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Genetische Nietzscheinterpretation

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<strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

im Spannungsfeld wissenschaftlicher AnsprÄche, apologetischer Arrangements<br />

und weltanschauungskritischer Analysen<br />

Nachtrag zur Streitschrift Wider weitere Entnietzschung Nietzsches:<br />

Metakritik prinzipien- sowie detailorientierter Kritik an<br />

Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. Kindheit,<br />

am Beispiel der Habilitationsschrift von Hans Gerald HÄdl,<br />

Der letzte JÄnger des Philosophen Dionysos, sowie von in der Tendenz Verwandtem<br />

von Hermann Josef Schmidt<br />

(Gesamtfassung)


Es ist [...] nothwendig, sich die Vergangenheit, die Jahre der Kindheit insbesondere, so treu<br />

wie mÄglich vor Augen zu stellen, da wir nie zu einem klaren Urtheil Åber uns selbst<br />

kommen kÄnnen, wenn wir nicht die VerhÇltnisse, in denen wir erzogen sind, genau betrachten<br />

und ihre EinflÅsse auf uns abmessen. Wie sehr auf mich das Leben meiner ersten<br />

Jahre in einem stillen Pfarrhaus, der Wechsel groÉen GlÅcks mit groÉem UnglÅck, das<br />

Verlassen des heimatlich[en] Dorfes [...] einwirkten, glaube ich noch tÇglich an mir wahrzunehmen.<br />

Friedrich Nietzsche, Nachlassnotiz 1862 (II 119 f. bzw. I 3, 24).<br />

Alles moderne Philosophiren ist [...] durch: [...] Kirchen Akademien Sitten Moden Feigheiten<br />

der Menschen auf den gelehrten Anschein beschrÇnkt: es bleibt beim Seufzer „wenn<br />

doch“ oder bei der Erkenntnis „es war einmal“.<br />

Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873-74), Kap. 2.<br />

2


Abstract<br />

Vorwort<br />

1. Einleitung<br />

Inhalt<br />

2. Drei VorgÅnger und eine Parallelaktion, 2009<br />

2.1. Ein erster VorgÇnger, 1993<br />

2.2. Ein zweiter VorgÇnger, 1994<br />

2.3. Ein dritter VorgÇnger, 1998/1999<br />

2.4. Fazit<br />

2.5. Zeitnahe Parallelaktion: Klaus Gochs prophetenkuchengarnierte Mehlsuppe, 2009<br />

3. Die Monographie: Der letzte JÄnger des Dionysos (DlJ), 2009<br />

3.1. Eine basale Vorentscheidung<br />

3.2. Des Autors vorgezogenes ResÅmee<br />

3.3. Argumentations- und BeweisgangsÄberprÄfungen 1: Weichenstellungen &<br />

Vorentscheidungen<br />

3.3.1. Weitere zentrale Vorentscheidungen<br />

3.3.1.1. Einordnung von Nietzsche absconditus, Kindheit (NaK)<br />

3.3.1.2. Fragen der Chronologie<br />

3.3.1.3. Des Autors biographisches Setting<br />

3.3.1.4. ZeitsprÅnge<br />

3.3.2. Zu des Autors Analyse und Kritik von Nak<br />

3.3.2.1 Eine grundsÇtzliche Unterscheidung<br />

3.3.2.2 ‘Normalkind’-InterpretationsprÇferenz<br />

3.3.2.3. ‘Mainstream’-InterpretationsprÇferenz<br />

3.3.2.4. „Aufbau und Grundgedanken“ von NaK à la DlJ<br />

3.3.2.5. Differenz Interpretationsprogramm versus -resultat<br />

3.3.2.6. BewuÉtheitsproblem<br />

3.3.2.7. „Die [7] Grundthesen von Schmidts Interpretationen“<br />

3.3.2.8. Kritikers persÄnlicher Einstieg: „Experiment“ à la HÄdl<br />

3.3.2.9. Nietzsche absconditus – rhetorischer Produzent mystagogischer Spannung?<br />

3.3.2.10. Tunnelblick versus Spurenlesen?<br />

3.3.2.11. Nicht nur ein Problem der Balance, sondern ein Pfiff von NaK<br />

3.4. Argumentations- und BeweisgangsÄberprÄfungen 2: die beiden experimenta crucis<br />

3.4.1. Perspektiven und Intentionen<br />

3.4.2. Inhaltliche äberprÅfung anhand der Interpretationen von 2 frÅhen Texten<br />

3.4.3. Experimentum crucis I: Der Moses-Vierzeiler<br />

3.4.3.1. Editionsfragen<br />

3.4.3.2. Interpretationsfragen<br />

3.4.4. Experimentum crucis II: Der GeprÄfte<br />

3.4.4.1. Des Autors kritische Thesen<br />

3


3.4.4.2. Editionsfragen<br />

3.4.4.3. Quellenprobleme<br />

3.4.4.4. Interpretationsfragen<br />

3.4.4.4.1. Rollen/Personen<br />

(1) Fakten<br />

(2) Details und Konsequenzen<br />

3.4.4.4.2. Titel der StÅcke<br />

3.4.4.4.3. Autorschaft bzw. des Autors 1. Hauptthese<br />

3.4.4.4.4. Rollenverteilung bzw. des Autors Nebenthese<br />

3.4.4.4.5. Im engeren Sinne inhaltlich-interpretative Fragen bzw. des Autors<br />

. 2. Hauptthese<br />

(1) Die Inhaltsskizze<br />

(2) HÄdls alternative Interpretation<br />

3.4.4.4.6. Zu des Autors interpretativem Ansatz<br />

3.4.4.4.7. Des Autors zusammengefaÉte äberlegungen zum zweiten experimentum<br />

crucis<br />

Addendum: der Autor in Schriften der Schulzeit (1854-1864), 2000<br />

3.5. Argumentations- und BeweisgangsÄberprÄfungen 3: Kritik „grundlegender Interpretationsprinzipien“<br />

von Nak, einige allgemeinere Perspektiven des Autors sowie dessen Fazit<br />

3.5.1. Problemanzeigen 1 & 2: eine basale Leerstelle und zur Trostfunktion von Religion<br />

3.5.2. Streitpunkt 1: Adressatenbezug und „Kontrasttechnik“?<br />

3.5.3. Streitpunkt 2: Differenz von offiziellem Text und Privattext<br />

3.5.4. Problemanzeige 3: ein wenig hermeneutischer Zirkel in NaK?<br />

3.5.5. Des Autors Zusammenfassung und Fazit<br />

3.6. Metakritische Offensive 1: Pudels Kern oder Katze aus dem Sack:<br />

Suspension theodizee- und religionskritischer Perspektiven?<br />

3.6.1. Kontaminiertes GelÇnde?<br />

3.6.2. Erstes auch Editionsfragen betreffendes ResÅmee<br />

3.6.3. Problemanzeige 4: Theodizeeproblem usw.<br />

3.6.4. Problemanzeigen 5 & 6: Certistische VerfÅhrungen & Catholica?<br />

3.6.5. Zweites ResÅmee oder Werden ZusammenhÇnge deutlicher?<br />

3.7. Metakritische Offensive 2: Die DlJ-Alternative<br />

3.7.1. Zur alternativen DlJ-Sicht religiÄser Entwicklung des Kindes Nietzsche<br />

3.7.2. Seitenausstieg(e) mit Stellschrauben?<br />

3.8. Metakritische Offensive 3: Polyperspektivisches DlJ-Fazit<br />

3.8.1. Methodologisch-weltanschauungskritisches Fazit<br />

3.8.2. Prinzipienorientiertes Fazit<br />

3.8.3. Ansatzorientiertes Fazit oder Ein interpretatives Katastrophenprogramm?<br />

3.8.4. PersÄnliches Fazit im Blick auf christophil orientierte Interpreten<br />

4


4. Ertrag in nietzscheinterpretationsgenetischer Perspektive<br />

Nachbemerkungen & Dank<br />

Anhang 1: Exorzismus gescheitert: Der alte Ortlepp war’s wohl doch. Metakritik einer „Philologie<br />

fÄr Spurenleser“ als Exempel eines Spuren- und Metaspurenlesens bei Nietzsche.<br />

Replik auf Hans Gerald HÄdl: Der alte Ortlepp war es Äbrigens nicht ... Philologie fÄr Spurenleser,<br />

1999 (Konzept von Mitte Dezember 1999)<br />

I. Hintergund<br />

II. Metakritik<br />

A. Falsifikation meiner Ortlepphypothese?<br />

B. Verifikation der Stoeckertthese?<br />

1. HÄdls Textbasis<br />

2. äbereinstimmungen zwischen der Schrift Stoeckerts und der Schrift in Nietzsches<br />

Album<br />

3. Differenzen zwischen der Schrift Stoeckerts und der Schrift in Nietzsches Album<br />

4. Gibt es eine weitere konsequenzenreiche Argumentations- oder AnalyselÅcke?<br />

C. Argumentative Nebenlinien der Miszelle<br />

III. Zum Kon- und Subtext der alten Pforte<br />

A. Georg Stoeckerts Handschrift und Ernst Ortlepp<br />

B. Vergleich des strittigen Nietzscheschen Albumeintrags mit Handschriften Ernst Ortlepps<br />

IV. ResÅmee nebst 10 Geboten interpretativer Redlichkeit<br />

Anhang 2: Ein ‘heiÖes’, fÄr <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong> besonders konsequenzenreiches<br />

Jahr 1994?<br />

Anhang 3: Ein forschungs- und -interpretationskritisches Problem oder Wie umgehen mit<br />

Bluff?<br />

Anhang 4: Vorschlag zur Bildung eines stillen Netzwerks in der Absicht, Philosophie, Wissenschaft<br />

und Interpretation nicht weiterhin korrumpieren zu lassen (2001, 2004)<br />

Anhang 5: Bescheidenes Lob des Komparativs<br />

5


Abstract<br />

Obwohl von Friedrich Nietzsche schon seit 1935 mehr Texte aus Kindheit und restlicher<br />

SchÅlerzeit im Druck vorliegen als von wohl jedem anderen wichtigen Literaten oder Philosophen<br />

vor dem 20. Jahrhundert, stoÉen Versuche, seine Gedanken primÇr aus ihrer textlich<br />

belegbaren Entwicklung zu verstehen, angesichts einer sich derzeit eher auf Rezeptionsfragen<br />

konzentrierenden, genetisch jedoch weiterhin abstinenten Interpretation meist auf distinguiertes<br />

Desinteresse, zuweilen jedoch auch auf hinhaltenden Widerstand. So vergingen knapp 60<br />

Jahre, bis eine erste, konkurrenzlos gebliebene umfassende Rekonstruktion der frÅhsten<br />

Denkentwicklung Nietzsches auf der Basis seiner eigenen Texte mit Nietzsche absconditus<br />

oder Spurenlesen bei Nietzsche. Kindheit, 1991, vorgelegt wurde. WÇhrend Nietzsches frÅhste<br />

Entwicklung ansonsten jedoch fast durchgÇngig als diejenige eines frommen christlichen<br />

Kindes gedeutet wird, verstÄÉt Nietzsche absconditus konsequent und im Nebenthema interpretationskritisch<br />

gegen undiskutiert vorausgesetzte Mainstream- sowie Normalkind-Interpretationstendenzen.<br />

So wird gezeigt, daÉ dieses in ‘erwecktem Pastorenhaus’ aufgewachsene<br />

Kind sich bereits sehr frÅh mit seinem ererbten religiÄsen Konglomerat auseinandersetzte und<br />

daÉ es ihm bis zum Ende seiner Kindheit beinahe gelang, sich aus einer durch frÅhe massive<br />

Inkonsistenzerfahrungen ausgelÄsten psychischen Krise (wohl einer ‘christogenen Neurose’)<br />

in hohem MaÉe eigenstÇndig poetisch herauszudenken. Deshalb stellt diese Nietzsches immense<br />

Denk- und ProblemkontinuitÇt bis zu Der Antichrist und seinem geistigen Zusammenbruch<br />

1888/1889 verstÇndlicher machende Deutung eine kaum geringe, da prÇmissenorientierte<br />

Provokation zumal derer dar, die selbst bei einem Autor wie Friedrich Nietzsche auch<br />

noch gegenwÇrtig mainstreamorientierten und zumal prochristlichen InterpretationsansÇtzen<br />

zuneigen. Und so stand und steht Nietzsche absconditus als Sondervotum kritischer <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

im Zentrum nachhaltiger Kritik, mit der sich der (sich seit den frÅhen<br />

1960er Jahren Åber interpretative Nietzscheklitterungen wundernde) Verfasser mÄglichst<br />

prinzipiell und umfassend auch aus der Perspektive von Nietzsches eigenen Kompetenzen<br />

auseinandersetzt.<br />

Da nach mehreren AnlÇufen mit Hans Gerald HÄdls Monographie Der letzte JÄnger des<br />

Philosophen Dionysos, 2009, seiner Berliner Habilitationsschrift, die bisher ausfÅhrlichste,<br />

prinzipiellste und erfreulicherweise auch tiefenschÇrfste Kritik an Nietzsche absconditus erschien,<br />

erfolgt hier eine bis in manches Detail gehende Auseinandersetzung mit HÄdls Kritik;<br />

am Rande auch mit verwandten Auffassungen sowie mit einigen editorischen Entscheidungen<br />

des den Kindertexten Nietzsches gewidmeten Bandes der Kritischen Gesamtausgabe, Werke,<br />

1995, weil HÄdl 1988-1994 als wissenschaftlicher Mitarbeiter die Edition der KGW I 1-3<br />

vorbereitete, sich auf spezifische Entscheidungen nun beruft und sie zu legitimieren sucht.<br />

Diese eine Vielzahl prinzipielle und detaillierte Informationen zur Entwicklung sowie zu<br />

den wohl wichtigsten Texten des frÅhsten Nietzsche bietende Untersuchung kann 1. als interpretationskritische<br />

Zwischenbilanz genetisch orientierter <strong>Nietzscheinterpretation</strong>, 2. als Anregung<br />

zugunsten nietzschenÇheren VerstÇndnisses sowie 3. als in manchem weiterfÅhrender<br />

Kommentar zu Nietzsches Kindheit (und damit auch zu Nietzsche absconditus. Kindheit) gelesen<br />

werden. AuÉerdem bietet sie 4. eine lÇngst ÅberfÇllige Konkretisierung meiner primÇr<br />

prÇmissenorientierten eher generell angesetzten Streitschrift Wider weitere Entnietzschung<br />

Nietzsches, 2000, und Åbertrifft die im Blick auf eilige Leser im Juli 2011 verÄffentlichte<br />

KÅrzestfassung Apologetenphilologie (AufklÇrung und Kritik 18, 3/2011, und www.fnietzsche/hjs_start.htm)<br />

auch ohne die beigefÅgten AnhÇnge im Umfang wenigstens um das<br />

Siebenfache.<br />

6


Vorwort<br />

Eine als <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong> im Spannungsfeld wissenschaftlicher AnsprÄche,<br />

apologetischer Arrangements und interpretations- sowie weltanschauungskritischer Analysen<br />

betitelte Untersuchung, aus deren Untertitel jedoch deutlich wird, daÉ es sich hierbei<br />

nicht um eine den Haupttitel direkt einlÄsende systematische Abhandlung, sondern in ihrem<br />

Schwerpunkt ‘nur’ um eine „Metakritik“ handelt, die vom Verfasser einer vor mehr als zwei<br />

Jahrzehnten erschienenen Untersuchung „am Beispiel“ einer diese Untersuchung einer „prinzipien-<br />

und detailorientierten Kritik“ unterwerfenden Habilitationsschrift, 2009, unternommen<br />

wird, ist nicht lediglich selbst ein Zwitter, sondern erfordert einen wenigstens doppelten Einstieg<br />

und stellt ihre Leser vor eine Reihe eher ungewÄhnlicher Anforderungen, genauer: intellektueller<br />

Herausforderungen.<br />

Um mit den An- bzw. Herausforderungen zu beginnen, so sollten Leser bereit sein, sich<br />

auf Argumentationen wirklich einzulassen und auch etwas Geduld aufzubringen, da nicht<br />

sofort deutlich wird, warum <strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung und -interpretation noch nicht<br />

den abgeklÇrten Status einer Teildisziplin der Nietzscheforschung und -interpretation einnehmen<br />

bzw. einzunehmen vermÄgen. Zwar bewegen sich <strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung und<br />

-interpretation lÇngst nicht mehr ‘lediglich in Kinderschuhen’, sondern befinden sich eher in<br />

einer sich wohl noch lÇnger hinziehenden Sturm- & Drangphase in einem Spannungsfeld z.T.<br />

ungeklÇrter wissenschaftlicher AnsprÅche, nicht seltener apologetischer Arrangements und<br />

schon deshalb unabdingbarer diverser interpretations- sowie weltanschauungskritischer Analysen<br />

so, daÉ AnsÇtze, Schwerpunkte wie Perspektiven innerhalb dieses enorm weiten Spannungsfeldes<br />

je nach Autor, wissenschaftlichem, philosophischem usw. Ansatz wechseln. FÅr<br />

den Verfasser, der aus noch deutlich werdenden GrÅnden seine VerÄffentlichungen als interpretationskritische<br />

Sondervoten mit weltanschauungskritischem Einschlag versteht, haben<br />

<strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung und -interpretation ausdrÅcklich die Aufgabe, landlÜufiger<br />

Entspezifizierung (meist als EntschÇrfung und/oder Trivialisierung) Nietzscheschen Denkens<br />

ebenso wie einer Diffamierung, Diskreditierung, aber auch Heroisierung Nietzsches durch<br />

konsequente Aufarbeitung von Kontextbedingungen der Entwicklung nietzscheschen Denkens<br />

sowie der Person Nietzsche und durch minuziáse sowie integrale Textanalyse („Spurenlesen<br />

bei Nietzsche“) Paroli zu bieten.<br />

So bietet diese Konstellation Lesern die reizvolle MÄglichkeit, zwischen Textanalysen,<br />

editions- sowie interpretationskritischen Argumentationen usw. in zuweilen eingesetzter weltanschauungskritischer<br />

Perspektive und mancherlei Skizzen umfassenderer ZusammenhÇnge<br />

hÇufig wechseln zu kÄnnen.<br />

Wenn das Stichwort „Zwitter“ fiel, so ist damit auf die fÅr diese Untersuchung<br />

charakteristische komplexe ‘Struktur’ angespielt, da hier der zweifelsohne riskante Versuch<br />

gewagt wird, auf wenigstens drei (in sich selbst wieder mehrschichtigen) ‘Ebenen’ bzw.<br />

Problemschichten teils zu sezieren teils zu argumentieren sowie dabei eine vierte (‘unterste’)<br />

Problemebene – die ‘Objektebene’ des Gegenstands der Metakritik – noch zu berÅcksichtigen.<br />

Um in aller Deutlichkeit aufzulisten:<br />

(1) ErklÇrtes Thema dieses Textes sowie ‘Rahmen’ oder Horizonte der den Schwerpunkt<br />

dieses hier vorliegenden Textes ausmachenden Metakritik bilden <strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung<br />

und -interpretation (mit dem Akzent auf Letzterer), die ihrerseits wieder 1 ...;<br />

1 Hier wÇre nun das Ensemble der ‘Metaperspektiven’, kritisch eingesetzte Instrumentarien, Kriterienkataloge<br />

aufzufÅhren, zu gewichten, zu diskutieren... Unabdingbar zwar fÅr jeden, der sich in derlei<br />

Terrains wagt, sich Åber hier Angedeutetes Gedanken zu machen und wenigstens Elementarkenntnisse<br />

in Wissenschaftsmethodologie usw. sich zu erarbeiten. Andererseits freilich auch der Versuchung<br />

nicht anheim zu fallen, sich bei derlei Diskussionen – so wichtig, prÇmissenrelevant und damit Åber<br />

das LeistungsvermÄgen einer Untersuchung entscheidend sie auch sind – bereits ‘hÇuslich einzurichten’,<br />

um solcherart sich ggf. tiefenschÇrferer <strong>Nietzscheinterpretation</strong>, auf die es hier ja an erster Stelle<br />

7


(2) die eigentliche ‘Handlungsebene’ ist also die den Schwerpunkt dieses Textes bzw. dieser<br />

Untersuchung ausmachende ‘Metakritik’ des Verfassers;<br />

(3) ‘Gegenstand’ bzw. ‘Objektebene’ der Metakritik des Verfassers bzw. von (2) bzw. dasjenige,<br />

worauf sich diese richtet, bildet die in einer Habilitationsschrift vorgelegte bisher<br />

umfassendste prinzipien- und detailorientierte Kritik an<br />

(4) einer vor zwei Jahrzehnten erschienenen umfangreichen, bisher einzigen Untersuchung<br />

der primÜr aus Nietzsches eigenen dem nÜmlichen Zeitraum angehárigen Texten rekonstruierten<br />

Entwicklung Nietzsches wÜhrend dessen Kindheit 1844-1858 und von Nietzsches<br />

Jugend bis 1864 des Verfassers, der aus noch zu berÅcksichtigendem Grund auch<br />

Verfasser der den Schwerpunkt dieser Untersuchung bildenden Metakritik bzw. von (2) ist.<br />

So bieten sich Lesern MÄglichkeiten, zusÇtzlich zu unterschiedlichen ‘Positionen’ und Perspektiven<br />

des Spannungsfelds <strong>Genetische</strong>r Nietzscheforschung und zumal -interpretation –<br />

quasi aus der Horizontale – gedanklich nun auch zwischen den skizzierten vier Ebenen – quasi<br />

in die Vertikale – zu wechseln und zur Abrundung der Argumentationen des Verfassers<br />

freilich nur am Rande noch Argumente und Sichtweisen einiger weiterer Interpreten in ihre<br />

äberlegungen einzubeziehen.<br />

Ganz im Vordergrund stehen (2) bzw. die ‘Handlungsebene’ der Metakritik bzw. diese<br />

selbst und (3) bzw. deren ‘Objektebene’, also die in Hans Gerald HÄdls Der letzte JÄnger des<br />

Dionysos, 2009, durchgefÅhrte Kritik an Argumentationen der beiden der Kindheit Nietzsches<br />

gewidmeten BÇnde von Nietzsche absconditus, 1991.<br />

Mein Vorwort respektiert diesen Sachverhalt und setzt deshalb nach diesen vielleicht eher<br />

etwas abgehobenen, prinzipiellerer Orientierung dienenden, methodologisch freilich simplen<br />

Vorbemerkungen nun, wie es einem theoretischen Zwitter gebÅhrt, nochmals doch diesmal<br />

sehr viel konkreter ein.<br />

Wenigstens die meisten von uns ãlteren haben in ihrer Kindheit noch Gelegenheit gehabt,<br />

fasziniert KÇmpfe zwischen HÇhnen zu beobachten, meist eines Çlteren Revierhalters, der sein<br />

Terrain zu behaupten sucht, und eines jÅngeren Rivalen, der unermÅdlich Auseinandersetzungen<br />

anzuzetteln scheint; und irgendwann haben wir dann erkannt, daÉ es sich bei derartigen<br />

Gockelstreitigkeiten keineswegs nur um geschlechts- oder generationenspezifische Konstellationen<br />

handelt, wie sie sich in fast jeder Familie, Schule, nicht zuletzt Hochschule nahezu<br />

allerorts und fortwÇhrend abspielen; und die unschwer beobachtet werden kÄnnen, wenn man<br />

sich nicht entschlossen hat, seinen Blick von derlei nicht durchgÇngig appetitlichen Konstellationen<br />

abzuwenden. Doch bleibt es bei verstÇndnisloser Abwendung, leise angeekeltem Desinteresse<br />

an dieser Comådie humaine oder auch beim belustigten Registrieren perennierender<br />

Generationenkonflikte, macht man es sich allzu bequem, denn derlei Konflikte wirken sich<br />

nicht in jedem Fall als Erkenntnis- und wissenschaftlichen Fortschritt erschwerend aus. Zuweilen<br />

stimulieren sie diesen sogar, ja sie forcieren ihn, da die in einer derartigen Auseinandersetzung,<br />

sollte sich diese in Wissenschaftsinstitutionen usw. unter seriÄsen Vorzeichen, in<br />

geregeltem Rahmen und auf mÄglichst hohem Niveau abspielen, eingebrachten Argumente in<br />

besonderer Weise polyperspektivischer Kritik ausgesetzt sind.<br />

So liegt die Annahme kaum fern, auch die bereits mehr als anderthalb Jahrzehnte wÇhrende<br />

argumentative, 1998/1999 um NebentÄne bereicherte Kontroverse zwischen Hans Gerald<br />

HÄdl 2 , der sie, dem klassischen Schema entsprechend, jeweils begann, und dem Verfasser, der<br />

ankommt, mit scheinbar besten GrÅnden entziehen zu kÄnnen. Andererseits sind Formen methodologischer<br />

Blindheit nicht nur ‘hermeneutisch tÄdlich’. So gilt auch hier einmal mehr die Kunst der Balance.<br />

2 In umgekehrter chronologischer Reihenfolge handelt es sich um folgende vier Untersuchungen Hans<br />

Gerald HÄdls: (1) Der letzte JÄnger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung<br />

von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik. Berlin; New York: de Gruy-<br />

8


HÄdls Argumente seiner Auffassung nach mit jeweils so guten GrÅnden widerlegt zu haben<br />

glaubte, daÉ er (ebenfalls dem klassischen Schema noch entsprechend) nach jedem derartigen<br />

Argumentationsaustausch davon ausging, nun sei die jeweils angesprochene Problemkonstellation<br />

bis zur Vorlage qualifizierterer Gegenargumente geklÇrt, unter der als generell gÅltig<br />

angesetzten Generationenkonflikt- oder einer Revierkampfperspektive zu sehen; doch wiederum<br />

um den Preis, sich naiv mit einer ersten greifbaren, nicht allzu absurden Diagnose zufriedenzustellen,<br />

also wieder einmal eher verbal aufgeputzte Problemkosmetik statt mÄglichst<br />

tiefenscharfe Analyse zu favorisieren. Deutet man die langjÇhrige Kontroverse um sachangemessenere<br />

Interpretation zentraler Texte zumal des Kindes Nietzsche nÇmlich nicht aus Perspektiven<br />

vorgefertigter argumentationsabstinenter, ja -diskretierender, vielleicht sogar -sabotierender<br />

Klischees, sondern versucht man ihren kognitiven Gehalt und idealiter auch ihre<br />

‘Grammatik’ sowie ihren ‘Sinn’ zu identifizieren, so lassen sich nicht nur ZusammenhÇnge<br />

und Problemkonstellationen skizzieren, deren VerstÇndnis helfen kÄnnte, auch vergleichbare<br />

Konstellationen, an denen es ja kaum mangelt, polyperspektivischer zu erfassen; vor allem<br />

aber erÄffnet die Kontroverse Einblick in zentrale Fragestellungen, die der konsequenzenreichen<br />

frÅhen Entwicklung Nietzsches gelten und die damit von basaler Relevanz nicht nur fÅr<br />

genetisch orientierte <strong>Nietzscheinterpretation</strong> sind.<br />

Doch warum? Die mÄglicherweise erst vom Verfasser in den 1980er Jahren kreierten Begriffe<br />

„<strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung und -interpretation“ 3 stellen nach dessen Auffassung<br />

ter, 2009; AbkÅrzung: DlJ; (2) Der alte Ortlepp war es Äbrigens nicht... Philologie fÄr Spurenleser.<br />

In: Nietzsche-Studien XXVII (1998), [Herbst] 1999, S. 440-445; (3) Dichtung oder Wahrheit? Einige<br />

vorbereitende Anmerkungen zu Nietzsches erster Autobiographie und ihrer Analyse von H.J. Schmidt<br />

In: Nietzsche-Studien, Bd. XXIII, Berlin, New York 1994, S. 285-306; (4) Der GeprÄfte / Die Gátter<br />

vom Olymp – Graecomanie als Autotherapie? Kritisches zu H.J. Schmidts Deutung von Nietzsches<br />

frÄhem „Gátterdrama“; Skript 1993. „Autor“ steht in der Regel nun fÅr Hans Gerald HÄdl.<br />

3 „<strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung und -interpretation“, KÅrzel fÅr „Genetisch orientierte, tiefenschÇrfere<br />

resp. nietzscheadÇquatere Nietzscheforschung und -interpretation“ (Abk.: GNF & GNI), meint<br />

nach meinem VerstÇndnis Einfachstes:<br />

1) Erstere sucht so prÇzise wie irgend mÄglich Nietzsches Ausgangs- und Rahmenbedingungen jeweils<br />

mÄglichst eng gefaÉter Lebensphasen zu erforschen. Das gilt fÅr Nietzsches erste 5 1/2 Jahre in RÄcken<br />

1844-1850, die restlichen Jahre der Kindheit in Naumburg 1850-1858, die weiteren SchÅlerjahre<br />

zumal in Schulpforta 1858-1864 usw. mit einer vielleicht nicht nur leisen PrÇferenz fÅr frÅhe Phasen,<br />

weil SpÇteres z.T. als Ergebnis von Auseinandersetzung mit FrÅherem verstanden werden kann, Nietzsche<br />

die Bedeutung seiner frÅhen Erfahrungen selbst mehrfach betont und zumal in seiner Kindheit<br />

Formen des Umgangs mit ihn beschÇftigenden Problemen und dabei nicht zuletzt pfarrhausherkunftsbedingte<br />

BewÇltigungs-, Expositions- sowie Verbergungstechniken gelernt hat, die noch fÅr seine<br />

bekannteren Schriften auch dann charakteristisch blieben, wenn leider die meisten Interpreten derlei<br />

äberlegungen konsequent auszublenden scheinen. *<br />

2) Letztere hingegen basiert auf Ergebnissen <strong>Genetische</strong>r Nietzscheforschung und intendiert wenigstens<br />

Zweifaches: sie sucht (a) deren Ergebnisse bei der Interpretation von Nietzsches Texten der<br />

betreffenden Phase zu berÅcksichtigen, wagt aber auch (b) deren Ergebnisse bei Interpretation ggf.<br />

frÅherer oder zumal spÇterer Phasen der Entwicklung Nietzsches oder auch bestimmter Texte produktiv<br />

zu machen. So kÄnnte bspw. Nietzsches erst im SpÇtjahr 1888 entstandenes, weitestgehend rÇtselhaftes<br />

und irritierend primitiv wirkendes „Gesetz wider das Christentum“ in Perspektive <strong>Genetische</strong>r<br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong> als spÇte, im Schatten erst des Zusammenbruchs formulierte offenherzigere<br />

nicht mehr filigrane Antwort auf in Nietzsches Lebensgeschichte weit zurÅckliegende Erfahrungen<br />

und Emotionen verstanden werden. SchlieÉlich – das mag vielleicht nur fÅr eine äbergangsphase gelten<br />

– hat sie (bzw. deren Autoren haben) sich (c) mit nicht selten in Abwehrgestus prÇsentierten Diffamierungsvokabeln<br />

wie bspw. „biographischer Reduktionismus“ auch dann weiterhin auseinanderzusetzen,<br />

wenn der Eindruck von systematisiertem Kannitverstan, Problemflucht oder hochgradiger Inkonsistenzenblindheit<br />

bestimmter Autoren mittlerweile nur noch mÅhsam abzuweisen ist. ** Erstmalige<br />

Thematisierung von GNF & GNI m.W. in Hermann Josef Schmidt: Letztes Refugium? Zum Dogma<br />

und zur Crux christlich orientierter genetischer Nietzscheforschung und -interpretation, diskutiert am<br />

9


streng genommen freilich eher Unbegriffe, genauer Defizitanzeigen, dar. SchlieÉlich sollte<br />

sich bei einem Autor wie Friedrich Nietzsche, der seine ‘Wandlungen’ ebenso wie deren Ursachen<br />

selbst oft genug betont, und dessen VerÄffentlichungen wohl kaum als diejenigen der<br />

nÇmlichen Person identifiziert werden kÄnnten, wenn nicht in ihnen selbst QuerbezÅge, Entwicklungen,<br />

VerÇnderungen usw. hÇufig angesprochen worden oder wenn sie bspw. in verschiedensten<br />

Verlagen und jeweils anonym oder pseudonym erschienen wÇren, eine Diskussion<br />

darÅber erÅbrigen, inwieweit es sinnvoll erscheint, Fragen der Entwicklung Nietzsches und<br />

nicht hÄchstens einer einzelnen Werkgenese usw. angemessenen Raum einzurÇumen. Erstaunlicherweise<br />

zeichneten sich <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en jedoch wenigstens bis in die jÅngere<br />

Vergangenheit in hohem MaÉe einmal durch genetisches Desinteresse 4 und andererseits durch<br />

Beispiel von Schriften Reiner Bohleys und Hans Gerald HÄdls Habilitationsschrift, 2009. In: Nietzscheforschung<br />

18, 2011, S. 225-224. Eine sehr knappe Skizze „Genetisch orientierte <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

der frÅhen 1980er Jahre? in: Ebenda, S. 231-233; und: „Der frÅh(st)e Nietzsche und die<br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong> – allzulange ein MiÉverhÇltnis?“ In: Von „Als Kind Gott im Glanze gesehn“<br />

zum „ChristenhaÖ“? Nietzsches frÄh(st)e weltanschauliche Entwicklung (1844-1864), eine Skizze. In:<br />

Ebenda 8, 2001, S. 96-99.<br />

* Um dann jedoch, wenn diese ‘sich dennoch durchsetzen’ sollten, flugs zu behaupten, sie selbst hÇtten<br />

das ohnedies schon immer ganz genau so und niemals anders gesehen? VerfÅgen auch deshalb so viele<br />

‘Wie-auch-immer-Sieger der Geschichte’ plÄtzlich Åber so groÉe Truppen? ** Derlei Erfahrungen<br />

werfen fÅr d. Vf. quasi zwickmÅhlenartige Probleme auf: äbergeht auch er derlei Konstellationen,<br />

muÉ er sich (‘auf der Sachebene’) in Endlosschleifen mit immer den nÇmlichen wenig stichhaltigen<br />

‘Argumentationen’ abgeben; geht er auf sie jedoch ein und analysiert sie wenigstens im Ansatz, ist mit<br />

dem gesamten Arsenal von Diffamierungsvokabeln zu rechnen wie, daÉ er ‘ad personam’ argumentiere,<br />

‘nicht beim Thema’ bliebe, ‘polemisiere’ – als ob die Stichhaltigkeit eines polemisch prÇsentierten<br />

Arguments dank seines polemischen Status leiden wÅrde! Dabei ‘leidet’ allenfalls dessen AkzeptabilitÇt;<br />

und auch das nur, je nachdem, wer der Kritiker ist –, gar religionskritische Perspektiven einschleuse<br />

usw. usw. Dabei spielen gerade diese – gemeint sind: zwar meist unerklÇrte, ‘in der Sache’ jedoch<br />

schlicht vorausgesetzte religiÄse Auffassungen – eine oft argumentationsstrukturierende und -entscheidende<br />

Rolle. Derlei wie Åblich freundlich zu Åbergehen, fÅhrt jedoch dazu, daÉ derlei Praktiken weiterhin<br />

risikofrei bleiben. Auch hier hat jedoch wie tausende anderer vor und nach ihm erfreulicherweise auch<br />

ein Friedrich Nietzsche nicht nur nicht mitgespielt. Eine <strong>Nietzscheinterpretation</strong>, die hier anders votiert,<br />

begeht ‘in der Sache’ eindeutig „Nietzscheverrat“. Das sei ihr unbenommen, aber auch klar benannt.<br />

Und bei klaren Formulierungen soll es wenigstens in Texten des Verfassers trotz aller IrrtumsmÄglichkeiten<br />

und angesichts des hypothetischen Charakters jeder Aussage auch weiterhin bleiben.<br />

4 Zur Beurteilung der Situation <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong> gehÄrt die BerÅcksichtigung von<br />

deren PrÇsenz einerseits (a) in den beiden primÇr deutschsprachigen NietzschejahrbÅchern und andererseits<br />

(b) in den beiden wichtigsten NietzscheforschungshandbÅchern bzw. -lexika.<br />

(a) Was die beiden NietzscheforschungsjahrbÅcher betrifft, so gaben die Nietzsche-Studien. Internationales<br />

Jahrbuch fÄr die Nietzsche-Forschung, Berlin; New York, 1972ff., vor allem durch die Arbeiten<br />

Reiner Bohleys, 1980-1989, wohl entscheidende Impulse. Seit Bohleys Tod hingegen wird die<br />

Thematik eher am Rande berÅcksichtigt, was den Nietzsche-Studien aber nicht ‘schlechtgeschrieben’<br />

werden soll, da im Rahmen unabgesprochener Arbeitsteilung Fragestellungen <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

in der Nietzscheforschung, Berlin, 1994ff., schon von Band I an zumal durch äbernahme<br />

der meisten Referate der Dortmunder Nietzsche-Kolloquien III.-VIII., 1993-2003, einen zwar innovativen<br />

doch dem Verkaufserfolg des Jahrbuchs wenigstens in den Anfangsjahren vielleicht nicht<br />

sonderlich fÄrderlichen (auch deshalb Respekt – hoffentlich nicht fast nur d. Vf.s – auslÄsenden)<br />

Schwerpunkt bildeten; und in weniger seitenaufwendiger Form wohl auch weiterhin bilden werden.<br />

(b) Auch in dem von Henning Ottmann herausgegebenen Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.<br />

Stuttgart; Weimar, 2000 (nachgedruckt 2011), sowie in dem sich mit dem Nietzsche-Handbuch<br />

thematisch wie personell z.T. Åberschneidenden, von Christian Niemeyer herausgegebenen Nietzsche-<br />

Lexikon. Darmstadt, 2009 (erw. Neuausgabe schon 2011), werden Fragen <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

in freilich unterschiedlicher Weise berÅcksichtigt. Das Nietzsche-Handbuch bietet in seinen<br />

160 BeitrÇgen von 53 Autoren, von denen 25 sich auch am Nietzsche-Lexikon beteiligten, einen Artikel<br />

Christian Niemeyers zu „Nietzsches Leben“, S. 9-34, der auch Nietzsches frÅhe Entwicklung, S. 9-<br />

10


Verwendung von Nietzschezitaten in einem der Analyse von ‘Nietzsches’ Denken, Thesen<br />

oder Argumentationen geltenden Zusammenhang aus, die zeitlich sogar weit auseinander liegenden<br />

Phasen Nietzsches entstammen konnten. Und leider noch die meisten derjenigen Interpretationen,<br />

die der Entwicklung Nietzsches sogar penibel folgten, setzten frÅhestens bei<br />

bzw. mit Nietzsches erster BuchverÄffentlichung 1872 ein; oder sie skizzierten, auch wenn es<br />

sich um Biographien handelte, die seit 1935 textlich (und archivalisch ohnedies) reich belegten<br />

beiden ersten Jahrzehnte Nietzsches in der Regel 5 ÇuÉerst knapp. Erst seit Anfang der<br />

1980er Jahre noch sehr vereinzelt und sich hÇufend nicht vor dem Fall der innerdeutschen<br />

Mauer erschienen Untersuchungen, die unter die Stichworte „<strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung<br />

und -interpretation“ subsumierbar sind, deren QualitÇt jedoch als recht unterschiedlich zu beurteilen<br />

ist und deren Rezeption innerhalb der Nietzscheinterpretenzunft vielleicht nicht nur<br />

aus GrÅnden dominanter genetischer Abstinenz, sondern auch wohl deshalb eher verhalten<br />

ausfiel, weil die erstaunliche HeterogenitÇt dieser VerÄffentlichungen wenigstens z.T. nicht<br />

nur Folge unterschiedlicher methodologischer AnsÇtze sein konnte, sondern auch nicht lediglich<br />

marginal mitspielender weltanschaulicher Differenzen beteiligter Autoren sowie nicht<br />

geringer qualitativer Unterschiede der vorgelegten Untersuchungen.<br />

13, knapp berÅcksichtigt, und einen Nietzsches „Jugendschriften (1852-1869)“ geltenden Beitrag von<br />

Johann Figl und Hans Gerald HÄdl, S. 62-75, auf den Vf. noch zurÅckkommt. Im Åbrigen Werk spielt<br />

Nietzsches frÅhe Entwicklung faktisch keine Rolle.<br />

Das Nietzsche-Lexikon ist vom Herausgeber in ungewÄhnlicher Weise auch als Autor mit 44 z.T. umfangreichen<br />

eigenen BeitrÇgen stark geprÇgt. So Åbernahm Niemeyer nicht nur die wohl wesentlichen<br />

biographischen Artikel zu Nietzsche selbst sowie zu Nietzsches Mutter, sondern er hat bspw. mit „Vater“,<br />

S. 387-390, und zumal mit „VaterÅbertragung“, S. 390-394, auch Artikel eingefÅgt, die noch<br />

Diskussionen auslÄsen dÅrften. In Perspektive <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong> fÇllt auf, daÉ EigentÅmlichkeiten<br />

von Nietzsches frÅher Entwicklung auch in denjenigen Artikeln kaum eine Rolle<br />

spielen, die bspw. Nietzsches frÅhem Lebensfeld gewidmet sind; bei „Personen“ vermisst man fÅr<br />

Nietzsche so wichtige Namen wie den GroÉvater David Ernst Oehler und zumal Ernst Ortlepp.<br />

Eine SchwÇche beider Werke besteht also darin, daÉ die Tatsache, daÉ wohl von keinem anderen Philosophen<br />

und Literaten vor dem 20. Jahrhundert bereits aus dessen SchÅlerjahren so zahlreiche Schriften<br />

wie von Friedrich Nietzsche vorhanden und im Druck sogar zugÇnglich sind, auÉer in Johann Figls<br />

sehr knappem Beitrag „FrÅhe Schriften“ (Nietzsche-Lexikon, S. 118f.) und in „Jugendschriften (1852-<br />

1869)“ (Nietzsche-Handbuch, S. 62-73) von Johann Figl und Hans Gerald HÄdl seitens der Åbrigen<br />

Autoren (mit Ausnahme Christian Niemeyers) weitestgehend unbeachtet bleibt, die Aufarbeitung der<br />

Genealogie dieses die Relevanz seiner Genese so nachdrÅcklich betonenden Genealogen also weiterhin<br />

auf wenig Interesse zu stoÉen scheint. DaÉ Nietzsche keineswegs erst als Basler Professor zu denken<br />

begonnen hat, sondern daÉ lÇngst gezeigt ist, daÉ und wie Nietzsche sich schon als Kind und zumal<br />

als Jugendlicher mit Fragestellungen auseinandersetzte, die sein Denken bis zum Zusammenbruch<br />

beeinflussten, bleibt weitestgehend unberÅcksichtigt. Deshalb spielt auch kaum eine Rolle, daÉ Nietzsche<br />

nicht erst in Schulpforta ‘die Griechen’ entdeckte, sondern bereits als ElfjÇhriger eine Phase intensiver,<br />

konsequenzentrÇchtiger Graecophilie durchlebte; und daÉ aus seiner Naumburger Kindheit<br />

zahlreiche Texte vorliegen, die in theodizeeproblemkritischer Hinsicht aufschluÉreich sind. Ebenso ist<br />

in beiden Werken kaum berÅcksichtigt, daÉ Nietzsche bereits als Oberprimaner in intensivster Auseinandersetzung<br />

insbes. mit „KÄnig çdipus“ von Sophokles seine tragische Erkenntnisauffassung entwickelte,<br />

die bis 1888 ‘trug’. So ist der Mainstream mitteleuropÇischer <strong>Nietzscheinterpretation</strong> mit<br />

seinen StÇrken und manchen SchwÇchen in einigen seiner Differenzen in respektabler Bandbreite in<br />

beiden Werken prÇsent. Dennoch ist jedes von ihnen trotz mancher Fragezeichen auf seine Weise eine<br />

Glanztat. (Genaueres in der Rez. d. Vf.s in: Zeitschrift fÄr Religions- und Geistesgeschichte, 64. Jg.,<br />

2012.)<br />

5 Eine beeindruckende Ausnahme ist Richard Blunck: Friedrich Nietzsche. Kindheit und Jugend.<br />

MÅnchen/Basel, 1953, Åbernommen und partiell erweitert von Curt Paul Janz in: Friedrich Nietzsche.<br />

Biographie I. MÅnchen, 1978, S. 15-273. Nietzsches Kindheit jedoch wurde sowohl von Blunck, S.<br />

21-48, wie zumal auch von Janz, S. 35-64, in dessen Åber 2.000 Seiten umfassender Biographie mehr<br />

als nur stiefmÅtterlich behandelt.<br />

11


Auch in derlei ZusammenhÇngen kommt der seit 1993 Äffentlich gefÅhrten Kontroverse<br />

und den dabei ausgetauschten und diskutierten Argumenten zwischen Hans Gerald HÄdl und<br />

dem Verfasser eine so zentrale Bedeutung zu, daÉ Letzterer diese Gelegenheit nun zu nutzen<br />

sucht, in einer Zwischenbilanz einiger Themen frÅher <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

(und mit Abstrichen auch -forschung) auf und vor allem unter dem Strich eine FÅlle zentraler<br />

Fragen, Gesichtspunkte und nicht zuletzt auch Rahmenbedingungen ins Spiel zu bringen –<br />

genauer: nicht weiterhin auszuklammern –, denn schlieÉlich hÇngt der Erfolg eines wissenschaftlichen<br />

Ansatzes und spezifischer Argumentationen oftmals leider nur zum kleineren<br />

Teil von der Stichhaltigkeit der Argumente sowie QualitÇt der Belege, sondern von der Rezeptionsbereitschaft,<br />

-qualitÇt sowie -intensitÇt ab, die ihrerseits wieder usw. usw. ... So wird<br />

eher im Nebeneffekt auch eine spezifische Konkretisierung der eher generell genetisch angesetzten<br />

Streitschrift Wider weitere Entnietzschung Nietzsches 6 des Verfassers in wiederum<br />

interpretationskritischer Intention vorgelegt.<br />

Die Metakritik selbst gliedert sich in drei sehr unterschiedlich umfangreiche Teile. Der<br />

Einleitung (als Teil 1) folgt vor einem Hinweis auf eine anderenorts eigens berÅcksichtigte<br />

Parallelaktion eine nur knappe Skizze der drei wichtigeren Çlteren Nak-Kritiken des Autors<br />

von Der letzte JÄnger des Dionysos (in Teil 2), weil deren zentrale Argumente (mit einer<br />

Ausnahme) auch in DlJ ihre mitentscheidende Rolle spielen, folglich ebenfalls GegenstÇnde<br />

dieser Metakritik darstellen.<br />

Eine äberprÅfung der Nietzsche-absconditus-Kindheits-Kritik in DlJ erfolgt in Die Monographie,<br />

dem umfangreichen Teil 3, so, daÉ nach einigen VorÅberlegungen (in 3.1. und 3.2.)<br />

die entscheidenden äberprÅfungen in drei Kapiteln bzw. einem dreifachen äberprÅfungsmarathon<br />

(in 3.3. bis 3.5.) vorgenommen werden. âberprÄfungen 1 identifiziert und diskutiert<br />

(in 3.3.) die wohl wichtigsten Weichenstellungen und eher formalen Vorentscheidungen in<br />

DlJ, kÄnnte von method(olog)isch weniger Interessierten also Åbersprungen werden, benennt<br />

aber auch nicht nur en passant vier basale Consensus-VerstÄÉe von NaK 7 , sondern prÇsentiert<br />

6 Hermann Josef Schmidt: Wider weitere Entnietzschung Nietzsches. Eine Streitschrift, Aschaffenburg,<br />

2000.<br />

7 Als AbkÅrzungen verwende ich NaK fÅr Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen<br />

bei Nietzsche. [I.] Kindheit. An der Quelle: In der Pastorenfamilie, Naumburg 1854-1858<br />

oder Wie ein Kind erschreckt entdeckt, wer es geworden ist, seine ‘christliche Erziehung’ unterminiert<br />

und in heimlicher poetophilosophischer Autotherapie erstes ‘eigenes Land’ gewinnt. Berlin-Aschaffenburg<br />

(15.12.1990, vordat. auf 1991) 21991; und NaJ I bzw. NaJ II fÅr II. Jugend. Interniert in der<br />

Gelehrtenschule: Pforta 1858 bis 1864 oder Wie man entwickelt, was man kann, lÜngst war und weiterhin<br />

gilt, wie man ausweicht und doch neue Wege erprobt. 1. Teilband 1858-1861. 2. Teilband 1862-<br />

1864. Berlin-Aschaffenburg 21.5.1993 bzw. 23.5.1994; und fÅr das Gesamtwerk Na. Einen Namensindex<br />

von Na, Korrekturen incl. einer Auflistung aller mir bekannt gewordenen Rezensionen usw.,<br />

ErgÇnzungen meiner Nietzscheschriften, Weiteres zu Nietzsche und zumal Aktuelles sowie sÇmtliche<br />

meiner VerÄffentlichungen in der Zeitschrift „AufklÇrung und Kritik“ (Abk.: A&K), seit 12.2009 unter<br />

der sicheren Adresse http://www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm. Im Wiederholungsfall werden bibliogr.<br />

Angaben hier in den Anmerkungen gekÅrzt, die Autorennamen jedoch beibehalten. Seitenzahlen<br />

von Zitaten aus DlJ, NaK, NaJ I, NaJ II oder Na setze ich, wenn der Kontext eindeutig ist, jeweils in<br />

Klammer mÄglichst direkt hinter das betreffende Zitat bzw. die betreffende Zitatpassage, da ich die<br />

Zahl der Anmerkungen nicht in den vierstelligen Bereich treiben mÄchte. EinfÅgungen des Verfassers<br />

erfolgen in der Regel ebenso in eckigen Klammern wie Hinweise auf Auslassungen in Zitaten, da ich<br />

spitze Klammern fÅr optisch sehr stÄrend halte; ggf. fÅge ich jedoch „Vf.“ hinzu. „Verfasser“ oder<br />

„Vf.“ meint in der Regel „Hermann Josef Schmidt“.<br />

Auch dieser in besonderer Weise voraussetzungsreiche Text basiert auf jahrzehntelanger Arbeit zu<br />

Fragen der <strong>Nietzscheinterpretation</strong>; infolgedessen also auch auf zahlreichen anderenorts lÇngst vorgestellten<br />

Argumentationen, Belegen usw. So lÇÉt sich wiederum nicht umgehen, auch dann auf andere<br />

meiner entsprechenden VerÄffentlichungen hinzuweisen, die die hier vorgestellten und meistenteils<br />

12


auch die vom Autor bzw. HÄdl herausgehobenen 7 „Grundthesen“ von NaK sowie deren<br />

Kommentierung (in 3.3.2.7.); âberprÄfungen 2 thematisiert (in 3.4.) die beiden von HÄdl als<br />

entscheidend gesetzten experimenta crucis (bzw. Experimente, deren Ausgang Entscheidungen<br />

Åber diverse MÄglichkeiten erÄffnen und dabei maximale HÇrtetests darstellen sollen)<br />

zweier Nak-Interpretationen, einerseits des sog. Moses-Vierzeilers (in 3.4.3.) und andererseits<br />

des leider nicht vollstÇndig erhaltenen Lustspiels Der GeprÄfte (in 3.4.4.); schlieÉlich diskutiert<br />

âberprÄfungen 3 – aus UmfangsgrÅnden nur noch knapp – die DlJ-Kritik an zwei grundlegenden<br />

Interpretationsprinzipien von NaK sowie weitere vom Autor als besonders relevant<br />

vorgestellte EinwÇnde (in 3.5.).<br />

Erst nach diesen eine FÅlle fÅr <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong> vielleicht sogar zentrale<br />

Informationen einbringenden äberlegungen gehe ich, meine AusfÅhrungen im Sinne metakritischer<br />

Gegenproben komplettierend und damit vorlÇufig abschlieÉend, dreifach in die Offensive.<br />

Zuerst exponiere und entwickele ich (in 3.6.) eine Hypothese, die z.T. im Rahmen eines<br />

zusammenfassenden RÅckblicks Einblick geben kÄnnte in mancherlei Intentionen dieser aus<br />

Vogelperspektive erstaunlich systematisch wirkenden, seit 1993 unermÅdlich 8 vorgetragenen<br />

und schrittweise erweiterten NaK-Kritik des Autors von DlJ. AnschlieÉend skizziere und diskutiere<br />

ich (in 3.7.) HÄdls in DlJ entwickelte NaK-kritische eigene Alternative der ‘religiÄsen<br />

Entwicklung’ des Kindes Nietzsche; und zuguterletzt ziehe ich (in 3.8.), in ErgÇnzung der ResÅmees<br />

(in 3.6.5.) ein mehrfaches Fazit. Eine Skizze des Ertrags der vorliegenden Untersuchung<br />

in Perspektiven <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong> bietet der AbschluÉtext (in 4.).<br />

Um zusammenzufassen: vielleicht wird schon aus dieser äbersicht deutlich, daÉ es sich<br />

mit diesem Text nicht nur um den Versuch einer kritischen äberprÅfung der bisher umfangreichsten<br />

und substantiellsten Auseinandersetzung mit basalen Auffassungen in NaK (und<br />

damit cum grano salis auch noch der gegenwÇrtigen Nietzschesicht des Verfassers) in Falsifikationsintention<br />

handelt, sondern auch um eine wesentliche Argumentationen meiner Streitschrift<br />

Wider weitere Entnietzschung Nietzsches 9 konkretisierende sowie in ihrer Intention<br />

exemplarische, die bisher prinzipiellste und in ihrer Tendenz prochristliche Auseinandersetzung<br />

mit Nietzsche absconditus zum Ausgangspunkt wÇhlende WeiterfÅhrung meiner nietzscheforschungskritischen<br />

Analysen; weshalb die Formulierung des Untertitels „am Beispiel“<br />

ernstzunehmen ist. Geht es doch nicht zuletzt auch (!!) darum, mittlerweile Åber ein Jahrhundert<br />

lang in immer neuen Versionen durchexerzierte leider nur seltenst und m.W. niemals<br />

prinzipiell problematisierte (zunehmend hÇufiger als streng wissenschaftlich auftretende) prochristliche<br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong>en in genau demjenigen Bereich, in welchem sie bis zur<br />

Gegenwart unbefragt zu dominieren schienen, anhand der Habilitationsschrift 10 eines ihrer<br />

kompetentesten Vertreter bis in wohl jedes relevante Detail zu ÅberprÅfen.<br />

nur angedeuteten äberlegungen konkretisieren, wenn dadurch die Proportionen des nun in den Anmerkungen<br />

Aufgelisteten den Eindruck von Selbstverliebtheit und mangelnden Respekts vor der Arbeit<br />

anderer erwecken sollten. Der angesichts der leider noch immer oft zerrbildartigen PrÇsentation<br />

meiner Hypothesen seitens Dritter sich ansonsten vielleicht nahelegende Eindruck, meinerseits serienweise<br />

unbelegte Behauptungen aufzustellen, erscheint mir im Zweifelsfalle als ein noch grÄÉeres<br />

äbel. DaÉ in NaK oder in NaJ jeder der in dieser Metakritik diskutierten oder auch nur erwÇhnten<br />

Texte des SchÅlers Nietzsche berÅcksichtigt und z.T. ausfÅhrlich besprochen wurde, versteht sich ebenso<br />

von selbst wie die Tatsache, daÉ in dieser Metakritik nur in AusnahmefÇllen auf diesen Sachverhalt<br />

noch eigens verwiesen ist.<br />

8 MÄglicherweise gibt es auÉer den insgesamt sechs hier teils berÅcksichtigten teils nur erwÇhnten<br />

Kritiken noch weitere kleinere VerÄffentlichungen, in denen sich der Autor auf eine meiner Arbeiten<br />

kritisch bezieht.<br />

9 Hermann Josef Schmidt: Wider weitere Entnietzschung Nietzsches, 2000.<br />

10 Um keine MiÉverstÇndnisse aufkommen zu lassen, so meint „Habilitationsschrift“ keineswegs das<br />

dem Vf. leider unbekannte, lt. Anmerkung 17 von Hans Gerald HÄdl: Nietzsche, Jesus und der Vater.<br />

Entwurf einer biographischen Rekonstruktion. In: Ulrich Willers (Hg.): Theodizee im Zeichen des<br />

13


Und so thematisiert das Ensemble dieser meistenteils kritisch eingebrachten äberlegungen<br />

aus unterschiedlichen Perspektiven wohl den GroÉteil aktueller Fragen, die sich genetischer<br />

Interpretation der Texte des frÅhsten Nietzsche aus der Sicht des Verfassers stellen, der auch<br />

diesen Text als weiteres Sondervotum 11 der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> versteht; und sie berÅcksichtigt<br />

aus gegebenem AnlaÉ Editionsfragen sowie, in der Regel nur unter dem Strich oder in<br />

einem Anhang, Gesichtspunkte, die vÄllig zu Åbergehen allzu blauÇugig wÇre, wenn Fragen<br />

des Erfolgs oder auch MiÉerfolgs in der Sache wohl zutreffender, jedoch bereichsspezifischer<br />

Argumentationen nicht vorweg ausgeklammert werden sollen.<br />

Aus nachvollziehbarem Grund sind AnhÜnge in der Intention beigefÅgt, die Argumentation<br />

im Haupttext zu entlasten und, sollte es zuvor nicht gelungen sein, Leser anzuregen, den Blick<br />

auch auf interpretations- und weltanschauungskritische Fragen auszuweiten, die wohl nicht<br />

nur im Blick auf Art und Verlauf einiger Jahrzehnte mitteleuropÇischer Nietzscheforschung<br />

und -interpretationen relevant sein kÄnnten.<br />

Dionysos. MÅnster u.a.O., 2003, S. 72, schon im MÇrz 2001 der Humboldt-UniversitÇt zu Berlin eingereichte<br />

Skript des Autors nÇmlichen Titels, sondern ausschlieÉlich den 2009 im Druck vorgelegten<br />

Band.<br />

11 Wenn Vf. schon zu Beginn dieser Abhandlung seine eigenen Texte zu ‘Nietzsche’ lediglich als<br />

„Sondervoten“ bezeichnet, versteht er das als Akt von FairneÉ gegenÅber dem Leser, da Vf. zwar eine<br />

mÄglichst prÇzise, nicht jedoch eine ‘nach allen Seiten ausgewogene’ Nietzschesicht vertritt. DaÉ es<br />

derlei, wenn sie etwas taugen soll, wenigstens gegenwÇrtig nicht geben kann, ist eine hier nicht mehr<br />

eigens diskutierte Frage. Auch Interpreten mÅssen sich nÇmlich entscheiden, kÄnnen sich zumal in<br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong>en nicht durchgÇngig ‘drÅcken’. (Da derlei dennoch leider nicht selten versucht<br />

wird, sind zuweilen hÄchst geistreiche EiertÇnze wohl nicht nur durch einen amÅsierten Verfasser zu<br />

bewundern.) Meine seit 1980 z.T. auch aus ÇuÉeren GrÅnden gewÇhlte Schwerpunktsetzung beim frÄhen<br />

Nietzsche wich nÇmlich nicht nur damals von dem in der noch immer um akademische Anerkanntheit<br />

bemÅhten <strong>Nietzscheinterpretation</strong> äblichen (und vielleicht sogar: Akzeptablen) deutlich ab,<br />

sondern gilt auch noch gegenwÇrtig sowohl innerhalb der Nietzscheforschung als auch fÅr eine weithin<br />

genetisch desinteressierte <strong>Nietzscheinterpretation</strong> als offenbar obsolete AuÉenseiterposition. Ebensowenig<br />

reprÇsentativ ist leider auch meine Nietzschesicht. FÅr mich steht Friedrich Nietzsche als an<br />

Åblicher Dummheit, Feigheit oder Borniertheit zuweilen fast verzweifelnder AufklÇrer in der „Tradition<br />

des Kampfes gegen die ‘Verlogenheit von Jahrtausenden’... in vorderster Front: und das vor allem<br />

macht zwar unausgesprochen doch fÅr jeden Einsichtigen nachprÅfbar <strong>Nietzscheinterpretation</strong> zentral<br />

fÅr AufklÇrer und zum Kampfplatz fÅr DunkelmÇnner aller Art.“ Hermann Josef Schmidt: Wider weitere<br />

Entnietzschung Nietzsches, 2000, S. 189.<br />

Dieser ‘Sondervoten’-Status der VerÄffentlichungen des Vf.s bzw. deren inhaltliche wie formale ‘Alleinstellungsmerkmale’<br />

haben Vf. immer wieder vor die Wahl gestellt, bei PrÇsentation fÅr substantiell<br />

gehaltener Informationen (schon vorsichtshalber bzw. aus in Anm. 22 erschlieÉbaren GrÅnden) als<br />

Quelle nicht auf Dritte zu verweisen, sondern auf eigene Erfahrungen zu rekurrieren. Mit dem Nebeneffekt<br />

leider, daÉ sich dieser Text stellenweise wenigstens dann ungewÄhnlich persÄnlich liest, wenn<br />

Entwicklungen ‘der Szene’ der letzten Jahrzehnte nicht ausgeklammert werden sollen (vgl. z.B. Anhang<br />

2). Doch das Eine – substantielle Informationen Åber HintergrÅnde, die vielleicht auch manche<br />

Aversion gegenÅber einer genetischen Perspektive verstÇndlicher machen kÄnnten – kann man leider<br />

nicht ohne das Andere haben: Artikulationen von Erfahrungen des Verfassers, die JÅngere aber auch<br />

unter der Fragestellung lesen kÄnnten, auf was sie sich ggf. einlassen bzw. ‘womit sie rechnen’ kÄnnen<br />

oder gar mÅssen, wenn sie sich wie Vf. erdreisten sollten, wider manchen Stachel zu lÄken oder gar<br />

ggf. in direktem Zugriff auf vielleicht kaum widerlegbare Argumente, tradierte Reviergrenzen auf<br />

zuweilen provokative Weise zu verletzen (weil sonst stillschweigend weiterhin ‘gedeckelt’ wird) sowie<br />

wenigstens einige von deren berufenen Verteidigern zu PhalanxbemÅhungen zu veranlassen. Andererseits:<br />

Was taugt Wissenschaft und zumal Philosophie, wenn sie nicht einmal das wagt?<br />

14


1. Einleitung<br />

Von Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche, 1991-1994, haben zumal die<br />

beiden der Kindheit Nietzsches gewidmeten BÇnde neben zahlreichen Besprechungen unterschiedlich<br />

substanzreiche Kritiken provoziert, von denen einige eher wie Eintagsfliegen wirkten<br />

– Gesumm und Gebrumm, doch wenig dahinter und schon anderntags weg (oder mit den<br />

Beinen nach oben) –, doch Hans Gerald HÄdls Auseinandersetzung mit meiner Nietzschesicht<br />

und insbesondere mit Nietzsche absconditus hat eine so lange Vorgeschichte, daÉ er mittlerweile<br />

wohl als der „Nietzsche-absconditus-Kritiker vom Dienst“ 12 – fragt sich hÄchstens: von<br />

welchem? – angesprochen werden kann. Nach drei thematisch eingeschrÇnkten, punktuell<br />

ansetzenden, in ihrer Intention zuletzt deutlich weiter ausgreifenden – „Philologie fÅr Spurenleser“!<br />

– kritischen Analysen einiger meiner AusfÅhrungen in Na haben wir es hier in HÄdls<br />

Åberarbeiteter Berliner Habilitationsschrift mit einer auf keineswegs mehr schmaler – nach<br />

meiner Erinnerung erstmals klar formulierter – gemeinsamer Basis (S. 69 u.Ä.) thematisch<br />

sehr viel breiter ansetzenden, argumentativ differenzierteren, im Ansatz prinzipielleren, in<br />

ihrer falsifizierenden Intention generelleren, auch editorische Fragen einbeziehenden sowie<br />

mit epistemologisch hÄherem Anspruch als je zuvor durch- und vorgefÅhrten Kritik an NaK<br />

bzw. mit einem bewundernswert detailreichen argumentativen Bombardement innerhalb einer<br />

Monographie zu tun, die nicht weniger intendiert als<br />

„Die Diskussion um die Verbindungen von Nietzsches Sozialisation und Biographie zu<br />

seiner Religionskritik auf eine sachliche Basis zu stellen“ (p. VII).<br />

Nun basiert dieses anspruchsvolle Programm, in dem es erklÇrtermaÉen also nicht darum<br />

geht, nur das Wissen um „Nietzsches Sozialisation und Biographie“, sondern erst darum, deren<br />

„Verbindungen von [...] auf eine sachliche Basis zu stellen“, auf den als erfÅllt vorausgesetzten<br />

