. Unsere Zwillinge Mariechen <strong>und</strong><br />

Tonchen waren sehr zart. Darum bekamen sie je<strong>de</strong>n Vormittag etwas stärken<strong>de</strong>n Wein.<br />

Weil nun Mutter sehr viel zu tun hatte mit <strong>de</strong>m Herrichten <strong>de</strong>r ganzen Tauffeier <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

Bewirtung all <strong>de</strong>r Gäste am Nachmittag, sagte sie zu Mariechen : " Mariechen, du bist ja<br />

schon vernünftig; nimm dir etwas Wein <strong>und</strong> gib auch Tonchen etwas. Du weißt ja, wo die Fla-<br />

sche steht." Mariechen tat das auch. Sie wur<strong>de</strong> nachher aber sehr lustig, fing immer wie<strong>de</strong>r<br />

an zu singen, <strong>und</strong> benahm sich sehr merkwürdig. Dann weinte sie wie<strong>de</strong>r, <strong>und</strong> schließlich<br />

brachte Mutter sie zu Bett, ehe alle Gäste kamen. Nach <strong>de</strong>r Taufe ging dann eine Tante<br />

nach <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren leise in die Schlafstube, um sich das kleine vierjährige Mä<strong>de</strong>lchen anzuse-<br />

hen, das dort seinen R<strong>aus</strong>ch <strong>aus</strong>schlief.<br />

Allmählich wuchsen wir alle heran, <strong>und</strong> wenn man mittags <strong>de</strong>n Tisch <strong>de</strong>ckte, so zählte man<br />

die tiefen <strong>und</strong> flachen Teller, die im Tellerbord in <strong>de</strong>r Küche steckten, in folgen<strong>de</strong>r Weise<br />

ab: "Vater, Mutter, Onkel Otto, Tante Tine, Anna, Hans, Emma, Max, Ernst, Mariechen,<br />

Tonchen, Franz." Statt " Franz " sagte ich meistens " Schwanz ", weil er <strong>de</strong>r Jüngste war.<br />

Am ungestörtesten konnte sich das Familienleben natürlich am Sonntag entfalten. Der be-<br />

gann genaugenommen am Sonnabendmittag, <strong>und</strong> das kam so : Auf allen Höfen wur<strong>de</strong> noch<br />

mit <strong>de</strong>m Flegel gedroschen. Das vierfache Klapp-klapp-klapp ertönte durch die ganze Ge-<br />

gend. Auf unserer großen Scheunendiele droschen während <strong>de</strong>s Winters die vier Tagelöh-<br />

ner unter Vorantritt von Hinrich Dreier, <strong>de</strong>m Vorschnitter. So<strong>und</strong>soviele Schock<br />

Garben mußten in je<strong>de</strong>r Woche fertig gedroschen wer<strong>de</strong>n. Seit ur<strong>de</strong>nklichen Zei-<br />

ten waren die Leute damit am Sonnabendnachmittag fertig. So kam es, daß dieser<br />

schon als arbeitsfreier Tag galt, an <strong>de</strong>m jene die einhüten mußten, nur die notwen-<br />

digsten Stall- <strong>und</strong> Vieharbeiten verrichteten.<br />

Die Köksch hatte schon vormittags die Küchentische gescheuert, <strong>de</strong>n Sprickentisch<br />

bis obenhin mit Holz <strong>und</strong> Spricken gepackt, <strong>de</strong>n Torftisch mit Torf gefüllt, die<br />

Nor<strong>de</strong>rlucht <strong>und</strong> Döns sauber gefegt, <strong>und</strong> <strong>de</strong>n st<strong>einer</strong>nen Fußbo<strong>de</strong>n mit sauberem<br />

Sand bestreut. Jetzt konnte <strong>de</strong>r Sonnabend beginnen.<br />

Vater <strong>und</strong> Mutter saßen in ihren Lehnstühlen am Fenster. Mutter las gern ein gutes<br />

Buch, während die Finger strickten. Vater ließ die Kleinen auf seinen Knien reiten;<br />

auch hielt er ihnen gern seine große Taschenuhr, die in <strong>einer</strong> Hornkapsel steckte,<br />

ans Ohr. Manchmal ging Vater auf mein Betteln mit mir in die Scheune <strong>und</strong> " setzte<br />

mich über die Elbe ". Er legte sich dazu lang ins Stroh, hatte neben <strong>de</strong>m Kopf die<br />

Hän<strong>de</strong> liegen, in die ich mit meinen Füßen trat <strong>und</strong> mich an seinen hochgezogenen<br />

Knien festhielt. Dann warf Vater mich mit einem großen Schwung ins Stroh. Einmal<br />

hat er mich 18 Mal über die Elbe gesetzt ! - Mutter spielte Lotto, Poch o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>-<br />

15


e Gesellschaftsspiele mit uns, <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Dämmerung wur<strong>de</strong>n Schattenbil<strong>de</strong>r ge-<br />

macht. Manchmal wur<strong>de</strong>n auch, als etwas ganz Beson<strong>de</strong>res, Bil<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Laterna<br />

magica gezeigt.<br />

Eigentlich war <strong>de</strong>r Sonnabendnachmittag noch schöner als <strong>de</strong>r Sonntag, weil man da<br />

ja noch <strong>de</strong>n ganzen freien Tag vor sich hatte. Sonntags stan<strong>de</strong>n wir später auf,<br />

wur<strong>de</strong>n feiertäglich geklei<strong>de</strong>t <strong>und</strong> tranken in Ruhe Kaffee. Vater <strong>und</strong> Mutter gin-<br />

gen anschließend zur Kirche nach Gro<strong>de</strong>n. War dies <strong>aus</strong> irgen<strong>de</strong>inem Gr<strong>und</strong>e einmal<br />

nicht möglich, so las Vater im Kontor eine Predigt vor. Nach <strong>de</strong>m Gottesdienst gin-<br />

gen die Eltern auf <strong>de</strong>n Friedhof, <strong>de</strong>r r<strong>und</strong> um die Kirche herum lag. Sie traten an<br />

die Gräber ihrer kleinen Kin<strong>de</strong>r Clara, Paul <strong>und</strong> Otto, <strong>und</strong> an das Erbbegräbnis <strong>de</strong>r<br />

Familie Benöhr, das wie ein großes Gemäuer dastand. Hier waren die Särge von Va-<br />

ters Eltern <strong>und</strong> Großeltern aufgestellt.<br />

Sonntagmorgens rechnete Vater im Kontor mit <strong>de</strong>n Tagelöhnern ab. Dabei <strong>und</strong> auch<br />

sonst wur<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>n Leuten platt<strong>de</strong>utsch gesprochen.<br />

Auch in <strong>de</strong>r Familie <strong>und</strong> untereinan<strong>de</strong>r sprachen wir viel Platt, nur nicht in <strong>de</strong>r<br />

Wohnstube. - Nach<strong>de</strong>m Vater abgerechnet hatte, zog er die bei<strong>de</strong>n großen Stand-<br />

uhren auf. Ich verpaßte es nie, zuzusehen <strong>und</strong> zuzuhören, <strong>de</strong>nn Vater ließ dabei<br />

manchmal das Glockenspiel <strong>de</strong>r w<strong>und</strong>ervollen alten Standuhr in <strong>de</strong>r Gartenlaube im-<br />

mer von neuem ertönen, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n kleinen Zeiger zwölfmal um eine St<strong>und</strong>e vor-<br />

schob.<br />

An je<strong>de</strong>m 16. Juli vereinte Mutters Geburtstag die ganze weite Verwandtschaft zu<br />

einem Gartenfest auf Arnh<strong>aus</strong>en. Schon lange vorher hatte ich unter Tante Tines<br />

Anleitung ein Geburtstagsgeschenk hergestellt: ein mit bunten Farben auf feinem<br />

Stramin gesticktes Na<strong>de</strong>lbuch, einen Schulterkragen <strong>aus</strong> brauner Zephirwolle ge-<br />

häkelt, o<strong>de</strong>r ein Kopftuch <strong>aus</strong> schwarzem Mohairgarn, auch mal Hüllen für Mutters<br />

Blumentöpfe, <strong>aus</strong> versilberter Pappe, mit verschie<strong>de</strong>nen Garnen bestickt.<br />

Mutter hatte am Vormittag alle Geburtstagsvorbereitungen getroffen. Da stan<strong>de</strong>n<br />

für <strong>de</strong>n Nachmittag die vielen hübsch geschwungenen Kuchenteller mit kleinem Ge-<br />

bäck, Schichttorte <strong>und</strong> Blitzkuchen. Und zum abendlichen Butterbrot lag Auf-<br />

schnitt in Gestalt verschie<strong>de</strong>ner Würste, in Streifen geschnittenem Schinken,<br />

durchgeschnittenen Eiern <strong>und</strong> Rahmkäse bereit. Vater sah von Zeit zu Zeit mit<br />

<strong>de</strong>m großen Fernrohr <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Kellerstubenfenster, um zu erk<strong>und</strong>en, welche Gäste<br />

zuerst von <strong>de</strong>r Ch<strong>aus</strong>see auf das Triftstück bogen, zu Fuß o<strong>de</strong>r per Wagen.<br />

Dann wur<strong>de</strong>n draußen die gestickten Decken auf die Gartentische <strong>und</strong> die Kissen<br />

auf die Bänke gelegt. Die ersten Gäste trugen Kuchen <strong>und</strong> Tassen mit hin<strong>aus</strong>. In<br />

<strong>de</strong>r sonnendurchfluteten Weinlaube saß die ältere Generation; die Vettern <strong>und</strong><br />

Cousinen <strong>und</strong> meine älteren Geschwister umgaben <strong>de</strong>n großen weißen Tisch unter<br />

<strong>de</strong>n vier Lin<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> wir Kl<strong>einer</strong>en saßen an <strong>de</strong>m langen Kin<strong>de</strong>rtisch davor. Nach<br />

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<strong>de</strong>m Kaffeetrinken wur<strong>de</strong>n Spiele gemacht. Es sah hübsch <strong>aus</strong>, wenn die größeren<br />

Vettern <strong>und</strong> Cousinen sich gewandt die weißen Rohrreifen zuwarfen. " Letztes Paar<br />

her<strong>aus</strong> " <strong>und</strong> " Dritten abschlagen " durften wir Kleinen mitspielen. Gewöhnlich<br />

wur<strong>de</strong> auch irgen<strong>de</strong>twas gemeinsam gemacht. So holte Vater einmal die Dezimal-<br />

waage vom Kornbo<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> alle Onkel <strong>und</strong> Tanten, Vettern <strong>und</strong> Cousinen, <strong>und</strong> wir<br />

Kin<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>n gewogen. Danach stellten wir uns unserem Gewicht entsprechend in<br />

<strong>einer</strong> langen Reihe auf, was allgemeine Heiterkeit erregte. Wenn auch das Aben<strong>de</strong>s-<br />

sen vorüber war, wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r geliebte R<strong>und</strong>gesang gesungen. Mit riesigen Blumen-<br />

sträußen <strong>aus</strong> unserem in voller Blüte prangen<strong>de</strong>n Garten gingen o<strong>de</strong>r fuhren die Gä-<br />

ste wie<strong>de</strong>r heim.<br />

Waren die Hamburger bei uns zu Besuch, so wußten wir gleich, was es geben wür<strong>de</strong>.<br />

Sie rannten mit einem Glas in <strong>de</strong>r Hand auf die Kuhwei<strong>de</strong>, um frische Milch von <strong>de</strong>n<br />

Kühen zu trinken. Ich ging gemächlich hinterher, <strong>und</strong> schon – pardauz ! - war <strong>einer</strong><br />

von ihnen im Kuhdreck <strong>aus</strong>gerutscht <strong>und</strong> bespritzt; ein Zweiter folgte seinem Bei-<br />

spiel. Die Großstädter wußten sich eben nicht zu benehmen. - Einmal wur<strong>de</strong> ich<br />

beim Zusehen hinten an meinem dicken blon<strong>de</strong>n Zopf gezupft. Ich dachte, es wäre<br />

<strong>einer</strong> m<strong>einer</strong> Vettern. Als ich dann aber etwas Warmes, Feuchtes am Kopf fühlte,<br />

bemerkte ich mit Schrecken, daß eine Kuh meinen Zopf für Stroh gehalten hatte<br />

<strong>und</strong> gemächlich darauf herumkaute. Ich schrie <strong>aus</strong> Leibeskräften, <strong>und</strong> die Köksch,<br />

die gera<strong>de</strong> die Kühe molk, mußte mich befreien. Das hatte ich davon, daß ich mit<br />

Neugier <strong>und</strong> halber Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong> meinen Großstadt-Vettern gefolgt war!<br />

Zu Zeiten wenn kein Besuch da war, gab es für uns Kin<strong>de</strong>r genug zu tun. Beim Rü-<br />

benschnei<strong>de</strong>n, eine St<strong>und</strong>e vor <strong>de</strong>r Schule, waren wir zu Dritt. Einer warf ein, <strong>einer</strong><br />

drehte die Maschine, <strong>und</strong> <strong>einer</strong> schaufelte in die Kiepen, die <strong>de</strong>r Knecht dann weg-<br />

trug. - Wenn die Johannisbeeren reif waren, mußte je<strong>de</strong>s von uns Kin<strong>de</strong>rn täglich<br />

eine Dose voll Johannisbeeren pflücken. Sechs Pf<strong>und</strong> gingen in eine solche Dose, die<br />

wir uns vor <strong>de</strong>n Leib geb<strong>und</strong>en hatten. Beim Pflücken wur<strong>de</strong> unentwegt gesungen.<br />

Mutter legte Wert darauf, daß wir je<strong>de</strong>n Busch ganz rein abpflückten, während wir<br />

vor allem darauf <strong>aus</strong> waren, möglichst schnell die Dose zu füllen - <strong>de</strong>nn auf <strong>de</strong>m<br />

Tisch in <strong>de</strong>r Veranda lag schon ein Haufen Erbsen <strong>und</strong> Bohnen, die <strong>aus</strong>gepult sein<br />

wollten.<br />

Wenn wir mit diesen Arbeiten fertig waren, konnten wir spielen. Meistens spielten<br />

wir "Akree"; an <strong>de</strong>r grünen Backh<strong>aus</strong>tür wur<strong>de</strong> angeschlagen. Wir versteckten uns<br />

hinter <strong>de</strong>n Gebäu<strong>de</strong>n, Bäumen <strong>und</strong> Gebüschen, <strong>und</strong> schlichen uns immer näher ans<br />

Backh<strong>aus</strong> heran. Dabei konnte es passieren, daß uns ein gehöriger Schreck durch-<br />

fuhr, wenn wir auf einen Handwerksburschen stießen, <strong>de</strong>r sich hinter <strong>einer</strong> Scheu-<br />

ne o<strong>de</strong>r hinter <strong>de</strong>m Strohdümpel <strong>aus</strong>gestreckt hatte. Die Bettelkin<strong>de</strong>r <strong>aus</strong> Gro<strong>de</strong>n,<br />

die mit Beuteln o<strong>de</strong>r kleinen Säcken öfter alle Höfe entlanggingen <strong>und</strong> um einen<br />

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" Schleef Mehl " baten, gingen ja von selbst wie<strong>de</strong>r weg, aber bei <strong>de</strong>n Handwerksbur-<br />

schen, die wir auch " Monarchen " o<strong>de</strong>r " Butjes " nannten, wußte man das nie. Nicht umsonst<br />

wur<strong>de</strong> abends nachgesehen, ob sämtliche Schlüssel vorhan<strong>de</strong>n waren <strong>und</strong> ordnungsgemäß am<br />

Türpfosten <strong>de</strong>r Wohnstube hingen.<br />

Viel Spaß mit Onkel Otto <strong>und</strong> Tante Tine<br />

Onkel Otto war <strong>einer</strong> von Mutters Brü<strong>de</strong>rn, Tante Tine eine von Vaters Schwestern. Bei<strong>de</strong><br />

lebten mit uns auf <strong>de</strong>m Hof <strong>und</strong> gehörten ganz zur Familie. Ohne sie kann ich mir Arnh<strong>aus</strong>en<br />

gar nicht <strong>de</strong>nken. Früher war Onkel Otto Hamburger Kaufmann gewesen, zusammen mit sei-<br />

nem Bru<strong>de</strong>r Arnold Inhaber <strong>de</strong>r Firma Gebr. Reye. Er kam ziemlich krank, nervös <strong>und</strong> abge-<br />

arbeitet zu uns <strong>und</strong> wur<strong>de</strong> von Vater <strong>und</strong> Mutter herzlich aufgenommen. Anfangs soll er so<br />

schwach gewesen sein, daß er nicht zu Fuß nach Ritzebüttel gehen konnte, son<strong>de</strong>rn im Ein-<br />

spänner fahren mußte. Mit <strong>de</strong>r Zeit kräftigte er sich jedoch immer mehr, so daß er später<br />

regelmäßig je<strong>de</strong>n Morgen zur Alten Liebe wan<strong>de</strong>rte. Das geschah so pünktlich, daß die ihm<br />

begegnen<strong>de</strong>n Schulkin<strong>de</strong>r genau die Zeit danach bestimmten. Schließlich begann er sich im<br />

Garten zu betätigen <strong>und</strong> einen schwunghaften Han<strong>de</strong>l mit Gemüse zu betreiben.<br />

