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Ludwig Bergsträsser und die Widerstandsbewegung

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<strong>Ludwig</strong> <strong>Bergsträsser</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

<strong>Widerstandsbewegung</strong><br />

„Allgemein ist <strong>die</strong> Tatsache zu verzeichnen, dass in der Öffentlichkeit von allen<br />

möglichen <strong>Widerstandsbewegung</strong>en gegen den Nationalsozialismus viel <strong>die</strong> Rede<br />

ist, so z. B. von der Kirche, von den Generälen <strong>und</strong> rechtsgerichteter<br />

Persönlichkeiten um den 20. Juli herum <strong>und</strong> natürlich auch von den Kommunisten,<br />

<strong>die</strong> für <strong>die</strong> Kommunistische Partei sorgt. Von dem Widerstand sozialdemokratischer<br />

Kreise ist kaum <strong>die</strong> Rede <strong>und</strong> Widerstand führender Persönlichkeiten wie Leuschner<br />

tritt in der Öffentlichkeit immer mehr zurück.“ Der Verfasser <strong>die</strong>ser Zeilen aus dem<br />

Jahre 1947, der Darmstädter Regierungspräsident <strong>Ludwig</strong> <strong>Bergsträsser</strong> (SPD),<br />

beklagte bereits früh <strong>die</strong> lange Zeit im Nachkriegsdeutschland vorherrschende<br />

unzureichende Würdigung des sozialdemokratischen <strong>und</strong> gewerkschaftlichen<br />

Widerstandes. Er selbst zählte zwar nicht zu dessen in vorderster Linie agierenden<br />

Persönlichkeiten <strong>und</strong> hatte auch keiner „organisierten Widerstandsgruppe“ angehört,<br />

weil das für ihn „als ehemaliger Reichstagsabgeordneter <strong>und</strong> politischer Publizist“ –<br />

wie er später einmal schrieb – zu gefährlich gewesen wäre. Als Berater<br />

Leuschners war er aber doch mit den führenden Kreisen der Opposition<br />

gegen Hitler in engere Berührung gekommen.<br />

<strong>Bergsträsser</strong>, der am Ende der Weimarer Republik von der Deutschen<br />

Demokratischen Partei (DDP) zur Sozialdemokratie übergetreten war, hatte nach<br />

eigenem Bek<strong>und</strong>en mit Leuschner, dem Kopf des gewerkschaftlichen Widerstandes,<br />

„in enger Verbindung“ gestanden <strong>und</strong> „ihn wiederholt in Berlin“ besucht. <strong>Bergsträsser</strong><br />

verfasste während des Krieges eine Denkschrift für Leuschner, in der er seine<br />

Vorstellungen von Politik im „Nach-Hitler-Deutschland“ entwickelte. Diese nahm unter<br />

den Verfassungsplänen der <strong>Widerstandsbewegung</strong> insofern eine Sonderstellung ein,<br />

als sie dezi<strong>die</strong>rt für <strong>die</strong> Rückkehr zum parlamentarischen System <strong>und</strong> für <strong>die</strong><br />

verantwortliche Teilnahme der Parteien am demokratischen Willensbildungsprozess<br />

eintrat, was auch in dem Titel „Wiederherstellung“ zum Ausdruck kam. An <strong>die</strong>sem<br />

Ziel gab es für den überzeugten Demokraten <strong>und</strong> ausgewiesenen Historiker<br />

der Parteiengeschichte, der gleichwohl aus der Geschichte <strong>die</strong> Lehren zu<br />

ziehen bereit war, keine Zweifel.<br />

<strong>Ludwig</strong> <strong>Bergsträsser</strong> war am 23. Februar 1883 im elsässischen Altkirch als Sohn<br />

ursprünglich aus Hessen stammender reichsdeutscher Eltern geboren worden. Ihn<br />

prägte <strong>die</strong> Jugend gerade in dem Land, das Jahrh<strong>und</strong>erte lang Zankapfel zwischen<br />

Franzosen <strong>und</strong> Deutschen gewesen war. Nach der Revolution 1918 engagierte sich<br />

der im Berliner Reichsarchiv angestellte habilitierte Historiker, der 1921 sein<br />

Standardwerk über <strong>die</strong> Geschichte der politischen Parteien veröffentlichte, in der<br />

liberalen DDP, für <strong>die</strong> er von 1924 bis 1928 im Reichstag saß. Als linksliberaler,<br />

reformorientierter Politiker lehnte er <strong>die</strong> 1930 aus DDP <strong>und</strong> dem Jungdeutschen<br />

Orden ins Leben gerufene Deutsche Staatspartei ab, mit der <strong>die</strong> Liberalen ihre<br />

drohende Bedeutungslosigkeit vergeblich abzuwenden versuchten. <strong>Bergsträsser</strong><br />

verachtete <strong>die</strong> Staatspartei als einen „faden Absud der Spätromantik“ <strong>und</strong> schloss<br />

sich 1931 – inzwischen an der Außenstelle des Reichsarchivs in Frankfurt am Main<br />

tätig – der SPD an, <strong>die</strong> für ihn <strong>die</strong> letzte demokratische Bastion in der zerbröckelnden<br />

Republik darstellte.<br />

1


Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde <strong>Bergsträsser</strong> am 1. Juli<br />

1933 als Oberarchivrat entlassen <strong>und</strong> zum 21. März 1934 gemäß dem so genannten<br />

Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums endgültig in den Ruhestand<br />

versetzt. Auch <strong>die</strong> Lehrbefugnis an der Universität Frankfurt wurde ihm 1934<br />

entzogen. Schon im Sommersemester 1933 hatte er auf Anraten des Dekans eine<br />

bereits angekündigte Vorlesung über <strong>die</strong> Innenpolitik der Weimarer Republik wegen<br />

zu erwartender Störungen ausfallen lassen. Er wandte sich nun stärker der<br />

Wissenschaft zu. Archivstu<strong>die</strong>n für eine Biographie des 1848 ermordeten<br />

Abgeordneten der Paulskirche Felix Fürst Lichnowsky führten ihn auf den<br />

Familiensitz der Lichnowskys ins Sudetenland. Die Darmstädter Polizei stellte ihm<br />

hierfür – sehr zu seinem Erstaunen – einen mehrere Jahre gültigen Pass aus. Dieser<br />

eröffnete ihm unerwartete Reisemöglichkeiten ins Ausland: In Paris kam er mit<br />

Emigrantenkreisen in Kontakt. Auf Initiative seines 1933 emigrierten<br />

Reichsarchivkollegen Veit Valentin erhielt er eine Einladung zu einer Historiker-<br />