Annahmen, daÉ Nietzsches (1) Sozialisation, (2) Biographie sowie (3) Religionskritik<br />

nicht nur bereits hinlÇnglich erforscht sind, sondern auch, daÉ (4) Åber die dabei erzielten Forschungsergebnisse<br />

bereits weitestgehender Consensus erzielt worden wÇre; Annahmen also,<br />

deren wohl noch auf lÇngere Sicht utopischer Charakter so offenkundig ist, daÉ Åber deren<br />

Berechtigung hier nicht mehr eigens diskutiert werden muÉ. Doch auch unabhÇngig davon,<br />

wie berechtigt des Autors Annahmen sein mÄgen, so macht bereits dieses Programm verstÇndlich,<br />

warum die Auseinandersetzung mit basalen Thesen zumal der beiden Kindheits-<br />

12 Am Ende der Anmerkung 23, S. 520f., von NaJ I hatte Vf. Kritikern zumal aus Catholicadominierten<br />

Revieren in einem seiner „AusfÇlle“ (DlJ, S. 73) irrtÅmlicherweise noch eine glÇnzende<br />

Karriere vorausgesagt: „Sie ‘mÅssen’ also nicht einverstanden sein; es wÇre mir sogar lieber, viele<br />

Kritiker wÇren es nicht: widerlegen Sie Textdeutung fÅr Textdeutung argumentativ! (Manche Anerkennung<br />

ist Ihnen dann sicher; mehr und schnellere jedenfalls, als ich jemals fÅr meine Arbeit erhalten<br />

kann. Sie werden, je bekannter Nietzsche absconditus werden sollte, z.B. gern gesehener und gut dotierter<br />

Gast katholischer und evangelischer Akademien etc. sein kÄnnen; so leicht geht das bei uns: Sie<br />

mÅssen nur mÄglichst Åberzeugend ‘dagegen’ sein. Und eine Professur, so gut ausgestattet, wie unsereiner<br />

davon nur trÇumen kann, wird Ihnen fast aufgedrÇngt werden. Zynischerweise alles dank Friedrich<br />

Nietzsche und vielleicht sogar Nietzsche absconditus. So weiÉ unsereiner wenigstens, wofÅr er<br />

arbeitet, und so richtet der Herr fÅr die Seinen hierzulande noch immer die VerhÇltnisse gerade.)“ Die<br />

simple Prognose dÅrfte schon daran gescheitert sein, daÉ der Fall der innerdeutschen Mauer usw. aus<br />

inneren und ÇuÉeren GrÅnden auch einem Bekannterwerden von Na trotz einer FÅlle mich Åberraschender<br />

Rezensionen nicht gerade fÄrderlich war; hinzu kamen nicht ganz unerwartete Repressionen<br />

in bekannteren Medien. DaÉ trotz zahlreicher grÄÉtenteils zustimmender Rezensionen sowie einiger<br />

Rundfunksendungen sich dann der Buchhandel als entscheidendes NadelÄhr erwies, war eher Åberraschend.<br />

15


Çnde von Nietzsche absconditus, 1991, in dem voluminÄsen Band nicht nur einigen Raum 13<br />

einnimmt (insbes. S. 68-131), sondern den gesamten Argumentationsgang zu beeinflussen<br />

scheint.<br />

Diese Metakritik von Der letzte JÄnger des Philosophen Dionysos ist aus im Titel angedeutetem<br />

Grund umfangreichstes Glied einer unabgeschlossenen Sequenz: Glied 1 bildet eine<br />

weitgehend deskriptive, dennoch aber prÇmissenorientierte Rezension von DlJ 14 ; Glied 2 diese<br />

primÇr nietzscheforschungsrelevante Details ebenso wie Methodenfragen usw. thematisierende<br />

– trotz ihres Umfangs dennoch leider nur partielle sowie im Nebenthema basale Differenzen<br />

nur punktuell andeutende – prÇmissen- und gegenprobenorientierte Metakritik der<br />

direkter Kritik an NaK gewidmeten Seiten 68-131 sowie einiger Passagen der Einleitung;<br />

Glied 3 eine den nÇmlichen Themenbereich pointierter, bei weitem komprimierter, nur auszugsweise<br />

skizzierende, auf Glied 2 rÅckverweisende noch nicht vÄllig ausgereifte Metakritik<br />

15 ; eine ein Nebenthema dieser Metakritik genauer ausfÅhrende und dabei auf die wohl entscheidenden<br />

Divergenzen der Nietzschesicht nicht nur von HÄdl und dem Verfasser zielende<br />

Betrachtung bildet Glied 4 16 ; Merkmalen einer ebenfalls keineswegs nur fÅr HÄdl spezifischen<br />

interpretatio christiana Nitii 17 gilt Glied 5; und Glied 6 schlieÉlich thematisiert – ggf.<br />

erst nach Erscheinen des Nachberichts der Kritischen Gesamtausgabe Werke 18 , Abteilung I,<br />

BÇnde 1-3 – Fragen, die sich einem das Projekt einer gegenÅber der Historisch-kritischen Gesamtausgabe<br />

Werke 19 , 1933-1940, nicht nur deutlich verbesserten, sondern erstmals vollstÇndigen<br />

Edition der frÅhen Texte Nietzsches seit deren Konzeption wohlwollend-kritisch und im<br />

Auftrag des ästerreichischen Fonds zur Fárderung der Wissenschaftlichen Forschung (äFF)<br />

13 Dieser Umfang jedoch bedeutet fÅr eine Metakritik, daÉ diese immer ‘betont einseitig’ ist, weil sie<br />

die Thematisierung anderer Fragestellungen eines der Metakritik unterworfenen Werks ausklammert,<br />

und Konzentration auf SchwÇchelndes weniger in mancherlei Details, sondern ausdrÅcklich im PrÇmissenbereich.<br />

Ansonsten mÅÉte eine Metakritik im Umfang einer umfangreichen Monographie vorgelegt<br />

werden, da bspw. 60 Seiten geballter Kritik kaum in 200 Seiten Metakritik problemangemessen<br />

genug entsprochen werden kann; geschweige denn in einem Beitrag normalen Umfangs.<br />

14 Hermann Josef Schmidt: Haarscharf daneben oder fast schon getroffen? Zu Hans Gerald HÄdls<br />

Berliner Habilitationsschrift, Der letzte JÄnger des Philosophen Dionysos, 2009, in: www.fnietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

NatÅrlich ist der Titel sehr hÄflich: Erst fÅr die Internetfassung wurde<br />

„Meilenweit“ durch „Haarscharf“ u.a. in der Hoffnung ersetzt, daÉ aufmerksame Leser schon am Pleonasmus<br />

der Titelformulierung ‘hÇngen’ bleiben und bes. aufmerksam lesen; Kurzf. (V)ERKANNTER<br />

NIETZSCHE? Zu Hans Gerald Hádls Berliner Habilitationsschrift. In: AufklÇrung und Kritik 18,<br />

2/2011, S. 276-282, und in: www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

15 Hermann Josef Schmidt: Apologetenphilologie als ‘Normalkind-Interpretation’ mit Seitenausstieg<br />

oder Strategeme zugunsten einer interpretatio christiana von Texten des Kindes Nietzsche? Zu Hans<br />

Gerald HÄdls Habilitationsschrift. In: A&K 18, 3/2011, S. 176-222, und in: www.f-nietzsche.de/<br />

hjs_start.htm. Einige kleine Fehler sind entsprechenden Orts hier korrigiert. (Es wurden aber auch dort<br />

ebenso wie anderenorts KÄder ausgelegt.)<br />

16 Hermann Josef Schmidt: Kannitverstan oder Inwieweit strukturieren eigene Erfahrungen, positionale<br />

RÄcksichten und/oder Treue(verpflichtungen) <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en? Skript, abgeschlossen<br />

Februar 2010.<br />

17 Hermann Josef Schmidt: Letztes Refugium?, 2011, S. 225-244.<br />

18 Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe [in mittlerweile IX Abteilungen]. BegrÅndet von Giorgio<br />

Colli und Mazzino Montinari. WeitergefÅhrt [mittlerweile] von Volker Gerhardt, Norbert Miller,<br />

Wolfgang MÅller-Lauter und Karl Pestalozzi. Berlin; New York, 1967ff.; ich zitiere nach Abteilung,<br />

Band und Seitenzahl, z.B. I 1, 333; vgl. Hermann Josef Schmidt: Nietzsche: Werke – ein kritischer<br />

Zwischenbericht. In: Philosophische Rundschau XXIV (1977), S. 59-67.<br />

19 Friedrich Nietzsche: Historisch-kritische Gesamtausgabe. Werke I-V, hgg. von Hans Joachim Mette<br />

(I-IV), Karl Schlechta (III-V) und Carl Koch (V). MÅnchen, 1933-1940. Die HKGW umfaÉt nur Texte<br />

von ca. 1853-1869; Nachdruck: FrÄhe Schriften, MÅnchen, 1994; ich zitiere nach Band und Seitenzahl,<br />

z.B. I 333.<br />

16


von 1991 bis 1996 auch gutachterlich Begleitenden anlÇÉlich der Art des Fortgangs und einiger<br />

spezifischer Entscheidungen bei der Herausgabe von Nietzsches frÅhstem NachlaÉ sowie<br />

ggf. im betreffenden Nachbericht der ersten Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe, Werke,<br />

nahelegen.<br />

Es versteht sich dabei von selbst, daÉ eine Metakritik der QualitÇt und Stichhaltigkeit der<br />

primÇr den KindheitsbÇnden von Nietzsche absconditus geltenden AusfÅhrungen HÄdls<br />

(noch) kein Gesamturteil Åber seine Habilitationsschrift darstellt, da diese angesichts des hohen<br />

Informationsniveaus ihres Autors selbst dann als ein Forschung weiterfÅhrender Beitrag<br />

einzuschÇtzen ist, wenn die nun vorgestellte Metakritik als in entscheidenden – idealiter: in<br />

wohl allen relevanten – Punkten zutreffend bewertet werden sollte.<br />

(1) An dieser Stelle sei jedoch eingestanden, daÉ es nach meinem Eindruck leider nicht zugunsten<br />

der gegenwÇrtigen Diskussionskultur von Nietzscheforschung und -interpretation<br />

spricht, daÉ der Verfasser eines bereits in der Einleitung von DlJ wieder einmal als „monokausal“<br />

argumentierend sowie als unzulÇssige „Schlussfolgerungen“ prÇsentierend diagnostizierten,<br />

vor 20 Jahren erschienenen, weiterhin lieferbaren 20 und die Texte der beiden ersten<br />

Jahrzehnte Nietzsches meistenteils erstmals sowie in noch immer konkurrenzloser Differenziertheit<br />

auf Åber 2.000 Seiten analysierenden Werks ebenso wie im Falle des nicht nur einen<br />

„sehr einfachen KausalitÇtsmechanismus“, sondern sogar „tiefenpsychologischen Furor“ und<br />

Manipulation vorhandenen Quellenmaterials unterstellenden Biographen Klaus Goch 21 ungeachtet<br />

aller zu antizipierenden Pro-domo- oder RechthabereivorwÅrfe dennoch selbst eine<br />

Metakritik vorlegen muÉ, da er leider von niemandem weiÉ, dem er sowohl den Mut 22 als<br />

auch die Bereitschaft, das Interesse an der Thematik und die erforderliche Zeit, sowohl das<br />

erforderliche spezifische Sachwissen als auch die nicht minder unabdingbare positionale UnabhÇngigkeit<br />

sowie Literaturkenntnisse von der frÅhgriechischen Antike bis zu entwicklungspsychologischen,<br />

sozial- und religionsgeschichtlichen Fragestellungen in weltanschauungskritischer<br />

Perspektive zutrauen wÅrde; eine Kombination von FÇhigkeiten leider, die m.E. zum<br />

Standard seriÄser <strong>Nietzscheinterpretation</strong> gehÄrt, um in dieser Sache oder in einer vergleichbaren<br />

Angelegenheit nicht nur sine ira, sondern auch mÄglichst problemoffen, sachkompetent<br />

und positional unabhÇngig quasi schiedsrichterlich urteilen zu kÄnnen. So erscheint vielleicht<br />

verstÇndlich, daÉ ich mich insbes. nach LektÅre der NaK geltenden Seiten von DlJ fragte, wer<br />

zumal HÄdls experimenta crucis prÇmissen- sowie gegenprobenorientiert und erfolgreich kritisch<br />

ÅberprÅfen kÄnnte; was im Verneinungsfall bedeuten wÅrde, daÉ die ingeniáse Leistung<br />

dieses Kindes Nietzsche, angesichts seiner heimischen fast Äberdominanten Vorgaben den-<br />

20 Kaum einmal ein Vortrag meinerseits, nach dem nicht zu hÄren war, es sei nicht gelungen, Na kÇuflich<br />

zu erwerben. Studenten erzÇhlten, sie hÇtten in den frÅhen 1990er Jahren bspw. selbst in Berlin in<br />

bis zu drei UniversitÇtsbuchhandlungen vergebens versucht, NaK zu bestellen. Grossisten liefern<br />

lÇngst nicht mehr; bei Amazon besteht aus was fÅr GrÅnden auch immer eine Blockade; im Internet,<br />

im Verzeichnis lieferbarer BÅcher des deutschsprachigen Buchhandels, ggf. auch im Zentralkatalog<br />

deutschsprachiger Antiquariate oder gar beim Verlag Alibri, Aschaffenburg, nachzusehen, Åbersteigt<br />

offenbar die BeratungskapazitÇt von Personal selbst in manchen UniversitÇtsbuchhandlungen.<br />

21 Klaus Goch: Mehlsuppe und Prophetenkuchen. Wege und Irrwege der psycho-biographischen<br />

Nietzscheforschung. In: Nietzscheforschung, Bd. 16, 2009, S. 283-304; dazu Hermann Josef Schmidt:<br />

WadenbeiÖerphilologie, Zerrbilder eines Biographen oder dankenswerte PrÜsentation basaler EinwÜnde?<br />

Klaus Goch artikuliert sich kritisch zu den KindheitsbÇnden von Nietzsche absconditus, in:<br />

A&K 18, 2/2011, S. 162-186, und www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm; KÅrzestfassung: Inkompetenzdemonstrationen<br />

eines sich als Kritiker inszenierenden Biographen? Replik zu Klaus Goch, In: Nietzscheforschung,<br />

Bd. 17, 2010, S. 293-297.<br />

22 „Mut“ ist leider keineswegs nur so dahergesagt. SpÇtestens nachdem ein in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

nicht unbekannter Autor mich nach seiner LektÅre von Hermann Josef Schmidt: Entnietzschung,<br />

2000, anrief – „dieser Band sollte containerweise in die UniversitÇten“ –, und ich ihn fragte, ob er<br />

nicht Lust hÇtte, das BÇndchen irgendwo kritisch zu diskutieren, weiÉ ich Bescheid, denn er lachte nur<br />

und antwortete: „dann bin ich genau so tot wie Sie“...<br />

17


noch (s)einen Ausweg aus dem Theodizeeproblemlabyrinth seiner frÄhen Kindheit poetischautotherapeutisch<br />

gefunden zu haben, vielleicht der Vergessenheit anheimfiele. 23<br />

(2) Diese Metakritik berÅcksichtigt noch einen zusÇtzliches Punkt, vielleicht auch ein<br />

Problem, das mit DlJ eine meinerseits leider nun nicht mehr weiterhin auszuklammernde AktualitÇt<br />

gewonnen hat. Diese Habilitationsschrift stammt von einem Autor, dessen beruflicher<br />

Werdegang bis zum gegenwÇrtigen Zeitpunkt unter der Obhut der çsterreichischen Katholischen<br />

Kirche (genauer: „des Kardinals“) an der Katholischen theologischen FakultÇt der UniversitÇt<br />

Wien auch dann erfolgte, wenn mit dieser Habilitation ein hochrangiges wissenschaftliches<br />

Qualifikationsverfahren auÉerhalb dieser Institution bewÇltigt wurde. So schloÉ HÄdl<br />

an der Katholischen theologischen FakultÇt der UniversitÇt Wien sein Theologiestudium mit<br />

dem Magisterexamen positiv ab, um danach als vom çFF vom 1.4.1988 24 bis zum 31.3.1994<br />

besoldeter wiss. Mitarbeiter Johann Figls, des Editors des (mit Ausnahme des Briefwechsels)<br />

frÅhen Nachlasses Nietzsches von Anfang 1852 bis Sommer 1864 in den BÇnden 1-3 und des<br />

noch ausstehenden Nachberichts der I. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe, Werke,<br />

1967ff., diesem zuzuarbeiten. M.W. promovierte HÄdl innerhalb dieser 6 Jahre mit einer umfangreichen<br />

philosophischen Dissertation Åber den christlichen Ästerreichischen Religionsphilosophen<br />

Ferdinand Ebener (1882-1931) und arbeitet seit dem 1.4.1994 an dem in der Katholischen<br />

theologischen FakultÇt der UniversitÇt Wien angesiedelten Institut fÅr Religionswis-<br />

23 Nur in Parenthese sei angemerkt, daÉ ich HÄdls Argumentationen in Themenfeldern, die von den in<br />

meinen Arbeiten zum frÅhen Nietzsche skizzierten weiter entfernt anzusetzen sind, vor allem dann als<br />

bei weitem stichhaltiger und z.T. als beeindruckend beurteile (wie etwa S. 171, Anm. 433), wenn sie<br />

jenseits von altertumswissenschaftlichen Kenntnissen sowie weltanschaulich relevanten Fragen formuliert<br />

zu werden vermochten. Doch wo gibt es das in erforderlicher TiefenschÇrfe bei einem Nietzsche,<br />

dessen altertumswissenschaftliche Auffassungen im PrÇmissenbereich fast jeder seiner Fragestellungen<br />

auch dann mitspielen, wenn nur wenige Interpreten das zu beurteilen vermÄgen? Und dessen ‘kritische<br />

Intentionen’ seit 1862, wenn man seine Texte kennen wÅrde, spÇtestens seit 1895 jedoch bekannt<br />

sein kÄnnten, als Elisabeth FÄrster-Nietzsche im Anhang ihrer ersten Biographie ihres Bruders<br />

(Das Leben Friedrich Nietzsches I. Leipzig, 1895), der sich vor ca. 1891 derlei seine Person betreffende<br />

literarische Avancen Elisabeths dringlichst verbeten hÇtte, nicht nur Fatum und Geschichte, S. 313-<br />

318, sondern auch Willensfreiheit und Fatum, S. 318-321, ja sogar den sog. ‘Feuerbachbrief’, S. 320f.,<br />

jeweils aus dem FrÅhjahr 1862, im Druck vorgelegt hatte.<br />

24 Als der junge Magister der Theologie am 1.4.1988 seine çFF-finanzierte Stelle antrat, um sich in<br />

Nietzsche und dessen frÅhen NachlaÉ einzuarbeiten, lagen neben meinen kleineren VerÄffentlichungen<br />

von 1983-1985 80-90 % des Textes von NaK und von NaJ bereits ausformuliert vor; die çffnung<br />

innerdeutscher Grenzen ermÄglichte dann auch gezielte Recherchen insbes. in Weimar und Schulpforta,<br />

deren Ergebnisse vor allem NaJ, und, eingefÅgt in RÅckblicke, die Nietzsche in einigen Autobiographien<br />

auf seine Kindheit gibt, indirekt auch noch NaK zu Gute kamen. So hatte HÄdl, schon bevor<br />

er selbst zu ersten VerÄffentlichungen zum frÅhen Nietzsche fÇhig war, spÜtestens seit Jahresende<br />

1990 das Problem, bei nahezu jedem Text des Kindes Nietzsche bereits mit z.T. umfassenden Interpretationen<br />

des Verfassers konfrontiert zu sein. Das mag zu frÅhen unfreiwilligen PrÇgungen bei bis in<br />

die spÇten 1990er Jahre vehementen AbgrenzungsbedÅrfnissen gefÅhrt haben.<br />

Man mag sich zwar fragen, wie sich die VerhÇltnisse entwickelt hÇtten, gÇbe es den Verfasser und<br />

seine VerÄffentlichungen zum frÅhen Nietzsche nicht. Doch dann wÇre ebenfalls zu bedenken, daÉ es<br />

wahrscheinlich auch die KGW I 1-3 als neu erarbeitete Edition nicht gÇbe, sondern (wie ja auch einen<br />

Teil der KGB) nur eine KGW I 1-5, als Nachdruck der HKGW 1-5, bestenfalls ergÇnzt um zwei umfangreiche<br />

Nachberichte, der eine fÅr Nietzsches SchÅler-, der andere fÅr Nietzsches Studentenjahre.<br />

Ohne des Verfassers nachdrÅckliche Interventionen nach dem Tod Mazzino Montinaris bei Wolfgang<br />

MÅller-Lauter, der als verantwortlicher Hg. der Nietzsche-Studien und spÇter auch der Monographienreihe<br />

MTNF nun auch noch das Editionserbe zu bewÇltigen hatte, wÇre es bei den ursprÅnglichen PlÇnen<br />

wohl geblieben. So hat die komplizierte Konstellation seit Montinaris Tod wohl mehreren Personen<br />

unerwartet viel Zeit und Kraft gekostet. Doch eine primÇr erkenntnisorientierte Nietzscheforschung<br />

dÅrfte wenigstens langfristig durch diese Auseinandersetzung mit den aufgewiesenen interpretativen<br />

Divergenzen gewinnen.<br />

18


senschaft, dessen Direktor Johann Figl ist. – Johann Figl seinerseits hat auÉer in Theologie,<br />

1977, auch in Philosophie promoviert und sich ebenfalls 1980 an der U. Wien habilitiert. Von<br />

1978-1986 leitete er die Abteilung fÅr Atheismusforschung am Institut fÅr Christliche Philosophie<br />

innerhalb der Katholischen theologischen FakultÇt und seitdem das Institut fÅr Religionswissenschaft<br />

der U.Wien. – SchlieÉlich ist DlJ dem GedÇchtnis „des zu frÅh verstorbenen,<br />

aber unvergeÉlichen Lehrers und FÄrderers“ Járg Salaquarda (p. X.) gewidmet, dessen Laufbahn<br />

als wiss. Assistent Wolfgang MÅller-Lauters (seit 1962 Prof. fÅr Philosophie an der nach<br />

dem Zusammenbruch der DDR als Theologische FakultÇt in die Humboldt-UniversitÇt Berlin<br />

integrierten Evangelischen-kirchlichen Hochschule Berlin) begann und nach der Promotion,<br />

1969, einer Habilitation in Philosophie an der Freien UniversitÇt Berlin, 1973, u.a. einer theologischen<br />

Assistentur an der U.Mainz und spÇten weiteren Habilitation in Evangelischer<br />

Theologie, 1989, auf eine a.o. philosophische Professur am Lehrstuhl fÅr Dogmatik der Evangelisch-theologischen<br />

FakultÇt der UniversitÇt Wien 25 (dem Vernehmen nach mit einem<br />

Schwerpunkt in Religionskritik- und Atheismusanalyse 26 ) fÅhrte. – Alles in allem wohl eine<br />

zur religions- und weltanschauungskritischen Philosophieauffassung des Verfassers – und<br />

vielleicht nicht minder zur vielleicht schon frÅhen Selbstsicht Friedrich W. Nietzsches – selbst<br />

dann, wenn die wissenschaftliche Kompetenz der Genannten keinem Zweifel unterworfen<br />

werden soll, dennoch so auffÇllig heterogene oder gar antipodische Konstellation, daÉ nicht<br />

einmal an die vom renommierten katholischen Philosophen Paul Riceur zuweilen ins Spiel<br />

gebrachte „Philosophie des Verdachts“ erinnert werden muÉ, um vorzuschlagen, auch diese<br />

Metakritik nicht lediglich in BerÅcksichtigung ausgetauschter Argumente zu lesen, sondern<br />

zumal bei argumentativ nicht zwingend erscheinenden Thesen u.a. selbst nachzuprÅfen, ob in<br />

BerÅcksichtigung zwar unthematisierter, Argumentationen jedoch strukturierender Vorannahmen,<br />

Strategien usw. eine durchaus konsequent angewandt wirkende ‘Argumentationslogik’<br />

rekonstruiert zu werden vermag.<br />

(3) Mein in die Endfassung des Titels nicht mehr aufgenommener, weil fÅr Dritte vielleicht<br />

zu wenig verstÇndlicher Arbeitstitel dieser Metakritik – „Eisbergprobleme“ 27 mit Fragezeichen<br />

– beruhte darauf, daÉ man von einem Eisberg nur etwa 1/8 sieht, der unter der WasseroberflÇche<br />

mit bloÉem Auge nur in AnsÇtzen erkennbare Brocken also weit grÄÉer und zumal<br />

fÅr Personen, die sich in weltanschaulich vermintes GewÇsser bzw. in thematisch bisher monopolisierte<br />

Gebiete 28 wagen, durchaus zu beachten ist (vgl. NaK, S. 560).<br />

DaÉ wohl wenige Autoren in der neueren Philosophie- und Literaturgeschichte in vergleichbarem<br />

MaÉe wie Friedrich Nietzsche Gegenstand weltanschaulich voreingenommener,<br />

‘dem Markt’ eher Zeitmodeorientiertes als tiefenscharf Erkenntnisorientiertes bietender Produkte<br />

wurden, steht mittlerweile hoffentlich auÉer Frage. Deshalb ist gerade in einer streng<br />

25 Daten z.T. aus KÄrschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1996. Bio-bibliographisches Verzeichnis<br />

deutschsprachiger Wissenschaftler der Gegenwart. 17. Ausgabe. Geistes- und Sozialwissenschaften.<br />

Berlin; New York, 1996, S. 1218 bzw. 331.<br />

26 So war 2004 ein Hauptprobleme der Religionskritik betiteltes BÇndchen der Autoren JÄrg Salaquarda<br />

und Hans Gerald HÄdl bei einem Wiener Verlag in der UTB-Reihe angekÅndigt, das dann aber<br />

nicht erschien und dessen AnkÅndigung leider wieder aus den Listen verschwand; „leider“ deshalb,<br />

weil ich mir den Band grÅndlich vorgenommen und mit VergnÅgen in A&K besprochen hÇtte.<br />

27 Noch unter diesem Titel war auf diesen Text in Apologetenphilologie, A&K 18, 3/2011, S. 188-222,<br />

mehrfach verwiesen worden.<br />

28 FÅr eine groÉzÅgig bemessene und noch nicht allerorts beendete Nachkriegsphase kommt der in<br />

eine Anmerkung verbannten Feststellung von Gerd-GÅnther Grau, „viele Arbeiten“ zumindest „Åber<br />

das Religionsproblem“ bei Nietzsche wiesen sich „(implizit oder explizit) durch ein kirchliches Imprimatur<br />

aus“, weiterhin nicht geringe AktualitÇt zu. Vgl. Gerd-GÅnther Grau, Christlicher Glaube und<br />

intellektuelle Redlichkeit. Eine religionsphilosophische Studie Äber Nietzsche. Frankfurt am Main,<br />

1958, S. 303, Anm. 3.<br />

19


erkenntnis-, interpretations- und weltanschauungskritisch 29 orientierten Untersuchung und<br />

zumal Metakritik genau davon auch auszugehen. So mag manchen Leser eine vielleicht nicht<br />

nur stilistische Diskrepanz zwischen DlJ und dieser Metakritik insofern Åberraschen, als in<br />

der Monographie Hans Gerald HÄdls, Habilitationsschrift der Humboldt-UniversitÇt Berlin,<br />

verstÇndlicherweise mit einem engeren method(olog)ischen Konzept gearbeitet wurde (und<br />

wohl auch werden muÉte) als hier in dieser Metakritik, formuliert von einem Vf., der Philosophie<br />

als mÄglichst jedwede relevante ErkenntnisbemÅhung umfassende und kritisch observierende,<br />

polydimensional sowie auch historisch mÄglichst tiefenscharf operierende Integrationsdisziplin<br />

ohne GewiÉheitsansprÅche, also in ihren Hypothesen als prinzipiell fallibel, kurz<br />

als WeiterfÅhrung der nach seiner Auffassung eigentlichen alteuropÇischen ‘philosophia perennis’,<br />

nÇmlich AufklÇrung und Kritik 30 , versteht, sowie davon abweichende weltanschauliche<br />

Restriktionen, wenn sie Åber engere humanistische Konzepte hinausgehen oder gar diese<br />

– bevorzugt zugunsten mehr oder weniger transzendenter Glaubensinhalte sowie zumal deren<br />

hiesigen Profiteuren – einzuschrÇnken versuchen, als „Philosophieverrat“ empfindet. Insofern<br />

war, ist und bleibt wohl auch der Verfasser erklÇrtermaÉen Partei.<br />

(4) Die hier skizzierte sowohl positionale, lebensgeschichtliche wie intentionale Divergenz<br />

der Beteiligten an dieser nun schon anderthalb Jahrzehnte wÇhrenden, rationale Kriterien akzeptierenden<br />

sowie sich jeweils auf sie berufenden Auseinandersetzung kÄnnte fÅr Nietzscheforschung<br />

sowie -interpretation und vielleicht sogar darÅber hinaus aus einer Reihe von<br />

GrÅnden von Interesse sein. Einerseits dÅrften aus positionaler und weltanschaulicher Perspektive<br />

selten zwei so unterschiedlich orientierte Autoren eine vergleichbar langjÇhrige und<br />

substantielle Kontroverse fÅhren; andererseits ist es leider nicht die Regel, daÉ die an einer<br />

Kontroverse Beteiligten zu den vielleicht besten Sachkennern der strittigen Themen gehÄren;<br />

drittens handelt es sich beim Gegenstand dieser Kontroverse um eines der wohl attraktivsten<br />

Forschungs- und Interpretationsgebiete der Nietzscheforschung und -interpretation; viertens<br />

zeichnet sich das durch die an der Kontroverse Beteiligten thematisierte Themenspektrum<br />

durch seine basale Funktion fÅr eine Vielzahl von Themen der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> und<br />

-forschung auch in demjenigen Sinne aus, als hier vorgenommene Unterscheidungen usw.<br />

konsequenzenreiche Weichenstellungen fÅr Interpretationen von Texten des spÇteren Nietzsche<br />

wenigstens dann darstellen, wenn Nietzsches Denkentwicklung nicht vÄllig ausgeblendet<br />

wird; was den an dieser Kontroverse Beteiligten wohl deutlicher bewuÉt ist als fast jedem<br />

ansonsten sich zu Nietzschefragen ãuÉernden. FÄnftens sind auch die methodologischen<br />

Konzeptionen der Beteiligten denkbar divergent, was im Folgenden deutlich genug wird. FÅr<br />

den nicht nur kritisch, sondern auch ‘metakritisch’ orientierten Verfasser hat die Kontroverse<br />

neben ihrem besonderen Reiz eine sechste Bedeutung insofern, als kaum mehr davon ausgegangen<br />

werden kann, daÉ dem Autor und seinem philosophischen, theologischen und nachgewiesenermaÉen<br />

Na-kritischen „stets hilfsbereiten, kompetenten, sachlichen und uneigennÅtzigen<br />

GesprÇchspartner in allen Dingen der Nietzscheforschung“ (p. X) noch irgendwelche<br />

Schwachpunkte von Na entgangen sind. So hat der Verfasser die mit dem HÄhepunkt dieser<br />

29 Den Ausdruck „weltanschauungskritisch“ benutzt Vf. insofern in freilich etwas weiterem Sinne als<br />

bzw. Hans Albert oder Ernst Topitsch, als er zusÇtzlich auch diverse Rahmenbedingungen nicht vorweg<br />

ausklammert, die im Horizont von <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en usw. z.T. bes. kurios sein mÄgen,<br />

weil sich zu ‘Nietzsche’ zuweilen Personen sogar mit Erfolg auf einem Niveau artikulierten, das bspw.<br />

in Platon-, Kant- oder Popperinterpretationen nicht einmal mehr GÇhnen oder GelÇchter auslÄsen<br />

kÄnnte. Ob und ggf. inwiefern dieser Sachverhalt auch etwas mit der Person Nietzsches zu tun haben<br />

kÄnnte, ist dem Vf. seit seiner Studentenzeit ein nicht vÄllig geklÇrtes Problem.<br />

30 Hermann Josef Schmidt: Wollen Sie unter der Herrschaft von Ajatollahs oder der Taliban, von<br />

Rabbinern oder des „Opus dei“ leben? Erinnerung: AufklÜrung und Kritik als ‘philosophia perennis’<br />

(bzw. immerwÜhrende Philosophie). Dortmunder Abtrittsvorlesung, 29. Juli 2004. In: AufklÇrung und<br />

Kritik 12, 1/2005, S. 6-28, und: www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

20


Habilitationsschrift vielfÇltig vorgetragenen Kritiken als HÇrtetests von Na und an seiner<br />

Sichtweise zu nutzen gesucht.<br />

Endlich kÄnnte die skizzierte Konstellation noch in einer siebten Hinsicht zumal fÅr weltanschauungskritisch<br />

orientierte Leser attraktiv sein, als hier unter dem Gesichtspunkt strittiger<br />

dichterischer religiÄser Aufarbeitungs- und Selbstbefreiungsversuche des Kindes Nietzsche<br />

ein Thema angesprochen wird, das den Leser vielleicht sogar einmal selbst beschÇftigte; oder<br />

wenn gegen hochgradig hypothetisch argumentierende Untersuchungen erhobene MonokausalitÇts-<br />

und indirekt auch FundamentalismusvorwÅrfe auch als Komponenten einer lÇngerfristig<br />

angelegten Strategie plausibel (gemacht) werden kÄnnten.<br />

(5) Da es in einer Metakritik um mÄglichst hohe Problemangemessenheit geht, wÅrde sich<br />

lohnen, einen derartigen Text wie DlJ, an dem viele Jahre lang gearbeitet und einige Jahre<br />

lang wohl auch noch vor der vergleichsweise spÇten Drucklegung gefeilt wurde, der mittlerweile<br />

zwei Jahrzehnte Auseinandersetzung des Autors mit Nietzsche sowie eine zeitlich kaum<br />

wesentlich kÅrzere mit <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en des Verfassers beinhalten dÅrfte, u.a. auch<br />

als Geschichte zunehmenden und respektablen Einsichtsgewinns seines Autors zu lesen. So<br />

wie in NaK in Joergen Kjaers wichtiger Nietzschemonographie 31 von 1990 verschiedenen<br />

Zeitphasen zugehÄrige Argumentationsschichten aufgewiesen wurden, so dokumentiert auch<br />

DlJ in einigen – vermutlich seinen jÅngsten – Passagen ein Einsichtsniveau (vgl. bspw. S.<br />

104f.), das die Annahme bestÇtigt, sein Autor habe sich im Blick auf ‘Nietzsche’ noch keineswegs<br />

geistig zur Ruhe gesetzt oder gar einsichtsresistent quasifundamentalistisch auf frÅher<br />

Behauptetes fixiert; was jedoch eine allen Argumentations- und Einsichtsschichten gerecht<br />

werdende Metakritik mit dem Risiko erschwert, jÅngere Passagen (wie vermutlich die<br />

dann in 3.7. zitierten und diskutierten) nicht fair genug gewÅrdigt zu haben. Doch da die Linie<br />

der in den 1990er Jahren durch den Autor quasi als Kronzeugen vorgelegten NaK-kritischen<br />

ArgumentationsfÅhrung usw. mit DlJ (insbes. S. 21-121) als HÄhepunkt, wenn man von einigen<br />

hier z.T. berÅcksichtigten Einsprengseln absieht, noch konsequent fort- und dabei zu einem<br />

quantitativ kaum mehr Åberbietbaren AbschluÉ gefÅhrt wird, gilt dieser in 3.6.5. skizzierten,<br />

<strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung und tiefenschÜrfere <strong>Nietzscheinterpretation</strong> mit m.E. leider<br />

erheblichem Flurschaden beeinflussenden, seitens seines GesprÇchspartners und mehr<br />

oder weniger erklÇrter Kombattanten abgesicherten, nicht nur wissenschaftlich durchaus ernst<br />

zu nehmenden Interpretationslinie diese hoffentlich wiederum hinreichend detailgenaue sowie<br />

tiefenscharfe Metakritik.<br />

(6) SchlieÉlich liegt fÅr den Verfasser eine weitere Erschwerung einer primÇr auf die direkte<br />

Auseinandersetzung in DlJ, Seiten 68-131, mit Na gerichteten, prÇmissenorientierten Metakritik<br />

in dem Sachverhalt, daÉ er nicht nur dort, sondern in dem gesamten Band und insbes.<br />

auf denjenigen Seiten, die nach der Auseinandersetzung mit einigen neueren Autoren (S. 28-<br />

131) unter diversen Fragestellungen Texten aus Nietzsches Naumburger Kindheit und portenser<br />

Internatsjahren gelten (S. 132-250), zuweilen fast von Absatz zu Absatz des voluminÄsen,<br />

anmerkungsgespickten Bandes mit Argumentationen konfrontiert ist, die sich mit seinen seit<br />

1983 verÄffentlichten äberlegungen, zumal freilich den in Na Vorgelegten, aufs dichteste 32<br />

31 Joergen Kjaer: Nietzsche. Die Zerstárung der HumanitÜt durch ‘Mutterliebe’. Opladen, 1990.<br />

32 äber GrÅnde dieses fÅr Kenner meiner Untersuchungen wohl unstrittigen Sachverhalts kann man<br />

sich unterschiedliche Gedanken machen. Eine nicht unplausible Hypothese dÅrfte diejenige vergleichsweise<br />

‘frÅher NaK-’ oder gar ‘Schmidt-PrÇgung’ sein. Kleinere meiner Arbeiten zum frÅhsten<br />

Nietzsche wurden seit 1983 verÄffentlicht; und NaK ist seit Jahresanfang 1984 ausformuliert worden,<br />

nachdem ich mich seit MÇrz 1980 wieder grÅndlicher mit Nietzsches Texten, einsetzend bei denen des<br />

Kindes, auseinanderzusetzen begonnen hatte. Da ich seit FrÅhjahr 1985 in sich intensivierendem<br />

schriftlichen und vor allem in telephonischen Kontakt mit Wolfgang MÅller-Lauter stand, der sich sehr<br />

fÅr meine Arbeiten zum frÅhen Nietzsche zu interessieren schien, erhielt er – ebenso wie Rudolf Kreis<br />

– im Herbst 1988 ein wohl 90% des endgÅltigen Textes umfassendes Manuskript von NaK, das in<br />

geringfÅgig erweiterter Version dann ab Jahresanfang 1990 auch einigen Verlagen z.T. Åber einen<br />

21


erÅhren: sei es in nicht wenigen FÇllen zitierend, sei es paraphrasierend, sei es modifizierend,<br />

sei es kritisierend oder erfreulicherweise AlternativansÇtze unterschiedlichen Kenntnisniveaus<br />

in unterschiedlicher Genauigkeit zu den kritisierten Auffassungen bietend, sei es<br />

schlieÉlich in neueren Untersuchungen Dritter prÇsentierte Auffassungen diskutierend, die<br />

ihrerseits in Kenntnis von Argumentationen oder Formulierungen des Verfassers entwickelt<br />

worden sein kÄnnten; wenngleich ‘in der Sache liegende’ Parallelargumentationen weder hier<br />

noch dort ausgeschlossen sein sollen. So mÅÉte eine nicht nur tiefenscharfe Metakritik, sondern<br />

auch detailgenaue Auseinandersetzung, die der selten kenntnisreiche und informative<br />

Band ja verdient, zwar unschwer zu einer vierstelligen Seitenzahl fÅhren, erscheint aber aus<br />

vielen GrÅnden unangemessen und ohnedies undurchfÅhrbar. Freilich um den Preis, daÉ Kritiker<br />

dieser Metakritik dann behaupten kÄnnten, Zentralem – zentral wÇre in der Regel dann<br />

ad hoc jeweils dasjenige, was nicht thematisiert wurde? – ausgewichen zu sein. Da kann unsereiner<br />

wie auch ansonsten nur auf mÄglichst kompetente und ergebnisoffene LektÅre – in<br />

diesem Falle idealiter in Heranziehung der beiden Nietzsche-Editionen HKGW I-III bzw.<br />

FrÄhe Schriften I-III sowie KGW I, 1-3, und den BÇnden von NaK, NaJ I & II sowie DlJ –<br />

hoffen; und mit dem Gegenteil von alledem rechnen sowie auch weiterhin entspannt leben.<br />

lÇngeren Zeitraum zugÇnglich war. Auf welchen Schreibtischen meine Skripten mit nicht immer rekonstruierbaren<br />

Folgen dann wohl gelegen haben mÄgen? Da ich den Eindruck gewann, mein nach<br />

Berlin gesandtes Exemplar sei dort nicht geblieben, sondern – hoffentlich nicht in diversen Kopien –<br />

‘weitergewandert’, bat ich MÅller-Lauter um RÅckgabe, die aber mit der Entschuldigung, er fÇnde das<br />

Manuskript – ein praller Akter mit immerhin 532 engst bedruckten Seiten – nicht mehr, nicht erfolgte.<br />

Seitdem spÇtestens war ich ‘gewarnt’.<br />

So halte ich fÅr nicht unwahrscheinlich, daÉ wohl schon Herbst 1988 das – oder: ein – NaK-Skript<br />

nach Wien ging. Wer sonst auÉer Reiner Bohley, dem ich einige Kapitel zugesandt hatte, hÇtte sich<br />

noch dafÅr interessiert? Doch die vielbeschÇftigten Johann Figl und JÄrg Salaquarda hatten anfangs<br />

wohl kaum Zeit zu grÅndlicher und umfassender LektÅre. Durchaus aber ein erst seit dem 1.4.1988<br />

zwecks Erarbeitung der Edition der frÅhen Texte Nietzsches als wissenschaftlicher Mitarbeiter vom<br />

çFF finanzierter Magister der katholischen Theologie, der damals noch dabei gewesen sein mÅÉte,<br />

sich grÅndlichere Nietzsche(er)kenntnisse zu erarbeiten. Da mag, sollten wider Erwarten meine bspw.<br />

MÅller-Lauter, Figl und Salaquarda bekannten und von Ersterem brieflich kommentierten kleineren<br />

Arbeiten nicht lÇngst gelesen worden sein, die NaK-LektÅre wohl als erste interpretative Konfrontation<br />

und zugleich auch Provokation empfunden worden sein.<br />

Die einige KorrekturgÇnge leider Åberspringende beschleunigte Vorlage von NaK war dann auch<br />

Vermutungen geschuldet, seit 1988 ausgegebene Skripten kÄnnten noch vor Erscheinen von NaK zu –<br />

im Blick auf meine Forschungsergebnisse kaum anders als „kleptoman“ zu titulierende – VerÄffentlichungen<br />

fÅhren. Offen bleibt, ob auch Reiner Bohley von NaK mehr als diejenigen Kapitel in die<br />

Hand bekam, die ich ihm zusandte. NaJ-Skripten hingegen wurden nicht mehr aus der Hand gegeben.<br />

Ein weiterer Grund, daÉ die BÇnde noch kaum umfassend rezipiert wurden?<br />

22


2. Drei VorgÅnger von 1993, 1994 und (1998) 1999<br />

und eine zeitgleiche Parallelaktion<br />

Die hier als „VorgÇnger“ bezeichneten Texte sind nicht die einzigen, in denen sich der Autor<br />

kritisch zu Nietzsche absconditus, zu einer basalen Hypothese von Na oder aber zu einem<br />

auch in Na berÅcksichtigten Sachverhalt bei Nietzsche in m.E. nicht akzeptierbarer Weise<br />

ÇuÉert. So liegt vom Autor auch eine kritische Rezension von Na 33 vor; vor allem aber bietet<br />

der Autor in seinem grÄÉtenteils hochinformativen Beitrag Schriften der Schulzeit (1854-<br />

1864) 34 eine wohl nur fÅr wenige Kundige nicht als Sachaussage, sondern als Artikulation<br />

einer als Sachaussage kaschierten hochproblematischen Interpretation des Autors HÄdl zu<br />

verstehende Formulierung, die dann gegebenen Orts (am Ende von 3.4.4.4.7.) berÅcksichtigt<br />

wird.<br />

2.1. Der erste VorgÅnger<br />

Zum III. Dortmunder Nietzsche-Kolloquium (DNK) – Von welcher Bedeutung ist Nietzsches<br />

Kindheit [nicht nur] fÅr die <strong>Nietzscheinterpretation</strong>? – vom 20.-22.7.1993 hatte ich<br />

Hans Gerald HÄdl, damals im 6. Jahr wiss. Mitarbeiter zwecks Edition der Texte des frÅhen<br />

Nietzsche, zu einer bewundernswerten Mutprobe eingeladen, seine kritischen EinwÇnde gegen<br />

meine Interpretation des Lustspielfragments des etwa ElfjÇhrigen, Der GeprÄfte, in Anwesenheit<br />

seines ‘Chefs’ Johann Figl, der sich ebenfalls als Referent beteiligte, Äffentlich zur<br />

Diskussion zu stellen. In seinem leider unverÄffentlichten Vortrag 35 hatte er fÅr mich Åberraschend<br />

meine These, das frÅhe in der HKG fÅr 1855 angesetzte Theaterfragment des etwa<br />

knapp ElfjÇhrigen, Der GeprÄfte, sei eine Vorstufe eines Lustspiels wechselnden Titels (vgl.<br />

3.4.4.3.) Die Gátter vom Olymp, dahingehend zu spezifizieren gesucht, daÉ Fritz 36 nicht nur<br />

(wie in der Autobiographie vom Sommer 1858 behauptet) Die Gátter vom Olymp und Orkadal/Orcadal<br />

„im Verein mit Wilhelm“ (I 30 bzw. I 1, 309), sondern bereits das Lustspiel Der<br />

GeprÄfte gemeinsam mit Wilhelm geschrieben hÇtte. In der anschlieÉenden Diskussion hatte<br />

ich wie folgt widersprochen: da<br />

(1) der bisher bekannte Text ausschlieÉlich von Nietzsches Hand stammt,<br />

33 Hans Gerald HÄdl: Entsteht ein neuer Mythos? In: Die Furche 13.10.1994, S. 12.<br />

34 Hans Gerald HÄdl: Schriften der Schulzeit (1854-1864). In: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-<br />

Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Teil II. Werke in chronologischer Reihenfolge. Stuttgart; Weimar,<br />

2000, S. 67-73.<br />

35 Hans Gerald HÄdl: Der GeprÄfte / Die Gátter vom Olymp; Skript 1993. SelbstverstÇndlich hatte ich<br />

HÄdl angeboten, seinen Vortrag gemeinsam mit den Åbrigen der Kindheit Nietzsches gewidmeten<br />

VortrÇgen des III. DNK zu verÄffentlichen, mir angesichts des Gewichts seiner Thesen jedoch vorbehalten,<br />

eine knappe Replik von maximal 4 Seiten beizufÅgen. Die Åbrigen BeitrÇge des III. DNK erschienen<br />

bereits im ErÄffnungsband der Nietzscheforschung, Berlin, 1994, S. 135-287, sowie in Bd. 2,<br />

1995, S. 303-315.<br />

36 Wenn ich zuweilen mit „Fritz“ den Namen des Kindes Nietzsche verwende, mit dem es weit Åber<br />

seine Kindheit hinaus von Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten usw. angesprochen wurde, ist<br />

das keine Anbiederung meinerseits, kein ‘Intimwerdenwerdenwollen mit einem kindlichen Genie’,<br />

wie Klaus Goch glaubt unterstellen zu mÅssen, sondern die nachdrÅcklich wiederholte Aufforderung<br />

an den Leser, niemals zu vergessen, daÉ wir es hier nicht mit „dem“ Nietzsche Åblicher Interpretationen,<br />

sondern bei allem, was meinerseits hier dazu formuliert wird, mit einem hÄchstens dreizehnjÇhrigen,<br />

wenngleich hochbegabten Kind aus der Mitte des vorletzten Jahrhunderts zu tun haben; und<br />

nachdenklichere Leser anzuregen, einerseits sich in diesen „Fritz“ empathisch zu versetzen, vielleicht<br />

mit Hilfe von Erinnerungen aus der eigenen Kindheit; und andererseits sich dann Åber Unterschiede<br />

und eventuelle Gemeinsamkeiten mit der Entwicklung dieses Kindes bewuÉt zu werden. Der Hinweis,<br />

daÉ derlei nicht Åblich ist, wÇre kognitiv hochwertiger, wenn äbliches seltener kognitiv minderwertig<br />

wÇre.<br />

23


(2) alle ansonsten von mir thematisierten Nietzschetexte – vielleicht mit Ausnahme des<br />

Orkadal/Orcadal, dessen Inhalt mir [mit einer Ausnahme] so wenig spezifisch erschien, daÉ<br />

ich ihn kaum erwÇhnte – ‘echte’ Nietzschetexte mindestens in demjenigen Sinne sind, daÉ sie<br />

ebenfalls von seiner Hand stammen (oder, wie die Geburtstagssammlung zum 2.2.1858,<br />

„Fritz“ eindeutig zugeordnet [I 463] sind),<br />

(3) die damalige ‘MeinungsfÅhrerschaft’ Nietzsches in dieser Freundschaft unstrittig,<br />

(4) Nietzsches Graecomanie sowohl von der Sache als ihren Intentionen her fundamental<br />

fÅr Nietzsches Denkentwicklung und<br />

(5) schlieÉlich Der GeprÄfte wiederum basal fÅr Nietzsches Graecomanie (und selbst noch<br />

fÅr spÇte Selbstdeutungen) ist, erscheint mir bis zum Erweis des Gegenteils die Annahme, die<br />

vorliegenden Texte von Der GeprÄfte stammten ebenso wie das kleine Zeusgedicht von 1856<br />

und alle der Åbrigen, ‘griechischen’ Themen geltenden zahlreichen anderen Texte des Kindes<br />

auch in geistiger Hinsicht von Nietzsche selbst, stichhaltiger als jede Alternative (einschlieÉlich<br />

der von HÄdl Vorgetragenen).<br />

Damit glaubte ich, diese Angelegenheit sei bis zur Vorlage Åberzeugender Gegenargumente<br />

geklÇrt. Deshalb hatte ich auch darauf verzichtet, in der Errata- und ErgÇnzungsliste zu<br />

NaK in NaJ II, 1994, diesen Einwand zu berÅcksichtigen. Nachdem ich aber hÄrte, HÄdl vertrete<br />

die 1993 in Dortmund vorgestellte, diskutierte und meinerseits als nicht hinreichend belegt<br />

zurÅckgewiesene Auffassung weiterhin, war ich in einer Anmerkung meines Vortrags<br />

vom 25.7.2001 des VII. DNK auf das Problem nochmals knapp eingegangen 37 .<br />

äberraschenderweise begegne ich HÄdls damaliger Auffassung in allerdings deutlich<br />

weiterentwickelter und bisher ausfÅhrlichster Form nun auch in DlJ. Die NaK-Interpretation<br />

von Der GeprÄfte wird einem als entscheidend gewerteten experimentum crucis (DlJ, S. 79-<br />

105) auf eine Weise unterworfen, daÉ HÄdl in seinem weiteren Text seine Falsifikation der<br />

NaK-Interpretation von Der GeprÄfte als so gelungen bezeichnet, daÉ er sich deshalb als<br />

berechtigt ansieht, basale hermeneutische Prinzipien von NaK ebenfalls als falsifiziert<br />

aufzufassen. So ist es nicht nur unumgÇnglich, des Autors Argumentation in ihrer neuen<br />

Version zu sezieren, sondern aus mehreren GrÅnden auch reizvoll, sie zu dem inhaltlichen<br />

Schwerpunkt dieser Metakritik zu wÇhlen.<br />

2.2. Der zweite VorgÅnger<br />

Ein Jahr spÇter erschien ein Aufsatz des Autors in den „Nietzsche-Studien“ 38 . Meine in<br />

NaK in einem zweiten „Einschub: zum Sinne dieser Autobiographie“ (S. 512-515) entwickelte<br />

Hypothese, Nietzsches Autobiographie mit dem Titel Aus meinem Leben, dem Untertitel<br />

von Goethe’s Dichtung und Wahrheit, sei (im Sinne einer ‘Mehrzweckwaffe’ auch) als Geschenk<br />

(wohl fÅr Weihnachten 1858) intendiert gewesen und ohnedies als mehrschichtiger<br />

(nicht nur drittleseroffener, sondern) adressatenorientierter Text zu lesen, wird zugunsten der<br />

These, Nietzsche habe (ausschlieÉlich) fÅr sich selbst geschrieben, problematisiert. Bereits in<br />

dem zum 23. Mai 1994 erschienenen 2. Jugendband von Nietzsche absconditus hatte ich in<br />

der angefÅgten Errata- und ErgÇnzungsliste 39 (S. 757f.) wie folgt votiert:<br />

„Da einerseits jedoch der Pfiff meiner Interpretation darin besteht, Nietzsche habe diesen<br />

(unterschiedliche Intentionen bÅndelnden) vielschichtigen Text weder nur fÅr sich selbst<br />

noch ausschlieÉlich als Geschenk vorgelegt, andererseits jedoch fÅr Weihnachten 1858<br />

37 Hermann Josef Schmidt: „ich wÄrde nur an einen Gott glauben, der“ oder LebensleidfÜden und<br />

Denkperspektiven Nietzsches in ihrer Verflechtung (1845-1888/1889). In: Nietzscheforschung, Bd. 9,<br />

Berlin, 2002, S. 83-104; die knappe Widerlegung S. 99, Anm. 44.<br />

38 Hans Gerald HÄdl: Dichtung oder Wahrheit?, 1994, S. 285-306.<br />

39 Nochmals: von Zeit zu Zeit aktualisierte Errata und ErgÇnzungen meiner <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en,<br />

einen Namensindex der vier BÇnde von Na und weitere Texte zu Nietzsche sowie zumal Aktuelles<br />

bietet das Internet unter http://www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

24


kein Geschenk fÅr Mutter Franziska nachgewiesen ist, drittens meine Argumente nicht in<br />

ihrer Gesamtheit berÅcksichtigt werden konnten“ – man beachte, wie wohlwollend ich<br />

formulierte, um den Mitarbeiter der KGW I 1-3 & Nachbericht und damit auch diese selbst<br />

nicht zu diskreditieren, denn der Autor hat sich nicht nur erspart, auf meine zahlreichen<br />

Argumente einzugehen, sondern sie seinen Lesern grÄÉtenteils auch nicht zugÇnglich gemacht<br />

–, „viertens schlieÉlich HÄdls Argumentation mit der meinen zu einem nicht geringen<br />

Teil parallel geht, werte ich seine Argumentation weniger als Widerlegung denn als<br />

differenzierte“ – weniger freundlich doch sachangemessener wÇre gewesen: „hochselektive<br />

und nicht unparteiische“ – „Darlegung hochkomplexer Sachverhalte.“<br />

Nun begegne ich hier fast im Sinne eines Dåjà-vu auch dieser These (S. 123ff.), nun sogar<br />

mit einem Hinweis vorbereitet, der Autor habe meine Hypothese schon 1994 widerlegt (S. 89,<br />

Anm. 220). Wurde gesichtswahrende Freundlichkeit als Freibrief verstanden, wenige Jahre<br />

spÇter risikofrei ‘draufsatteln’ zu kÄnnen? Angesichts der Tatsache, daÉ der Autor meine zahlreichen<br />

Argumente 1994 nicht nur nicht zu widerlegen suchte, sondern grÄÉtenteils nicht<br />

einmal referierte, empfinde ich angesichts des massiven Kontrasts des meinerseits in „Zweiter<br />

Einschub: zum Sinn dieser Autobiographie“ lÇngst Gebotenen zu seinen AusfÅhrungen von<br />

1994 (und auch noch von 2009) HÄdls obige Behauptung auch dann als ziemlich dreist 40 ,<br />

wenn sie lediglich im Kleindruck einer Anmerkung prÇsentiert ist.<br />

SelbstverstÇndlich wird die Frage der EinschÇtzung dieser Autobiographie des frÅhsten<br />

Nietzsche nicht nur nicht Åbergangen, sondern ihre fÅr HÄdls Nietzschesicht offenbar basale<br />

Funktion als ausschlieÉlich fÅr sich selbst geschriebener Text Nietzsches wohl erstmals auch<br />

fÅr Dritte belegbar (vgl. 3.5.3. und 3.6.1.).<br />

2.3. Der dritte VorgÅnger<br />

Letzteres gilt auch fÅr den dritten VorgÇnger, der nicht nur eine vermutlich komplexere<br />

Vorgeschichte als seine beiden VorgÇnger hat, sondern auch eine selbst mich Åberraschende<br />

Folgegeschichte; auÉerdem sind damit leider auch Fragen aufgeworfen, die, solange besser<br />

Informierte schweigen, kaum in allen erforderlichen Details beantwortet zu werden vermÄgen.<br />

Da dieser VorgÇnger in DlJ keine erklÇrte Rolle mehr spielt, die damalige Argumentation<br />

des Autors jedoch im dank DlJ nun aufweisbaren NaK-Kritikkonzept einen hohen Stellenwert<br />

hat(te), hier etwas ausfÅhrlicher.<br />

Als Skript kursierte Der alte Ortlepp war es Äbrigens nicht... Philologie fÄr Spurenleser<br />

(soweit meinerseits rekonstruierbar) spÇtestens seit dem frÅhen FrÅhjahr 1998; in wohl erst<br />

modifizierter Form wurde es mir im Mai von seinem Autor 41 nebst einer Reihe anderer neue-<br />

40 Mein Urteil „dreist“ gilt nicht minder fÅr die Wahl des Wortes „Nachweis“ in des Autors DlJ-<br />

Formulierung am Ende seiner Anm. 220, S. 89, ich lieÉe mich von seinem offenbar 1994 erfolgten<br />

„Nachweis, dass ‘Aus meinem Leben’ kein Geschenktext“ sei, nicht irritieren. Weshalb ich mich von<br />

des Autors ‘Nachweis’ von 1994 – Åbrigens ebensowenig wie von demjenigen von 2009 – nicht nur<br />

nicht irritieren lasse, sondern auch nicht irritieren lassen sollte, kÄnnte die LektÅre von 3.5.3. vielleicht<br />

nachvollziehbar machen. (Wenn mich etwas in diesem Zusammenhang irritiert, so ist es eher die Nonchalance,<br />

mit der der Autor zuweilen von „Nachweis“, „Beweis“, „unleugbar“ usw. spricht.)<br />

41 Der Verfasser hatte den Autor vor einer VerÄffentlichung ausdrÅcklich mit dem Hinweis gewarnt,<br />

er werde des Autors Argumentation angesichts der Unwahrscheinlichkeit der offerierten Alternative,<br />

seiner abweichenden Erinnerung an die betreffenden Autographen und einer Reihe anderer zu klÇrender<br />

Punkte einer jedes relevante Detail berÅcksichtigenden Untersuchung unterziehen, was der Autor<br />

mit dem Hinweis auf lÇngst erfolgte Zustimmung mehrerer in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> bekannter<br />

Personen incl. seines GesprÇchspartners – und damit einen wenigstens monatelangen ‘Vorlauf’ andeutend<br />

– offenbar nicht ernst genug nahm. Angesichts seiner Åber Jahrzehnte wÇhrenden Bekanntschaft<br />

mit des Autors GesprÇchspartner ging der Vf. jedoch irrtÅmlicherweise davon aus, daÉ HÄdls Text in<br />

den Nietzsche-Studien nur dann erscheinen wÅrde, wenn dem Vf. die MÄglichkeit direkter Replik im<br />

nÇmlichen Band angeboten wÅrde. Zugunsten dieser Annahme gab es einigen AnlaÉ: Als nÇmlich<br />

25


er Skripten zur <strong>Nietzscheinterpretation</strong> zugesandt; im Druck erschien es wiederum in den<br />

„Nietzsche-Studien“ 42 .<br />

In dem nur wenige Seiten umfassenden Text wurde eine meiner zum AbschluÉ des zweiten<br />

Jugendbandes von Na 43 unter „IV. Perspektiven und Fragezeichen“ erstmals exponierten Ortlepphypothesen<br />

mit dem Anspruch einer „Philologie fÅr Spurenleser“, einem als „unleugbar“<br />

bewiesen offerierten Alternativvorschlag und zumal in einem Ton, der die wahrheitswidrige<br />

Behauptung einschloÉ, Verfasser habe die seine Argumentation stÅtzende Quelle fÅr sich behalten,<br />

auf eine Weise als widerlegt behauptet, daÉ ich mich veranlaÉt sah, umgehend auf<br />

doppelte Weise zu replizieren: in einer knappen Metakritik nÇmlichen Orts mit dankenswerterweise<br />

nur einjÇhriger VerspÇtung 44 ; und in den Teilen II und III einer der Nietzsche-<br />

Ortlepp-Problematik gewidmeten zeitlich vorgezogenen Monographie 45 .<br />

Durch HÄdls Kritik und seinen Alternativvorschlag – Skribent einer nur mit einer AbkÅrzung<br />

unterzeichneten 6 Seiten in Nietzsches „Album“ fÅllenden Sammlung einer Serie von 11<br />

Gedichten usw., von denen einige auf 1858, 1859, 1861 und Sept. 1862 datiert sowie mit einem<br />

Randhinweis auf den 21.6.1863 bezogen sind und die Geschichte eines Liebesverrats<br />

sowie dessen zu bewÇltigende Folgen beschreiben, sei Nietzsches ‘nur ein Semester hÄherer’<br />

zeitweiliger Klassenkamerad Georg Stoeckert und keinesfalls Ernst Ortlepp gewesen – provozierte<br />

NachprÅfungen im GSA Weimar und in dem Archiv von Schulpforta sowie weitere<br />

Recherchen fÅhrten dann auch jenseits der bereits hinreichend aufschluÉreichen Schriftvergleiche<br />

und damit verbundenen äberlegungen zu so konsequenzenreichen Ergebnissen, daÉ in<br />

FortfÅhrung meiner Argumentation von NaJ II, S. 694-741, nicht nur eine um den Dichter<br />

Ernst Ortlepp zentrierte Subkultur der alten Pforte der frÅhen 1860er Jahre im Ansatz rekon-<br />

wenige Jahre zuvor in der Nietzscheforschung, Bd. 2, 1995, eine sehr scharfe Rezension an einem von<br />

des Autors GesprÇchspartner miterarbeiteten Werk erscheinen sollte, von der der Vf. erfuhr, hatte dieser<br />

sich dafÅr erfolgreich eingesetzt, daÉ dem GesprÇchspartner des Autors die MÄglichkeit eingerÇumt<br />

wÅrde, im selben Band in Form einer „Kontroverse“ direkt zu replizieren: vgl. Dieter Schellong:<br />

„Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung“, S. 319-329; JÄrg Salaquarda: Bemerkungen<br />

zu Dieter Schellongs Besprechung von „Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen<br />

Begegnung“, S. 331-335, und wieder Dieter Schellong: Nachbemerkung, S. 337-339. Umso erstaunter<br />

war der Vf., als der Autor in einer hitzigen Diskussion wÇhrend des 6. Dortmunder Nietzsche-<br />

Kolloquiums Juli 1999 – der Vf. hatte ausdrÅcklich an der Jahre zuvor bereits zugesagten, vom Autor<br />

damals aus KarrieregrÅnden dringlich erbetenen Einladung zum 6. DNK festgehalten – Äffentlich ankÅndigte,<br />

in KÅrze wÅrde (s)ein Text in den Nietzsche-Studien erscheinen, in welchem er den Beweis<br />

antreten wÅrde, daÉ d. Vf. unseriÄs arbeite.<br />

42 Hans Gerald HÄdl: Der alte Ortlepp war es Äbrigens nicht..., Herbst 1999, S. 440-445.<br />

43 Vgl. Hermann Josef Schmidt: „Ein rÜtselhafter Archivfund: Friedrich Nietzsches (ver)heimlich(t)er<br />

Kindheits- und Jugendvertrauter“, in: NaJ II, S. 694-741.<br />

44 Hermann Josef Schmidt: Der alte Ortlepp war’s wohl doch. Metakritik einer „Philologie fÄr Spurenleser“.<br />

In: Nietzsche-Studien XXVIII (1999), 2000, S. 257-60. In ZurÅckstellung wesentlicher<br />

Gegenargumente hatte ich mit Beispielen belegt, daÉ HÄdl seinen Schriftvergleich zugunsten seines<br />

Kandidaten zwar im Blick auf einige Åberzeugende äbereinstimmungen, nicht jedoch in BerÅcksichtigung<br />

zahlreicher – m.E. seine These mehrfach falsifizierender – Gegenproben durchgefÅhrt hat. Ein<br />

Punkt, der auf eine wohl zentrale methodologische Differenz verweist, die ich fÅr so argumentationsentscheidend<br />

halte, daÉ ich auf sie noch zurÅckkomme.<br />

45 Hermann Josef Schmidt: Der alte Ortlepp war’s wohl doch oder FÄr mehr Mut, Kompetenz und<br />

Redlichkeit in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong>. Aschaffenburg, Jahresanfang 2001 (Abk.: Der alte Ortlepp<br />