Im Winter machte Onkel Otto große Wan<strong>de</strong>rungen, kreuz <strong>und</strong> quer durch die <strong>de</strong>utschen<br />

Lan<strong>de</strong>. Sein Gepäck bestand dabei <strong>aus</strong> zwei Paar Socken, drei Taschentüchern, <strong>einer</strong> Zahn-<br />

bürste <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Stock. Waren seine Stiefel zerrissen, so saß er solange irgendwo in <strong>einer</strong><br />

Schusterwerkstatt, bis sie repariert waren. Vater schickte ihm postlagernd Geld an die<br />

vorher bestimmten Orte. So ist er bis nach Konstantinopel, Rom <strong>und</strong> Süditalien gewan<strong>de</strong>rt.<br />

Mit <strong>de</strong>m Schiff fuhr er über das Mittelmeer. In Nordafrika war er einmal vielen Musel-<br />

männern folgend, in ein großes Tor eingetreten. Er wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb gefangengesetzt <strong>und</strong> soll-<br />

te geköpft wer<strong>de</strong>n, wie er uns später erzählte, weil er dieses Heiligtum entweiht hatte. Mit<br />

Hilfe <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Konsuls ist er dann aber mit heiler Haut davongekommen. - Längere Zeit<br />

war Onkel Otto auch in Spanien. Ein Verwandter wollte dort ein abgesoffenes römisches<br />

Silberbergwerk wie<strong>de</strong>r in Betrieb nehmen.<br />

Unser Onkel lebte für sich sehr einfach <strong>und</strong> anspruchslos. Je<strong>de</strong>s Jahr kaufte er sich einen<br />

neuen schwarzen Anzug. Die vierte Garnitur, die er im Garten trug, hätte je<strong>de</strong>m Landstreicher<br />

Ehre gemacht, Der Hut war ohne Bo<strong>de</strong>n, damit <strong>de</strong>r Kopf besser <strong>aus</strong>lüften könnte. Die Wurm-<br />

dose vor <strong>de</strong>n Leib geb<strong>und</strong>en, <strong>de</strong>n großen Jätekorb mit <strong>de</strong>n Maulwurfsfallen, <strong>de</strong>r Pflanzleine<br />

<strong>und</strong> an<strong>de</strong>rem kleinen Gerät in <strong>de</strong>r rechten Hand, Hacke <strong>und</strong> Spaten in <strong>de</strong>r linken, so zog er<br />

in <strong>de</strong>n Garten. Eine halbe St<strong>und</strong>e vor <strong>de</strong>m Mittagessen wur<strong>de</strong> laut in die Gegend hineingeru-<br />

fen: " Onkel Otto !", <strong>und</strong> <strong>aus</strong> irgend<strong>einer</strong> Richtung erscholl seine Antwort. Am Mittagstisch<br />

erschien er dann in ta<strong>de</strong>llos gutem Anzug.<br />

Auf Onkel Ottos Tisch lag eine große le<strong>de</strong>rne Schreibmappe mit vielen Zetteln. Je<strong>de</strong>n Mit-<br />

18


tag führte er Buch über die von ihm gefangenen Mäuse, Ratten, Maulwürfe, Aale <strong>und</strong> sonsti-<br />

gen Fische, auch über seine Tätigkeit im Garten, z.B. die Zahl <strong>de</strong>r gepflanzten Kohlsorten,<br />

die Fuhren Dünger o<strong>de</strong>r Tonnen Jauche, die das Pferd Mira ihm in <strong>de</strong>n Garten gezogen hat-<br />

te. Diese Fuhren wur<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>n schönsten Namen bezeichnet : " Das gol<strong>de</strong>ne Naß " usw.<br />

Im Herbst fing Onkel Otto manche Krammetsvögel. Er hatte seinen Dohnenstieg in <strong>de</strong>r Er-<br />

lenhecke, die <strong>de</strong>n Obstgarten nach Westen schützte, <strong>und</strong> hinter <strong>de</strong>m Berg. Im Winter<br />

machte er <strong>aus</strong> dünnen Wei<strong>de</strong>nzweigen <strong>und</strong> Pfer<strong>de</strong>haar die Schlingen, in die als Lockspeise<br />

Vogelbeeren gehängt wur<strong>de</strong>n. Die Krammetsvögel waren eine große Delikatesse, kosteten<br />

Mutter jedoch durch das Rupfen <strong>und</strong> Zurechtmachen viel Zeit.<br />

Beim Kohlpflanzen, wenn ich die Pflanzleine in die von Onkel Otto mit <strong>de</strong>m Spaten gemachte<br />

Erdspalte stecken mußte, eine Reihe nach <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren, wur<strong>de</strong> kräftig gesungen : "Viola, Baß<br />

<strong>und</strong> Geigen, die müssen alle schweigen...", " Laurentia, liebe Laurentia mein, wann wollen wir<br />

wie<strong>de</strong>r beisammen sein ?", <strong>und</strong> viele an<strong>de</strong>re Lie<strong>de</strong>r.<br />

Onkel Otto war <strong>de</strong>r Familienonkel für alle seine Geschwisterkin<strong>de</strong>r. Er schenkte gern. Zum<br />

Geburtstag bekam je<strong>de</strong>r einen Taler, <strong>und</strong> je<strong>de</strong> s<strong>einer</strong> Schwestern <strong>und</strong> Schwägerinnen einen<br />

großen Zuckerhut. Den Familientag im Dobrock, <strong>de</strong>r möglichst alle zwei Jahre die Ange-<br />

hörigen zusammenführen sollte - 60 Teilnehmer <strong>und</strong> mehr -, bezahlte Onkel Otto ganz allein,<br />

einschließlich Fahrgeld von Hamburg <strong>und</strong> Cuxhaven.<br />

Am lebhaftesten sind mir die Aben<strong>de</strong> dieser Familientage in Erinnerung. Dann setzte<br />

sich eine <strong>de</strong>r musikalischen Tanten ans Klavier, <strong>und</strong> es wur<strong>de</strong> im großen Saal <strong>de</strong>r Gast-<br />

wirtschaft getanzt. Meistens fing es mit <strong>einer</strong> Quadrille an, die <strong>einer</strong> <strong>de</strong>r Onkel kom-<br />

mandierte. Dann gab es altmodische Tänze, wobei das " Es geht nichts über die Gemüt-<br />

lichkeit" beson<strong>de</strong>rs beliebt war. Den Abschluß bil<strong>de</strong>te eine große Polonaise, ebenfalls<br />

von einem <strong>de</strong>r Onkel dirigiert: en arrière, en avant, chaine, carré, usw. Auf <strong>de</strong>m Bahn-<br />

hof Höftgrube trennte sich die ganze Familie. Wir Cuxhavener <strong>und</strong> Ritzebütteler muß-<br />

ten Onkel Otto zum Dank auf <strong>de</strong>m Bahnhof in Cuxhaven vor allem Publikum einen Kuß<br />

geben, was unter lautem Lachen geschah.<br />

Einmal lud Onkel Otto <strong>de</strong>n in Cuxhaven anwesen<strong>de</strong>n Teil <strong>de</strong>r Reye-Familie zum Theater<br />

ein. Es war nämlich eine Sch<strong>aus</strong>pielertruppe gekommen, die im Lan<strong>de</strong>sh<strong>aus</strong> 14 Tage lang<br />

Vorstellungen gab. Unsere fünf Vettern hatten sich Theaterzettel besorgt, einzelne<br />

Buchstaben her<strong>aus</strong>geschnitten, <strong>und</strong> ein schönes Plakat zusammengeklebt. Als wir nun an<br />

<strong>de</strong>m betreffen<strong>de</strong>n Abend die drei vor<strong>de</strong>rsten Reihen im Saal eingenommen hatten - es<br />

hatten sich, wie üblich bei solchen Gelegenheiten, etliche Leute mit zur Reye-Familie<br />

gerechnet - konnte die Vorstellung beginnen. Von <strong>de</strong>m Stück weiß ich nur noch, daß am<br />

Schluß drei Brautpaare auf <strong>de</strong>r Bühne waren <strong>und</strong> daß eine Sängerin zu wie<strong>de</strong>rholten Ma-<br />

len sang : " Denn so ein Bummelzug ist doch voll Poesie, wenn gegenüber sitzt ein schö-<br />

nes Visavis. " Meine Vettern hoben dann je<strong>de</strong>smal ihr Plakat an <strong>einer</strong> Stange in die Höhe<br />

<strong>und</strong> brachten damit die Sch<strong>aus</strong>pielerin fast <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Text. Auf <strong>de</strong>m Plakat stand nämlich<br />

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mit großen roten Buchstaben : " Ich liebe Dich !"<br />

Als Onkel Otto einmal nach schwerer Krankheit genesen war, mußte ich - damals<br />

vielleicht 10 Jahre alt - zwölf armen Familien je 20 Mark von ihm bringen. Ich<br />

genierte mich zuerst sehr; als dann aber Mutter Rank in Gro<strong>de</strong>n über diese gro-<br />

ße unerwartete Spen<strong>de</strong> in Tränen <strong>aus</strong>brach, war ich gern bereit zu weiteren<br />

Botengängen dieser Art.<br />

Onkel Otto lebte von seinen Zinsen. Nach einigen Jahren sah er sich veranlaßt, je-<br />

<strong>de</strong>m s<strong>einer</strong> 43 Neffen <strong>und</strong> Nichten ein Geschenk von 500 Mark zu machen, " damit<br />

mein Vermögen nicht weiter wachse ". Später hat er dann sein ganzes Geld unter<br />

Neffen <strong>und</strong> Nichten verteilt, behielt sich aber <strong>de</strong>n Zinsgenuß davon vor, solange er<br />

lebte. - Als unser Vater sich an <strong>de</strong>r Nordwestecke seines Hofes, an <strong>de</strong>r Gro<strong>de</strong>ner<br />

Ch<strong>aus</strong>see, ein schönes Altenh<strong>aus</strong> baute, blieb Onkel Otto auf Arnh<strong>aus</strong>en. Zwar war<br />

im neuen H<strong>aus</strong> ein Zimmer für ihn vorgesehen, mit Blick auf die Elbmündung <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>n Schiffsverkehr, aber sich vom Hof trennen - das konnte er nicht.<br />

Doch nun zu Tante Tine. Sie hieß eigentlich Albertine <strong>und</strong> war ein kleines, etwas<br />

verwachsenes Persönchen. Sie lebte in ihrem Zimmer, wo ich gern auf <strong>de</strong>r großen<br />

Fensterbank saß, kam zu <strong>de</strong>n Mahlzeiten herunter, <strong>und</strong> blieb auch abends nach <strong>de</strong>m<br />

Essen gemütlich bei uns. Mutter kam fast nie herauf; oben schaltete Tante Tine.<br />

Sie sorgte dafür, daß wir sonnabends reine Wäsche anzogen, kämmte mich, solange<br />

ich das noch nicht selbst konnte, paßte auf die Reinigung <strong>de</strong>r Zimmer, die das Stubenmädchen<br />

machen mußte, <strong>und</strong> half unten, wenn es nötig war. Mich lehrte sie<br />

stricken, häkeln <strong>und</strong> sticken. An je<strong>de</strong>m Sonnabend setzte sie alle Blumenschalen<br />

<strong>und</strong> Vasen neu ein <strong>und</strong> putzte die vielen Messinggriffe <strong>und</strong> Schlösser im H<strong>aus</strong>. An<br />

<strong>de</strong>r schönen Stehuhr, <strong>de</strong>n H<strong>aus</strong>türklinken, <strong>de</strong>n Klavierleuchtern <strong>und</strong> Schränken<br />

wur<strong>de</strong> alles blank durch <strong>de</strong>n mit Branntwein angefeuchteten Rotstein.<br />

Tante Tine stickte sehr viel, <strong>und</strong> die Lochstickereien auf unseren Hosen verdank-<br />

ten wir ihren fleißigen Hän<strong>de</strong>n. Als die Ritzebütteler Kirche einen Turm erhalten<br />

sollte, wur<strong>de</strong> eine Verlosung veranstaltet, für die Tante Tine eine sehr große Dek-<br />

ke <strong>aus</strong> grobem Stramin bestickte. Diese galt als Hauptgewinn. - Gern kramte ich in<br />

ihrem inhaltsreichen Wandschrank herum, in <strong>de</strong>m ihre Nachtjacken hingen, die mit<br />

so hübschen getüllten Spitzen <strong>und</strong> Rüschen geschmückt waren.<br />

Die Polsterstühle, <strong>de</strong>r Mahagonischrank mit <strong>de</strong>r Marmorplatte, <strong>de</strong>r " Stumme Die-<br />

ner ", auf <strong>de</strong>m das zierliche Messingkomfort <strong>und</strong> zwei Kieken stan<strong>de</strong>n, sowie ein<br />

r<strong>und</strong>er Sofatisch bil<strong>de</strong>ten das Mobiliar in Tante Tines Zimmer. ( Die hübsch durch-<br />

brochenen messingnen Kieken wur<strong>de</strong>n früher mit glühen<strong>de</strong>n Torfkohlen geheizt <strong>und</strong><br />

dienten in <strong>de</strong>r Kirche zur Erwärmung <strong>de</strong>r Füße. ) Ein kostbarer, 1 Meter langer <strong>und</strong><br />

etwa 15 cm breiter Klingelzug, <strong>de</strong>r ganz mit Perlstickerei versehen war, erinnerte<br />

an vergangene Zeiten.<br />

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Am schönsten war es auf Tante Tines Bo<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r fast ganz durch einen riesigen<br />

Schrank <strong>und</strong> eine große Truhe <strong>aus</strong>gefüllt war. In einem altmodischen Sekretär be-<br />

fan<strong>de</strong>n sich Zauberbücher <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re Raritäten. Wenn wir an einem Sonntagnach-<br />

mittag die drei Schubla<strong>de</strong>n <strong>aus</strong>räumen <strong>und</strong> uns mit all <strong>de</strong>n darin liegen<strong>de</strong>n Herrlich-<br />

keiten anklei<strong>de</strong>n durften, so waren wir selig. Wir erschienen dann unten in großge-<br />

blümten sei<strong>de</strong>nen Krinolinröckchen o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m wasserfarbenen, vielfach abgestepp-<br />

ten wattierten Kleid - angetan mit unglaublich feinen Mulltüchern, auf welche mit<br />

Handstickerei phantastische Ornamente gearbeitet waren.<br />

Kaum weniger herrlich war es, sich mit Tante Tines Vollgarnen zu befassen, von<br />

hellrot, mittelrot, dunkelrot <strong>und</strong> rosa bis zu hell- <strong>und</strong> dunkelblau. Wir verglichen<br />

die Farben mit Mutters w<strong>und</strong>ervollem chinesischen Sei<strong>de</strong>nzopf, <strong>de</strong>n ihre jüngste<br />

Schwester, die lange Jahre mit ihrem Mann in Shanghai gelebt hatte, <strong>aus</strong> China<br />

mitgebracht hatte. Auch im Kontor gab es Chinesisches; dort stand unter <strong>de</strong>m Bü-<br />

cherbord mit Meyers Konversationslexikon <strong>de</strong>r achteckige chinesische Kasten mit<br />

<strong>de</strong>n vielen Fächern <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Knöpfen <strong>aus</strong> Elfenbein.<br />

Tante Tine war immer sehr besorgt um uns. Öfters stand sie bei Eis <strong>und</strong> Schnee in<br />

<strong>de</strong>r Nor<strong>de</strong>rtür, um uns noch schnell ein Tuch für <strong>de</strong>n Schulweg umzubin<strong>de</strong>n. Solch<br />

eine Verweichlichung war mir greulich, <strong>und</strong> ich erinnere mich, daß ich die Tücher<br />

gleich wie<strong>de</strong>r abnahm <strong>und</strong> an die weiße Gartenpforte am Triftstück hängte. - Split-<br />

ter <strong>aus</strong>ziehen <strong>und</strong> etwas verbin<strong>de</strong>n - da war Tante Tine in ihrem Element<br />

Die Geburtstage von Onkel Otto <strong>und</strong> Tante Tine unterschie<strong>de</strong>n sich sehr von ein-<br />

an<strong>de</strong>r. Tante Tine mochte es gern ruhig, während es an Onkel Ottos Geburtstag<br />

stets eine große Familienfeier gab, bei <strong>de</strong>r wir 30-35 Personen waren. Die Tisch-<br />

ordnung wur<strong>de</strong> äußerst sorgfältig gemacht. Je<strong>de</strong>r Herr bekam einen Zettel auf <strong>de</strong>m<br />

stand, wen er zu Tisch zu führen hatte. Für uns Kin<strong>de</strong>r kam <strong>de</strong>r Höhepunkt, wenn<br />

abgeräumt wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn dann ging es lustig zu.<br />

Von <strong>de</strong>r Frühjahrsbestellung bis Weizenhahn<br />

Der Schnee war geschmolzen <strong>und</strong> die Er<strong>de</strong> etwas aufgetaut; so begann die Feldbe-<br />

stellung mit <strong>de</strong>r Busch-Egge, die auf <strong>de</strong>n Wei<strong>de</strong>n die Maulwurfshaufen <strong>aus</strong>einan<strong>de</strong>r<br />

schleifen mußte. Manchmal stand noch Anfang April viel Wasser in <strong>de</strong>n Furchen <strong>de</strong>r<br />