Tagung in London. Er konnte zwar einige Monate in England bleiben <strong>und</strong> hielt sich in<br />

den Jahren von 1935 bis 1939 auch mehrfach längere Zeit dort auf, doch <strong>die</strong> erhoffte<br />

Anstellung bei einer englischen Hochschule scheiterte ebenso wie eine<br />

Beschäftigung in Frankreich.<br />

<strong>Ludwig</strong> <strong>Bergsträsser</strong> kehrte immer wieder nach Deutschland, ins „Land der Willkür“ –<br />

wie er schrieb –, zurück. Die Reisen ins Ausland waren aber so häufig <strong>und</strong> von so<br />

langer Dauer, dass <strong>die</strong> nationalsozialistischen Behörden bisweilen wohl an eine<br />

dauerhafte Emigration glaubten. So vermerkt das Verzeichnis des<br />

Sicherheits<strong>die</strong>nstes vom Juni 1939 über <strong>Bergsträsser</strong>: „Wurde aus dem Staats<strong>die</strong>nst<br />

entlassen <strong>und</strong> emigrierte nach Paris, wo er sich in deutschfeindlichem Sinne<br />

betätigt.“ Für immer emigriert war er zwar nicht, in „deutschfeindlichem Sinne“<br />

betätigte er sich aber tatsächlich. Die Gestapo vermochte jedoch nicht, stichhaltige<br />

Beweise für seine regimefeindlichen Aktivitäten im Ausland beizubringen. Über den<br />

nach London emigrierten SPD-Reichstagsabgeordneten Karl Höltermann kam er in<br />

Kontakt zu einem sozialdemokratischen Emigrantenzirkel im elsässischen<br />

Mülhausen. Diesem gehörten neben anderen <strong>die</strong> beiden ehemaligen<br />

sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Marie Juchacz <strong>und</strong> deren Schwager<br />

Emil Kirschmann an, <strong>die</strong> nach der Machtergreifung zunächst ins Saarland emigriert,<br />

dann nach der Rückgliederung der Saar an Deutschland 1935 nach Frankreich<br />

gegangen waren. Man traf sich am Isenheimer Altar in Colmar, jener Stadt, in der<br />

<strong>Bergsträsser</strong> einst das Gymnasium besucht hatte. <strong>Bergsträsser</strong> spielte dem Kreise<br />

Informationen zu <strong>und</strong> arbeitete an Flugschriften mit. Das illegale, hoch brisante<br />

Material schleuste er dann auch nach Deutschland. Er traf im Elsass befre<strong>und</strong>ete<br />

Sozialisten, in Paris einen hohen Ministerialbeamten des Außenministeriums <strong>und</strong><br />

den französischen Germanisten Edmond Vermeil, beides Bekannte aus früherer Zeit.<br />

Die französischen Sicherheitsbehörden wurden hellhörig, erschien es ihnen doch<br />

„ein wenig überraschend, dass <strong>Bergsträsser</strong>, ohne behelligt zu werden, sich in<br />

Deutschland aufhalten kann, wenn man seine politische Vergangenheit in Betracht<br />

zieht.“ Da <strong>die</strong> französischen Behörden in Mülhausen annahmen, <strong>Bergsträsser</strong> habe<br />

„sich dem hitlerischen Regime angeschlossen“, wurde er „auf diskrete Weise<br />

überwacht“.<br />

<strong>Bergsträsser</strong>s Aktivitäten blieben den NS-Behörden nicht verborgen. Im Januar 1942<br />

wurde er wegen seiner Beziehungen zu den Emigranten im Elsass verhört, <strong>die</strong> – so<br />

vermutete <strong>Bergsträsser</strong> – offenbar beim Durchsuchen eines Briefwechsels<br />

festgestellt worden waren. Tatsächlich waren <strong>die</strong> NS-Behörden auf seinen Namen<br />

bei der Durchsicht erbeuteter französischer Akten gestoßen, <strong>die</strong> ein<br />

2


Einsatzkommando der Sicherheitspolizei in Mülhausen sichergestellt hatte. Der<br />

Bericht <strong>die</strong>ses Einsatzkommandos, der u. a. an das Reichssicherheitshauptamt in<br />

Berlin <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gestapo in Darmstadt ging, mobilisierte <strong>die</strong> deutschen Behörden. Die<br />

Vernehmung durch einen Beamten in <strong>Bergsträsser</strong>s Wohnung spielte sich in<br />

„durchaus höflichen Formen“ ab. Er wurde insbesondere zu seinen Reisen ins<br />

Ausland befragt. Er bestritt bei der Vernehmung zwar, sich im Ausland politisch<br />

gegen das nationalsozialistische Deutschland, „illegal für <strong>die</strong> SPD oder sonst wie<br />

staatsfeindlich betätigt“ <strong>und</strong> „irgendwelches Material an <strong>die</strong> Emigranten“ geliefert zu<br />

haben. Gleichzeitig aber gab er zu, sich mit Emil Kirschmann <strong>und</strong> Marie Juchacz<br />

„öfter unterhalten“ <strong>und</strong> hierbei von seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem NS-<br />

Regime keinen Hehl gemacht zu haben. Auch zu den erwähnten Treffen mit einem<br />

Beamten des französischen Außenministeriums, mit dem Germanisten Vermeil <strong>und</strong><br />

ebenfalls mit französischen Sozialisten im Elsass bekannte er sich.<br />

Dass man jetzt auf ihn aufmerksam wurde, machte ihn vorsichtig. Als <strong>Bergsträsser</strong><br />

erfuhr, dass <strong>die</strong> Polizei ihn ein weiteres Mal in seinem Haus aufsuchen wollte, ihn<br />

aber nicht angetroffen hatte, tauchte er erst einmal für einige Tage bei Fre<strong>und</strong>en<br />

unter. Obwohl <strong>die</strong> mit der Erfassung emigrierter Sozialisten aus dem Saarland<br />

betraute Gestapo in Saarbrücken den „Verdacht der illegalen marxistischen<br />

Betätigung <strong>und</strong> des Landesverrats“ gegen <strong>Bergsträsser</strong> an den zuständigen<br />

Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof meldete, wurde das Ermittlungsverfahren<br />

schließlich im Mai 1943 eingestellt. Ausschlaggebend hierfür dürfte der Bericht der<br />

Gestapo Darmstadt gewesen sein. Sie musste zugeben, dass man <strong>Bergsträsser</strong>, der<br />