1 ; zu HÄdls „Philologie“ vgl. S. 33-206); um ca. 180 Seiten erweiterte (und in den HÄdls „Philologie“<br />

geltenden Partien um knapp 60 S. gekÅrzte) Neuausgabe des nach einem Jahr beim Verlag vergriffenen<br />

Bandes: Der alte Ortlepp war’s wohl doch oder FÄr Ernst Ortlepp und mehr Mut sowie genetische<br />

Kompetenz in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong>. Aschaffenburg, 2004 (Abk.: Der alte Ortlepp 2 ).<br />

Seit dem Sommer 2000 existiert Åbrigens eine (als e.V. im Juni 2001 konstituierte) wesentlich vom<br />

Museum SchloÉ Moritzburg in Zeitz getragene kleine Ernst-Ortlepp-Gesellschaft (http://www.ernstortlepp-gesellschaft.de.).<br />

26


struiert bzw. plausibel gemacht, sondern auch Folgen des Nietzsche-Ernst-Ortlepp-Bezugs fÅr<br />

Nietzsches weitere Entwicklung differenzierter als zuvor skizziert 46 werden konnten.<br />

Zu den oben erwÇhnten „bereits hinreichend aufschluÉreichen [...] äberlegungen“ hier nur<br />

im Stenogramm: HÄdls Stoeckert-These zwingt zur Auffassung, die Serie der in Nietzsches<br />

„Album“ eingetragenen Gedichte als eine komponierte Sammlung, die zu einem unbekannten<br />

Zeitpunkt nicht vor dem Sommer 1863 eingetragen wurde – genauer: werden konnte! 47 –,<br />

aufzufassen, deren auf „1858“, „1859“, „1861“ und „September 1862“ datierte Çltere Gedichte<br />

vielleicht als aus den betreffenden Jahren stammend, nicht jedoch als zu diesem Zeitpunkt<br />

bereits in Nietzsches Album eingetragen anzusetzen wÇren. Deshalb interpretiert HÄdl die<br />

Schrift dieser 11 Gedichte samt Vorspann und Nachtrag keineswegs ergebnisoffen (vgl. Anhang<br />

1) auf deren Gemeinsamkeiten bzw. äbereinstimmungen hin, die freilich z.T. auch Ergebnis<br />

damaligen SchÄnschreibunterrichts sein dÅrften – Åbergeht dabei jedoch groÉzÅgig<br />

massive, quasi ‘systematische’ Unterschiede der Handschrift der verschiedenen Jahre, ÇuÉert<br />

sich auch Åber den TintenfluÉ der Sammlung in m.E. unhaltbarer Weise –, und vergleicht<br />

‘die’ Schrift in Nietzsches „Album“ mit ‘der’ Schrift einiger kopierter Seiten aus der im Archiv<br />

der Landesschule Pforta noch erhaltenen handschriftlichen Valediktion bzw. der mit einem<br />

Lebenslauf und Danksagungen eingeleiteten Abschiedsarbeit Georg Herrmann Heinrich<br />

Stoeckerts vom 2.3.1864.<br />

Nun spricht nicht nur die Tatsache doppelter Harmonisierung bei Ausklammerung von<br />

Gegenproben – (1) Nivellierung der Differenzen von Schriftmerkmalen einzelner Texte in der<br />

vermeintlichen Sammlung in Nietzsches „Album“ einerseits und (2) Nivellierung von Differenzen<br />

zwischen Schriftmerkmalen der vermeintlichen Sammlung und Schriftmerkmalen der<br />

HÄdl in Kopie zugÇnglichen wenigen Seiten aus Stoeckerts Valediktion andererseits – gegen<br />

die erforderliche strikte BeweisqualitÇt von HÄdls Stoeckert-These, sondern auch eine Reihe<br />

anderer von HÄdl nicht berÅcksichtigter bzw. ihm wenigstens vor 2001 grÄÉtenteils unbekannter<br />

Sachverhalte.<br />

So ergab sich (um eine ziemlich komplexe Konstellation zusammenfassend zu skizzieren),<br />

daÉ einerseits (3) Schriftunterschiede in von Ortlepp geschriebenen und mit seinem Namen<br />

unterzeichneten Autographen, von denen dem Vf. aus dem Zeitraum von Ortlepps Abitur,<br />

1819, bis in seine letzten Lebensjahre schon ein Dutzend vorlagen, so enorm waren, daÉ bereits<br />

aus dieser Perspektive eine Argumentation, die darauf hinauslief, die nicht unterzeichnete,<br />

pÇderastische Hypothesen nicht ausschlieÉende Sequenz der Texte dieser ‘Sammlung’<br />

46 Vgl. Hermann Josef Schmidt: Der alte Ortlepp 1 , 2001, insbes. die S. 207-344, bzw. Der alte Ortlepp<br />

2 , 2004, S. 149-320. Da ich die Hypothese eines frÅhen Nietzsche-Ortlepp-Bezugs auch jenseits<br />

aller Schriftvergleiche fÅr ein zentrales Problem im Zusammenhang der Rekonstruktion der intellektuellen<br />

Entwicklung des Kindes und Jugendlichen Nietzsche halte, hatte ich zugunsten besserer ZugÇnglichkeit<br />

der Thematik und meiner Argumentationen im Rahmen des Kongresses „Nietzsche 2000“ in<br />

Naumburg dazu einen Vortrag gehalten: Eine rÜtselhafte und doch konsequenzenreiche Beziehung:<br />

Friedrich Nietzsche und Ernst Ortlepp. Eine Skizze, verÄffentlicht in: AufklÇrung und Kritik 7. Sonderheft<br />

4 – Schwerpunkt: Friedrich Nietzsche zum 100. Todestag. 4/2000, S. 69-79, und www.fnietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

(Zugunsten der Aufnahme von Referaten von Eva Marsal und Olaf Pluta<br />

des von Renate G. MÅller und mir geleiteten Arbeitskreises 8 in den Sonderband 1 der Nietzscheforschung:<br />

Renate Reschke (Hg.), Zeitenwende – Wertewende, 2001, S. 351-366, entschied ich mich fÅr<br />

den Abdruck meines Referats in A&K; der Text ist ungekÅrzt erschienen und im Internet kostenfrei<br />

zugÇnglich.)<br />

47 Neben das Gedicht IX. „Wir hatten uns gesehen Und uns lieben gelernt“ hatte der betreffende Skribent<br />

spÇter ganz links hinzugesetzt: „21. Juni 1863!“ Das bedeutet, daÉ dieses Gedicht auf ein Ereignis<br />

dieses 21.6.1863 anspielt, also jÅnger sein muÉ. Ist nun die gesamte Sammlung (wie der Autor argumentierte)<br />

nicht Åber Jahre Gedicht fÅr Gedicht, sondern quasi in einem Zuge eingetragen worden, so<br />

muÉ schon aus diesem Grunde dieses Gedicht IX. und damit der gesamte Text deutlich jÅnger sein,<br />

denn ein erst wenige Tage zurÅckliegendes Ereignis wird kaum auf die erfolgte Weise zur Erinnerung<br />

gebracht.<br />

27


kÄnne nicht von Ernst Ortlepp eingetragen worden sein, nicht nur als keineswegs zwingend,<br />

sondern auch als (noch lÇngst) nicht konkurrenzfÇhig erscheint. GeschwÇcht wird HÄdls Stoeckert-These<br />

selbst noch auf der Ebene eines meinerseits als weiterer Gegenprobe vorgenommenen<br />

Schriftvergleichs mit Schriften Stoeckerts. Da es nicht gelang, eine Georg Stoeckert<br />

eindeutig zuweisbare weitere (geschweige denn: zeitnahe) Handschrift aufzufinden – Stoeckerts<br />

Abiturunterlagen, 1864, fanden sich anders als bspw. diejenigen Ortlepps, 1819, im<br />

FrÅhling 2000 nicht (mehr) im Archiv von Schulpforta –, gelang es ebenfalls nicht, (4) ein<br />

RÇtsel der Valediktion Stoeckerts, Åbrigens Rangletzter seiner Semesterordnung, eindeutig zu<br />

klÇren, das die Tatsache aufwirft, daÉ wir es auf der Seite 1 und 16 seiner Valediktionsarbeit<br />

mit einem so auffÇlligen Wechsel der Handschrift zu tun haben (vgl. das Faksimile in Hermann<br />

Josef Schmidt, Der alte Ortlepp 1 , 2001, S. 407 und 417, bzw. Der alte Ortlepp 2 , 2004,<br />

S. 518 und 527), daÉ nicht mehr klar genug ist, welche der beiden Schriften nun Stoeckert<br />

zuzuweisen ist. Da andererseits (5) dank F. Walther Ilges 48 bekannt ist bzw. sein sollte, daÉ<br />

Ortlepp in seinen letzten Jahren sogar Schreibarbeiten ausfÅhrte und, in nÇchster NÇhe der<br />

Landesschule sich aufhaltend, in einer GaststÇtte in Almrich (zw. Naumburg und Pforta), die<br />

sogar einen Primanerraum fÅr PfÄrtner SchÅler eingerichtet hatte, wie seit seiner eigenen<br />

SchÅlerzeit und noch in Stuttgart 1836ff. Nachhilfe gegeben haben dÅrfte, lag nahe, nachzuprÅfen,<br />

ob Ortlepp schwÇcheren oder weniger ehrgeizigen Abiturienten, die nach ihrem Abitur<br />

noch eine nicht mehr zu benotende wissenschaftliche AbschluÉarbeit (die „Valediktion“)<br />

abzugeben hatten, die dann im Archiv verblieb, fÅr deren Ausfertigung sie aber zumal im<br />

FrÅhjahr kaum Zeit hatten, dabei half, so daÉ mÄglicherweise auch einer der beiden Skribenten<br />

von Stoeckerts Valediktion ausgerechnet Ernst Ortlepp gewesen sein kÄnnte. Eine angesichts<br />

von HÄdls NaK-kritischer Stoeckert-These der Jahre 1998/1999 sicherlich etwas kuriose,<br />

fast abenteuerliche Verschiebung der Rahmenkonstellation bei der Beurteilung eines<br />

Schriftwechsels in der Valediktion Stoeckerts aus dem FrÅhjahr 1864? Nun zeigte aber die<br />

durch Ursula Schmidt-Losch und den Vf. im FrÅhjahr 2000 in Archiv der Landesschule Pforta<br />

an den Originalen vorgenommene äberprÅfung anderer Valediktionen ebenfalls schulisch<br />

schwÇcherer Abiturienten aus den frÅheren 1860er Jahren einige weitere jeweils einmalige<br />

charakteristische Wechsel der Handschrift in den oft umfangreichen Texten. Diese Wechsel<br />

dÅrften deshalb nicht zufÇllig sein, weil einerseits die (dazu wiederum als Gegenproben<br />

durchgeblÇtterten) Valediktionen der jeweils besten SchÅler des nÇmlichen Zeitraums keinen<br />

derartigen Wechsel der Schrift aufzeigten; und in nochmaliger Gegenprobe ÅberprÅfte Valediktionen<br />

schwÇcherer SchÅler der ersten beiden Jahre nach Ortlepps Tod ebenfalls nicht... Da<br />

auÉerdem davon auszugehen war, daÉ Ortlepp bei Schriftarbeiten in fremdem Auftrag sich an<br />

die jeweilige ‘Originalschrift’, von der ihm ja einige Seiten vorlagen, anzupassen suchte,<br />

nimmt eine exklusiv auf Schriftmerkmale bezogene Diskussion Dimensionen an, die die Relevanz<br />

der verhandelten Sache wohl schon deshalb Åbersteigen, weil eine FÅlle weiterer Gesichtspunkte<br />

und Informationen zum Entscheid der strittigen Frage vom Vf. lÇngst eingebracht<br />

wurde.<br />

Nimmt man inhaltliche äberlegungen nÇmlich noch hinzu, wie in Hermann Josef Schmidt,<br />

Der alte Ortlepp 1 , 2001, bzw. Der alte Ortlepp 2 , 2004, lÇngst vorgestellt, so neigt sich nicht<br />

nur, sondern so plumpst zumindest die Wahrscheinlichkeitswaagschale vernehmlich zugunsten<br />

der Ortlepp-Hypothese als Skribent der Texte der zwischen HÄdl und dem Vf. strittigen<br />

Sammlung in Nietzsches „Album“. Und damit bricht wieder einmal ein Kartenhaus zusammen...<br />

Doch leider nur fÅr denjenigen, der grÅndlich recherchiert und sich von Verdikten wie<br />

„unleugbar“ oder „vollkommen Åberzeugt“ nicht beeindrucken lÇÉt.<br />

Hier in DlJ wird die Angelegenheit nur noch (S. 74f., Anm. 193) in Bezug auf den<br />

„Schriftvergleich“ erwÇhnt. Aus „unleugbar“ ist auf der Basis einiger nicht sonderlich schar-<br />

48 F. Walther Ilges: BlÜtter aus dem Leben und Dichten eines Verschollenen. Zum 100. Geburtstage<br />

von Ernst Ortlepp. 1. August 1800 – 14. Juni 1864. Teilweise nach unveráffentlichten Handschriften<br />

und seltenen Drucken. MÅnchen, 1900.<br />

28


fer Faksimiles und weiterhin in Ausklammerung falsifizierender Gegenproben „zweifellos“<br />

geworden 49 .<br />

49 Alle Åbrigen Behauptungen dieser „Philologie fÅr Spurenleser“ erscheinen also als suspendiert.<br />

SchlieÉlich sind sie ja widerlegt worden. Was das Handschriftenproblem betrifft, so bleibe ich zwar<br />

dabei, daÉ HÄdl seine aus Schulpforta erhaltenen paar Seiten Kopien lediglich auf BestÜtigung seiner<br />

These hin untersucht, selbst hierbei nicht unvoreingenommen referiert und dabei selbst deutlichste<br />

Ergebnisse von Gegenproben – man berÅcksichtige bspw. die unterschiedlichen Formen des groÉen<br />

„S“ in den verschiedenen Jahren! – unberÄcksichtigt lieÖ. So lÇÉt sich freilich vieles „unleugbar“ oder<br />

„zweifellos“ beweisen. Doch sei’s drum, da weder Ursula Schmidt-Losch noch gar Vf. beanspruchen,<br />

in Sachen Schriftbeurteilung auch nur annÇhernd so kompetent zu sein wie Kriminalpolizisten, die<br />

sich weigern, Handschriften Gestorbener als Beweismittel anzuerkennen, sondern sie (wie auch Vf.)<br />

lediglich im Sinne einer Heuristik nutzen, deren Hypothesen dann diversen BewÇhrungstests incl.<br />

Gegenproben ausgesetzt werden.<br />

Beim Aussortieren alter Dateien fand d. Vf. am 23.5.2012 als bisher Çltesten Zeugen der Auseinandersetzung<br />

mit HÄdls Miszelle noch eine sehr viel deutlichere Konzeptfassung meiner „Replik“ von Mitte<br />

Dezember 1999, die bis Monatsende auf den Umfang von vier Druckseiten herunterzuschleifen war,<br />

was faktisch dann doch zu einem nahezu neuen Text in 17 Punkten fÅhrte. Die Herausgeber der Nietzsche-Studien<br />

hatten dem Vf. erfreulicherweise die MÄglichkeit eingerÇumt, direkt zu replizieren, obgleich<br />

auch der Folgeband der Nietzsche-Studien schon ‘lÇngst stand’: Exorzismus gescheitert: Der<br />

alte Ortlepp war’s wohl doch. Metakritik einer „Philologie fÄr Spurenleser“ als Exempel eines Spuren-<br />

und Metaspurenlesens bei Nietzsche. Replik auf [...], 1999, S. 440-445, usw. So ist dieser Exorzismus<br />

in der Fass. noch von Mitte Dezember 1999 zwar bereits bei weitem umfangreicher als die in<br />

den Nietzsche-Studien dann ausgedruckte Replik; doch andererseits kann man ihn nur als knappe EinfÅhrung<br />

in meine Ortlepp-BÇnde von 2001 und 2004 lesen, da in diesen bei aller Differenziertheit<br />

nicht meine Kritik an des Autors Miszelle, sondern anderes im Vordergrund steht: die Rekonstruktion<br />

einer PfÄrtner Subkultur der frÅhen 1860er Jahre am Beispiel Ernst Ortlepps, Georg Hermann Stoeckerts<br />

und von Nietzsches Banknachbarn, dem pastoralen OrtleppwiedergÇnger Heinrich Wendt, vor<br />

allem freilich die Friedrich Nietzsches Denken und zumal Leben bis in den Zusammenbruch auch<br />

dann nachhaltig beeinflussenden ‘OrtleppspÇtfolgen’, wenn Vf. leider nur sehr sehr wenige Personen<br />

kennt, die bisher bereit waren, sich auf diese Thematik in der erforderlichen TiefenschÇrfe auch nur<br />

probehalber einzulassen.<br />

LektÅre des als Anhang 1 aufgenommenen Exorzismus kÄnnte freilich u.a. zeigen, daÉ selbst bei einer<br />

äberprÅfung eines vermeintlich unleugbaren ‘positiven Schriftbeweises’ à la HÄdl prÇziser sowie subtiler<br />

argumentiert werden kann, wenn man die nÄtige Arbeit nicht vÄllig scheut, als AuÉenstehende<br />

vermuten dÅrften. Dennoch bewerte ich jede Form eines ‘positiven Schriftbeweises’ als hÄchstproblematisch,<br />

da prinzipiell verifikationsungeeignet, und streng genommen als nur dann verantwortbar<br />

durchfÅhrbar, wenn bspw. nicht nur die Schrift(en) der sechs strittigen Seiten in Nietzsches Album,<br />

sondern auch einige Dutzend verschiedene Autographen Ortlepps, Stoeckerts und als Kontrollgruppe<br />

Autographen des nÇmlichen Zeitraums einiger anderer Personen sowohl der Altersgruppen Ortlepps<br />

als auch Stoeckerts, die ebenfalls in Pforte jahrelang SchÅler waren und dort in Kalligraphie gebimst<br />

worden waren, auf ihre Merkmale hin positiv und negativ verglichen wÅrden. Anders freilich, wenn<br />

(wie im Falle von HÄdls Miszelle) behauptet wird, ein ‘positiver Schriftbeweis’ sei mit eindeutigen<br />

Ergebnissen bereits durchgefÅhrt worden: Dann stÄÉt eine methodologisch nicht inkompetente Metakritik<br />

auf vergleichsweise wenig Schwierigkeiten und kann vor allem dann mit bescheidenem Zeitaufwand<br />

durchgefÅhrt werden, wenn es dem Kritiker (wie im hier thematisierten Fall) gelingen sollte,<br />

prÇmissen- und gegenprobenorientiert vorzugehen. Da andererseits bereits ein Bruchteil des erforderlichen<br />

Zeitaufwands, um einen seriÄsen ‘positiven Schriftbeweis’ fÅhren zu kÄnnen, in BerÅcksichtigung<br />

inhaltlicher Fragen und äberlegungen zu sehr viel substantielleren Ergebnissen fÅhrte (und weiterhin<br />

fÅhren dÅrfte), erscheint das Insistieren auf Schriftbeweisen (wie ja auch ansonsten in spezifischen<br />

Traditionen) eher in ebenfalls spezifischen Enklaven beheimatet zu sein; und bei nur bescheiden<br />

investiertem eigenen Zeitaufwand vor allem dann eher unter die Rubrik apologetischer Strategeme zu<br />

fallen, wenn inhaltliche Argumentationen (so wie in des Autors Miszelle) weitgehend vermieden wurden.<br />

29


2.4. Fazit<br />

Eine Gemeinsamkeit dieser drei NaK-kritischen VorgÇnger von DlJ besteht in der die jeweilige<br />

NaK-Kritik ergÇnzenden PrÇsentation einer zumindest aus Mainstreamperspektive<br />

hochplausibel und attraktiv wirkenden Gegenthese, deren (1) jeweilige argumentative QualitÇt<br />

trotz ihres jeweils (2) hohen Stellenwerts in des Autors Gesamtkonzept jedoch ebenso wie<br />

deren (3) Absicherung auf der Belegebene ihrem (4) hohen PlausibilitÇtsgrad sowie dem (5)<br />

exorbitanten Anspruch, mit dem sie jeweils vorgetragen wurde, in eher umgekehrter Weise<br />

entsprach (und deshalb vom Vf. von Bluff leider nicht in jeder relevanten Hinsicht trennscharf<br />

genug unterschieden werden kann).<br />

NÇhere AusfÅhrungen zu (1), (3) und (4) erÅbrigen sich im Blick auf die Ortlepp-Miszelle<br />

mittlerweile wohl und wÇren betreffs der im 1. und 2. VorlÇufer durchgefÅhrten NaK-Kritik,<br />

die in DlJ wieder aufgenommen und substantiell zu erweitern gesucht wurde, hier verfrÅht.<br />

Nicht verfrÅht hingegen ist eine BerÅcksichtigung von (2). Der Autor hat nÇmlich mit jedem<br />

seiner drei DlJ-VorlÜufer strategisch optimal eingesetzt (wie noch verschiedenenorts<br />

deutlich wird). Das im ersten VorlÜufer thematisierte Lustspiel Der GeprÄfte des ElfjÇhrigen<br />

ist ein im Blick auf Nietzsches weitere poetische ebenso wie ‘philosophische’ Entwicklung<br />

kaum zu ÅberschÇtzender "SchlÅsseltext". Ihn wie d. Vf. ‘griechisch-(rÄmisch)-heidnisch’<br />

oder aber wie der Autor prochristlich legitim zu interpretieren, stellt Weichen (mit welchem<br />

Ergebnis fÅr DlJ wird nicht nur in 3.4. bis 3.6., sondern fÅr Systematiker vielleicht bes. deutlich<br />

in 3.8.3. einsehbar). Nicht minder bedeutsam ist die im zweiten VorlÜufer exponierte Kritik<br />

zwar weniger dank ihrer QualitÇt als ihres Rangs in des Autors Konzept: der Dissens zwischen<br />

Autor und Vf. angesichts der Beurteilung der Intention der Autobiographie Aus meinem<br />

Leben des SpÇtsommers 1858 geht auf der Showseite zwar nur darum, wie dieser Text einzuordnen<br />

ist – ob als Geschenk intendiert (so Vf.) oder nur fÅr sich selbst geschrieben (so der<br />

Autor) -, doch fÅr des Autors Argumentation hat diese Diskussion wohl eher Vehikel- bzw.<br />

eine instrumentelle Funktion: sie soll nÇmlich anderes leisten, einen sprachlichen und vor allem<br />

inhaltlichen ‘BrÅckenschlag’ zwischen einem bestimmten, in Gedichten der Geburtstagssammlungen<br />

des Elf- bis DreizehnjÇhrigen fÅr seine Mutter zum 2.2.1856-1858 unterschiedlich<br />

offen thematisierten Problemzusammenhang – es geht um das Theodizeeproblem – und<br />

entsprechenden Formulierungen usw. des dreizehnjÇhrigen Nietzsche aus dem SpÇtsommer<br />

1858 mÄglichst zu erschweren. Wer prÇgnante Bilder schÇtzt, kÄnnte von in den VorlÇufern 1<br />

und 2 errichteten argumentativen Brandschutzmauern des Autors sprechen, deren Funktion<br />

noch deutlicher wird. Beim 3. VorlÇufer hÇtten wir es dann eher mit einem TrÇgersystem wie<br />

bspw. einer Rakete und dessen ‘Last’ zu tun wie bspw. einem Satelliten, auf den es freilich<br />

ankommt, da dieser vielleicht jahrzehntelang zu funken vermag, wenn er nicht nicht abstÅrzt<br />

oder abgeschossen wird (was seitens des Vf.s im Blick auf das TrÇgersystem trotz dessen erheblicher<br />

KonstruktionsmÇngel schon deshalb nicht erfolgen konnte, weil, um im Bilde zu<br />

bleiben, der Vf. ein bestenfalls baugleiches TrÇgersystem erst zu sehen bekam, als der Satellit<br />

wohl schon lÇngere Zeit seine Botschaft mit dem Effekt funkte, daÉ selbst der AbschuÉ dieses<br />

Satelliten 2000ff. dessen gefunkte Botschaften nicht mehr einzuholen, zu modifizieren geschweige<br />

denn zu lÄschen, sondern mit VerspÇtung von 2-3 Jahren allenfalls zu widerlegen<br />

vermochte, was aber nur bedingt relevant war bzw. ist, da das Aliquid-semper-haeret-Prinzip<br />

betreffs bestimmter ‘Botschaften’ im Blick auf bestimmte Themen und bestimmte Personen<br />

wenig tangierbar zu sein scheint, zumal das mit zwecks eigener Urteilsbildung unvermeidbarer<br />

Arbeit verbunden wÇre). 50 Deshalb diesseits blumiger Bildlichkeit auch zum dritten Vor-<br />

50 Zum Erfolg derartiger Strategeme: In der Regel haben diejenigen, die in einer Recherchen erfordernden<br />

Konstellation mit dem Gestus des kompetenten Fachmanns Thesen in die betreffende ‘Wissenschaftsszene’<br />

zu ‘setzen’ vermÄgen, unabhÇngig von der QualitÇt ihrer Argumente usw. leider oft<br />

fÅr Jahrzehnte nahezu alle relevanten Vorteile auf ihrer Seite. Zwar ‘klÇren sich’ die VerhÇltnisse in<br />

der Regel irgendwann auf – oft bereits, wenn perennierende Generationenkonkurrenz Produkte der<br />

nachrÅckenden Alterskohorte nun ihrerseits ins Visier nimmt -, doch ‘Opfer’ ursprÅnglicher Fehldeutungen<br />

erleben wohl eher selten die unabhÇngige BestÇtigung ihrer Hypothesen. Darauf bzw. auf derlei<br />

30


lÜufer: er ist ebenfalls plurifunktional angelegt. Die wohl ersichtlichste Funktion war wohl,<br />

den wichtigsten (und damit einzigen uns bekannten) potentiellen theodizeeproblemkritischen<br />

Anreger dieses Kindes, dessen Existenz in Naumburg wÇhrend Nietzsches Kindheit 51 ebenso<br />

gesichert ist wie dessen Kontakt mit dem Oberprimaner Nietzsche und einigen Kameraden 52 ,<br />

insofern als nÇhere Kontaktperson mit dem Naumburger Kind ab ca. 1855 und mit dem portenser<br />

Alumnen der Jahre 1858-1863 ‘aus dem Verkehr zu ziehen’, als damit Argumentationen,<br />

die des Vf.s christentumskritische Nietzschesicht zu destruieren trachten, in ihrer GlaubwÅrdigkeit<br />

– nicht freilich in ihrer argumentativen QualitÇt! – indirekt aufgewertet worden<br />

wÇren. Dieser Intention dÅrfte jedoch eine zweite zwar nicht ausdrÅcklich erklÇrte doch aus<br />

bestimmten Belegen und Formulierungen rekonstruierbare (und von mehreren auch fachexternen<br />

Kollegen, die Vf. ‘zwecks Gegenprobe’ um ihr rÅckhaltsloses Urteil bat, ‘einstimmig’<br />

bestÇtigte) Funktion gedient haben, die mit der ersten zwar verbunden ist, deren positiver Effekt<br />

jedoch fÅr christophile Interpreten vielleicht sogar auf lange Sicht eine FÅlle ansonsten<br />

kaum bewÇltigbarer Probleme auf eine Weise zu bereinigen vermag, daÉ sich Risiken weniger<br />

stichhaltiger Argumentation nahezu verflÅchtigen: polydimensionale Prestigeminimierung.<br />

Gelingt das auch weiterhin, dann hÇtte ‘man’ vielleicht sogar auf lÇngere Sicht wieder einmal<br />

‘gewonnen’.<br />

Ebensowenig verfehlt ist (5) die BerÅcksichtigung des exorbitanten Anspruchs, mit dem<br />

der Autor 1994 und zumal 1998/99 – im Gegensatz Åbrigens nun zu den z.T. Åberraschend<br />

abgewogenen, ja vorsichtigen Zusammenfassungen in DlJ – Ergebnisse seiner Analysen vorstellte.<br />

GestÅtzt auf das Prestige eines jahrelang mit der Vorbereitung der Edition von Texten<br />

des frÅh(st)en Nietzsche hauptberuflich BefaÉten und vorgetragen in dem sich steigernden<br />

Gestus grÄÉter Sicherheit, erzielten die – zuletzt als "unleugbar" (!!) sowie (anspruchsvoller<br />

geht’s kaum) "Philologie fÅr Spurenleser" vorgestellten – NaK-Kritiken ebenso wie die seinerseits<br />

offerierten jeweiligen AlternativvorschlÇge zumal bei Personen, die in die damit aufgeworfenen<br />

komplexen Detailfragen nicht oder nur zum geringsten Teil eingearbeitet waren 53<br />

oder die ohnedies konventionelleren Interpretationen zuneigen, in leider nicht wenigen FÇllen<br />

den erwÅnschten Eindruck zumal dann, wenn deren Bereitschaft wenig ausgeprÇgt erschien –<br />

und leider weiterhin erscheint -, sich auf die Argumentationen – geschweige denn auf sorgfÇltige<br />

LektÅre der betreffenden Schriften – des diese NaK-Kritiken als wenig problemangemessen<br />

aufweisenden und die Gegenthesen in m. W. bisher allen FÇllen in ihrer Beweiskraft suspendierenden<br />

Verfassers auch nur ansatzweise einzulassen. Es sei zwar konzediert: einige<br />

meiner SÇtze sind trotz nicht geringer BemÅhungen meinerseits zuweilen ungewÄhnlich differenziert,<br />

da es Vf. primÇr darum geht, mÄglichst viel an substantieller Information sowie an<br />

Erlebnisse kommt es aber auch nicht primÇr an, da jeder heute geistig Aktive von den Leistungen ursprÅnglich<br />

Marginalisierter – welcher der besten KÄpfe der Philosophie der Neuzeit von Descartes<br />

Åber David Hume, Schopenhauer bis Nietzsche verfÅgte je Åber eine wohlbesoldete Philosophieprofessur?<br />

Ganz im Gegensatz zu zigtausend MediokritÇten? – in geradezu immensem AusmaÉ so profitiert,<br />

daÉ der Beitrag eigenen Anteils, und mag dieser noch so peripher sein (wie bspw. der Versuch<br />

des Vf.s, die Erkenntnis des intellektuellen Muts usw. des frÅhsten Nietzsche sowie insbes. die Einsicht<br />

in die Relevanz genetischer Perspektiven in eine genetisch abstinente <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

usw. einzubringen) in Perspektive europÇischer AufklÇrungsbewegung spÇtestens seit ‘Homer’ und<br />

den frÅhsten europÇischen philosophischen AnsÇtzen ein winziges Mosaiksteinchen sein kÄnnte, mit<br />

dem andere dann weiterzubauen vermÄgen. Hauptsache, das Steinchen selbst taugt etwas, ist also hinreichend<br />

belastbar.<br />

51 Vgl. zu den hier aufgeworfenen Fragen insbes. Hermann Josef Schmidt: Der alte Ortlepp1 , 2001,<br />

bzw. Der alte Ortlepp2 , 2004.<br />

52 Vgl. den Brief von Friedrich Nietzsche an Wilhelm Pinder vom 4. Juli 1864 (B I 250 bzw. B I 1,<br />

288).<br />

53 Vf. kann sich leider an niemanden erinnern, der/die bis 1998/99 zu Ortlepp auch nur Elementares<br />

gelesen und wenigstens die strittigen Autographen im Original gekannt hÇtte; und er hat leider einige<br />

Anhaltspunkte, daÉ das auch fÅr den Autor der betreffenden Miszelle sowie jeden seiner Kombattanten<br />

gilt.<br />

31


polyperspektivischen äberlegungen in entsprechende Diskussionen einzubeziehen. Doch andererseits:<br />

wie will jemand, der sie mehrfach lesen muÉ, nur um ihren Sinn zu erfassen, oder<br />

der schon an ihrem VerstÇndnis scheitert, komplexere – in der Sache ja bei weitem differenziertere<br />

– ZusammenhÜnge auch nur verstehen, geschweige denn deren in Fachliteratur prÇsentierte<br />

kontroverse Darstellungen, Bewertungen usw. ggf. selbst ÅberprÅfen? Und es sei<br />

ebenfalls konzediert, daÉ ein Erarbeiten sÇmtlicher Voraussetzungen, um bei den hier angesprochenen<br />

Fragen und kontroversen Argumentationen ebenso eigenstÇndig wie kompetent<br />

urteilen zu kÄnnen, neben breit angelegtem Sachwissen und argumentativen Kompetenzen<br />

leider auch z.T. zeit-, kraft- und kostenaufwendige Recherchen voraussetzt, welche (auÉer im<br />

Falle HÄdls und der den ersten Nachberichtband der Briefwechseledition m.E. seriÄs Erarbeitenden)<br />

im Bereich frÅher <strong>Genetische</strong>r Nietzscheforschung kaum einmal seitens Dritter eigens<br />

finanziert wurden. Hinzu kommt, daÉ die Chancen, zur Diskussion noch Relevantes selbst<br />

beitragen zu kÄnnen, bei Åblichem Arbeitsaufwand mittlerweile leider kaum mehr als sonderlich<br />

hoch zu veranschlagen sind. Es sei denn, jemand hat ein klar durchdachtes, Mainstreaminterpretationen<br />

Åberlegenes Konzept, recherchiert gezielt und arbeitet bspw. viele Monate<br />

lang im Goethe-Schiller-Archiv (GSA) der Stiftung Weimarer Klassik oder im Archiv der<br />

alten Schulpforte; und hat dann noch das GlÅck, daÉ andere, die bestenfalls Ergebnisse seiner<br />

Arbeiten verwerten (ohne sich jedoch selbst ‘den MÅhen der Ebene’ archivalischer Arbeiten,<br />

der Entzifferung von Autographen bspw. aus der Mitte des vorletzten Jahrhunderts oder der<br />

LektÅre entsprechender Çlterer Literatur zu unterziehen) und ggf. ungeniert auch SekundÇrliteraturbelege<br />

Åbernehmen, nicht einerseits seine Leistung, Methoden, Fragestellung usw. diskreditieren,<br />

andererseits aber die interessantesten seiner Arbeitsergebnisse (in diese leider<br />

nicht selten pervertierender, sie ent- oder auch verschÇrfender, trivialisierend-dilettantischer<br />

wenngleich artifiziellst formulierter Deutung und in der Regel ohne Quellenverweis) ihrerseits<br />

schlicht okkupieren.<br />

2.5. Zeitnahe Parallelaktion: Klaus Gochs prophetenkuchengarnierte Mehlsuppe, 2009<br />

Die oben sich auf ‘Bluff’ beziehende vorsichtige Formulierung kann leider auch fÅr eine<br />

nahezu zeitgleiche Parallelaktion nicht als unzutreffend ausgeschlossen werden, nÇmlich fÅr<br />

des bereits erwÇhnten Franziska-Nietzsche- und Ludwig-Nietzsche-Biographen Klaus Goch<br />

in vielerlei Hinsicht extraordinÇre Abhandlung Mehlsuppe und Prophetenkuchen 54 Åber vorrangig<br />

am Beispiel von Nietzsche absconditus demonstrierte „Irrwege der psycho-biographischen<br />

Nietzscheforschung“, erschienen ebenfalls Herbst 2009. Was Goch (sich) bei nÇherem<br />

Besehen trotz einiger argumentativer Einsprengsel an imponierend klingenden, hochgestelzt<br />

formulierten, selbst ManipulationsvorwÅrfe 55 nicht scheuenden Behauptungen und allaussagehaltigen<br />

Verdikten – mit seiner Ex-cathedra-Diagnose als HÄhepunkt, daÉ der ‘gewaltige<br />

Entwurf’ von Nietzsche absconditus auf „methodisch schwankendem Boden“ stehe 56 – sowie<br />

an sorgsamen Arrangements in einer Art unerklÇrten Leser(intelligenz- und Sorgfalt)tests zu<br />

54 Klaus Goch: Mehlsuppe und Prophetenkuchen, 2009, S. 283-304; dazu Hermann Josef Schmidt:<br />

WadenbeiÖerphilologie, 2011, S. 162-186, und www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm; KÅrzestfassung:<br />

Inkompetenzdemonstrationen, 2010, S. 293-297.<br />

55 So schwadroniert er, um ManipulationsvorwÅrfe nun auch hier als Zitat zu belegen, von nicht weniger<br />

als einer „Verfallslinie psycho-biographischer Nietzscheforschung“, die „im tiefenpsychologischen<br />

Furor dazu verleitet wÅrde, das vorhandene Quellenmaterial so zu manipulieren, dass es in ein<br />

vorher entworfenes psychologisches Konstrukt eingepasst werden kann.“ Goch, 2009, S. 288. Rhetorisch<br />

zwar wie auch sonst zuweilen adrett aufgeputzt – besondere GlanzstÅcke sind unter obiger Perspektive<br />

die „Interludien“ in Nietzsches Vater, 2000, einem Band, der zwischen z.T. soliden Recherchen,<br />

zuweilen glÇnzenden Deskriptionen und kaum angemessen beschreibbaren Selbstaufplusterungen<br />

seines Autors wechselt (Vf. erinnerte sich wiederholt an die Sottise Nietzsches: „Blas dich nicht<br />

auf“...) – , doch auf der konkreten Belegebene: Fehlanzeige.<br />

56 Goch, 2009, S. 301.<br />

32


leisten erlaubt, wurde in WadenbeiÖerphilologie?, 2011, und deren KÅrzestfassung Inkompetenzdemonstrationen?<br />

als Replik nÇmlichen Orts in der Nietzscheforschung, 2010, zwar lÇngst<br />

belegt und diskutiert, gehÄrt aber ‘als PhÇnomen’ durchaus in den Zusammenhang des im<br />

Titel angezeigten Spannungsfeldes und damit auch in den grÄÉeren Kontext der hier im Vordergrund<br />

stehenden Nak-Kritik von DlJ. So muÉte Gochs Mehlsuppe hier zwar nicht mehr<br />

ÅberprÅft werden, ‘als PhÇnomen’ jedoch auch Åber dem Strich wenigstens einmal explizit<br />

BerÅcksichtigung finden.<br />

33


3. Die Monographie<br />

Nach den drei keineswegs unproblematischen zwar eher punktuell doch mit anerkennenswert<br />

strategischem Blick ansetzenden VorlÇufern 1993-1999 nun also die prinzipiellste und<br />

differenzierteste Kritik, die der Autor Na bisher widmete; und ebenso die umfangreichste sowie<br />

erfreulicherweise auch detaillierteste, die Na jemals gewÅrdigt wurde. Das wird selbst an<br />

ãuÉerlichkeiten wie etwa daran deutlich, daÉ der Name des Verfassers von Na auf nahezu<br />

jeder fÅnften Seite von DlJ wenigstens einmal – die Auflistung im „Stichwortverzeichnis“, S.<br />

630, ist nicht vollstÇndig – genannt wird (und auf weiteren Seiten hÇtte genannt werden kÄnnen<br />

oder vielleicht auch mÅssen), so daÉ er in DlJ der mit groÉem Abstand meistgenannte und<br />

-berÅcksichtigte Autor des 20. Jahrhunderts ist. Cum multis granibus salis kann DlJ als erste<br />

breit angesetzte, auch editorische Gesichtspunkte berÅcksichtigende und auf zuvor wenig oder<br />

nicht berÅcksichtigte Archivalien zurÅckgreifende ‘Gegenschrift’ nicht allein zu Na, sondern<br />

auch zu der von dessen Verfasser unterschiedlichen Orts entwickelten Nietzschesicht sowie<br />

-interpretation aufgefaÉt werden.<br />

Dazu kommt als Zweites, daÉ der Autor, seit dem 1.4.1988 sechs Jahre lang çFFfinanziert,<br />

intensiv mit Nietzsches frÅh(st)em NachlaÉ beschÇftigt, schon deshalb Åber keine<br />

geringe Sachkompetenz in Kenntnis ebenso wie Beurteilung der frÅh(st)en Texte Nietzsches<br />

verfÅgt, die es als bes. reizvoll erscheinen lÇÉt, seine kritischen Argumentationen bis in Details<br />

zu ÅberprÅfen; sowie als Drittes, nicht vÄllig auÉer acht zu lassen, daÉ er kaum zu Unrecht<br />

sowohl von seinem SelbstverstÇndnis her als aus weltanschaulich-positionalen GrÅnden<br />

in gewissem Sinne als spÇter Antipode der aufklÇrungs- und weltanschauungskritisch orientierten<br />

Nietzschesicht des Verfassers gesehen werden kann.<br />

Damit erhebt DlJ an den Verfasser von Na den wohlbegrÅndeten und wie schon 1999 wiederum<br />

kaum zu umgehenden Anspruch, in seiner Kritik an Na und in seiner dazu teils ergÇnzenden<br />

teils alternativen Nietzschesicht – sei es als argumentative Bereicherung; sei es als in<br />

Falsifikationsintention prÇsentierte Alternative – als von einem auÉergewÄhnlich informierten<br />

Sachkenner ernst genommen und selbst einer Metakritik gewÅrdigt zu werden, die hier nun<br />

leider in Ausblendung vieler weiterer diskussionswÅrdiger äberlegungen und Thesen HÄdls<br />

zumal der Teile 3. bis 5., S. 251-597, erfolgt.<br />

Vielleicht erÅbrigt sich nicht, auf einen weiteren zentralen Punkt noch hinzuweisen: Unter<br />

„Metakritik“ verstehe ich eine in falsifizierender Intention vorgenommene Analyse, die keineswegs<br />

beansprucht – aber auch nicht nátig hat –, jedes einzelne Argument der untersuchten<br />

Theorie, Argumentation usw. zu ÄberprÄfen bzw. zu widerlegen. Wenn sie (d.h. die Metakritik)<br />

etwas taugt, vermag deren Verfasser das Objekt der Analyse prinzipienorientiert zu strukturieren,<br />

‘tragende’ Voraussetzungen, ohne deren Akzeptanz das gesamte Unternehmen<br />

‘kippt’, zu identifizieren, und seine argumentativen BlattschÄsse dann gezielt anzusetzen. Vor<br />

allem bei einer auf einen so umfangreichen Text gerichteten Metakritik, wie sie hier DlJ gilt,<br />

kann schon aus UmfangsgrÅnden nur prinzipienorientiert und thematisch gewichtet vorgegangen<br />

werden. Dies bitte ich den Leser ebenso zu berÅcksichtigen wie die Tatsache zu tolerieren,<br />

daÉ ich mich nach wie vor sehr darum bemÅhe, daÉ auch Interessierte, die nicht zur engsten<br />

Interpretenzunft gehÄren, meine Argumentationen nachzuvollziehen – idealiter: auch zu<br />

ÅberprÅfen – vermÄgen; was impliziert, daÉ zuweilen Informationen ‘eingebaut’ werden, die<br />

dem Spezialisten bekannt sind bzw. trivial oder redundant erscheinen. So versucht der Verfasser<br />

weiterhin in einer Literatur- und zuweilen sogar in Umgangssprache mÄglichst prinzipielle<br />

Informationen und Argumente zu bieten, anstatt in hochverdichteter und artifizieller, mancher<br />

34


Mode angepaÉter Diktion im Effekt vielleicht doch eher Triviales oder Epigonales 57 zu offerieren.<br />

Was also an Na steht im Focus? Welche Thesen werden mit welchen Argumenten ÅberprÅft<br />

und zu widerlegen gesucht? Was leistet das vom Autor auf Åber 60 Druckseiten und<br />

verschiedentlich auch anderen Orts gebotene Ensemble kritischer Argumente? Und im Sinne<br />

unverzichtbarer Gegenproben: bleiben Argumente oder Belege, die lÇngst bekannt oder gar<br />

durch den Verfasser in vom Autor sogar zitierten Untersuchungen verÄffentlicht sind, unberÅcksichtigt,<br />

obwohl sie von ggf. diskussionsmitentscheidender Bedeutung sein kÄnnten?<br />

Man sieht, wechselseitige kritische LektÅre kÄnnte sich lÇngst gelohnt haben; und dÅrfte<br />

sich weiterhin lohnen. Also: Manege auf!<br />

3.1. Erste Vorentscheidungen<br />

Um sich auf die Voraussetzungen einer Kontroverse bspw. Åber Na zu einigen, bedÅrfte es<br />

einer Reihe methodologisch orientierter Vereinbarungen.<br />

Die vielleicht konsequenzenreichste: Die Kontroverse erfolgt entweder auf der Basis ausschlieÉlich<br />

der Texte der HKG und KGB sowie der bis spÇtestens FrÅhjahr 1990 erschienenen<br />

SekundÇrliteratur, durchaus jedoch in BerÅcksichtigung meiner seit 1983 vorgelegten Arbeiten<br />

auch zum frÅh(st)en Nietzsche zumal dann, wenn es um Fragen der SeriositÇt oder PrioritÇt<br />

meiner Analysen, Argumentationen und Hypothesen geht; oder aber in BerÅcksichtigung<br />

(1) aller existierenden PrimÇrtexte Nietzsches unabhÇngig vom Stand ihrer momentanen Edition<br />

sowie (2) der fÅr Nietzsches Entwicklung wichtigen Personen usw. einschlieÉlich noch<br />

unverÄffentlichter Archivalien (Autographen usw. zu diversen nietzscheforschungsrelevanten<br />

Fragen) sowie (3) gegenwÇrtig zugÇnglicher SekundÇrliteratur usw. vor allem dann, wenn es<br />

um Stichhaltigkeit, Berechtigung von AnsÇtzen, Korrektheit von Argumentationen und Problemoffenheit<br />

von Interpretationen usw., wenn es also primÇr um Minimierung von Fehlinterpretationen<br />

(also um ‘Wahrheitsfragen’) sowie um basale Bedingungen von deren MÄglichkeit<br />

geht. Dann sind aber im Sinne von Waffengleichheit bspw. zu einem spÇteren Zeitpunkt<br />

erst zugÇnglich gewordene Informationen auch seitens des Kritikers nicht lediglich zugunsten<br />

der ErhÄhung der Stichhaltigkeit seiner Kritik zu berÅcksichtigen, sondern ebenso zugunsten<br />

der StÇrkung der mit ihnen kompatiblen oder durch sie sogar ‘bestÇtigten’ NaK-<br />

Argumentationen heranzuziehen.<br />

HÄdl hat fÅr seine Analyse(n) von NaK sinnvollerweise den zweiten Weg gewÇhlt; und ich<br />

werde seiner Wahl in meiner Metakritik entsprechen. Das bedeutet nun – um in dieser m.E.<br />

wichtigen Methodenfrage zu konkretisieren – im UmkehrschluÉ im Sinne einer Elementarnorm<br />

von Wissenschaftsethik: AusschluÉ jedwedes Anspruchs auf selektive Argumentationsmixturen<br />

zumindest insofern, als Argument(ation)e(n) vor allem dann nicht mehr als beweiskrÇftig<br />

oder seriÄs zu akzeptieren sind, wenn sie durch Ausblendung von eigene Thesen<br />

problematisierenden oder gar falszifizierenden Informationen, Argumentationen usw. oder<br />

durch in der Sache nicht berechtigte – de facto leicht widerlegbare – Diagnosen, SchlÅsse<br />

usw. insbesondere im PrÇmissenbereich erfolgen 58 ; von Informationen, Argumentationen usw.<br />

also, die von dem betreffenden Autor jedoch unter der Voraussetzung hÇtten berÅcksichtigt<br />

57 Um nicht im Vagen zu bleiben: Eine aufschluÉreiche äbung in BewuÉtheitsschÇrfung kÄnnte bspw.<br />

sein, sich als Proseminararbeit in bekannten Nietzsche-Biographien usw. jeweils die AusfÅhrungen<br />

Åber die Autobiographie des dreizehnjÇhrigen Nietzsche (Aus meinem Leben) anzusehen, alles mit den<br />

Schilderungen von Nietzsches Schwester in deren Biographien von 1895 sowie 1912 (und ggf. mit der<br />

Schilderung in NaK) zu vergleichen und incl. der BerÅcksichtigung der jeweiligen Version der berÅhmten<br />

‘Regenstory’ bes. auf das VerhÇltnis von sprachlichem PrÇsentationsniveau und interpretativer<br />

‘TiefenschÇrfe’ zu achten.<br />

58 Was nicht ausschlieÉt, daÉ Autor oder Vf. aus was fÅr GrÅnden auch immer die Relevanz eines<br />

ihnen bekannten Sachverhalts als falsifikatorisches Kriterium falsch einschÇtzen kÄnnen.<br />

35


werden mÅssen, daÉ er Texte, aus denen er selbst zitiert, zuvor ganz liest und deren zentrale<br />

Argumente und Belege vor allem dann, wenn er eigene Thesen und Kritik an Auffassungen<br />

oder Argumentationen Dritter ins Argumentationsspiel zu bringen sucht, als potentiell falsifizierende<br />

Gegenproben nicht zugunsten des Vermeidens des Kollabierens eigener Theoreme<br />

ausblendet. Sicherlich eine hohe jedoch unverzichtbare Anforderung fÅr jeden, der sich mit<br />

einer Kritik an Argumentationen Dritter mÄglicherweise sogar mehrfach an die çffentlichkeit<br />

wendet.<br />

Um klare AusgangsverhÇltnisse zu schaffen, sind also die belegbaren Vorgaben des Kritikers<br />

als Fakten zu akzeptieren; was impliziert, daÉ der Kritiker dann auch seinerseits Belege<br />

des nÇmlichen Bereichs, der nÇmlichen Texte, Untersuchungen usw. ernstnimmt und sich –<br />

sei es in begrÅndeter Ablehnung, sei es in Anerkennung – als Folgelast der in seinem Text zu<br />

dokumentierenden Auseinandersetzung mit vorhandenen potentiell falsifizierenden Belegen<br />

nicht durch Schweigen, Ausweichen, Anlegen pseudoargumentativer Holzwege, ZÅndens<br />

sprachlicher Nebelkerzen usw. entzieht. Insofern hat ein Kritiker einen Vorsprung, der seitens<br />

des Kritisierten eingeholt oder als beibehalten akzeptiert werden muÉ.<br />

Argumentationsethisches Fazit: weder dem Kritiker noch dem Vf. eines kritisierten Textes,<br />

einer ggf. destruierten Argumentation usw. sei es gestattet, sich auf die zumal von Apologeten<br />

praktizierte Strategie zurÅckzuziehen, Belege nur auf äbereinstimmung hin zu suchen<br />

und/oder auf BestÇtigung hin 59 zu interpretieren, sondern er ist u.a. die wissenschafts- und<br />

forschungsethische Verpflichtung eingegangen, Gegenproben mit idealiter falsifizierendem<br />

Effekt selbst vor- sowie ernstzunehmen.<br />

3.2. Des Autors vorgezogenes ResÄmee<br />

Beginnen wir vor jeder Analyse von Details, wie sie DlJ im Blick auf NaK vor allem auf<br />

den Seiten 68-131 bietet, mÄglichst prinzipienorientiert mit der Frage nach der Ausgangslage<br />

der Kritik an Ansatz, Methode(n), Argumentationen usw. zumal von Nak, die in der Einleitung,<br />

genauer: in 1.2. „Aufbau und Grundgedanken der vorliegenden Arbeit“ (S. 20-27), sowie<br />

auf den folgenden Seiten (S. 28-30) auf eine Weise skizziert ist, daÉ nicht nur ein allen<br />

Åbrigen Kritikpunkten vorausgehender basaler, prÇmissenorientierter doppelter Einwand (S.<br />

21) exponiert, sondern auch der Anspruch seiner eigenen Argumentationen detailliert umschrieben<br />

wird (insbes. dann S. 29).<br />

Bereits in seiner Einleitung (S. 1-27) gibt der Autor ein vorgezogenes ResÅmee der Ergebnisse<br />

seiner Kritik an Çlteren Untersuchungen zum frÅhen und frÅhsten Nietzsche 60 , mit denen<br />

sein Ansatz seit lÇngerem konkurriere; ein ResÅmee, dessen Formulierung von AgrammatizitÇt<br />

bzw. einer konsequenzenreichen gedanklichen Unklarheit nicht frei ist, wenn er betont,<br />

daÉ<br />

59 In einer ersten Phase der Entwicklung eines Gedankengangs, einer Theorie usw., halte ich es fÅr<br />

legitim, die eigenen äberlegungen auf der Belegebene vor allem dann erst einmal zu stÇrken, wenn<br />

man von niemandem weiÉ, der bzw. die dazu in vergleichbarer Weise bereits verÄffentlichten; doch in<br />

einer unabdingbaren zweiten Phase sollten dann bereits vom betreffenden Autor selbst mÄglichst<br />

hochgradig falsifizierende Gegenproben durchgespielt werden – nicht zuletzt mit dem Effekt, seine<br />

äberlegungen ex negativo nochmals zu stÇrken, doch nicht minder mit dem Effekt, MiÉratenes vorsorglich<br />

aus dem Verkehr zu ziehen (anstatt apologetische Traditionen zu nutzen, bspw. durch Entspezifizierung<br />

basaler Begriffe usw. Immunisierungsstrategeme zu strapazieren).<br />

60 HÄdl spricht vom „jungen“ Nietzsche, wenn er das Kind, den SchÅler und selbst noch den Studenten<br />

meint, und versteht unter dem „frÅhen“ Nietzsche „den Basler Professor von der Zeit der GT und den<br />

UB.“ (S. 26, Anm. 97). Der Vf. hingegen spricht beim Kind Nietzsche vom frÅhsten, beim portenser<br />

SchÅler vom frÅhen, beim Studenten und Basler Professor bis zur Neuorientierung nach dem Erscheinen<br />

der Geburt der Tragádie vom jungen Nietzsche; und er bleibt bei seinem ihm angemessener erscheinenden<br />

Sprachgebrauch.<br />

36


„die in Abschnitt 2.1. in kritischer Auseinandersetzung mit biographisch orientierten<br />

Werkinterpretationen [61] entwickelten Vorbehalte und EinschrÇnkungen der ErklÇrungsfunktion<br />

solcher Modelle berÅcksichtigt werden sollen.“ (S. 21)<br />

Die „Vorbehalte“ gegenÅber den thematisierten „Çlteren Untersuchungen zum frÅhen und<br />

frÅhsten Nietzsche“ hat der Autor – ob zu Recht wird in Bezug auf NaK noch gezeigt – „in<br />

kritischer Auseinandersetzung“ selbst entwickelt oder von Dritten Åbernommen; dem ist zuzustimmen,<br />

da ja nicht HÄdls Berechtigung, Vorbehalte zu entwickeln oder diejenigen Dritter<br />

zu referieren, zur Diskussion steht, sondern HÄdls Berechtigung, den Inhalt der betreffenden<br />

Vorbehalte als Resultat seriÄser NaK-Analyse sowie entsprechend erfolgter Falsifikationen zu<br />

prÇsentieren; hingegen hat der Autor „EinschrÇnkungen der ErklÇrungsfunktion solcher Modelle“<br />

wohl kaum selbst entwickelt, sondern bestenfalls an kritisierten Interpretationen als von<br />

deren Autoren unerwÅnschten Effekt – ob zu Recht, wird im Fall von NaK diese Metakritik<br />

zu klÇren haben – aufgewiesen.<br />

Der fÅr den Autor<br />

„hauptsÇchliche Gesichtspunkt ist dabei die Ablehnung einer monokausalen ErklÇrung und<br />

die Abweisung der Annahme, man kÄnne den gesamten Text „Nietzsche(s)“ durch Hintergrundarbeit<br />

am verschriftet vorliegenden Text Nietzsches sicher und vollstÇndig rekonstruieren“<br />

(S. 21).<br />

Wie HÄdl in seiner Einleitung greife nun auch ich vor, denn ich bin mit seiner Ablehnung<br />

monokausaler ErklÇrungen schon insofern vÄllig einverstanden als diese Ablehnung zum<br />

Voraussetzungsbereich meiner (also auch der in NaK, in NaJ I und II konsequent durchgefÅhrten)<br />

polyperspektivischen Interpretationen – „Nietzsche denkt und existiert viel zu polyphon<br />

fÅr jedwede Art interpretatorischer Simplifikationen“ 62 – gehÄrt. Nach meiner Erinnerung<br />

gibt es bspw. in den Åber 1000 Seiten umfassenden, mit Fragen im niederen fÅnfstelligen<br />

Bereich gespickten beiden BÇnden von NaK weder im Lesetext noch in einer der zahlreichen<br />

und oft umfangreichen Anmerkungen auch nur einen einzigen Hinweis darauf, daÉ mit NaK<br />

oder auch mit NaJ der Versuch einer „vollstÇndigen“ oder „vÄlligen“ ErklÇrung intendiert<br />

worden sei oder gar vorgelegt worden wÇre. VÄllig erklÇren kann man nicht nur bei Nietzsche<br />

wohl garnichts; aber verstÇndlicher machen doch so manches.Auf die Belege fÅr diese basale<br />

These HÄdls kann man nur gespannt sein.<br />

Die Diagnose bzw. der Vorwurf wird bereits wenige Seiten spÇter in kaum verÇnderter<br />

Version wiederum unbelegt doch wie ein Mantra wiederholt:<br />

„Der relativ breite Rahmen, in dem diese ForschungsansÇtze diskutiert werden, ergibt sich<br />

also daraus, dass diese AnsÇtze – insbesondere derjenige von H.J. Schmidt – gegen meine<br />

Rekonstruktion der Texte der Kindheit Nietzsches gelesen werden. Genauer: gegen den<br />

historisch-kritisch und methodologisch erbrachten Nachweis, dass dieser Text der Kindheit<br />

Nietzsches nicht in der VollstÇndigkeit rekonstruiert werden kann, wie dies die besprochenen<br />

Interpretationen [also auch Na; d.V.] annehmen, und dass auch der rekonstruierbare<br />

61 D.h. 2.1.2 mit Alice Miller (S. 42-49), 2.1.3. mit Joergen Kjaer (S. 58-68), 2.1.4. mit dem Verfasser<br />

und insbes. Na (S. 68-131): als ob Na primÇr biographisch orientiert wÇre! Die Etikettierung einer<br />

Untersuchung, die wie Na zum GroÉteil nahezu alle edierten Texte des SchÅlers Nietzsche erstmals<br />

und z.T. ausfÅhrlichst interpretiert, als lediglich oder primÇr „biographisch-orientiert“, erleichtert zwar<br />

Autoren, die eher philosophisch-systematische Untersuchungen intendieren und abgeschottete Reviere<br />

prÇferieren, sich belegmÇÉig oder argumentativ vergleichsweise kostenfrei zu bedienen sowie sich von<br />

expliziter Auseinandersetzung zu suspendieren, doch vÄllig risikofrei sind derlei Strategeme nicht.<br />

62 Vgl. Hermann Josef Schmidt, NaK, S. 15, 46, 120, 192, 399, 775, 787, 907, 954, 1056, 1073, 1089<br />

usw.; das Zitat S. 954.<br />

37


Teil viele Schlussfolgerungen, die in diesen Interpretationen [also auch von Na; d.V.] gezogen<br />

werden, nicht zulÇsst.“ (S. 29)<br />

Selbst wenn ich, RedundanzvorwÅrfe riskierend, noch einmal ausdrÅcklich darauf verweise,<br />

daÉ HÄdls Na quasi argumentativen Fundamentalismus unterstellende Diagnose schon<br />

angesichts der mit Fragezeichen im niederen fÅnfstelligen Bereich gespickten BÇnde von NaK<br />

an Abwegigkeit schwerlich Åberbietbar ist, lohnt sich durchaus, die argumentative Folgelast<br />

seiner obigen Vorgaben im Blick auf das in DlJ argumentativ und beweistheoretisch wie<br />

-praktisch Leistbare in einigen Details sich aus unterschiedlichen Perspektiven zu verdeutlichen.<br />

SchlieÉlich hat der Autor bereits in den zitierten Passagen im Blick auf Na 63 kaum weniger<br />

als Folgendes behauptet:<br />

1. Eher noch allgemein und ohne direkte Nennung: die „ErklÇrungsfunktion“ auch von Na<br />

ist beeintrÇchtigt, und zwar u.a. wegen der dort<br />

(a) angewandten „monokausalen ErklÇrung“ und der<br />

(b) „Annahme, man kÄnne den gesamten Text „Nietzsche(s)“ durch Hintergrundarbeit<br />

am verschriftet vorliegenden Text Nietzsches sicher und vollstÇndig rekonstruieren.“ (S.<br />

21)<br />

2. Spezifizierend: „insbesondere“ der Ansatz „von H.J. Schmidt“ wird gegen HÄdls „Rekonstruktion<br />

der Texte der Kindheit Nietzsches gelesen“, genauer: „gegen den historischkritisch<br />

und methodologisch erbrachten Nachweis, dass dieser Text der Kindheit Nietzsches<br />

nicht in der VollstÇndigkeit rekonstruiert werden kann, wie dies die besprochenen Interpretationen<br />

[einschlieÉlich Na, d.Vf.] annehmen, und dass auch der rekonstruierbare<br />

Teil viele Schlussfolgerungen, die in diesen Interpretationen [einschlieÉlich Na, d.Vf.] gezogen<br />

werden, nicht zulÇsst.“(S. 29)<br />

Um leserfreundlicher aufzugliedern: streng genommen hat der Autor DlJ damit unter die<br />

Beweispflicht fÅr folgende Thesen gestellt:<br />

1. in Na wird monokausal argumentiert;<br />

2. in Na wird behauptet,<br />

(a) „man kÄnne den gesamten“ Text „Nietzsche(s)“ rekonstruieren; und zwar<br />

(b) „durch Hintergrundarbeit am verschriftet vorliegenden Text Nietzsches“.<br />

3. FÅr diese Rekonstruktionsleistung wird in Na hÄchste epistemische QualitÇt beansprucht,<br />

denn sie erfolge nicht nur<br />

(a) „sicher“, sondern auch<br />

(b) „vollstÇndig“ (alles S. 21).<br />

4. HÄdls „Nachweis“, daÉ „dieser Text der Kindheit Nietzsches nicht in der VollstÇndigkeit<br />

rekonstruiert werden kann, wie dies“ auch Na annimmt (s.o.), erfolgt<br />

(a) „historisch-kritisch“ und<br />

(b) „methodologisch“; ebenso erfolgt auch<br />

5. HÄdls „Nachweis“, daÉ „auch der“ noch „rekonstruierbare Teil“ des Textes der Kindheit<br />

Nietzsches „viele Schlussfolgerungen“, die auch durch Na „gezogen werden, nicht zulÇsst“,<br />

sowohl<br />

(a) „historisch-kritisch“ als auch<br />

(b) „methodologisch“ (alles S. 29).<br />

63 Eine Metakritik der QualitÇt von HÄdls Kritik an den Untersuchungen von Alice Miller: Das ungelebte<br />

Leben und das Werk eines Lebensphilosophen (Friedrich Nietzsche). In: Der gemiedene SchlÅssel.<br />

Frankfurt/M., 1988, S. 9-78, und Joergen Kjaer: Nietzsche. Die Zerstárung der HumanitÜt durch<br />

‘Mutterliebe’. Opladen, 1990, die ich trotz mancher SchwÇchen deutlich hÄher einschÇtze, klammere<br />

ich in diesem Beitrag ausdrÅcklich aus. Zu Alice Miller vgl. NaK, S. 39f., 42f., 809ff. und 905f.; zu<br />

Joergen Kjaer, Nietzsche, 1990, vgl. NaK, insbes. S. 42-46, 842-845 und 903-907.<br />

38


Ein beeindruckend anspruchsvolles Programm? Sollte DlJ dieser neunfachen Beweispflicht<br />

auf Åberzeugende Weise zu entsprechen vermÄgen, kÄnnte der Autor auch mit meiner<br />

bewundernden Zustimmung rechnen. Doch ob DlJ dieser fast herkulische Leistungen erfordernden<br />

Beweispflicht zu entsprechen vermag, kann nur eine äberprÅfung der auf den Seiten<br />

68-131 von DlJ vorgelegten BeweisfÅhrung ergeben.<br />

Wir dÅrfen jedenfalls gespannt sein wie DlJ nun die von den Vorgaben der Seiten 21 und<br />

29 stimulierten 14 Fragen beantwortet, die abschlieÉend ebenfalls noch aufgelistet sein sollen:<br />

Fragen 1 und 2: wo und wie wird in NaK monokausal argumentiert? Und: was im<br />

einzelnen ist in NaK Inhalt dieser „monokausalen ErklÇrung“?<br />

Fragen 3 und 4: wo und wie wird in NaK behauptet, „man kÄnne den gesamten“ Text<br />