Winterbrache. Wenn aber endlich gepflügt wer<strong>de</strong>n konnte, so ging unser Vater hin-<br />

ter <strong>de</strong>m Doppelpflug, eine gera<strong>de</strong> Furche neben <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren ziehend, während <strong>de</strong>r<br />

Pflugtreiber die vier Pfer<strong>de</strong> lenkte. Ein Schwarm weißer Möwen folgte <strong>de</strong>m Pflug,<br />

immer wie<strong>de</strong>r auffliegend <strong>und</strong> sich kreischend von neuem auf die Furchen werfend,<br />

21


um die Engerlinge zu picken. War das Feld dann durch pflügen <strong>und</strong> eggen genügend<br />

vorbereitet, so ging Vater als Säemann mit langen Schritten über das Feld <strong>und</strong><br />

streute mit weit <strong>aus</strong>holen<strong>de</strong>m Wurf die Samenkörner in die Er<strong>de</strong>. Manches Getrei-<br />

<strong>de</strong> säte er auch mit <strong>de</strong>r Drillmaschine, die von vier Pfer<strong>de</strong>n gezogen wur<strong>de</strong>. Als spä-<br />

ter <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>s Hackens erkannt war <strong>und</strong> wir eigene Hacker <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Osten dafür<br />

bekamen, die in Akkord die Flächen überhackten, hörte das Säen mit <strong>de</strong>r Hand völ-<br />

lig auf.<br />

So nahte <strong>de</strong>r Frühling allmählich. Einen nicht en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Jubel gab es, wenn die<br />

Störche wie<strong>de</strong>rkamen. " Der Storch ist da !, Der Storch ist da !" Und dann gab es<br />

meistens eine aufregen<strong>de</strong> Storchenschlacht, <strong>de</strong>nn die jungen Störche vom Vorjahr<br />

machten ihren Eltern das Nest streitig. Mit <strong>de</strong>n Schnäbeln hieben sie auf einan<strong>de</strong>r<br />

ein, <strong>und</strong> mit vorgestreckten Beinen <strong>und</strong> scharfen Krallen suchten die vier o<strong>de</strong>r fünf<br />

Störche sich gegenseitig <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Nest zu vertreiben. Während<strong>de</strong>s stan<strong>de</strong>n wir un-<br />

ten beisammen <strong>und</strong> sangen: "Habt ihr es noch nicht vernommen? - auf <strong>de</strong>m Dache<br />

sitzt er schon !"<br />

Wenn <strong>de</strong>r erste Kuckucksruf erscholl, war auch das ein freudiges Ereignis <strong>und</strong> wir<br />

sangen unser " Kuckuck, Kuckuck, ruft's <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Wald ". - Die Schwalben kehrten<br />

zurück <strong>und</strong> bauten ihre Nester unter <strong>de</strong>n Balken in <strong>de</strong>r Sü<strong>de</strong>rlucht, <strong>de</strong>r Diele, <strong>de</strong>r<br />

Scheunendiele <strong>und</strong> unter <strong>de</strong>n Dächern außerhalb <strong>de</strong>r Gebäu<strong>de</strong>. Wenn sie später ih-<br />

re Jungen fütterten <strong>und</strong> vier o<strong>de</strong>r fünf Schnäbelchen sich <strong>aus</strong> <strong>de</strong>n Nestern her-<br />

<strong>aus</strong>reckten, so konnten wir <strong>de</strong>n Fleiß <strong>de</strong>r Eltern nicht genug bew<strong>und</strong>ern. Im Laufe<br />

<strong>de</strong>s Frühlings bekamen unsere vier Stuten ihre Fohlen. Vater <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Oberstknecht wach-<br />

ten vorher bei <strong>de</strong>m betreffen<strong>de</strong>n Muttertier. Unsere erste Frage war stets: " Ist es ein<br />

Stutfohlen o<strong>de</strong>r ein Hengstfohlen ?" Wir liefen in die Scheune, um zu sehen, ob es weiße<br />

Füße, einen Stern o<strong>de</strong>r eine Blesse hatte - Auch in Schweine- <strong>und</strong> im Kälberstall gab es<br />

Nachwuchs, <strong>und</strong> die Schafe bekamen ihre niedlichen Lämmer. Derweil legten unsere Hühner<br />

fleißig Eier. Mutter setzte 7 - 8 Glucken.<br />

Wenn das Gras hoch genug war, wur<strong>de</strong> alles Vieh hin<strong>aus</strong>getrieben. Das Jungvieh wur<strong>de</strong> zum<br />

Böl gebracht, ein Teil sogar nach Arensch, um dort <strong>de</strong>n Sommer über am Außen<strong>de</strong>ich zu wei-<br />

<strong>de</strong>n. Die Kälber, die in ihrem Leben noch nie draußen gewesen waren, mußten einzeln am<br />

Strick von <strong>de</strong>r Scheune bis auf die Wei<strong>de</strong> gezogen wer<strong>de</strong>n, wobei sie possierliche Sprünge<br />

machten <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Knecht <strong>de</strong>r sie zog hin -<strong>und</strong> her rissen. Sie fielen <strong>aus</strong> Unverstand <strong>und</strong> Un-<br />

kenntnis auf <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> oft in einen Graben <strong>und</strong> mußten wie<strong>de</strong>r her<strong>aus</strong>gezogen wer<strong>de</strong>n.<br />

Das Aufregendste war es für uns Kin<strong>de</strong>r, wenn Vater ein dreijähriges junges Pferd an die<br />

Longe nahm. Dann durften wir nicht auf die Sü<strong>de</strong>r-Hofstelle, son<strong>de</strong>rn nur vom Fenster <strong>aus</strong><br />

zusehen. Vater stand in <strong>de</strong>r Mitte <strong>und</strong> hatte an einem sehr sehr langen Tau das junge Pferd,<br />

das er mit s<strong>einer</strong> langen Peitsche antrieb. Es mußte immer im Kreis herumlaufen <strong>und</strong> riß Va-<br />

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ter dabei manchmal hin <strong>und</strong> her. So ging es 1-2 St<strong>und</strong>en lang, bis das junge unbändige Tier<br />

erschöpft war, nicht mehr um sich schlug, <strong>und</strong> sich Geschirr anlegen ließ. Es wur<strong>de</strong> dann mit<br />

einem alten ruhigen Ackerpferd vor die Egge gespannt, wobei es sich an die Stränge gewöh-<br />

nen mußte <strong>und</strong> so lernte, auf <strong>de</strong>m Acker zu gehen <strong>und</strong> zu ziehen.<br />

Im Sommer fuhr Vater unentwegt Tag für Tag das Getrei<strong>de</strong> in die Scheune. Unsere vier<br />

Tagelöhner, Heinrich Dreier als Vorschnitter, hatten die Fel<strong>de</strong>r gemäht; die drei Bin<strong>de</strong>jun-<br />

gens hatten die Garben geb<strong>und</strong>en, wobei <strong>de</strong>r Schweinejunge einen Mäher <strong>und</strong> die Dienstjun-<br />

gens 1 ½ Mäher bin<strong>de</strong>n mußten.<br />

Abends packte Mutter für die Mäher <strong>de</strong>n großen Korb mit <strong>de</strong>m Brotbeutel, <strong>de</strong>r Butterdose,<br />

<strong>de</strong>n Bierlecheln <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Tischtuch. Der Vorschnitter trug am an<strong>de</strong>ren Morgen um 3 Uhr <strong>de</strong>n<br />

Korb, <strong>de</strong>r zweite Schnitter <strong>de</strong>n über einen Stock gesteckten Tisch, <strong>und</strong> die Jungens die<br />

Sitzböcke. Dann begann die Arbeit auf <strong>de</strong>m Fel<strong>de</strong>. Um 7 Uhr brachte die Köksch die<br />

Hauptmahlzeit, bestehend <strong>aus</strong> frisch gekochten Klößen, Rauchfleisch <strong>und</strong> vielem Fett. Mit-<br />

tags um 12 Uhr bekamen die Mäher auf <strong>de</strong>m Feld dann wie<strong>de</strong>r eine Schale voll Pfannkuchen,<br />

gesüßtes Bier, Weichkäse <strong>und</strong> Erntebrot. Abends um 6 kamen sie ins H<strong>aus</strong>, um <strong>de</strong>r großen<br />

Pfanne voll gebratener Klöße, Brot <strong>und</strong> Kaffee wacker zuzusprechen. Es war Sitte, daß die<br />

Mäher sich auf die Diele in <strong>de</strong>r Scheune setzten. Ihre Familien durften auf <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn<br />

nachsammeln, worüber, <strong>de</strong>r Vorschnitter wachte.<br />

Das Einfahren war für uns Kin<strong>de</strong>r ein großes Ereignis. Wir fuhren mit <strong>de</strong>m leeren Wagen<br />

aufs Feld. Vom vierten Lebensjahr an konnten <strong>und</strong> mußten wir Hocken treiben, d.h. von ei-<br />

nem Hocken zum an<strong>de</strong>ren weiterfahren, während Vater ein Oberknecht die vollen Garben<br />

auf die Wagen reichten. Ich erinnere mich, wie einmal, als es nachts nicht getaut hatte,<br />

Vater um 4 Uhr morgens meinen kleinen vierjährigen Bru<strong>de</strong>r Ernst <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Bett holte, da-<br />

mit er Hocken triebe. Der Junge saß unentwegt bis abends auf <strong>de</strong>m Pferd, schließlich so<br />

mü<strong>de</strong>, daß es manchmal hieß: " Junge, paß auf, du fährst zu dicht an die Hocken heran ! " Als<br />

dann um 7 Uhr abends das letzte Fu<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Tages auf <strong>de</strong>n Hof kam, sagte Mutter : " Mein<br />

kl<strong>einer</strong> Ernst, mein kl<strong>einer</strong> Junge - er muß ja essen <strong>und</strong> ins Bett !" Aber seine bloßen Ärm-<br />

chen waren in <strong>de</strong>r Sonnenglut <strong>de</strong>rart aufgequollen <strong>und</strong> verbrannt, daß Mutter die kurzen Är-<br />

mel seines Kittels <strong>und</strong> seines Hem<strong>de</strong>s aufschnei<strong>de</strong>n mußte.<br />

Unser H<strong>aus</strong>besuch tummelte sich unter<strong>de</strong>ssen auf <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn, saß auf <strong>de</strong>m Bin<strong>de</strong>l-<br />

baum <strong>und</strong> schaukelte sich dort, pflückte Muthen <strong>und</strong> gelbe Storchblumen, <strong>und</strong> beobach-<br />

tete, wie die Störche sich die Frösche <strong>aus</strong> <strong>de</strong>n Gräben holten.<br />

Beim Einfahren wur<strong>de</strong> immer mit drei Wagen gefahren, so daß ein Wagen auf <strong>de</strong>m Fel<strong>de</strong><br />

aufgela<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, ein volles Fu<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r ein leerer Wagen unterwegs waren, <strong>und</strong> ein Wagen<br />

in <strong>de</strong>r Scheune abgela<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>. Wenn Vater dann mit einem vollen Fu<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Veranda,<br />

in <strong>de</strong>r Mutter an <strong>de</strong>r Nähmaschine saß, vorbeifuhr <strong>und</strong> fröhlich die Peitsche schwang, so<br />

war das schon ein Erntedank. Oft hatte Vater eins <strong>de</strong>r kleinen Geschwister vor sich auf<br />

<strong>de</strong>m Pferd, <strong>und</strong> so lernten wir, ob Junge o<strong>de</strong>r Mädchen, reiten. Dadurch konnten wir mit<br />

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4 Jahren als Hockentreiber helfen.<br />

Eines von uns älteren Kin<strong>de</strong>rn mußte auf <strong>de</strong>m Fel<strong>de</strong> nachharken; die an<strong>de</strong>ren sorgten dafür,<br />

daß die Harkels stramm unter das Dach getreten wur<strong>de</strong>n. Wie stolz waren wir, wenn wir<br />

nach Kräften mit Vater zusammenarbeiteten!<br />

Allmählich war alles Getrei<strong>de</strong> herein, <strong>und</strong> Weizenhahn stand bevor. Wir Kin<strong>de</strong>r schmückten<br />

die Leutestube mit vielen Sträußen <strong>und</strong> Kränzen. Das Laub <strong>de</strong>r Spargel mit <strong>de</strong>n vielen klei-<br />

nen roten Beeren, das Grün <strong>de</strong>r Koniferen, eine Fülle von Astern, Georginen <strong>und</strong> weißen <strong>und</strong><br />

roten Phlox-Blüten ergaben eine leuchtend bunte Fülle. An je<strong>de</strong>m Schapp, wo hinter <strong>de</strong>r<br />

dreifach aufgenagelten Aalhaut sonst die Messer, Gabeln <strong>und</strong> Löffel <strong>de</strong>r Knechte steckten,<br />

waren jetzt große Sträuße angebracht. Mutter buk <strong>de</strong>n ganzen Nachmittag in zwei Pfannen<br />

mit Schweineschmalz die vielen Bratenklöße für uns <strong>und</strong> die Leute, während im Waschkessel<br />

nebenan die Hühnersuppe für alle kochte. Auf je vier Personen wur<strong>de</strong> ein fettes Suppen-<br />

huhn o<strong>de</strong>r ein Hahn gerechnet, <strong>und</strong> abends schmeckte die Suppe mit Reis, abgekochten Ro-<br />

sinen <strong>und</strong> vielen kleinen Fleischklößen allen herrlich. Festlich angezogen <strong>und</strong> mit einem Geld-<br />

geschenk von Vater bedacht, saßen die Tagelöhner <strong>und</strong> Knechte in <strong>de</strong>r Bons. Je<strong>de</strong>r hatte<br />

sein Weinglas vor sich, <strong>und</strong> lange Pfeifen <strong>und</strong> Tabak machten es gemütlich. Vater <strong>und</strong> Mutter<br />

gingen während <strong>de</strong>s Essens in die Leutestube, um mit allen anzustoßen.<br />

Nach <strong>de</strong>m Essen <strong>und</strong> Danksagung für die gesegnete Ernte wur<strong>de</strong> im Garten ein kleines Feu-<br />

erwerk gemacht, <strong>de</strong>m die Leute <strong>und</strong> wir begeistert zusahen. Die Tagelöhner nahmen ihre<br />

Kränze mit nach H<strong>aus</strong>e, <strong>und</strong> am nächsten Morgen erschienen ihre Frauen mit großen Henkel-<br />

töpfen o<strong>de</strong>r Eimern <strong>und</strong> Beuteln, um sich Hühnersuppe <strong>und</strong> Bratenklöße zu holen.<br />

Um dieselbe Zeit wie Weizenhahn wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Kirche das Erntedankfest gefeiert. Viel<br />

mehr als die Predigt dort machte es mir je<strong>de</strong>smal Eindruck, wenn Vater ein Stück<br />

Schwarzbrot in die Hand nahm <strong>und</strong> dabei sagte : " Meine Toni, Kin<strong>de</strong>r - dieses ist das<br />

erste Brot von <strong>de</strong>r neuen Ernte. Seht mal, wie schön es ist ! Wir haben jetzt wie<strong>de</strong>r für<br />

ein ganzes Jahr zu essen. Dem Herrgott sei Dank dafür !"<br />

So schön konnte es zwischen Aussaat <strong>und</strong> Ernte sein. Es gab aber auch Jahre, in <strong>de</strong>nen eine<br />

völlige Mißernte war. Es muß etwa 1887 gewesen sein, als ein <strong>de</strong>rartiger Regen tage-, wo-<br />

chen-, ja monatelang fiel, daß alles auf <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn verdarb. Das Heu war völlig unter Was-<br />

ser. Auf <strong>de</strong>n Wei<strong>de</strong>n stan<strong>de</strong>n unsere Kühe im Regen <strong>und</strong> gaben sehr viel weniger Milch.<br />

Hatte Vater sonst 320-340 Liter täglich an die Molkerei geliefert, so sank die<br />

Menge von Woche zu Woche, bis er schließlich nur noch 180 Liter liefern konnte.<br />

Es regnete... Die Hühner stan<strong>de</strong>n geduckt <strong>und</strong> klaterig unter <strong>de</strong>m Hol<strong>und</strong>erbusch.<br />

An <strong>de</strong>n Erdbeeren verfaulten die Früchte, ehe sie rot wer<strong>de</strong>n konnten. Von <strong>de</strong>n<br />

Kirschbäumen fielen die verfaulten Kirschen, ohne daß selbst die Spatzen sich an<br />

ihnen hätten laben können.<br />

24


Es regnete... Ich warf das Gras <strong>aus</strong>einan<strong>de</strong>r, wen<strong>de</strong>te es, brachte es in Walzen, brachte<br />

es in Haufen, machte es wie<strong>de</strong>r <strong>aus</strong>einan<strong>de</strong>r, schleppte alles in die Nähe <strong>de</strong>s Leestroms,<br />

weil dort vielleicht einmal ein Sonnenstrahl sein wür<strong>de</strong>. Es nützte alles nichts. Es regnete<br />

immer wie<strong>de</strong>r von neuem, <strong>und</strong> schließlich mußte ein Knecht mein ganzes Pflegegras mit ei-<br />

ner Karre in die Misten fahren. Es regnete so sehr, daß die Gräben überliefen <strong>und</strong> sogar<br />

das Korn teilweise im Nassen stand. We<strong>de</strong>r durch <strong>de</strong>n Leestrom, noch durch die Wetter<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>n Priel konnte Wasser abfließen. Das Land verseuchte.<br />