„seine frühere marxistische Gesinnung“ noch nicht geändert habe, keine Aktivitäten<br />

gegen den NS-Staat nachweisen konnte, zumal „<strong>die</strong> gegen <strong>Bergsträsser</strong> in den<br />

letzten Jahren durchgeführten Überwachungen“ nichts ergeben hatten.<br />

Es war von <strong>Bergsträsser</strong> sicher äußerst geschickt, seine Ablehnung des Systems<br />

<strong>und</strong> seine Kontakte zu den Emigranten einzugestehen, zumal er annehmen musste,<br />

dass <strong>die</strong>se den NS-Behörden ohnehin bekannt waren. So hatte <strong>die</strong> von der Gestapo<br />

Saarbrücken vernommene Frankfurter Sozialdemokratin Johanna Kirchner, <strong>die</strong><br />

ebenfalls über <strong>die</strong> Saar nach Frankreich geflüchtet war <strong>und</strong> dann 1944 hingerichtet<br />

wurde, bei einer Vernehmung im November 1942 erklärt, dass ihr lediglich ein<br />

einziges Treffen zwischen Kirschmann <strong>und</strong> <strong>Bergsträsser</strong> bekannt sei – mehr nicht.<br />

Da <strong>Bergsträsser</strong> jedoch weitergehende Aktivitäten hartnäckig leugnete, brachten <strong>die</strong><br />

nationalsozialistischen Behörden nichts weiter über den tatsächlichen Zweck <strong>die</strong>ser<br />

Kontakte in Erfahrung. Man stellte Vermutungen an, hatte aber keine handfesten<br />

Beweise.<br />

So blieb <strong>Bergsträsser</strong> <strong>die</strong> Haft erspart. Er verbrachte <strong>die</strong> Kriegszeit bis zum Herbst<br />

1944 in Darmstadt, wohin er 1934 gezogen war. Bereits nach Abschluss des Hitler-<br />

Stalin-Paktes war er überzeugt, dass es zum Krieg kommen würde. Seine<br />

Oppositionshaltung gegen Unterdrückung <strong>und</strong> Krieg spiegelt sich in einem Aufsatz<br />

über „Napoleon vor dem russischen Krieg“ wider, der in der von Rudolf Pechel<br />

herausgegebenen „Deutschen R<strong>und</strong>schau“ im Frühjahr 1940 erschien. Den Kontakt<br />

zu Pechel hatte Leuschner hergestellt. Wer zwischen den Zeilen lesen konnte, der<br />

wusste, dass mit Napoleon nicht der französische Kaiser, sondern Hitler gemeint<br />

war: „Als Napoleon gegen Russland zog, hoffte er auf einen leichten Sieg, <strong>und</strong> seine<br />

Phantasie, ausschweifend seit seinen ersten Siegen, rechnete mit dem Vorstoß nach<br />

In<strong>die</strong>n, dem Sieg, dem endlichen, über England. Stattdessen war sein Machtsystem<br />

unterhöhlt <strong>und</strong> konnte den einen großen Misserfolg nicht überwinden. Der so oft <strong>die</strong><br />

Ideologen verhöhnt hatte, war selbst ein Ideologe, ein Götzenanbeter der<br />

militärischen Macht, eine hemmungslose <strong>und</strong> im letzten Sinne unmoralische Figur.“<br />

Ungefährlicher als <strong>die</strong>ser Artikel waren unverfängliche kleinere Abhandlungen zur<br />

3


Briefmarkenk<strong>und</strong>e. Da kannte sich <strong>Bergsträsser</strong> bestens aus. Und so erregte es<br />

auch kein Aufsehen bei den Mitbewohnern seines Hauses in der Darmstädter<br />

Heinrichstraße 89, wenn er während des Krieges einen Besucher als „Herrn von<br />

Preuschen aus Berlin“ vorstellte, mit dem er Briefmarken tauschen wolle. Der<br />

Besucher aus Berlin kam aber nicht aus philatelistischem, sondern aus politischem<br />

Interesse. Es war Wilhelm Leuschner, einst hessischer Innenminister <strong>und</strong> jetzt<br />

führender Kopf des gewerkschaftlichen Widerstandes. Bei einer Reise 1936 oder<br />

1937 im Auftrag des Emigrantenzirkels in Mülhausen hatte <strong>Bergsträsser</strong> Leuschner<br />

zum ersten Mal in Berlin besucht <strong>und</strong> seitdem Kontakt gehalten.<br />

Leuschner wusste in <strong>Bergsträsser</strong> einen Gegner des Hitler-Regimes. Nach der<br />

Machtergreifung hatte <strong>Bergsträsser</strong> sich im Kreis von Gleichgesinnten beim einstigen<br />

hessischen Staatspräsidenten Bernhard Adelung getroffen. Die Treffen währten bis<br />

zu dessen Tod im Jahre 1943. Adelungs Sohn Hans gab dem Kreis Informationen<br />

über <strong>die</strong> wirtschaftliche <strong>und</strong> militärische Situation in Berlin, aber auch über<br />

Leuschner, der unter Adelung Minister gewesen war. <strong>Bergsträsser</strong> hielt Kontakt zu<br />

weiteren Sozialdemokraten im Darmstädter Raum, u .a. zum einstigen Mitglied der<br />

Nationalversammlung Christian Stock, dem „Zigarrenmann“, wie er den im Dezember<br />

1946 zum hessischen Ministerpräsidenten gewählten Zigarrenarbeiter in seinem<br />

Tagebuch nannte. Stock führte jetzt ein kleines Tabakgeschäft in Darmstadt <strong>und</strong><br />

versorgte den passionierten Zigarrenraucher <strong>Bergsträsser</strong> mit Rauchbarem.<br />

<strong>Bergsträsser</strong> traf auch den „Kaffeemann“, Heinrich Zinnkann, nach dem Krieg<br />

langjähriger hessischer Innenminister, der als vormaliger hessischer<br />

Landtagsabgeordneter ebenfalls zu den Vertrauten Leuschners zählte. Zinnkann hielt<br />

sich, so gut es ging, durch den Handel mit Kaffee über Wasser.<br />

Wie liefen <strong>die</strong> Besuche Leuschners ab? Karl Friedrich, selbst mehrfach mit<br />

Leuschner zusammengetroffen, erinnerte sich: „Sein Kommen geschah wahllos ohne<br />

Anmeldung […], seine früheren engsten Bekannten <strong>und</strong> Mitarbeiter in Gewerkschaft<br />

<strong>und</strong> Partei […] erkannten ihn. Einen von <strong>die</strong>sen Bekannten traf er schon zufällig auf<br />

der Straße, oder er suchte ihn auf. […] wir sollten uns Gedanken machen, wie wir<br />