„Nietzsche(s)“ rekonstruieren? Und: was meint die Behauptung, jemand wolle „‘den gesamten’<br />

Text ‘Nietzsche(s)’„ rekonstruieren?<br />

Frage 5 und 6: wo und wie wird in NaK des weiteren behauptet, diese Rekonstruktion<br />

des „gesamten“ Textes Nietzsches erfolge „durch Hintergrundarbeit am verschriftet vorliegenden<br />

Text Nietzsches“? Und: was meint die Behauptung, jemand wolle den „gesamten“<br />

Text Nietzsches „durch Hintergrundarbeit am verschriftet vorliegenden Text Nietzsches“<br />

rekonstruieren?<br />

Fragen 7 und 8: wo und wie wird fÅr diese Rekonstruktionsleistung in NaK, sollte sie je<br />

erfolgt sein, hÄchste epistemische QualitÇt beansprucht, denn sie erfolge lt. HÄdl einerseits<br />

ja „sicher“ und andererseits „vollstÇndig“ (S. 21)?<br />

Fragen 9 und 10: wo und wie erfolgt HÄdls „Nachweis“, daÉ „dieser Text der Kindheit<br />

Nietzsches nicht in der VollstÇndigkeit rekonstruiert werden kann, wie dies“ auch NaK –<br />

wo? – annimmt (s.o.), „historisch-kritisch“ und auÉerdem noch „methodologisch“ (S. 29)?<br />

Fragen 11 und 12: wo und wie erfolgt der „Nachweis“, daÉ „auch der“ noch „rekonstruierbare<br />

Teil“ des Textes der Kindheit Nietzsches „viele Schlussfolgerungen“, die auch<br />

durch NaK – welche? Und wo? – „gezogen werden, nicht zulÇsst“, „historisch-kritisch“<br />

und „methodologisch“?<br />

Frage 13: was versteht HÄdl unter dem „rekonstruierbaren Teil“ des Kindheit Nietzsches,<br />

den er in DlJ im Gegensatz zu dem Verfasser in NaK zu rekonstruieren beansprucht?<br />

Frage 14: welche der „vielen“ SchluÉfolgerungen belegt DlJ, die der Text der Kindheit<br />

Nietzsches zwar nicht zulÇÉt, die NaK jedoch positiv zieht?<br />

39


3.3. Argumentations- und BeweisgangsÄberprÄfungen 1: Weichenstellungen & Vorentscheidungen<br />

Die direkte Auseinandersetzung mit NaK erfolgt in Teil 2, dem mit groÉem Abstand<br />

umfangreichsten Teil von DlJ, „Biographie: Nietzsches Jugend als biographische Voraussetzung<br />

seiner Stellung zur Religion“ (S. 28-250) innerhalb des Teilkapitels „2.1. Nietzsches<br />

Sozialisation: Diskussion biographisch orientierter Nietzsche-Interpretationen“ (S. 28-131) so,<br />

daÉ nach 2.1.1. „Das biographische Setting von Nietzsches Kindheit“ (S. 30-42), 2.1.2. „Das<br />

Drama des miÉbrauchten Kindes: Alice Millers Nietzsche-Essay“ (S. 42-49), 2.1.3. „Joergen<br />

Kjaers Nietzsche-Interpretation aus dem VerhÇltnis Nietzsches zu seiner Mutter“ (S. 58-68) –<br />

was alles hier nicht ÅberprÅft werden kann 64 – nun in 2.1.4. „Hermann Josef Schmidts „Spurenlesen“<br />

bei Nietzsche“ (S. 68-131) den Hauptpunkt und AbschluÉ dieses Teilkapitels bildet.<br />

(Bitte beachten: die Gliederung meiner Metakritik entspricht nicht der Gliederung in DlJ!)<br />

Einem primÇr inhaltlich interessierten Leser sei unbenommen, 3.3.1. bis 3.3.11. ggf. nur in<br />

Stichproben zu berÅcksichtigen. Doch mein Aufweis der vier wohl zentralen Consensus-<br />

VerstÄÉe von NaK – skizziert in 3.3.2.2.-3.2.2.4. sowie in 3.3.2.11. – sollte ebensowenig<br />

Åbergangen werden wie des Autors wohlformulierte sieben „Grundthesen von Schmidts Interpretationen“<br />

sowie deren Diskussion (in 3.3.2.7.), da die dabei eingebrachten Informationen<br />

meinen weiteren AusfÅhrungen zugrundeliegen und damit als bekannt vorausgesetzt werden.<br />

3.3.1. Weitere Vorentscheidungen<br />

So Åberrascht kaum, daÉ die direkte Auseinandersetzung erst nach einer FÅlle hier aus UmfangsgrÅnden<br />

grÄÉtenteils nicht diskutierbarer, sondern nur skizzierbarer Vorentscheidungen<br />

anfÇllt bzw. durch sie vorbereitet wird. Dazu gehÄren vor allem<br />

3.3.1.1. die Einordnung von Na<br />

in biographisch orientierte Nietzsche-Interpretationen, denn das gilt fÅr Na nur zum kleineren<br />

Teil, da die dem Zeitraum von Nietzsches Kindheit und restlicher SchÅlerzeit gewidmeten<br />

Åber 2.000 Seiten Analysen nahezu sÇmtlicher abgeschlossener Texte aus Nietzsches SchÅlerjahren<br />

darstellen und biographische Fragen primÇr dann thematisieren, wenn der frÅh(st)e<br />

Nietzsche (was allerdings auffallend hÇufig geschieht) sie selbst anspricht; oder wenn ihre<br />

Kenntnis tiefenschÇrfere Interpretationen erleichtern. Nietzsches frÄhe Denkentwicklung sollte<br />

in Na soweit irgend máglich aus diesen noch vorliegenden Texten des Kindes und SchÄlers<br />

selbst rekonstruiert werden – nicht jedoch aus spÇteren Aussagen Nietzsches oder von Dritten<br />

auf den frÅh(st)en Nietzsche ‘rÅckgeschlossen’ werden. Da das im Blick auf Nietzsches frÅhe<br />

Texte m.W. vÄllig neu war, muÉten immer wieder methodologisch orientierte Reflexionen<br />

eingeschaltet werden; und auf Hinzuziehung auch besonders attraktiver Belege des spÇteren<br />

Nietzsche war deshalb schweren Herzens 65 zu verzichten. Biographisches hingegen blieb und<br />

bleibt sekundÇr.<br />

64 Die Diskussion bspw. der Sichtweise von Jorgen Kjaer erfolgt sensibel und auf hohem Niveau; vielleicht<br />

auch deshalb, weil sie HÄdl auf der Ebene seiner argumentativen ‘essentials’ nicht vergleichbar<br />

provoziert wie Nak. Leider erwÇhnt er die kleine Schrift von Rudolf Kreis: Der gekreuzigte Dionysos.<br />

Kindheit und Genie Friedrich Nietzsches. Zur Genese einer Philosophie der Zeitenwende. WÅrzburg,<br />

1986, die ich als erste hocherfreuliche monographische inhaltliche Reaktion auf meine Arbeiten von<br />

1983f. wertete, nur in 6 Zeilen, denn Kreis spÅrt dem „Attentat Gottes“ in Texten des spÇteren Nietzsche<br />

auf eine Weise nach, daÉ die Relevanz dieses theodizeeproblemhaltigen Ansatzes auch Interpreten<br />

akzeptabel erscheinen kÄnnte, die AusfÅhrungen des Vf.s zu akzeptieren niemals gewillt zu sein<br />

scheinen.<br />

65 So hat vor allem der wichtige Vortrag von Mazzino Montinari: Nietzsches Kindheitserinnerungen<br />

aus den Jahren 1875 bis 1879, in ders: Nietzsche lesen. Berlin/New York, 1982, S. 21-37, dazu ge-<br />

40


3.3.1.2. Chronologie<br />

Wie nahezu jeder Text, der sich zum frÅhen Nietzsche ÇuÉert und sich mit dazu vorliegender<br />

Literatur auseinandersetzt, erweckt auch DlJ den Eindruck, daÉ der Verfasser sich zwar<br />

ausfÅhrlicher als andere, doch erstmals in NaK zum frÅh(st)en Nietzsche geÇuÉert hÇtte. Das<br />

ist nicht nur schon deshalb abwegig, weil Na bereits 1984 in einem Texte des Kindes Nietzsche<br />

explizit thematisierenden Beitrag angekÅndigt wurde, sondern weil die Na zugrundeliegende<br />

Nietzschesicht schon in einer zwar erst Mitte 1983 erschienenen, jedoch aus dem Winter<br />

1981/82 stammenden und in wohl jeder deutschen gymnasialen Lehrer-, philosophischen<br />

Seminar- und jeder UniversitÇtsbibliothek ohnedies vorhandenen Untersuchung vorgestellt<br />

worden war.<br />

Aus mehrfach gegebenem AnlaÉ deshalb dazu einmal etwas genauer: In der Regel werden<br />

mittlerweile Analysen der Entwicklung Nietzsches ebenso wie der diese thematisierenden<br />

Literatur in BerÅcksichtigung chronologischer ZusammenhÇnge vorgenommen. So diskutiert<br />

auch DlJ zuerst den 1988 verÄffentlichten Aufsatz von Alice Miller, der kurioserweise 66<br />

durchgÇngig auf 1982 datiert ist (so auch in der Bibliographie, S. 607) – wodurch chronologisch<br />

orientierte äberlegungen, soweit sie der Genese der in Na entwickelten Sicht gelten,<br />

zuungunsten des Verfassers zwangslÇufig in die Irre gefÅhrt werden –, danach den wichtigen<br />

Band von Joergen Kjaer von 1990 und schlieÉlich nach einigen Zeilen zu Rudolf Kreis, 1986,<br />

NaK. Damit entsteht jedoch der Eindruck, als ob auf den 1.100 Seiten von NaK Thesen zum<br />

frÅhsten Nietzsche zwar differenzierter als anderswo, doch nicht zuletzt in Reaktion auf inzwischen<br />

vorliegende Untersuchungen formuliert worden wÇren.<br />

Sollte es jemals um PrioritÇtsfragen gehen, erinnere ich in aller Bescheidenheit daran, daÉ<br />

meine zentrale – vermutlich schon damals keineswegs sonderlich originelle – These der Bedeutsamkeit<br />

von Nietzsches frÅhsten Texten (incl. der RÄckener Ereignisse und ihrer Konsequenzen)<br />

fÅr ein VerstÇndnis von Nietzsches Entwicklung nicht nur schon ein Jahrzehnt vor<br />

Erscheinen von NaK in Veranstaltungen an der U.Dortmund vorgestellt, sondern seit 1983<br />

auch im Druck prinzipiell sowie durch knappe Interpretation einzelner Texte des Kindes belegt<br />

wurde in: Friedrich Nietzsche: Philosophie als Tragádie 67 , und (sogar im Titel erkennbar)<br />

in: Nietzsche ex/in nuce. FrÄheste SchÄlerphilosophie in ihrer grundlegenden Bedeutung<br />

fÄr die <strong>Nietzscheinterpretation</strong> 68 . AuÉerdem erinnere ich auch daran, daÉ wenigstens einer<br />

dieser beiden wohlplatzierten Texte einigen der an der Diskussion Åber den frÅhsten Nietzsche<br />

Beteiligten selbst dann bekannt war, wenn in ihren Arbeiten kein entsprechender Hinweis<br />

erfolgte. 69<br />

fÅhrt, daÉ Nietzsches Aussagen von 1875 bis 1879 nicht selten auch als prÇzise Belege der Erfahrungen<br />

bereits des Kindes Nietzsche selbst gedeutet wurden, was freilich abwegig ist. Dazu noch spÇter.<br />

66 „kurioserweise“ oder auch rÇtselhafterweise deshalb, weil noch in der Bibliographie von Hans Gerald<br />

HÄdl: Schriften der Schulzeit (1854-1864), in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch,<br />

2000, S. 72, die Angabe korrekt erfolgt.<br />

67 Hermann Josef Schmidt, Friedrich Nietzsche: Philosophie als Tragádie. In: Josef Speck (Hg.):<br />

Grundprobleme der groÉen Philosophen. Philosophie der Neuzeit III. GÄttingen, 1983, S. 198-241.<br />

68 Hermann Josef Schmidt, Nietzsche ex/in nuce. FrÄheste SchÄlerphilosophie in ihrer grundlegenden<br />

Bedeutung fÄr die <strong>Nietzscheinterpretation</strong>. In: Zeitschrift fÅr Didaktik der Philosophie VI (1984), Heft<br />

3: Nietzsche, S. 138-147; der Hinweis auf Na, S. 146, Anm. 5; vgl. auch Hermann Josef Schmidt,<br />

Nietzsches Briefwechsel im Kontext, ein kritischer Zwischenbericht. In: Philosophischer Literaturanzeiger<br />

XXXVIII (1985), S. 359-378, und: Mindestbedingungen nietzscheadÜquaterer <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

oder Versuch einer produktiven Provokation. In: Nietzsche-Studien XVIII (1989), S. 440-<br />

454.<br />

69 Nochmals: zwei sehr knappe Skizzen der Initialphase frÅher <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

bietet Hermann Josef Schmidt: „Genetisch orientierte <strong>Nietzscheinterpretation</strong> der frÅhen 1980er Jahre?“<br />

In: Letztes Refugium?, 2011, S. 231-233, und: „Der frÅh(st)e Nietzsche und die <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

– allzulange ein MiÉverhÇltnis?“ In: Von „Als Kind Gott im Glanze gesehn“ zum „ChristenhaÖ“?<br />

In: Ebenda, Bd. 8, 2001, S. 96-99.<br />

41


Bemerkenswerterweise war es JÄrg Salaquarda, der 1986 m.W. als erster in einem Nietzscheforschungsorgan<br />

darauf verwies, ich hÇtte in meinen „neuesten VerÄffentlichungen mit<br />

guten GrÅnden herausgearbeitet, daÉ sich Nietzsche schon als Knabe gegen (den christlichen)<br />

Gott gewandt habe und daÉ diese Auseinandersetzung untergrÅndig oder manifest sein ganzes<br />

Werk bestimme“ 70 . Seitdem kÄnnten entsprechend Interessierte informiert gewesen sein. Warum<br />

Salaquarda von seiner Auffassung umsomehr abzurÅcken 71 schien je differenzierter und<br />

prÇziser ich diese Sichtweise begrÅndete, gehÄrt fÅr mich ebenso wie einiges andere auch zu<br />

den RÇtseln der 1990er Jahre.<br />

Der zweite zentrale Hinweis erfolgte ein Jahr spÇter ebenfalls in den „Nietzsche-Studien“<br />

durch den nietzscheforschungsaktiven DDR-Pastor Reiner Bohley, dem Wolfgang MÅller-<br />

Lauter meinen Text von 1984 zugÇnglich gemacht hatte, und der sich entschlossen hatte, meine<br />

Thesen in Archiven zu ÅberprÅfen und ihnen in seiner epochalen Untersuchung Nietzsches<br />

christliche Erziehung, „einen festen biographischen Hintergrund zu geben“. 72 (Erst einem<br />

Hinweis von Karl Pestalozzi 73 entnahm ich, daÉ Julia Kroedel bereits 1982 an der UniversitÇt<br />

Basel mit Heimat und Fremde in der Lyrik des jungen Nietzsche eine Texten des frÅhen<br />

Nietzsche geltende sensible Lizentiatsarbeit vorgelegt hatte, deren Kenntnis ich der Autorin<br />

und deren Vermittlung ich Karl Pestalozzi verdanke.)<br />

3.3.1.3. biographisches Setting von Nietzsches Kindheit<br />

Vor allem freilich bedÅrfte HÄdls biographisches Setting von Nietzsches Kindheit (S. 30-<br />

42) einer bei weitem grÅndlicheren Diskussion, da DlJ bspw. die wohldokumentierte 74 RÄckener<br />

Familienkatastrophe des etwa neunmonatigen verzweifelten Kampfes der Familienmitglieder<br />

um Rettung des an einem rÇtselhaften Gehirnleiden („Gehirnerweichung“) tÄdlich<br />

erkrankten, vor Schmerzen weinenden, stÄhnenden, Notschreie ausstoÉenden, schlieÉlich erblindeten<br />

Vaters Nietzsches, die alle familiÇren Sprachregelungen sprengt, mit einer Formulierung<br />

wie<br />

„stirbt Nietzsches Vater nach einiger Zeit des Siechtums infolge einer Gehirnerkrankung“ (S. 33)<br />

wohl grandios verharmlost; und da DlJ biographische Aufzeichnungen des frÅhen Nietzsche<br />

nicht nur in subtilen Analysen berechtigterweise als Dokumente nietzschescher – jeweiliger! –<br />

Selbstsicht, sondern auch als zutreffende Informationen Åber die RÄckener VerhÇltnisse des<br />

70 Emanuel Hirsch: Nietzsche und Luther. Mit einem Nachwort von JÄrg Salaquarda. In: Nietzsche-<br />

Studien XV, 1986, S. 432, Anm. 7.<br />

71 In dem Art. Christentum in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung,<br />

Teil III. Begriffe, Theorien, Metaphern. Stuttgart; Weimar, 2000, S. 207, konzediert Salaquarda<br />

zwar noch, daÉ das Kind von „frÅh an, vermutlich ausgelÄst durch das langsame qualvolle Sterben des<br />

Vaters“, „das Theodizeeproblem“ „bewegt“ habe, wobei er auf NaK, S. 858ff., verweist, doch in seinem<br />

korrespondierenden Art. Christentum in Teil IV. LektÅren, Quellen, EinflÅsse, S. 381ff., sucht er,<br />

indem er eine Passage der Autobiographie vom SpÇtsommer 1858 wÄrtlich nimmt, anstatt sie zu hinterfragen,<br />

den Eindruck zu erwecken, daÉ nicht nur Nietzsches Ausbildung, sondern auch sein eigenes<br />

Verhalten bis zum äbertritt nach Schulpforta „ganz auf dieses Ziel hin ausgerichtet war“, „den Pfarrerberuf“<br />

zu ergreifen (S. 381). Davon daÉ „sich Nietzsche schon als Knabe gegen (den christlichen)<br />

Gott gewandt habe und daÉ diese Auseinandersetzung untergrÅndig oder manifest sein ganzes Werk<br />

bestimme“, ist nun (anders als 1986) leider nicht mehr die Sprache.<br />

72 Reiner Bohley: Nietzsches christliche Erziehung. In: Nietzsche-Studien XVI, 1987, S. 164-196; das<br />

Zitat S. 171, Anm. 38; fortgesetzt in: eb.da, XVIII, 1989, S. 377-395.<br />

73 Karl Pestalozzi: Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe...“ auf dem Hintergrund seiner<br />

Jugendlyrik. In: Nietzsche-Studien XIII [1984], S. 101-110.<br />

74 Genaueres dazu in spe Hermann Josef Schmidt: Nietzsches Kindheit 1844-1850 (Arbeitstitel); eine<br />

Kurzfassung gibt bereits ders., Friedrich Nietzsche aus Rácken. In: Nietzscheforschung, Bd. 2, Berlin,<br />

1995, S. 35-60.<br />

42


Jahres 1849 zu betrachten scheint; was zwar abwegig, in <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en jedoch wie<br />

anderes kaum weniger Aberwitzige leider bis zur Gegenwart Regelfall ist.<br />

3.3.1.4. ZeitsprÅnge<br />

Riskant doch nicht untypisch auch fÅr andere (selbst Anachronismen nicht scheuende) ArgumentationszusammenhÇnge<br />

in DlJ erscheint, daÉ der Autor bereits im biographischen Setting<br />

von Nietzsches Kindheit Interpretationen von so voraussetzungsreichen Gedichten Nietzsches<br />

wie Der Geist (von 1858; S. 37) und sogar dem titellosen „Mich trieb ein Geist in des<br />

Waldes Nacht“ 75 (wohl 1861; S. 38f.) einbezieht bzw. chronologisch vorzieht, so daÉ er eher<br />

einen vielschichtigen und spannend zu lesenden Text vorlegt als (1) eine nÅchterne, mÄglichst<br />

extern belegte faktengesÇttigte Information Åber Nietzsches Kindheit, gegen die dann im Folgenden<br />

erst (2) Nietzsches Interpretationen ab 1858 und (3) daran dann anschlieÉend des Autors<br />

eigene äberlegungen abgehoben werden. Statt dessen diskutiert er erfreulich differenziert<br />

die erwÇhnten beiden Gedichte Nietzsches, beschrÇnkt jedoch sein biographisches Setting, auf<br />

dessen Details es ja ankÇme, weitestgehend auf PrÇsentation einiger Ergebnisse aus Bohleys<br />

christlicher Erziehung 76 , die teils zitiert und teils paraphrasiert werden: als ob seit 1987 nicht<br />

wichtigste Informationen zu Nietzsches RÄckener und Naumburger Kindheit vorgelegt worden<br />

wÇren, die jedoch zu einem nicht geringen Teil vom Vf. stammen dÅrften. So ist bereits<br />

die das biographische Setting des Autors von DlJ betreffende Ausgangslage eher prekÇr. 77<br />

3.3.2. Zur Analyse und Kritik von Nak<br />

In seiner Auseinandersetzung primÇr mit NaK geht der Autor sehr systematisch vor. So<br />

macht er<br />

3.3.2.1. eine grundsÇtzliche Unterscheidung<br />

in den in NaK „vorgebrachten Thesen anhand einer Diskussion grundlegender Interpretationsprinzipien<br />

und zweier exemplarischer FÇlle. Die grundsÇtzliche Unterscheidung [...] ist die zwischen<br />

der philosophischen Interpretation und den biographischen resp. psychologischen äberlegungen.“<br />

(S. 69)<br />

Der Autor arbeitet nun seine „grundsÇtzliche äbereinstimmung“ mit meinem Ansatz heraus,<br />

indem er erfreulicherweise meine Auffassung mittlerweile teilt, „dass sich viele der<br />

75 HÄdl referiert z.T. korrekt meine Sichtweise, doch eine Diskussion der Frage, inwieweit der damals<br />

SechzehnjÇhrige Åber die erforderlichen altertumswissenschaftlichen Informationen verfÅgte, setzt<br />

voraus, daÉ der ‘griechische’ Bildungshintergrund Nietzsches, wie er sich bspw. schon in den Texten<br />

des Prometheus-Projekts vom FrÅhjahr 1859 – also zwei Jahre frÅher! – oder in den Philotas-<br />

Fragmenten – Herbst 1859! – aufweisen lÇÉt, seitens des Autors erarbeitet worden wÇre. DafÅr fand<br />

ich jedoch keinen Anhaltspunkt. Und u.a. genau an mangelnder Kenntnis der selbst fÅr das Kind<br />

Nietzsche zentralen ‘griechischen’ ZusammenhÇnge scheitern HÄdls Interpretationen bspw. von Der<br />

GeprÄfte (wie unten gezeigt ist). Was einerseits daran liegt, daÉ HÄdls Kompetenzen andere sind, andererseits<br />

freilich auf seine äberlegungen zu Nietzsches Bildungsprogramm nicht unbedingt erwÅnschtes<br />

Licht wirft.<br />

76 Reiner Bohley: Nietzsches christliche Erziehung. In: Nietzsche-Studien XVI, 1987, S. 164-196.<br />

77 Zu den zahlreichen Spannungen (wenn nicht WidersprÅchen) von DlJ gehÄrt, daÉ der Autor S. 73,<br />

Anm. 188, meine Sichtweise der Folgen der Leiden und Tod seines Vaters betreffenden RÄckener<br />

Erfahrungen des Kindes Nietzsche sogar zitiert. (Zuweilen frage ich mich, ob zahlreiche Inkonsistenzen<br />

der Argumentation in DlJ ihre Ursache bzw. ErklÇrung in extremem Zeitmangel des Autors finden<br />

bzw. haben. Doch welchem Hochschullehrer ging und geht das nicht so?)<br />

43


Grundprobleme, die Nietzsche in seinen spÇteren Werken beschÇftigen werden, bereits in den<br />

Texten des Jugendlichen finden.“ (S. 69) 78<br />

VerstÇndlicherweise gewichtet HÄdl auf der nun gemeinsamen Basis anders, favorisiert also<br />

eine andere Deutungsperspektive, um die es hier freilich vor allem dann geht, wenn sie Nakritisch<br />

eingesetzt wird, da eine ihr geltende detaillierte Diskussion selbst noch diesen Rahmen<br />

sprengen wÅrde; dennoch wird sie, um sie dem Leser nicht vorzuenthalten – und weil<br />

davon auszugehen ist, daÉ sie die Mainstream-Interpretation ‘der religiÄsen Entwicklung’ des<br />

Kindes Nietzsche werden dÅrfte –, in 3.7. skizziert und knapp diskutiert.<br />

Der vom Autor vorgenommenen „grundsÇtzlichen Unterscheidung“ kann ich zustimmen,<br />

solange sie nicht in einer Art von ‘Problementsorgungsperspektive’ vorgenommen oder gar in<br />

‘Problementsorgungsintention’ eingesetzt wird, also entweder aus der Unterscheidbarkeit von<br />

Perspektiven, Sachverhalten usw. auf die zwar theoretisch selten vertretene (in der Praxis freilich<br />

hÇufig antreffbare) Annahme wechselseitiger UnabhÇngigkeit 79 philosophischer und biographisch-psychologischer<br />

Interpretationen ‘geschlossen’ wird, was ich fÅr einen katastrophalen<br />

und folgenreichen Denkfehler halte, da ich von der ErkenntnistrÇchtigkeit wechselseitiger<br />

Korrekturen ausgehe; oder aber, was – solange es nicht bemerkt und moniert wird – ein klug<br />

arrangiertes apologetisches oder ideologisches Strategem wÇre, wenn auf diese Art eine von<br />

allen biographischen, psychisch relevanten usw. Sachverhalten und Informationen unabhÇngige,<br />

freie, befreite, pseudoemanzipierte ‘Philosophie’ bzw. philosophische Interpretation<br />

kreiert wÇre, die in desto grÄÉerem MaÉe jedoch weltanschaulichen, religiÄsen oder theologischen<br />

EinflÅssen offenstehen dÅrfte, da deren äberprÅfbarkeit und ggf. Korrigierbarkeit dann<br />

nicht mehr nur durch biographische oder psych(olog)ische, sondern idealiter durch sÇmtliche<br />

nur denkbaren realwissenschaftlichen Informationen suspendiert wÇre. Zumal fÅr maskierte<br />

oder ihrer frÅhkindlichen PrÇgungen nicht bewuÉte Defensores fidei eine Traumkonstellation,<br />

die unbeeinfluÉbares Glasperlenspielen ebenso wie raffinierte apologetische Arrangements<br />

ermÄglicht; so wie es leider selbst in meiner Disziplin 80 weltweit an vielen Hochschulen wohl<br />

noch bis in die ferne Zukunft der Fall sein dÅrfte. Ob diese potentiellen Folgelasten auch fÅr<br />

78 Wenn der Autor bspw. in Anm. 103, S. 30, freundlich anmerkt, daÉ Na „viele Fragenbereiche Åberhaupt<br />

erst erÄffnet“ habe, so ehrt ihn diese Formulierung ebenso wie eine Reihe anderer im nÇmlichen<br />

Sinne durchaus; doch anders, als er offenbar empfindet, habe ich nicht nur nichts dagegen, daÉ er eine<br />

andere Sichtweise als die in Na Angebotene(n) hat, oder gar, daÉ er „oft anders wertet“ (S. 30, Ende<br />

des 1. Absatzes im Haupttext), sondern ich moniere seit mittlerweile knapp 2 Jahrzehnten, daÉ seine<br />

insbes. gegen Na kritisch eingesetzte ‘andere Sichtweise’ z.T. anders in Folge leider nicht seltener<br />

grÄblicher Verzeichnung oder von MiÉverstÇndnissen war, was meinerseits noch toleriert worden wÇre,<br />

wenn sie nicht jeweils als erfolgreiche Na-Kritik optimal platziert vorgestellt worden und zumal<br />

JÅngere auf falsche FÇhrten verlockend wÇre. So habe ich, ausgelÄst durch HÄdls Kritiken der Jahre<br />

1993-1998/99, tatsÇchlich noch sehr viel dazugelernt; aber leider weniger – auÉer in wenigen Details –<br />

direkt aus seinen Kritiken selbst, sondern erst in Folge der durch diese Kritiken hohen epistemischen<br />

Anspruchs nahegelegten z.T. aufwendigen äberprÅfungen (wie bspw. in Sachen Ernst Ortlepp). Anders<br />

nun freilich in DlJ. Auch wenn ich gerade den als experimenta crucis prÇsentierten Argumentationen<br />

nicht nur nicht zuzustimmen vermag, sondern ihr Kollabieren eher als unerwartete BestÇtigung<br />

meiner (mittlerweile Jahrzehnte zurÅckliegende NaK-Grobskizzen lÇngst weitergefÅhrt habenden)<br />

Auffassungen betrachte, mindert das nicht meinen Respekt einer argumentativ so breit angesetzten,<br />

immens kenntnisreichen Untersuchung gegenÅber, wie sie HÄdl nun mit DlJ vorgelegt hat.<br />

79 In einem 25 Punkte umfassenden ‘interpretativen Lasterkatalog dominierender ‘Blindheiten’ und<br />

Einseitigkeiten, mangelnder Kompetenzen, verweigerter Perspektiven oder ausgeklammerter Inhalte’<br />

hatte ich dieses Problem als Punkt 3 angesprochen; vgl. dazu Hermann Josef Schmidt: Entnietzschung,<br />

2000, S. 122.<br />

80 Musterbeispiele hochgestochenster paenechristlicher Artikulationen bietet nach meinem Empfinden<br />

bspw. Thomas Rentsch: Gott. Berlin, 2005; dazu geradezu wohltuend nÅchtern Hans Albert: Thomas<br />

Rentsch als philosophischer Theologe. Eine Kritik seiner religiásen Wirklichkeitsauffassung. In: AufklÇrung<br />

und Kritik 16, 2009/2, S. 7-18.<br />

44


des Autors Argumentationen, Problemaufweise und interpretativen Arrangements von Bedeutung<br />

sind, kann nur die konkrete Metakritik seiner NaK-Kritik zu ÅberprÅfen suchen.<br />

Dennoch aber eine Nachbemerkung zur These, daÉ es sich bei einer Unterscheidung von<br />

philosophischer Interpretation und biographischen resp. psychologischen äberlegungen um<br />

einen katastrophalen Denkfehler handeln wÅrde, wenn man sie als wechselseitige UnabhÇngigkeitserklÇrung<br />

verstehen wÅrde: Vor allem im Blick auf das Kind Nietzsche, dessen Entwicklung<br />

und die diese dokumentierenden frÅhsten Texte, die in dieser Metakritik ja zur Diskussion<br />

stehen, ist die Rede von einer Unterscheidung von philosophischen Interpretationen<br />

und psychologischen oder biographischen äberlegungen solange kaum mehr als eine Folge<br />

nahezu bedeutungsleerer Worte, solange nicht konkret ausgewiesen ist, was hier unter „philosophischen<br />

Interpretationen“ und „psychologischen“ und/oder „biographischen äberlegungen“<br />

zu verstehen ist (s.o.). DaÉ psychische PhÇnomene und biographische Fakten ihrerseits<br />

nicht aus dem Gegenstandsbereich philosophischer Interpretationen entfernt, in ihrer falsifizierenden<br />

Brisanz also nicht ‘entsorgt’ werden dÅrfen, wenn man zumal in der Analyse von<br />

Texten des frÅhsten Nietzsche nicht Problemflucht bereits vom Ansatz her legitimieren mÄchte,<br />

bedarf hoffentlich keiner Diskussion.<br />

So empfiehlt sich zumal bei Distinktionen in weltanschaulich verseuchtem GelÇnde niemals<br />

die Frage auszuklammern: cui bono – wem und welchen Interessen dient das? Und die<br />

Gegenprobe nicht zu unterlassen: gegen wessen Interessen bzw. gegen was ist die betreffende<br />

Distinktion in vielleicht diskussionsentscheidender Weise gerichtet?<br />

3.3.2.2. ‘Normalkind’-InterpretationsprÇferenz<br />

Ein DlJ charakterisierendes Merkmal besteht in einer zwar unerklÜrten doch konsequent<br />

durchgehaltenen Entscheidung zugunsten einer ‘Normalkind’-Interpretation. Wie schon Joergen<br />

Kjaer 81 neigt der Autor nicht nur zur erfreulicherweise informativen Darstellung konkreter<br />

Rahmenbedingungen 82 der Entwicklung Nietzsches, sondern zu weitestgehender Betonung<br />

kontextueller AbhÇngigkeit mit dem Effekt der leider die gesamte NaK-Kritik von DlJ sowie<br />

HÄdls eigenen Ansatz dominierenden Tendenz der Minimierung gedanklicher oder gar kritischer<br />

Eigenanteile in Texten des frÄh(st)en Nietzsche. Und genau an diesem Punkt gibt es<br />

kaum eine Vermittlung: HÄdl interpretiert ebenso wie (nicht nur) jeder mir bekannte christophile<br />

bzw. prochristliche – dazu spÇter! – Interpret das Kind Nietzsche aus der Perspektive<br />

dessen, was der Betreffende – vermutlich primÇr in Erinnerung an seine eigene Kindheit oder<br />

nach dem unausgesprochenen Motto „ihr habt einen kindlichen 83 Geist empfangen“ (Paulus,<br />

RÄmerbrief 8, 15) – fÅr ein Kind entsprechenden Alters fÅr ‘ganz normal’ hÇlt (oder bestenfalls<br />

etwa bei Jean Piaget, nicht jedoch bspw. bei Hans-Ludwig Freese 84 , gelesen hat). Kinder,<br />

deren Denken nicht ermutigt, sondern dank weltanschaulicher FrÅhindoktrination in der Regel<br />

81 Joergen Kjaer: Nietzsche, 1990, insbes. S. 35-106; vgl. NaK, insbes. S. 44ff., 839ff. sowie 864ff.<br />

82 So hat Johann Figl in m.E. Åberzeugender Manier einige wesentliche Aspekte der Rahmenbedingungen<br />

der ReligiositÇt des Kindes Nietzsches exponiert in: Geburtstagsfeier und Totenkult. Zur ReligiositÜt<br />

des Kindes Nietzsche. In: Nietzscheforschung, Bd. 2. Berlin, 1995, S. 21-34; der Text ist bis<br />

auf wenige Worte identisch mit: GottesverstÜndnis und TotengedÜchtnis. Zur ReligiositÜt des Kindes<br />

Nietzsche. In: Ulrich Willers (Hg.): Theodizee im Zeichen des Dionysos. MÅnster u.a.O., 2003, S. 59-<br />

68. Eine ganz andere Frage ist freilich, ob ‘die ReligiositÇt’ dieses Kindes Nietzsche sich in den von<br />

Johann Figl skizzierten Rahmenbedingungen hÇlt...<br />

83 Der „kindliche Geist“ gehÄrt heutzutage mittlerweile wohl zu den Pudenda. WÇhrend „spiritum<br />

adoptionis filiorum“ bei Martin Luther in einer Edition von 1858 die äbersetzung „einen kindlichen<br />

Geist empfangen“ findet, las ich zur Freude emanzipierter Christinnen bspw. in der ‘EinheitsÅbersetzung’:<br />

„ihr habt den Geist empfangen, der euch zu SÄhnen macht“ (Illustrierte Hausbibel. Altes und<br />

Neues Testament in der EinheitsÄbersetzung. O.O. und o.J. [wohl Freiburg im Br., 1981ff.], Vorwort<br />

„Advent 1979“, S. 1271).<br />

84 Hans Ludwig Freese: Kinder sind Philosophen. Weinheim, 1989, gibt eine hochinformative äbersicht<br />

mit beeindruckenden Belegen.<br />

45


gedÇmpft, kognitiv geschwÇcht und auf z.T. absurde Inhalte geprÇgt wurde – ‘kognitiv Hochbegabte’<br />

entstammen bei ansonsten gleichem FÄrderungsniveau wohl Åberproportional weniger<br />

‘glÇubigen’ ElternhÇusern; vermutlich sind sie aber nicht ‘kognitiv hÄher begabt’, sondern<br />

lediglich weniger denkblockiert –, glauben zeitweise fast alles. D.h. freilich leider auch, daÉ<br />

sie sich fast jeden BÇren aufbinden lassen bzw. lebenslang (und oftmals nicht wenig lebensoder<br />

gar hÄllenbang) Opfer ihrer stammesgeschichtlich sinnvollen frÅhen PrÇgbarkeit und z.T.<br />

Fixierbarkeit auf Elternvorgaben bleiben. So ist prÇmienreifer politischer und/oder weltanschaulicher<br />

sowie religiÄser NaivitÇt auch bei Erwachsenen leider allenthalben zu begegnen.<br />

SchlieÉlich ist sie zur Aufrechterhaltung nicht nur von Ausbeutungs-, sondern auch von Umverteilungssystemen<br />

unverzichtbar; und wird weltweit entsprechend gehegt und gepflegt. Solche<br />

Personen – wenigstens hierzulande wohl noch immer die Åberwiegende Mehrheit – kÄnnen<br />

selbst ‘Kritischstes’ lesen und ggf. sogar zitieren, ohne es genauer zu verstehen oder sich<br />

auch nur um VerstÇndnis zu bemÅhen; sie plappern zur Verzweiflung von AufklÇrungsorientierteren<br />

argumentativ nahezu unbeeinfluÉbar nach. Und derlei Normalverhalten wird nach<br />

meinem Eindruck teils ganz ungeniert und wenig reflektiert teils in umwegigen Argumentationsketten<br />

wie hier in DlJ auch fÅr das Kind Nietzsche stillschweigend vorausgesetzt oder so<br />

auf es Åbertragen, daÉ selbst noch in Geschenktexten ‘dickst aufgetragene’ Passagen zuweilen<br />

geradezu erleichtert wÄrtlich genommen zu werden scheinen. So darf (auch) dieses Kind einfach<br />

nicht gemerkt haben, was es eigenhÇndig in mehrfacher Abwandlung unterschiedlichen<br />

Orts geschrieben hat. Zumindest wird auf einem „Beweis“ insistiert, daÉ das Kind es wenigstens<br />

bemerkt (wenn nicht absichtsvoll formuliert) habe. Unter den gegebenen lÇngst rekonstruierten<br />

familiÇren Rahmenbedingungen ist ein derartiger Beweis aber kaum positiv zu fÅhren.<br />

Dieser Sachverhalt wird dann zur Problematisierung und z.T. Suspension des in NaK z.T.<br />

penibel Exponierten genutzt. 85 Diese in DlJ bisher konsequentest und meistenteils beeindruckend<br />

sachkundig durchgefÅhrte ‘Normalkind’-Interpretation wÇre als Gegenprobe zu NaK<br />

vor allem dann ernster zu nehmen, wenn dabei keinerlei basale RecherchelÅcken anfielen sowie<br />

z.T. schwer begreifliche Interpretationsfehler unterliefen. So erscheint sie eher als spezifisches<br />

AusweichmanÄver.<br />

In Nietzsches frÅhen Texten gegenlÇufig zur Åblichen problemflÅchtigen, mainstreamorientierten<br />

‘Normalkind’-Interpretation lÇngst kritisches Denken aufgewiesen zu haben, ist<br />

der wohl erste entscheidende Consensus-VerstoÖ von NaK. DaÉ in ein ‘Normalkind’-Interpretationskonzept<br />

kein eigendenkerisches Kind und erst recht kein Theodizeeprobleme thematisierender<br />

Dichter wie Ernst Ortlepp als Anreger und ggf. Ermutiger paÉt, versteht sich beinahe<br />

von selbst.<br />

3.3.2.3. ‘Mainstream’-InterpretationsprÇferenz<br />

Ein weiteres DlJ charakterisierendes Merkmal besteht in einer ebenfalls unerklÜrten, sich<br />

mit dem ‘Normalkind’-Interpretationskonzept z.T. Åberschneidenden, nicht minder konsequent<br />

durchgehaltenen ‘Mainstream’-InterpretationsprÜferenz.<br />

HÄdls NaK-kritische Interpretationen sind in allen meinerseits bisher ÅberprÅften und erinnerten<br />

FÇllen in hohem MaÉe mainstreamgebunden, d.h. sie schmiegen sich bisher dominanten<br />

Auffassungen und Sichtweisen komplikationslos an, erweitern sie allenfalls in partieller<br />

Weise. Mainstreaminterpretationen prÇferierendes Vorgehen ist als Methode jedoch nur so<br />

lange in hohem MaÉe legitim, so lange sie dem gewÇhlten Gegenstandsbereich in nicht minder<br />

hohem MaÉe gerecht zu werden vermag. Doch genau das ist nicht bereits vorauszusetzen<br />

und als vorausgesetzt dann hochgradig selektiv ‘interpretativ zu bewÇhren’, sondern sollte<br />

allenfalls Ergebnis einer Spezifika identifizierenden und integrierenden Interpretation sein.<br />

Doch daran mangelt es m.E. in DlJ in erheblichem MaÉe schon deshalb, weil der MaÉstab des<br />

85 Zur damit wieder einmal angesprochenen „Absconditus“-Problematik vgl. in Hermann Josef<br />

Schmidt, Entnietzschung, 2000, den Punkt 6 des ‘interpretativen Lasterkatalogs’, S. 126ff.<br />

46


Konventionellen a priori angewandt und die Phase einer mÄglichst gegenstandsnahen und<br />

ergebnisoffenen Analyse wenn nicht Åbersprungen, so doch voreilig bzw. frÅhzeitig abgebrochen<br />

zu sein scheint. Resultat ist dann u.a. die in 3.3.2.2. skizzierte, in DlJ dominante ‘Normalkind’-Interpretation.<br />

Der Vf. hingegen las auch die frÅhen Texte Nietzsches unter der Vorgabe, so ‘tiefenscharf’<br />

wie irgend mÄglich ‘Nietzsche selbst’ zu verstehen, und suchte, nachdem er einen ersten<br />

äberblick Åber die Lebenssituation des Kindes gewonnen hatte, Artikulationen eigenen Denkens,<br />

die schon beim Vorschulkind kaum mehr naiv ausgeplappert worden sein dÅrften, da<br />

vorbildhaftes Verhalten fÅr Pastorenkinder der Mitte des vorletzten Jahrhunderts in der Regel<br />

und zumal in der GroÉfamilie Nietzsche – in deutlichem Gegensatz etwa zur angeheirateten<br />

‘unerweckten’ Pastorenverwandtschaft in Pobles – nicht erst seit ihrem Schulbeginn erwartet,<br />

sondern lÇngst zuvor trainiert, ‘eingespielt’ sowie ÅberprÅft wurde, in seinen eigenen Texten<br />

aufzuspÅren, denn Substantielleres haben wir von diesem Kind nicht. Mit dem auch mich<br />

1980ff. Åberraschenden Ergebnis, daÉ keineswegs alles ins Konzept hierzulande ohnedies<br />

prochristlich dominierter Mainstream- und ‘Normalkind’-Interpretation paÉte, ja, manches<br />

davon sogar zu suspendieren schien. Derlei dann nicht nur darzustellen, sondern auch noch<br />

verstÇndlich machen – idealiter: sogar erklÇren – zu wollen, stellt einen weiteren entscheidenden<br />

Consensus-VerstoÖ von NaK dar.<br />

3.3.2.4. „Aufbau und Grundgedanken“<br />

von NaK (S. 70-75) vergleicht meinen aus der Reihe des äblichen fallenden Aufbau mit<br />

dem anderer Untersuchungen 86 , stellt fest, daÉ ich das Programm meiner „Untersuchungen in<br />

die Titel der einzelnen Teile“ einschreiben wÅrde (dazu unten 3.3.2.5.); und daÉ ich „vor allem<br />

den kleinen Religionskritiker in Nietzsche“ betonte, denn „seine Denkentwicklung“ hÇtte<br />

nach meiner Auffassung „‘primÇr in Auseinandersetzung mit dem Christentum’ stattgefunden<br />

(NaK, 605), Nietzsche sei in seiner Kindheit ein ‘versteckter Religionskritiker’ gewesen<br />

(NaK, 482, Anm. 32)“ (S. 70f.) usw.<br />

Genau diese Thesen betreffen wohl einen fÄr Hádl besonders provokanten Punkt von NaK,<br />

die als Ergebnis unberechtigter Interpretation aufzuweisen er kaum MÄhe scheut. (Dazu spÇter<br />

mehr.)<br />

Hier haben wir einen weiteren entscheidenden Dissens und einen dritten ConsensusverstoÖ:<br />

fÅr HÄdl ebenso wie schon fÅr Joergen Kjaer, Klaus Goch und wohl alle mir bekannten<br />

mit Christentum sympathisierenden Interpreten war das Kind Nietzsche ein in der ReligiositÇt<br />

seiner Familie geborgenes Kind, das, wenn Åberhaupt, Theodizeeprobleme schwerer wiegender<br />

Art nicht kannte, von dessen Christlichkeit und ReligiositÇt zahlreiche unverdÇchtige<br />

Zeugnisse aus seiner Hand vorliegen, die, als Theodizeeprobleme 87 enthaltend, meinerseits<br />

86 Dem Gesamtwerk werden im 1.Teil (S. 13-172) von NaK zahlreiche ZugÇnge zur ersten (S. 15-21),<br />

nÇheren (S. 23-52), persÄnlichen (S. 53-112), elementaren (S. 113-125) und vor allem zur prinzipiellen<br />

(S. 127-170) Information vorangestellt, in der ich die Textsituation (S. 127-129) und „Voraussetzungen<br />

nietzscheadÇquaterer <strong>Nietzscheinterpretation</strong>“ (S. 129-146) skizziere sowie in einer „Diskussion<br />

prinzipieller EinwÇnde gegen Ansatz, Methode und Ergebnisse von ‘Nietzsche absconditus’„ (S. 146-<br />

170) alle mir (insbes. durch Wolfgang MÅller-Lauter) bekannt gewordenen substantiellen EinwÇnde<br />

‘der Szene’ berÅcksichtige. Teil 2 gibt in chronologisch orientierter Interpretation der meisten in<br />

HKGW I enthaltenen Texte des Kindes der Jahre 1853-1858 eine Skizze seiner aus diesen Texten<br />

eruierbaren geistig-emotionalen Entwicklung usw. (S. 173-567). Erst Teil 3 „Nietzsche absconditissimus<br />

oder Metaspurenlesen tut not“ (S. 569-1078) erweitert den Rahmen tradierter <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

in vielleicht unerwarteter Weise.<br />

87 So hat der Autor schon in seiner „Einleitung“, S. 19, Anm. 86, den Hinweis untergebracht: „Zur<br />

Unwahrscheinlichkeit der intersubjektiven Gewissheit von Schmidts Interpretation der frÅhen Texte<br />

Nietzsches auf Theodizeeproblematik hin vgl. 2.1.4“ (bzw. das NaK geltende Teilkapitel in DlJ, S. 68-<br />

131). Sein GesprÇchspartner sah das anders (vgl. unten).<br />

47


ereits fehlinterpretiert sind; denen gar christentumskritische Intentionen zu unterstellen jedoch<br />

eine mich als Interpreten nicht unbedingt positiv auszeichnende christentumsfeindliche<br />

Projektion sei. Doch als ganz so abwegig schien meine Sichtweise schon in den frÅhen 1980er<br />

Jahren denn doch nicht bewertet worden zu sein, denn Mazzino Montinari und Wolfgang<br />

MÅller-Lauter hatten sie ernst genommen und selbst JÄrg Salaquarda, bevor er am Lehrstuhl<br />

fÅr Dogmatik der Evangel.-theolog. FakultÇt der U.Wien schlieÉlich Anker warf 88 , hatte 1986<br />

meine Thesen von 1983/84 akzeptiert; das gilt im Prinzip auch fÅr den DDR-Pastor Reiner<br />

Bohley, den ich als den besten Kenner des biographisch rekonstruierbaren Hintergrunds des<br />

Kindes Nietzsche schÇtzte.<br />

GegenwÇrtig scheine ich mit meiner Sichtweise noch oder wieder ziemlich allein zu sein;<br />

und so sehe ich schon deshalb bei Kritiken, sollten sie mir bekannt werden, etwas genauer<br />

hin. Bereits bei stichprobeartigem NachprÅfen einiger Zitate HÄdls fielen mir Abweichungen<br />

auf: das der S. 605 von NaK zugewiesene obige Zitat ist nicht korrekt, denn statt „in Auseinandersetzung<br />

mit dem Christentum“ lautet die Passage in NaK:<br />

„in Auseinandersetzung mit seinen Vorstellungen von Christentum“.<br />

Ein m.E. erheblicher und insbes. fÅr Kritiker meiner Interpretation konsequenzenreicher<br />

Unterschied: geht es nÇmlich um die „Vorstellungen“ des Kindes, drÇngt sich die Frage nach<br />

deren Korrektheit und damit nach EinflÅssen wie insbes. der von Nietzsches nÇchster Verwandtschaft<br />

gepflegten Pastoren(haus)sprache 89 auf, deren Diskussion zu fÅr christophile 90<br />

88 Dieser Ankerwurf war vielleicht doch nicht ganz so folgenlos, wie Vf. dies gerne trotz einer als sehr<br />

fair empfundenen Vorwarnung gerne gehabt hÇtte. So hat er mir vor unserem gemeinsamen Unter-6-<br />

Augen-Abendessen in Anwesenheit meiner Frau am 16.12.1993 vor meinem Abendvortrag wÇhrend<br />

der IV. Jahresversammlung der FFG bzw. spÇteren Nietzsche-Gesellschaft „Du gehst zu Frauen?“<br />

Zarathustras Peitsche – ein SchlÄssel zu Nietzsche oder einhundert Jahre lang LÜrm um nichts?<br />

(Nietzscheforschung, Bd. 1, 1994, S. 111-134) in der Dunkelzone des Eingangsbereichs der betreffenden<br />

Hallenser GaststÇtte sinngemÇÉ zugeraunt: „Bitte vergessen Sie niemals meine berufliche Position“.<br />

Und nach dem Vortrag mit seinem Diskussionsbeitrag, um den ich ihn gebeten hatte, auch gezeigt,<br />

was darunter zu verstehen ist. Dennoch habe ich seine fÅr einen wissenschaftlich orientierten<br />

Nietzscheinterpreten wohl kaum spannungsfreie berufliche Situation respektiert – aber im Blick auf<br />

ihn und Wolfgang MÅller-Lauter noch mehr AnlaÉ gesehen, mich fÅr ein ausschlieÉlich der Nietzsche-<br />

Gesellschaft verantwortliches Jahrbuch, die Nietzscheforschung, einzusetzen – und mich bis fast zuletzt<br />

darum bemÅht, einen forschungsfÄrdernden modus vivendi in Anerkennung unterschiedlicher<br />

‘Positionen’ zu finden.<br />

89 Zur „Gott“ thematisierenden Sprache im RÄckener Pastorenhaus 1844-1850 vgl. als erste Skizze<br />

Ursula Schmidt-Losch: „ein verfehltes Leben“? Nietzsches Mutter Franziska. Mit einer Dokumentation<br />

und einem Nachwort zur religiásen Sprache im Hause Nietzsche 1844-1850. Aschaffenburg, 2001,<br />

S. 105-120; genauer in spe in Hermann Josef Schmidt, Nietzsches Kindheit 1844-1850 (Arbeitstitel).<br />

90 „Christophil“ d.h. christus- bzw. christentumsliebend meint mehr als nur „vage christlich orientiert“,<br />

nÇmlich diese Religion prinzipiell bejahend. „Christophile Interpretation“ bedeutet, von einer positiven<br />

EinschÇtzung des Christentums auszugehen und diese Auffassung schon vorweg einer Interpretation<br />

zugrunde zu legen, sie selbst also nicht mehr in Frage zu stellen. Der Ausdruck soll in Erinnerung<br />

an den 1967 in der Katholischen Kirche zwar abgeschafften doch durch andere GelÄbnisse ersetzten<br />

Antimodernisteneid – man vergleiche dazu bspw. Johannes Hoffmeister (Hg.), Wárterbuch der philosophischen<br />

Begriffe. Hamburg, 2 1955, S. 612f. – nicht nur signalisieren, daÉ hier 1. eine weltanschauliche<br />

Entscheidung jedweder Interpretationsleistung vorausgeht und 2. diese entsprechend einfÇrbt,<br />

sondern daÉ 3. in KonfliktfÇllen weder das eigene Urteil des betreffenden Interpreten noch Regeln der<br />

Wissenschaftlichkeit gegenÅber den weltanschaulichen Vorgaben als limitierend ins Spiel gebracht<br />

werden dÅrfen: „Verurteilt wird die Meinung, nach der der christliche Gelehrte zwei Personen in sich<br />

vereinigen kÄnne, eine, die glaubt, und eine, die forscht, so daÉ dem Historiker erlaubt sei, etwas fÅr<br />

wahr zu halten, was dieselbe Person vom Standpunkte des Glaubens als falsch erkennen muÉ.“ (Ebenda).<br />

48


Interpreten eher unangenehmen Resultaten fÅhren dÅrfte. Ganz anders, wenn das Zitat in der<br />

DlJ-Version stimmen wÅrde: dann ist’s fÅr christophile Interpreten Honigschlecken, nachzuweisen,<br />

daÉ das Kind Nietzsche „dem“ – jeweils nahezu frei definierbaren? – Christentum<br />

natÅrlich nicht hÇtte gerecht werden kÄnnen. 91<br />

Eher eine Petitesse ist, daÉ das einer Anmerkung entnommene Zitat, schon das Kind Nietzsche<br />

sei ein ‘versteckter Religionskritiker’ gewesen, nicht der Anm. 82, sondern der Anm. 83<br />

der S. 482 entnommen wurde. (Doch derlei passiert dem Vf. auch.)<br />

3.3.2.5. Differenz Interpretationsprogramm versus -resultat<br />

Ebenfalls relevant ist ein bereits angesprochener Punkt: Der Autor interpretiert den Untertitel<br />

von NaK ebenso wie den von NaJ offenbar als Interpretationsprogramm (S. 70) und in<br />

der Sache als eine Art Retrojektion des Untertitels von Ecce homo.<br />

Ersteres bedauere ich sehr, denn ich ging davon aus, daÉ Leser von NaK selbst dann, wenn<br />

sie nicht das gesamte Werk lesen bzw. seinen Aufbau ernstnehmen, dank zahlreicher Hinweise<br />

(incl. Nachwort) bemerken, daÉ mein ‘Programm’ darin bestand, durch eine Analyse von<br />

Nietzsches frÅhen Texten ‘Nietzsche selbst’ und zumal seiner Denkentwicklung besser auf die<br />

Schliche zu kommen: Seine frÅhen Texte waren und sind fÅr mich also nicht nur irgendein<br />

unter externen Perspektiven zu wÇhlender Ausgangspunkt, sondern sie waren und blieben fÅr<br />

mich immer der Mittelpunkt, sie waren fÅr mich die „Quelle“, deren Untersuchung samt Deutung<br />

dann erst im Laufe vieler Jahre zu den in der SchluÉfassung von Na vorgelegten Ergebnissen<br />

fÅhrte. Meine Untertitel formulieren die Resultate langjÜhriger 92 , ergebnisoffener Analysen,<br />

niemals deren Programm: Auch diese Divergenz unterscheidet nach meinem VerstÇndnis<br />

meine Interpretationen von apologetisch motivierter Selektion und Interpretation – ich<br />

halte es freilich fÅr aufschluÉreich oder vielleicht sogar selbstoffenbarend, daÉ mir dergleichen<br />

beharrlich unterstellt wird –, denn ich mein(t)e es ernst, wenn ich immer wieder beton(t)e,<br />

daÉ Nietzsche fÅr mich als Interpreten so gewesen sein ‘darf’, wie er war, daÉ er so<br />

gedacht haben ‘darf’, wie er dachte und daÉ er schreiben ‘durfte’, was er schrieb, da ich es<br />

spannend finde, seinen in seinen Texten gelegten DenkfÇhrten zu folgen, und: daÉ ‘wir’ endlich<br />

die dominierenden ‘imperialistischen’ Interpretationen und AttitÅden 93 unterlassen sollten,<br />

Nietzsche vorzuschreiben zu wollen, was er wann und wie gedacht haben darf, bzw.<br />

Nietzsche(s Texten) jeweils die neuesten Moden des Tages zu oktroyieren, sie auf und in das<br />

Prokrustesbett eigener Dilettantismen zwingen zu wollen; denn: Nietzsches Texte belohnen<br />

subtile, tiefenschÇrfere LektÅre (Åbrigens auch die Texte des Kindes).<br />

3.3.2.6. BewuÉtheitsproblem<br />

Ein ebenfalls seit lÇngerem strittiger Punkt ist derjenige des Grades der BewuÉtheit des<br />

Kindes bspw. bei seinen sog. Kontrastarrangements. Auch hier wieder: Der 3. Teil bzw. zweite<br />

Band von Nak ist mit einer „Einleitung fÅr Metaspurenleser“ (S. 577-602) erÄffnet, in der<br />

nicht nur nochmals im Zusammenhang, sondern auch im Blick auf den Leser, der den ersten<br />

Band nun ja ‘hinter sich hat’, skizziert werden sollte, was ich unter „Nietzsche absconditus“<br />

und „Nietzsche absconditissimus“ (dazu unten 3.3.2.9.) verstehe; erst danach ist seitenlang (S.<br />

91 Ein derartiges Strategem offerierte zwar billige Apologie, doch wer durchschaut das schon? Und<br />

wer von denen, die derlei durchschauen, lÇÉt das in einer meinen Arbeiten vergleichbaren Klarheit<br />

erkennen? Und wer fragt sich, was eine Religion (selbst nach EinschÇtzung ihrer Apologeten) wohl<br />

wert sein kann, wenn deren Verteidiger dergleichen und andere RoÉtÇuscherstrategien seit nahezu<br />

2000 Jahren glauben anwenden zu mÅssen? Nur weil man nicht ebenfalls „tot“ sein will?<br />

92 Der Leser berÅcksichtige: Erstmals las ich die in der HKG prÇsentierten Texte des Kindes Nietzsche<br />

nach AbschluÉ meiner Veranstaltungen des WS 1979/80; direkt an den Manuskripten von Nak arbeitete<br />

ich erst vom Jahresanfang 1984 an bis in den Sommer 1990; an denen von NaJ I und II bis ins FrÅhjahr<br />

1993 bzw. 1994. FÅr die gewÇhlten Untertitel habe ich mich m.W. nicht vor 1999 entschieden.<br />

93 Vgl. Hermann Josef Schmidt: Entnietzschung, 2000.<br />

49


584-600) das Problem der Grade von BewuÉtheit als Problem der Interaktion der beiden zu<br />

unterschiedlichen Tageszeiten unterschiedlich ‘bewuÉten’, sprachverfÅgenden usw. HirnhÇlften<br />

ebenso diskutiert wie unterschiedlich wirksame hochkulturelle PrÇferenzen zugunsten der<br />

Entwicklung bestimmter Hirnleistungen aufkosten anderer. In DlJ findet man hierzu schlicht<br />

nichts. Nun ist ja gerade Nietzsches sprachliche, gedanklich-analytische und musi(kali)sche<br />

Mehrfachbegabung schon in einigen seiner frÅhen Texte offenkundig. Leider insistierten die<br />

Biographen Richard Blunck 94 , Curt Paul Janz 95 , Werner Ross 96 und Horst Althaus 97 bis zu<br />

Klaus Goch 98 und RÅdiger Safranski 99 , weil sie selbst primÇr musikalisch orientiert zu sein<br />

scheinen, auf Nietzsches frÅhen musikalischen (gegenÅber dessen poetischen usw.) PrÇferenzen<br />

– kÄnnen solcherart freilich auch allem ‘Kritischen’ aus dem Wege gehen, was kaum in<br />

jedem Falle (wie in dem des ‘Laienapostolats’ eines bekannten auch Åber Nietzsche publizierenden,<br />

sein diakonisches Jahr in einer Rundfunksendung betonenden GroÉmedienjournalisten)<br />

vÄllig unbeabsichtigt sein dÅrfte. Na hingegen insistiert darauf, daÉ dieses Kind schon in<br />

seinen ersten Texten ein Kind gewesen zu sein scheint, das selber dachte – selbstverstÇndlich<br />

anfangs in den Sprachen seines ererbten und gelernten religiÄsen Konglomerats. Die frÅhen<br />

Texte zeigen gerade in ihrer Sequenz, wie dieses Kind sich durch bestimmte Fragen ‘hindurchdachte’<br />

100 . Das gilt ja noch bis zum ExzeÉ fÅr den spÇteren Nietzsche, dessen thematische<br />

KontinuitÇten immer wieder auch dann Åberraschen, wenn seitens von an Erkenntnis<br />

substantieller ZusammenhÇnge wenig Interessierter auch davon gerne abgelenkt wird; vorausgesetzt<br />

freilich, sie bemerken es. Ein Interpret, der ‘diesen denkend-zerdenkenden’ frÅhen<br />

Nietzsche einerseits nicht akzeptieren kann oder will, sich andererseits aber auch kein anderweitiges<br />

Interpretationsobjekt aussucht, dessen PrÇferenzen ihm emotional nÇher liegen,<br />

kÄnnte es sich sehr einfach machen: Er mÅÉte kaum anderes tun, als (1) Texte aus ihrem Zusammenhang<br />

zu reiÉen, (2) nahezu zeitgleiche Texte voneinander zu isolieren oder (3) sie in<br />

einen ihnen fremden Kontext zu integrieren sowie (4) sich zu derlei Demonstrationen mÄglichst<br />

frÅhe Texte des Kindes auszusuchen, die Åber wenig zeitnahen Kontext verfÅgen, also<br />

thematisch quasi Solisten sind bzw. zu sein scheinen, und (5) auszuschlieÉen, daÉ sie auch<br />

dann FrÅh- oder gar Erstartikulationen von Problemen darstellen, wenn diese in anderen Texten,<br />

die nur wenige Tage, Wochen oder Monate jÅnger sind, bereits in weit hÄherem Deutlichkeitsgrad<br />

aufgewiesen werden kÄnnten.<br />

Um zusammenzufassen: In den zuerst einmal ja rÇtselhaften Texten dieses 10- bis<br />

13jÇhrigen Kindes gibt es bei der UnbewuÉtheit-BewuÉtheitsdifferenz hÄchstens in demjenigen<br />

Sinne ein klares Entweder-Oder, als zumindest einige Arrangements in Aus meinem Leben,<br />

der Autobiographie des Sommers 1858, vor allem dann, wenn man sie mit zeitlich vorausliegenden<br />

Gedichten vergleicht, den Eindruck klarsten BewuÉtseins machen. Je Çlter hingegen<br />

ein Text des Kindes ist, desto weniger klar kann sich ein Interpret guten Gewissens<br />

festlegen: Er kann nur zeigen, daÉ und wie es beim ElfjÇhrigen vor allem ab 1856 bei bestimmten<br />

sich hÇufenden Texten immer Äfters bei ganz bestimmten Themen ‘hakt’. DaÉ das<br />

dem Kind anfangs jeweils vÄllig bewuÉt war und ihm nicht eher ‘unterlief’, kann wohl niemand<br />

(ebensowenig wie das Gegenteil) beweisen, ist auch eher unwahrscheinlich; was NaK<br />

betrifft, so vermutete ich, das Kind habe sich manchmal erst bei spÇterem Lesen seiner eige-<br />

94 Richard Blunck: Friedrich Nietzsche, 1953.<br />

95 Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie I/II/III. MÅnchen, 1978-79.<br />

96 Werner Ross: Der Üngstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben. Stuttgart, 1980.<br />

97 Horst Althaus: Friedrich Nietzsche. Eine bÄrgerliche Tragádie. MÅnchen, 1985.<br />

98 Das zeigt sich zuletzt noch in Klaus Goch: Mehlsuppe und Prophetenkuchen, 2009.<br />

99 RÅdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens. MÅnchen, 2000.<br />

100 Schon deshalb ist eine ‘isolationistische Interpretation’, wenn sie nicht sehr bedachtsam und prÇmissenreflektiert<br />

erfolgt, bei einem so multimotivational und -perspektivisch komponierenden Denker<br />

wie Nietzsche eine Katastrophe; eine unglÅcklicherweise zuweilen sogar karrierefÄrderliche Eintagsfliege<br />

eben.<br />

50


nen Texte eingestanden, was es inzwischen ‘wuÉte’: Das u.a. meint im Untertitel „erschreckt<br />

entdeckt“. Das Kind wollte von seinen erweckten Verwandten ja geliebt werden, wollte auch<br />

in der Geschwisterkonkurrenz (s)eine Rolle spielen, wollte akzeptiert und als Person respektiert<br />

sein; doch irgendetwas in ihm spielte da schon frÅh nicht mehr durchgÇngig mit, ‘streikte’<br />

und artikulierte sich in einigen seiner Texte.<br />

3.3.2.7. „Die [7] Grundthesen von Schmidts Interpretationen“<br />

bilden mit der Skizze der christentumskritischen Grundgedanken von NaK (vgl. oben<br />