Vater hat in diesem Jahr nicht einen Wispel Korn verkauft. Das Korn war <strong>de</strong>rart<br />

min<strong>de</strong>rwertig, daß kein Müller, Bäcker o<strong>de</strong>r Kornhändler es nehmen wollte. Über-<br />

dies brauchten wir die geringe Ernte ja selbst, um uns <strong>und</strong> das Vieh durch <strong>de</strong>n<br />

Winter zu bringen. Nur mit Mühe gelang es, die Tiere mit <strong>de</strong>m wenigen Hafer-<br />

stroh, <strong>de</strong>n Runkelrüben <strong>und</strong> <strong>de</strong>m schlechten Getrei<strong>de</strong> durchzubringen. Aber nie-<br />

mals habe ich Vater klagen, murren o<strong>de</strong>r schelten gehört, wenn er sorgenvoll hin<br />

<strong>und</strong> her ging.<br />

Die Tagelöhner saßen in ihren Häusern <strong>und</strong> konnten nichts machen. Es regnete, reg-<br />

nete, regnete. Allmählich weichten die Strohdächer auf, <strong>und</strong> überall tropfte Was-<br />

ser hindurch. Mutter hatte viele Schüsseln, Eimer, Töpfe <strong>und</strong> Teller auf <strong>de</strong>n Bo-<br />

<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Hohen Bo<strong>de</strong>n <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Mehlbo<strong>de</strong>n gestellt, <strong>und</strong> mehrmals täglich mußte ich<br />

hinauf, um diese zu entleeren. Eines Morgens stürzte in <strong>de</strong>r Großen Kellerstube <strong>de</strong>r<br />

Gipsbaldachin herunter, <strong>und</strong> nur ein großer gelber Fleck von durchgetropftem<br />

Wasser blieb an <strong>de</strong>r Zimmer<strong>de</strong>cke zurück.<br />

Ein schlimmes Jahr. Ich erinnere mich an ein an<strong>de</strong>res, in <strong>de</strong>m wir unter großer Dür-<br />

re litten. Monatelang brannte die Sonne auf die Fel<strong>de</strong>r; das Korn wur<strong>de</strong> notreif;<br />

die Wei<strong>de</strong>n konnten nicht nachwachsen, sie sahen schließlich rot <strong>und</strong> verbrannt<br />

<strong>aus</strong>, <strong>und</strong> das Vieh hatte kein Futter. Als wir im Herbst zu irgend<strong>einer</strong> Familienfeier<br />

nach Nordleda fuhren, sahen wir überall das Vieh auf <strong>aus</strong>gebrannten Wei<strong>de</strong>n ste-<br />

hen. Die Gräben waren völlig <strong>aus</strong>getrocknet, <strong>und</strong> in großen Kübeln <strong>und</strong> Wannen war<br />

Wasser herangetragen wor<strong>de</strong>n, damit die Tiere nicht verdursteten. Die Maul- <strong>und</strong><br />

Klauenseuche hatte um sich gegriffen. Mit vereiterten Hufen <strong>und</strong> entzün<strong>de</strong>ten<br />

Mäulern stand das zu Skeletten abgemagerte Vieh <strong>und</strong> lief auf <strong>de</strong>n Wei<strong>de</strong>n durch-<br />

einan<strong>de</strong>r, weil kein trennen<strong>de</strong>r Wassergraben mehr die Grenze bil<strong>de</strong>te.<br />

Es war trostlos, <strong>und</strong> mancher Hof hat damals <strong>de</strong>n Besitzer gewechselt, weil die Fa-<br />

milie die vielleicht seit Generationen dort gewohnt, gearbeitet <strong>und</strong> geschafft, ih-<br />

ren Besitz nicht halten konnte.<br />

25


Eine an<strong>de</strong>re Gefahr, neben <strong>de</strong>r häufigen Auswinterung <strong>de</strong>s Roggens <strong>und</strong> Weizens,<br />

bil<strong>de</strong>ten die Mäuse. Hatten wir einen mil<strong>de</strong>n Winter gehabt, so hatten sich die<br />

Feldmäuse <strong>de</strong>rart vermehrt, daß sie große Flächen <strong>de</strong>s Wintergetrei<strong>de</strong>s leerfraßen<br />

<strong>und</strong> verwüsteten. Wir mußten dann alle mit Giftweizen, <strong>de</strong>n es für teures Geld in<br />

<strong>de</strong>r Apotheke gab, über die Fel<strong>de</strong>r gehen <strong>und</strong> mit einem Löffel in je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r vielen<br />

vielen Mäuselöcher Giftweizen streuen. Gustav Frenssen schreibt in seinem " Jörn<br />

Uhl ", wie durch die Mäuseplage ein Besitzer im Schleswig-Holsteinischen seinen<br />

Hof verlor.<br />

Gut daß solche Katastrophenjahre die Ausnahme bil<strong>de</strong>ten ! Die meisten Sommer be-<br />

hielten wir Kin<strong>de</strong>r in schönster Erinnerung.<br />

Das Backh<strong>aus</strong> <strong>und</strong> seine Freu<strong>de</strong>n<br />

Das einzige nicht mit Stroh, son<strong>de</strong>rn mit Ziegeln be<strong>de</strong>ckte Gebäu<strong>de</strong> unseres Hofes war das<br />

Backh<strong>aus</strong>. Es war daher auch mit Dachrinnen versehen, in <strong>de</strong>nen das Regenwasser aufgefan-<br />

gen wur<strong>de</strong>, das dann durch mehrere dicke Filterschichten in <strong>de</strong>n Wasserkeller lief. Von dort<br />

wur<strong>de</strong> es mit <strong>einer</strong> Pumpe heraufgezogen, zur Verwendung für unsere Waschtische, zum<br />

Bierbrauen, manchmal auch für die große Wäsche.<br />

Trat man in das Backh<strong>aus</strong>, so fiel <strong>de</strong>r Blick sogleich auf <strong>de</strong>n Backofen. In ihm wur<strong>de</strong> altes<br />

Holz von Stackwerken usw. verfeuert. Vater hatte oft Mühe, die nötige Hitze zu erzielen.<br />

Ich sah gern zu, wenn er mit <strong>einer</strong> langen Eisenstange die Glut gleichmäßig verteilte. ( Einige<br />

Jahre war neben <strong>de</strong>m Backofen ein kl<strong>einer</strong> Räucherofen für Aale, die Onkel Otto in Reusen<br />

fing. )<br />

Es wur<strong>de</strong> immer dann gebacken, wenn das Schwarzbrot zu En<strong>de</strong> ging. Alle 14 Tage im Som-<br />

mer, alle 3 Wochen im Winter herrschte Hochbetrieb. Nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Schwarzbrotteig in<br />

<strong>de</strong>m großen Trog gesäuert <strong>und</strong> mit dicken Kissen zuge<strong>de</strong>ckt war, wur<strong>de</strong>n die Brote am Back-<br />

tag nach gehörigem Kneten <strong>aus</strong>gerollt. Das war keine kleine Arbeit für die Köksch.<br />

In <strong>de</strong>r Mangelstube, wo die große Wäschemangel stand, wur<strong>de</strong> das f<strong>einer</strong>e Gebäck gemacht.<br />

Mutter bereitete schon in aller Morgenfrühe <strong>de</strong>n Teig für Zwiebäcke, Weißbrot, groben<br />

Stuten <strong>und</strong> Feinbrot, <strong>und</strong> stellte ihn warm. Die Zwiebäcke wur<strong>de</strong>n dann morgens <strong>aus</strong>gerollt<br />

<strong>und</strong> zum Aufgehen in das Gestell über <strong>de</strong>m kleinen Ofen geschichtet. Dann formte Mutter<br />

die vielen groben <strong>und</strong> feinen Stuten, die bei<strong>de</strong> <strong>aus</strong> Weizenmehl bestan<strong>de</strong>n, während das<br />

Feinbrot <strong>aus</strong> ganz fein durchgesiebtem Roggenmehl gebacken wur<strong>de</strong>.<br />

Je<strong>de</strong>smal wur<strong>de</strong>n außer<strong>de</strong>m viele Kuchen gebacken, für festliche Gelegenheiten auch immer<br />

mehrere Schichttorten. Das Rezept dazu lautete: 1 Pf<strong>und</strong> Mehl, 1 Pf<strong>und</strong> Zucker, ½ Pf<strong>und</strong><br />

Butter, 9 Eier. Blitzkuchen wur<strong>de</strong>n in <strong>einer</strong> Kuchenform gebacken. Das Losschnei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Ku-<br />

chen lockte uns nicht nur wegen <strong>de</strong>s feinen Duftes, son<strong>de</strong>rn auch weil wir von je<strong>de</strong>r Sorte<br />

einen probieren durften.<br />

26


Zu Fastnacht gab es abends nichts weiter als durchgeschnittene Zwiebackstuten, die mit<br />

geschmolzener Butter übergossen <strong>und</strong> dick mit Zucker <strong>und</strong> Zimt bestreut wur<strong>de</strong>n. Die Butter<br />

stand geschmolzen auf einem <strong>de</strong>r hübschen messingnen Komforts.<br />

Weihnachten war immer mit <strong>einer</strong> beson<strong>de</strong>rs großen Back verknüpft. Schon drei Wochen<br />

vorher hatte Mutter <strong>de</strong>n fettreichen Teig mit entsprechen<strong>de</strong>n Gewürzen, Hirschhornsalz<br />

<strong>und</strong> Pottasche angesetzt, damit er von allen Gewürzen gut durchzogen war. Am Tage vor<br />

<strong>de</strong>m Backen wur<strong>de</strong>n dann die vielen vielen Braunen Kuchen mit kleinen Formen <strong>aus</strong>gestochen.<br />

Wir Kin<strong>de</strong>r stan<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>s in einem reinen weißen Nachthemd, das über das Winterzeug ge-<br />

zogen war, um <strong>de</strong>n großen Tisch herum, <strong>und</strong> je<strong>de</strong>r durfte mit seinem Teig Formen nach Be-<br />

lieben machen. Die Wursternüsse schnitt Mutter selbst; je<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> in Hagelzucker ge-<br />

drückt. In <strong>de</strong>n weißen Kuchen kamen viele kleingehackte Man<strong>de</strong>ln, die wir am Tage vorher<br />

<strong>aus</strong>gekernt hatten. Die kleinen grauen Nüsse, heiß mit viel Sirup angemacht, wur<strong>de</strong>n in <strong>einer</strong><br />

Fülle von Mehl gewälzt. - Mir schmeckten die angebrannten Kuchen am besten, teils <strong>de</strong>s pi-<br />

kanten Geschmackes wegen, teils weil ich davon mehr probieren durfte als von <strong>de</strong>n gut gera-<br />

tenen Kuchen, die zunächst in verschie<strong>de</strong>nen Gefäßen verschwan<strong>de</strong>n.<br />

Im Backh<strong>aus</strong> gab es für uns Kin<strong>de</strong>r mancherlei Interessantes. Eine Treppe führte zum Bo-<br />

<strong>de</strong>n hinauf. Auf halber Höhe war die Darre, auf <strong>de</strong>r die Gerste zum Bierbrauen gedarrt wur-<br />

<strong>de</strong>. Die Darre war ein riesiges kupfernes Sieb. Auf dieses wur<strong>de</strong> sackweise die Gerste ge-<br />

schüttet <strong>und</strong> mit <strong>einer</strong> Gießkanne immer wie<strong>de</strong>r angefeuchtet. Darunter brannte ein mäßiges<br />

Feuer, so daß stets ein f<strong>einer</strong> Duft über <strong>de</strong>r Darre schwebte. Im großen Braukessel wur<strong>de</strong>n<br />

Hopfen <strong>und</strong> Malz bis zum Kochen gebracht, dann in einen Kübel gefüllt, bei <strong>einer</strong> bestimmten<br />

Temperatur mit Hefe angesetzt, <strong>und</strong> später in die schräg liegen<strong>de</strong>n Tonnen im Keller gefüllt.<br />

- Im Winter brauten wir etwa alle 3-4 Wochen, im Sommer, wenn viel Bier auf <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn<br />

getrunken wur<strong>de</strong>, etwa alle 8 Tage.<br />

Auf <strong>de</strong>m Kornbo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Backh<strong>aus</strong>es diente die größte Fläche <strong>de</strong>r Getrei<strong>de</strong>lagerung. In ei-<br />

ner Ecke stan<strong>de</strong>n hier noch die Geräte für die Flachsbearbeitung : Spin<strong>de</strong>l, Spuler, Hechel,<br />

Rechen, Spinnrä<strong>de</strong>r usw., die Mutter uns erklärte. Im ersten Jahr ihrer Ehe hatte sie, um<br />

<strong>de</strong>n ganzen landwirtschaftlichen Betrieb von Gr<strong>und</strong> auf kennenzulernen, noch einmal Flachs<br />

anbauen lassen.<br />

Die Verzauberung, die zur Weihnachtszeit mit <strong>de</strong>m Backh<strong>aus</strong> vor sich ging, wenn <strong>de</strong>r Ku-<br />

chenduft durch die Türspalten drang, wur<strong>de</strong> in Ausnahmejahren noch dadurch erhöht, daß<br />

auch draußen alles wie verzaubert war. Dann hatte <strong>de</strong>r Winter mit starkem Schneefall ein-<br />

gesetzt, <strong>und</strong> alles lag wie in weicher Watte da. Konnte es herrlicher sein? Ein Schneemann<br />

wur<strong>de</strong> gemacht. Mutter half uns dabei, so daß er einen richtigen Hut <strong>aus</strong> einem alten Korb<br />

<strong>und</strong> Augen <strong>aus</strong> schwarzen Steinkohlen bekam. Natürlich mußte er auch einen Besen im Arm<br />

halten, gera<strong>de</strong> so, wie es in Speckter's Fabeln stand.— Am an<strong>de</strong>ren Morgen trieb es uns<br />

gleich wie<strong>de</strong>r hin<strong>aus</strong>, um von unserem H<strong>aus</strong>berg hinunterzuro<strong>de</strong>ln. Hei, wie flog unsere<br />

27


Krecke ! Wenn wir nach solchem Vergnügen erschöpft, aber mit leuchten<strong>de</strong>n Augen ins<br />

H<strong>aus</strong> kamen, taten wir feinen weißen Schnee in unsere Becher, <strong>und</strong> Mutter goß uns Him-<br />

beersaft darüber.<br />

Jubel um Ostern, Pfingsten, Weihnachten<br />

Nach Sturm <strong>und</strong> Hagel kam endlich das liebe Osterfest heran. Mutter hatte genug Eier ge-<br />

sammelt, so daß sie für je<strong>de</strong>n unserer Leute abends 10 Stück kochen konnte. Mancher von<br />

<strong>de</strong>n Dienstjungens aß sie gleich an einem Abend auf, wogegen an<strong>de</strong>re sie sich lange aufbe-<br />

wahrten. Wir selbst aßen meistens drei bis vier Eier am Osterabend <strong>und</strong> setzten diese Tä-<br />

tigkeit am nächsten Morgen fort. Schon lange vorher hatten wir Nester <strong>aus</strong> Moos gemacht,<br />

in <strong>de</strong>nen Vater <strong>und</strong> Mutter kleine <strong>und</strong> größere Zuckereier <strong>und</strong> buntgefärbte Hühnereier ver-<br />

steckten. Das gab dann nachmittags ein lustiges, eifriges Suchen in <strong>de</strong>n Gebüschen, hinter<br />

<strong>de</strong>n Bäumen, im Buchsbaum, <strong>und</strong> wo sich sonst ein Versteck bot. Abends ging Mutter mit uns<br />

auf das Sü<strong>de</strong>r-Triftstück, von wo <strong>aus</strong> wir die vielen Osterfeuer beobachten konnten, die in<br />

<strong>de</strong>r Nachbarschaft <strong>und</strong> auf <strong>de</strong>n Altenwal<strong>de</strong>r Höhen angezün<strong>de</strong>t waren. Wir sangen dann mit<br />

Mutter all die schönen Lie<strong>de</strong>r vom Mond <strong>und</strong> von <strong>de</strong>n Sternen. Ehe es zu Bett ging, bekamen<br />

wir als etwas ganz Beson<strong>de</strong>res ein Gläschen Apfelsinensaft zu trinken.<br />

Die Zeit von Ostern bis Pfingsten verging immer schnell. Dafür sorgte schon <strong>de</strong>r Flecken-<br />

markt, <strong>de</strong>r 8 Tage vor <strong>de</strong>m Fest im Flecken Ritzebüttel abgehalten wur<strong>de</strong>. Dieses Volksfest<br />

dauerte drei Tage. Wir Schulkin<strong>de</strong>r hatten in <strong>de</strong>r Woche vorher schon beobachtet, wie auf<br />

unserem Spielplatz zwischen <strong>de</strong>r Schule, <strong>de</strong>r Kirche, <strong>de</strong>m Spritzenh<strong>aus</strong> <strong>und</strong> Beckmann's Hof,<br />

von <strong>de</strong>m meine Großmutter stammte, die Karussells <strong>und</strong> Schaubu<strong>de</strong>n aufgebaut wur<strong>de</strong>n. Nun<br />

war es soweit!<br />

Mit etwas Geld von Vater, Mutter, Onkel Otto <strong>und</strong> Tante Tine durften wir um 2 Uhr hinge-<br />

hen. Zuerst besahen wir die großen blutigroten Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Mordgeschichten, die an <strong>einer</strong> zur<br />