[…] als Mithelfer der Neuordnung tätig sein könnten […], wir sollten stets unsichtbare<br />

Verbindung halten.“ Leuschners früherer Mitarbeiter im hessischen Innenministerium,<br />

<strong>Ludwig</strong> Schwamb, war in dem von <strong>die</strong>sem geknüpften Netz sozialdemokratischer<br />

<strong>und</strong> gewerkschaftlicher Vertrauensleute Leiter der politischen Reorganisation für<br />

Hessen. Hier ergeben sich wiederum Querverbindungen zu <strong>Bergsträsser</strong>, der in<br />

Fühlung mit Schwamb stand <strong>und</strong> von ihm 1944 mehrfach aufgesucht wurde.<br />

<strong>Bergsträsser</strong> tauschte zudem des Öfteren mit dem Frankfurter Sozialdemokraten<br />

Franz Ulrich Gedanken aus <strong>und</strong> besuchte auch den ebenfalls dort lebenden<br />

ehemaligen Reichswehrminister Gustav Noske.<br />

Leuschner traf in Frankfurt u. a. Kurt Moosdorf, einst Bürgermeister von Bad Vilbel<br />

<strong>und</strong> jetzt gemeinsam mit Friedrich in einem Versicherungsbüro tätig, <strong>und</strong> Willi<br />

Richter, nach dem Krieg zunächst erster Gewerkschaftsvorsitzender in Hessen, dann<br />

DGB-Vorsitzender. Man verabredete sich hierzu beispielsweise im Café am<br />

Hauptbahnhof oder im Restaurant des ehemaligen SPD-Reichstagsabgeordneten<br />

Franz Metz nahe des Zoos. Im Darmstädter Raum gehörten neben Zinnkann <strong>und</strong><br />

Friedrich der spätere Bürgermeister von Griesheim, Daniel Müller (SPD), der nach<br />

den Angaben Friedrichs in recht enger Verbindung zu Leuschner stand, zu dessen<br />

Vertrauten, desgleichen der erste Darmstädter Oberbürgermeister nach dem Krieg,<br />

<strong>Ludwig</strong> Metzger. Näheres über Leuschners Kontaktleute aus dem Darmstädter<br />

Raum wusste <strong>Bergsträsser</strong> wohl nicht: „Von den anderen Vertrauensleuten aber<br />

erfuhr <strong>Bergsträsser</strong> niemals etwas; er ahnte nicht einmal, dass Leuschner auch in<br />

Darmstadt andere Fre<strong>und</strong>e besuchte, ebenso wenig wie <strong>die</strong>se von <strong>Bergsträsser</strong>s<br />

4


Mitwirkung wussten.“<br />

<strong>Bergsträsser</strong> wiederum besuchte Leuschner in dessen Berliner Privatwohnung <strong>und</strong><br />

nannte sich dabei – wie auch bei seinen Telefongesprächen in Berlin – „Dr. Pampel“.<br />

So hielt er sich im Mai 1941 mehrere Tage in der Reichshauptstadt auf <strong>und</strong> traf<br />

Leuschner, den „Hauptsächlichen“, wie er ihn ohne Namensnennung in seinem<br />

Tagebuch <strong>die</strong>ser Zeit nannte. Er kam bei <strong>die</strong>sem Berlin-Besuch auch mit weiteren<br />

Politikern zusammen, u. a. mit dem langjährigen Reichstagspräsidenten Paul Löbe<br />

(SPD) <strong>und</strong> mit Anton Erkelenz, seinem ehemaligen Kollegen aus der DDP, der 1930<br />

ebenfalls zur SPD übergetreten war. Kurier<strong>die</strong>nste zwischen Berlin <strong>und</strong> Darmstadt<br />

übernahmen auch <strong>Bergsträsser</strong>s Tochter Gisela <strong>und</strong> deren Bekannte.<br />

Die Verbindungen zu Leuschner liefen indirekt auch über den einstigen langjährigen<br />

preußischen Innenminister <strong>und</strong> Reichsinnenminister Carl Severing (SPD), der als<br />

Pensionär in Bielefeld lebte <strong>und</strong> zu dem <strong>Bergsträsser</strong> im Mai 1941 von Berlin aus<br />

reiste. Erstmals traf der Darmstädter – so überliefert Severing in seinen Memoiren –<br />

den vormaligen Reichstagskollegen am 29. September 1938, genau an jenem Tag,<br />

an dem Hitler durch Abschluss des Münchener Abkommens seinen größten<br />

außenpolitischen Erfolg feiern konnte. <strong>Bergsträsser</strong> nutzte <strong>die</strong> Besuche bei<br />

Bekannten in Steinhagen unweit von Bielefeld zum Gedankenaustausch mit dem<br />

„Fre<strong>und</strong> aus Bielefeld“, wie er Severing in seinem Tagebuch nannte. Beide<br />

besprachen <strong>die</strong> Notwendigkeit, eine Verfassung für das kommende Deutschland<br />

vorzubereiten: „Denn wenn Bereitsein alles ist, dann mussten wir mindestens<br />

gedanklich bereit sein, nach einem verlorenen Krieg schnellstens <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lagen für<br />

ein politisches <strong>und</strong> gesellschaftliches Zusammenleben des deutschen Volkes zu<br />

legen.“<br />

II.<br />

Offensichtlich aus <strong>die</strong>sen Diskussionen mit Severing heraus entstand <strong>Bergsträsser</strong>s<br />

Denkschrift unter dem Titel „Wiederherstellung“. Auf einem im Nachlass Wilhelm<br />

Leuschners überlieferten Exemplar der Denkschrift vermerkte <strong>Bergsträsser</strong><br />

handschriftlich mit Datum vom 20. Januar 1947: „Denkschrift von mir, Dr. L.<br />

<strong>Bergsträsser</strong>, während des Krieges verfasst, vermutlich 1942, nachdem wir den<br />

Sommer in Steinhagen gewesen waren.“<br />

Auf dem Kopf des neunseitigen, engzeilig in Schreibmaschine geschriebenen<br />

Dokuments notierte er, dass <strong>die</strong> Denkschrift an Severing gegeben wurde <strong>und</strong> für<br />

Leuschner bestimmt gewesen sei. Diese Denkschrift war kein detaillierter<br />

Verfassungsplan, sondern markierte nur Eckwerte der künftigen parlamentarischen<br />

Ordnung: Wahlrecht, Zweikammersystem <strong>und</strong> Staatsform <strong>und</strong> den Weg dorthin.<br />