3.3.2.4.) den inhaltlichen Ausgangspunkt der DlJ-Kritik. Sie wurden in 7 Thesen sorgsam<br />

herausprÇpariert und ansprechend formuliert (S. 73f.). Das sei ausdrÅcklich festgestellt. Sie<br />

mÅÉten nun freilich nicht nur (wie unten erfolgt) in vollem Umfang zitiert, sondern wegen<br />

ihres grundsÇtzlichen, wohl nicht nur fÅr des Autors Analyse wegweisenden Charakters fast<br />

Wort fÅr Wort analysiert und kommentiert werden, da sie unter der Voraussetzung, daÉ sie<br />

den Interpretationsversuchen der frÅhen Texte Nietzsches in NaK nicht meinerseits bereits<br />

vorweg ‘zu Grunde gelegt’, sondern bestenfalls als deren spÇte Resultate verstanden werden<br />

mÅssen, cum multis granibus salis zwar zutreffen, dennoch aber infolge erheblicher KomplexitÇtsreduktion<br />

fÅr die in NaK herausgearbeitete Nietzschesicht Charakteristisches wie ‘manchen<br />

Pfiff’ von NaK Åberspringen oder Spezifisches beiseitelassen, NaK also trivialisieren.<br />

AuÉerdem erwecken sie vielleicht den irrefÅhrenden Eindruck, als ob in NaK die Darstellung<br />

der Entwicklung des Kindes Nietzsche, soweit sie sich aus Nietzsches frÅhen Texten rekonstruieren<br />

lÇÉt, auf dessen freilich zentrale Auseinandersetzung mit Christentum reduziert worden<br />

wÇre.<br />

Davon nun abgesehen werden die DlJ-Thesen zu NaK hier wenigstens ansatzweise so vorgestellt<br />

und diskutiert, daÉ dem Leser von DlJ auch dann, wenn er NaK nicht kennt, meine<br />

Sichtweise deutlich wird, die ich dann in meiner Analyse von HÄdls konkreteren AusfÅhrungen<br />

freilich um den Preis, daÉ diese Metakritik deshalb etwas kopflastig wirkt, nicht mehr<br />

eigens in meinen metakritischen Skizzen einbringen muÉ.<br />

Grundthese 1: „Die erwÇhnten SchicksalsschlÇge, die der Familie Nietzsche widerfahren, fÅhren<br />

sehr bald dazu, dass der Knabe sich von der ReligiositÇt der Familie, deren innere WidersprÅche<br />

ihm auffallen, abwendet.“<br />

Was NaK betrifft, ist es dann korrekt, mit der Grundthese 1, wie formuliert, einzusetzen,<br />

wenn einige AusdrÅcke entsprechend spezifiziert werden:<br />

(a) „SchicksalsschlÇge“ bedeutet dann nicht mehr nur – wie meinen Interpretationen noch<br />

bis in die Gegenwart absurderweise unterstellt wird – den Tod des Vaters von Nietzsche, sondern<br />

ein ganzes Ensemble von Problemen: (1) die (Art 101 der) Krankheit, (2) das kaum faÉbare<br />

vielmonatige, depotenzierende Leiden und (3) den Tod des Vaters, 30.7.1849; (4) den bereits<br />

am 9. Januar 1850 noch in RÄcken innerhalb weniger Stunden erfolgten Tod des knapp<br />

zweijÇhrigen BrÅderchens Josef, geb. 2.2.1848, (5) die anfÇngliche Fixierung von Nietzsches<br />

Mutter auf diese beiden Toten, (6) den durch den Tod seines Vaters bedingten Verlust der<br />

101 Vielleicht weniger die Art der Krankheit von Nietzsches Vater als die Art & Weise, in den 1850er<br />

Jahren zumal in christlichen Kreisen Naumburgs spezifische Merkmale von Krankheiten wie derjenigen<br />

von Nietzsches Vater zu deuten usw., bedeutete wohl fÅr alle Familienmitglieder, mit an Sicherheit<br />

grenzender Wahrscheinlichkeit jedoch fÅr Fritz, ein immenses, wenngleich in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

m.W. konsequent ausgeschwiegenes, maximal tabuiertes Problem. DaÉ Vf. sich auch den<br />

damit aufgeworfenen Fragen aus einer antizipierten Perspektive des Naumburger Kindes Nietzsche zu<br />

stellen suchte – vgl. NaK, insbes. S. 664ff., und NaJ I, S. 200ff. -, hatte auch diese Schweigemauer<br />

nicht zu unterminieren vermocht, sondern eher zu indigniertem NaserÅmpfen und diskretem Getuschel<br />

beigetragen. Vgl. dagegen Ludger LÅdtkehaus: „O Wollust, o Hálle“. Die Onanie – Stationen einer<br />

Inquisition. Frankfurt am Main, 1992.<br />

51


Heimat RÄcken und (7) die Verarmung der Kernfamilie; (8) den solcherart noch verstÇrkten<br />

sozialen Anpassungsdruck, (9) den FrauenÅberhang der Familie mit „Fritz“ als einzigem<br />

Mann, (10) die seit dem Umzug nach RÄcken, Anfang 1842, fast permanente, 1855 zum Tod<br />

fÅhrende Krankheit der jÅngeren Schwester von Nietzsches Vater, der Tante Auguste, KÄchin<br />

der Familie, (11) den 1856 erfolgten Tod des nominellen Familienoberhaupts, der Mutter des<br />

Vaters, einer Generalsuperintendententochter und verw. Superintendentengattin, quasi protestantischen<br />

Pastorenhochadel figurierend und vielerorts hofiert, GroÉmutter Erdmuthe Nietzsche,<br />

(12) die bis 1856 untergeordnete Stellung von Nietzsches Mutter innerhalb der Pastorenrestfamilie<br />

(quasi als Haushaltshilfe; so schlief sie m.W. bis zur AuflÄsung der Wohnung in<br />

der Naumburger Neugasse mit dem DienstmÇdchen in einem Raum), (13) das (ebenfalls bis<br />

Sommer 1856 beibehaltene, augenmaltraitierende) Wohnen in den beiden sonnenlosen, dÅsteren<br />

Hinterzimmern der Wohnung der Kernfamilie Nietzsches usw.<br />

(b) Die „ReligiositÇt der Familie“: im Sinne eines Singulars gab es diese fÅr das Åber seine<br />

Texte zugÇngliche Kind Nietzsche wohl nie, denn (1) Vater Ludwig, (2) seine aus einem religiÄs<br />

vÄllig anders orientierten Elternhaus stammende Mutter, (3) GroÉmutter Erdmuthe, (4)<br />

Tante Rosalie, des gestorbenen Vaters Çltere Schwester, die bereits wÇhrend der letzten RÄckener<br />

Jahre sich zunehmend in RÄcken (anstatt wie zuvor meist in Plauen) und spÇter in<br />

Naumburg in der gemeinsamen Wohnung bis zum Tod ihrer Mutter aufhielt, und (5) Tante<br />

Auguste hatten jeweils voneinander abweichende Arten von FrÄmmigkeit, deren horizontale<br />

wie vertikale Besonderheiten dem wachen Kind frÅh aufgefallen sein dÅrften.<br />

(c) „innere WidersprÅche“ (s. Grundthese 2): die jeweiligen horizontalen wie vertikalen religiÄsen<br />

Besonderheiten innerhalb der Pastorenrestfamilie Nietzsches wurden dann als diskrepant<br />

und ggf. als widersprÅchlich empfunden, wenn sie jeweils mit Glaubens- und VerhaltensansprÅchen<br />

verbunden gewesen und nicht etwa wie private Vorlieben („Jedem Tierchen<br />

sein PlÇsierchen“ bzw. „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“) verstanden worden<br />

sein sollten. Davon jedoch erfÇhrt man in Nietzsches bisher verÄffentlichten frÅhen Texten –<br />

nur noch? – wenig.<br />

(d) Abwendung von der ReligiositÇt der Familie: was hingegen in Nietzsches frÅhen Gedichten<br />

auffÇllt, ist einerseits die Einsamkeit poetischer Helden – m.W. niemals jedoch jÅdischer<br />

oder christlicher Martyrer – und das Sich-zusprechen von Mut, andererseits die hÇufige<br />

Schilderung von theodizeeproblemhaltigen KatastrophenfÇllen, drittens eine auffÇllige Hinwendung<br />

„zu den Griechen“ 102 (s. Grundthese Nr. 7), viertens ab 1857 bereits glaubensferne(re)<br />

bzw. -jenseitige fast verzweifelte GlÅckssuche...<br />

Fast wirkt es so – wie unwahrscheinlich das auch klingen mag –, als ob die Auseinandersetzung<br />

des Kindes mit religiÄsen WidersprÅchen zeitlich lÇngst vor der fÅr uns noch faÉbaren<br />

ersten ‘literarischen’ Phase des Kindes abgeschlossen gewesen sei; genauer: als ob das Kind<br />

sich in seinen Dichtungen verschiedentlich lediglich den bereits erfolgten SchluÉstrich, der<br />

dann freilich Ergebnis eines exorbitanten Ereignisses bzw. Erlebnisses gewesen sein dÅrfte,<br />

hÇtte bestÇtigen wollen. –<br />

Da nun die verschiedenen Familienmitglieder nicht nur Åber unterschiedliche Formen und<br />

Inhalte von ReligiositÇt verfÅgt haben, sondern auch in ihrer religiÄsen – etwa im Kontrast zu<br />

ihrer familiÇren – Gebundenheit unterschiedlich intensive Identifikationen gelebt haben dÅrften,<br />

konnte das Kind in seinen Geschenktexten dann, wenn ihm die betreffende Person als<br />

Mensch nicht wichtig oder religiÄs unerreichbar fern war, einfach im erlernten Idiom fast wie<br />

in Halbtrance daherschnurren, denn frÅhkindliche PrÇgungen ‘sitzen’; ganz anders, wenn ihm<br />

jemand sehr wichtig und vielleicht sogar ein aufmerksamer Leser war. So machten auf mich<br />

insbes. die drei Geburtstagsgedichtsammlungen fÅr seine Mutter zum 2.2.1856-1858 ebenso<br />

wie die Autobiographie des Sommers 1858 den Eindruck, als ob das Kind in seinen Texten in<br />

der Hoffnung auf ein GesprÇch oder auf stilles Einvernehmen etwas zeigen, auf etwas also<br />

102 Friedrich Nietzsche: „Wanderer, wenn du im Griechenland wanderst“ (I 346 bzw. I 1, 125).<br />

52


ausdrÅcklich hinweisen wollte. Abwendung von den Inhalten der ReligiositÇt eines Familienmitgliedes<br />

sollte damals – genauer: wenigstens noch bis 1856, denn 1857 scheint das Kind<br />

bereits ambivalenter empfunden zu haben – noch keinesfalls eine innere Abwendung von den<br />

wichtigsten Familienmitgliedern als Menschen sein. Ein schwieriger Balanceakt zweifelsohne,<br />

dessen Zeugnisse nach meinem VerstÇndnis in frÅhen Dichtungen Nietzsches vorliegen.<br />

Grundthese 2: „Der hauptsÇchliche dieser WidersprÅche besteht in der Unvereinbarkeit des erlittenen<br />

Schicksals mit der in der Familie gepflegten FrÄmmigkeit eines Glaubens an einen guten, treu<br />

sorgenden Vatergott.“<br />

Auch die im Prinzip zutreffende These 2 wÇre zwecks ErhÄhung der Einsicht in ihre KonsequenzentrÇchtigkeit<br />

wieder zu differenzieren, denn eine Annahme von „Unvereinbarkeit des<br />

erlittenen Schicksals“ mit „der in der Familie gepflegten FrÄmmigkeit eines Glaubens an einen<br />

guten, treu sorgenden Vatergott“ bedarf einiger interpretativ allzuselten beachteter Zwischenglieder,<br />

deren Bedeutung fÅr das Kind Nietzsche mÄglicherweise sogar diejenige des<br />

erlittenen Schicksals Åberstieg:<br />

(a) das hier angesprochene „Schicksal“ war ja nicht lediglich Resultat, sondern blieb ein<br />

lange andauernder und auch am Ende der Kindheit Nietzsches noch lÇngst nicht abgeschlossener<br />

ProzeÉ, dessen Teilelemente wohl von sÇmtlichen erwachsenen Familienmitgliedern<br />

zumindest den Kindern gegenÅber GegenstÇnde kaum konsistenter und von Zeit zu Zeit variierender<br />

Deutungs- sowie ErklÇrungsversuche (oder aber deren Verweigerung trotz Nachfragens)<br />

waren. Anders formuliert: Mangelnde faktische oder aber erklÇrungsfÇhige bzw. glaubwÅrdige<br />

innerfamiliÇre Kommunikation – Folge der „zum guten Ton ‘zarte RÅcksicht unter<br />

einander’“ zu nehmen, verpflichteten Nietzschetradition 103 – kÄnnte eine zentrale Rolle beim<br />

Problem zunehmender Vereinsamung des auf konsistente ErklÇrungen offenbar erpichten<br />

Kindes Nietzsche gewesen sein; ein weiteres Motiv dafÅr, Unausgesprochenes – und Unaussprechbares?<br />

–, um daran psychisch nicht zu ersticken, wenigstens poetisch zu artikulieren<br />

oder auf die innere BÅhne zu stellen, IntersubjektivitÇt also (wie in NaK betont) bereits durch<br />

IntrasubjektivitÇt wenigstens partiell zu ersetzen? Und noch eine zweite Problemlinie:<br />

(b) „FrÄmmigkeit eines Glaubens an einen guten, treu sorgenden Vatergott“ wÇre wohl vor<br />

allem dann kaum ein so weitreichendes Problem des Kindes Nietzsche gewesen, wenn diesem<br />

stark durch ErwecktenreligiositÇt geprÇgten – und verschÇrften! 104 – Glauben nicht in der Familie<br />

offenbar fÅnf unstrittige weitere PrÇmissen implantiert gewesen wÇren: Die Annahmen<br />

(1) der Allgegenwart, (2) der Allmacht, (3) der Allwissenheit, (4) der Allverantwortlichkeit<br />

und (5) der Gerechtigkeit Gottes muÉten mit der Vorstellung (6) eines „guten, treu sorgenden“<br />

Vatergottes widerspruchsfrei verbunden werden (kÄnnen). Und daran scheiterten seit der<br />

Erfindung eines solcherart spezifizierten Monotheismus nicht nur Gesetz und Propheten, sondern<br />

auch KirchenvÇter, Kirchenlehrer, PÇpste, Generalsuperintendenten sowie Theologieprofessoren,<br />

verstÇndlicherweise 1849-1858 auch sÇmtliche Verwandten des kleinen Fritz selbst<br />

dann, wenn sie sogar angesichts dieses Vexierproblems kommunikationsbereit gewesen wÇren,<br />

da sie dem Kind Nietzsche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine es<br />

Åberzeugenden Antworten hÇtten bieten kÄnnen. Das Entdecken von Theodizeeproblemen<br />

fÅhrt seit Lockerung kirchlichen Drucks fÅr konsequenter Denkende in der Regel zur Einsicht<br />

ihrer UnlÄsbarkeit 105 ; und damit meist auch zum Abschied von jedwedem deren LÄsbarkeit<br />

103 Reiner Bohley, Erziehung, 1989, S. 388, verweist in diesem Zusammenhang auf Elisabeth FÄrster-<br />

Nietzsche, Der junge Nietzsche, 1912, S. 34.<br />

104 Irritierenderweise blendet der Autor (ebenso wie andere katholische Autoren) diese Perspektive<br />

nahezu vÄllig aus. Kurzformel: „Deutung jedes [einzelnen] Schicksalsdetails als [Ergebnis] besonderer<br />

gÄttlicher FÅgung [und FÅhrung]“. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. BÄrgerwelt<br />

und starker Staat. MÅnchen (1983) 6 1993, S. 424.<br />

105 Vgl. insbes. Gerhard Streminger: Gottes GÄte und die âbel der Welt. TÅbingen, 1992.<br />

53


jedoch stillschweigend voraussetzenden oder sogar explizit diese behauptenden Glauben.<br />

(Dazu unten in 3.6.3.)<br />

Doch wohl genau hier liegt ein prinzipieller und kaum ÅberbrÅckbarer Dissens nicht nur<br />

zwischen dem Autor und dem Vf., dessen Bedeutung jedoch nachvollziehbar macht, warum<br />

Letzterer, wenn er in Texten des Kindes Theodizeeprobleme zu finden glaubt, seine Sichtweise<br />

nicht unterdrÅckt 106 ; und warum der Autor dagegen kaum MÅhe zu scheuen scheint, Theodizeeproblemhaltigkeit<br />

von Texten des frÅhen Nietzsche mÄglichst prinzipiell zu negieren.<br />

Grundthese 3: „äber diese von ihm konstatierten WidersprÅchlichkeiten konnte der Knabe der bigotten<br />

Familie gegenÅber sich nicht frei aussprechen.“<br />

Auch dieser Grundthese 3 ist cum grano salis zwar zuzustimmen, doch wieder (a) nach den<br />

GrÅnden (s.o.) zu fragen, warum sich Nietzsche nicht aussprechen konnte; sowie (b): ob Aussprechen<br />

ihm genÅgt haben dÅrfte, wenn ihn die ihm gegebenen Antworten nicht Åberzeugt<br />

haben sollten. SchlieÉlich (c): „bigott“. FÅr den Eindruck, den die Familie zumal in den frÅhen<br />

1850er Jahren in Naumburg machte oder zu erwecken suchte – ein sogar so wohlgelungener<br />

Eindruck, daÉ er Nietzsches Mutter eine in der Sache unberechtigte kleine Dompredigerrente<br />

eingebracht zu haben scheint –, dÅrfte „bigott“ zutreffen. Bis Ende der 1980er Jahre<br />

war Spezifischeres kaum in Erfahrung zu bringen. Inzwischen – doch das gehÄrt nur am Rande<br />

hierher – lÇÉt sich etwas genauer eingrenzen, wer auch im innerfamiliÇren Umgang „bigott“<br />

gewesen sein dÅrfte. Tante Rosalie vielleicht, doch wenigstens zeitweise mit erheblichen<br />

rationalen Einsprengseln; Urteile Åber die ReligiositÇt von Nietzsches Mutter sind zwischen<br />

Reiner Bohley (1987), Martin Pernet (1989 107 ), Joergen Kjaer (1990ff.), Klaus Goch<br />

(1994ff.), Ursula Schmidt-Losch (2011) und mir (1991ff.) seit Jahren auf eine Weise strittig,<br />

daÉ ZurÅckhaltung geboten zu sein scheint; GroÉmutter Erdmuthe, deren EinfluÉ auf das<br />

Kind Nietzsche anfangs sehr groÉ gewesen sein muÉ, war sicherlich nicht bigott, sondern<br />

ausgesprochen lebensklug und eher verblaÉt rationalistisch eingestellt. Mehr als eher extravertierte<br />

Bigotterie dÅrften horizontale, vertikale und temporÇre Glaubensdivergenzen bzw. variierende<br />

Glaubensaussagen der Familienmitglieder bei beibehaltener äberzeugtheit – oder<br />

wenigstens deren Demonstration – von der Wahrheit (jeweils) eigenen Glaubens fÅr das Kind<br />

Nietzsche aufschluÉreiche Themen des Nachdenkens geboten haben.<br />

Grundthese 4: „Aus diesem Grund wird der Interpret in den literarischen Erzeugnissen des Knaben,<br />

denen wohl nie vollstÇndige IntimitÇt zuerkannt wurde, die [/] entsprechenden von der Familien-<br />

Åberlieferung abweichenden GedankengÇnge nicht direkt, sondern nur indirekt ausgedrÅckt finden.“<br />

Gut getroffen; doch eine entscheidende Frage ist hier, wie bzw. als was und als wie multifunktional<br />

und vielschichtig der Interpret Nietzsches frÅhe Dichtungen einschÇtzt.<br />

Schon Texte des Kindes Nietzsche zeigen, daÉ es ein glÇnzender Psychologe war; es wuÉte<br />

mit seinen Familienmitgliedern wohl schon als ZwÄlfjÇhriger auf eine Weise umzugehen, daÉ<br />

es sowohl jeweils ‘ihr Fritz’ war und auch ‘sein eigener Fritz’ 108 blieb. All’ dieses und noch<br />

sehr viel mehr belegen seine vielschichtigen Texte. VÄllige IntimitÇt ist ihnen zwar nicht zuerkannt<br />

worden, doch es gab schlieÉlich Verstecke genug: vor allem bildungsmÇÉige. So<br />

konnte das Kind in ‘griechischen Sujets’ sich wohl fast frei aussprechen – Andeutungen auf<br />

Solons GlÅcks- und GÄttersicht bei Herodot etwa, auf die angespielt wird, ohne daÉ der Name<br />

„Solon“ oder gar „Herodot“ fÇllt (I 379 bzw. I 1, 179; vgl. NaK, S. 241ff. und 274ff.), konnte<br />

106 Genauer dazu in Hermann Josef Schmidt: Kannitverstan, 2010.<br />

107 Martin Pernet: Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche. Opladen, 1989.<br />

108 Dazu genauer das Teilkapitel „Das Problem der Vielfachbezogenheit und deren schmerzliche HintergrÅnde“<br />

in Hermann Josef Schmidt, Entnietzschung, 2000, S. 41-44.<br />

54


Fritz sogar in ein Gedicht zum Geburtstag seiner Mutter am 2.2.1857 aufnehmen –, denn keine<br />

der ggf. interessierten Leserinnen hatte hiervon auch nur die blasseste Ahnung; andererseits<br />

muÉte es, wenn es etwa in nachweisbaren Geschenkgedichten etwas zu (be)denken geben<br />

wollte, jeweils adressatenorientiert formulieren: Theodizeeprobleme fÅr Mama bspw., die<br />

derlei 1849 selbst kurzzeitig gehabt haben kÄnnte, bevor sie ‘wegtauchte’, in den ihr vertrauten<br />

religiÄsen Bildern: doch dafÅr dann Schlag um Schlag, fast Gedicht fÅr Gedicht. FÅr sich<br />

selbst, geschÅtzt bspw. durch ‘griechische’ Verfremdung, hingegen deutlicher; mit Freund<br />

Wilhelm andererseits wieder gab es zwar viel Åber Poesie zu bereden, doch Theodizeeproblemhaltiges<br />

dÅrfte das Kind seinem Freund allenfalls in Minimaldosierung zugemutet<br />

haben, weil es sich dessen Freundschaft (und damit auch Zugang zu dessen imponierendem<br />

Vater) nicht verscherzen wollte. Schon in den voraussetzungsreichen Texten des Elf- bis<br />

DreizehnjÇhrigen erscheint vieles als so vertrackt, daÉ sich jede eindimensionale Deutung<br />

schnell als einfÇltig erweist.<br />

Grundthese 5: „Nietzsche verwendet vor allem die von Schmidt genannte Kontrasttechnik, indem<br />

er in seinen Gedichten und sonstigen Niederschriften Schilderungen idyllischen Lebens unvermittelt<br />

mit der Darstellung der zerstÄrenden Macht der Naturgewalten kontrastiert. Dies zeigt sich insbesondere<br />

dort, wo die gÄttliche Vorsehung mit den entsprechenden Bildern beschrieben wird.“<br />

Dem ist unter der Voraussetzung zuzustimmen, daÉ mit dem „vor allem“ klargestellt wird,<br />

daÉ solcherart nur eine Facette der Exposition der Theodizeeproblematik – bevorzugt in Gedichten<br />

der Geburtstagssammlungen zum 2.2.1856 und 2.2.1858 fÅr seine Mutter – getroffen<br />

ist (dazu genauer in 3.5.2.); schon in der auch formale Fragen aufwerfenden Geburtstagssammlung<br />

zum 2.2.1857 (dazu genauer in 3.5.3.) geht der ZwÄlfjÇhrige z.T. anders vor,<br />

wenngleich in der nÇmlichen Intention; in Texten eher fÅr sich selbst auf wiederum unterschiedliche<br />

Weise anders, so daÉ wir spÇtestens 1857 schon mit einer quasi mehrstrahligen<br />

Problemexposition(stechnik) zu tun haben.<br />

Grundthese 6: „Die vielen, in Nietzsches Jugendschriften auffindbaren Referenzen an christliches<br />

Gedankengut, VersatzstÅcke von Gebeten u.ã. sind Camouflage, mit der der Knabe vordergrÅndig<br />

die Erwartungen der Erwachsenen an ihn zufrieden stellt, wÇhrend die Texte auf einer anderen Ebene,<br />

durch eine Technik des gleichzeitigen Andeutens und Verbergens, gerade die dieser Erwartungshaltung<br />

zugrunde liegende Weltinterpretation kritisch in Frage stellen.“<br />

Diese wohlformulierte These ist diejenige, die ich stÇrker als ihre VorgÇngerinnen konkretisierend<br />

kommentieren oder ergÇnzen muÉ, da in ihr je nach Lesart so einiges an Konterbande<br />

stecken kÄnnte, was nicht auÉer Acht gelassen werden sollte. Deshalb zuerst zu eher speziellen<br />

ErgÇnzungen, Spezifizierungen bzw. Konkretisierungen [in (a)-(c)], zuletzt zu einer<br />

fÅr alle Thesen zu berÅcksichtigenden Tatsache und deren Konsequenzen [in (d)].<br />

Doch vorweg: Unter „Jugendschriften“ kÄnnen 1. weniger scharf bzw. sehr umfassend diejenigen<br />

Editionen verstanden werden, in denen bspw. unter dem Titel „Jugendschriften“ 109<br />

(die) noch erhaltene(n) Texte in der Schrift des SchÅlers und Studenten Nietzsches erschienen<br />

oder erscheinen; enger ist 2. die Verwendung des Terminus, wenn als Jugendschriften nur<br />

Texte verstanden werden, die Nietzsche in seiner Jugend (hier nun verstanden als SchÅlerzeit<br />

bis zum Abitur des knapp 20jÇhrigen) selbst formuliert hat. Doch auch dann gelten noch eine<br />

Reihe von EinschrÇnkungen, die, da fÅr <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong>, die DlJ-Nak-<br />

Kontroverse und vergleichbare Konstellationen berÅcksichtigenswert, skizziert seien.<br />

(a) Die „vielen, in Nietzsches Jugendschriften auffindbaren Referenzen an christliches Gedankengut,<br />

VersatzstÅcke von Gebeten u.ã.“ sind nÇmlich schon als solche bzw. als Faktum<br />

109 Dazu instruktiv Johann Figl: FrÄhe Schriften. In: Christian Niemeyer (Hg.): Nietzsche-Lexikon.<br />

Darmstadt, 2 2011, S. 118f.<br />

55


nicht ganz so selbstverstÇndlich bzw. unproblematisch, wie diese sechste Grundthese anzunehmen<br />

nahelegt, denn auch in den in Nietzsches Schrift noch erhaltenen Texten aus Nietzsches<br />

Kindheit steckt noch viel an dem Kind AufgenÄtigten:<br />

(1) So bestand der „erbÇrmliche“ Religionsunterricht des Domgymnasiums, Åber den der<br />

DreizehnjÇhrige sich in seiner Autobiographie des Sommers 1858 aufzuregen scheint, zu einem<br />

erheblichen Teil aus dem Aufsagen – nicht aus differenzierten Interpretationen! – auswendig<br />

gelernter Kirchenlieder 110 , deren Spuren wir in der erhaltenen Textmasse vielfach<br />

begegnen. (Im Religionsunterricht des Instituts des Candidaten Weber, 1853-1855, und zuvor<br />

der Naumburger KnabenbÅrgerschule, 1850-1853, dÅrfte es geistig kaum anspruchsvoller<br />

zugegangen sein: Die Lutherbibel wurde weder hier noch dort und auch im Domgymnasium<br />

nur in ErgÇnzung zum Lehrbuch von Preuss und m.W. auch dann nicht in ihrem z.T. erfrischend-brutalen<br />

Wortlaut gelesen 111 : Storys, Glaubenslehren und Kirchenlieder, mehr gab’s<br />

vor der äbersiedlung nach Pforta im Herbst 1858 und auch dort noch einige Semester lang<br />

nicht.)<br />

(2) Doch nicht einmal dabei blieb es, denn auch nÇchste Verwandte – Tante Rosalie und<br />

selbst Nietzsches Mutter an vorderer Stelle – waren zu Festtagen durch abgeschriebene<br />

vielstrophige Kirchenlieder auf deren ausdrÅcklichen Wunsch 112 hin zu verwÄhnen. –<br />

(3) Das Kind komponierte auch ChorÇle, Oratorien usw., ebenfalls zu Festtagen optimal geschenkgeeignet,<br />

die mit den entsprechenden Texten zu unterlegen waren...<br />

All’ das bleibt beim Elf- bis DreizehnjÇhrigen aber eher exoterisch. Das anzunehmen sprengt<br />

zwar wieder einmal wohleingespielte interpretative Gepflogenheiten, erscheint mir aber als<br />

die nÇchstliegende Hypothese. Nahegelegt wird sie schon durch die m.W. nirgendwo thematisierte<br />

oder auch nur erwÇhnte Tatsache, daÉ wir in keinem der bisher verÄffentlichten frÅhsten<br />

Texte Nietzsches eine nachweisbar aus freien StÅcken ausgearbeitete Darstellung christlicher<br />

oder auch jÅdischer Inhalte aus NT oder AT besitzen, die auch nur annÇhernd bspw. den ‘griechischen’<br />

Riesengedichten von 1856 vergleichbar wÇre.<br />

NÇhme man also die „vielen, in Nietzsches Jugendschriften auffindbaren Referenzen an<br />

christliches Gedankengut, VersatzstÅcke von Gebeten u.ã.“ als mit der Auffassung des Kindes<br />

Nietzsche synchron ernst oder setzte sie gar in ihrer Bedeutung fÅr das Kind Nietzsche<br />

mit derjenigen seiner eigenen Gedichte in engeren Bezug oder gar als gleichwertig, so stimmten<br />

nicht nur die Proportionen nicht, sondern man verzerrte sie sosehr, daÉ die Grenze zu apologetischen<br />

ManÄvern wenn nicht lÇngst Åberschritten, so doch nicht mehr einvernehmlich zu<br />

ziehen wÇre.<br />

110 Das war lt. Aussage von HÄrerinnen bspw. noch in Dortmund Mitte des 20. Jahrhunderts im<br />

protestantischen gymnasialen Religionsunterricht selbst in der Mittelstufe um keinen Deut besser.<br />

111 Die „Schulnachrichten“ vom Lehrstoff der Quinta des Domgymnasiums, die Nietzsche seit Herbst<br />

1855 besuchte, bieten als Programm des Religionsunterrichts: „Biblische Geschichte des Alten Testaments<br />

nach Preuss, verbunden mit Bibellesen, Auswendiglernen biblischer SprÅche und mehrerer Kirchenlieder<br />

2 St. Dr. Opitz.“ In: Zu der áffentlichen PrÄfung sÜmtlicher Klassen des Domgymnasiums<br />

zu Naumburg vom 10. bis zum 13. MÜrz 1856 ladet ergebenst ein Dr. Fártsch. Gymn. Dir. Naumburg,<br />

1856, p. IV.<br />

112 DaÉ es auch derlei gab, belegen Abschriften von religiÄsen Gedichten bzw. Kirchenliedern, die das<br />

Kind – Nachstehende Lieder bringet Dir auf Deinen Wunsch [!!] als kleine Weihnachtsgabe Dein<br />

Fritz Nietzsche. 1857. (GSA 71/214) – vermutlich seiner Tante Rosalie schenkte, da es fÅr seine Mutter<br />

ebenfalls eine Kleine Weihnachtsgabe fÄr meine liebe Mutter von Deinem Fritz Nietzsche 1857 (I<br />

397-399 bzw. I 1, 204-207) sowie eine aufschluÉreiche Vorstufe gibt, von der in I 462f. AuszÅge zu<br />

finden sind. Die vom DreizehnjÇhrigen gewÅnschten Abschriften in Nachstehende Lieder haben es<br />

Åbrigens ‘in sich’: „Gieb Dich zufrieden und sei stille In dem Gotte Deines Lebens“ von Paul Gerhardt<br />

in 17 Strophen zu je 7 Versen; „Wenn ich einmal soll scheiden So scheide nicht von mir“, die Strophen<br />

9 & 10 von „O Haupt voll Blut und Wunden“, ebenfalls von Paul Gerhardt in 16 Versen, und<br />

schlieÉlich „Ich habe Lust zu scheiden, Mein Sinn geht aus der Welt“ in 8 prÇchtigen Strophen zu je 6<br />

Versen. Und derlei Texte als erwÅnschte „kleine Weihnachtsgabe“ seitens eines DreizehnjÇhrigen?<br />

56


(b) Fassen wir Nietzsches poetisches Œuvre jedoch enger als die Teilmenge derjenigen<br />

Texte aus seiner Hand, die er nicht nur selbst schrieb, sondern auch selbst formulierte oder<br />

zumindest paraphrasierte, so sind davon wenigstens abzuziehen<br />

(1) sÇmtliche Kirchenlied- und Choralabschriften fÅr die Schule,<br />

(2) sÇmtliche Kirchenlied- und Choralabschriften als ausdrÅcklich gewÅnschte ‘Kleine Weihnachtsgaben’<br />

etc. und<br />

(3) ggf. auch Kirchenlied- und Choraleinlagen in anderen Geschenktexten wie bspw. der erwÇhnten<br />

„Kleine[n] Weihnachtsgabe fÅr meine liebe Mutter“ zu Weihnachten 1857 oder in<br />

Kompositionen 113 .<br />

Der so erhaltene, kirchenlied- und choralausgedÅnnte ‘Rest’ von Nietzsches frÅhem poetischem<br />

Œuvre ist dann vor allem im Blick auf die noch lÇngere Zeit offiziell aufrecht erhaltene<br />

imitatio patris doch erstaunlich ‘fremdorientiert’.<br />

(c) Das poetische (auch um weitere Abschriften aller Art befreite) Œuvre des Kindes<br />

macht Åberraschenderweise einen keineswegs mehr herkunftsreligionsdominierten, sondern<br />

jenseits von HÄflichkeitsfloskeln usw. z.T. eher christentumsfernen und in AnsÇtzen teils sogar<br />

christentums- teils selbst religionskritischen Eindruck; und dies vor allem dann, wenn<br />

Nietzsche damals noch als „kleiner Pastor“ 114 firmiert haben sollte. Ich skizziere, weil fÅr<br />

Folgendes wichtig, wenigstens in Stichworten die Konstellation.<br />

(1) Von bisher 6 TheaterstÅck(ch)en aus Nietzsches Naumburger Kindheitsjahren gibt<br />

es aus Nietzsches Hand Skizzen oder Fragmente: Das Kánigsamt (I 310f. bzw. 115 I 1, 3-5),<br />

113 Von diesen wurden kurioserweise zwar die unterlegten, lediglich abgeschriebenen Choralfragmente<br />

usw. in KGW I 1 aufgenommen, nicht jedoch Nietzsches Kompositionen selbst, auf die es als persÄnliche<br />

Leistung des Kindes doch viel eher angekommen wÇre. So bleibt man weiterhin auf Friedrich<br />

Nietzsche: Der musikalische NachlaÖ. Hgg. im Auftrag der Schweiz. Musikforschenden Gesellschaft<br />

von Curt Paul Janz. Basel und Kassel, 1976, angewiesen. Vgl. auch Curt Paul Janz: Die Kompositionen<br />

Friedrich Nietzsches. In: Nietzsche-Studien I, 1972, S. 173-184.<br />

114 Das stereotype Gerede vom „kleinen Pastor“ bildet zwar fast eine Konstante in meist dilettantischen<br />

Schilderungen des Kindes Nietzsche, doch bei genauerem Besehen entspricht diesem betulichen<br />

Bild in der RealitÇt wohl nur ãuÉerlichstes: In Nietzsches Texten aus seiner Kindheit finden wir diese<br />

Bezeichnung ebensowenig wie m.W. in damaligen (!!) Zeugnissen, Aussagen usw. Åber dieses Kind.<br />

Wir wissen aber anderes wie bspw., daÉ dieses Kind (1) wohl wenigstens bis zum äbergang nach<br />

Pforta in den umgeschneiderten schwarzen Kleidern seines Vaters, des ehemaligen Prinzessinnenerziehers,<br />

die z.T. aus bes. feinem Tuch gewesen sein sollen, herumzulaufen das VergnÅgen hatte; daÉ<br />

(2) Nietzsches Mutter aus Familientraditions- wie auch aus (3) persÄnlichen VersorgungsgrÅnden<br />

wohl ihrerseits alles dafÅr tat, daÉ Fritz ‘nicht von der Stange’ ging; und wir kÄnnen vermuten – wissen<br />

es aber nicht genau –, daÉ (4) 1850 das verÇngstigte Dorfkind sich anfangs in der Naumburger<br />

KnabenbÅrgerschule mÄglicherweise hinter der Maske eines kleinen Pastors versteckte (und auch insofern<br />

eine Tradition seines Vaters aufgenommen haben kÄnnte, der nach dem Tod seines eigenen<br />

Vaters, ins Internat Rossleben versetzt, bereits als „Pfaffe“ etikettiert wurde; vgl. Martin Pernet, Das<br />

Christentum, 1989). Doch wenn „kleiner Pastor“ mehr bedeutet haben sollte als das Aussehen dieses<br />

Kindes und dessen (5) in den ersten Naumburger Jahren vielleicht bereitwillige, schutzbietende, abstandschaffende<br />

und eine unsichtbare Kanzel errichtende FÇhigkeit, pastorales Verhalten oder Gehabe<br />

zu produzieren, dann mÅÉte differenziert werden zwischen dem verschreckten Kind der ersten Jahre in<br />

der BÅrgerschule und demjenigen Kind, das wir aus seinen wie auch immer kompensatorischen Texten<br />

kennen. Da merkt man zwar, daÉ er weiterhin ErwÅnschtes deklamieren kann, doch spÇtestens<br />

vom Herbst 1855 an war dieses Kind Nietzsche offenbar ‘geistig woanders’. Das lieÉ und lÇÉt sich<br />

zwar in vielen Details belegen, doch es bleibt wohl auch weiterhin bei PalmstrÄms Weisheit, daÉ nicht<br />

sein kann, was nicht sein darf (Christian Morgenstern: Die unmágliche Tatsache. In: ders., Alle Galgenlieder.<br />

Berlin u.a. O., 1962, S. 165f.).<br />

115 Aus diversen GrÅnden zitiere ich nach beiden Editionen; und schlage jedem Texte des frÅhen<br />

Nietzsche mÄglichst kritisch lesen Wollenden vor, prinzipiell beide Ausgaben zu konsultieren; und nur<br />

im Falle, daÉ dies unmÄglich ist, der Çlteren – allerdings weniger vollstÇndigen Edition – solange den<br />

Vorzug zu geben, bis bestimmte editorische Entscheidungen der KGW I 1 in einer Neuausgabe im<br />

57


Der GeprÄfte (I 327-330 bzw. I 1, 105-109), Die Charolais (I 369 bzw. I 1, 160), Orkadal/Orcadal<br />

(I 372-374 bzw. I 1, 165-169), Lorenzo und Guido (?; I 390 bzw. I 1, 194f.)<br />

sowie Untergang Troja’s (I 415-420 bzw. I 1, 232-238). Von einem siebten, dem einzigen<br />

StÅck, von dessen AuffÅhrung wir wissen und deren Datum wir sogar kennen, erfahren wir<br />

noch, daÉ Nietzsche sich an ihm (ebenso wie an Orkadal/Orcadal) als Autor nur beteiligt<br />

hÇtte: Die Gátter vom Olymp; leider ohne daÉ wir mehr als eine Einladung fÅr ein StÅck<br />

Die Gátter auf den Olymp mit einer Auflistung von 9 Rollen und deren Besetzung sowie<br />

einige Berichte dazu hÇtten (I 1, 110; spÇter zumal in 3.4.4. dazu mehr). Und nun als Gegenprobe:<br />

Doch nirgendwo haben wir es mit biblischen Inhalten zu tun? Nichts aus dem<br />

AT? Nichts aus dem NT auf die BÅhne gebracht? Als ob das, wÇre Fritz darauf verfallen, in<br />

den Familien Nietzsche, Pinder oder Krug wenn nicht mit Begeisterung, so doch mit erheblicher<br />

Sympathie aufgenommen worden wÇre? Doch der „kleine Pastor“ verfiel nicht<br />

darauf, blieb im Blick auf das ererbte religiÄse Konglomerat und all’ die mit dessen Inszenierung<br />

verbundenen glÇnzenden AuftrittsmÄglichkeiten und schulterklopfenden Anerkennungen<br />

irritierend abstinent?<br />

(2) Bleiben einerseits die Gedichte des Kindes, bei denen trotz erheblicher Zuordnungsprobleme<br />

wohl wenigstens drei grÄÉere Gruppen ansatzweise 116 zu unterscheiden sind:<br />

(2a) Gedichte fÅr den Deutschunterricht der Schule, die benotet werden sollten; (2b) Geschenkgedichte<br />

primÇr fÅr Verwandte, die erfreut werden sollten, wie bspw. vor allem zu<br />

den drei Geburtstagen 1856-1858 seiner Mutter; und schlieÉlich (2c) Gedichte ausschlieÉlich<br />

fÅr sich selbst und/oder auch zur LektÅre seines Poesie-Kinderfreundes Wilhelm Pinder<br />

und/oder auch fÅr die kleine graecophile, auÉer den beiden Freunden Wilhelm und<br />

Gustav sogar die jÅngeren Schwestern umfassende Kinderclique der Familien Nietzsche<br />

und Pinder, von der Nietzsches Schwester 1895 und 1912 so ausfÅhrlich und konsequenzenreich<br />

berichtet, erzÇhlt oder fabuliert, in deren Zusammenhang das Dankgedicht an<br />

Zeus (I 362 bzw. I 1, 145f.) gehÄren kÄnnte. Schon bei den erhaltenen Gedichten (der<br />

Gruppe 2c) sind in BerÅcksichtigung der Verszahl die ‘Griechengedichte’ die bei weitem<br />

grÄÉte Gruppe; ziehen wir Gedichtlisten, in denen die Verszahlen auch einiger verschollener<br />

Gedichte oder Gedichtsteile angegeben sind, noch hinzu, wÇchst der Vorsprung fast<br />

schon ins Exorbitante.<br />

Die der heimatlichen Religion nahestehenden keineswegs hÇufigen und eher kurzen Gedichte<br />

machen dagegen einen eher blassen oder aber einen irritierend kÅmmerlichen Eindruck;<br />

so bricht ein Gedicht, das bspw. dem FrÅhling gilt, mitten im Vers ab, wenn das<br />

Kind sich endlich zu einem Gotteslob aufrafft (oder aufraffen soll), das selbst dann, wenn<br />

es geÇuÉert wird, Åber Klischeehaftes nicht so recht hinauskommt. PersÄnlich engagiert<br />

wirkt das Kind, soweit das zu erkennen ist, durchgÇngig anderswo, denn die wenigen ‘echt<br />

christlichen’ Gedichte wirken eher als erschreckender Abwehrzauber wie bspw. Unsterblichkeit<br />

(I 389 bzw. I 1, 192) und Jesus Christus (I 422 bzw. I 1, 240f.), kurios wie Am<br />

Palmsonntag (I 433 bzw. I 1, 238f.), wo „der Heiland“ zuletzt fast wie ein siegreicher<br />

Olympionike mit einem „Lorbeerkranz in seinen Haaren“ besungen wird, oder, wie Am<br />

Morgen und Am Abend (I 409 bzw. 225f.) in der Geburtstagssammlung zum 2.2.1858, als<br />

Sinne der VorschlÇge des Vf.s korrigiert worden sind; oder bis mit Hilfe des Nachberichts die Textsituation<br />

so gut – oder noch besser – rekonstruiert werden kann als durch die HKG, die am Seitenrand<br />

jeweils die Paginierung der Originale bietet.<br />

116 Erkenntnishilfsmittel: die Art der PrÇsentation, also separates viell. sogar hochwertiges, grÄÉerformatiges<br />

Blatt Papier, SchÄnschrift in wenigen Zeilen usw. gegen in verschmierte Kladden ggf. sogar<br />

mit Bleistift gekritzelte Verse (wie bspw. das Dankgedicht an Zeus von 1856), denen ich dann hÄhere<br />

AuthentizitÇt zubillige als entsprechend aufgemotzten Produktionen. Derlei Formales ist z.T. bereits<br />

den BÇnden der HKG zu entnehmen; bei der KGW I 1-3 muÉ auf den von HÄdl zu erstellenden Nachbericht<br />

gewartet werden. Ein abschlieÉender Vergleich von HKG und KGW dÅrfte aufschluÉreich<br />

sein.<br />

58


leise parodierte Babypoesie (vor vielleicht aufschluÉreichem Hintergrund). In einigen Gedichten<br />

der letzten Naumburger Monate 1858 erscheint der DreizehnjÇhrige von pastoralen<br />

BerufsplÇnen fast schon um Lichtjahre entfernt: das war einmal...<br />

Schwierig ist es, den Geschenkanteil an eher religiÄsen oder ReligiÄses enthaltenden<br />

Gedichten, die nicht in die Sammlungen zum 2.2. aufgenommen wurden, zu bestimmen.<br />

Aus den Biographien Elisabeths ist zu entnehmen, daÉ in den Schulferien auÉer den GroÉeltern<br />

in Pobles auch andere Pastoren und fromme Verwandte besucht wurden, bei welcher<br />

Gelegenheit von Fritz dann in der Regel ein entsprechendes poetisches Mitbringsel abzuliefern<br />

war. Vielleicht hat er zuhause schon vorgearbeitet; 117 auÉerdem hat er vielleicht<br />

noch erhaltenes Schreibmaterial in seinen Ferien benÅtzt. Nicht zuletzt war Tante Rosalie<br />

zu Festtagen poetisch zu bedenken. 118 So dÅrften anders als die ‘Griechengedichte’ und<br />

manche Naturgedichte keinesfalls alle ‘religiÄsen’ oder ReligiÄses wenigstens andeutenden<br />

Gedichte auf eigenen Antrieb zurÅckgehen. InnerfamiliÇre GeschenkbedÅrfnisse oder auch<br />

-pflichten zu weiteren Festtagen sind schlieÉlich ebensowenig auÉer Acht zu lassen wie die<br />

Tatsache, daÉ selbst in Naumburg noch einige nÇhere Verwandte (wie die Familie DÇchsel<br />

mit Tante Friederike, geb. Nietzsche, und auÉerdem noch Tante Ina Nietzsche) lebten, die<br />

von ihrem Fritz sei es zu deren Festtagen sei es als Dank fÅr Geschenke poetisch beglÅckt<br />

zu werden hatten. Gingen selbst noch an den Herzogshof von Altenburg, an dem Nietzsches<br />

Vater vor Erhalt der RÄckener Pfarre Prinzessinnenerzieher gewesen war, adÇquate<br />

poetische ErgÅsse von Fritz, denen wir bspw. in Am Morgen und Am Abend begegnen<br />

kÄnnten?<br />

(3) So bleiben andererseits noch Prosatexte, bei denen wohl nur (3a) wenige Arbeiten<br />

fÅr die Schule erhalten blieben bzw. bisher zugÇnglich sind [wie vielleicht Die Schánburg<br />

(I 395f. bzw. I 1, 202), Barmherzigkeit (I 411-413 bzw. I 1, 227-230), Ueber die Medea (I<br />

430 bzw. I 1, 255f.), Iason und Medea (eine äbersetzung aus Ovid, Metamorphosen VII 9-<br />

99, I 435f. bzw. I 1, 262f.) und JÜger und Fischer (I 445 bzw. I 1, 278)]; ebenfalls nur in<br />

kleiner Zahl liegen noch (3b) Geschenktexte vor [wie viell. AnlÇufe zu einem Tagebuch<br />

vom 26. und 25.12.1856 (I 375f. bzw. I 1, 169-171) oder die erwÇhnte Kleine Weihnachtsgabe<br />

von 1857 (I 397-399 bzw. I 1, 204-207) und, von der Intention her, auch die Autobiographie<br />

aus dem Sommer 1858 Aus meinem Leben (I 1-32 bzw. I 1, 281-311)]; und<br />

schlieÉlich wieder finden sich (3c) Texte Nietzsches ausschlieÉlich fÅr sich selbst und/oder<br />

auch zur LektÅre lediglich seiner Poesie- und Musik-Kinderfreunde Wilhelm Pinder und<br />

Gustav Krug [wie Novellenfragmente ohne Titel (I 393f. bzw. I 1, 198-201)]. Auch fÅr<br />

diese Texte gilt: Christentumnahes oder gar -bejahendes findet sich primÇr in Geschenktexten,<br />

am deutlichsten in der Kleinen Weihnachtsgabe – schon die Vorstufe ist ‘weltlicher’<br />

– und in einigen Einsprengseln sowie zumal in der SchluÉapotheose 119 von Aus meinem<br />

Leben mit dem GelÄbnis: „mich seinem Dienste auf immer zu widmen“ (I 31 bzw. I 1,<br />

310), woran sich Nietzsche etwa als „Feind und Vorforderer Gottes“ (MA I, Vorr. 1) je<br />

nach Interpretation ja durchaus gehalten hat.<br />

Um zu (a)-(c) vorlÇufig abzuschlieÉen: Camouflage gibt es nahezu ausschlieÉlich in poetischen<br />

Geschenktexten, primÇr sie sind z.T. mehrschichtig; in ‘reinen Privattexten’ bereits von<br />

1856 ‘braucht’ das Kind keine weiteren Versteckspiele, weil diese Texte etwa als ‘Griechen-<br />

117 Dazu wÅrde passen, daÉ Fritz, der kleine Stratege, im FrÅhjahr 1858 eine Sammlung religiÄser<br />

Gedichte plante, die dem Kirchenjahr folgen sollte. So hÇtte er zu jeder Jahreszeit und Gelegenheit ein<br />

passendes, sinniges Mitbringsel bereits in der Tasche. Oder war sie als ‘groÉe Festgabe’ zu irgendeinem<br />

‘runden Geburtstag’ etc. geplant – wie bspw. des GroÉvaters im August 1859? Bekannt wurde<br />

m.W. lediglich ein Gedicht, das kuriose Am Palmsonntage (I 444 bzw. I 1, 258f.), das den „Heiland“<br />

zuletzt als Helden mit dem „Lorbeerkranz in seinen Haaren“ auftreten lÇÉt.<br />

118 Nach deren Tod, 1867, dÅrfte der gesamte NachlaÉ an die beiden Erben Fritz und Elisabeth gefallen<br />

sein, weshalb die gesammelten Autographen in das Familienarchiv Åbernommen werden konnten.<br />

119 Vgl. dazu genauer NaK, S. 541-548.<br />

59


texte’ ja schon Versteck genug sind. 1857 und 1858 geht der ZwÄlf- und zumal der DreizehnjÇhrige<br />

gegenÅber seiner Herkunftsreligion sogar zunehmend in die Offensive – schon Alfonso<br />

(in Alfonso [I.]) von Anfang 1857 verweigert die andressierte Reaktion auf den schÄnen<br />

Glockenton vom „alten Kloster“ (I 376 bzw. I 1, 176), und Rinaldo (I 282-284 bzw. I 1, 182-<br />

185) ist fast schon eine Ohrfeige fÅr (vorsichtshalber noch: primÇr katholisches) Christentum<br />

120 –, lÇÉt zunehmend Eigenes erkennen. Doch dann kam Pforta...<br />

(d) Bei allen unseren äberlegungen, die Texten des Kindes Nietzsche gelten, sollte die banale<br />

Tatsache nicht vÄllig ausgeblendet oder gar apologetisch strapaziert werden, daÉ auch<br />

dieses Kind in demjenigen Sinne ‘in seiner Welt’ lebte, als diese mit der ihm fÅr lange unumund<br />

unhintergehbar vorgegebenen Welt in produktive Balance zu bringen, da es in Letzterer<br />

nicht nur zu Åberleben, sondern sich nach deren MaÉstÇben auch zu bewÇhren galt, weil es in<br />

deren Sprach- und Gedankenmaterial aufwuchs, mit welcher selbst bei eigenstÇndigstem<br />

Nachdenken konsistent umzugehen war. So muÉ man sich unter diesen Voraussetzungen<br />

nicht darÅber wundern, daÉ fast jeder Text auch entsprechende ‘NÇhen’ aufweist, sondern<br />

eher das Kind bewundern, wie z.T. eigenstÇndig es mit diesem Material bereits umzugehen<br />

vermochte.<br />

Ein Interpret nun, der als mehr oder weniger offensiver Apologet oder als Meister interpretativer<br />

Normalisierung agieren wÅrde, hÇtte es leicht, auf jeweils entsprechende ‘NÇhen’, AnklÇnge<br />

usw. zu verweisen und ggf. mit einigen im tradierten Konglomerat seit Jahrhunderten<br />

angewandten Tricks Abweichendes zu entspezifizieren. Ein primÇr kognitiv oder gar aufklÇrerungsoffener,<br />

vielleicht sogar weltanschauungskritisch orientierter Interpret hingegen wird<br />

eine dazu kontrÇre Perspektive favorisieren: Er achtet auf Unterschiede, hÇlt in Kontrast zu<br />

Tradiertem Entwickeltes fÅr das eigentlich Interessante, fÅr die aufzuspÅrende und zu verstehende<br />

Leistung des Autors der untersuchten Texte; und er versteht seine VerÄffentlichungen<br />

als Sondervoten. So wie nun jedoch ein Apologet selbst bei redlichem VerstÇndnisbemÅhen<br />

dennoch eher dazu neigen dÅrfte, Abweichendes zu minimieren, neigt ein angesichts der BeschrÇnktheit<br />

vieler und wendefixer Charakterlosigkeit nicht weniger KÄpfe zuweilen fast verzweifelter<br />

AufklÇrungsorientierter eher dazu, bereits kleine Abweichungen, die in seinen Augen<br />

not tun, als spezifisch einzuschÇtzen.<br />

Aus vom Vf. geschÇtzter Spurenlesermetaperspektive wÇre selbst noch aus der skizzierten<br />

Konstellation so mancher Honig der Erkenntnis zu extrahieren, denn auch in BerÅcksichtigung<br />

dieser beiden rationale Analysen auf ihre Art vielleicht teils restringierenden teils Åberziehenden<br />

Perspektiven kÄnnen Texte polyperspektivischer und tiefenschÇrfer – im Blick auf<br />

Nietzsche also: nietzscheadÇquater 121 – verstanden und interpretiert werden. So mag fÅr manchen<br />

Leser die Annahme naheliegen, daÉ auch diese mittlerweile dem Ende des zweiten Jahrzehnts<br />

sich nÇhernde Kontroverse zwischen Autor und Vf. sich selbst noch dann als forschungsstimulierend<br />

einschÇtzen lieÉe, wenn als menschlich durchaus verstÇndliches Verhalten<br />

konzediert wÅrde, daÉ die Beteiligten dabei besonders streng auf Einhaltung rationaler<br />

Argumentation und Anwendung wissenschaftlicher Kriterien beim jeweiligen Partner achten<br />

wÅrden, da Wechselseitigkeit einer derartigen Strategie bei aufmerksamer kritischer LektÅre<br />

seitens Dritter zu weiterem Erkenntnisgewinn beitragen sollte. Besser wÇre freilich, an Kon-<br />

120 Das Gedicht kÄnnte aber auch in katholischer Verfremdung bereits das Problem der verwandtengefÄrderten<br />

‘Berufung’ des Kindes zum Pastorenamt – als eines sinnlosen, Melancholie auslÄsenden<br />

Lebensopfers? – reflektieren; eines Kindes, das eher von einer Dichter- oder Musikerkarriere trÇumte?<br />

121 Diese anspruchsvolle Formel scheint zu meinen provokantesten und chronisch Fehlinterpretationen<br />

auslÄsenden Formulierungen zu gehÄren. Man kann freilich so erkennen, wer Texte nur auf Stichworte<br />

hin liest – die er ggf. ergoogelt? –, zu denen er dann frei zu assoziieren vermag. Zuletzt bin ich auf<br />

derlei Fragen eingegangen in einem April 2003 formulierten Text: AufklÜrungsideal gegen VerdÜchtigungsstrategie?<br />

Notizen drei Jahre nach AbschluÉ meiner Streitschrift Wider weitere Entnietzschung<br />

Nietzsches. Aschaffenburg, 25.8.2000, zumal zur Rezension von Prof. Dr. Volker Caysa, in: Nietzscheforschung<br />

9, 2002, S. 397-402; seit Dez. 2009 in: www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

60


troversen Beteiligte und zumal Kontroversen Initiierende wÇren gewillt und in der Lage, jeweils<br />

auch selbst eine Art Metaperspektive insofern einzunehmen, als sie nicht nur auf mit<br />

ihren Sichtweisen äbereinstimmendes, sondern auch auf ihnen Widersprechendes achten,<br />

vorweg also Problemkonstellationen auch im Sinne mÄglichst relevanter Gegenproben mustern<br />

und durchspielen wÅrden. So schlage ich in meinen Arbeiten – also nicht erst im Rahmen<br />

dieser Kontroverse – seit langem vor, auf bei Nietzsche gedanklich und sprachlich von tradierten<br />

äblichkeiten Abweichendes in besonderem MaÉe zu achten; oder, um ein anderes<br />

Beispiel fÅr das unter ‘Metaperspektive’ Verstandene zu wÇhlen, dann, wenn man bspw. LektÅreanklÇnge<br />

findet, sich immer auch zu fragen, warum Nietzsche gerade diese Texte gelesen<br />

und aus ihnen ggf. genau diese Worte ‘zitiert’ oder diesen Gedanken ‘aufgegriffen’ hat: und<br />

nicht andere, die er in anderen Texten oder auch in diesen nachweislich ebenfalls las und aus<br />

ihnen hÇtte zitieren oder verwenden kÄnnen, wenn, ja wenn er eben auch damals nicht Friedrich<br />

Nietzsche gewesen wÇre und ganz bestimmte (in seiner Denkentwicklung oftmals lÇngst<br />

gebahnte) Fragen zu thematisieren gesucht bzw. sich mit ihnen auseinandergesetzt hÇtte. In<br />

anderer Formulierung: zu fragen wÇre also wie etwas jeweils scheinbar Neues denn in das vor<br />

dem Auftauchen dieses Neuen in Nietzsches Texten lÇngst Entwickelte paÉt. Eine meinerseits<br />

seit Jahrzehnten gestellte (wenn man will: metaperspektivische) Forderung, die modern gewordenen<br />

hochgradig selektiven – sachkenntniserleichterten und eigene Recherchen suspendierenden?<br />

– Interpretationsmustern (jeder Art von „BrÄckelchenphilologie“ und/oder mancher<br />

„Apologetenphilologie“ also) stracks zuwiderlÇuft.<br />

Grundthese 7: „Dazu bedarf der Knabe natÅrlich auch einer Gegeninstanz, die ihm dabei unterstÅtzend<br />

zur Seite steht. Einerseits entdeckt Schmidt diese – auf der Ebene der Weltdeutung – in der<br />

Welt der alten Griechen, auf der anderen Seite bringt er die Idee einer Gegeninstanz an verschiedenen<br />

Stellen seines Werkes, dem jeweiligen Entwicklungsstadium und sozialen Umfeld Nietzsches<br />

entsprechend, mit Erwachsenen, die er als Vorbilder oder Vertraute nimmt, in Zusammenhang.“ (S.<br />

73f.)<br />

Diese letzte Grundthese liest sich besonders glatt und eingÇngig: und mit an Sicherheit<br />

grenzender Wahrscheinlichkeit ist sie auch zutreffend; vorausgesetzt, man interpretiert sie so<br />

wie der Verfasser dieser Metakritik.<br />

(a) Was die alten Griechen – genauer: fÅr das Kind vor allem die Welt ‘Homers’, Herodots<br />

und weiterer Mythen usw. primÇr in der Sicht von Ovids Metamorphosen – betrifft, so hatte<br />

ich sie etwas provokativ als ErlÄser von seiner heimischen ErlÄsungsreligion tituliert, doch<br />

streng genommen wenigstens 6 Funktionen ‘der Griechen’ schon fÅr das Kind Nietzsche unterschieden:<br />

als (1) „gÄttliche Gegenwelt zu den Religionsvorstellungen der VÇter“, (2) als<br />

Experimentierfeld, „denn in der Auseinandersetzung mit ihren mythischen Gestalten war das<br />

Kind ja ‘frei’“, als (3) die Masken, hinter denen es „sich samt seinen Problemen am klarsten<br />

ausspricht“, (4) als Modell-, (5) Verfremdungs- und (6) Korrektivfunktion (NaK, S. 792f.).<br />

Doch fÅr die personelle ErgÇnzung meiner aus Nietzsches Texten ja nahegelegten ‘Griechen’-Thesen<br />

habe ich viele Jahre gebraucht: Anfangs gewann ich nÇmlich den Eindruck,<br />

dieses Kind hÇtte in Gedichten einen verzweifelten Kampf „einer gegen alle“ gefÅhrt.<br />

(b) Erst im Zusammenhang grÅndlicherer Analyse des Prometheus-Textensembles aus<br />

dem FrÅhjahr 1859 bzw. gegen Ende des ersten pfÄrtner Semesters war unÅbersehbar, daÉ<br />

Nietzsche Friedrich Schillers wohl Generationen von ‘Griechenfreunden’ stimulierendes Gedicht<br />

Die Gátter Griechenlands gekannt haben muÉ, dessen teils befreiende teils irritierende<br />

Wirkung ich dann von Monat zu Monat zurÅckdatieren konnte, da ich mir Nietzsches frÅhere<br />

Texte daraufhin und auf andere BezÅge zu Schillers Gedichten und bspw. Die RÜuber, aber<br />

auch zu Heinrich Heine usw. genauer ansah 122 ;<br />

122 Ein Student, der das GlÅck hat, Hochschullehrer zu finden, die nicht jeweils neuesten Moden aufsitzen,<br />

sondern prÇzise Analysen schÇtzen (und diese dann auch zu beurteilen vermÄgen), kÄnnte hier<br />

61


(c) spÇter bezog ich GroÉvater David Ernst Oehler mit seiner fÅr damalige VerhÇltnisse<br />

riesigen, pastorale Interessen thematisch weit Åberschreitenden Bibliothek und in mancher<br />

Hinsicht freisinnig-liberalen Lebensauffassung in meine äberlegungen ein. [Diese Perspektiven<br />

(a) bis (c) prÇgen meine Argumentationen in Nak.]<br />

(d) Leider erst ab 1993 berÅcksichtigte ich auch den Dichter Ernst Ortlepp, auf dessen<br />

EinfluÉ fÅr den portenser InternatsschÅler mich Reiner Bohley 1988 brieflich zu stupsen suchte,<br />

was ich (in der Endphase der äberarbeitung von NaK) fÅr mich selbst leider mit dem Hinweis<br />

abblockte, nach des Tutors Buddensiegs Tod im August 1861 habe Nietzsche doch<br />

lÇngst keinen Mentor mehr gebraucht; der fehlte ihm nÇmlich, wenn Åberhaupt, nur als<br />

Naumburger Kind 1855-1857 etwa, denn diese Jahre 1855-1857 waren Nietzsches poetische<br />

Orientierungszeit. So rekonstruierte ich leider erst Jahre nach Bohleys Tod (genauer: ab<br />

Herbst 1993), daÉ Ortlepp sich eben nicht erst wÇhrend Nietzsches Alumnat in der NÇhe der<br />

alten Pforte herumtrieb, sondern schon ab Herbst 1853 sich wohl groÉenteils in Naumburg<br />

aufhielt, da er zu Festtagen seine Riesengedichte auf der Titelseite des kostenfrei ausgegebenen<br />

Naumburger Kreisblatts 123 und seine Anthologie letzter Hand (KlÜnge aus dem Saalthal)<br />

1856 in einem Naumburger Verlag verÄffentlichte, was in bestimmten Kreisen wochenlang<br />