Apotheke führen<strong>de</strong>n Planke angenagelt waren. Dazu sangen ein Mann <strong>und</strong> zwei Frauen schau-<br />

erliche Lie<strong>de</strong>r, <strong>und</strong> das Publikum stimmte mit ein. - Dann ging es die Sü<strong>de</strong>rsteinstraße ent-<br />

lang, die eigentlich immer nur die " Reyenstraße " genannt wur<strong>de</strong>, weil hier das große Kauf-<br />

h<strong>aus</strong> von Mutters Eltern lag. Auf dieser Straße gab es unglaublich schöne Spielzeug- <strong>und</strong><br />

Kuchenbu<strong>de</strong>n; in <strong>de</strong>r Bu<strong>de</strong> für Schmalzgebackenes kauften wir uns einen warmen Stern.<br />

Endlich gelangten wir zu Onkel Ferdinands <strong>und</strong> Tante Mathil<strong>de</strong>s Wohnung. Bei dieser älte-<br />

ren Schwester unseres Vaters waren wir stets am ersten Markttag eingela<strong>de</strong>n, zum Kaf-<br />

feetrinken <strong>und</strong> um unsere Sachen dort abzulegen. Die extra mitgebrachten Pfennige waren<br />

wir schon längst bei <strong>de</strong>n vielen Drehorgelmännern losgewor<strong>de</strong>n, die an je<strong>de</strong>r Ecke saßen, ihre<br />

Krücken neben sich, <strong>und</strong> ihren zerschlissenen Hut zum Empfang <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s auf <strong>de</strong>n Drehor-<br />

gelkasten gelegt hatten. Onkel Julius hatte aber einmal beobachtet, wie ein Drehorgelmann<br />

seine hölzernen Beine abschnallte <strong>und</strong> auf zwei ganz ges<strong>und</strong>en Beinen nach H<strong>aus</strong>e ging.<br />

28


Auf <strong>de</strong>m Fleckenmarkt kauften wir immer etwas, das wir unserer Mutter mitbringen wollten.<br />

Die Beratung über diesen Gegenstand hatte uns Kin<strong>de</strong>r schon Wochen vorher lebhaft be-<br />

schäftigt. Einmal kauften wir einen schönen Hut; ich glaube, sie hat ihn am nächsten Tag<br />

wie<strong>de</strong>r umget<strong>aus</strong>cht.<br />

Nach <strong>de</strong>m Kauf <strong>de</strong>s Geschenks für Mutter zog ich allein wie<strong>de</strong>r los, ging zu <strong>de</strong>n Karussells, sah<br />

nach, wer <strong>de</strong>n Ring <strong>aus</strong>stach <strong>und</strong> dafür ohne Bezahlung fahren durfte, <strong>und</strong> hörte mir das Ge-<br />

klingel <strong>und</strong> Gedu<strong>de</strong>l an. Ich konnte nicht selbst Karussell fahren, weil mir schwin<strong>de</strong>lig wur<strong>de</strong>.<br />

Um so mehr Zeit hatte ich, vor <strong>de</strong>n Schaubu<strong>de</strong>n zu stehen. Aber um 4 Uhr mußte ich unbe-<br />

dingt vor <strong>de</strong>m Pulcinella-Kasten <strong>de</strong>s Kasperle stehen. Eine Menge Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Erwachsene waren<br />

dort schon versammelt, aber Kasperle war noch nicht zu sehen. Er rief nur von innen <strong>aus</strong><br />

seinem Kasten her<strong>aus</strong> : " Sünd ji all dor ?" Antwort : " Jo, fang man an !" Nach einiger Zeit<br />

wie<strong>de</strong>r : " Sünd ji wirklich alltosammen dor? " - " Jo, bring <strong>de</strong>n Düwel mit <strong>und</strong> sin Großmut-<br />

ter !" brüllte <strong>de</strong>r ganze Jungenchor. Schließlich ließ sich <strong>de</strong>r Kasper sehen. Dann kam <strong>de</strong>r<br />

Teufel <strong>und</strong> erhielt sofort tüchtig Prügel, so daß die Trod<strong>de</strong>l an Kaspers langer bunter Zip-<br />

felmütze nur so hin <strong>und</strong> her flog. Auch die Großmutter mit <strong>einer</strong> riesigen Nachthaube stellte<br />

sich <strong>de</strong>m Publikum vor. " Du hest <strong>de</strong>n dicken, swatten Pu<strong>de</strong>l noch vergeten " rief <strong>de</strong>r Jungen-<br />

schwarm. Der H<strong>und</strong> erschien dann <strong>und</strong> zerrte <strong>de</strong>r Großmutter die Haube vom Kopf. Das nun<br />

folgen<strong>de</strong> Spiel wur<strong>de</strong> dirigiert vom Appl<strong>aus</strong> <strong>de</strong>r Zuschauer, die je<strong>de</strong> Prügelszene mit lautem<br />

Gejohle begleiteten.<br />

Am zweiten Tag ging Mutter mit uns zum Markt. Wir waren dann bei ihrem Bru<strong>de</strong>r Onkel Juli-<br />

us <strong>und</strong> Tante Elise zum Kaffee eingela<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> stets stand ein großer Teller mit Korinthen-<br />

brötchen bereits auf <strong>de</strong>m Tisch. Ich trieb mich <strong>de</strong>n ganzen Nachmittag auf <strong>de</strong>m Markt<br />

herum, bis gegen Abend Onkel Otto mit allen die sich bei dieser Gelegenheit zur Reye-<br />

Familie rechneten, einen R<strong>und</strong>gang durch sämtliche Schaubu<strong>de</strong>n machte.<br />

In <strong>einer</strong> <strong>de</strong>r Bu<strong>de</strong>n konnte man durch Gucklöcher ein richtiges Bergwerk in Betrieb sehen ! In<br />

<strong>einer</strong> an<strong>de</strong>ren bezahlte Onkel Otto für je<strong>de</strong>n einen Groschen, damit wir ein doppeltes Kalb<br />

bestaunen konnten. In noch <strong>einer</strong> an<strong>de</strong>ren Bu<strong>de</strong> ließ sich eine Riesendame sehen, o<strong>de</strong>r ein<br />

Schlangenbändiger <strong>und</strong> ein Feuerfresser zeigten unter atemlosen Zuschauen von uns Kin-<br />

<strong>de</strong>rn ihre Kunststücke. Ein Frauenzimmer hatte sich über <strong>und</strong> über Hals, Brust <strong>und</strong> Arme<br />

tätowiert. Das mußte ja entsetzlich weh getan haben, <strong>de</strong>nn unser Dienstjunge Heinrich<br />

Hardler hatte auf seinem Arm doch nur einen tätowierten Anker, <strong>und</strong> er sagte, daß es sehr<br />

weh täte, wenn man mit glühen<strong>de</strong>n Na<strong>de</strong>ln so ein Muster in die Haut piekt.<br />

Am Dienstagvormittag ging man dann noch einmal zum Markt, weil dann alles etwas billiger<br />

war. So erstand ich für 20 Pfennig ein Stück Schmutt-Aal. Mein Bru<strong>de</strong>r Ernst hat einmal am<br />

ersten Markttag für sein ganzes Geld einen dicken Schmutt-Aal gekauft <strong>und</strong> diesen sofort<br />

auf <strong>de</strong>r Straße verzehrt.<br />

Wenn die Marktbu<strong>de</strong>n abgebrochen waren, dann war auch schon beinahe Pfingsten. Am<br />

29


Nachmittag <strong>de</strong>s 1. Feiertages besah Mutter mit uns die Bil<strong>de</strong>rbibel, <strong>und</strong> wenn ich mir unter<br />

Pfingsten gar nichts hätte vorstellen können, so verstand ich seinen Sinn doch nach <strong>de</strong>m<br />

w<strong>und</strong>ervollen Bild von Schnorr v. Carolsfeld. - Am Nachmittag <strong>de</strong>s 2. Pfingsttages waren wir<br />

dann meistens bei <strong>de</strong>n Verwandten in Nordleda.<br />

Ostern..., Pfingsten mit <strong>de</strong>m Fleckenfest... - am allerschönsten war doch Weihnachten !<br />

Wenn wir an <strong>de</strong>n Aben<strong>de</strong>n vorher die gelben, blauen, roten <strong>und</strong> grünen Tüten <strong>aus</strong> Glanzpapier<br />

geklebt hatten, die langen Strohketten mit buntem Papier aufgeschnürt <strong>und</strong> die Netze für<br />

Walnüsse <strong>aus</strong>geschnitten waren, konnte es losgehen. - Unsere Wunschzettel waren beschei-<br />

<strong>de</strong>n <strong>und</strong> bezogen sich auf nützliche <strong>und</strong> nötige Dinge, aber einen speziellen kleinen Wunsch<br />

schrieben wir doch je<strong>de</strong>r auf.<br />

Am Vormittag <strong>de</strong>s 24. zog es uns Kin<strong>de</strong>r nach Ritzebüttel, um dort in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>n-<br />

sten Lä<strong>de</strong>n einzukaufen. Mutter hatte mit ihren Einkäufen für <strong>de</strong>n H<strong>aus</strong>halt bis zu diesem<br />

Tag warten müssen, <strong>de</strong>nn in je<strong>de</strong>m La<strong>de</strong>n bekam je<strong>de</strong>s Kind als Zugabe einen großen Bil-<br />

<strong>de</strong>rbogen mit bunten Tieren o<strong>de</strong>r Soldaten, manchmal auch an<strong>de</strong>re kleine Bildchen.<br />

Endlich wur<strong>de</strong> es Abend. Da saßen wir dann singend in <strong>de</strong>r Wohnstube, in <strong>de</strong>r kein Licht<br />

gemacht wur<strong>de</strong>, bis unser Vater klingelte <strong>und</strong> wir auf die Große Kellerstube strömten,<br />

wo in strahlen<strong>de</strong>r Pracht <strong>de</strong>r Tannenbaum stand. Singend zogen wir alle um ihn herum,<br />

um schließlich an unsere einzelnen Plätze geführt zu wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> dort die Herrlichkeiten<br />

zu bestaunen. Auf <strong>de</strong>m Weihnachtstisch fehlte nie eine große Marzipantorte, die Onkel<br />

Wilhelm <strong>aus</strong> Hamburg geschickt hatte. Er bekam von dankbaren Patienten, die in <strong>de</strong>r Heil<br />

-<strong>und</strong> Pflegeanstalt Friedrichsberg Heilung gef<strong>und</strong>en hatten, so viele große Torten <strong>aus</strong><br />

echtem Lübecker Marzipan, daß er je<strong>de</strong>s Jahr allen sechs Geschwisterfamilien eine<br />

schenken konnte.<br />

Nach einiger Zeit im Familienkreis kamen unsere Leute herein. Wir führten sie zum<br />

Weihnachtsbaum <strong>und</strong> zeigten ihnen unsere Geschenke; Schlittschuhe für <strong>de</strong>n einen o<strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren von uns fehlten selten. Onkel Otto drückte je<strong>de</strong>m unserer Leute einen Taler in<br />

die Hand, <strong>und</strong> nach<strong>de</strong>m sich alle bedankt hatten, sagte Vater : " Kinners, nu geft <strong>de</strong> Peer<br />

en düchtige Schüffel voll Hower !" Die Tiere sollten auch Freu<strong>de</strong> haben am Weihnachts-<br />

fest.<br />

Schließlich wur<strong>de</strong> zum festlichen Aben<strong>de</strong>ssen gegangen, das wie immer <strong>aus</strong> Schweinskopf,<br />

Bruststück <strong>und</strong> Bratenklüten bestand. Bis 9 Uhr durften wir Kin<strong>de</strong>r aufbleiben, während<br />

Vater <strong>und</strong> Mutter gemütlich im Sofa saßen.<br />

Den Abschluß <strong>de</strong>r Weihnachtszeit bil<strong>de</strong>te für uns <strong>de</strong>r 30. Dezember. In <strong>de</strong>r Dämmerung<br />

kamen dann alle Tagelöhnerkin<strong>de</strong>r. Sie bew<strong>und</strong>erten mit uns die aufgebaute Krippe, tanzten<br />

singend mit uns um <strong>de</strong>n Weihnachtsbaum, <strong>de</strong>r dann gemeinsam geplün<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>. Viele Äp-<br />

fel <strong>und</strong> Kekenjes waren von neuem für sie an <strong>de</strong>n Baum gehängt wor<strong>de</strong>n. Die Jungens beka-<br />

30


men je<strong>de</strong>r ein Paar neue Holzschuhe <strong>und</strong> die Mädchen ein Hemd, das Mutter selbst genäht<br />

hatte.<br />

Sommerliche Ausfahrten in die Umgebung<br />

Der Sommer brachte fast an je<strong>de</strong>m Sonntag eine größere Ausfahrt. Mit einem o<strong>de</strong>r auch<br />

zwei Wagen, damit unser H<strong>aus</strong>besuch genügend Platz hatte, ging es gleich nach <strong>de</strong>m Mittag-<br />

essen los. Fahrziel war oft die Alte Liebe. Bei klarer Sicht konnten alle die gute Augen hat-<br />

ten, die jenseitige holsteinische Küste als schmale dunkle Linie sehen. Schiffe kamen <strong>und</strong><br />

gingen; ein großer Viermaster zog seine Bahn an Cuxhaven vorüber; kleine Ewer <strong>und</strong> Schu-<br />

ten huschten hin <strong>und</strong> her. Ein Schleppdampfer schleppte ein beschädigtes Schiff in <strong>de</strong>n Ha-<br />

fen, damit es auf Bufe's Werft repariert wür<strong>de</strong>. Fern am Horizont tauchte ein winziger<br />

Punkt auf, <strong>de</strong>r sich schließlich als Fahrzeug entpuppte: ein riesiger Viermastsegler, <strong>de</strong>r mit<br />

Waren <strong>aus</strong> fernen Län<strong>de</strong>rn kam. Gegenüber <strong>de</strong>r Alten Liebe setzte er eine Flagge. Auf die-<br />

ses Zeichen sprangen zwei Lotsen in die Lotsenjolle <strong>und</strong> steuerten zum Segler hinüber, <strong>de</strong>s-<br />

sen Bordwand <strong>de</strong>r eine Lotse gewandt erklomm.<br />

Das Gedicht " Siehst du die Brigg dort auf <strong>de</strong>n Wellen ?" kennt je<strong>de</strong>s Kind. Es spricht von<br />

<strong>de</strong>r Hingabe <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Lebenseinsatz <strong>de</strong>r Lotsen. Im Jahre 1824, als mein Urgroßvater Jacob<br />

Hinrich Benöhr noch Lotsenkomman<strong>de</strong>ur war, ist in <strong>einer</strong> Sturmnacht das Feuerschiff drau-<br />

ßen von s<strong>einer</strong> schweren Verankerung losgerissen <strong>und</strong> mit <strong>de</strong>r ganzen Besatzung von <strong>de</strong>n<br />

Wellen verschlungen wor<strong>de</strong>n.<br />

Ich stellte mich zu <strong>de</strong>n Lotsen, die in ihrem schweren Ölzeug, <strong>de</strong>n Südwester in <strong>de</strong>n Nacken<br />

geschoben, in <strong>de</strong>r einen Hand das Fernrohr, in <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren die kurze Pfeife haltend, ge-<br />

mächlich unter <strong>de</strong>m Vorbau <strong>de</strong>r Alten Liebe saßen. Je<strong>de</strong>s Schiff, das am Horizont auftauch-<br />

te, wur<strong>de</strong> gemustert, an <strong>de</strong>r Flagge festgestellt ob es ein Hollän<strong>de</strong>r, ein Amerikaner, Eng-<br />

län<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Franzose war, woher es kam <strong>und</strong> was es wohl gela<strong>de</strong>n haben mochte. Ich fragte<br />

die Lotsen, was es auf sich habe mit <strong>de</strong>m großen Ball auf <strong>de</strong>m Gerüst in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Alten<br />

Liebe. " Min Deern, dat will ick di seggen " - <strong>und</strong> dann machte er mir klar, daß in <strong>de</strong>m großen<br />

Ball Wasser ist, das durch die Sonnenstrahlen zum kochen gebracht wird <strong>und</strong> in <strong>de</strong>m dann<br />

mittags Klüten gekocht wer<strong>de</strong>n. " Schlag 12 sind die Klüten gar, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Ball fällt herunter !" -<br />

Wehe wenn man an die Lotsen eine dumme Frage richtet; sie spinnen viel Schifferlatein.<br />

Vater mahnte- zum Weiterfahren. Wir stiegen in unsere Wagen, fuhren durch <strong>de</strong>n Schlippen<br />

<strong>und</strong> dann auf <strong>de</strong>m Döser Strichweg an <strong>de</strong>r Wettern entlang, um zum Kalten Ba<strong>de</strong>h<strong>aus</strong> zu ge-<br />

langen. - Nur wenige Häuser stan<strong>de</strong>n hier an <strong>de</strong>r Straße. Meistens waren es strohge<strong>de</strong>ckte<br />

Gehöfte, <strong>de</strong>ren Wiesen sich weit <strong>aus</strong>breiteten, bis an <strong>de</strong>n Deich heran.<br />