Dabei ging <strong>Bergsträsser</strong> von der „stillschweigenden Voraussetzung aus, dass das<br />

parlamentarische System im eigentlichen Sinne wieder eingeführt wird, also mit einer<br />

Regierung, <strong>die</strong> vom Parlament abhängig ist“.<br />

Der Kenner der Verfassungsgeschichte argumentierte aus historischer Perspektive,<br />

wenn er einleitend auf <strong>die</strong> Erfahrungen Frankreichs in den Jahren 1815 <strong>und</strong> 1871<br />

hinwies, dass Wahlen unmittelbar nach dem Zusammenbruch einer mit umfassenden<br />

Propagandamöglichkeiten ausgestatteten Diktatur sehr stark von Emotionen geprägt<br />

seien. Dies war in seinen Augen gerade für Deutschland eine besondere Gefahr, weil<br />

hier <strong>die</strong> politische Erziehung der Bürger stets vernachlässigt worden sei. So müsse in<br />

der „Nach-Hitler-Zeit“ vor allgemeinen Wahlen überhaupt erst einmal eine neue<br />

Gr<strong>und</strong>lage für <strong>die</strong> demokratische Ordnung geschaffen werden.<br />

Die neue provisorische Reichsleitung sollte zunächst ein Rahmenprogramm<br />

erlassen, das einige Gr<strong>und</strong>elemente garantiere <strong>und</strong> <strong>die</strong> parlamentarische Verfassung<br />

als eigentliches Ziel proklamiere, selbst aber noch keine Verfassung ausarbeiten.<br />

5


Flankierend sollte der neuen Reichsleitung durch publizistische Mitarbeiter –<br />

Schriftsteller <strong>und</strong> Wissenschaftler – propagandistische Schützenhilfe geleistet <strong>und</strong> so<br />

der Boden für demokratische Ideen aufnahmefähig gemacht werden. Hier schwebte<br />

<strong>Bergsträsser</strong> als Beispiel offensichtlich der „Werbe<strong>die</strong>nst der deutschen Republik“ vor<br />

Augen, der in der Revolutionszeit 1918/19 <strong>die</strong> revolutionäre Übergangsregierung,<br />

den Rat der Volksbeauftragten, in vielfältiger Weise wirksam für das Ziel<br />

Nationalversammlung unterstützt hatte.<br />

Wie sollte überhaupt <strong>die</strong> Diktatur gestürzt werden? Ein Staatsstreich durch Polizei<br />

oder Militär – wie er dann im Juli 1944 tatsächlich versucht werden sollte – sei zwar<br />

<strong>die</strong> „bessere Art der Veränderung“, aber seiner Meinung nach höchst<br />

unwahrscheinlich. Die andere Möglichkeit war <strong>die</strong> Revolution, ausgehend von in der<br />

Heimat stationierten Truppenkontingenten, <strong>die</strong> in der Erkenntnis, in einen<br />

aussichtslosen <strong>und</strong> somit zwecklos gewordenen Kampf geworfen zu werden,<br />

rebellieren würden. Unausgesprochen nahm <strong>Bergsträsser</strong> damit Bezug auf den<br />

Ausbruch der Revolution 1918, als sich <strong>die</strong> Matrosen in Kiel weigerten, zu einem<br />

letzten unsinnigen Gefecht auszulaufen, <strong>und</strong> damit den revolutionären Funken<br />

entfachten, der in Windeseile das Kaiserreich hinwegfegte.<br />

Um ein Abgleiten einer solchen Revolte von der „organisierten in <strong>die</strong> unorganisierte<br />

Willkür“ mit verheerenden Folgen für <strong>die</strong> Versorgung der Bevölkerung zu verhindern,<br />

müssten Auffangorganisationen ins Räderwerk greifen, <strong>die</strong> Auswüchsen<br />

gegensteuerten. Hier kamen für <strong>Bergsträsser</strong> nur zwei Institutionen in Frage, <strong>die</strong> in<br />

den „zu allgemeinem Brei durch das bisherige System zermürbten Massen noch<br />

vorhanden“ seien: <strong>die</strong> Gewerkschaften <strong>und</strong> <strong>die</strong> katholische Kirche. Die evangelische<br />

war für ihn – so schrieb er nach dem Krieg einmal – als „Steigbügelhalter der Nazis“<br />

vollkommen diskreditiert. Die aus den Kreisen von Gewerkschaften <strong>und</strong> katholischer<br />

Kirche rekrutierten Personen sowie weitere hinzugezogene Persönlichkeiten<br />

unterschiedlicher politischer Couleur sollten in den Kommunen Komitees bilden <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> wichtigsten Ämter besetzen. Dieser räumlichen Ordnungszelle war dann neben<br />

dem Bürgermeister eine Stadtverordnetenversammlung zur Seite zu stellen, <strong>die</strong> – als<br />

erster Schritt zur Wiederherstellung parlamentarischer Verhältnisse – öffentlich tagen<br />

sollte.<br />

Hier zeigen sich Parallelen zu den Plänen der westlichen Siegermächte im<br />

Nachkriegsdeutschland, <strong>die</strong> nach der Befreiung 1945 unbelastete Persönlichkeiten<br />

an <strong>die</strong> Spitze der Kommunen stellten, ihnen Bürgerräte als Hilfsorgane zur Seite<br />

gaben <strong>und</strong> erst nach einer Phase der parteipolitischen Abstinenz <strong>und</strong><br />

demokratischen Erziehung Wahlen abhalten wollten.<br />

Der Wiederaufbau der Demokratie war bei <strong>Bergsträsser</strong> „vorsichtig <strong>und</strong> gemach“,<br />

ohne sofortige Wahlen gedacht. Nachdem in größeren Gebieten Ruhe <strong>und</strong> Ordnung<br />

eingekehrt seien, sollten <strong>die</strong> Körperschaften der unteren Ebenen <strong>die</strong> der<br />

nächsthöheren bestimmen, bis hinauf zu den Provinzen. Mit einem solchen Aufbau<br />

wären dann ganz im Sinne der Steinschen Ideen Gr<strong>und</strong>lagen für eine<br />

„Gesamtvertretung des Staatsvolkes“ gelegt, <strong>die</strong> auf Dauer durch eine beträchtliche<br />

Selbstverwaltung ausgebaut werden sollte. Ob man für <strong>die</strong> Übergangszeit nach<br />

<strong>die</strong>sem stufenweisen Verfahren oder auf dem Weg der direkten Wahlen <strong>die</strong><br />