StadtgesprÇch gewesen sein dÅrfte. Vermutlich war er auch fast alleiniger Autor eines umfangreichen,<br />

dreibÇndigen Lexikons, das in Naumburg 1857/58 erschien 124 (und spÇter mehrfach<br />

nachgedruckt wurde). Das poetisch interessierte Kind Nietzsche, an dessen Geburtstag<br />

jeweils ein dem Geburtstag des preuÉischen KÄnigs geltendes Riesengedicht Ortlepps auf S. 1<br />

im „Kreisblatt“ erschien, kam in dem ca. 3000-Seelen-StÇdtchen Naumburg 1853-1858 am<br />

Dichter und Musiker Ernst Ortlepp, einem beeindruckenden Pianisten und Organisten, der zu<br />

privaten Festlichkeiten oder, wenn ein Organist ausfiel, engagiert werden konnte, schlicht<br />

nicht vorbei; vielleicht sah es ihn auch alle paar Tage, zumal Ortlepp zeitweise in nÇchster<br />

faszinierende Entdeckungen machen. Wie ergiebig die Aufarbeitung bestimmter Themen beim frÅhen<br />

Nietzsche sein kann, beweist Renate G. MÅller: Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des<br />

SchÄlers Nietzsche, Dissertation Univ. Dortmund vom 22.11.1993; die auch sÇmtliche lateinischen<br />

oder griechischen Schularbeiten Nietzsches in äbersetzung bietende Untersuchung lag HÄdl als Geschenk<br />

vor (vgl. DlJ, S. 95, Anm. 235, u.Ä.).<br />

123 Die Neuausgabe von Hermann Josef Schmidt: Der alte Ortlepp 2 , 2004, bietet 160 Seiten mit Gedichten<br />

Ortlepps, darunter sÇmtliche im Naumburger Kreisblatt vom 15.10.1853 bis zu Ortlepps Tod<br />

am 13.6.1864 erschienenen mit Ortlepps Namen oder KÅrzel gekennzeichneten Gedichte sowie die<br />

wohl kritischsten Çlteren seiner Gedichte, deren eines schlieÉlich 1835 seine Verfemung durch Metternich<br />

auslÄste. Ohne sich mit Der alte Ortlepp sonderlich zu Åberschneiden bietet eine FÅlle von Gedichten<br />

Ortlepps, die das Kind Nietzsche gekannt haben mÅÉte, der Band Ernst Ortlepp. KlÜnge aus<br />

dem Saalthal. Gedichte. Hgg. v. Roland Rittig und RÅdiger Ziemann. Halle, 1999.<br />

124 General=Universal=Lexikon, oder das gesammte menschliche Wissen in enzyklopÜdischer Form<br />

und KÄrze. Ein unentbehrliches Haus=, Hand= und Nachschlagebuch fÄr Jedermann. Unter sorgfÜltigster<br />

Benutzung aller vorhandenen Quellen ausgearbeitet und zusammengestellt von mehreren Gelehrten.<br />

Naumburg an der Saale: Druck und Verlag Louis Garcke, 1857/58, knapp 2.400 zweispaltige<br />

Seiten in GroÉoktav. Quelle fÅr diese These Hermann Josef Schmidt Der alte Ortlepp 1 , S. 225ff., und<br />

Der alte Ortlepp 2 , S. 167ff. So mag es sogar so gewesen sein, daÉ Ortlepp nur wenige Meter von der<br />

BÅrgerschule und der EinmÅndung der Neugasse, in der Nietzsche wohnte, am Platz bei der Wenzelskirche<br />

und spÇter bei Garcke am Holzmarkt ein- und ausging. Der Verlag ‘wackelte’ jedoch schon<br />

1856 und ging nach dem Scheitern dieses letzten groÉen Projekts 1858/59 in Konkurs. Damit war<br />

Ortlepps letzte Chance, nochmals FuÉ fassen zu kÄnnen, zerronnen... Weitere Belege bietet Inge Buggenthin:<br />

Lebensstichwort: Lyrik – TrÜgt das Lied in sich selbst den Lohn? In: Kai Agthe, Roland Rittig<br />

und RÅdiger Ziemann (Hg.), Das Lied trÇgt in sich selbst den Lohn. Ernst Ortlepps Gedichte. Halle,<br />

2009, S. 87-98.<br />

62


NÇhe von Nietzsches Wohnung logierte. Dennoch ist hier wohl noch immer viel 125 zu entdecken...<br />

Jedenfalls: das Kind Nietzsche war wohl schon ab 1855 seelisch nicht mehr ganz so allein,<br />

wie ich in anfÇnglicher Ausblendung biographischer ZusammenhÇnge vermutete. Auch in<br />

dieser Hinsicht wÇre in einer Neuausgabe von NaK nach mittlerweile 20 Jahren also einiges 126<br />

zu ergÇnzen, erstaunlicherweise aber nicht allzuviel zu modifizieren.<br />

3.3.2.8. Kritikers persÄnlicher Einstieg: „Experiment“ à la HÄdl (S. 76-79)<br />

Dieses Teilkapitelchen hat sogar persÄnlichen Charme, denn der Autor nimmt äberlegungen<br />

aus der ersten HÇlfte seines Dortmunder Vortrags aus dem Juli 1993 hier wieder auf und<br />

prÇsentiert sie – die 17 ZugÇnge von NaK (S. 53-112) à la HÄdl ergÇnzend –, als seinen kritischen<br />

Zugang zu den von ihm als KritikgegenstÇnden gewÇhlten AusfÅhrungen in NaK, da in<br />

NaK vom „experimentellen Charakter“ der dort vorgelegten „Textinterpretation“ die Sprache<br />

sei (S. 76).<br />

So informiert er den Leser ausfÅhrlich Åber verschiedene Interpretationen von „Experiment“<br />

je nachdem, ob es sich dabei um naturwissenschaftliche, geisteswissenschaftliche oder<br />

um historische Untersuchungen handelt. Dabei sucht er die Bedingungen korrekten methodischen<br />

Vorgehens mÄglichst prÇzise und eng zu fassen (S. 77f.); und man sieht fast, wie er sich<br />

vergnÅgt die HÇnde reibt, aus der von ihm sorgsam entwickelten Perspektive „die Sauberkeit“<br />

125 MÄglicherweise handelt es sich dabei z.T. lediglich um Wiederentdeckungen. So fand ich bspw. in<br />

einem (in Reiner Bohley: Die Christlichkeit einer Schule: Schulpforte zur Schulzeit Nietzsches. Hgg.<br />

und mit einem Nachwort versehen von Kai Agthe. Jena; Quedlinburg, 2007, erstmals verÄffentlichten)<br />

Vortrag: „Naumburg in der Jugendgeschichte Nietzsches (1971)“, S. 253-275, ein kleines „Ortlepp“<br />

Åberschriebenes Kapitelchen (S. 264-266), in welchem Bohley nach einer Auflistung von Ortlepp<br />

betreffenden Meldungen des Naumburger Kreisblatts anfÅgt: „Dies alles wÅrde noch nicht rechtfertigen,<br />

bei unserem Thema „Naumburg in der Jugendgeschichte Nietzsches“ so ausfÅhrlich auf Ortlepp<br />

einzugehen. Aber zu Nietzsches Werdegang gehÄrt meines Erachtens – trotz der mangelnden Belege –<br />

Ortlepp mindestens seit der portenser Zeit, auf die wir leider nicht nÇher eingehen kÄnnen.“ (S. 265f.;<br />

„mindestens“ ist durch Bohley selbst hervorgehoben!)<br />

126 Zwar habe ich nicht allzuviel Veranlassung, Dritte um VerstÇndnis fÅr irgendwelche Fehler in Na<br />

zu bitten, die ich nur allzugut kenne. Von der Genese meiner neueren Nietzscheuntersuchungen her ist<br />

jedoch deutlich, daÉ ich bis in die spÇten 1980er Jahre den Eindruck hatte, bei meiner Aufarbeitung<br />

der frÅhen (in Nietzsches eigenen frÅhen Texten erschlieÉbaren) Denkentwicklung quasi als Solist zu<br />

agieren. Mit der Folge leider, daÉ das in Na skizzierte neue Forschungs- und Interpretationsterrain so<br />

vielfÇltiger noch lÇngst nicht abgeschlossener Recherchen und Reflexionen bedurfte, daÉ damit das<br />

LeistungsvermÄgen eines an einer technisch ausgerichteten UniversitÇt Philosophie von der frÅhen<br />

Antike bis zur Gegenwart Dozierenden ohne Zugriff auf einen eigenen wiss. Mitarbeiter usw. bei weitem<br />

Åberschritten wurde.<br />

Um diese konsequent genetische Perspektive in der Nietzscheforschung und -interpretation als mit<br />

tradierten AnsÇtzen im Sinne tiefenschÇrferen NietzscheverstÇndnisses konkurrierend bekannt zu machen<br />

und um mitteldeutsche Nietzscheinteressenten zu unterstÅtzen, gegen sogleich einsetzende Dominierungsversuche<br />

‘in Sachen Nietzsche’ bzw. Versuche, „Nietzsche rundzulutschen“ (Hans-Martin<br />

Gerlach, ca. 1992 zum Vf.), eigene Wege finden und begehen zu kÄnnen, hatte ich von 1990 bis etwa<br />

2003 immens viel meiner (weiterer Arbeit auch an ‘Nietzsche’ abgezwackten) Zeit eingesetzt, um in<br />

mehr als 30 Fahrten in die ‘neuen BundeslÇnder’, Mitarbeit in der Nietzsche-Gesellschaft, Durchsetzung<br />

eines zweiten (von der Nietzsche-Gesellschaft autonom zu verantwortenden) der Nietzscheforschung<br />

geltenden gleichnamigen Jahrbuchs, in welchem (anders als in den auch meinerseits geschÇtzten<br />

Nietzsche-Studien) Kontroversen ausgetragen und unkonventionellere Untersuchungen verÄffentlicht<br />

werden sollten, in Archivaufenthalten insbes. im GSA Weimar sowie in Schulpforta, mit VortrÇgen<br />

sowie mit der Organisation von 8 Dortmunder Nietzsche-Kolloquien, 1991-2003, forschungsstimulierende<br />

Diskussionen voranzubringen. Um den Preis leider, daÉ schon aus ZeitgrÅnden auch vieles<br />

von dem liegen blieb, was unschwer lÇngst hÇtte erarbeitet und im Druck vorgelegt werden kÄnnen,<br />

wenn ich mich 1990 anders als wie erfolgt entschieden hÇtte.<br />

63


der „Philologie“ von NaK genÅÉlich zu ÅberprÅfen bzw. dessen Vf. insofern „matt“ setzen zu<br />

kÄnnen als dieser den Experiment-Begriff wenig sorgsam oder gar unangemessen verwandte.<br />

Ein zweifelsohne origineller und mÄglicherweise sogar stichhaltiger Ansatz vor allem<br />

dann...<br />

... wenn der Autor sich zuvor grÅndlicher darÅber informiert oder Gelesenes nicht vergessen<br />

hÇtte, wie in NaK der Begriff „Experiment“ verwandt und bspw. vom „experimentellen<br />

Charakter“ der Unternehmung gesprochen wird, da das NaK zugrundegelegte VerstÇndnis von<br />

„Experiment“ usw. die GeschÇftsgrundlage einer NaK-Kritik, die der Frage der EinlÄsung des<br />

in Nak formulierten Anspruchs durch NaK gilt, darstellen mÅÉte. Es sei denn, „Experiment“<br />

wÅrde in Nak grob fahrlÇssig verwandt. Das wÇre aber zuerst einmal nachzuweisen. Nun verfÅgt<br />

Na aus wohlerwogenen GrÅnden zwar Åber keinen Begriffs- und Stellenindex usw. –<br />

derlei ist hoffentlich auch noch nirgendwo im Internet zugÇnglich –, denn den Bestand lediglich<br />

oder primÇr index- oder suchprogrammerarbeiteter VerÄffentlichungen auch im Bereich<br />

der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> zu vergrÄÉern wollte und will der Verfasser von Na durch seine<br />

eigene Arbeit gewiÉ nicht erleichtern.<br />

Wo also hÇtte man ggf. AusfÅhrungen zum „experimentellen Charakter“ des Na-Projekts<br />

finden kÄnnen? Ja wo, wenn nicht im AbschluÉkapitel der „ZugÇnge“ des Teils I, das „Ihrer<br />

prinzipiellen Information“ gewidmet ist? In dessen Vorbemerkung wird eigens darauf aufmerksam<br />

gemacht, daÉ die nun folgenden letzten drei ZugÇnge fÅr „methodologisch besonders<br />

Interessierte“ ausformuliert wurden, wobei insbes. auf den letzten Zugang verwiesen ist,<br />

in dem „die hÇufigsten prinzipiellen EinwÇnde gegen Ansatz und Methode“ von Na diskutiert,<br />

problematisiert und wohl auch destruiert werden (S. 127). Und genau dort sowie in der<br />

SchluÉpassage der „ZugÇnge“ finden sich zu HÄdls Stichwort die entsprechenden AusfÅhrungen,<br />

die ich (da sich selbst kommentierend) zwecks Kontrolle durch den Leser hier aufnehme:<br />

„Des experimentellen Charakters meines Spurenlesens bin ich mir bewuÉt: ich mÄchte mit Nietzsche<br />

absconditus demonstrieren, daÉ es sich lohnt, die Texte selbst des Kindes ernst zu neh[/]men,<br />

daÉ bei Vorliegen auch nur geringer (z.B. altertumswissenschaftlicher) Kompetenzen, von etwas<br />

Empathie und therapeutischen Interesses sowie Heterodoxie des Interpreten sich diese Texte besser<br />

aufschlieÉen lassen und daÉ sie informationshaltiger Åber Friedrich Nietzsche sind als alles, was an<br />

externen Belegen aufgehÇuft werden kann.“ (S. 151f.)<br />

Der experimentelle Charakter von Na besteht also darin, gegenÅber einer weit(est)gehend<br />

sich auf Analyse von Texten des spÇteren Nietzsche konzentrierenden, genetisch leider desinteressierten,<br />

oft sogar chronologisch lÇngst geklÇrte ZusammenhÇnge apart vermixenden<br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong> à la Martin Heidegger (gegen deren AnsÇtze und Methode in den vorausgehenden<br />

AusfÅhrungen von NaK ebenso wie in meinen VerÄffentlichungen seit 1969<br />

mehr oder weniger explizit mehrfach argumentiert wurde), 1. zu zeigen, „daÉ es sich lohnt,<br />

die Texte selbst des Kindes ernst“ zu nehmen; und zu belegen, daÉ 2. bei Vorliegen (a) auch<br />

nur geringer (z.B. altertumswissenschaftlicher) Kompetenzen, (b) von etwas Empathie und (c)<br />

therapeutischen Interesses sowie (d) Heterodoxie des Interpreten sich „diese Texte besser aufschlieÉen<br />

lassen und daÉ sie informationshaltiger Åber Friedrich Nietzsche sind als alles, was<br />

an externen Belegen aufgehÇuft werden kann.“ (S. 151f.)<br />

Was ist dagegen einzuwenden? Punkt 1. versteht sich wenigstens nach der LektÅre von<br />

NaK wohl von selbst; und mit dem spezifizierten Punkt 2. sollte ein argumentativer Pflock<br />

gegen Versuche eingeschlagen werden, biographische Rekonstruktionen ohne prÇzise Nietzschetextkenntnisse<br />

(wie sie in biographisch orientierten Arbeiten zu Nietzsche auch dann fast<br />

schon mit HÇnden zu greifen sind, wenn ich in der unverbesserlichen alten AufklÇrer-<br />

Hoffnung auf Einsicht keine Namen nannte) zu inaugurieren oder wenigstens ernstzunehmen;<br />

auÉerdem habe ich einige Bedingungen angedeutet, die ein Interpret der in manchem rÇtselhaften<br />

Texte des Kindes Nietzsche erfÅllen sollte, wenn er einigermaÉen nietzscheangemes-<br />

64


sen interpretieren mÄchte, da diese Bedingungen samt und sonders bereits fÅr das Kind Nietzsche<br />

galten (wie sich aus subtiler Analyse seiner Texte zeigen lÇÉt; und hoffentlich in NaK<br />

auch zeigen lieÉ). So kÄnnte bspw. genÅgen, daÉ sich der ÅberprÅfende kritische Leser von<br />

NaK nach AbschluÉ seiner LektÅre Åberlegt, wieviele Texte des Kindes nur deshalb aufgeschlossen<br />

werden konnten – und dann faszinierende Perspektiven erÄffneten –, weil der Vf.<br />

von NaK in Fragen antiker Literatur nicht vÄllig ahnungslos oder desinteressiert war. GenÅgt<br />

das nicht in Verbindung mit der umfassendsten Interpretation von Kindertexten eines Philosophen<br />

sowie Dichters, die mir bisher bekannt wurde, sogar als Exempel? ErfÅllt die Zumutung<br />

eines Tausendseitenwerks ausschlieÉlich zu Texten des Kindes Nietzsche, zu denen es<br />

m.W. vor Beginn meiner Untersuchungen weder einen monothematischen Aufsatz noch gar<br />

eine BuchverÄffentlichung gab, nicht zumindest liberalere Interpretationen von „Experiment“?<br />

Vorsichtshalber, denn ich kannte ja meine Pappenheimer bzw. in <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en<br />

zuweilen demonstrierte LektÅreintensitÇt (sowie das VergnÅgen an abenteuerlichen Unterstellungen<br />

wohl in der sich leider allzuoft bestÇtigenden Hoffnung, das Semper-aliquid-haeret-<br />

Prinzip wÅrde quasi als SelbstlÇufer auch im jeweiligen Falle das Seinige tun), hatte ich am<br />

Ende der „ZugÇnge“ nochmals nachgelegt:<br />

„In meiner Fahndung nach dem unbekannten, verborgenen, also dem ‘ganzen Nietzsche’ gebe ich<br />

eine Art intellektueller Biographie, d.h. ich versuche Nietzsches denkerische Entwicklung, orientiert<br />

an seinen Fundamentalproblemen, in einer mÄglichst textbezogenen, empathisch-deskriptiven<br />

Analyse zu rekonstruieren. Das ist m.W. noch nirgendwo 127 versucht worden und, wie auch die<br />

quasiliterarische Form eines Spurenlesens bei Nietzsche, der Einbezug des Lesers als Spurenleser<br />

und manches andere mehr, ein Experiment. [...]<br />

In dieser mÄglichst textbezogenen, empathisch-deskriptiven Analyse konzentriere ich mich nun auf<br />

die Darstellung der Aspekte von Nietzsches geistiger Entwicklung, die m. E. fÅr den ‘ganzen<br />

Nietzsche’ wichtig sind, also den Hintergrund der fÅr sein Denken spezifischen Philosophie darstellen.<br />

Es liegt auf der Hand, daÉ ich angesichts des glÅcklichen Umstandes, daÉ viele Texte selbst<br />

noch aus Nietzsches frÅher SchÅlerzeit erhalten sind, und angesichts der Bedeutsamkeit der Erfahrungen<br />

und Einsichten [/] der Kindheit fÅr die Weiterentwicklung des Erwachsenen, diesen Sachverhalt<br />

auch fÅr meinen eigenen Versuch einer angemesseneren <strong>Nietzscheinterpretation</strong> mÄglichst<br />

produktiv machen mÄchte. So ist die SchÅlerzeit[ 128 ] besonders grÅndlich untersucht, da sie die<br />

127 Die These ist nun wohl von Jahr zu Jahr mehr einzuschrÇnken... AllmÇhlich bewegt sich etwas in<br />

‘der <strong>Nietzscheinterpretation</strong>’. [Zusatz 2010: damals war ich optimistischer als heute, da meinem Eindruck<br />

nach gegenwÇrtig geschÇtzte hochselektive Interpretationsmethoden allzuviel an meiner Auffassung<br />

nach fÅr tiefenschÇrfere Interpretation UnumgÇnglichen suspendieren; vgl. Hermann Josef<br />

Schmidt, Entnietzschung, 2000, passim.]<br />

128 [Zusatz 2010: In den 1980er Jahren war noch geplant, Na mit den zwei weiteren BÇnden – Hochschuljahre<br />

1864-1879 und Freiherrenjahre 1879-1888 –, fÅr die entsprechende Vorarbeiten vorlagen,<br />

fortzusetzen und abzuschlieÉen. Doch die verÇnderten ZeitlÇufte seit dem innerdeutschen Mauerfall,<br />

zunehmende VerschÇrfung der Situation an der Hochschule und nicht zuletzt die Kombination von<br />

Desinteresse und Widerstand gegen die Sichtweise des Vf.s. sowie die z.T. gesteuerte, mangelnde oder<br />

verweigerte Rezeption selbst der beiden nach des Vf.s. EinschÇtzung auÉergewÄhnlich innovativen<br />

JugendbÇnde von Na, 1993 und 1994, lieÉen eine WeiterfÅhrung des Projekts weniger sinnvoll erscheinen<br />

als eine noch grÅndlichere Auseinandersetzung mit Fragen der frÅhen Entwicklung Nietzsches<br />

und eine BerÅcksichtigung insbes. der Weimarer und portenser ArchivbestÇnde (in der Hoffnung<br />

auf Gewinn externer äberprÅfungskriterien der in Nietzsches Texten eruierbaren Genese). So waren<br />

die differenzierten ZugÇnge in Teil I von NaK als ZugÇnge fÅr das Gesamtwerk intendiert, dessen<br />

restliche EinzelbÇnde schon deshalb nur noch knapp eingeleitet werden sollten, da Nietzsches Jahre<br />

nach dem Abitur und zumal nach AbschluÉ des Studiums weit besser erforscht waren als die beiden<br />

ersten Jahrzehnte, die selbst in den renommierten Biographien nur eine untergeordnete Rolle spielten;<br />

und in der Interpretation nahezu inexistent waren. Im Blick allein auf NaK ‘stimmen’ die Proportionen<br />

der Teile I-III deshalb nicht.]<br />

65


[mit eigenen Texten gesicherte] Basis fÅr Nietzsches Denkentwicklung darstellt. Die Bevorzugung<br />

der SchÅlerzeit, die selbst in den wichtigen Biographien nur stiefmÅtterlich behandelt ist, ist auch<br />

deshalb sinnvoll, weil sich bei Nietzsche, wenn er einmal ein Problem grÅndlich durchdacht hat,<br />

vieles in immer neuen Varianten wiederholt.“ (S. 170f.)<br />

Dem ist wohl auch nach 20 Jahren kaum etwas 129 hinzuzufÅgen: auÉer vielleicht, daÉ die<br />

erwÇhnte „intellektuelle Biographie“ keine Biographie im Åblichen Sinne ist, da NaK ebenso<br />

wie NaJ zum grÄÉten Teil aus – von biographischen Gesichtspunkten unabhÇngigen – Textinterpretationen<br />

besteht; und daÉ HÄdl seine äberlegungen, welche Leistungen NaK hÇtte<br />

erbringen sollen, wenn dessen Vf. sich an die ihm unbekannte, ihm vom Autor 1993 und<br />

nochmals modifiziert 2009 jedoch auferlegte Interpretation von „Experiment“ brav gehalten<br />

hÇtte, mit einer prÇgnant formulierten Zusammenfassung abschlieÉt:<br />

„Mit anderen Worten: Åber die Wahrscheinlichkeit unserer Interpretation entscheidet die Sauberkeit<br />

unserer Philologie.“ (S. 79)<br />

Zwar richtig, wenn vor „die Sauberkeit“ ein „auch“ eingefÅgt wÅrde, da interpretative<br />

Sauberkeit eine zwar notwendige, keineswegs jedoch eine hinreichende Bedingung hochrangiger<br />

Interpretation darstellt. Die These oder auch das EingestÇndnis des Autors hat freilich<br />

nicht nur einen Haken, denn: Wer bzw. was bzw. welche Kriterien entscheiden Åber „die Sauberkeit<br />

unserer Philologie“, die doch ihrerseits erst Åber die SeriositÇt einer Interpretation entscheiden<br />

soll? (Genauer dazu in 3.4.1.)<br />

3.3.2.9. Nietzsche absconditus – rhetorischer Produzent mystagogischer Spannung?<br />

Bei der LektÅre von DlJ habe ich darauf geachtet, an welcher Stelle sich dessen Autor zu<br />

„Nietzsche absconditus“ und zumal zu „Nietzsche absconditissimus“ kritisch ÇuÉert, zu meiner<br />

Verwunderung aber nur in der riesigen Anm. 194 der S. 76 einen Hinweis gefunden, der<br />

das Thema auf etwas Åberraschende Weise angeht:<br />

„Schmidt bemÅht sich offensichtlich, [...] eine mystagogische Spannung zu erzeugen, die den Leser<br />

in die Erwartung versetzt, von seinem jeweiligen VorverstÇndnis aus in eine neue Verstehensdimension<br />

gefÅhrt zu werden (auch im auf die Tradition philosophischer Theologie anspielenden Titel<br />

„Nietzsche absconditus“ ist ein Hinweis auf diesen gleichsam mystagogischen Charakter zu sehen;<br />

freilich wird die Verborgenheit nicht als Hinterwelt konstruiert, sondern als die intime psychologische<br />

Problemkonstellation eines leibhaftigen Individuums).“<br />

Der Autor setzt bei seinen äberlegungen mit einer Reflexion Åber das VerhÇltnis der 17<br />

persÄnlichen ZugÇnge zu dem in NaK Exponierten ein und erkennt zurecht das BemÅhen, den<br />

Leser im Ausgang von seinem VorverstÇndnis in eine neue Verstehensdimension zu fÅhren.<br />

Freilich nicht geschlossenen Auges, sondern gekitzelt durch zahlreiche diskutierte EinwÇnde<br />

usw. Im Prinzip also: einverstanden, denn dabei handelt es sich nach meinem VerstÇndnis um<br />

eine Elementarform von Didaktik: einsetzend beim jeweiligen VerstÇndnis, Vorwissen usw.<br />

des Lesers oder HÄrers, als Autor oder bspw. Hochschullehrer Informationen und DenkanstÄ-<br />

Ée prÇsentierend, die idealiter den HÄrer oder Leser veranlassen, sein eigenes VerstÇndnis<br />

bzw. Vorwissen um das ihm nun Angebotene zu erweitern, beides zu ÅberprÅfen und ggf.<br />

sogar beides abzulehnen. Sowohl als Dozent wie als Vf. habe ich mich an diese Regel mÄglichst<br />

gehalten. Doch was soll daran mystagogisch sein? Gerade wenn es Na gelungen sein<br />

sollte, kognitive Spannung zu erzeugen – so wie ich sie bspw. bei meiner LektÅre vieler Texte<br />

129 Damit kein Leser befÅrchten muÉ, hier seien die unverfÇnglichsten Belege ausgesucht worden,<br />

gebe ich sÇmtliche Seitenzahlen von „experim“ in Nak (wobei mehrfach auch von Denkexperimenten<br />

Nietzsches oder von psychologischen Experimenten usw. gesprochen bzw. referiert wurde): S. 187;<br />

281, Anm. 24; 283, Anm. 27; 590; 610; 717f.; 718; 774f.; 792; 793f.; 837, Anm. 48, und 1018.<br />

66


Nietzsches, des Traktats Äber kritische Vernunft von Hans Albert 130 , von Erkenntnis und Illusion<br />

oder Heil und Zeit von Ernst Topitsch 131 empfand –, hÇtte sich die MÅhe fÅr dessen Vf.<br />

doch gelohnt, da der Leser durch die LektÅre kognitiv bereichert worden wÇre. Die erste wohl<br />

als Einwand intendierte Aussage des Autors also, die ich nicht ÅberprÅfen kann, da ich sie<br />

schlicht nicht verstehe.<br />

Oder hat den Religionswissenschaftler der Titel „Nietzsche absconditus“ in die Irre gefÅhrt?<br />

Und der mit „Nietzsche absconditissimus oder Metaspurenlesen tut not“ Åberschriebene<br />

dritte Teil bzw. Band 2 von NaK nicht minder? Dabei ist schon aus dem Inhaltsverzeichnis<br />

von NaK zu ersehen, daÉ in der bereits erwÇhnten (fÅr die äberlegungen in NaK zentralen)<br />

„Einleitung fÅr Metaspurenleser“ die Stichworte „Nietzsche absconditus“ und „Nietzsche<br />

absconditissimus“ (S. 577ff. und 579ff.) abgehandelt werden. Und von Mystagogie ist dort<br />

m.W. ebenfalls nichts zu finden:<br />

„Spreche ich von ‘Nietzsche absconditus’, vom verborgenen Nietzsche, so spreche ich von demjenigen<br />

Nietzsche, den man lÇngst hÇtte erkennen kÄnnen, wenn man Regeln korrekter und umfÇnglicherer<br />

Interpretation, die beispielsweise bei Autoren der vorhellenistischen Antike angewandt<br />

werden – bei spÇteren wurde das aus hier nicht zu behandelnden (jedoch fÅr interessierte Leser erschlieÉbaren)<br />

GrÅnden plÄtzlich sehr viel schwieriger –, auch auf Friedrich Nietzsche angewandt<br />

hÇtte; das geschah jedoch so selten, daÉ es kaum ein Ruhmesblatt der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> und<br />

der fÅr diese verantwortlichen Disziplinen darstellt.“ (S. 577)<br />

Der Titel „Nietzsche absconditus“ enthÇlt also keinerlei Mystagogie, auch keine Herz-<br />

Jesu- oder anderweitige Mystik, ironisiert derlei eher leise, zielt statt dessen auf <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en,<br />

deren Autoren bspw. auch das in NaK Diskutierte zumindest grÄÉtenteils<br />

lÜngst hÇtten erkennen kÄnnen – ja: mÅssen! –, „wenn man Regeln korrekter und umfÇnglicherer<br />

Interpretation [...] auch auf Friedrich Nietzsche angewandt hÇtte“; und wenn man nicht<br />

genetisch so abstinent gewesen wÇre wie noch gegenwÇrtig.<br />

Ist die Mystagogik wenigstens fÅr „Nietzsche absconditissimus“ reserviert worden? Leider<br />

wiederum: nein, denn auch dabei noch geht’s ganz unmystisch und allemal amystagogisch zu.<br />

Vergleichen Sie bitte:<br />

„Spreche ich hingegen von ‘Nietzsche absconditissimus’, dem verborgensten Nietzsche, so denke<br />

ich<br />

1. an den Nietzsche, den er (vor seinen Lesern, anfangs vielleicht sogar vor sich selbst) so gut wie<br />

nur irgend mÄglich absichtsvoll verborgen hat;<br />

2. an den Nietzsche in statu nascendi, den sich erst entpuppenden Nietzsche;<br />

3. an den Nietzsche seiner (ihm selbst nur zum Teil bewuÉten) Denk- und Lebensmotive.“ (S. 579)<br />

Es geht also um das hÄchstens dreizehnjÇhrige Kind, das sich in seinen Texten entwirft,<br />

ausprobiert, das manchmal mehr schreibt, als es schon weiÉ; und manchmal auch weit mehr<br />

weiÉ, als es schreibt, das sich rasant entwickelt und in seinen Texten einen vermutlich erheblichen<br />

Teil seiner Probleme exponiert. All’ das wird auf unterschiedlichsten ‘Ebenen’ diskutiert,<br />

manchmal auch ‘gezeigt’, nach MÄglichkeit oft im Versuch, quasi Schulter an Schulter<br />

mit dem Leser dem Kind Nietzsche beim Denken und Schreiben zuzusehen. Und in der erklÇrten<br />

Hoffnung, ein derartiges Experiment seitens interessierter Leser so zu begleiten, daÉ<br />

erst dann ein Urteil gefÇllt wird, wenn sowohl Nietzsches Kindertexte in der HKG als auch<br />

NaK komplett gelesen wurden.<br />

130 Hans Albert: Traktat Äber kritische Vernunft. TÅbingen, 1968 u.Ä.<br />

131 Ernst Topitsch: Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung. 2. Åberarb. und<br />

erw. Auflage. TÅbingen, 1988, und: Heil und Zeit. Ein Kapitel zur Weltanschauungsanalyse. TÅbingen,<br />

1990.<br />

67


3.3.2.10. Tunnelblick versus Spurenlesen?<br />

HÇtte ich mich um eine ganz schnelle Replik bspw. in einer philosophischen Zeitschrift<br />

oder in einem der Nietzscheforschung dienenden Jahrbuch bemÅht und dafÅr nur eine einzige<br />

Druckseite ‘freigehabt’, so hÇtte ich ganz anders als hier eingesetzt, nÇmlich in Verbindung<br />

mit einem Kompliment fÅr eine derartige exzessive und profunde Auseinandersetzung darauf<br />

verwiesen, daÉ der Autor den Sinn des Absconditus-Projekts wohl in Folge allzu dominanten<br />

fachspezifischen Tunnelblicks bestenfalls sehr partiell realisiert zu haben scheint, da er als<br />

Theologe, christlicher Philosoph – wohl nicht nur nach meinem Empfinden eine Contradictio<br />

in adjecto – und Religionswissenschaftler vom Stichwort „absconditus“ fixiert auÉer mit seiner<br />

oben in 3.2. angefÅhrten These, in Na wÅrde behauptet, (a) „man kÄnne den gesamten“<br />

Text „Nietzsche(s)“ rekonstruieren – was immer das auch heiÉen mÄge – und zwar (b) „durch<br />

Hintergrundarbeit am verschriftet vorliegenden Text Nietzsches“, offenbar lediglich nur noch<br />

Åber eine einzige weitere DeutungsmÄglichkeit des Titels, nÇmlich Åber die Frage potentieller<br />

mystagogischer Intentionen des Vf.s nachgedacht, dabei aber die KonsequenzentrÇchtigkeit<br />

des Absconditus-Projekts fÅr Interpretationen bspw. philosophisch relevanter Çlterer Texte 132<br />

ebensowenig wie zumal den gesamten restlichen d.h. den zweiten Teil des Titels ernstgenommen<br />

zu haben scheint, der nach Auffassung des Vf.s jedoch das vielleicht spezifisch Innovative<br />

dieses konkreten Absconditus-Projekts mÄglichst komprimiert zu fassen sucht. Deshalb<br />

dazu hier nun doch etwas genauer.<br />

Angesichts der grÄÉtenteils nicht datierten und vom wenig geklÇrten Kontext aus gesehen<br />

wenigstens auf den ersten Blick vergleichsweise deutungsoffenen, eigentÅmlich rÇtselhaften<br />

und oft provokativen, mehrschichtigen oder eigenartig inkonsistenten Texte dieses Elf- bis<br />

DreizehnjÇhrigen ging es um strengstes konsequent historisch-genetisches Spurenlesen. Und<br />

dafÅr gelten, wenn Spurenlesen hochwertig sein soll, bestimmte Bedingungen, von denen<br />

einige so selbstverstÇndlich sein sollten, daÉ sie nicht eigens zu exponieren sind, andere hingegen<br />

formuliert und zur Diskussion gestellt werden mÅssen.<br />

(a) Zu den SelbstverstÇndlichkeiten gehÄrt wohl vor allem, daÉ Spurenlesen zuerst einmal<br />

Spurenlesen in demjenigen Sinne ist, daÉ man, um ‘die richtige Spur’ zu finden, zuvor verschiedene<br />

Spuren abgehen (also alternative Deutungshypothesen reflektieren) muÉ, wenn man<br />

es nicht lediglich mit einer einzigen Spur zu tun hat: was im Blick auf Nietzsches frÅhe Texte<br />

wohl kaum jemand ernsthaft vertreten wird. So kÄnnen, dÅrfen, mÅssen sich einige der untersuchten<br />

Spuren zuweilen als ‘Holzwege’ erweisen. In einer weitestgehend strukturierten Forschungssituation<br />

kann die Darstellung partieller ‘BlindgÇnge’ unterlassen oder mit einer Bemerkung<br />

unter den Strich verbannt werden. Doch angesichts von Texten, die zuvor m.W. nirgendwo<br />

dokumentierter Gegenstand grÅndlicherer Analyse gewesen waren, ist diese ‘Explorationsphase’<br />

nicht zu Åberspringen, weshalb sie dokumentiert werden muÉ. Nach lÇngerem<br />

äberlegen hatte ich mich entschlossen, mein Spurenlesen auch fÅr Leser, die ich – im Sinne<br />

des Vorwortes fÅr „Spurenleser und Indianer“ – quasi als MitfÇhrtenleser zu gewinnen hoffte,<br />

auch in der Form eines Spurenlesens vorzulegen. Mit der Konsequenz, daÉ zuweilen mehrere<br />

SpurenlesergÇnge im nÇmlichen Textterrain angeboten wurden, daÉ zuweilen ‘spekuliert’<br />

werden muÉte oder daÉ vor allem dann, wenn schon das Kind Nietzsche ein VerbergungskÅnstler<br />

gewesen sein sollte, der sich bemÅhte, kritischere Texte nicht in die HÇnde Dritter<br />

fallen zu lassen oder entsprechend mehrdeutig zu formulieren, in EinzelfÇllen vielleicht sogar<br />

zu einem einzigen Stichwort in BerÅcksichtigung der zum Zeitpunkt von dessen Formulierung<br />

belegbaren Kompetenzen sowie Interessen Nietzsches eine Gedankenkette zu entwickeln war,<br />

die, sollte sie sich fÅr Nietzsche als zutreffend erweisen, BrÅcken zu anderen bereits skizzierten<br />

Problemen geschlagen hÇtte. Also ein Experiment, das je nach Interpretation scheitert oder<br />

zu gelingen vermag (und einem Leser, dem es wichtig ist, um jeden Preis zu kritisieren, reiche<br />

132 Vgl. im ‘Interpretativen Lasterkatalog’ den Punkt 6: „Mangelnde BerÅcksichtigung der Verborgenheit<br />

(‘Absconditusproblematik’) in: Hermann Josef Schmidt: Entnietzschung, 2000, S. 126-131.<br />

68


Munition zu Polemiken wenigstens vor denjenigen einrÇumt, die an einer Aufarbeitung oder<br />

gar KlÇrung der angesprochenen Probleme noch weniger interessiert sind als er selbst).<br />

Zur Verdeutlichung wÇhle ich nun das vielleicht extremste Beispiel aus Na. Nachdem<br />

Nietzsche, seit dem 5.10.1858 InternatsschÅler (Alumnus) der nahegelegenen Schulpforta,<br />

sich dort einigermaÉen akklimatisiert und im FrÅhjahr 1859 in seinem groÉangelegten Prometheusprojekt<br />

(I 62-73 bzw. I 2, 36-51), dessen Diskussion ich als „Labyrinthstudien I“ (NaJ I,<br />

S. 317-387) bezeichnet hatte, wiederum tief in griechische Mythologie eingetaucht und hinter<br />

dieser Maske auch seine Auseinandersetzung mit seiner Elternreligion mit dem Ergebnis voranzutreiben<br />

suchte, daÉ, entsprechend verfremdet, Zeus (anstatt JAHWE) sein von Prometheus<br />

(anstatt von Fritz) vorgewuÉtes Ende à la Aischylos, Der gefesselte Prometheus, (bereits)<br />

durch einen Professor angekÅndigt wurde (I 71 bzw. I 2, 49) – m.W. erstmals in einem<br />

Text des SchÅlers –, berÅcksichtigte ich eine knappe Stichwortauflistung Nietzsches wohl aus<br />

dem Zeitraum Mai-Juli 1859 aus fÅnf Worten<br />

„Monologe.<br />

1. Niobe. 2. Prometheus.<br />

1. Orpheus. 2. Arion.“ (I 78)<br />

und diskutierte unter der äberschrift „II. Scheinbar nur Mythisches... Labyrinthstudien II“<br />

(S. 411-423), was diese vier Stichworte, zu denen der VierzehnjÇhrige aus z.T. rekonstruiertem<br />

Grund offenbar Monologe schreiben wollte, in BerÅcksichtigung antiken Materials fÅr<br />

ihn und seine zuvor entwickelten Fragen und Problemstellungen ‘hergeben’ konnten. Das hat<br />

sich im Ergebnis dann sogar sosehr gelohnt, daÉ ich einigen meiner diesbezÅglichen äberlegungen<br />

erfreulicherweise anderenorts wiederbegegnete; doch MiÉgestimmte wÅrden dergleichen<br />

‘Methoden’ unschwer zu diskreditieren vermÄgen. Bei einem Spurenlesen in zuvor quasi<br />

unbegangenem GelÇnde erscheint mir dieser spurenleseorientierte Ansatz von Na jedoch nicht<br />

nur legitim, sondern so unumgÇnglich, daÉ ich ihn nicht mehr eigens thematisierte.<br />

Ein zweites Beispiel, nun aus NaK, belegt eine weitere kaum minder riskante Spurenleserperspektive,<br />

die ebenfalls nicht immer auf VerstÇndnis stieÉ: Vf. versuchte in Na die Spurensuche<br />

so multiperspektivisch anzugehen, daÉ er bestimmte ProblemzusammenhÇnge, von denen<br />

er ausging, daÉ das Kind oder der Jugendliche Nietzsche aufgrund seiner damaligen<br />

Rahmenbedingungen, seines damaligen Informationsniveaus usw. mit ihnen konfrontiert gewesen<br />

sein muÉte, aus einer antizipiert-rekonstruierten Perspektive dieses Kindes oder Jugendlichen<br />

dann durchspielte. Zur Verdeutlichung das vielleicht brisanteste Beispiel aus NaK:<br />

Nietzsches Vater war an einer rÇtselhaften Gehirnkrankheit gestorben, deren Merkmale zur<br />

Zeit des HÄhepunkts der Anti-Onanieprogramme und -propaganda zumal in den deutschen<br />

protestantischen Kernlanden der Mitte des vorletzten Jahrhunderts als ‘klassische Symptome<br />

des SelbstmiÉbrauchs’ – oder allzu intensiver Ehefreuden – in vieler Munde waren. Es wÅrde<br />

an ein Wunder grenzen, wenn Fritz diesem warnenden, z.T. panikerzeugenden Gerede – in<br />

3.3.2.7., Diskussion der DlJ-Grundthese 1 wurde in (a)(1) samt Anmerkung bereits darauf<br />

verwiesen 133 – im Unterricht des Naumburger Domgymnasiums oder spÇter in Pforte entgangen<br />

wÇre; und an ein noch grÄÉeres Wunder, wenn er mit irgendjemandem darÅber hÇtte sprechen<br />

kÄnnen. Was bedeutet aber diese Konstellation, wenn sich teils in Nietzsches frÅhen<br />

Texten teils in Aussagen oder ErzÇhlungen bspw. seiner Schwester Åber ihn ‘Belege’ finden,<br />

die als Symptome der jahrelangen VerdÅsterung dieses Kindes mitbedacht werden kÄnnten,<br />

sollten, mÅÉten (was u.a. in dem Kapitel „Nietzsches Geschlechtlichkeit – ein SchlÅssel zu<br />

133 In Hermann Josef Schmidt; NaJ I, 1993, S. 201f., wird als Beleg zitiert aus D.S.G. Vogel: Unterricht<br />

fÄr Eltern, Erzieher und Kinderaufseher: wie das unglaubliche, gemeine Laster der zerstárenden<br />

Selbstbefleckung am sichersten zu entdecken, zu verhÄten und zu heilen sei. Stendhal, 1786, S. 17f.<br />

und 19-21.<br />

69


vielem?“, NaK, S. 603-713, dann mit wohl fast allen in diesen ZusammenhÇngen anfallenden<br />

Risiken berÅcksichtigt wurde)?<br />

(b) Doch drei elementare Spurenleserprinzipien wurden in NaK wie folgt exponiert:<br />

„ich frage also nicht nur a) nach den jeweiligen Neben- und Hinterthemen des jeweiligen Textes<br />

und auch nicht nur nach b) dem (synchronen) Kontext, also nach eventuellem Vorkommen oder<br />

Anklingen des nÇmlichen oder zumindest verwandten Themas in anderen Texten des untersuchten<br />

Zeitraums, wobei auch dort wieder Neben- und Hintergrundstimmen besonders beachtet werden,<br />

sondern ich berÅcksichtige selbstverstÇndlich auch c) den (diachronen) Kontext, das heiÉt: einerseits<br />

blende ich immer wieder auf frÅhere ProblembewÇltigungsversuche Nietzsches zurÅck, um zu<br />

entdecken, was sich inzwischen – und in welcher Hinsicht etc. – verÇndert hat, um so auch den eigentlichen<br />

Stellenwert der jeweiligen Probleme fÅr Nietzsche zu identifizieren, sondern ich ziehe<br />

auch spÇtere Texte, am liebsten Texte, die im folgenden Jahr oder den nÇchsten Jahren geschrieben<br />

wurden, bei der Spurensuche (nicht -interpretation) heran.<br />

So gehe ich davon aus, daÉ bei Nietzsche kein Gedanke plÄtzlich wie ein Blitz von oben einschlÇgt<br />

(und einschlagen kann), der nicht in seiner Denk- und Lebensentwicklung eine Vorgeschichte hat.<br />

[...] Diese gilt es zu entdecken, dann zu rekonstruieren, denn sie und die sie zu bewÇltigen trachtenden<br />

(und von ihr wieder beeinfluÉten) leisen inneren SelbstgesprÇche Nietzsches entscheiden<br />

schlieÉlich darÅber, was er an Problemen hat, bearbeitet und wie er das tut etc., was verdrÇngt,<br />

weggeschoben wird, um dann im RÅcken Nietzsches zu rumoren oder ‘plÄtzlich’ wieder auf die innere<br />

BÅhne zu treten.“ (S. 206, Anm. 24).<br />

Mein Spurenlesen formulierte zu rhetorischen Strategemen post- oder metamodernistischer<br />

Konfusionisten ein – nicht (wie gerne unterstellt wird): das! – Gegenprogramm 134 , suchte dieses<br />

in concreto zu demonstrieren, zu reflektieren und zu diskutieren. Vor allem: Es gilt „die<br />

Spur“: sie ist ernstzunehmen und zu verfolgen, denn auf sie kommt es ja nicht nur bei Nietzsche<br />

an. WÇre das Åblich (gewesen), wÇre ich 1980ff. bei der Ausarbeitung der Erosdiabol(et)os-Thematik<br />

geblieben.<br />

3.3.2.11. Nicht nur ein Problem der Balance, sondern der Pfiff von NaK<br />

Wenn, wie in 3.3.2.4. berÅcksichtigt, in DlJ, S. 70f. behauptet wird, daÉ ich „vor allem den<br />

kleinen Religionskritiker in Nietzsche“ betont hÇtte, da dessen Denkentwicklung meiner Auffassung<br />

nach primÇr „in Auseinandersetzung mit dem Christentum“ stattgefunden habe,<br />

Nietzsche in seiner Kindheit also ein ‘versteckter Religionskritiker’ gewesen (NaK, 482,<br />

Anm. 32) sei; und wenn meine Metakritik in der Analyse der in DlJ vorgestellten Argumentationen<br />

auch weiterhin der vom Autor geschlagenen Schneise durch meine äberlegungen und<br />

Analysen in NaK zu folgen veranlaÉt ist, so bitte ich vor allem NaK-unkundige Leser, das<br />

Wort „Schneise“ ernst zu nehmen, denn die in DlJ kritisch diskutierte Perspektive eines kleinen<br />

Christentumskritikers stellt lediglich eine Facette, wenngleich eine unverzichtbare und<br />

nach meiner EinschÇtzung Åberaus bedeutsame, in Nietzsches Entwicklung dar. Das wird<br />

schlieÉlich schon aus dem Untertitel von NaK deutlich, der ja nicht nur hervorhebt, daÉ dieses<br />

„Kind erschreckt entdeckt, wer es geworden ist“, daÉ dieses Kind auch nicht lediglich „seine<br />

‘christliche Erziehung’ unterminiert“, sondern, und das ist erst der entscheidende Punkt, daÖ<br />

dieses Kind „in heimlicher poetophilosophischer Autotherapie erstes ‘eigenes Land’ gewinnt“.<br />

Letzteres aufzuweisen – genauer: daÉ und wie das Kind dabei vorgeht – war vielleicht<br />

134 Um Åber das Spezifische dieses Spurenlesens zu informieren, sind in „I. ZugÇnge [...] C Zu Ihrer<br />

persÄnlichen Information“ bereits als Nr. 1 eine Information „FÅr Spurenleser und Indianer“ (S. 53-<br />

56) und als Nr. 15 „FÅr heterodoxe Spurenleser und andere Hintersinnige“ (S. 97-99) aufgenommen;<br />

„Spurenlesen“ wird freilich auch in den anderen „ZugÇngen“ vorgestellt, diskutiert usw. Vgl. NaK,<br />

Teil I, S. 17, 19, 24, 27ff., 39f., 48ff., 53-56, 63ff., 69, 70f., 76, 87, 93, 95f., 97, 97-99, 107, 112, 120,<br />

146-172, usw.<br />

70


noch mehr als der Aufweis des Unterminierens von Erkenntnis- und GlaubensansprÅchen<br />

ererbten religiÄsen Konglomerats des Kindes Nietzsche eigentliche Leistung; und schon die<br />

Thematisierung und zumal Diskussion dieser Problematik der nunmehr eigentliche Consensus-VerstoÖ<br />

von NaK. Theodizeeprobleme hat wohl fast jedes wache, geistig gefÄrderte und<br />

einigermaÉen eigenstÇndige Kind mehr oder weniger ausgeprÇgt, wenn es mit dem ererbten<br />

monotheistisch geprÇgten religiÄsen Konglomerat eines ethisch akzeptablen ‘lieben Gottes’<br />

konfrontiert und nicht vÄllig weltblind oder fast bis zu ReflexionsunfÇhigkeit indoktriniert<br />

worden ist. Ist die Konfrontation nun jedoch so massiv bzw. sind Inkonsistenzerfahrungen so<br />

drastisch, daÉ ihnen (trotz manchen guten Willens und vielfach prÇsentierter psychischer Beruhigungspillen)<br />

wenigstens kurzzeitig nicht mehr ausgewichen werden kann, dann entscheiden<br />

nicht zuletzt Faktoren wie die QualitÇt der sozialen Beziehungen sowie problemorientierter<br />

Kommunikation, ob (und ggf. wie lange) das betreffende Kind sich beruhigt oder sich ablenkt,<br />

ob (und ggf. wie lange) es resigniert oder vielleicht sogar eine entsprechende Neurose –<br />

im Falle des Kindes Nietzsche keine ecclesiogene, sondern eine „christogene Neurose“ 135 –<br />

entwickelt, die dann wiederum sehr unterschiedlich verlaufen kann.<br />

Was nun Nietzsche betrifft, so gewann ich den Eindruck, daÉ das Kind wÇhrend seiner<br />

letzten Naumburger Jahre 1855-1858 sich vor allem im (zeitweise graecoman 136 geprÇgten)<br />

Spiel mit seinen beiden Freunden, gefÄrdert auch durch bisher nur hochgradig hypothetisch<br />

rekonstruierte Kontakte vor allem mit dem Dichter Ernst Ortlepp, aber auch mit seinem<br />

135 In NaK hatte ich dazu ausgefÅhrt: „Vielleicht ist ‘christogen’ eine NeuprÇgung: schon Åber ‘ecclesiogene’<br />

(oder ‘ekklesiogene’) Neurosen zu sprechen erfordert Mut und gilt gerade hierzulande als<br />

ungehÄrig, ja fast als anstÄÉig; die GrÅnde dafÅr dÅrften mit den GrÅnden nahezu identisch sein, die<br />

auch Nietzsches christentumskritische Schriften vielleicht weniger um ihre Wirkung als um eine angemessene<br />

Diskussion brachten.<br />

Unter einer ‘christogenen Neurose’ verstehe ich im Gegensatz zu einer lediglich ‘ecclesiogenen’ eine<br />

Neurose, die nicht primÇr dadurch ausgelÄst wurde, daÉ sich Christen in der Regel in autoritÇr strukturierten,<br />

straffen Religionsgemeinschaften organisieren lieÉen, was bereits (jenseits spezieller Theologien)<br />

zu zahlreichen Neurosen fÅhren kann, die dann mit Recht als ‘ecclesiogene’, als ‘kirchenentstandene’<br />

bzw. ‘kirchenproduzierte’ verstanden werden (dazu instruktiv Josef Rattner, Tiefenpsychologie<br />

und Religion. Frankfurt am Main und Berlin 1990, S. 211-29), sondern Neurosen, die zumindest in<br />

unseren Breiten speziell vom Christentum (u.a. also von unlÄsbaren Vexierproblemen wie z.B. Theodizeen)<br />

ausgelÄst werden. Die Abgrenzung ist schwierig, doch der verharmlosende Ausdruck ‘ekklesiogen’,<br />

den (im Gegensatz zu ‘christogen’) kaum jemand auf Anhieb verstehen kann, deckt allzusehr<br />

das zu, was in Millionen Einzelschicksalen erlitten wurde und leider noch immer erlitten wird (vgl.<br />

bspw. Eugen Drewermann, Kleriker. Psychogramm eines Ideals. Olten und Freiburg im Breisgau<br />

1989). Es gibt Begriffsbildungen, deren zudeckende Potenz ihre ErklÇrungskraft erheblich beeintrÇchtigt;<br />

‘ekklesiogene Neurose’ gehÄrt vielleicht dazu.“ (S. 1033, Anm. 28). Es blieb bisher und bleibt<br />

hoffentlich einzig einem Klaus Goch vorbehalten, ernstlich zu behaupten, daÉ in NaK „alles, aber auch<br />

alles an und in Nietzsche auf die frÅhe christogene Neurose“ zurÅckgefÅhrt wÅrde (Mehlsuppe, 2009,<br />

S. 300).<br />

136 Selbst noch in seinem m.E. stellenweise faszinierenden „Christentum“-Artikel in Henning Ottmann<br />

(Hg.): Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar, 2000, erwÇhnt und betont<br />

JÄrg Salaquarda, wenn er sich zu Nietzsches Entwicklung ÇuÉert, ausschlieÉlich die Gesichtspunkte<br />

seiner Einbindung in die Åber mehrere Generationen zurÅckreichende protestantische Pfarrerfamilientradition<br />

– „Als Kind und als HalbwÅchsiger war N. selbst praktizierender Christ.“ (S. 381) –, seine<br />

Teilnahme an hÇuslichen Gebeten usw., doch von Nietzsches frÅher Graecomanie und von deren zeitweiligem<br />

Stellenwert erfÇhrt der Leser schlicht nichts. So bleibt der wohl wesentlichste geistige nietzschespezifische<br />

Grundzug seiner spÇten Kindheit vÄllig ausgeklammert. Dabei kannte Salaquarda NaK<br />

so gut wie selten ein anderer. (1995 erzÇhlte er mir wÇhrend seines Aufenthalts in meiner Wohnung<br />

anlÇÉlich seines Besuchs des IV. DNK als Referent, er habe seinerzeit NaK fÅr die „Nietzsche-<br />

Studien“ rezensieren wollen und sich deshalb auf einem Blatt jeden Einwand eigens notiert. Doch<br />

nach etwa 300 Seiten hatte er bereits sÇmtliche EinwÇnde als nicht mehr berechtigt ausgestrichen –<br />

„Ist das nicht langweilig?“ – und deshalb von seiner Rezension auch abgesehen.)<br />

71


GroÉvater David Ernst Oehler sowie den beiden VÇtern seiner Freunde und vielleicht doch an<br />

erster Stelle in ‘poetophilosophischer Eigenarbeit’ sich von seiner ‘christogenen Neurose’ fast<br />

zu befreien vermochte; ein ProzeÉ, der durch die Umverpflanzung des knapp 14jÇhrigen nach<br />

Schulpforta wenn nicht abgebrochen, so doch zeitweise sistiert und anschlieÉend wohl erheblich<br />

verlangsamt wurde. Mit dem zwar nicht mehr in Nak, 1991, sondern erst in NaJ, 1993f.<br />

und seitherigen Arbeiten aufgezeigten Ergebnis von SpÇtfolgen und mannigfachen KollateralschÇden.<br />

Doch fÅr NaK bleibt es dabei: Als eigentliche Leistung dieses Kindes, eine Leistung, die<br />

nirgendwo anders als in seinen eigenen frÄhen Texten eruiert werden kann, wenn deren Leser<br />

Åber die Bereitschaft, sich einzudenken und entsprechende Voraussetzungen verfÅgt, sind<br />

Nietzsches dokumentierte Versuche des ‘Gewinnens eigenen Landes’, der gráÖtenteils erfolgreichen<br />

‘poetophilosophischen’ Versuche des BewÜltigens (s)einer ‘christogenen Neurose’,<br />

einzuschÜtzen. Das wird vor allem in NaK, Teil III: Nietzsche absconditissimus oder Metaspurenlesen<br />

tut not, in extenso gezeigt.<br />

Und genau der Aufweis dieser Leistung des Kindes Nietzsche ist nach meinem Eindruck<br />

erst die eigentliche Provokation fÄr christophile bzw. prochristliche Interpreten. DaÉ ein Kind<br />

sich in produktiver Nutzung seiner SelbstheilungskrÇfte aus seinem christlichen, mit ethischen<br />

und kognitiven Dissonanzen reich gesÇttigten ererbten Konglomerat hochgradig eigenstÇndig<br />

herauszudenken vermag, ja daÉ es selbst eine so nachhaltige christliche Erziehung, wie das<br />

Kind Nietzsche sie erfuhr, zu bewÇltigen, zu transformieren vermag, wie frÅhe Texte Nietzsches<br />

anzunehmen nahelegen, scheint fÅr manchen Leser und leider sogar Interpreten noch<br />

immer kaum ertrÇglich zu sein. Denn einerseits erscheinen, wenn das in NaK AusgefÅhrte –<br />

oder auch: AufgespÅrte? – nicht vÄllig abwegig sein sollte, eigene kindliche NaivitÇt und unterschiedlich<br />

motiviertes seitheriges ‘Bei-der-Stange-Bleiben’ manchem Leser in wenig<br />

schmeichelhaftem, da selbstwertschÇdigendem Licht. So ist prÇmissen- und sonstig orientierte<br />

Gegenwehr kaum mehr verwunderlich. Andererseits freilich ist die in Nietzsches frÅhen Texten<br />

aufspÅrbare Tendenz zu autotherapeutischer Selbstbefreiung auch ermutigend; und sogar<br />

bestÇtigend, wie ich seit 1991 von Lesern mÅndlich und schriftlich zu erfahren die Freude<br />

habe. Schon insofern hat sich meine Arbeit gelohnt.<br />

Und dennoch: auch das hier nur Skizzierte bildet lediglich eine Teilperspektive auf die<br />

Entwicklung des frÅhsten Nietzsche. Nietzsche war auch Kind, konnte selbstvergessen und<br />

selbstbefreiend spielen – ein herausragendes Dokument hierfÅr bietet insbes. Der GeprÄfte –,<br />

lief keineswegs stÇndig mit bedeutungsschwerer Miene als kleiner Pastor durchs saalenahe<br />

Naumburger GelÇnde. Sonst wÇren bspw. seine drei frÅhen Phantasiegedichte (I 307-309 bzw.<br />

I 1, 6-8) 137 wohl von 1854/55 und viele seiner spÇteren Gedichte kaum mÄglich gewesen.<br />

Auch hier also gilt die schon 1983 beschworene „Kunst der Balance“ 138 !<br />

137 Vgl. dazu Ursula Losch und Hermann Josef Schmidt: „Werde suchen mir ein Schwans Wo das<br />

Zipfelch[en] noch ganz“. Spurenlesen im Spannungsfeld von Text, Zeichnung, Phantasie und RealitÜt<br />

beim zehnjÜhrigen Nietzsche. Eine Anfrage an das Publikum. In: Nietzscheforschung. Bd. 1, Berlin,<br />

1994, S. 267-287.<br />

138 Vgl. Hermann Josef Schmidt, Nietzsche, 1983, S. 207.<br />

72


3.4. Argumentations- und BeweisgangsÄberprÄfungen 2: die beiden experimenta crucis<br />

Den eigentlichen Schwerpunkt der NaK-Kritik von DlJ bildet die kritische äberprÅfung<br />

der NaK-Interpretationen der vier Moses-Verse (hier in 3.4.3.) sowie andererseits des Lustspiels<br />

Der GeprÄfte (hier in 3.4.4.) des vermutlich elfjÇhrigen Nietzsche. Deshalb stehen diese<br />

beiden als exemplarische FÇlle angekÅndigten (DlJ, S. 69) experimenta des Autors nicht nur<br />

(1.) im Mittelpunkt dieser Metakritik, sondern sie werden (2.) nun auch ihrerseits einem,<br />

wenn man so formulieren will, schlichte Falsifikationsintentionen Åberschreitenden experimentum<br />

crucis auf ihre eigene Stringenz und SeriositÇt hin unterworfen. Einer sowohl prinzipien-<br />

wie detailorientierten Metakritik der beiden experimenta crucis von DlJ kommt neben<br />

der intendierten direkten Destruktion des doppelten Falsifikationsanspruchs HÄdls nÇmlich<br />

auch (3.) insofern besondere Bedeutung zu, als der Autor bei seinen NaK-Interpretationsanalysen<br />

spÇterer Texte des frÅhsten Nietzsche – wie bspw. der Geburtstagssammlung zum<br />

2.2.1856 – seine an Der GeprÄfte ‘bereits bewÇhrte Kritik’ als so gelungen bzw. zutreffend<br />

voraussetzt, ja inseriert, daÉ er sich damit auch als berechtigt ansieht, Interpretationsprinzipien<br />

bzw. -perspektiven, die in der NaK-Interpretation von Der GeprÄfte in Ansatz gebracht<br />

wurden, als durch DlJ quasi im Huckepackverfahren bereits falsifiziert – genauer: „als hermeneutischer<br />

SchlÅssel nicht haltbar“ (S. 114, Anm. 286) – auffassen zu kÄnnen (vgl. auch in<br />

seiner Zusammenfassung, Punkt 1., S. 130); was freilich selbst dann, wenn seine Kritik der<br />

NaK-Interpretation von Der GeprÄfte in vollem Umfang gelungen wÇre, wenigstens insofern<br />

ein Denkfehler wÇre, als die Annahme ja noch lÇngst nicht gesichert ist, ein ‘hermeneutischer<br />

SchlÅssel’ wÇre bereits dann unanwendbar, wenn er in einem speziellen Fall als fehlerhaft<br />

angewandt oder aber nicht anwendbar aufgewiesen worden wÇre.<br />

Sollte es jedoch der Metakritik gelingen, die DlJ-Kritik in beiden FÇllen nicht nur als unzutreffend,<br />

sondern darÅber hinaus sogar als in sich selbst inkonsistent – idealiter: nicht nur ‘in<br />

der Sache’ hochgradig fehlerhaft, sondern als tendenziÄs, ggf. ‘apologetisch operierend’ –<br />

zurÅckzuweisen, wÇre die Nak-Interpretation einer zu einem so frÅhen Zeitpunkt bereits in<br />

Szene gesetzten Abwendung des Kindes Nietzsche von seiner heimischen Religion zwar<br />

mangels qualifizierter Konkurrenz weiterhin als bei weitem plausiblere und zumal ‘stÇrkere’<br />

Hypothese belegt, jedoch – anders als DlJ unterstellt – auch meinem VerstÇndnis nach schon<br />

deshalb noch lÇngst nicht als zutreffend bewiesen, weil hier schlicht nichts von Relevanz<br />

strikt zu ‘beweisen’ ist, weshalb des Autors wiederholte Forderung nach ‘Beweisen’ lediglich<br />

davon abzulenken scheint, daÉ bereits die Vorlage qualifizierter Hypothesen, worauf es freilich<br />

ankommt, die Diskussion erheblich voranzubringen vermag.<br />

Vor der inhaltlichen äberprÅfung der DlJ-Analysen jedoch (hier nun in 3.4.1.) auch dann<br />

noch ein weiterer Blick auf einige Implikationen usw., wenn das nur noch fÅr methodologisch<br />

usw. Interessiertere von Interesse sein sollte. PrimÇr an der inhaltlichen Diskussion Interessierte<br />

kÄnnen sofort zu 3.4.2. Åbergehen.<br />

3.4.1. Perspektiven, Intentionen und Methoden.<br />

In der erwÇhnten umfangreichen Anmerkung 194, S. 76f., gibt DlJ Einblick in seines Autors<br />

NaK-kritische Intentionen und Methoden: GegenÅber den Interpretationen in NaK<br />

„akzentuiere ich hier den Blick auf die Methode, wie sie Schmidt in der Exegese der Texte anwendet<br />

[...] meine Frage lautet, wie sich Schmidts Interpretation an den konkreten Texten bewÇhrt und<br />

an diesen ausweisen lÇÉt. Der von Schmidt verschiedentlich vorgebrachte Hinweis auf den experimentellen<br />

Charakter seiner Untersuchung und die selbstkritische Reflexion, in der er mancherorts<br />

auf das Hypothetische seiner Interpretation hinweist, scheint mir indessen ein guter Zugang zu<br />