Beim Kalten Ba<strong>de</strong>h<strong>aus</strong> wur<strong>de</strong> <strong>aus</strong>gespannt, <strong>und</strong> wir tranken gemütlich Kaffee in <strong>de</strong>m schönen<br />

Garten. Dann aber die Treppe hinauf auf <strong>de</strong>n Deich - oh diese Fernsicht! Himmel <strong>und</strong> Meer<br />

soweit das Auge reichte. Wir liefen bis an die Steinkisten, sammelten Muscheln <strong>und</strong> Seetang,<br />

31


glitschten <strong>aus</strong> <strong>und</strong> tummelten uns auf <strong>de</strong>m kurzen Gras <strong>de</strong>s Vor<strong>de</strong>ichs. - Weiter zur Kugel-<br />

bake ! Auf <strong>de</strong>m langen Steindamm, <strong>de</strong>r immer mehr von <strong>de</strong>r Flut umspült wur<strong>de</strong>, gingen wir<br />

bis zur nördlichsten Spitze, auf <strong>de</strong>r das riesige feste Gerüst stand - jenes Wahrzeichen,<br />

das gleich <strong>de</strong>n Leuchttürmen, <strong>de</strong>n Seetonnen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Feuerschiffen <strong>de</strong>n Seeleuten zur Ori-<br />

entierung dient.<br />

Ob zur Kugelbake o<strong>de</strong>r über Ritzebüttel <strong>und</strong> Stickenbüttel nach Duhnen - <strong>de</strong>r Aufenthalt<br />

am Meer war immer ein herrliches Erlebnis. - An einem an<strong>de</strong>ren Sonntag wur<strong>de</strong>n zwei Lei-<br />

terwagen mit Pfer<strong>de</strong>n bespannt. Es sollte eine Fahrt nach Arensch unternommen wer<strong>de</strong>n.<br />

Wir Kin<strong>de</strong>r saßen auf <strong>de</strong>n mit Stroh gestopften Säcken schön Rücken an Rücken. Über Holte<br />

<strong>und</strong> Spangen ging es in die Hei<strong>de</strong> hinein. Die Pfer<strong>de</strong> zogen in <strong>de</strong>n <strong>aus</strong>gefahrenen Spuren lang-<br />

sam dahin, während das Hei<strong>de</strong>kraut die Rä<strong>de</strong>r an bei<strong>de</strong>n Seiten hemmte.<br />

Arensch bestand <strong>aus</strong> vier Höfen, <strong>de</strong>ren Besitzer sämtlich Talmann hießen. Während die<br />

gastfreie Frau Talmann für uns alle Kaffee <strong>und</strong> Milch, Brot, Butter <strong>und</strong> köstlichen Hei<strong>de</strong>ho-<br />

nig bereitstellte, liefen wir Kin<strong>de</strong>r in die Schlafstube, um die vom Vorjahr her bekannte Se-<br />

henswürdigkeit erneut in Augenschein zu nehmen. Über <strong>de</strong>m sehr breiten Elternbett mit<br />

<strong>de</strong>n rot <strong>und</strong> blau gewürfelten Bezügen waren am Fußen<strong>de</strong> einige Krippen angebracht, in <strong>de</strong>nen<br />

die Kin<strong>de</strong>r schliefen. Eine <strong>de</strong>r Wiegen, in <strong>de</strong>r meist ein Kleines lag, war mit einem Strick ver-<br />

sehen, <strong>de</strong>r durch ein Loch in <strong>de</strong>r Wand in <strong>de</strong>n Kuhstall führte <strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen En<strong>de</strong> an <strong>de</strong>m<br />

Schwanz <strong>de</strong>r Kuh befestigt war, die dieser Wand am nächsten stand. Wenn die Kuh nun mit<br />

ihrem Schwanz hin <strong>und</strong> her schlug, wiegte sie das Kind.<br />

Zu <strong>de</strong>n schönsten Ausfahrten gehörte die zum Schützenfest, das einmal im Jahr stattfand<br />

<strong>und</strong> für das ganze Amt Ritzebüttel ein Hauptvergnügen bil<strong>de</strong>te. Die Schützengil<strong>de</strong> zog be-<br />

kränzt schon früh morgens durch die Straßen <strong>de</strong>s Fleckens Ritzebüttel, über <strong>de</strong>n Wester-<br />

wischweg nach <strong>de</strong>m " Busch ", d.h. nach <strong>de</strong>m kleinen Gehölz, das <strong>aus</strong> windschiefen Eichen,<br />

Erlen <strong>und</strong> Tannen bestand <strong>und</strong> das nach <strong>de</strong>m Amtmann Brockes <strong>de</strong>n Namen " Brockeswal<strong>de</strong> "<br />

erhielt.<br />

Mit zwei Wagen fuhren wir nachmittags mit unserem H<strong>aus</strong>besuch zum Busch, tranken in<br />

<strong>de</strong>r Gastwirtschaft Kaffee <strong>und</strong> gingen dann zum Schützenplatz, wo die Herren sich eifrig<br />

bemühten, durch Ringe zu schießen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Adler auf <strong>einer</strong> hohen Stange zu treffen. Wir<br />

besahen die vielen Geschenke <strong>und</strong> Gewinne, die die Schützen für das Abschießen eines Flü-<br />

gels, <strong>einer</strong> Klaue o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Krone auf <strong>de</strong>m Haupt <strong>de</strong>s Adlers erhielten. Zum Schluß steigerte<br />

sich die Spannung, wer <strong>de</strong>n letzten Schuß tun wür<strong>de</strong>, um dann zum König <strong>aus</strong>gerufen zu wer-<br />

<strong>de</strong>n. Auch Onkel Julius war es einmal, ein an<strong>de</strong>res Mal Onkel Otto. Unter lautem Tusch <strong>und</strong><br />

Hurra wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Schützenkönig bekränzt <strong>und</strong> zu Döschers Pavillon geführt, wo er mit sei-<br />

ner erwählten Königin die erste R<strong>und</strong>e tanzen mußte, ( ich sehe noch Onkel Otto, wie er zur<br />

Erheiterung sämtlicher Zuschauer in <strong>de</strong>m großen Pavillon herumhopste. ) Schließlich ging es<br />

wie<strong>de</strong>r zum Festplatz zurück, wo ein riesiges Feuerwerk abgebrannt wur<strong>de</strong>.<br />

32


In Je<strong>de</strong>m Sommer lud Tante Emma die gesamte ortsanwesen<strong>de</strong> Reye-Familie zum Kaffee<br />

nach Brockeswal<strong>de</strong> ein, weil sie in ihrem eigenen H<strong>aus</strong> nicht Raum genug hatte, um die in<br />

Cuxhaven, Hamburg <strong>und</strong> Straßburg wohnen<strong>de</strong>n Geschwisterfamilien aufnehmen zu können.<br />

Ketel mußte unentwegt hin <strong>und</strong> her fahren, bis er die Gesellschaft zusammen hatte. Nach<br />

<strong>de</strong>m Kaffeetrinken wur<strong>de</strong> ein Spaziergang durch <strong>de</strong>n Busch zum Galgenberg gemacht, von wo<br />

man einen weiten Blick über das Land hatte, über Hei<strong>de</strong>, Geest <strong>und</strong> Marsch. Wir spielten im<br />

Wald, tanzten zum Klavierspiel <strong>de</strong>r Tanten im Pavillon <strong>und</strong> amüsierten uns herrlich.<br />

Öfters ging Mutter im Sommer mit uns Kin<strong>de</strong>rn zum Außen<strong>de</strong>ich, an <strong>de</strong>r Napoleonsbatterie<br />

vorbei, bis nahe an die Quarantänestation, in <strong>de</strong>r die Schiffsbesatzungen <strong>und</strong> Passagiere<br />

von ansteckungsverdächtigen Schiffen für einige Wochen untergebracht wur<strong>de</strong>n. Wir zo-<br />

gen Stiefel <strong>und</strong> Strümpfe <strong>aus</strong> <strong>und</strong> liefen auf <strong>de</strong>m warmen kurzen Gras umher, fingen Krebse<br />

in <strong>de</strong>n vom Meer gewühlten Löchern, suchten Muscheln an <strong>de</strong>n Steinkästen, <strong>und</strong> pflückten die<br />

wenigen Strandblumen. Mutter erzählte uns, wie einmal zwei ihrer Brü<strong>de</strong>r mit an<strong>de</strong>ren Jun-<br />

gen dort am Gro<strong>de</strong>ner Außen<strong>de</strong>ich splitternackt herumgelaufen waren, geba<strong>de</strong>t hatten <strong>und</strong><br />

sich sonnten. Einer <strong>de</strong>r Jungens schwang sich auf eines <strong>de</strong>r dort wei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>, <strong>und</strong> die-<br />

ses, von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Jungens angetrieben, rannte mit seinem Reiter, <strong>de</strong>r sich schreiend an<br />

<strong>de</strong>r Mähne festhielt, nach Ritzebüttel. Zum Entsetzen aller Frauen <strong>und</strong> zum Gaudium <strong>de</strong>r<br />

Kin<strong>de</strong>r lief das Pferd, scheu gewor<strong>de</strong>n, durch die Straßen, bis ein beherzter Mann es schließ-<br />

lich zum stehen brachte.<br />

Zu <strong>de</strong>n häufigeren Ausfahrten gehörte <strong>de</strong>r Besuch bei Onkel Heinrich Benöhr <strong>und</strong> Tante<br />

Marie in Nordleda. Wir fuhren durch Gro<strong>de</strong>n <strong>und</strong> kamen dann auf preußischem Gebiet durch<br />

Altenbruch, <strong>de</strong>ssen Kirche mit <strong>de</strong>n zwei Türmen <strong>de</strong>n Seefahrern auf <strong>de</strong>r Elbe als Wahrzei-<br />

chen diente. ( " Die Türme von Altenbruch dwars." ) Dann ging es nach Lüdingworth, wo <strong>de</strong>r<br />

Lehrer Franz Grabe wohnte, <strong>de</strong>r so schöne platt<strong>de</strong>utsche Gedichte machte. Schließlich<br />

Nordleda. Hier hatte Vaters ältester Bru<strong>de</strong>r einen sehr schönen großen Hof. Onkel Ferdi-<br />

nand Segelke <strong>und</strong> Tante Mathil<strong>de</strong>, Vaters Schwester, waren meistens schon vor uns da.<br />

Onkel Heinrich war Schultheiß von Nordleda, <strong>und</strong> Onkel Ferdinand Schultheiß von Gro<strong>de</strong>n.<br />

Als solche waren sie u.a. verantwortlich für die gesamte Entwässerung ihrer Bezirke <strong>und</strong> die<br />

Instandhaltung <strong>de</strong>r Deiche. Wir Kin<strong>de</strong>r saßen steif <strong>und</strong> etwas gelangweilt auf <strong>de</strong>n grünbezo-<br />

genen Polsterstühlen <strong>und</strong> hörten zu, was die Erwachsenen sprachen. Die Unterhaltung betraf<br />

wie<strong>de</strong>r Schleusenanlagen, Gesetzesvorlagen im Preußischen Landtag <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Hamburger<br />

Bürgerschaft, auch wohl <strong>de</strong>n Krieg von 1870/71 mit <strong>de</strong>n damaligen Siegesnachrichten <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>m Charpiezupfen. Tante Marie beteiligte sich eifrig am Gespräch. Sie wußte in sämtlichen<br />

<strong>de</strong>utschen Dynastien Bescheid. Von Fürsten, Herzögen, Großherzögen <strong>und</strong> Königen, von Prin-<br />

zen <strong>und</strong> Prinzessinnen kannte sie die genauen Daten <strong>und</strong> Verwandtschaftsbeziehungen, <strong>und</strong><br />

wenn wir im Winter im Klingelschlitten o<strong>de</strong>r im Sommer im Wagen nach Nordleda fuhren, so<br />

konnte Tante Marie stets etwas Neues über diese Familien berichten. Aber was ging das uns<br />

eigentlich an ? Wir waren doch keine Untertanen ! Wir Hamburger Staatsbürger waren doch<br />

33


Republikaner, <strong>und</strong> kein Fürst <strong>und</strong> kein König hatte uns etwas zu sagen !<br />

Auch von <strong>de</strong>r hannoverschen Welfenpartei war öfter die Re<strong>de</strong>. Diese war durch<strong>aus</strong> nicht<br />

damit einverstan<strong>de</strong>n, daß das frühere Königreich Hannover nach <strong>de</strong>m Krieg von 1866 preußi-<br />

sche Provinz gewor<strong>de</strong>n war. Sie durfte daher ihre Versammlungen nicht auf preußischem<br />

Gebiet veranstalten, <strong>und</strong> hielt sie <strong>de</strong>shalb stets in Ritzebüttel ab. - Der Kulturkampf bil<strong>de</strong>te<br />

weiteren Gesprächsstoff. Wir selbst hatten zu H<strong>aus</strong>e zwei Hampelmänner; <strong>de</strong>r eine war<br />

Bismarck mit <strong>de</strong>n drei Haaren, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re war Windhorst. Wenn man an einem Band<br />

zog, so schlugen sie sich, <strong>und</strong> einmal lag Windhorst oben, <strong>und</strong> einmal Bismarck. Das war eine<br />

Illustration zu <strong>de</strong>n geistigen Kämpfen, die in jener Zeit <strong>aus</strong>gefochten wur<strong>de</strong>n.<br />

Wenn wir <strong>aus</strong> Nordleda zurückkamen, hatte ich 14 Tage lang genug zu be<strong>de</strong>nken. Und was ich<br />

nicht ganz begriffen hatte, erklärten Vater <strong>und</strong> Mutter mir.<br />

Das Wichtigste, Kin<strong>de</strong>r, ist die Schule !<br />

Mein 6. Geburtstag rückte heran, <strong>und</strong> nun trat an die Stelle <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rgartens endlich die<br />

Schule. Vater hatte uns eingeprägt : " Die Schule geht allem an<strong>de</strong>ren vor !" Wir durften<br />

nichts tun, auch nicht helfen auf <strong>de</strong>m Hof, ehe die Schularbeiten vollständig <strong>und</strong> einwand-<br />

frei erledigt waren.<br />

Meine ältere Schwester Anna mußte jetzt also auf meinem Geburtstagswunschzettel<br />

alles eintragen, was ich für die Schule nötig hatte. Richtig lag dann auch neben <strong>de</strong>m<br />

großen Korinthenbrot <strong>und</strong> <strong>de</strong>m mit einem Immergrünkranz umgebenen Topfkuchen, ei-<br />

nem neuen Paar Stiefel, Schokola<strong>de</strong> <strong>und</strong> <strong>einer</strong> Apfelsine alles was ich als Schulanfänge-<br />

rin brauchte : eine Schiefertafel mit Schwamm <strong>und</strong> Wischlappen, ein Griffelkasten mit<br />

zwei Griffeln, ein Rechenbuch <strong>und</strong> die gelbe Hahnenfibel.<br />

Ich kam auf die Höhere Töchterschule von Fräulein Cochius, mußte also immer nach<br />

Ritzebüttel. Im Unterricht kam ich gut mit. Wir hatten alle feste Klassenplätze;<br />

nur nach Diktaten <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Rechenst<strong>und</strong>e wur<strong>de</strong>n wir gesetzt. Das gab dann ein<br />

lustiges Rauf-<strong>und</strong> runter. Als ich einmal im Diktat statt " Knabe " " Kanbe " ge-<br />

schrieben hatte, kam ich vier herunter, was mich ganz schrecklich geärgert hat.<br />

Aufsatz war meine Lieblingsst<strong>und</strong>e. Um so unglücklicher war ich über das Ergebnis<br />

eines Aufsatzes, <strong>de</strong>n wir in <strong>de</strong>m schlimmen Regenjahr nach <strong>de</strong>n Ferien zu schreiben<br />

hatten. Das Thema lautete " Wie ich meine Ferien verlebt habe ". Ich schrieb von<br />

<strong>de</strong>m Regen, <strong>de</strong>r wenigen Milch, <strong>de</strong>m Pflegeheu im Obstgarten, das in die Misten ge-<br />

fahren wer<strong>de</strong>n mußte, von unseren wenigen Spielen in <strong>de</strong>r Scheune. Als die Aufsatz-<br />

hefte nach 8 Tagen zurückgegeben wur<strong>de</strong>n, nahm die Lehrerin mein Heft in die<br />

Hand <strong>und</strong> sagte : " Emma Benöhr, <strong>de</strong>in Aufsatz ist schlecht !" Ich stand wie verdon-<br />

34


nert; alle sahen sich nach mir um. " Was du da geschrieben hast, schreibt man nicht<br />

in einem Aufsatz. Setz dich !" - Die ganze St<strong>und</strong>e überlegte ich. Ja was hätte ich<br />

<strong>de</strong>nn an<strong>de</strong>res schreiben sollen, als was ich doch tatsächlich in <strong>de</strong>n vier Wochen er-<br />

lebt hatte ? Was wußte schon eine Lehrerin, die in <strong>de</strong>r warmen Stube sitzt <strong>und</strong> auch<br />

für die Ferien ihr Gehalt bekommt, von <strong>de</strong>n Nöten <strong>und</strong> Sorgen eines Hofbesitzers<br />