Reichsvertretung schaffen sollte, hing seiner Meinung nach ganz von der Situation<br />

ab. Er plä<strong>die</strong>rte jedoch ausdrücklich dafür, <strong>die</strong> Selbstverwaltungsorgane in <strong>die</strong><br />

endgültige Verfassung einzubauen. Der französische Einfluss kam hier im<br />

Staatsaufbau voll zum Tagen. Weil Deutschland nach dem Krieg ähnliche<br />

Schwierigkeiten wie 1918 gegenüberstehen würde <strong>und</strong> es auch zu raschen<br />

Stimmungsschwankungen kommen könnte, sei als retar<strong>die</strong>rendes Element in der<br />

Gesetzgebung nach dem Vorbild der dritten französischen Republik ein aus Wahlen<br />

6


der Selbstverwaltungskörperschaften hervorgehenden Senat einzurichten, der als ein<br />

<strong>die</strong> Demokratie stabilisierendes Organ alle zwei Jahre – in Frankreich waren es drei<br />

Jahre – zu je einem Drittel erneuert werden sollte. Zu den von <strong>Bergsträsser</strong> bewusst<br />

nicht näher bestimmten Kompetenzen der zweiten Kammer zählte als wichtigste <strong>die</strong><br />

Zustimmung bei Gesetzen mit dem Ziel, „<strong>die</strong> kaninchenartige Fruchtbarkeit des<br />

Reichstages […] im Erlassen immer neuer Spezialgesetze einzudämmen“. Das<br />

Budgetrecht sollte freilich – wie im Frankreich der Dritten Republik – dem Parlament<br />

allein zustehen.<br />

Der Reichstag war „von <strong>die</strong>sen Beschränkungen abgesehen in der alten Form zu<br />

erneuern“, durch allgemeine, gleiche, direkte <strong>und</strong> geheime Wahl. <strong>Bergsträsser</strong> hielt<br />

nichts von einem abgestuften Stimmrecht, wie in anderen Plänen aus<br />

Widerstandskreisen zu lesen war. Er konnte sich dabei einen kleinen Seitenhieb auf<br />

das 1919 erstmals angewandte Frauenwahlrecht nicht verkneifen, an dem allerdings<br />

„trotz schlechter Erfahrungen“ nicht gerüttelt werden dürfe – eine Anspielung auf <strong>die</strong><br />

Tatsache, dass Frauen im Durchschnitt weniger als Männer zur Urne gegangen<br />

waren <strong>und</strong> dabei mehr als <strong>die</strong>se konservative Parteien <strong>und</strong> nicht <strong>die</strong> Arbeiterparteien<br />

gewählt hatten. Doch das 1918 eingeführte Verhältniswahlsystem, das er nach dem<br />

Krieg als einen typischen deutschen Fehler bezeichnete, müsse wieder zugunsten<br />

des im Kaiserreich geltenden Mehrheitswahlsystems mit Einerwahlkreisen fallen,<br />

freilich mit einer gerechteren Wahlkreiseinteilung als im Kaiserreich. Die Forderung<br />

nach Einerwahlkreisen schöpfte er – selbst Parteipolitiker <strong>und</strong> Kenner der<br />

Parteiengeschichte – aber nicht wie andere in der <strong>Widerstandsbewegung</strong> aus einer<br />

gr<strong>und</strong>sätzlichen Kritik an den Parteien. Das Schlagwort von der<br />

Parteienzersplitterung durch das Proporzsystem ließ er nicht gelten: „Auch der<br />

Einwand, dass der Wähler dann nicht <strong>die</strong> Person, sondern <strong>die</strong> Partei wähle, trifft<br />

nicht das Wesentliche; er wählt mit jeder Person […] eine Partei.“ <strong>Bergsträsser</strong><br />

begründete demgegenüber sein Eintreten für das „absolute“ Mehrheitswahlsystem<br />

mit der „Verlagerung des Kompromisses“ auf <strong>die</strong> unterste Ebene. Er sah hierin einen<br />

demokratischen Erziehungseffekt. Er lehnte das u. a. von Goerdeler geforderte<br />

„relative“ Mehrheitswahlrecht nach englischem Muster mit einfacher Mehrheit in den<br />

Wahlkreisen ab. <strong>Bergsträsser</strong> plä<strong>die</strong>rte für Stichwahlen, da hier ein Teil der Wähler<br />

gezwungen sei, einen Kompromiss einzugehen, <strong>und</strong> dadurch am eigenen Leibe<br />

spüre, dass man „Politik nicht im luftleeren Raum nach reinen Vorstellungen“<br />

machen könne: „Der Wähler wird […] verstehen, dass <strong>die</strong> Fraktion seiner Partei im<br />

Parlament nicht darauf loswirtschaften, nicht machen kann, was sie will, sondern zu<br />

Kompromissen genötigt ist.“<br />

Der Kompromiss war für <strong>Bergsträsser</strong> unverzichtbares Element parlamentarischer<br />

Demokratie, „das Nötigste in der Politik“, eben kein „Kuhhandel“, wie man den<br />

Kompromiss bei Stichwahlen in einer Denkschrift des Goerdeler-Kreises abfällig<br />

bezeichnete; <strong>die</strong>s war für <strong>Bergsträsser</strong>, dem Vorarbeiten zu <strong>die</strong>ser Denkschrift wohl<br />

bekannt gewesen sein dürften, schlicht „ein Zeichen politischen Unverstandes“.<br />

Durch das Persönlichkeitswahlrecht erhoffte er eine viel stärkere Bindung der<br />

Gewählten an ihren Wahlkreis <strong>und</strong> sah darin <strong>die</strong> Chance, der hemmungslosen<br />

Verdächtigung der Politiker, <strong>die</strong> zum Alltag in Weimar gehört hatte, entgegenzuwirken.<br />

Trotz des gr<strong>und</strong>sätzlichen Plädoyers für das Einerwahlsystem hielt<br />

er es für erwägenswert, in größeren zusammenhängenden Gebieten mehrere<br />

Abgeordnete nach dem Proporz wählen zu lassen, um den eigentlichen<br />

Spitzenpolitikern der Parteien ein Mandat zu sichern.<br />

Als Staatsform war für <strong>Bergsträsser</strong> zwar <strong>die</strong> parlamentarische Monarchie englischer<br />

Prägung das eigentliche Wünschenswerte, weil <strong>die</strong> parlamentarische Republik immer<br />

zu dem Versuch einlade, eine Diktatur zu errichten – wie das jähe Ende Weimars<br />

7


gezeigt hatte –, doch <strong>die</strong>ses Vorbild könne nicht auf Deutschland übertragen werden.<br />