Schmidts LektÅre, da ich mich frage, ob die [/] Thesen, die er als Ergebnisse seiner Untersuchungen<br />

prÇsentiert, sich immer im Rahmen dieser Relativierung der hypothetischen PrÇmissen halten.“<br />

73


Dieser Text belohnt wieder einmal genaue LektÅre, weil in ihm zentrale Informationen gegeben<br />

und Fragen gestellt werden: HÄdl intendiert einen methodologischen HÇrtetest insofern,<br />

als seine Frage lautet,<br />

(1) „wie sich Schmidts Interpretation an den konkreten Texten bewÇhrt und an diesen ausweisen<br />

lÇÉt“. Das bedeutet wenigstens dreierlei:<br />

(1a) ein konkreter Text Nietzsches (bzw. TN) ist Objekt zweier Interpretationen, nÇmlich<br />

der ebenfalls als Text vorliegenden Interpretation des Verfassers in NaK (bzw. TIS) und der<br />

LektÅre bzw. Interpretation von TN sowie TIS durch den Kritiker HÄdl (bzw. IH), der TN<br />

ebenso wie auch TIS seinerseits also zumindest verstehen muÉ usw., bevor er interpretiert<br />

(wobei bereits Verstehensakte nicht interpretationsfrei sind). Mit alledem stecken wir tief in<br />

hermeneutischen Problemfeldern, die ihrerseits weder voraussetzungs- noch hypothesenfrei<br />

und seit vielen Jahrzehnten Gegenstand kontroverser Diskussionen sind... (usque ad infinitum).<br />

(1b) Doch weiter: aus einer in Anwendung von Interpretationskriterien HÄdls (bzw. IKH)<br />

bei einem Vergleich von TIS und IH mit TN ggf. identifizierten Diskrepanz von TIS und IH<br />

schlieÉt nun HÄdl in Bevorzugung von IH aufgrund von IKH, daÉ TIS sich an TN nicht „bewÇhrt<br />

bzw. ausweisen lÇÉt“; und formuliert seinen ‘SchluÉ’ in bspw. DlJ.<br />

Man sieht, daÉ in diese scheinbar so banale Prozedur dennoch eine FÅlle an Vorentscheidungen<br />

eingegangen ist, die ausschlieÖlich zugunsten des Kritikers HÄdl erfolgt sein mÅssen,<br />

Åber deren Akzeptanz seitens der beiden Interpreten von TN jedoch vor einer rationalen Kriterien<br />

entsprechenden Entscheidung Åber Richtigkeit einer Interpretation wie TIS usw. streng<br />

genommen eine Absprache zu erfolgen hÇtte; es sei denn, äbereinstimmung Åber entscheidende<br />

Kontext- und Kriterienfragen usw. kÄnnte vorausgesetzt werden. Bereits beim Versuch<br />

einer entsprechenden Absprache wÅrde sich jedoch zeigen, daÉ im Falle der Interpreten H.G.<br />

HÄdl und H.J. Schmidt eine Reihe von Interpretationskritierien und -perspektiven ebenso wie<br />

von Kontextbeurteilungen usw., die entweder von HÄdl oder aber von dem Verfasser als gÅltig<br />

vorausgesetzt sind, vom Diskussionspartner nicht gleichermaÉen akzeptiert werden.<br />

(1c) Doch damit sind viele der entscheidenden ProblemzusammenhÇnge noch nicht einmal<br />

berÅhrt, geschweige denn erwÇhnt, da der Erfolg einer Kritik nicht nur von der Auswahl des<br />

zur äberprÅfung gewÇhlten Textes TN und damit TIS sowie der jeweils verwandten Interpretationskriterien<br />

abhÇngt, sondern in der Regel auch von einem Ensemble auÉertheoretischer<br />

Faktoren:<br />

(1ca) Kritiker wissen in der Regel nicht nur Texte in BerÅcksichtigung vermeintlicher<br />

Schwachstellen vorliegender Interpretationen so auszuwÇhlen, daÉ ihre eigenen Erfolgschancen<br />

dabei hoch und Verteidigungschancen des Verfassers des kritisierten Textes mÄglichst<br />

gering sind – was dem Erkenntnisfortschritt unter bestimmten Voraussetzungen durchaus<br />

dient –, sondern sie operieren in Anwendung vieler externer Faktoren insbesondere dann,<br />

wenn Kritik die beste Verteidigung eigener Theoreme ist; und wenn bspw. eine inhaltlich<br />

zuvor nicht bekannte Kritik – etwa in einer Monographie anstatt bspw. als Kontroverse mit<br />

gleichzeitigem Pro und Contra in einem unabhÇngigen Fachorgan 139 – eine noch bessere Verteidigung<br />

ist, da eine publizierte Kritik (unabhÇngig von ihrer QualitÇt) einem ‘gut vernetzten’<br />

Kritiker mÄglicherweise einen satten Vorsprung von bis zu 24 Monaten oder mehr einbringt,<br />

wenn der eigene Text bspw. in einer Monographie im Herbst erscheint, eine Replik oder Metakritik<br />

jedoch in einem dem betreffenden Wissenschaftsgebiet gewidmeten Jahrbuch vorgelegt<br />

werden soll, das in der Regel ebenfalls im Herbst erscheint und einen Redaktionsvorlauf<br />

139 Eine derartige Kontroverse erfolgte bspw. zwischen Joergen Kjaer, Nietzsches Naumburger Texte:<br />

synkretistische mythopoetische Theodizee oder antichristliche Theodizeekritik?, in: Nietzscheforschung,<br />

Bd. 2, 1995, 341-367, und Hermann Josef Schmidt, „dergleichen drechselt man als Gymnasiast<br />

auf Bestellung.“ Nietzsches Naumburger Texte, eine Replik auf Joergen Kjaers „andere Interpretation“<br />

nebst einigen prinzipiellen Anmerkungen, in: Nietzscheforschung, Bd. 2, 1995, S. 369-380.<br />

74


von mindestens einem Jahr hat, weshalb dessen im nÇchsten Jahr erscheinender Folgeband<br />

bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens der Kritik (geschweige denn des Abschlusses einer<br />

Replik oder Metakritik) lÇngst ausgebucht ist, so daÉ (wie in diesem Falle) eine Reaktion frÅhestens<br />

im ÅbernÇchsten Band des entsprechenden Jahrbuches 140 vorgelegt werden kann; immer<br />

noch vorausgesetzt, zwischen dem Kritiker und dem Autor einer kritisierten Untersuchung<br />

besteht zumindest ‘Waffengleichheit’ 141 . GlÅcklicherweise vermag ein derartiger 2-<br />

Jahres-Vorsprung mittlerweile bspw. durch Internet und AufklÜrung und Kritik (A&K) vermindert<br />

142 zu werden.<br />

(1cb) Kaum weniger wichtiger freilich: Je nach interpretiertem Text und Ansatz des Interpreten<br />

spielt der Kontext des betreffenden Textes ggf. eine zentrale Rolle. Ebenso wie in (1b)<br />

eine Vereinbarung der an einer Kontroverse Beteiligten in Fragen der Methodologie erfolgen<br />

mÅÉte, wÇre auch im Blick auf textimmanente Kontextfragen eine äbereinstimmung vonnÄten,<br />

die zumindest dann kaum mehr zu erzielen sein dÅrfte, wenn einer der Beteiligten Åber<br />

die MÄglichkeit verfÅgen sollte, textimmanente Kontextfragen bspw. editorisch in seinem<br />

Sinne so vorzustrukturieren, daÉ die engere textimmanente Kontextsituation, die der Textinterpretation<br />

bspw. des Verfassers in NaK zugrundelag (bzw. tK 1 ), erst nach dem Erscheinen<br />

von NaK so modifiziert wurde (in tK 2 ), daÉ zumindest dann, wenn diese AbÇnderung nicht<br />

ihrerseits identifiziert und zum Gegenstand einer diesen Sachverhalt analysierenden Diskussion<br />

(Åber die GrÅnde der Diskrepanz von tK 1&2 ) geworden sein sollte, die Auswahl eines Textes,<br />

dessen NaK-Interpretation nachtrÇglich editorisch tangiert wurde, als exemplum interpretationis<br />

und experimentum crucis sich selbst dann desavouieren dÅrfte, wenn fÅr<br />

eine derartige editorische Modifikation nicht ausschlieÉlich schlechtere GrÅnde sprechen sollten.<br />

(2) In Aufnahme meiner Formulierungen zum experimentellen und hypothetischen<br />

Charakter von NaK sowie dessen Interpretationen, auf die ich „mancherorts“ hinweisen<br />

wÅrde, fragt sich der Autor also, ob die Thesen, die NaK „als Ergebnisse [...] prÇsentiert, sich<br />

immer im Rahmen dieser Relativierung der hypothetischen PrÇmissen halten.“ Diese Frage ist<br />

(a) unter rein logischen Gesichtspunkten scheinbar sehr milde formuliert, denn sie fragt<br />

nur, ob die Ergebnisse von NaK sich in jedem einzelnen Falle „im Rahmen dieser Relativierung<br />

der hypothetischen PrÇmissen“ halten bzw. ob sie dies „immer“ tun. Das bedeutet eine<br />

sehr unterschiedliche Beweislast von Autor und Verfasser insofern, als der Autor den Vorteil<br />

hat, daÉ seine Frage bereits dann verneint werden kann – worauf es ihm ja ankommt –, wenn<br />

er in Nak auch nur eine einzige Interpretation eines einzigen Textes Nietzsches aufzuspÅren<br />

vermag, deren kognitive AnsprÅche er nicht einmal zu widerlegen genÄtigt ist – die NaK-<br />

Interpretation kÄnnte also selbst nach HÄdls Auffassung richtig sein –, da es lediglich genÅgt,<br />

zu belegen, daÉ sie ihren bescheidenen hypothetischen Anspruch zugunsten ‘hÄherkarÇtiger<br />

AnsprÅche’ suspendiert hat oder suspendiert zu haben scheint. Ein Nachteil dieses Ansatzes<br />

fÅr den Autor besteht darin, daÉ selbst ein erfolgter ‘Beweis’ nur wenig leistet, denn: Angesichts<br />

der zahlreichen Interpretationen eines 1000-Seiten-Werks wie NaK ist fast zu erwarten,<br />

daÉ nicht jede von ihnen den Intentionen eines Kritikers zu entsprechen vermag, der ohnedies<br />

140 Einige klÇrende Passagen bietet Hermann Josef Schmidt: Letztes Refugium? In: Nietzscheforschung<br />

18, 2011, S. 237-244.<br />

141 DaÉ derlei Fragen in einer ihrem Anspruch nach konsequent erkenntnisorientierten Disziplin –<br />

„Nur die QualitÇt der Argumente zÇhlt!“ – wie der Philosophie Åberhaupt eine relevante Rolle spielen<br />

bzw. zu spielen vermÄgen, war wohl nicht nur fÅr den Vf. eine schon vor Jahrzehnten irritierende Erfahrung.<br />

142 So erschien im Internet um den 30.5.2010 eine 5 Seiten umfassende erste, nicht ganz bierernste<br />

Reaktion mit Hermann Josef Schmidt: Na endlich! Im vierten Anlauf glorreicher Sieg eines Magisters<br />

der Theologie?, gefolgt im Januar 2011 von Haarscharf daneben, im MÇrz von (V)ERKANNTER<br />

NIETZSCHE?, in: A&K 2/2011, und im Juli 2011 von Apologetenphilologie, der KÅrzestfassung dieser<br />

Metakritik, in: A&K 3/2011 (und jeweils: www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm).<br />

75


nicht veranlaÉt werden kann, den interpretativen AnsÇtzen, Methoden oder Formulierungen<br />

des Kritisierten zustimmen (oder sie auch nur in dessen SprachverstÇndnis ‘lesen’) zu mÅssen,<br />

wenn es darum geht, zu beurteilen, welche Hypothesen oder Thesen sich „im Rahmen dieser<br />

Relativierung der hypothetischen PrÇmissen“ halten und welche nicht. Kurz: nach langen<br />

MÅhen selbst im eher unwahrscheinlichen Fall eines in NaK erfolgreich nachgewiesenen<br />

‘hypothetischen BlindgÇngers’ dennoch kaum mehr als ein Pyrrhossieg, da es HÄdl kaum<br />

mÄglich sein dÅrfte, nachzuweisen, daÉ eine das „Einmalige-Ausnahmen-bestÇtigen-dennochdie-Regel“-Konzept<br />

glaubwÅrdig suspendierende Zahl von Interpretationen in NaK den durch<br />

dessen Vf. strikt vorgegebenen hypothetischen Rahmen sprengt. Wird seitens HÄdls auf einem<br />

NaK zu Unrecht unterstellten Unfehlbarkeitskonzept insistiert? DafÅr ist NaK – anders<br />

als ROMA AETERNA – selbst dann die falsche Adresse, wenn – dann Åbrigens: dankenswerterweise!<br />

– VerstÄÉe gegen das hypothetisch-fallibilistische Konzept eines Verfassers nachgewiesen<br />

werden kÄnnten, der wie auch der Autor von DlJ in anderen, naiv fundamentalistische<br />

WahrheitsansprÅche prÇferierenden ‘sozialen Feldern’ aufgewachsen ist. (Was in Momenten<br />

geringerer oder anders gerichteter Aufmerksamkeit zuweilen dazu fÅhren mag, in seit<br />

Jahrzehnten problematisierte und gemiedene Sprachmuster kurzzeitig zurÅckzufallen.) Doch<br />

all’ das bleibt bis zur Vorlage von HÄdls Belegen hochgradig hypothetisch.<br />

Auffallend ist hier Åbrigens, daÉ es dem Autor in diesem Zusammenhang nicht (mehr)<br />

primÇr darum zu gehen scheint, ob eine Hypothese von NaK berechtigt ist oder nicht bzw. ob<br />

sie ggf. sogar als falsch nachgewiesen werden kann, sondern nur (noch) darum, ob ihr hypothetischer<br />

Status oft genug und fÅr HÄdl auch deutlich genug betont ist [vgl. dazu (2b)]. WÅrde<br />

das bedeuten, daÉ er die Ergebnisse von NaK akzeptieren kÄnnte, wenn sie sich auch nach<br />

seinem Sprachempfinden „im Rahmen dieser Relativierung der hypothetischen PrÇmissen“<br />

hielten? (Was sie nach des Vf.s VerstÇndnis und Sprachempfinden ohnedies tun.) Seine Formulierungen<br />

legen zwar diese Annahme nahe, doch seine Strategie in DlJ ist eine Andere.<br />

Oder hÇtte HÄdl seine beiden experimenta crucis verÄffentlicht, wenn er nicht davon Åberzeugt<br />

gewesen wÇre, sie erfolgreich bewÇltigt zu haben? So ging er offenbar davon aus, daÉ<br />

die damit verbundenen Wahrheitsfragen ohnedies bereits in seinem Sinne positiv entschieden<br />

wÇren. Deshalb gedachte er, um seine Gesamtstrategie (soweit sie aus DlJ erschlieÉbar ist) in<br />

von Nietzsche spÇter geschÇtzten militÇrischen Metaphern zu exponieren, wohl unter Voraussetzung<br />

seines damit gesicherten argumentativen Erfolgs (bzw. der bereits erfolgsgekrÄnten<br />

ersten doppelten Bataille) noch eine zweite Bataille nicht minder erfolgreich zu schlagen:<br />

nach den beiden gelungenen basalen experimenta crucis nÇmlich nun auch noch die Destruktion<br />

nicht nur bereits hochrangiger – wie in 3.5.2. und 3.5.3. diskutiert – methodologischer<br />

AnsprÅche, sondern sogar des vom Vf. zu Unrecht formulierten basalen methodologischen<br />

Anspruchs, sich bei sÇmtlichen Interpretationen „im Rahmen dieser Relativierung der hypothetischen<br />

PrÇmissen“ zu halten. Was im Falle des Gelingens auch dieser zweiten Bataille –<br />

im Sinne eines erfolgreichen experimentum crucis quasi auf der Metaebene – die MÄglichkeit<br />

einer dritten, nun die Kontroverse wohl endgÅltig im Sinne des Autors von DlJ entscheidenden<br />

Bataille, erÄffnet, um erst solcherart den maximalen bzw. totalen interpretativen Sieg mit<br />

besten Erfolgschancen schon deshalb anzustreben, da der bereits in der Einleitung von DlJ<br />

gegenÅber NaK erhobene MonokausalitÇtsvorwurf (und in dessen Hintergrund der mit den<br />

unterstellten VollstÇndigkeits- und epistemischen SicherheitsansprÅchen verbundene Fundamentalismusvorwurf<br />

[vgl. oben 3.2.]) dann weniger unberechtigt erschiene als zuvor. SchlieÉlich<br />

wÇre dann ja nachgewiesen worden, daÉ Vf. sich in NaK nicht an sein bescheidenes methodologisches<br />

Konzept gehalten, sondern statt dessen quasi fundamentalistische epistemische<br />

AnsprÅche prÇsentiert hÇtte. Wiederum ein beeindruckendes strategisches Konzept, auf dessen<br />

argumentative EinlÄsung es freilich ankommt.<br />

Um auf die zu Anfang von (2a) angesprochene Beweislastfrage zurÅckzukommen, lohnt<br />

sich vielleicht, sich kurz zu vergegenwÇrtigen, was es bedeutet, wenn man wie der Autor<br />

bspw. fragt, ob die Thesen, die NaK „prÇsentiert, sich immer im Rahmen [...] der [...] PrÇmis-<br />

76


sen halten.“ Diese Frage wurde als „unter rein logischen Gesichtspunkten scheinbar sehr milde<br />

formuliert“ charakterisiert, da wie skizziert die Beweislast sehr unterschiedlich verteilt ist:<br />

der Kritiker hat den Vorteil, daÉ seine Frage bereits dann verneint werden kann – was Ziel<br />

seines ManÄvers ist –, wenn in Nak eine einzige Interpretation identifiziert werden kann, die<br />

er argumentativ zu ‘kippen’ vermag. Bei der Vielzahl in NaK prÇsentierter Interpretationen<br />

leistet dieser ‘Treffer’ angesichts der seitens des Verfassers anerkannten menschlichen und<br />

damit auch persÄnlichen Fehlbarkeit jedoch schon deshalb nur wenig, weil ein geisteswissenschaftlicher<br />

Kritiker oft nicht einmal veranlaÉt werden kann, seine vermeintliche ‘argumentative<br />

Lufthoheit’ zeitweilig hintanzustellen und bspw. Texte zuerst einmal vollstÇndig, grÅndlich,<br />

sachkompetent und ergebnisoffen zu lesen oder sich gÅtigerweise an deren wesentliche<br />

Inhalte zutreffend zu erinnern. Idealiter mÅÉte also nachgewiesen werden, daÉ nicht nur<br />

irgendeine, sondern – wie etwa im zweiten experimentum crucis – eine entscheidende, basale<br />

Interpretation von NaK unberechtigt ist.<br />

SelbstverstÇndlich gibt es auch fÅr einen Verteidiger bspw. der Interpretationen von NaK<br />

Beweislastprobleme wenigstens dann, wenn er sich auf das in meinen Augen ohnedies verfehlte<br />

fundamentalistische Beweisspiel oder -ziel einlÇÉt, die Richtigkeit aller Interpretationen<br />

in NaK beweisen zu wollen. Das widersprÇche zwar nicht dem experimentellen, widerspricht<br />

aber durchaus dem vielfach betonten hypothetischen Charakter von NaK. Kommt hinzu, daÉ<br />

dessen Verfasser konsequenter Fallibilist ist, ÅberlÇÉt er die Rede von unleugbaren Beweisen<br />

etc. gerne Theologen, Fundamentalisten oder Absolutisten, Åber deren BeweisverfahrensqualitÇten<br />

er sich lÇngst sein Urteil gebildet hat, und hofft statt dessen auf mÄglichst qualifizierte<br />

Widerlegungen, deren inhaltliche QualitÇt und formale Stringenz er sich dann freilich durchaus<br />

zu ÅberprÅfen erlaubt; und spezifiziert auf Anforderung des Autors den hypothetischen<br />

Anspruch von NaK so, daÖ die dort vorgelegten Interpretationen fÅr ihn genau so lange – und<br />

nicht lÇnger – gelten, so lange diese allen konkurrierenden Interpretationen Äberlegen zu sein<br />

scheinen. Da auch der Anspruch auf äberlegenheit einer Interpretation A Åber eine Interpretation<br />

B seinerseits wieder zum Diskussionsobjekt gewÇhlt zu werden vermag, bleibt<br />

(selbst)kritische RationalitÇt gewahrt. Und das genÅgt so lange, bis hochwertigere konkurrierende<br />

Interpretationen vorliegen, die angesichts der frÅhen Texte Nietzsches in einer Phase 1<br />

zwar isolationistisch ansetzen dÅrfen (wie des Autors Kritiken von 1993, 1994 und 1998/99),<br />

jedoch als ernstzunehmende Alternative nur dann gewertet werden kÄnnen, wenn in einer<br />

Phase 2 wenigstens AnsÇtze einer Gesamtinterpretation vorgegeben werden: was hier in DlJ<br />

zumindest von der Intention her erfolgt. Und was ich ausdrÅcklich begrÅÉe und deshalb metakritisch<br />

wÅrdige.<br />

(2b) Andererseits freilich finde ich die Frage unter philosophischen Gesichtspunkten eher<br />

„etwas gewÄhnungsbedÅrftig“, wie Moselaner zuweilen formulieren, da ich als mÄglichst<br />

konsequenter Fallibilist 143 , wenn ich „mancherorts“ 144 auf den hypothetischen Charakter von<br />

Na verweise, diesen damit als fÅr alle Aussagen, Behauptungen usw. von Na gÅltig voraussetze,<br />

so daÉ die Frage, ob ich das nur behaupte oder auch selbst so meine, mangels in diesem<br />

Falle identifizierbarer Differenz auf das quantitative Problem hinauslÇuft, nachzuzÇhlen, wie<br />

oft innerhalb des Textes diese Rahmenvorgabe erwÇhnt oder betont ist. Das geschah nun nach<br />

meinen Empfinden so oft und auch so nachdrÅcklich, daÉ mich eher verwundert, daÉ diese<br />

143 Neben der spezifischen Art zahlreich eingeschobener methodologischen Exkurse usw. kÄnnte dies<br />

auch aus der Literaturliste (S. 1.113ff.) hervorgehen, die in fÅr Nietzscheuntersuchungen eher unÅblicher<br />

Weise Titel bspw. von Hans Albert, Karl Raimund Popper und Ernst Topitsch anfÅhrt. AuÉerdem<br />

ist auf der RÅckseite des zweiten Bandes der Kindheit aus einem Brief von Hans Albert an den Autor<br />

zitiert.<br />

144 Vgl. bspw. NaK, S. 158, 179, 317, 372, 418, 429f., 466, 533, 538, 580, 581-584, 604, 606, 630,<br />

642, 645ff., 653, 664, 682, 684, 691, 693, 698, 699, 700, 701, 703, 709, 729, 766, 767, 768, 769, 771,<br />

778, 779, 787, 804, 807, 817f., 818, 846f, 899, 903, 907, 908, 914f., 928, 939, 940, 967, 968, 987,<br />

990, 992, 1093; S. 255, Anm. 10 usw. usw.<br />

77


Tatsache nicht lÇngst als kritizistische Marotte moniert wurde (eine Marotte freilich, die<br />

Nietzsche spÇter zuweilen zu teilen schien). Dennoch: Die Tatsache, daÉ ich meine äberlegungen,<br />

ãuÉerungen usw. als hypothetisch verstehe, impliziert nicht, daÉ ich (wie auch diese<br />

Metakritik ja zeigt) jede Hypothese als kognitiv usw. gleichwertig, d.h. als durch äberprÅfungen<br />

gleich gut bewÇhrt einschÇtzte. So sind nach Auffassung des Verfassers von Na Differenzierungen<br />

zwar nur im Rahmen des prinzipiell hypothetischen Charakters jedweder philosophischen<br />

und wissenschaftlichen Theorie anzusetzen, doch innerhalb dieses Rahmens werden<br />

Instrumente der Kritik zwecks Destruktion epistemischer AnsprÅche von Hypothesen bestmÄglich<br />

eingesetzt. DaÉ auch andere insbes. certistische und unterschiedlichste ‘begrÅndungstheoretische’<br />

Auffassungen noch immer vertreten werden, ist mir nur zu gut bekannt, da ich<br />

deren SchwÇchen hÇufig genug konfrontiert bin. DaÉ ich zuweilen derlei Strategeme wie im<br />

Falle meiner äberprÅfung einer als „unleugbar“ sicher behaupteten BeweisfÅhrung nicht<br />

durchgÇngig auf sich beruhen lasse, mÅÉte der Autor noch erinnern 145 .<br />

3.4.2. Inhaltliche âberprÄfung anhand der Interpretationen von 2 frÄhen Texten<br />

Der Autor hat sich zur äberprÅfung der interpretativen QualitÇt von NaK zwei Texte des<br />

Kindes Nietzsche ausgesucht, deren Ortung und Beurteilung sowohl editorisch wie interpretativ<br />

schon deshalb zahlreiche Fragen aufwirft, weil in weit hÄherem MaÉe als bei vielen Texten<br />

des spÇteren Nietzsche textimmanente ebenso wie textexterne Kontextfragen von Bedeutung<br />

sind. So mÄgen editorische von interpretativen Distinktionen idealiter zwar unschwer<br />

unterscheidbar sein, realiter bzw. in concreto hingegen sind sie aber nicht nur zuweilen auf<br />

komplexe Weise miteinander verflochten, sondern sogar in so hohem Grade verschmolzen,<br />

daÉ ein Editor auch als Interpret entscheidet und ein Interpret Editionsfragen nicht ausklammern<br />

kann, wenn er auch nur einigermaÉen problemoffen, -einsichtig und -angemessen urteilen<br />

mÄchte.<br />

Die Manuskriptsituation ist in beiden FÇllen nicht ganz einfach zu beurteilen, denn sowohl<br />

der „Moses-Vierzeiler“ (I 313 bzw. I 1, 320), wie NaK diese vier Verse in der Handschrift des<br />

Kindes Nietzsche meist nennt, als auch ein fast komplettes TheaterstÅckchen, ebenfalls in der<br />

Handschrift des Kindes Nietzsche, dessen Titel (dank eines Registers von Namen und Personen;<br />

I 331 bzw. I 1, 109f.) als Der GeprÄfte (I 327-330 bzw. I 1, 105-109) rekonstruiert werden<br />

kann, sind weder datiert noch aufgrund ÇuÉerer oder innerer Merkmale prÇzise datierbar;<br />

allerdings sind der Moses-Vierzeiler ebenso wie Der GeprÄfte glÅcklicherweise nicht auf losen<br />

BlÇttern, sondern jeweils in eine Kladde bzw. in ein Heft eingetragen, so daÉ mancherlei<br />

ZusammenhÇnge berÅcksichtigt werden kÄnnten, wenn auf derlei Wert gelegt werden sollte.<br />

Im Goethe-Schiller-Archiv Weimar (GSA) lÇÉt sich wie zuletzt am 25./26.8.2010 die Manuskriptsituation<br />

usw. ÅberprÅfen und im Rahmen des nach mehr als anderthalb Jahrhunderten<br />

noch Rekonstruierbaren wohl auch beurteilen.<br />

Was Fragen der Edition beider Texte, Interpretationsfragen, Kritik und Metakritik betrifft,<br />

stellt sich die Konstellation leider als so komplex dar, daÉ ich in Details flexibel nach folgendem<br />

Schema vorgehe: Ich diskutiere beide Texte nach MÄglichkeit voneinander getrennt und<br />

dabei so, daÉ ich (ohne stÇndig zu nummerieren) auf einer ersten Stufe jeweils die Textsituation<br />

(‘Autographenebene’) skizziere und auf einer zweiten dann Editionsfragen berÅcksichtige.<br />

Erst auf einer dritten Stufe wende ich mich Interpretationsfragen zu, fÅhre auf einer vierten<br />

Divergenzen der Interpretation in NaK und seitens HÄdls an, um auf einer fÅnften Stufe<br />

die Kritik von HÄdl zu beurteilen, bevor ggf. auf einer sechsten Stufe Fragen angesprochen<br />

werden, die die Interpretation beider Texte und ihres ggf. rekonstruierbaren Zusammenhangs<br />

betreffen (wobei wiederum die ggf. vorliegende Sichtweise oder Kritik von HÄdl dazu be-<br />

145 Vgl. Hermann Josef Schmidt: Der alte Ortlepp 1 , 2001, S. 33-206, bzw. Der alte Ortlepp 2 , 2004, S.<br />

33-143.<br />

78


Åcksichtigt sowie ÅberprÅft wird). Schon der komplexe Argumentationsaufbau zeigt: wir<br />

bewegen uns in vermintem GelÇnde...<br />

... und tanzen, was den Vf. betrifft, in schweren Ketten, denn Spurenlesen auf eine Weise<br />

testen zu wollen, die genau dasjenige, was Spurenlesen gegenÅber anderen Interpretationen<br />

auszeichnen kÄnnte, schon vom Ansatz her geradezu prinzipiell zu minimieren scheint, stellt<br />

einen potenzierten HÇrtetest dar: Wie ein Patchwork sich von einer Pyramide oder einem Netz<br />

prinzipiell unterscheidet, so unterscheidet sich eine normale, sich mÄglichst auf winzige Details<br />

spezialisierende oder eine eher ‘axiomatischen’ Idealen folgende Interpretation von einem<br />

Spurenlesen, wie es in Na durchgefÅhrt wurde, das jedoch umso leistungsfÇhiger wird, je<br />

mehr Knoten (d.h. Texte) in dem rekonstruierten Gedankennetz syn- und diachron 146 berÅcksichtigt<br />

werden kÄnnen. Wollte man das LeistungsvermÄgen von Nak ernsthaft testen, so wÇren<br />

bspw. die Autobiographie vom Sommer 1858 oder einige der in Nak als zentral aufgewiesenen<br />

Texte des nÇmlichen Jahres auszuwÇhlen. Die Wahl der fast am Anfang der mit eigenen<br />

Texten belegten Entwicklung des Kindes Nietzsche anzusetzenden Moses-Verse und des<br />

wohl nur wenig spÇter zu datierenden Lustspiels Der GeprÄfte hat also ganz spezifische<br />

GrÅnde; GrÅnde, die vielleicht nicht nur in kritisch PrÇsentiertem selbst zu vermuten sind (dazu<br />

unten ab 3.6.).<br />

Die Wahl der NaK-Interpretationen der Moses-Verse und des Lustspiels Der GeprÄfte als<br />

Gegenstand der beiden experimenta crucis zwingen den Vf. zwar zum Tanz in schweren Ketten,<br />

doch diese kÄnnten eine Schwungmasse Åberraschenden Effekts bilden.<br />

3.4.3. Experimentum crucis I: Der Moses-Vierzeiler (DlJ, S. 80-93)<br />

Dank des Eintrags in eine Kladde wirft die Textsituation des Moses-Vierzeilers weniger<br />

Probleme auf als mancher andere Text des frÅhsten Nietzsche: Die nur in Bleistift eingetragenen<br />

Verse finden sich lt. ZÇhlung Mettes auf der S. 14 eines Duodezheftes, dessen S. 5 die<br />

äberschrift „Festungsbuch“ erhielt und militÇrtechnische Informationen sowie Zeichnungen<br />

von Kriegsschiffen usw. enthÇlt. Die Annahme, die Verse wÇren erst nachtrÇglich in dieses<br />

Heft eingetragen worden, liegt nahe, weil sich die zentrierte Zeichnung eines Schiffes und die<br />

vier Verse geringfÅgig Åberschneiden (vgl. I 1, 50).<br />

3.4.3.1. Editionsfragen<br />

Was nun die Art der Edition dieses Moses-Vierzeilers betrifft, so haben wir es – in diesem<br />

Falle: wenigstens der Verfasser – nicht nur mit zwei, sondern streng genommen mit sogar drei<br />

verschiedenen ‘Editionen’ zu tun. Dazu nun leider etwas genauer.<br />

(a) Die m.W. erste Edition dieser Verse erfolgte im Anhang des ErÄffnungsbandes der<br />

HKGW I, 1933, der mit Ausnahme der Autobiographie Aus meinem Leben des DreizehnjÇhri-<br />

146 Vf. befÅrchtet, seiner „Spurenlesemethode“ vielleicht bereits mit diesem Text eine Art Schwanengesang<br />

zu widmen, denn: Spurenlesen à la Na setzt genau dasjenige voraus, was lÇngst von wohl jedweder<br />

roten Liste genommen wurde: entspanntes Nachdenken und im GedÇchtnis hunderte einzelner<br />

‘Knoten’ zu behalten. Ohne beides jedoch findet kein Spurenlesen statt. Wenn ich berÅcksichtige,<br />

unter welchem extern produzierten Druck heutzutage wenigstens hierzulande viele Hochschulkolleg(inn)en<br />

stehen, wundern mich HÇppchenproduktion und EindimensionalitÇt nicht nur nicht, sondern<br />

lÄsen – als unter z.T. kaum mehr zumutbaren Bedingungen erarbeitet – fast schon Hochachtung ab.<br />

Die parteiÅbergreifend durchgesetzte Demontage tradierter UniversitÇten zugunsten von Ausbildungsbetrieben<br />

– die Verfachhoch- ja Verfachschulung ‘des Geistes’ – mit pseudoeffizienten, modulgesegneten<br />

AusbildungsgÇngen dÅrfte auch seriÄser <strong>Nietzscheinterpretation</strong> ein baldiges Ende bereiten,<br />

denn Nietzschespezifika, wie in Entnietzschung, 2000, Der alte Ortlepp 1 , 2001 und Der alte Ortlepp 2 ,<br />

2004, aufgelistet oder hier verdeutlicht, zu eruieren und kritisch umzusetzen setzt mittlerweile wohl<br />

allerorten suspendierte Rahmenbedingungen voraus. Das telephonisch Åbermittelte halb belustigte und<br />

halb verzweifelte AufstÄhnen eines sehr geschÇtzten Kollegen nach LektÅre der Entnietzschung –<br />

„Was bleibt denn dann noch fÅr mich?“ – muÉ kein Einzelfall geblieben sein.<br />

79


gen aus dem Sommer 1858, deren Abdruck den Band erÄffnet (I 1-32), einen GroÉteil der<br />

restlichen Texte des Kindes auf den Seiten 305-447 in kleinerem Druck bietet sowie dazu S.<br />

459-466 einen sehr knappen Nachbericht beifÅgt. Die Verse selbst finden sich inmitten eines<br />

Versuchs eines militÇrtechnischen Lexikons im Kontext der (den Krimkrieg von 1853 bis<br />

wenigstens zum Fall Sepastopols am 9.9.1855 begleitenden) Kriegsspiele der drei Freunde<br />

Fritz, Wilhelm Pinder und Gustav Krug, wobei keine der aufschluÉreichen Zeichnungen des<br />

Heftes usw. zum Abdruck gelangte (I 323). Der nÇhere Kontext besteht aus weiteren militÇrtechnischen<br />

Aufzeichnungen (I 312-327), die vom Hg. Hans Joachim Mette auf 1854-1855<br />

datiert wurden, sowie einigen anderweitigen Einsprengseln einschlieÉlich zweier Kriegslieder<br />

(Vor dem Kr. und Nach dem Kriege; I 319f.) Zu dieser Edition hatte sich d. Vf. in NaK mehrfach<br />

und z.T. sogar Åberkritisch geÇuÉert – nicht zuletzt, um fÅr die Neuedition in der KGW,<br />

die mÅhsam genug durchgesetzt werden muÉte, zu werben. DaÉ die Kindertexte Nietzsches<br />

mit Ausnahme der den ersten Band erÄffnenden Autobiographie des SpÇtsommers 1858 in<br />

wohl optimaler Auswahl ‘nur’ im Kleindruck und ‘nur’ in den Anhang aufgenommen wurden,<br />

war 1933 wohl das Maximum des damals Noch-Erreichbaren 147 und verdient hohe Anerkennung.<br />

(b) Die ‘zweite Edition’ stellt eine Kopie eines zu begutachtenden Manuskripts dar: Letzteres<br />

ging dem das Unternehmen der Edition der Texte der Kindheit und restlichen SchÅlerzeit<br />

(mit Ausnahme des Briefwechsels) in der KGW I 1-3 im Auftrag des çFF fachgutachterlich<br />

begleitenden Vf. neben einer Reihe anderer Unterlagen, den Folgeband I 2 usw. betreffend,<br />

als Manuskript des Bandes I 1 (mit einem Vorwort des Hg. vom 21. MÇrz 1994) im FrÅhsommer<br />

1994 zur Beurteilung zu, die mit dem Datum des 29. Juli 1994 erfolgte. In diesem im<br />

Rahmen des MÄglichen streng chronologisch angeordneten, um die zahlreichen Zeichnungen<br />

des Kindes Nietzsche bereicherten Manuskript von 272 Seiten, dem ein erster Anhang mit<br />

Festtagsgedichten (Nachschriften) und Schulmaterialien von Anfang 1851 bis Sommer 1858<br />

(S. 273-288) und, mit neuer SeitenzÇhlung angefÅgt, ein zweiter Anhang (A 1-105) sowie<br />

eine Abschrift einiger Kirchenlieder (A 106-110) beigefÅgt wurde 148 , waren die vier Moses-<br />

Verse zur Freude des Gutachters in sogar doppelter Version prÇsent: als Text und als Faksimile,<br />

die Handschrift des Kindes Nietzsche sowie die erwÇhnte Zeichnung eines Kriegsschiffes<br />

dem Betrachter bietend (S. 35 bzw. 1 [33-34]). Was die Anordnung der Texte betrifft, so hielt<br />

sich das Skript weitestgehend sowohl an die zeitlichen Vorgaben wie an die Reihenfolge der<br />

Texte in der HKGW I: so findet man bspw. wie in der HKG die beiden Kriegslieder (S. 23;<br />

vgl. I 319f.) deutlich vor den Moses-Versen und ein titelloses, den Fall Sepastopols betrauerndes<br />

Gedicht dem Lustspiel Der GeprÄfte (S. 45-48; vgl. I 327-330) ebenso deutlich nachgeordnet<br />

(S. 51; vgl. I 332). GegenÅber dem HKG-Band zeichnete sich das Manuskript u.a.<br />

auch durch die Aufnahme weiterer, z.T. sogar Çlterer Texte und vor allem aller – mit einer<br />

(auf meinen Vorschlag hin jedoch noch positiv korrigierten) Ausnahme – mir bekannt gewordenen<br />

zahlreichen Zeichnungen des Kindes aus.<br />

(c) Der im Sommer 1995 erschienene Band I 1 der KGW unterscheidet sich Åberraschenderweise<br />

jedoch deutlich und zumal im Blick auf die in DlJ nun noch weiter spezifizierten<br />

interpretativen Divergenzen von NaK und HÄdl in fast schon kontroversenvorstrukturierender<br />

Weise: Das dem Gutachter des çFF vorgelegte Skript ist (wohl noch wÇhrend der Vorberei-<br />

147 Karl Schlechta hatte mir in den spÇten 1970er Jahren erzÇhlt, Elisabeth, „die alte LÄwin“, habe vor<br />

allem die frÅhsten Texte ihres Bruders bewacht und sei dagegen gewesen, eine grÄÉere Auswahl in die<br />

Edition Åberhaupt aufzunehmen. Es wÇre ein KunststÅck Mettes gewesen, ihr zahlreiche Texte abzuluchsen.<br />

War der Kleindruck auch ein Trick, der mittlerweile sehr sehbeeintrÇchtigten Greisin eine<br />

genauere Kontrolle zu erschweren?<br />

148 Meine Auflistung des noch wenig geordnet wirkenden Anhangs wirkt zwar etwas eigenartig, doch<br />

dank der sorgsamen Vorlage fast aller Texte selbst ging ich davon aus, die Zusammenstellung des<br />

Anhangs wÇre unter Zeitdruck erfolgt; und die auffÇlligen Unebenheiten wÅrden in der Edition ohnedies<br />

geglÇttet (was dann ja auch erfolgte).<br />

80


tungen zum Druck und von dritter Seite 149 veranlasst), so erheblichen, von Mettes Edition<br />

abweichenden – und in besonderem MaÉe Nak-relevanten – inhaltlichen sowie sogar konzeptionellen<br />

VerÇnderungen unterzogen worden, daÉ diese ãnderungen, wÇren sie bereits in dem<br />

Manuskript, das dem Gutachter zur Beurteilung vorgelegt worden war, enthalten gewesen,<br />

von diesem niemals ohne stichhaltige BegrÅndung akzeptiert worden wÇren. Die VerÇnderungen<br />

betreffen u.a.<br />

(1) die Herausnahme der Moses-Verse aus ihrem ursprÅnglichen Kontext (sie befinden sich<br />

nun vÄllig kontextfrei 150 im Anhang, S. 320; dazu unten);<br />

(2) die Position von Der GeprÄfte, denn das Lustspiel ist nun an das Ende der ‘militÇrtechnischen<br />

Aufzeichnungen’ und der damit verbundenen Orakelspiele (I 1, 9-102) und zeitlich sogar<br />

noch nach das den Fall Sepastopols betrauernde Gedicht (I 1, 103) gerÅckt;<br />

(3) auÉerdem wurde auch noch eine wohl nur sorgsamen Lesern deutliche VerÇnderung in der<br />

Datierung vorgenommen: Der gesamte Textblock 1 wurde (anstatt wie in der HKGW I auf<br />

149 Von „dritter Seite“ meint, daÉ ich mit allem Nachdruck ausschlieÉe, Johann Figl, Herausgeber des<br />

Bandes, habe zuerst ein Manuskript in einer Form eingereicht, von der er wuÉte, daÉ der ihm namentlich<br />

bekannte Gutachter keinen Einspruch erheben wÅrde, um aus freien StÅcken dann jedoch nachtrÇglich<br />

die entsprechenden ãnderungen vorzunehmen.<br />

150 Auf die ErklÇrung im Nachbericht kann man gespannt sein; in DlJ gibt die Anm. 205, S. 83, einen<br />

etwas dubiosen Hinweis: „da die Niederschrift auch in dem entsprechenden Manuskript keinen erschlieÉbaren<br />

Kontext hat, ist sie unter den Nachschriften im Anhang abgedruckt“. Was heiÉt hier<br />

„auch“? AuÉerdem: Ist den Verantwortlichen erst im Sommer 1994 aufgefallen, daÉ es fÅr die Moses-<br />

Verse „keinen erschlieÉbaren Kontext“ gibt? Doch zuvor wurde die Anordnung des renommierten Hg.<br />

der frÅheren Edition, dessen Anordnungen man in der Regel folgte, respektiert? AuÉerdem wurde der<br />

Text einem Fachgutachter, der dazu bereits 1991 publiziert hatte, in von KGW I 1 massiv abweichender<br />

Form, genauer: im ursprÅnglichen und auch von Mette respektierten Kontext vorgelegt? Das<br />

meint: Die Mosesverse waren in dem Skript, S. 35 oben, so aufgenommen, daÉ links die Verse transkribiert<br />

gegeben und rechts daneben diese Verse dankenswerterweise in Nietzsches Kurrentschrift<br />

ebenso wie die Zeichnung eines Segelschiffs, Åber das diese Verse gesetzt worden waren, als Faksimile<br />

prÇsentiert wurden. Damit waren diese vier Moses-Verse die einzigen Verse des Kindes, die in dessen<br />

eigener Handschrift in den ErÄffnungsband der KGW aufgenommen werden sollten. Doch im<br />

Druck entfielen sie nicht nur in Nietzsches Schrift, sondern sie wurden auch in den falsch betitelten<br />

Anhang „Festtagsgedichte und Schulmaterialien“ (I 1, 313) versetzt. (Warum mÅssen Nietzschetexte<br />

denn in der KGW unter mehrfach wechselnden Prinzipien hin- und herrangiert werden, was ich schon<br />

in meiner Kritischen Expertise zur KGW fÅr Wolfgang MÅller-Lauter aus dem FrÅhjahr 1988 monierte,<br />

anstatt sie bescheiden an ihrem Platz zu belassen, Nietzsches Texte also in dem ihnen eigenen Kontext<br />

zu respektieren und dem Urteil mÄglicherweise Kompetenterer nicht vorzugreifen? Erst die IX.<br />

Abteilung dieser Edition folgt nun denjenigen GrundsÇtzen, die in Abstrichen auch im ersten Band der<br />

ersten Abteilung hÇtten beherzigt werden sollen.)<br />

SchlieÉlich: was heiÉt hier „Nachschrift“? Sind „Festtagsgedichte und Schulmaterialien“ Nachschriften?<br />

Auch die Moses-Verse sind streng genommen keine Nachschrift.<br />

äbrigens findet sich bereits im auf den 26.10.1994 umdatierten, in zentralen Passagen umgeschriebenen<br />

und erweiterten Vorwort des Bandes, die entscheidende konzeptionelle VerÇnderung, daÉ nicht<br />

mehr „im vorliegenden [!!] Band [...] erstmals vollstÇndig [!!] die [!!] frÅhesten Aufzeichnungen aus<br />

der Kindheit und Jugend Nietzsches verÄffentlicht“ werden (Skript, p. III, Vorw. vom 21.3.1994),<br />

sondern daÉ dies nunmehr „in der Abteilung I“ (I 1, p. V) geschieht. Das lÇuft bereits hier wie auch in<br />

spÇteren Passagen auf eine Minimierung des Anspruchs auf VollstÇndigkeit im vorliegenden Band<br />

(sowie in den weiteren BÇnden I 2, 2000, und I 3, 2006) hinaus; und auf Legitimation der Herausnahme<br />

von Texten aus dem Gutachterskript sowie deren Auslagerung in einen idealiter damit aufzuwertenden<br />

– wenig erwÅnschte Diskussionen freilich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschiebenden,<br />

auÉerdem keiner gutachterlichen Stellungnahme mehr ausgesetzten, ‘frei’ gestaltbaren – Nachbericht,<br />

der erst viele Jahre nach dem Kindheitsband, ggf. nach Inaktivierung des Verfassers oder vielleicht<br />

sogar niemals vorgelegt wird?<br />

81


1854-1855 und im Skript auf 1853-1855) nun auf „1854-Anfang 1856“ umdatiert. Auch dazu<br />

spÇter mehr.<br />

SchlieÉlich zeichnet sich der ausgedruckte Band gegenÅber dem Manuskript, das dem Gutachter<br />

prÇsentiert wurde, noch u.a. durch die Entfernung weiterer konsequenzenreicher, Lesern<br />

von NaK oder Teilnehmern des III. Dortmunder Nietzsche-Kolloquiums im Juli 1993<br />

bzw. Lesern des Vortrags von Ursula Losch und dem Verfasser nicht unbekannter Texte sowie<br />

Zeichnungen aus: so fehlen nun u. a.<br />

(4) die beiden im Skript S. 4f. als 1 [4Z] und 1 [7Z] enthaltenen wichtigen Zeichnungen 151 aus<br />

dem winzigen Heftchen, in das drei frÅhe Phantasiegedichte eingetragen sind; es fehlen<br />

(5) aus Alfonso (I), vielleicht dem SchlÅsseltext von 1857, sÇmtliche Verse des Skripts, S.<br />

166; es fehlt auch<br />

(6) die sich von der Endfassung deutlich unterscheidende Vorstufe der „Kleinen Weihnachtsgabe“<br />

an Nietzsches Mutter 1857 (im Skript S. 187-189 bzw. 3[13]).<br />

Alles im Blick auf die Interpretationen von NaK keineswegs periphere VerÇnderungen?<br />

Soweit die Faktenebene im ersten UmriÉ; und nun wieder zurÅck zu den Moses-Versen, deren<br />

Interpretation in NaK ja das erste experimentum crucis der interpretativen SeriositÇt von NaK<br />

darstellen soll...; und deren nachtrÇgliche Herausnahme aus ihrem Kontext als editorische<br />

Entscheidung hier nun zur Diskussion steht. (Zu Editionsfragen vgl. auch 3.4.4.2., 3.6.2 und<br />

3.6.5.)<br />

Deshalb in aller Deutlichkeit die Frage: Wer ist dem verdienstvollen Herausgeber, der dem<br />

çFF ein bei weitem gegenstandsangemesseneres Skript zur Begutachtung vorgelegt hatte,<br />

noch vor dessen Drucklegung so erfolg- und konsequenzenreich in die Parade gefahren?<br />

Dieser Moses-Vierzeiler, der frÅhste Text des Kindes Nietzsche, in dem der Verfasser von<br />

NaK Theodizeeprobleme des Kindes Nietzsche zu identifizieren glaubte, wurde nÇmlich nicht<br />

nur aus seinem Kontext, der diese Verse flÅchtigen Lesern als besonders Åberraschend erscheinen<br />

lassen muÉte – also einen Aha-Effekt auslÄsen konnte –, entfernt, weshalb auch das<br />

Faksimile, das ein Segelschiff und die Verse als Autograph bietet, zugunsten der Beseitigung<br />

der Verse entsprechend verÇndert wurde, sondern als Text in einen Anhang ausgegliedert und<br />

damit aus seinem Kontext isoliert, weshalb er, Åbliche Lesegewohnheiten vorausgesetzt,<br />

leicht als weniger interessant Åbergangen und damit wenigstens partiell entschÇrft werden<br />

dÅrfte, sondern auÉerdem auch noch<br />

(7) falsch etikettiert, denn der Anhang ist Åberschrieben mit „Festtagsgedichte und Schulmaterialien“.<br />

SchlieÉlich ist der Moses-Vierzeiler weder ein Festtagsgedicht noch ist er unter<br />

„Schulmaterialien“ zu rubrizieren.<br />

So handelt es sich bei der Entnahme aus seinem Kontext und der Eingliederung in einen<br />

wie erfolgt bezeichneten Anhang nicht nur um eine der Begutachtung entzogene MaÉnahme,<br />

sondern auÖerdem noch um eine in der Sache hochproblematische Etikettierung. Schlimmstenfalls<br />

sogar um eine wohlÅberlegte nachtrÇgliche EntschÇrfung? Doch warum? Jedenfalls<br />

wurde die Zeichnung des Schiffes, Åber die die Moses-Verse geschrieben worden waren, so<br />

bearbeitet, daÉ wenigstens das SchluÉwort der Moses-Verse, „Kanaan“, ursprÅnglichen Orts<br />

151 Ursula Losch und Hermann Josef Schmidt: „Werde suchen mir ein Schwans, 1994, S. 267-87. EigentÅmlicherweise<br />

fand die damals der Diskussion zugrundegelegte, an die Wand des HÄrsaals projizierte<br />

Nachzeichnung einer in das winzige Skript der drei Phantasien des etwa ZehnjÇhrigen (I 307-<br />

309 bzw. I 1, 6-8) eingefÅgten Zeichnung (aus dem Verfasser unbekannten GrÅnden) ebenfalls nicht<br />

ihren Weg in die Druckfassung des Vortrags, dem auch Johann Figl und Hans Gerald HÄdl zugehÄrt<br />

hatten, obwohl sie mit dem Manuskript eingereicht worden war. Zufall oder eine nahezu zeitgleiche<br />

Berliner Parallelaktion?<br />

82


erhalten blieb (vgl. I 1, 50); weshalb grÅndliche Leser die ursprÅngliche Konstellation zu rekonstruieren<br />

(und die betr. Argumentation des Vf.s zu ÅberprÅfen) vermÄgen.<br />

3.4.3.2. Interpretationsfragen<br />

Wie interpretiert NaK (S. 179-184 u.Ä.) die Moses-Verse<br />

„Moses der groÉe Gottesmann<br />

Fing an der Stell zu zweifeln an<br />

ob Wasser aus den Felsen kann<br />

Drum durft er nicht nach Kanaan.“ (I 323 bzw. I 1, 320)<br />

und was moniert der Autor aus/mit welchen GrÅnden an der Nak-Interpretation des Moses-<br />

Vierzeilers? Ersteres wÇre hier leider nur um den Preis deutlicher Erweiterung dieser Metakritik<br />

aufnehmbar, dafÅr jedoch werden EinwÇnde HÄdls umso genauer berÅcksichtigt.<br />

(1) Die Ausgangslage: in meinen BeitrÇgen von 1983f. (und in einigen freilich bei keinem<br />

Nietzscheinterpreten kursierenden Exemplaren meiner Nak-Fassung vom FrÅhjahr 1984)<br />

wurde die mit der HKGW I kongruente Auffassung vertreten, bei diesen Versen handele es<br />

sich wie auch bei den beiden Kriegsliedern und der Sepastopol-Klage um Verse Nietzsches,<br />

die mit bis zu 6 Deutungshypothesen unter der Voraussetzung moralisch motivierter Theodizeeprobleme<br />

des Kindes Nietzsche mit dem Schicksal eines Moses zu erklÇren gesucht wurden,<br />

der von einem auf permanente Devotion setzenden Gott – „Beugen unter Gottes gewaltige<br />

Hand“ war ein noch oftmals zitiertes Motto von Nietzsches Mutter 152 – wegen eines situationsbedingt<br />

verstÇndlichen Zweifels selbst gegenÅber einem vÄllig verdienstlosen bspw.<br />

wÇhrend der WÅstenwanderung erst geborenen SÇugling benachteiligt wurde, da dieser im<br />

Gegensatz zu Moses durchaus nach Kanaan ‘durfte’.<br />

In einem Brief vom 26.3.1988 teilte Reiner Bohley dem Verfasser jedoch mit (vgl. NaK, S.<br />

179f., Anm. 7), daÉ es sich bei diesen Versen anders als bisher vermutet nicht um ein originales<br />

Gedicht Nietzsches, sondern nur um eine Paraphrase der Verse des Moses-Brunnens 153 an<br />

der StraÉe von Naumburg zur SchÄnburg handele. So erzÇhlte 154 er, daÉ, als er diese Verse<br />

einmal vor sich hin gesprochen habe – sie bzw. meine Interpretation von 1984 mÅssen ihn<br />

also nachhaltig beschÇftigt haben –, seine 10jÇhrige Tochter Agnes, die das zufÇllig hÄrte, ihn<br />

korrigierte, da sie einen Ferienaufenthalt auf der SchÄnburg wahrgenommen und sich diese<br />

Verse in geringfÅgig abweichender Version gemerkt hatte. So lieÉ sich die Angelegenheit<br />

aufklÇren, weshalb Pastor Bohley mir als Denkzettel mitgab, der Vierzeiler kÄnne so „wohl<br />

152 So Nietzsches Mutter in einem Brief an ihren Bruder Ernst Detlev Oehler vom 25.05.56 (GSA<br />

100/1246; Adalbert Oehler: Nietzsches Mutter. MÅnchen, 2 1941, S. 66); und in ihrem spÇten Autobiographiefragment<br />

Mein Leben, 1895: „gleichzeitig mir immer wieder wie ein vÇterlicher Zuruf erklingend,<br />

nicht unter der Last zu verzagen, sondern mich unter Gottes gewaltige Hand still [!!] zu beugen.“<br />

Zit. nach Ursula Schmidt-Losch: „Leben“, 2001, S. 81.<br />

153 Zum Mosesbrunnen vgl. Aufnahme und Text in Roland Dressler, Hermann Josef Schmidt und<br />

Rainer Wagner: Spurensuche 1844-1869. Friedrich Nietzsches Lebensstationen. Erfurt, 1994, S. 62f.;<br />

die SchÄnburg S. 64f. und 96f.<br />

154 Leider entdeckte ich erst im FrÅhjahr 2012, daÉ ich seit einigen Jahren einer ErinnerungstÇuschung<br />

zum Opfer fiel, was sowohl in Apologetenphilologie (A&K 18, 3/2011, S. 199, rechte Spalte ganz<br />

unten) als auch in Letztes Refugium? (Nietzscheforschung 18, 2011, S. 243, Zeilen 6-8 von unten)<br />

dazu fÅhrte, den von Reiner Bohley mir brieflich berichteten Sachverhalt fÇlschlicherweise so darzustellen,<br />

als ob Agnes – und nicht ihr Vater – die Verse vor sich hingesprochen habe, ihr Vater – anstatt<br />

sie – das hÄrte und, sich an meine Thesen erinnernd, den Sachverhalt dann im GesprÇch mit ihr aufklÇrte.<br />

Dennoch: Derlei ‘zwar menschliche’, doch ausgesprochen Çrgerliche ErinnerungstÇuschungen<br />

erhÄhen mein VergnÅgen an Endlosschleifen freilich nicht; schlieÉlich sind in den vergangenen zwei<br />

Jahrzehnten diese sowie zahlreiche basale Informationen zum frÅh(st)en Nietzsche im Druck lÇngst<br />

vorgelegt worden. JÅngere mit noch besserem GedÇchtnis mÅÉten die entsprechenden Texte nur lesen.<br />

83


nicht mehr als SchlÅsseltext zu Nietzsches Denken verstanden werden“; eine Auffassung, die<br />

ich gegenÅber einem in biographischen Fragen seriÄs recherchierenden und in seinen Briefen<br />

auf jede Frage und selbst auf meine ketzerischsten Thesen sensibel eingehenden evangelischen<br />

Geistlichen in der Formulierung mÄglichst sanft doch in der Sache prinzipiell in Frage<br />

stellte.<br />

(2) Nun erst zum Autor, der seine Kritik an der Interpretation der Moses-Verse in NaK in<br />

seine Auseinandersetzung mit der NaK-Interpretation des Lustspiels Der GeprÄfte einlagert.<br />

DlJ argumentiert nun wenigstens zweifach gegen meine seiner Auffassung nach Åberzogene<br />

Sichtweise: einerseits in der Rolle des diese Edition des Bandes KGW I 1 als wiss. Mitarbeiter<br />

jahrelang Vorbereitenden, von dem sein damaliger Gutachter nach anderthalb Jahrzehnten<br />

erfÇhrt, warum diese Moses-Verse, da sie nur paraphrasiert seien und die Herausgeber einen<br />

Sinn der Aufnahme in Nietzsches Festungsbuch nicht erkennen kÄnnen, in den Anhang versetzt<br />

worden wÇren, wÇhrend bspw. Choraltexte, die das Kind Nietzsche seinen komponierten<br />

Oratorien unterlegte, wegen der Art ihrer frei gewÇhlten Kombination auch dann, wenn sie<br />

ausschlieÉlich aus wÄrtlichen Zitaten bestehen, nicht in den Anhang genommen wÅrden, sondern<br />

gemeinsam mit denjenigen Texten des Kindes Nietzsche, die auch in den Augen von<br />

HÄdl ‘echte’ Nietzschetexte sind, abzudrucken waren (S. 83, Anm. 205). Eine wohl abenteuerliche<br />

155 Argumentation, die auÉerdem bzw. 1. vÄllig offen lÇÉt, warum derlei subtile Einsichten<br />

den fÅr die weitreichenden VerÇnderungen des Bandes KGW I 1 (mit der Sichtweise<br />

HÄdls jedoch Åbereinstimmenden) Verantwortlichen erst eingefallen zu sein scheinen, nachdem<br />

das erst gegen Ende der sechsjÇhriger TÇtigkeit HÄdls als çFF-Forschungsstipendiat eingereichte<br />

und noch anderen Editionsprinzipien entsprechende Manuskript gutachterlich positiv<br />

gewÅrdigt worden war; die andererseits bzw. 2. das Prinzip erforderter geistiger EigenstÇndigkeit<br />

primÇr im Blick auf freie Kombination herkunftsreligionsentstammender Formulierungen<br />

aufhebt; die 3. die BefÅrchtung nÇhrt, im Sommer 1994 habe unter Herausgebern<br />

der KG mehrheitlich Interesse bestanden, die zahlreichen theodizeeproblemhaltigen Texte des<br />

vermeintlichen kleinen Pastors Nietzsche, denen an herzenswarmem Gotteslob nur wenig zu<br />

entsprechen scheint, durch die editorische HintertÅr etwas herkunftsreligionskonformer zu<br />

entschÇrfen, also den einen Stein des AnstoÉes wie diskutiert auszugliedern; einen zweiten<br />

umzudatieren und andere Steine des AnstoÉes durch Verlagerung in einen Nachbericht, dessen<br />

Erscheinen fraglich und dessen Termin in den Sternen oder in des HÄchsten hÄchstpersÄnlichem<br />

RatschluÉ steht, vorerst der Äffentlichen Diskussion mÄglichst zu entziehen.<br />

Doch wie auch immer: Hat sich der Autor denn niemals Åberlegt, daÉ er ebenso wie sein<br />

Äkumenischer GesprÇchspartner positional sowie weltanschaulich sehr prÇzise lokalisierbar<br />

ist? Und daÉ auch editorisch orientierte Interpretationen, wenn sie jeweils mit bewettbarem<br />

Effekt – Minimierung des Kritischen, StÇrkung des jeweils äblichen (s. 3.3.2.2.ff.) – erfolgen,<br />

Skepsis sowie Kritik zumindest bei einigen derer provozieren, die nicht zur engsten eigenen<br />

Klientel zÇhlen?<br />

Andererseits, wen wundert es, nimmt HÄdl Reiner Bohleys kuriose These, weil dessen<br />

Tochter Agnes sich um 1988 die SchÄnburger Moses-Verse fast wÄrtlich gemerkt habe, kÄnn-<br />

155 Man erwÇge: Kirchenlieder oder Teile davon werden unter dem als Kriterium eingefÅhrten EigenstÇndigkeitsgesichtspunkt,<br />

dem dann die paraphrasierten Moses-Verse zum Opfer gefallen seien, dennoch<br />

in vollem Wortlaut Åbernommen, wenn sie bspw. Nietzsches Kompositionen von ChorÇlen<br />

unterlegt sind, deren Noten jedoch nicht aufgenommen sind: Und schon haben wir es mit einer so<br />

eigenverantwortlichen Leistung des Kindes Nietzsche zu tun, daÉ diese PrÇsentation zitierter religiÄser<br />

Texte nicht bestenfalls im Anhang erfolgt – was ebenfalls bereits wohlwollend christophil arrangiert<br />

wÇre, denn ein Hinweis im Nachbericht kÄnnte genÅgen –, sondern der Platz dieser Abschriften sogar<br />

im Zusammenhang mit Nietzsches eigenen Versen beibehalten wurde? Hingegen wird ein Gedicht,<br />

dessen Text sich das Kind eigens merkt und sogar sprachlich abÇndert, nicht im gegebenen<br />

Zusammenhang mit den Gedichten usw. abgedruckt (hingegen wiederum militÇrtechnische<br />

Auflistungen, die aus irgendwelchen Lexika wÄrtlich entnommen sein mÄgen), sondern in den Anhang<br />

ausgegliedert.<br />

84


ten sie auch fÅr das Kind Nietzsche der Jahre 1854/55 nicht mehr als hochrelevant angesetzt<br />

werden, wie folgt fast erleichtert auf:<br />

„Dabei kann er [bzw. d.Vf.] natÅrlich nicht ins Treffen fÅhren, daÉ der ca. zehnjÇhrige Nietzsche<br />

sich diesen Text gemerkt hat, weshalb er fÅr ihn bedeutend sein muss, denn dies hat ja die zehnjÇhrige<br />

Agnes Bohley auch getan.“ (81)<br />

‘Ins Treffen’? Sie haben auch sonst richtig gelesen; und da es sich (wie auch ansonsten<br />

zuweilen) nur um einen sehr kurzen Text handelt, diskutiere ich nun exemplarisch fÅr manches<br />

andere kurz durch, wie derartige Fragen angegangen werden kÄnnten; und wohl auch:<br />

sollten. HÄdls Argument: Wenn A und B sich unabhÇngig voneinander X merken, muÉ X fÅr<br />

A nicht von Bedeutung sein. Ein genial-minimalistisches ‘SchluÉverfahren’, wenn es nur dabei<br />

bleibt?<br />

Nun zu des Autors Text. Kann der Vf. nicht, womit das Thema beendet wÇre, darf er nicht<br />

oder „kann er“ (d.h. Vf.) doch? Wie natÅrlich ist HÄdls obiges „natÅrlich“? Und vor allem:<br />

Was lÇÉt sich nicht nur contra, sondern auch pro „ins Treffen fÅhren“? FÅhrt selbst elementarstes<br />

Nachdenken Åber diese kindliches GerechtigkeitsgefÅhl auf den Kopf stellenden Verse<br />

156 nicht wie auch sonst so oft zu ganz anderen Einsichten als denen, die bspw. Defensores<br />

fidei propagieren? Die Tatsache, daÉ sich jemand etwas merkt, „muss“ als solche selbstverstÇndlich<br />

noch nicht beweisen, daÉ das Sichgemerkte extraordinÇr fÅr denjenigen sein muÉ,<br />

der es sich merkt; das ist zwar richtig, lÇÉt jedoch den Sachverhalt unberÅcksichtigt, daÉ<br />