<strong>und</strong> s<strong>einer</strong> Familie, wenn es Je<strong>de</strong>n <strong>und</strong> je<strong>de</strong>n Tag regnet <strong>und</strong> eine Jahresernte total<br />

verdirbt !<br />

Seit ich Lesen gelernt hatte, konnte ich selbst die schönen Geschichten von Elise Averdieck<br />

( " Karl <strong>und</strong> Marie ", " Lottchen <strong>und</strong> ihre Kin<strong>de</strong>r ", " Roland <strong>und</strong> Elisabeth" ) lesen. Ich vertiefte<br />

mich außer<strong>de</strong>m in das dicke Buch, in <strong>de</strong>m eine Großmutter ihren Enkelkin<strong>de</strong>rn die <strong>de</strong>utsche<br />

Geschichte erzählt <strong>und</strong> das viele Bil<strong>de</strong>r enthielt, von Karl <strong>de</strong>m Großen <strong>und</strong> Bonifatius bis<br />

zu <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Kaisern.<br />

In <strong>de</strong>r Handarbeitsst<strong>und</strong>e mußten wir später in je<strong>de</strong>m Jahr zwischen Ostern <strong>und</strong> Pfing-<br />

sten ein Paar Strümpfe nach genauer Vorschrift fertiggestellt haben. Wir häkelten ei-<br />

nen Häkellappen <strong>und</strong> später Spitzen <strong>und</strong> Durchsätze für Schürzen. Wir lernten an einem<br />

Flicktuch Säume, Rollnaht, schräge Rollnaht, französische Naht, Kappnaht <strong>und</strong> Ziersti-<br />

che, mußten Flicken einsetzen <strong>und</strong> Muster stopfen. In <strong>de</strong>r Stickst<strong>und</strong>e machten wir <strong>de</strong>r-<br />

art feinen Plattstich <strong>und</strong> Lochstickereien, daß ich mich heute noch w<strong>und</strong>ere, was meine<br />

sehr schlechten Augen <strong>und</strong> sonst so ungeschickten Hän<strong>de</strong> an Kunstwerken fertigge-<br />

bracht haben.<br />

Heimatk<strong>und</strong>e mochte ich gern. Wir begannen mit <strong>de</strong>m Schloß Ritzebüttel, auf <strong>de</strong>ssen inne-<br />

ren <strong>und</strong> äußeren Burggraben wir Schlittschuh zu laufen pflegten, wenn es genug gefroren<br />

hatte. Einmal fragte mich die Lehrerin : " Emma, ist <strong>de</strong>r Hof am Leestrom euer Hof ?" Ich<br />

wur<strong>de</strong> rot vor Freu<strong>de</strong>, daß unser Hof in ihrem gedruckten Heimatk<strong>und</strong>ebuch beson<strong>de</strong>rs ge-<br />

nannt war, <strong>und</strong> sagte stolz : " Ja, das ist unser Arnh<strong>aus</strong>en !"<br />

Der Heimatk<strong>und</strong>e-Unterricht entwickelte sich zum Geschichtsunterricht. Wir hatten uns<br />

unglaublich lange Zahlentabellen <strong>und</strong> Daten einzuprägen. In <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Geschichte sind<br />

wir stets nur bis zum Krieg von 1864 gekommen. Im neuen Schuljahr fingen wir wie<strong>de</strong>r von<br />

vorn an mit <strong>de</strong>n griechischen Göttern, <strong>de</strong>ren Zänkereien wir <strong>aus</strong>wendig lernen mußten.<br />

In <strong>de</strong>n Geographiest<strong>und</strong>en wur<strong>de</strong>n von je<strong>de</strong>m Land eine geographische <strong>und</strong> eine politische<br />

Karte gezeichnet. Die politische Karte für Frankreich hatten wir schnell fertig, weil es dort<br />

nur Provinzen gab; die <strong>de</strong>utsche politische Karte war dafür um so schwieriger, <strong>de</strong>nn Deutsch-<br />

land als B<strong>und</strong>esstaat hatte all die Fürstentümer, Herzogtümer, Großherzogtümer <strong>und</strong> König-<br />

reiche. Da mußte man <strong>de</strong>n Malkasten, <strong>de</strong>r nur die sechs Gr<strong>und</strong>farben enthielt, schon gründ-<br />

lich <strong>aus</strong>nutzen, um durch immer neue Farbzusammenstellungen die einzelnen Län<strong>de</strong>r her<strong>aus</strong>-<br />

zuheben. Die Hansestädte Hamburg, Lübeck <strong>und</strong> Bremen brauchten keine Farbe; sie waren<br />

freie Reichsstädte, <strong>und</strong> wir in Ritzebüttel gehörten ja zu <strong>de</strong>r großen Hansestadt Hamburg !<br />

35


Die Zeichenst<strong>und</strong>e war langweilig. Wir mußten immer wie<strong>de</strong>r zwischen waagerechten Linien,<br />

die etwa zwei Zentimeter von einan<strong>de</strong>r entfernt waren, lauter senkrechte gera<strong>de</strong> Striche<br />

zeichnen. Meine wur<strong>de</strong>n oben <strong>und</strong> unten immer etwas schief, wenn ich mir auch noch so viel<br />

Mühe gab. Und wenn ich sie oben o<strong>de</strong>r unten korrigieren wollte, so bekamen sie einen dicken<br />

Klumpfuß. - Ja, wenn wir hätten malen können wie unsere Dora Maetzel, die mit bei<strong>de</strong>n Hän-<br />

<strong>de</strong>n zugleich mit ihren Pinseln w<strong>und</strong>erhübsche Blumen malte, <strong>und</strong> das ohne sie vorgezeichnet<br />

zu haben !<br />

Nach<strong>de</strong>m wir drei Jahre Gr<strong>und</strong>schule hinter uns hatten, begann <strong>de</strong>r Englischunterricht. Wir<br />

hatten neben <strong>de</strong>r Grammatik sofort auch Konversation, wobei wir ein an die Wand gehäng-<br />

tes großes Bild betrachteten : " What is that ? " - " That is the picture. " " What is there<br />

on the picture ?" - "On the picture there is the house in the gar<strong>de</strong>n. "<br />

Zu Beginn <strong>de</strong>s 6. Schuljahres lernten wir Französisch. Ich merkte, daß unsere Tante Tine nie<br />

Französisch gelernt hatte. Als sie zur Schule ging, wur<strong>de</strong> nur Englisch gelehrt. Vater <strong>und</strong><br />

Mutter dagegen konnten viel Englisch <strong>und</strong> Französisch, Vater auch viel Latein.<br />

In <strong>de</strong>r Botanikst<strong>und</strong>e erfuhren wir von gefie<strong>de</strong>rten Blättern <strong>und</strong> Schmetterlingsblütlern,<br />

mußten aber vor allem wissen, in welche Klasse <strong>de</strong>s Linné schen Systems je<strong>de</strong> Pflanze nach<br />

<strong>de</strong>r Zahl ihrer Staubgefäße gehörte. - Zoologie wur<strong>de</strong> im Winter gelehrt. Da ging es um <strong>de</strong>n<br />

Bau <strong>und</strong> die Größe <strong>de</strong>r Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien <strong>und</strong> Amphibien <strong>de</strong>s In- <strong>und</strong> Aus-<br />

lan<strong>de</strong>s. Wir mußten wissen, welche Tiere in die Familie <strong>de</strong>r H<strong>und</strong>e <strong>und</strong> welche in die Familie<br />

<strong>de</strong>r Katzen gehörten. Von <strong>de</strong>n Menschen wur<strong>de</strong> uns gesagt: " Der Mensch gehört zu <strong>de</strong>n Säu-<br />

getieren." Irgen<strong>de</strong>in weiterer Unterricht über <strong>de</strong>n menschlichen Körper wäre höchst unan-<br />

ständig gewesen.<br />

In <strong>de</strong>r Singst<strong>und</strong>e lernten wir viele schöne Lie<strong>de</strong>r. Ich mußte manchmal vorsingen, weil ich das<br />

Hohe C mühelos her<strong>aus</strong>brachte. Der Lehrer spielte uns die Lie<strong>de</strong>r auf s<strong>einer</strong> Geige vor, <strong>und</strong><br />

wir sangen einstimmig, zwei- o<strong>de</strong>r dreistimmig. -<br />

Als am 10. November 1883 Luthers 400. Geburtstag gefeiert wur<strong>de</strong>, machte unsere ganze<br />

Schule einen Fackelzug durch die Sü<strong>de</strong>rsteinstraße, die Nor<strong>de</strong>rsteinstraße <strong>und</strong> auf <strong>de</strong>m<br />

Westseite<strong>de</strong>ich entlang. Das Lied, das wir von <strong>de</strong>r Schule bis zur Alten Liebe unentwegt sin-<br />

gen mußten, liegt mir bis heute im Sinn : " Wir zün<strong>de</strong>n unsere Lichter an, <strong>de</strong>m Martinus zu<br />

Ehren - <strong>de</strong>m Lichtfre<strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Glaubensmann, <strong>und</strong> k<strong>einer</strong> soll's uns wehren !" -<br />

Auf <strong>de</strong>m Schulweg, für <strong>de</strong>n ich etwa eine halbe St<strong>und</strong>e brauchte, konnte ich mancherlei er-<br />

leben. Die Ch<strong>aus</strong>see war an bei<strong>de</strong>n Seiten von breitem Gebüsch eingefaßt; nur bei <strong>de</strong>n<br />

Übergängen zu <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn waren Lücken. Durch diese entstan<strong>de</strong>n im Winter manchmal ge-<br />

waltige Schneewehen, die man mit großem Hallo überwand, oft bis an <strong>de</strong>n Leib im Schnee<br />

versinkend, dann wie<strong>de</strong>r her<strong>aus</strong>krabbelnd, um bei <strong>de</strong>r nächsten Schneewehe dasselbe Ver-<br />

36


gnügen zu haben. Es stand kein H<strong>aus</strong> an <strong>de</strong>r ganzen Ch<strong>aus</strong>see. Nach Gro<strong>de</strong>n hinüber war Mül-<br />

lers Hof das erste Gebäu<strong>de</strong> <strong>und</strong> nach Ritzebüttel <strong>de</strong>r Hof von Charles Meyn. Im Sommer<br />

lagen gelegentlich betrunkene Handwerksburschen, die wir Stromer nannten, im Ch<strong>aus</strong>see-<br />

graben. Dann ging ich in weitem Bogen um sie herum. Zwischen Meyn's Hof <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Ritze-<br />

bütteler Friedhof waren einige elen<strong>de</strong> Häuser. Hier wohnte eine Wahrsagerin. Herr Pastor<br />

Walther sagte in <strong>einer</strong> Predigt gegen die Wahrsagerei, daß in <strong>de</strong>r Dämmerung Frauen in<br />

Holzschuhen <strong>und</strong> Damen in Pelzkragen zu dieser Frau gingen, um sich <strong>aus</strong> Karten <strong>und</strong> Kaffee-<br />

satz die Zukunft sagen zu lassen. In einem dieser elen<strong>de</strong>n Häuser wohnten auch große, sehr<br />

ungezogene Jungens, vor <strong>de</strong>nen wir entsetzliche Angst hatten.<br />

Die Ch<strong>aus</strong>see war herrlich zum Singen <strong>und</strong> Gedichtaufsagen. Oft begegnete mir kein<br />

Mensch. Nur morgens gingen etliche Han<strong>de</strong>lsfrauen mit ihren Körben voll Gemüse, Eiern <strong>und</strong><br />

Butter von Gro<strong>de</strong>n nach Ritzebüttel o<strong>de</strong>r schoben diese schönen Sachen in einem Kin<strong>de</strong>rwa-<br />

gen vor sich her. Ich schmetterte dann meine Lieblingslie<strong>de</strong>r hin<strong>aus</strong>: " Es br<strong>aus</strong>t ein Ruf wie<br />

Donnerhall " o<strong>de</strong>r " Vater, ich rufe Dich ". Meine Gedichte " Frisch auf, mein Volk, die Flam-<br />

menzeichen rauchen " o<strong>de</strong>r " Was glänzt dort vom Wal<strong>de</strong> im Sonnenschein " paßten zu je<strong>de</strong>r<br />

Jahreszeit.<br />

Einmal kam ich bei äußerst starkem Regen völlig durchnäßt in <strong>de</strong>r Schule an. Fräulein<br />

Cochius schalt, daß ich überhaupt gekommen wäre. Meine Antwort : " Vater sagt, die<br />

Schule geht allem an<strong>de</strong>ren vor !" Nur etwa ein Drittel aller Schülerinnen war gekom-<br />

men, <strong>und</strong> auch nur diejenigen, die <strong>de</strong>r Schule am nächsten wohnten. Die Lehrerin wollte<br />

uns keinen Unterricht erteilen; ich aber meintet " Wir sind nun hier, nun geben Sie uns<br />

auch or<strong>de</strong>ntlich St<strong>und</strong>e !"<br />

Im Herbst, zu Weihnachten <strong>und</strong> Ostern bekamen wir Zeugnisse. Zur Zeugnisverteilung ver-<br />

sammelte sich die gesamte Schule in zwei großen Klassenzimmern. Es wur<strong>de</strong> ein Choral ge-<br />

sungen, <strong>und</strong> Fräulein Cochius hielt eine lange Re<strong>de</strong>. " Das Zeugnis ist <strong>de</strong>r Spiegel <strong>einer</strong> Schü-<br />

lerin. " Alle Zensuren in Betragen, Fleiß, Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Ordnung wur<strong>de</strong>n öffentlich<br />

<strong>aus</strong> je<strong>de</strong>r Klasse bekanntgegeben. Vater nahm es als selbstverständlich, daß unsere Zensu-<br />

ren sich sehen lassen konnten. " Gott hat euch gute Gaben gegeben; die habt ihr treu zu be-<br />

nutzen. In <strong>de</strong>n Fächern die euch weniger leicht fallen, könnt ihr Fleiß beweisen !"<br />

Je<strong>de</strong>s Jahr wur<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>n Osterferien Examen abgehalten. Mit <strong>de</strong>r untersten Klasse wur<strong>de</strong><br />

begonnen, mit <strong>de</strong>r obersten geschlossen. Während <strong>de</strong>r Zeit, in <strong>de</strong>r meine Klasse geprüft<br />

wur<strong>de</strong>, waren auch Vater o<strong>de</strong>r Mutter, wer am besten Zeit dafür hatte, anwesend. Wir muß-<br />

ten kopfrechnen, lesen, <strong>und</strong> wur<strong>de</strong>n in Heimatk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Religion geprüft. Nach einem tiefen<br />

Knicks, <strong>de</strong>n ich ja glücklicherweise im Kin<strong>de</strong>rgarten gelernt hatte, sagte ich das vergnügliche<br />

Gedicht vom Spitz <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Gänsen auf.<br />

Montags, dienstags, donnerstags <strong>und</strong> freitags hatten wir von 8-12 <strong>und</strong> von 2-4 Uhr Schule.<br />

Über Mittag durfte ich als Auswärtige in <strong>de</strong>r Schule bleiben, aß mein Butterbrot <strong>und</strong> konnte<br />

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Schularbeiten machen. Später bekam ich dienstags <strong>und</strong> freitags in <strong>de</strong>r Mittagszeit Klavier-<br />

st<strong>und</strong>e bei Fräulein Tölcke. Ich mußte Fingerübungen machen <strong>und</strong> Etü<strong>de</strong>n spielen. Weit<br />

mehr Spaß machte es, wenn Mutter mit mir vierhändig spielte. Beson<strong>de</strong>rs liebte ich das<br />

Stück " Lachtäubchen " .<br />

An je<strong>de</strong>m Mittwoch nachmittag ging ich zur " Pastorenst<strong>und</strong>e ". In Verfolg <strong>de</strong>s Kulturkamp-<br />

fes <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Zivilstands-Gesetzgebung war es Pastor Walther in Ritzebüttel untersagt, <strong>de</strong>n<br />

Religionsunterricht in unserer Schule zu geben. Er richtete daher an an<strong>de</strong>rer Stelle eine<br />

Religionsst<strong>und</strong>e ein, <strong>de</strong>ren Besuch freiwillig war.<br />

Die Schulverhältnisse in Ritzebüttel waren damals für die Jungens recht trostlos, während<br />

die Höhere Mädchenschule unter Fräulein Cochius' Leitung sehr gut war. Meine Großmutter<br />

Amalie Reye, die früh verwitwet war, hatte ihre Söhne <strong>de</strong>shalb nach Hamburg aufs Johanneum<br />

geschickt. Sie mußten zum Beginn <strong>und</strong> Schluß <strong>de</strong>r Ferien zwei Tagesmärsche wan<strong>de</strong>rn,<br />

sozusagen als Fahren<strong>de</strong> Gesellen. In Sta<strong>de</strong> übernachteten sie je<strong>de</strong>smal.<br />

Mein Vater hatte das Glück gehabt, daß zu s<strong>einer</strong> Schulzeit ein außeror<strong>de</strong>ntlich fähiger<br />

Mann eine Rektorschule unterhielt. Mit großer Liebe <strong>und</strong> Dankbarkeit erzählte Vater uns oft<br />

von seinem verehrten Lehrer, Herrn Rektor Danzel.<br />

Wenn es in Ritzebüttel auch nicht gut um die Volksschule stand, so war doch in Gro<strong>de</strong>n eine<br />

anerkannt gute. Viele Eltern <strong>aus</strong> <strong>de</strong>m Flecken Ritzebüttel schickten ihre Kin<strong>de</strong>r in die Gro<strong>de</strong>ner<br />