Die Hohenzollern schieden wegen ihrer Verbindung mit dem NS-Regime aus, <strong>und</strong><br />

auch von den Mitgliedern der anderen alten Herrscherhäuser kam für ihn niemand in<br />

Frage: „Infolgedessen wird es wohl bei der Republik mit einem Präsidenten bleiben.“<br />

Dieser Präsident sollte allerdings – das war historische Lektion aus der unheilvollen<br />

Wahl Hindenburgs 1925 – nicht mehr vom Volk, sondern nach französischem Vorbild<br />

durch Senat <strong>und</strong> Reichstag gewählt werden, aus deren Mitte auch das<br />

Staatsoberhaupt kommen sollte.<br />

So wichtig <strong>die</strong>se verfassungsrechtlichen Ordnungsprinzipien auch waren, so wenig<br />

betragen sie nach <strong>Bergsträsser</strong> „das Wesentlichste“. Viel entscheidender für eine<br />

dauerhaft funktionierende Demokratie war für ihn <strong>die</strong> Erziehung zur Demokratie, zum<br />

mündigen, am politischen Leben teilhabenden Staatsbürger. Die politische Erziehung<br />

war in Deutschland von jeher vernachlässigt worden: „Nur ein ausgedehntes<br />

staatsbürgerliches Bildungswesen wird dem deutschen Volke <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage<br />

schaffen, auf der ein parlamentarisches System auf lange Zeit bestehen <strong>und</strong><br />

fruchtbar arbeiten kann.“<br />

Die Gr<strong>und</strong>züge <strong>die</strong>ses Bildungswesens legte er in einer weiteren Denkschrift für<br />

Leuschner mit dem Titel „Wissenschaftsprobleme“ dar. In <strong>die</strong>sem wohl 1943<br />

verfassten Memorandum setzte sich <strong>Bergsträsser</strong> sehr kritisch mit dem<br />

Bildungsbereich auseinander. Zentralen Stellenwert maß er der Neuorganisation der<br />

höheren Schulen bei, <strong>die</strong> ausschließlich auf <strong>die</strong> Hochschule vorbereiten sollten.<br />

Dabei müsse das Abitur erschwert werden. Denn <strong>Bergsträsser</strong> erblickte den<br />

Kardinalfehler des höheren Schulwesens darin, dass der Übergang von der Schule<br />

zur Hochschule zu schroff sei, ein viel zu abrupter Sprung von der „autoritären<br />

Gestaltung des Unterrichts zur geistigen Selbständigkeit“. Er empfahl das<br />

französische Modell, in dem während des letzten Jahrganges <strong>die</strong> Unterrichtsfächer<br />

zugunsten allgemeiner, das selbstständige Denken fördernde Themen zurücktreten<br />

würden.<br />

Es überrascht nicht, dass der gebürtige Elsässer, Bew<strong>und</strong>erer französischer Kultur<br />

<strong>und</strong> Sprache – er verfasste während der Diktatur mehrere Beiträge über den<br />

französischen Schriftsteller Eugène Sue –, Französisch als erste Fremdsprache<br />

forderte. Eine wichtige Funktion wies der Historiker dem Fach Geschichte zu, das<br />

einer gr<strong>und</strong>legenden Revision zu unterziehen sei, denn es habe nicht „den Zweck,<br />

Unteroffiziere <strong>und</strong> Offiziere vorzubilden, sondern Staatsbürger […]: Kriege sind nur<br />

eine Seite der Geschichte <strong>und</strong> nicht eine sehr lehrreiche“. Viel stärker müssten<br />

Fragen von Politik <strong>und</strong> Wirtschaft Beachtung finden, sollten Kunst <strong>und</strong> Literatur in <strong>die</strong><br />

Geschichte einbezogen werden. Er machte sich hier zum Fürsprecher eines<br />

eigenständigen Faches Staatsbürgerk<strong>und</strong>e, eine seiner zentralen Forderungen auch<br />

in der Nachkriegszeit, für ihn der „Angelpunkt der Schulreform“ überhaupt. Als<br />

Regierungspräsident von Darmstadt erhob er im Oktober 1945 den<br />

staatsbürgerlichen Unterricht zum Pflichtunterrichtsfach mit zwei Wochenst<strong>und</strong>en ab<br />

dem 7. Schuljahr. Alle strukturellen Maßnahmen seien jedoch ohne neue ideelle<br />

Werte unwirksam, ohne den „Geist der Humanität, des Zusammenlebens aller<br />

Menschen, der Toleranz, des Idealismus […], Humboldt gegen Hindenburg <strong>und</strong><br />

Hitler, das ist <strong>die</strong> Parole“.<br />

III.<br />

<strong>Bergsträsser</strong> war mit <strong>die</strong>sen beiden Denkschriften in <strong>die</strong> Diskussion um <strong>die</strong><br />

Neuordnung in den Zirkeln des Widerstandes eingeb<strong>und</strong>en; wie eng er letztlich<br />

involviert war <strong>und</strong> welche Kenntnisse er von der gesamten illegalen Struktur hatte,<br />

muss offen bleiben. Die Quellen sind spärlich. <strong>Bergsträsser</strong> muss zu jenem weiteren<br />

8


Kreis an der Peripherie des „20. Juli“ zu zählen sein, mit denen <strong>die</strong><br />

Hauptverantwortlichen über den Ernst der Lage <strong>und</strong> über Einzelprobleme sprachen<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> zwar wussten, dass irgendwann ein gewaltsames Unternehmen gestartet<br />

werden sollte, <strong>die</strong> aber keinen Einblick in <strong>die</strong> konkreten Planungen besaßen. So fand<br />

zwar – nach den Erinnerungen des ersten Darmstädter Nachkriegsoberbürgermeisters<br />

<strong>Ludwig</strong> Metzger (SPD) – noch kurz vor dem Attentat auf Hitler in<br />

<strong>Bergsträsser</strong>s Wohnung ein Treffen mit Leuschner statt, bei dem <strong>die</strong>ser <strong>die</strong><br />

Anwesenden fragte, ob sie sich „im Falle eines Umsturzes zur Mitarbeit zur<br />

Verfügung“ stellen würden, was allgemein bejaht wurde. <strong>Bergsträsser</strong> hatte wohl <strong>die</strong><br />

Order, „wenn das Attentat geglückt wäre, auf schnellstem Wege nach Berlin zu<br />

gehen <strong>und</strong> einen leitenden Posten im Reichskultusministerium zu übernehmen“.<br />