Volksschule, damit sie nebenbei Privatst<strong>und</strong>en bei Herrn Bossée erhalten konnten. Gro<strong>de</strong>n<br />

wur<strong>de</strong> dadurch in <strong>einer</strong> Weise von <strong>de</strong>n " Fleckenjungens " überschwemmt, daß <strong>de</strong>r Schulvorstand<br />

beschloß, es dürfe kein <strong>aus</strong>wärtiges Kind mehr die Gro<strong>de</strong>ner Volksschule besuchen,<br />

das nicht in Gro<strong>de</strong>n wohnte. So gaben Onkel Julius Reye <strong>und</strong> Tante Elise ihren Ernst zu uns<br />

nach Arnh<strong>aus</strong>en.<br />

Der genannte Herr Bossée wohnte in einem kleinen Häuschen neben <strong>de</strong>r Schule. Er hatte nie<br />

ein staatliches Examen gemacht, war aber ein <strong>de</strong>rart <strong>aus</strong>gezeichneter Philologe <strong>und</strong> Pädago-<br />

ge, daß er viele Schüler nicht nur bis Obersek<strong>und</strong>areife, son<strong>de</strong>rn die Begabteren sogar bis<br />

Unterprima brachte. In großzügiger Weise richtete Herr Quitmeier, <strong>de</strong>r Leiter <strong>de</strong>r Gro<strong>de</strong>-<br />

ner Volksschule, es so ein, daß Gruppen von Schülern während <strong>de</strong>r Schulzeit <strong>und</strong> bis zum<br />

Spätnachmittag zu Herrn Bossée in <strong>de</strong>n Privatunterricht gehen konnten. Die zwei o<strong>de</strong>r drei<br />

letzten Schuljahre besuchten diese Auswahlschüler dann das Gymnasium in Sta<strong>de</strong>. Später<br />

haben sie " ihrem hochverehrten lieben Lehrer, Herrn Gustav Bossée " auf <strong>de</strong>m Gro<strong>de</strong>ner<br />

Kirchhof ein schönes Denkmal errichtet.<br />

Natürlich ging es in <strong>de</strong>r Gro<strong>de</strong>ner Volksschule an<strong>de</strong>rs zu als auf <strong>einer</strong> Höheren Töchterschu-<br />

le. Als Bru<strong>de</strong>r Max 6 Jahre alt war, schickte Vater ihn in diese Schule. Ein Trupp unserer<br />

Tagelöhnerkin<strong>de</strong>r wartete schon auf <strong>de</strong>r Abschne<strong>de</strong> auf ihn, auch unser Schweinejunge, <strong>de</strong>r<br />

auf <strong>de</strong>m Weg noch eben die Pflugscharen beim Schmied abliefern mußte.<br />

38


Der Schulunterricht begann mit <strong>de</strong>r Erlernung <strong>einer</strong> neuen Sprache : Hoch<strong>de</strong>utsch. Die we-<br />

nigsten <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r konnten diese Sprache verstehen <strong>und</strong> sprechen. Herr Quitmeier unter-<br />

richtete außer <strong>de</strong>r obersten Klasse auch die Kleinen selbst, weil die an<strong>de</strong>ren Lehrer meistens<br />

<strong>aus</strong> Hamburg stammten <strong>und</strong> unser Platt nicht genügend beherrschten. Herr Quitmeier sprach<br />

also einzelne Wörter <strong>und</strong> kleine Sätze vor, die die Kin<strong>de</strong>r im Chor o<strong>de</strong>r einzeln viele Male<br />

wie<strong>de</strong>rholen mußten. Einmal ging ein kl<strong>einer</strong> Junge mitten in <strong>de</strong>r St<strong>und</strong>e zu ihm <strong>und</strong> sagte : "<br />

Du, mok mi mol <strong>de</strong> Büx open. Ik mut mol ut <strong>de</strong> Büx. " Gehorsam half Herr Quitmeier ihm. Der<br />

Junge verschwand, um nach geraumer Zeit wie<strong>de</strong>r in die Klasse zu kommen, sich vor seinen<br />

Lehrer hinzustellen <strong>und</strong> zu sagen: " Du, mok mi mol <strong>de</strong> Büx wed<strong>de</strong>r tau !"<br />

In <strong>de</strong>n P<strong>aus</strong>en gab es stets eine große Balgerei auf <strong>de</strong>m Schulhof, <strong>de</strong>nn nach dreiviertel-<br />

stündigem Stillsitzen, wobei nicht einmal ständig mit <strong>de</strong>n Holzschuhen getrampelt <strong>und</strong> ge-<br />

klappert wer<strong>de</strong>n durfte, wollten Arme <strong>und</strong> Beine zu tun haben. Nach<strong>de</strong>m Herr Quitmeier am<br />

Schluß <strong>de</strong>r P<strong>aus</strong>e in die Hän<strong>de</strong> geklatscht hatte, fiel es schwer, daß je<strong>de</strong>s Kind nach vielem<br />

Schubsen <strong>und</strong> Drängeln seinen zugewiesenen Platz wie<strong>de</strong>rfand. In <strong>de</strong>r Singst<strong>und</strong>e erscholl<br />

ein vielstimmiges Gebrüll von Knaben- <strong>und</strong> Mädchenstimmen. Herr Quitmeier hatte Mühe,<br />

mit s<strong>einer</strong> Geige <strong>und</strong> kräftiger Männerstimme einigermaßen die Melodie von " Der Kuckuck<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Esel " zu halten.<br />

Die kleinen Fäuste, die wohl alle eine Peitsche <strong>und</strong> eine Mistforke zu regieren wußten, hatten<br />

es bitter schwer, ein i <strong>und</strong> eine 1 richtig zu schreiben, nicht allzuweit über <strong>de</strong>r Linie o<strong>de</strong>r<br />

darunter. Wenn die unterste Klasse am Schluß <strong>de</strong>s Schuljahres 60 hoch<strong>de</strong>utsche Wörter in<br />

ihrer Be<strong>de</strong>utung kannte, sie richtig <strong>aus</strong>zusprechen <strong>und</strong> anzuwen<strong>de</strong>n wußte, so war das Ziel<br />

erreicht.<br />

Nach drei Schuljahren kam Bru<strong>de</strong>r Max von <strong>de</strong>r Gro<strong>de</strong>ner Volksschule auf die durch Pro-<br />

fessor Roh<strong>de</strong> <strong>aus</strong> Hamburg eingerichtete Höhere Staatsschule; ein Jahr später folgte ihm<br />

unser Ernst. Viele <strong>de</strong>r Volksschüler gingen jedoch nach Amerika. Wenn sie im letzten Schul-<br />

jahr gefragt wur<strong>de</strong>n : " Was wollt ihr wer<strong>de</strong>n ?", dann lautete die Antwort sehr oft: " Ich<br />

geh nach Amerika !" Daß die Hälfte aller Konfirman<strong>de</strong>n nach drüben ging, war nichts Beson-<br />

<strong>de</strong>res. So ging auch unser Schweinejunge Nicol<strong>aus</strong> Marks, <strong>de</strong>r von seinem 12. -14. Lebens-<br />

jahr bei uns die Stiefel geputzt, die Enten getastet, nachmittags einen Sack voll Disteln für<br />

unsere Jungen Schweine gesucht <strong>und</strong> zerstoßen, <strong>und</strong> am Abend <strong>de</strong>n Ofen für die Döns ge-<br />

heizt hatte, in die Vereinigten Staaten. Ein paar Nachbarjungens hatten ihn nachkommen<br />

lassen. Niklas war das Lernen in <strong>de</strong>r Gro<strong>de</strong>ner Volksschule sehr schwer gefallen, so daß<br />

Mutter sich immer wie<strong>de</strong>r um seine Schularbeiten gekümmert hatte. Etliche Jahre später<br />

kehrte er als gemachter Mann <strong>und</strong> vornehmer Herr zurück, um seine Eltern - unseren Vor-<br />

schnitter Peter Marks <strong>und</strong> seine Frau Mine - die täglich zweimal zum Melken kamen, noch<br />

einmal zu besuchen. Er hatte in Amerika mit Stiefelputzen auf <strong>de</strong>r Straße angefangen <strong>und</strong><br />

es danach bis zum Oberkellner in einem großen internationalen Hotel gebracht. Nach <strong>de</strong>m<br />

Besuch in <strong>de</strong>r Heimat wollte er drüben ein größeres Delikatessengeschäft übernehmen.<br />

39


Noch einmal zurück zur Schule. Herrn Prof. Roh<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> das gesamte höhere Schulwesen<br />

im Amt Ritzebüttel unterstellt, <strong>und</strong> dazu gehörte auch unsere Höhere Mädchenschule. Der<br />

Unterricht wur<strong>de</strong> noch vielseitiger. In <strong>de</strong>n höheren Klassen hatten wir, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Kleine<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Große Ploetz erledigt waren, französische <strong>und</strong> englische Literatur. Wir lasen " Un<br />

verre d'eau ", Lord Byron's " Prisoner of Chillon ", auch manches von Sir Walter Scott. In<br />

Deutsch lernten wir die " Drei Ringe " <strong>aus</strong> Nathan <strong>de</strong>m Weisen. Eine Art von Aufsätzen war<br />

<strong>und</strong> blieb mir unangenehm: die sogenannte Crie, anzufertigen nach ganz genauer Vorschrift.<br />

Dabei mußte ein Dichter<strong>aus</strong>spruch o<strong>de</strong>r Sprichwort bestimmt wer<strong>de</strong>n nach Wortlaut, In-<br />

halt, Beweis <strong>de</strong>r Wahrheit, Beweis <strong>de</strong>r Unwahrheit <strong>de</strong>r Gegenbehauptung, Beleg <strong>de</strong>r Wahr-<br />

heit durch an<strong>de</strong>re Dichter-Aussprüche o<strong>de</strong>r Sprichwörter, Beweis <strong>de</strong>r Wahrheit <strong>aus</strong> <strong>de</strong>r<br />

Geschichte <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Leben. - In an<strong>de</strong>ren St<strong>und</strong>en waren perspektivisch Würfel zu zeichnen,<br />

o<strong>de</strong>r es ging um " zusammengesetzte Regel<strong>de</strong>tri mit umgekehrten Verhältnissen "<br />

Die Schulzeit neigte sich ihrem En<strong>de</strong> zu. Wir waren konfirmiert, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Schulabschluß ver-<br />

einte die ganze Schule zum letzten Zeugnisempfang. Fräulein Cochius hielt eine lange Re<strong>de</strong><br />

über das Wort " Was vergangen, kehrt nicht wie<strong>de</strong>r; aber ging es leuchtend nie<strong>de</strong>r, leuch-<br />

tet's lange noch zurück. " Wir setzten uns in unsere Klasse <strong>und</strong> weinten. Dann fingen wir an,<br />

die Klasse zu scheuern, die Fenster zu putzen <strong>und</strong> alles in Ordnung zu bringen.<br />

Meine Kindheit war abgeschlossen, <strong>und</strong> ein ganz an<strong>de</strong>res Leben begann.<br />

abschließen<strong>de</strong>s Wort<br />

Das Mädchen Emma Benöhr hat sich seinen Wunschtraum, Lehrerin zu wer<strong>de</strong>n, nicht erfül-<br />

len können. Wegen ihrer schwachen Augen rieten die Ärzte dringend von einem Studium ab.<br />

So kam sie <strong>de</strong>nn nach einigen weiteren Jahren auf Arnh<strong>aus</strong>en, " um einmal etwas ganz an<strong>de</strong>-<br />

res in frem<strong>de</strong>r Stadt unter frem<strong>de</strong>n Menschen kennenzulernen ", in ein Kasseler Pensionat.<br />

Für eine Höhere Tochter nichts Ungewöhnliches; doch hat Emma später nur ungern daran<br />

zurückgedacht. Einer " Bauerntochter " waren die jungen Damen überheblich <strong>und</strong> voller Vor-<br />

urteile begegnet.<br />

Mit 22 Jahren heiratete Emma <strong>de</strong>n Pastor August Lohmeyer <strong>und</strong> sie<strong>de</strong>lte ins Lippische über.<br />

Fünf ihrer Kin<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>n groß. Sie selbst hat sich nie ganz von Arnh<strong>aus</strong>en lösen können <strong>und</strong><br />

ist in ihren Gedanken immer wie<strong>de</strong>r dorthin zurückgekehrt. Der Zweite Weltkrieg traf Arn-<br />

h<strong>aus</strong>en schwer. Im August 1943 fiel <strong>de</strong>r Hoferbe Otto Andreas als Soldat <strong>einer</strong> Flakbatte-<br />

rie in Cuxhaven. Es ist Emma Lohmeyer-Benöhr erspart geblieben, das En<strong>de</strong> Arnh<strong>aus</strong>ens mit-<br />

zuerleben. Sie starb 1951 mit 75 Jahren. Nur wenige Jahre später, am Pfingstsonnabend<br />

1954, brannte ihr Geburtsh<strong>aus</strong>, das 200 Jahre alte Wohngebäu<strong>de</strong> auf Arnh<strong>aus</strong>en, bis auf die<br />

Gr<strong>und</strong>mauern nie<strong>de</strong>r. Eine unruhige, wechselvolle Zeit begann, bis <strong>de</strong>r Hof schließlich aufge-<br />

löst wur<strong>de</strong>. Arnh<strong>aus</strong>en ist nicht mehr. Was blieb, ist die Erinnerung.<br />

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Erläuterung einiger Ausdrücke<br />

Bake feststehen<strong>de</strong>s Seezeichen zum Kennzeichnen <strong>de</strong>s Fahrwassers<br />

Balje Wasserfaß, Eimer, Kübel<br />

Beste junge Kuh, die noch nicht gekalbt hat<br />

Bierlechel hölzernes Tönnchen, das <strong>de</strong>n Feldarbeitern zum Trinken diente<br />

Bin<strong>de</strong>lbaum Baum beim Erntewagen zum Nie<strong>de</strong>rschnüren <strong>de</strong>s Fu<strong>de</strong>rs<br />

Blesse weißer Stirnfleck bei Pfer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Kühen<br />

Böl Stück Land<br />

Brache gepflügter, unbebauter Acker<br />

Bussole Schiffskompaß<br />

Buttermolle Mul<strong>de</strong>, Trog<br />

Chaise Kutsche mit Halbver<strong>de</strong>ck<br />

Darre Draht- o<strong>de</strong>r Holzgitter zum Trocknen von Getrei<strong>de</strong><br />

Döns heizbares Zimmer, Leutestube<br />

Dohnenstieg Anlage zum Vogelfang<br />

dwars querschiffs<br />

Gabsch zwei Hän<strong>de</strong> voll (Spinat u.a. )<br />

Göpel mit Zugtier bewegte Vorrichtung zum Antrieb von Arbeitsmaschinen<br />

Grapenbraten Topfbraten<br />

Harkels das auf <strong>de</strong>m Fel<strong>de</strong> Nachgeharkte<br />

Hechel kammartiges Gerät zum Spalten <strong>de</strong>r Fasern bei <strong>de</strong>r Flachsbearb.<br />

Hocke mehrere zusammengestellte Getrei<strong>de</strong>garben<br />

Kieke Kohlenbecken zum Wärmen z.B. <strong>de</strong>r Füße<br />

Kiepe viereckiger Tragekorb mit Gurten zum Tragen auf <strong>de</strong>m Rücken.<br />

Kirne Butterfaß zum Kirnen <strong>de</strong>r Butter<br />

Klüten Klöße <strong>aus</strong> Mehl o<strong>de</strong>r Fleisch<br />

Koben Verschlag, kl<strong>einer</strong> Stall, beson<strong>de</strong>rs für Schweine<br />

Köksch Köchin<br />

Konsole Wandbrett<br />

Krecke Ro<strong>de</strong>lschlitten<br />

Landauer viersitziger Pfer<strong>de</strong>wagen mit zusammenlegbarem Ver<strong>de</strong>ck<br />

Longe Laufleine für Pfer<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r Dressur<br />

Lucht oberes Stockwerk, auf <strong>de</strong>m Korn etc. gelagert wird, Bo<strong>de</strong>n<br />

Milchsatte größere flache Schüssel, in <strong>de</strong>r Milch sich setzt<br />

Miste Dunggrube<br />

Ofenkasse Ofenrohr zum Warmhalten von Speisen u.s.w.<br />

Queen junges weibliches Rind, das noch nicht gekalbt hat.<br />

Remise Wagenschuppen, Geräteschuppen<br />

Schapp Schrank mit Doppeltür<br />

Schlipp schiefe Ebene, z.B. in <strong>de</strong>r Werft<br />

Schock Maßangabe, 60 Stück<br />

Schrot grob gemahlene Getrei<strong>de</strong>körner<br />

Siele Zugriemen <strong>de</strong>r Zugtiere<br />

Spint altes Trockenhohlmaß<br />

Sprik dürrer, abgefallener Zweig eines Baumes<br />

Stack in Gewässer hineingebauter Damm ( Buhne )<br />

Strohhümpel Strohhaufen<br />

Stuten Kuchenbrot<br />

Stutpferd junges weibliches Pferd<br />

Triftstück Wei<strong>de</strong>wiese<br />

Wagenschauer Schuppen für Fahrzeuge<br />

Wehl Wasserloch<br />

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