Doch seine Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit um den 20. Juli 1944 lassen nicht<br />

den Schluss zu, dass er von dem unmittelbar bevorstehenden Attentat wusste: Er<br />

erfuhr von dem Anschlag erst durch das Radio.<br />

Dennoch war er nach dem Scheitern des Umsturzes der Gefahr ausgesetzt, von der<br />

folgenden Verhaftungswelle erfasst zu werden. Für ihn mag es in gewisser Weise<br />

Glück gewesen sein, dass er durch den Großangriff auf Darmstadt in der Nacht vom<br />

11. auf den 12. September 1944, als auch sein Haus zerbombt wurde, in ein<br />

Gasthaus im südlichen Odenwald verschlagen wurde <strong>und</strong> so aus dem direkten<br />

Blickfeld der nationalsozialistischen Verfolger entschw<strong>und</strong>en war. Sechs Monate lang<br />

harrte <strong>Bergsträsser</strong> dort zwischen Angst vor Nachstellungen <strong>und</strong> Hoffen auf ein<br />

baldiges Kriegsende aus. Wie bedrückend <strong>die</strong>se Zeit für ihn war – im Wissen darum,<br />

dass immer wieder Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Mitstreiter den Nazischergen zum Opfer fielen –,<br />

lässt sich kaum ermessen.<br />

Erst mit der Befreiung Hessens durch amerikanische Truppen im März 1945 konnte<br />

er wieder frei atmen <strong>und</strong> machte sich sofort daran, am Bau eines neuen Deutschland<br />

mitzuwirken. Er wurde erster Regierungschef im früheren Volksstaat Hessen <strong>und</strong><br />

blieb dort, nachdem im September 1945 mit dem Zusammenschluss des ehemaligen<br />

Volksstaates mit der einstigen preußischen Provinz Hessen-Nassau ein vereintes<br />

Hessen geschaffen worden war, bis zum August 1948 Regierungspräsident. Der<br />

Verfassungspolitiker <strong>Bergsträsser</strong> hatte Anteil an der staatsrechtlichen<br />

Gr<strong>und</strong>steinlegung der Zweiten Republik auf deutschem Boden. Er zählte als<br />

führender Abgeordneter der Verfassungsberatenden Landesversammlung in Hessen<br />

zu den Architekten des Verfassungskompromisses von SPD <strong>und</strong> CDU <strong>und</strong> gehörte<br />

als Mitglied des Parlamentarischen Rats zu den Schöpfern des Gr<strong>und</strong>gesetzes.<br />

Der Politiker <strong>und</strong> Historiker <strong>Bergsträsser</strong> setzte sich schon bald nach der Befreiung<br />

dafür ein, den Nationalsozialismus zum Thema des Schulunterrichts zu machen <strong>und</strong><br />

so unmittelbar über <strong>die</strong> jüngste Geschichte aufzuklären. Zu <strong>die</strong>ser notwendigen<br />

Aufklärungsarbeit gehörte nach <strong>Bergsträsser</strong>s Auffassung auch <strong>die</strong> Behandlung des<br />

Widerstandes, besonders des Widerstandes von Sozialdemokratie <strong>und</strong><br />

Gewerkschaften. Er sah in der Vernachlässigung der sozialdemokratischen<br />

Opposition gegen Hitler einen das Selbstbewusstsein seiner Partei <strong>und</strong> ihrer<br />

Mitglieder schädigenden Effekt, auch gerade im Verhältnis zu den anderen Parteien.<br />

Er riet schon 1947 dem SPD-Parteivorstand, <strong>die</strong> Initiative zu ergreifen, „dass das<br />

Material über <strong>die</strong> sozialdemokratische <strong>Widerstandsbewegung</strong> systematisch<br />

gesammelt <strong>und</strong> zu einer Darstellung verarbeitet wird“. Geleitet von der Feststellung,<br />

dass bisher „zwar viel über <strong>die</strong> militärischen Männer des Widerstandes <strong>und</strong> über <strong>die</strong><br />

konservativen Widerständler (Goerdeler, Kreisauer Kreis) geschrieben worden ist,<br />

dass aber <strong>die</strong> linke Seite <strong>die</strong>ses Widerstands […] bisher in allen Darstellungen sehr<br />

kurz kam“, sowie von der Befürchtung, dass dadurch der sozialdemokratische<br />

Widerstand gegen Hitler nicht seinen gebührenden Platz in der historischen<br />

9


Betrachtung finde, trug er sich recht bald mit dem Gedanken, eine Biographie<br />

Leuschners zu verfassen. Er hatte aus den Händen der Familie <strong>die</strong> Tagebücher für<br />

<strong>die</strong> wissenschaftliche Bearbeitung zur Verfügung gestellt bekommen. Ihm schwebte<br />

ein „eindrucksvoller Dokumentenband über Leuschner <strong>und</strong> seine gesamte politische<br />

Tätigkeit“ vor. Dieses Vorhaben konnte er nicht mehr verwirklichen.<br />

<strong>Ludwig</strong> <strong>Bergsträsser</strong> starb am 22. März 1960. Zwei Jahre später wurde seine<br />

Denkschrift „Wiederherstellung“ in der ersten <strong>und</strong> noch immer einzigen umfassenden<br />

Biographie Wilhelm Leuschners einem größeren Publikum vorgestellt <strong>und</strong> somit auch<br />

<strong>Bergsträsser</strong>s Name als einer der vielen gewürdigt, <strong>die</strong> in Verbindung mit jenen<br />

Widerstandskämpfern gestanden hatten, <strong>die</strong> 1944 das Unrechtsregime beseitigen<br />

wollten <strong>und</strong> ihren Kampf für <strong>die</strong> Freiheit mit dem Leben bezahlen mussten.<br />

Der Beitrag beruht vor allem auf dem unveröffentlichten Kriegstagebuch <strong>Ludwig</strong><br />

<strong>Bergsträsser</strong>s im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, den Dokumenten aus dem<br />

mittlerweile nun auch dorthin gelangten, seinerzeit noch bei den Nachfahren<br />

eingesehenen Nachlass <strong>Bergsträsser</strong>s <strong>und</strong> im dortigen Nachlass Wilhelm<br />

Leuschners sowie auf Materialien der Gestapo <strong>und</strong> des Sicherheits<strong>die</strong>nstes im<br />

B<strong>und</strong>esarchiv (Außenstelle Dahlwitz-Hoppegarten), darunter auch den Akten der<br />

französischen Sicherheitsbehörden, <strong>die</strong> beim Einmarsch in <strong>die</strong> Hände der Deutschen<br />

gefallen sind. Einzelnachweise in dem o. g. ursprünglichen Beitrag.<br />

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