Sichmerken eines Inhalts Beleg fÅr Relevanz, ein zwar nicht hinreichender, aber doch meistens<br />

notwendiger ist. MÄglicherweise sind die nÇheren UmstÇnde eines Sichgemerkthabens<br />

recht informationshaltig, kÄnnen vielleicht bereits einiges belegen. Wie steht es hier? Schon<br />

die Tatsache, daÉ sich ein Zehn- oder ElfjÇhriger diese Verse merkt, zeichnet sie gegenÅber<br />

allem, was er sich nicht merkt, deutlich aus. AuÉerdem: sowohl Agnes Bohley als auch Fritz –<br />

beides Pastorenkinder, in religiÄsen Fragen vermutlich besonders sensibel – belieÉen es beim<br />

puren Sichmerken der Moses-Verse ja nicht. Agnes kannte sie nach ihrem Ferienaufenthalt<br />

auf der SchÄnburg noch in Magdeburg auswendig. Als sie hÄrte, daÉ ihr Vater diese Verse vor<br />

sich hinsprach, korrigierte sie ihn entsprechend usw. 157 , so daÉ sich die Konstellation klÇrte:<br />

156 Es ist aufschluÉreich, wie in DlJ dieser Punkt zu entschÇrfen versucht wird (vgl. S. 80f., Anm.<br />

200). Zu des Autors Gunsten sei angenommen: Er scheint im Eifer seines Gefechts vergessen zu haben,<br />

daÉ wir es hier mit einem zehn- oder elfjÇhrigen Kind der Mitte des 19ten Jahrhunderts zu tun<br />

haben, dessen Religionswissen primÇr aus seinem kirchenlied- und storyorientierten Religionsunterricht<br />

und aus BibellektÅre sowie heimischen Anregungen stammt; und nicht mit Theologiestudenten<br />

des spÇten 20ten oder frÅhen 21ten Jahrhunderts, die in neueren Theologielexika mittlerweile von<br />

„Murrmotiven“ und Çhnlichen zeitgemÇÉen kreativen Interpretationen jahrhundertelang anstÄÉiger<br />

Bibelstellen lesen oder in Seminaren hÄren kÄnnen. Und derlei Wissen wird auf den hÄchstens elfjÇhrigen<br />

Nietzsche projiziert, der diese provokativen Verse sich gemerkt und in ein fÅr seine Kriegsspiele<br />

reserviertes „Festungsbuch“ aufgenommen hat; wovon der Leser von DlJ kaum etwas seitens eines<br />

Autors erfÇhrt, der Kontextfragen durchaus berÅcksichtigt, wenn er glaubt, sie intentionskompatibel<br />

einsetzen zu kÄnnen (wie bspw. bei der Interpretation von Gedichten der Sammlung zum 2.2.1856).<br />

Hat sich hier der Autor von DlJ in apologetischer Nivellierung elementarster Distinktionen dabei auch<br />

selbst auf’s Glatteis gefÅhrt?<br />

Wenn HÄdl am Ende der Anm. 200 (S. 81) anfÅhrt, daÉ „evident“ sei, daÉ die in NaK angesprochene<br />

Problematik „bereits fester Bestandteil der biblischen Texte selbst ist“, wÇre das wohl nur dann ein<br />

Argument und nicht schlichter Bluff, wenn er belegen kÄnnte, daÉ (a) diese Sichtweise 1854/55 in<br />

Naumburger Erwecktenkreisen Åblich war, daÉ (b) das Kind diese Deutung Åberhaupt kannte und daÉ<br />

es (c) dieser (HÄdls Argumentation entsprechenden biblischen) Deutung des ‘Verhaltens Gottes’ auch<br />

zustimmte. Doch von alledem ist verstÇndlicherweise wieder einmal nichts zu finden.<br />

157 Der Bedeutung wegen nochmals und sogar ausfÅhrlicher: Leider basieren meine diesen Sachverhalt<br />

referierenden AusfÅhrungen sowohl in Apologetenphilologie, 2011, S. 200, linke Spalte, Mitte, als<br />

85


Nietzsches in das Festungsbuch eingetragene Moses-Verse waren ‘nicht original Nietzsche’,<br />

sondern nur eine Paraphrase. Aus was fÅr GrÅnden Agnes Bohley sich damals diese Moses-<br />

Verse merkte, bleibt also offen: Von mehr als der keineswegs selbstverstÇndlichen Tatsache,<br />

daÖ Agnes Bohley diese Verse fÅr so relevant hielt, daÉ sie sich diese gemerkt hatte, wissen<br />

wir nichts.<br />

(c) Jetzt erst zu Nietzsche. Er schrieb sich die Verse sogar auf, denn sonst wÅÉten wir<br />

nichts von ihnen. Und auch das nicht irgendwo, nicht in ein Heft fÅr die Schule, sondern mitten<br />

in seine wÇhrend des Krimkrieges 1853-1856 wenigstens bis Herbst 1855 angelegten militÇr-<br />

und kriegstechnischen Unterlagen und Zeichnungen, die fÅr weibliche Leser kaum interessant<br />

gewesen sein dÅrften; Auflistungen usw., die ansonsten dergleichen nicht zu enthalten<br />

scheinen, wenn man von drei weiteren Gedichten absieht. Helfen sie insofern weiter, daÉ sie<br />

ein Thema prÇludieren? Dreimal Krieg: davor, danach sowie wÇhrenddessen bzw. Verlust der<br />

zentralen Festung und als Nr. 4: Moses. Oder: vor dem Krieg, nach dem Krieg, entscheidende<br />

Niederlage, Bestrafung? Ein Spurenleser wÅrde nun die in 3.4.1. erwÇhnten Prinzipien testen:<br />

Kontextanalyse ist bei den Moses-Versen schwierig, denn Çltere Gedichte auÉer den drei erwÇhnten<br />

kennen wir nicht, da die drei Phantasien momentan noch nicht genau datierbar sind.<br />

Und jÅngere Gedichte beweisen nichts, lassen hÄchstens Entwicklungen vermuten. Das ist in<br />

der Sicht von Nak der Fall, denn schon ab Jahresanfang 1856 finden sich in Texten fÅr Nietzsches<br />

Mutter theodizeeproblemhaltige 158 Verse in von Nietzsches Spielen oder der Familiensprache<br />

her vertrautem Vokabular und Bildmaterial: SchlieÉlich soll Nietzsches Mutter ja<br />

etwas merken; aber auch in ‘Griechengedichten’, die der Autor aus seinen äberlegungen weitestgehend<br />

ausgeklammert zu haben scheint.<br />

So beschreitet DlJ im Vergleich mit den Interpretationen von NaK von Anfang an andere<br />

Wege. WÇhrend in NaK fast bis zum Exzess versucht wurde, einzelne Texte als spezifische<br />

Fragmente von Nietzsches SelbstgesprÇchen in grÄÉerem zeitlichen und thematischen Zusammenhang<br />

ernst zu nehmen, neigt DlJ eher dazu, einzelnes mÄglichst zu isolieren, zu entspezifizieren<br />

– bspw. als in den Zusammenhang der Kriegsspiele der drei Freunde gehÄrig;<br />

und deshalb offenbar per definitionem nicht mehr theodizeeproblemhaltig? – und dann daraufhin<br />

abzuklopfen, ob sich eine NaK-Interpretation unter der in DlJ (re)konstruierten – oder<br />

kreierten? – Perspektive dann auch ‘beweisen’ lÇÉt. Wenn in DlJ auÉerdem noch einige basale<br />

Analyse- sowie Argumentations- oder Denkfehler unterlaufen, Åberraschen Divergenzen zu<br />

NaK nicht mehr. Methodisch à la DlJ lÇÉt sich gerade an Texten des frÅhsten Nietzsche sehr<br />

wenig ‘beweisen’, denn sie variieren in der Regel bestimmte Themen: Wem deren HÇufigkeit<br />

nicht auffÇllt, deren Inhalt nicht gefÇllt, mangels antiker Literaturkenntnisse oder ‘interpretativer<br />

SensibilitÇt’ nicht zugÇnglich ist sowie die Palette der verschiedenen Thematisierungen<br />

auch in Letztes Refugium?, 2011, S. 243 unten, auf der in den beiden VerÄffentlichungen nicht mehr<br />

korrigierbaren erst im FrÅhjahr 2012 entdeckten ErinnerungstÇuschung, daÉ es nicht Agnes war, die<br />

diese Verse vor sich hinsprach, sondern Reiner Bohley selbst, so daÉ Agnes ihn zu korrigieren vermochte,<br />

und die Herkunft der Verse geklÇrt werden konnte.<br />

Im einzelnen gilt die Korrektur fÅr die Passage: „Und wenn Bohley das Vorsichhinsprechen dieser<br />

Verse seiner Tochter hÄrte [...] ÇuÉerte?“ in Apologetenphilologie ebenso wie fÅr die Passage „Wochen<br />

oder Monate spÇter in seiner NÇhe (erklÇrungsheischend?) vor sich hingesprochen habe“ in Letztes<br />

Refugium? WÇhrend die Letztere zu ersetzen ist bspw. durch: „, als er den ersten Vers vor sich<br />

hinsprach, zu korrigieren und ihren Vater Åber die Herkunft zu informieren vermochte“, genÅgt es, die<br />

Passage der Apologetenphilologie ersatzlos zu streichen. Damit entfÇllt zwar ein Zusatzargument zugunsten<br />

der Relevanz der Thesen des Vf.s, doch die AusfÅhrungen zu Nietzsche selbst sind dadurch<br />

nicht tangiert.<br />

158 Wenigstens in dieser Hinsicht war sein GesprÇchspartner ‘bereits sehr viel weiter’ als der Autor, da<br />

Ersterer in einem hochinformativen Artikel – JÄrg Salaquarda: Christentum, in: Henning Ottmann<br />

(Hg.), Nietzsche-Handbuch, 2000, S. 207 – ausfÅhrte: „Seine Christentumskritik speiste sich zu einem<br />

guten Teil aus persÄnlicher Erfahrung. Von frÅh an, vermutlich ausgelÄst durch das langsame,<br />

qualvolle Sterben des Vaters, bewegte ihn das Theodizeeproblem (Schmidt, 1990, Teil III, 858ff.)“.<br />

86


weniger interessiert als eine mÄglichst enge Analyse einzelner Verse und AufspÅren irgendwelcher<br />

‘Vorlagen’, kommt verstÇndlicherweise zu anderen Ergebnissen, weil er andere methodologische<br />

Voraussetzungen und zumal Erkenntnisinteressen hat. Er sollte sich freilich an<br />

seine Regeln auch dann halten, wenn er eigene Sichtweisen anfÅhrt, denn da neigt DlJ bspw.<br />

zum genÅÉlichen Ausbreiten theologischen Fachwissens – zu ‘Moses’ DlJ, S. 84-86 –, dessen<br />

Kenntnis und Akzeptanz offenbar auch dem elfjÇhrigen Nietzsche trotz seines erbÇrmlichen<br />

Religionsunterrichts der Quinta bei Dr. Opitz unterstellt wird. Nochmals: Was das in DlJ stellenweise<br />

Ausgebreitete – wie bspw. auch zur Trostfunktion von Religion (S. 124f.; dazu dann<br />

in 3.5.1.) – jedoch mit dem Wissen, Denken und Glauben des wohl elfjÇhrigen Fritz zu tun<br />

hat, bleibt rÇtselhaft. Deshalb wirken derlei AusfÅhrungen incl. des Hinweises auf Jan Assmann<br />

auf mich eher wie absurdes Federnspreizen bzw. als Ausweich- oder AblenkungsmanÄver<br />

159 .<br />

So konzediere ich gerne, daÉ sich aus den vier Moses-Versen allein selbstverstÇndlich nur<br />

wenig ‘beweisen’ lÇÉt (was NaK Åbrigens auch nicht behauptet); doch es lÇÉt sich in ihnen<br />

etwas entdecken, dessen Thematisierung DlJ ausklammert; und sie sind Indizien, sie erÄffnen<br />

in BerÅcksichtigung von Zweifelsfolgen, um die es zwar geht, was HÄdl freilich ebenfalls<br />

ausklammert, und selbst in AuÉerachtlassung des zeitnahen Lustspiels Der GeprÄfte Perspektiven<br />

vor allem dann, wenn wenige Monate spÇter bereits von Nak den Moses-Versen hypothetisch<br />

unterstellte Theodizeeprobleme in mehreren Gedichten eindeutig genug exponiert<br />

werden. Mehr ist und mehr war nicht zu zeigen; vor allem im RÅckblick aus der Position dessen,<br />

was das Kind sich bis in den SpÇtsommer 1858 geistig erarbeitet hat, erhalten die Moses-<br />

Verse ebenso wie die Kriegsspiele und Kriegslieder ihren spezifischen Stellenwert. Doch wer<br />

frÅhste Texte interpretativ isoliert, potentiell Brisantes bewettbar entschÇrft und statt dessen<br />

potemkinsche DÄrfer (wie S. 84f. oder S. 168ff.) zu errichten scheint, wirkt, als ob er ein bestimmtes<br />

Ergebnis intendiere, verhÇlt sich kaum als problemoffener, dem Kind Nietzsche<br />

Denken, geistige EigenstÇndigkeit und eigene Entwicklung zubilligender Interpret.<br />

Oder aber: Haben wir es hier mit wechselseitig so divergenten Perspektiven des Autors<br />

und Vf.s zu tun, daÉ Fehldeutungen unvermeidbar sind? Ein vielleicht in diesen Kontext gehÄriges<br />

Beispiel: Am Ende seiner Anm. 203 (S. 83) formuliert der Autor, das Weglassen des<br />

Wortes „Gott“ in diesen Versen „kann auch dafÅr sprechen, daÉ er die Verse gerade nicht<br />

unter der Perspektive der Theodizee sich notiert hat, da sonst „Gott“ gerade genannt werden<br />

mÅÉte.“ Warum muÉ er das? AuÉerdem: ist „Gott“ in diesen Versen nicht sogar eigens genannt<br />

worden? Im groÉen und rhythmisch nachdrÅcklich betonten „Gottesmann“ nÇmlich,<br />

was ja vielleicht gerade der Pfiff dieser Konstellation ist (und von einem Musiker hÇtte bemerkt<br />

werden mÅssen): Gerade er, der groÉe, groÉe Gottesmann, er durfte nicht... Das war<br />

nach des Vf.s Meinung wohl einer der entscheidenden in NaK erwÇhnten Problempunkte dieses<br />

Kindes: riskante NÇhe? (Dazu spÇter.)<br />

(d) Eine weitere Frage wenigstens blieb ebenfalls noch offen: weshalb aber nun all’ diese<br />

ManÄver? Was genau war’s/ist’s denn, was diese vier Moses-Verse offenbar so anstÄÉig sein<br />

lÇÉt, daÉ sie Gegenstand diverser EntschÇrfungsstrategeme wurden? Vielleicht kÄnnen das nur<br />

Theologen beantworten. Mein Laienverstand vermutet Zweierlei. Einerseits wohl das Zweifeln<br />

(selbst noch) des groÉen Gottesmannes Moses sowie dessen vÄllig Åberzogene SpÇtfolgen.<br />

ZweifelnkÄnnen, ja -mÅssen, dÅrfte schon frÅh ebenso ein Charakteristikum des Kindes<br />

Nietzsche gewesen sein wie das von Tausenden anderer Kinder auch heutzutage belegt ist.<br />

Doch Bezweifeln zumal religiÄser Annahmen monotheistischer staatlich sanktionierter Reli-<br />

159 ãhnliches gilt m.E. fÅr DlJ, S. 169, wo bei der Diskussion des religiÄsen Rahmens von Nietzsches<br />

Autobiographie aus dem Sommer 1858 eine ganze Druckseite den Confessiones Augustins (so) gewidmet<br />

ist (als ob schon der DreizehnjÇhrige diesen Text damals bereits gekannt und in Aus meinem<br />

Leben entsprechend paraphrasiert hÇtte). Und damit erfolgreich von der Diskussion der in NaK aufgewiesenen<br />

grandiosen Inkonsistenzenexposition des ersten Absatzes des RÅckblicks abzulenken gesucht<br />

wurde?<br />

87


gionen war und blieb bis in die jÅngste Vergangenheit massiv schuldgefÅhl- und zumal strafbelegt.<br />

Die massive Drohgeste dieser Verse – „drum durft er nicht nach Kanaan“ – paÉt glÇnzend<br />

zum vielzitierten ‘schwarze PÇdagogik’ verschÇrfenden damaligen Bestreben von Pietisten<br />

und Erweckten gleichermaÉen, den Eigenwillen von Kindern zu brechen, „damit das Kind<br />

spÇter offen sein kann fÅr Gottes Willen.“ 160 Zweifeln muÉte deshalb auch in der Umwelt des<br />

Kindes Nietzsche versteckt werden. Setzte es diese Verse zur warnenden Erinnerung an Risiken<br />

naiv geÇuÉerter Zweifel in sein „Festungsbuch“? Und andererseits wohl die in NaK betonte<br />

gegenwendige Relation zu Der GeprÄfte: wÇhrend der auf permanente Devotion setzende<br />

HErr selbst noch den verstÇndlichsten Zweifel seines groÉen Gottesmanns drakonisch bestraft,<br />

belohnen griechische GÄtter selbst elementare Gastfreundschaft sogar mit Erhebung<br />

zum Halbgottstatus und mit Aufnahme des GeprÅften samt nÇherer Familie in die olympische<br />

GÄttergemeinschaft. Wenn das kein Kontrast, wenn das keine per Kontrast arrangierte Kritik<br />

ist... 161<br />

3.4.4. Experimentum crucis II: Der GeprÄfte (DlJ, S. 79-105, insbes. 79f. und 94-105)<br />

Anders als beim Moses-Vierzeiler haben wir es beim zweiten Text, den der Autor wie erinnerlich<br />

schon 1993 NaK-kritisch thematisiert 162 hatte, nicht mehr nur mit wenigen Versen,<br />

sondern mit einem Lustspiel in 6 Akten plus SchluÉszene 163 zu tun, dessen äberschrift und<br />

Anfangsteil des ersten Aktes nicht mehr vorliegen, das ein fÅr Spurenlesen dennoch bei weitem<br />

geeigneterer Text ist, der, 4 Druckseiten fÅllend, reichhaltige Informationen bietet (I 327-<br />

160 Genauer wohl: Offen fÅr den Willen derer, die „Gott“ zugunsten der Verteidigung ihrer Interessen<br />

zitieren; und wegen nahezu universaler Verwendbarkeit ‘am Leben halten’? Das Zitat bei Reiner Bohley:<br />

Nietzsches christliche Erziehung. In: Nietzsche-Studien XVI (1987), S. 170.<br />

161 Eine separate Auseinandersetzung verdiente DlJ 2.1.4.4.2. Der Kontext der Kenntnisnahme des<br />

Moses-Vierzeilers beim jungen Nietzsche (S. 86-93, Anm. 216-234). Das wÅrde hier den Rahmen<br />

sprengen; dennoch aus Metaperspektiven wenigstens unter dem Strich einige Anmerkungen dazu. (1.)<br />

„Der Kontext“? Nach meinem Empfinden wieder einmal fast schon AnmaÉung, denn „Ein Kontext“,<br />

nÇmlich der von HÄdl PrÇsentierte, wÇre bei weitem angemessener. (2.) Korrekter mÅÉte die äberschrift<br />

lauten: „ReligiÄser Kontext der Kenntnisnahme“ usw. Doch sowohl zum Kontext als auch dem<br />

religiÄsen Kontext gehÄren substantiell und im Rang weit vor der Diskussion diverser in Naumburg<br />

gesungener Kirchenlieder, ein Spezialgebiet des Autors, zweierlei: erstens ErwecktenreligiositÜt,<br />

zweitens Ráckener und spÜtere familiÜre PastorenhausprÜgung. Beides spielt in DlJ jedoch keinerlei<br />

identifizierbare Rolle. So tauchen die ungemein aufschluÉreichen zentralen VerÄffentlichungen von<br />

Martin Greiffenhagen (Hg.): Pfarrerskinder. Autobiographisches zu einem protestantischen Thema.<br />

Stuttgart, 1982; ders.: Anders als andere? Zur Sozialisation von Pfarrerskindern. In: ders. (Hg.), Pfarrerskinder,<br />

S. 14-34; ders. (Hg.): Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte.<br />

Stuttgart, 1984, oder aber qualitativ Vergleichbares selbst in der Literaturliste ebensowenig auf wie<br />

bspw. Ruth Rehmann: Der Mann auf der Kanzel. Fragen an einen Vater. MÅnchen, 4 1988; Titel, deren<br />

LektÅre einem Katholiken jedenfalls erleichtern wÅrde, sich etwas in protestantische Milieus &<br />

GemÅter einzufÅhlen. (3) DaÉ der Autor auch hier wieder betont, daÉ in NaK „Jesus meine Zuversicht“<br />

(noch) nicht als Choral identifiziert, sondern als Text des Kindes interpretiert worden war, und<br />

daÉ er daraus noch 2009 mÄglichst weitreichende SchlÅsse zu ziehen sucht, hat mein volles VerstÇndnis:<br />

Wer seit 1993 so viele Platzpatronen verschieÉt, muÉ auch einige Treffer landen kÄnnen – und<br />

seien diese noch so peripher. DaÉ er nicht verheimlicht, daÉ diese Fehldeutung – ebenso wie einiges<br />

andere – schon in NaJ II, 1994, korrigiert wurde, verdient jedoch Anerkennung. (4) SchlieÉlich:<br />

2.1.4.4.2. ist direkt vor 2.1.4.4.3. platziert; d.h. den im Effekt sich als so desastrÄs erweisenden AusfÅhrungen:<br />

„Das Sirenius-Drama: Dokument der Inszenierung von Nietzsches SelbstvergÄttlichungstendenzen?“<br />

(S. 94-105). Doch was bleibt von den Argumenten in 2.1.4.4.2. nach grÅndlicher<br />

LektÅre dieser Metakritik?<br />

162 Hans Gerald HÄdl: Der GeprÄfte / Die Gátter vom Olymp, Skript 1993.<br />

163 Auf die Bedeutung dieses in NaK vorausgesetzten Sachverhalts hatte Renate G. MÅller: Antikes<br />

Denken, 1993, bes. nachdrÅcklich hingewiesen.<br />

88


330 bzw. I 1, 105-109); hinzukommt ein Register von „Namen“ des Lustspiels sowie „Das<br />

Theatercomitå“ (I 331 bzw. I 1, 109) und glÅcklicherweise sogar eine Rollenverteilung der<br />

beiden ersten Akte (I 331 bzw. I 1, 110), so daÉ das Fehlende aus der Logik des StÅcks einigermaÉen<br />

Åberzeugend rekonstruiert zu werden vermag. AuÉerdem besteht die MÄglichkeit,<br />

einen Vergleich mit einem anderen, sich in den Rollen/Personen mit Der GeprÄfte z.T. Åberschneidenden<br />

TheaterstÅck, ebenfalls einem Lustspiel, vorzunehmen, mit Die Gátter auf den<br />

Olymp (I 1, 110).<br />

Bei beiden StÅcken handelt es sich also betontermaÉen um ein „Lustspiel“. Vergessen und<br />

Åbersehen wir also auch dann weder die Lust- noch Spielaspekte beider StÅcke, wenn die<br />

dank der Intention und des Status von DlJ unumgÇnglich gewordene, nun erfolgende Metakritik<br />

eines mehrfach als gelungen inserierten (u.a. S. 130f.) und bei spÇteren Interpretationen in<br />

DlJ als erfolgreich abgeschlossen vorausgesetzten experimentum crucis fÅr manchen nicht<br />

lediglich ein Spiel und vielleicht auch nicht in jederlei Hinsicht sonderlich lustig ist.<br />

Da hier die MÄglichkeit besteht, nicht lediglich hingetupfte KÅrzestskizzen oder nur einzelne<br />

Stichworte, sondern die mit Abstand umfangreichste und ausgefeilteste DlJ-Argumentation,<br />

des Autors eigentliches NaK-kritisches experimentum crucis eines Textes des Kindes,<br />

zu ÅberprÅfen, der seit 1993 im Fokus des Autors steht, weil dessen Relevanz im Blick auf<br />

Nietzsches weitere Entwicklung in NaK ausgesprochen hoch eingeschÇtzt ist, lohnt es sich die<br />

metakritische äberprÅfung der Argumentation des Autors zum Schwerpunkt dieser Metakritik<br />

zu wÇhlen.<br />

3.4.4.1. Des Autors kritische Thesen<br />

Da sich also spÇtestens seit dem Vorliegen von Nietzsche ex/in nuce, 1984, und zumal von<br />

NaK bei der Beurteilung dieses zuvor m.W. nicht beachteten frÅhen StÅcks 1. editorische und<br />

interpretative Fragen als hochgradig komplex und interdependent zu erweisen scheinen, andererseits<br />

2. diese Metakritik eine ganze Palette breit gefÇcherter Nak-kritischer Argumentationen<br />

von DlJ ÅberprÅft, 3. des Autors Auseinandersetzung mit der NaK-Sicht von Der GeprÄfte<br />

nicht nur Åber eine lange Vorgeschichte verfÅgt, sondern 4. auch den inhaltlichen Schwerpunkt<br />

seiner NaK-Analyse darstellt, schlieÉlich 5. dank ihres behaupteten NaK-destruktiven<br />

Ergebnisses auch als Paradigma hochrangiger editorisch basierter Widerlegungen im Sinne<br />

eines experimentum crucis in Szene gesetzt ist – sowie 6. von daran interessierter Seite wohl<br />

weiterhin als erfolgreich durchgefÅhrt behauptet werden dÅrfte – und auÉerdem 7. (die) weitere(n)<br />

NaK-kritischen Argumentationen des Autors basiert, empfiehlt sich zugunsten besserer<br />

Orientierung des Lesers, der sich auch in zwar minuziÄs strukturierten doch z.T. vielleicht<br />

labyrinthisch anmutenden Detaildiskussionen als jederzeit orientiert empfinden mÄchte, des<br />

Autors auf den Seiten 89-105 mit vielen Details gespickten zentralen EinwÇnde gegen die<br />

Interpretation dieses StÅcks in Nak einleitend in ihrem internen Zusammenhang so pointiert<br />

und prÇmissenorientiert wie irgend mÄglich vorzustellen, daÉ der ‘aufs-Ganze-gehende’ Charakter<br />

dieser eine wenigstens dreifache argumentative Widerlegung erstrebenden Analyse<br />

deutlich sowie in ihrem beeindruckend konzipierten, respektablen kritischen Ansatz einsichtig<br />

wird; und erst anschlieÉend dann die Textsituation zu diskutieren sowie des Autors basale<br />

Kritikpunkte im einzelnen auf- und ggf. abzuarbeiten.<br />

89


Basisthese 164 :<br />

Ebensowenig wie bereits der Moses-Vierzeiler kann auch Der GeprÄfte – anders als<br />

dies NaK fÇlschlicherweise annimmt – als zentraler Beleg der intellektuellen Entwicklung<br />

Nietzsches gelten.<br />

Hauptthese 1:<br />

Einerseits ist Nietzsche weder hier noch dort alleiniger Verfasser: Der GeprÄfte ist zusammen<br />

mit Nietzsches Freund Wilhelm Pinder geschrieben; und die Moses-Verse sind<br />

wie erinnerlich nur paraphrasiert.<br />

BegrÄndung der Hauptthese 1:<br />

Da belegmÇÉig gesichert ist, daÉ<br />

1. Fritz und Wilhelm gemeinsam das StÅck Die Gátter vom Olymp 165 geschrieben haben,<br />

und da<br />

2. das StÅck Die Gátter vom Olymp sich von Der GeprÄfte<br />

a. inhaltlich nicht weitreichend genug unterscheidet sowie<br />

b. Der GeprÄfte eine von den beiden Freunden fÅr eine AuffÅhrung vor dem Familienkreis<br />

Krug, Nietzsche und Pinder erarbeitete zeitnahe Vorstufe von Die Gátter vom Olymp<br />

ist, kann Der GeprÄfte nicht weiterhin als ein von Fritz auf Befriedigung emotionaler und<br />

religiÄser Interessen sowie BedÅrfnisse des Kindes Nietzsche hin konzipiertes StÅck verstanden<br />

werden.<br />

Hauptthese 2:<br />

Selbst wenn Nietzsche alleiniger Verfasser von Der GeprÄfte wÇre, wÇren die in NaK<br />

vorgestellten Interpretationen und SchlÅsse dennoch nicht zutreffend, da sie aus vor allem<br />

zwei GrÅnden dem Text nicht gerecht werden.<br />

BegrÄndung der Hauptthese 2:<br />

Ein doppelter NaK-Interpretationsfehler von Der GeprÄfte besteht darin, daÉ<br />

a. die ‘griechischen’ Anteile des StÅcks in der Sache einerseits eher Fassade – „rein Çu-<br />

Éerlich“ (S. 93) – und andererseits inhaltlich bei weitem ÅberschÇtzt sind; daÉ hingegen<br />

b. die christlichen Anteile, die in der NaK-Interpretation als Relikte verstanden werden,<br />

in hohem MaÉe unterschÇtzt werden, da Christentum in seiner in Der GeprÄfte inszenierten<br />

Leistung – ErlÄsung bzw. Teilhabe an der Gottessohnschaft als Folge von Gottvertrauen –<br />

heidnische olympische Vergottungsvorstellungen bei weitem Åberbietet, was dem Kind<br />

Nietzsche auch bekannt und von ihm akzeptiert/geglaubt war.<br />

164 Um Verwechslungen mÄglichst zu vermeiden, verwende ich „Grundthese“ im Sinn einer der in<br />

3.3.2.7. zitierten und kommentierten 7 von HÄdl als NaK-charakteristisch behaupteten Grundthesen;<br />

„Basisthese“, „Hauptthesen“ und „Nebenthese“ hingegen wird verwandt, um HÄdls zentrale gegen die<br />

NaK-Interpretation von Der GeprÄfte gerichteten EinwÇnde meinerseits zu thematisieren.<br />

165 SorgfÇltigen Lesern kÄnnte im Folgenden auffallen, daÉ von zwei Çhnlichst betitelten StÅcken die<br />

Rede ist: einerseits von Die Gátter vom Olymp und andererseits von Die Gátter auf den Olymp. WÇhrend<br />

Vf. (wie noch deutlich wird) beide StÅcke nur mit einigem Vorbehalt gleichsetzt, vollzieht HÄdl<br />

diese Gleichsetzung mit scheinbar guten GrÅnden, denn der knapp vierzehnjÇhrige Nietzsche berichtet<br />

in seiner Autobiographie des SpÇtsommers 1858 (Aus meinem Leben), daÉ er im Verein mit seinem<br />

Freund Wilhelm Pinder das StÅck Die Gátter vom Olymp geschrieben habe, das auch aufgefÅhrt worden<br />

sei; unabhÇngig davon kennen wir eine Einladung zur AuffÅhrung eines StÅcks Die Gátter auf den<br />

Olymp und wissen, daÉ ein StÅck dieses Titels am 8.2.1856 in der Wohnung von GroÉmutter Pinder<br />

aufgefÅhrt wurde. Zu alledem unten dann mehr.<br />

90


Nebenthese:<br />

Selbst wenn sich die beiden Hauptthesen und damit auch die Basisthese wider alles Erwarten<br />

nicht halten lieÉen, wÇre die selbsterlÄsungsorientierte NaK-Interpretation von Der<br />

GeprÄfte – sie ist wohl die eigentliche Provokation – noch immer nicht bestÇtigt, da die<br />

Rollenverteilung in den 6 Akten so festgelegt ist, daÉ Fritz nie dazu kommt, die Rolle des<br />

Sirenius, der nach NaK-Auffassung sich selbst erhÄht bzw. erlÄst und erreicht, daÉ auch<br />

seine Eltern nebst Schwester sich fÅr seine Nachfolge entscheiden, selbst zu Åbernehmen.<br />

Fazit: Eine mutige, konsequente, mit nicht geringem Aufwand seit 1993 angestrebte und<br />

nunmehr in DlJ in Hinzuziehung mancher Details durchgefÅhrte Kritik an der NaK-<br />

Interpretation dieses StÅcks des frÅhsten Nietzsche incl. der PrÇsentation einer eigenen Gegenthese,<br />

die, wiederum mit hohem wissenschaftlichen Anspruch vorgestellt, entweder als<br />

beeindruckende philosophisch-interpretative Leistung anzuerkennen oder in den entscheidenden<br />

Punkten kongruent zur Nietzscheauffassung von NaK zu widerlegen ist.<br />

Eine Metakritik hÇtte, wollte sie erfolgreich sein, ihrerseits deshalb zu folgenden Ergebnissen<br />

zu fÅhren:<br />

1. Der GeprÄfte und Die Gátter vom Olymp sind trotz mancher NÇhen zwei so unterschiedliche<br />

StÅcke, daÉ die fÅr Die Gátter vom Olymp behauptete gemeinsame Autorschaft von Wilhelm<br />

und Fritz schon deshalb nicht ohne zusÇtzliche Argumente, die noch zu prÇsentieren<br />

wÇren, auf das vermutlich Çltere StÅck Der GeprÄfte zurÅckÅbertragen werden kann, weil<br />

auch die in DlJ vorgetragene Argumentation in keinem der vom Autor thematisierten zentralen<br />

Punkte stichhaltig ist, genauer: auch nicht annÇhernd eine argumentative Pattsituation zu<br />

erzeugen vermag. (Idealiter wÇre in einer Art metakritischer Offensive darÅber hinaus nachzuweisen,<br />

daÉ selbst die fÅr Die Gátter vom Olymp behauptete gemeinsame Autorschaft von<br />

Wilhelm und Fritz keineswegs so unproblematisch ist wie bisher allerseits angenommen.)<br />

2. Der GeprÄfte ist auch nicht als primÇr christlich verstandenes ErlÄsungsstÅck zu verstehen,<br />

denn (a) sind die ‘griechisch-heidnischen’ Anteile im StÅck auch dann dominant, wenn der<br />

Autor dies nicht (an)erkennt, und (b) ist des Autors interpretatio christiana von Der GeprÄfte<br />

– idealiter: aus mehreren GrÅnden – nicht nur problemunangemessen, sondern fast schon absurd.<br />

3. Auch des Autors Nebenthese lÇÉt sich bereits (a) durch Vermeidung einer sprachlichen<br />

Fehldeutung, (b) etwas Nachdenken und (c) in Anwendung minimaler Menschenkenntnis als<br />

bestenfalls wohlklingende Ad-hoc-Kreation aufweisen.<br />

4. Doch selbst gesetzt der Fall, 1.-3. lieÉen sich nicht mit der erforderlichen Genauigkeit belegen,<br />

ist Der GeprÄfte im Sinne positivster Gegenprobe hochgradig theodizeerelevant, was im<br />

Kontext mit Fritz eindeutig zuzuweisenden zeitnahen theodizeeproblemhaltigen Texten so<br />

konsequenzentrÇchtig sein dÅrfte, daÉ auch aus dieser Perspektive verstÇndlich ist, warum der<br />

Autor seit 1993 in bewundernswerter Konsequenz dem Kind Nietzsche dieses Lustspiel um<br />

nahezu jeden interpretativen Preis als geistiges Eigentum abzusprechen sucht.<br />

3.4.4.2. Editionsfragen<br />

Aus hoher Vogelschau nun wieder zurÅck ins mÄglicherweise verminte editorische GelÇnde!<br />

Setzen wir also parallel zu unseren äberlegungen im Blick auf die Moses-Verse nun auch<br />

mit der Frage der TextprÇsentation von Der GeprÄfte in derjenigen Edition ein, an der der<br />

Autor von DlJ ja in vielleicht sogar entscheidender Weise beteiligt gewesen war und noch ist.<br />

(1) Wie erinnerlich wurde das Thema bereits (in 3.4.3.1.) insofern angeschnitten, als deutlich<br />

wurde, daÉ Der GeprÄfte in der HKGW I, 1933, im Gutachterskript mit einem Vorwort<br />

vom 21.3.1994 und im ausgedruckten Band I 1 von 1995 nicht mehr dieselbe Stelle einnimmt,<br />

91


sondern nach einer vagen Zuordnung ans Ende des dritten Jahresviertels 1855 in der HKG<br />

und auch noch in dem Gutachterskript (als 1 [49-52], S. 45-49) nun aber im ausgedruckten<br />

Band in Richtung des Jahresanfangs 1856 (als 1 [79-82Z] bzw. I 1, 105-110) ‘gewandert’ ist.<br />

(a) Einige editorische Finessen legen die Frage nahe, warum es so wichtig gewesen sein<br />

kÄnne, daÉ Der GeprÄfte sowie die weder datierte noch terminierte „Einladung zum Lustspiel“<br />

Die Gátter auf den Olymp als einander nicht nur wie noch im Gutachterskript zeitlich –<br />

als 1 [49-52] und I [53] noch vor den den Fall Sepastopols betrauernden Versen (als 1[54])<br />

von September 1855 – und rÇumlich dicht benachbart aufgenommen wurden, sondern daÉ im<br />

Unterschied dazu nun in I 1, 1995, Der GeprÄfte wie auch Die Gátter (nur um zwei Auflistungen<br />

davon getrennt) ans Ende des nunmehr auf „1854-Anfang 1856“ umdatierten ersten<br />

Blocks der NachlaÉaufzeichnungen usw. Nietzsches gesetzt wurden. Eine klare Sache? Allerdings<br />

um keinen geringen Preis.<br />

Nun also in die Macchia editorischer Fragen und ggf. KGW-I-1-spezifischer Finessen!<br />

Vielleicht helfen folgende Beobachtungen und äberlegungen einige Schritte weiter, um zu<br />

erkennen, was im Sommer 1994 arrangiert wurde und inwiefern dessen Ergebnis in den PrÇmissenbereich<br />

der Argumentation des Autors in DlJ gehÄrt.<br />

WÇhrend die BÇnde der KGW I 1-3 in der Datierung der Texte des Kindes und Jugendlichen<br />

Nietzsche den Datierungen der HKGW 1-3 in der Regel fast schon sklavisch folgen, die<br />

hohe Sachkompetenz von deren Editor Hans Joachim Mette also anerkennen, gibt es doch<br />

einige Abweichungen, die sich mit z.T. zentralen EinwÇnden des Autors in DlJ, 2009, gegen<br />

die Interpretationen in NaK, 1991, decken; was vielleicht weniger problematisch wÇre, wenn<br />

die EinwÇnde stichhaltig wÇren, und wenn sie sich nicht gleichzeitig auch gegen die Anordnung<br />

von Texten Nietzsches durch Mette in HKGW I richteten.<br />

Halten wir als zentrale Fakten also fest: WÇhrend in der HKGW I und im Gutachterskript<br />

bspw. den drei auf den 12. und 6. Mai sowie den 8. Juni datierten Notizen aus den militÇrtechnischen<br />

Berichten „des FÅrsten Gortschakoff“ aus Sepastopol vom 23.4. bis 15.7.1855 166<br />

das Lustspiel Der GeprÄfte 167 direkt folgt, sind in I 1 nach den genannten Notizen (I [49] bzw.<br />

62f.) die ihnen folgenden nicht weniger als 41 Druckseiten Texten und Zeichnungen primÇr<br />

aus dem Zusammenhang der ebenfalls auf die militÇrischen Ereignisse des Krim-Krieges bezogenen<br />

„Orakularia“ vorbehalten (I 1, 64-101 bzw. 1 [51Z-78]): Texte, die in HKGW I und<br />

im Gutachterskript zeitlich erst hinter (!!) Der GeprÄfte angeordnet sind (I 333-336); das Gedicht<br />

zum Fall Sewastopols am 9.9.1855 „Trauer fas[s]t jetzt mein GemÅt[h]e.“ (I 392; Skript<br />

1 [54] bzw. S. 51) ist nun dem Lustspiel Der GeprÄfte, dessen vom Hg. der HKGW I hinzugefÅgter<br />

Titel entfÇllt, vorangestellt (vgl. I 1, 103 bzw. 1 [77]). So ist der Textzusammenhang<br />

des Der GeprÄfte enthaltenden Heftchens (Mp. I 3) vÄllig zerrissen. Bei diesem Umarrangement<br />

– nochmals: nicht in dem dem Gutachter vorgelegten Skript, sondern erst im ausgedruckten<br />

Band – handelt es sich keineswegs um eine editorische Petitesse, denn der m.W.<br />

bisher einzige Text, der in der HKGW I wenigstens annÇherungsweise in die 2. JahreshÇlfte<br />

1855 zu datieren ist, ist das den am 9.9.1855 erfolgten Fall Sewastopols betrauernde Gedicht<br />

des NochzehnjÇhrigen. Geben wir vorsichtshalber eine Woche oder auch maximal deren zwei,<br />

bis sich die Nachricht vom Fall der Festung auch in Naumburg herumgesprochen hat. Darauf<br />

hat Fritz – spÇtestens also Ende September – spontan poetisch reagiert 168 . Mettes Anordnung<br />

166 Mappe I 3, Seiten 1-4 eines Oktavheftes bzw. I 326f.; Gutachterskript 1 [48] bzw. S. 53f.<br />

167 Seiten 19-25 des nÇmlichen Oktavheftchens; I 327-330, Gutachterskript I [49-50] bzw. S. 45-48.<br />

168 In Aus meinem Leben berichtet Nietzsche von seiner Reaktion auf den Fall von Sepastopol (I 23<br />

bzw. I 1, 303). Das genannte Gedicht „Trauer fas[s]t jetzt mein GemÅthe“ (I 332 bzw. I 1, 103) entspricht<br />

– anders als das ebenfalls Sepastopol geltende AbschluÉgedicht der Sammlung zum 2.2.1856 –<br />

in sprachlicher ebenso wie formaler Hinsicht Erwartungen an ein spontan niedergeschriebenes Gedicht.<br />

Insbesondere die Art des Versuchs in DlJ, diesen Sachverhalt zu bestreiten, werte ich als parallele<br />

StÅtzaktion zwecks Legitimation der VerÇnderungen in I 1, 1995, gegenÅber der Mette-Edition<br />

92


elegt also, daÉ er davon ausging, Der GeprÄfte wÇre zuvor, vielleicht sogar in den groÉen<br />

Hundstagsferien 1855, geschrieben worden. Mette mag sich ja getÇuscht haben. In DlJ erfÇhrt<br />

man zu alledem schlicht nichts.<br />

Man sieht jedenfalls: das Lustspiel Der GeprÄfte wird gemeinsam mit dem Einladungszettel<br />

zu Die Gátter erstmals in KGW I 1, 1995, fast ans Ende des mit Zeichnungen usw. angereicherten<br />

Textblocks 1 gesetzt, der nun, anstatt wie noch im Gutachterskript auf „1853-1855“<br />

(1 [1-99], S. 3-94), auf „1854-Anfang 1856“ umdatiert ist (I 1, 1-112; 1 [1-85]). So wird Der<br />

GeprÄfte so weit als irgend mÄglich in grÄÉte zeitliche NÇhe zum Jahresanfang 1856 gerÅckt,<br />

was vermutlich auf die Weise begrÅndet wÅrde, daÉ die in das Gutachterskript ebenso wie in I<br />

1 neu aufgenommene weder datierte noch terminierte Einladung zum Lustspiel „Die Gátter<br />

auf den Olymp“ (I 1, 110 bzw. 1 [83]) erst nach der Begutachtung des Skripts als auf die AuffÅhrung<br />

am 8.2.1856 bezogene „Einladung“ erkannt worden sei.<br />

Doch auch eine derartige BegrÅndung wÇre so unproblematisch nicht:<br />

1. Als Argument wÇre diese These nÇmlich wenig schmeichelhaft, denn schon seit Mai<br />

1993 konnte in NaJ I, S. 369, Anm. 103 – der Autor zitiert in DlJ eigentÅmlicherweise 169<br />

statt dessen die m.W. erst wenige Tage vor dem 15.10.1994 erschienene Biographie der<br />

Mutter Nietzsches von Klaus Goch 170 –, gefunden werden, daÉ am 8.2.1856 ein Die Gátter<br />

auf den Olymp betiteltes StÅck aufgefÅhrt wurde.<br />

2. Dennoch erhielte die Erweiterung der Datierung des ersten Textblocks des zu begutachtenden<br />

Manuskripts von „1853-1855“ auf nunmehr „1854-Anfang 1856“ freilich nur<br />

eine Pseudolegitimation, als diese 14 Zeilen umfassende „Einladung“ nicht in die folgende<br />

zweite Rubrik „Anfang 1856-Januar 1857“ (I 1, 113-171) versetzt wurde, wohin sie dann<br />

ja gehÄrt, sondern daÉ statt dessen das Konvolut von Texten und Zeichnungen von 1 [1-85]<br />

der Seiten 1-112 zugunsten der Beibehaltung des Orts dieser „Einladung“ (I 1, 110) direkt<br />

hinter den zu Der GeprÄfte gehÄrenden Unterlagen (I 1, 109f.) durch Versetzung von Der<br />

sowie gegenÅber dem Gutachterskript; und als Indiz leider nicht geringen Beteiligungsgrades des Autors<br />

von DlJ an hier Moniertem.<br />

169 Gerne konzediere ich, daÉ statt „eigentÅmlicherweise“ besser „konsequenterweise“ zu formulieren<br />

gewesen wÇre, denn: Nur ein Hinweis auf Klaus Goch: Franziska Nietzsche. Ein biographisches Portrait.<br />

Frankfurt am Main, [Oktober] 1994, anstatt auf NaJ I, 21.5.1993, wÅrde ja die These erlauben,<br />

das Datum der AuffÅhrung der Gátter wÇre zum Zeitpunkt der Erstellung des Gutachterskripts noch<br />

nicht bekannt gewesen. Gut, doch um den Preis des EingestÇndnisses, ein Jahr lang nicht einmal den<br />

einzigen Band, den es neben NaK zum frÅhen Nietzsche gab, eben NaJ I, grÅndlich gelesen zu haben?<br />

äbrigens verweist der Autor in gleicher Sache auch in seinem hochinformativen Beitrag: Schriften der<br />

Schulzeit (1854-1864) in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch, 2000, S. 68, ebenfalls auf<br />

Goch, Franziska Nietzsche, 1994, S. 207, als Quelle dieser Information. Doch noch besser: Sollte tatsÇchlich<br />

im Sommer 1994 eine Herausgebersitzung stattgefunden haben, die zu den monierten VerÇnderungen<br />

fÅhrte, so hÇtten wir es sogar mit einem faszinierenden Fall von PrÇkognition zu tun, denn<br />

Goch’s zur Legitimation bestimmter Modifikationen seitens des Autors verschiedentlich zitierter Band<br />

erschien erst kurz vor dem 15.10.1994...<br />

170 DlJ, S. 99; vgl. Goch, Franziska Nietzsche, 1994, S. 207. „eigentÅmlicherweise“ auch deshalb,<br />

weil eine kritische Besprechung Hans Gerald HÄdls von Na bereits zum 13.10.1994 erschien (Entsteht<br />

ein neuer Mythos? In: Die Furche 13.10.1994, S. 12), der Autor den zum 21.5.1993 erschienenen<br />

Band NaI I oder wenigstens den zum 23.5.1994 vorgelegten Band Na II mit diesem S. 758 sogar in der<br />

Errata- und ErgÇnzungsliste fÅr NaK nochmals angefÅhrten Text also lÇngst gelesen und den betreffenden<br />

Beleg entweder hier oder dort gefunden haben mÅÉte. (DaÉ Goch ebenfalls NaJ I las und dort<br />

diesen Beleg entnehmen konnte, den er dann auf seine Weise belegt, widerspricht zwar auch anderenorts<br />

‘eigentlich’ anfallende Na-Zitationen umgehendem Verhalten Dritter nicht, gehÄrt aber in ein<br />

anderes Kapitel. Zu Gochs bewundernswerten ArrangierkÅnsten NÇheres in Hermann Josef Schmidt:<br />

WadenbeiÖerphilologie, 2011, insbes. die Beispiele 1 und 2, sowie in deren KÅrzestfassung: Inkompetenzdemonstrationen.)<br />

Da der Band Gochs m.W. erst im Oktober 1994 erschien, wÇre dann also ‘das<br />

Argument’, das den Umbau legitimierte, frÅhestens Oktober 1994 zugÇnglich gewesen?<br />

93


GeprÄfte usw. umorganisiert und der Umdatierung unterworfen wurde. Da muÉ die Bedeutung<br />

genau dieses Platzes fÅr Der GeprÄfte sowie fÅr die „Einladung“ zur AuffÅhrung der<br />

Gátter wohl sehr hoch gewesen sein? –<br />

3. Fast schon kurios – und diesmal wohl sogar editionskonzeptsprengend – ist dabei,<br />

daÉ der Textblock 2 „Anfang 1856 – Januar 1857“ (Gutachterskript 2 [1-48]; I 1, 2 [1-34])<br />

weiterhin mit der Geburtstagssammlung fÅr den 2.2.1856, 30. Geburtstag von Nietzsches<br />

Mutter, erÄffnet wird. Nun liegt der 2.2. aber eine knappe Woche vor dem 8.2., dem Termin<br />

der AuffÅhrung der Gátter. So wÇre erforderlich gewesen, den Einladungszettel zum<br />

8.2. in den Textblock 2 erst nach der Sammlung zum 2.2.1856 als 2 [2] einzugliedern; oder<br />

als maximale Konzession dann aber konsequenterweise die Sammlung zum 2.2.1856 aus<br />

dem damit erheblich ausgedÅnnten Textblock 2 zu entfernen und in den ohnedies bereits<br />

entsprechend umorganisierten sowie umdatierten Textblock 1 zwischen Der GeprÄfte samt<br />

Anhang und der „Einladung“ einzufÅgen. Doch diese Konzession hÇtte dann nicht nur das<br />

nun vorgenommene Arrangement empfindlich gestÄrt, sondern ein drastisch theodizeeproblemexponierendes<br />

Gedicht der Sammlung zum 2.2.1856, N. 8. Gewitter (I 343f.<br />

bzw. I 1, 122-124), samt der lt. NaK theodizeeproblemexponierenden Konterbande weiterer<br />

Gedichte der nÇmlichen Sammlung den Moses-Versen und zumal dem Lustspiel Der<br />

GeprÄfte usw. rÇumlich dicht angenÇhert.<br />

Tertium non datur? Doch in diesem speziellen Fall wurden bei weitem problematischere<br />

editorische Entscheidungen gefÇllt:<br />

(1.) Beibehaltung der Sammlung zum 2.2.1856 als ErÄffnung von Textblock zwei bei<br />

(2.) Beibehaltung der Position des Einladungszettels und<br />

(3.) Anordnung bzw. Einreihung von Der GeprÄfte in nÇchster NÇhe der „Einladung“ in<br />

Kombination mit<br />

(4.) Herausnahme der Moses-Verse aus dem Hauptteil und deren Verschiebung in einen<br />

in BerÅcksichtigung der Moses-Verse<br />

(5.) auÉerdem kaum zutreffend betitelten Anhang.<br />

Was als schwer verstÇndliches Ensemble editorischer EigentÅmlichkeiten bzw. Ungereimtheiten<br />

zu verbuchen ist und damit rÇtselhaft bleibt. Und als kreative Pseudo- bzw.<br />

Ad-hoc-Legitimation des Autors im Nachbericht dann die Behauptung, daÉ diese Einladung<br />

lange, lange vor dem 2.2.1856 ausgegeben worden wÇre? Sowie, damit’s besonders<br />

gut paÉt, die weitere Behauptung, daÉ die Gedichte der Sammlung zum 2.2.1856 schlieÉlich<br />

erst in der Nacht auf den 2.2. vom ElfjÇhrigen formuliert bzw. zu Papier gebracht worden<br />

wÇren? Wer kann’s widerlegen? Doch SpaÉ beiseite, denn in der Sache handelt es sich<br />

wenigstens solange um eine hochgradig irritierende Angelegenheit, solange nicht zwingende<br />

Argumente fÅr jede einzelne Entscheidung dieses Ensembles nachgutachterlicher<br />

VerÇnderungen vorgelegt werden. Was in DlJ jedoch nicht einmal in AnsÇtzen erfolgte.<br />

Hingegen erweckt die Anordnung von Der GeprÄfte in der HKG ebenso wie im Skript, um<br />

daran zu erinnern, den Eindruck, Der GeprÄfte gehÄre spÇtestens an das Ende des 3. Jahresviertels<br />

des Jahres 1855, sei vielleicht sogar bereits in den Sommerferien verfaÉt worden.<br />

Wer ist hier dem so verdienstvollen Herausgeber, der dem çFF ein m.E. bei weitem gegenstandsangemesseneres<br />

Skript zur Begutachtung vorgelegt hatte, noch vor dessen Drucklegung<br />

erfolgreich in die Parade gefahren?<br />

(b) Ein zweites, vielleicht erst dank DlJ in der Sache kaum weniger irritierendes Problem.<br />

Auf derjenigen Seite des Originalmanuskripts des Kindes Nietzsche, welche die SchluÉpassage<br />

des 6. Aktes von Der GeprÄfte bietet, findet sich in der unteren HÇlfte ein oberflÇchlich<br />

gesehen konzeptsprengender Zusatz ebenfalls aus Nietzsches Hand: Menelaos verfolgt Paris,<br />

der vor ihm flieht. Menelaos „will jetzt rÇchen“, was Paris getan hat, da er „diesen Schimpf<br />

[...] nicht ungerÇcht lassen“ will (I 330 bzw. I 1, 109). Im Gegensatz nun zur HKGW I macht<br />

KGW I 1 aus Der GeprÄfte und diesem Text die zwei unterschiedlich nummerierten Texte I<br />

[79] und I [80]. Warum?<br />

94


Nicht weniger als 14 Jahre spÇter erfÇhrt man statt aus dem Nachbericht nun aus 4 1/5 Zeilen<br />

einer Anmerkung in DlJ (S. 79, Anm. 198) dazu Folgendes: daÉ<br />

1. dieser Text „auf dem gleichen Blatt“ stehe „wie der SchluÉ von I [79]“; daÉ<br />

2. ein „inhaltlicher Zusammenhang“ der 6 Akte von Der GeprÄfte „mit der“<br />

3. – „ebenfalls fragmentarischen“ – „Aufzeichnung I [80]“<br />

4. „nicht unbedingt ersichtlich“ sei; daÉ<br />

5. „die Eintragung im Manuskript deutlich abgehoben sei“ und<br />

6. „die Namen ‘Paris’ und ‘Menelaos’“ in den Besetzungslisten nicht vorkommen (alles<br />

S. 79, Anm. 198); und<br />

7. kam es auch darauf an – mittlerweile fast schon ein DlJ-Refrain? – daÉ diesmal sogar<br />

schon aus editorischen GrÅnden – erstmals in KGW I 1, 1995! – die (der Mette-Edition,<br />

1933, positiv kompatible) Interpretation in Nak, 1991, nicht als sachangemessen aufzufassen<br />

ist.<br />

Doch wie stichhaltig sind diese Behauptungen zwecks BegrÅndung auch dieser Separierung?<br />

Und damit auch im Blick auf die negativen Konsequenzen fÅr die vom Autor abgelehnte<br />

NaK-Interpretation? In z.T. abweichender Reihenfolge gehe ich die einzelnen Punkte<br />

zwecks exemplarischer SeriositÇtsÅberprÅfung eines in NaK-kritischem Zusammenhang exponierten,<br />

basalen, sehr kurzen, komprimierte Aussagen prÇsentierenden, z.T. auf editorische<br />

äberlegungen zurÅckgreifenden Textes des potentiellen Herausgebers sowie Autors des<br />

Nachberichts der KGW I, 1-3, nun durch.<br />

Die 1. Aussage, daÉ dieser Text „auf dem gleichen Blatt“ stehe „wie der SchluÉ von I<br />

[79]“, ist zwar richtig, doch von verblÅffender UnschÇrfe: Der Text steht nÇmlich (a) nicht nur<br />

irgendwo auf dem gleichen Blatt, sondern sogar (b) auf der selben Seite; und selbst auf dieser<br />

wiederum nicht irgendwo, sondern (c) direkt hinter dem den 6. Akt abschlieÉenden Gesang<br />

der Nymphen; (d) und ansonsten steht auf der betreffenden Seite nichts mehr. Offensichtlich<br />

hÄchst irrelevante Informationen?<br />

Die 3. Aussage, daÉ es sich dabei um eine „ebenfalls“ fragmentarische Aufzeichnung handelt,<br />

ist eine textlich nicht abgesicherte Interpretation des Autors: Es kann zwar durchaus so<br />

sein, doch es muÉ nicht so sein. Am Text selbst ist der fragmentarische Charakter nicht deutlich<br />

genug erkennbar. Das wird schon deutlich, wenn mit den Formulierungen der zweiten<br />

HÇlfte des zweiten Akts verglichen wÅrde. In Perspektive von NaK genÅgen die wenigen Zeilen<br />

vollstÇndig fÅr die dort (sowie im Folgenden) deutlich gemachte Aussage: Doch genau<br />

diese dem Autor ja nicht unbekannte Aussage sucht dieser zu suspendieren.<br />

Des Autors 5. Aussage, daÉ „die Eintragung im Manuskript deutlich abgehoben sei“, ist<br />

von Çhnlicher QualitÇt wie die 1. Aussage, denn auch sie ist zwar richtig, doch die spezifische<br />

Art dieser Abgehobenheit – ein einzelner Strich – ist vÄllig angemessen, wenn eine SchluÉszene<br />

von dem mit einem Chorlied abgeschlossenen 6. Akt abgehoben werden soll. Unterscheidet<br />

sie sich doch nicht im geringsten von derjenigen Art von Abgehobenheit – Strich<br />

oder Schlangenlinie –, die das Kind zuweilen in seinen Skripten anwendet, um einzelne Strophen<br />

oder Teile eines nÇmlichen Gedichts – also nicht: um verschiedene Gedichte! – voneinander<br />

abzuheben! Hat der Autor wirklich vergessen, daÉ bspw. in der nach seiner Interpretation<br />

so zeitnahen Sammlung zum 2.2.1856 in dem wohl theodizeeproblemhaltigsten Gedicht<br />

dieser Sammlung, nÇmlich in N. 8. Gewitter, die einzelnen Strophen teils durch Querstriche<br />

teils mittels kleiner Schlangenlinien voneinander abgetrennt wurden? Und daÉ auch in der<br />

Sammlung zum 2.2.1857 schon im ersten Gedicht, in Alfonso, einzelne Strophen durch einen<br />

Querstrich von einander separiert worden waren? Und in Rinaldo sowie in Der Raub der Proserpina<br />

der nÇmlichen Sammlung ebenfalls?<br />

Auch die 6. Aussage, daÉ „die Namen ‘Paris’ und ‘Menelaos’„ in den Besetzungslisten<br />

nicht vorkommen, ist von vergleichbarer QualitÇt: Wiederum ist sie zwar vÄllig richtig, denn<br />

diese Namen kommen „in den Besetzungslisten“ – von Der GeprÄfte oder von Die Gátter auf<br />

den Olymp – tatsÇchlich nicht vor. Doch nochmals wirkt bei weitem Zentraleres konsequent<br />

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ausgeklammert: Der vom Autor mitgeteilte Sachverhalt wÇre als Argument doch erst dann<br />

entscheidend, wenn diese beiden Namen die einzigen Namen wÇren, die in der Besetzungsliste<br />

von Der GeprÄfte nicht aufgefÅhrt sind, im StÅck jedoch als Rollen nachgewiesen werden<br />

kÄnnen. Doch es sind eben nicht die einzigen Namen, die in Der GeprÄfte – worum es hier ja<br />

erst einmal geht –, nicht jedoch in dessen Besetzungsliste vorkommen, denn schlieÉlich listet<br />

„das Register“ von Der GeprÄfte lediglich die Namen des 1. und 2. Akts auf – nicht hingegen<br />

diejenigen der Akte 3, 4, 5 und 6 sowie der SchluÉszene! Doch welcher Leser weiÉ oder erfÇhrt<br />

das? Blufft der Autor hier? So kommen bspw. auch die Namen der drei Familienmitglieder<br />

nicht nur des Haupthelden Sirenius, sondern auch des Autors dieses StÅcks, des Kindes<br />

Fritz Nietzsche, die im 5. Akt auftreten, in dieser Besetzungsliste verstÇndlicherweise noch<br />

nicht vor, nÇmlich „Vater“, „Mutter“ und – „El[isabeth]“; womit der Autor von DlJ, wie sich<br />

noch zeigt, auch so seine recht spezifischen Schwierigkeiten hat. (DaÉ weder Menealos noch<br />

Paris, weder die Nymphen noch die Eltern und Elisabeth als Rollen/Personen in Die Gátter<br />

vorkommen, sei ebenfalls festgehalten.)<br />

Die 2. und 4. Behauptung schlieÉlich, daÉ ein „inhaltlicher Zusammenhang“ der 6 Akte<br />

von Der GeprÄfte „mit der ebenfalls fragmentarischen“ Aufzeichnung I [80] „nicht unbedingt<br />

ersichtlich“ sei, verdienen besondere Beachtung, da hier neben einer konkreten Frage auch<br />

eine Kriterienfrage angesprochen ist. Wenn der Autor von DlJ auch ansonsten als Kriterium<br />

ernst nÇhme, daÉ ein Zusammenhang von Unterschiedlichem nur dann angenommen werden<br />

kÄnne, wenn dieser „unbedingt ersichtlich“ sei, kÄnnte er sich zur Probe einmal fragen, von<br />

welchen seiner ZusammenhÇnge thematisierenden oder behauptenden Thesen oder Argumentationen<br />

in DlJ deren Stichhaltigkeit „unbedingt ersichtlich“ ist. Ein derartiges Kriterium<br />

(„unbedingt ersichtlich“) sprengt nahezu jeden interpretativen Ansatz – auch editorische Entscheidungen<br />

basieren auf Interpretationen; und die nachgutachterlich erfolgten Entscheidungen<br />

in I 1 wohl in sogar besonderem MaÉe! –, prÇmiert auÉerdem geisteswissenschaftlich<br />

weniger Informierte gar positiv, ist hermeneutisch in mehrfacher Hinsicht suizidal; und verrÇt,<br />

sollte nicht geblufft, sondern dieses ‘Kriterium’ tatsÇchlich ernst gemeint gewesen sein, deutlicher<br />

als vieles andere in DlJ Formulierte wohl noch immer nicht erkannte, geschweige denn<br />

aufgearbeitete certistische Intentionen und Perspektiven von dessen Autor (dazu spÇter in<br />

3.6.4.). Nicht nur bei der LektÅre dieser knappen Anmerkung assoziierte ich das Bild einer<br />

frisch gelandeten Fliege auf einem Klebestreifen: Je mehr sie zappelt, desto schneller klebt sie<br />

mit allen Beinen und FlÅgeln endgÅltig fest.<br />

Was nun konkret den Inhalt dieses vermeintlichen ‘Nachtrags’, ‘Anhangs’ oder besser:<br />

dieser ‘mythischen Gegenwelt’ betrifft, so sei lediglich angefÅgt, daÉ der spÇter als Homerinterpret,<br />

Editor usw. hochangesehene Hans Joachim Mette offenbar keinen AnlaÉ sah, hier in<br />

vergleichbarer Weise zu unterscheiden. Im Gegensatz zum Autor von DlJ und den mit dieser<br />

Edition im engeren Sinn Betrauten war Mette habilitierter GrÇzist: So konnte er (wie ich unterstelle)<br />

den Text des Kindes Nietzsche nÇmlich ‘lesen’ (und nicht nur entziffern), denn er<br />

‘sah’ bzw. wuÉte bspw., daÉ der von den ranghÄchsten GÄttern des Olymp betonten Belohnung<br />

des Einhaltens von Gastfreundschaft in den 6 Akten von Der GeprÄfte nun in der korrespondierenden<br />

Parisjagd durch Menelaos 171 der bestrafte Bruch der Gastfreundschaft durch<br />

Raub der SchÇtze und des Eheweibes des Gastgebers entsprach: Genau darin bestand der<br />

„Schimpf“ (in einer auf Gastfreundschaft schwÄrenden ritterlichen Kultur ein unsÅhnbares<br />

Verbrechen). Das bedeutet, daÉ wir es in diesem vermeintlichen Anhang also mit der ‘gegen-<br />

171 Der Raub der SchÇtze und die Ver- sowie EntfÅhrung der Ehefrau Helena des spartanischen KÄnigs<br />

Menelaos durch den trojanischen Prinzen Paris war der AuslÄser des Trojanischen Krieges, des ersten<br />

noch mythischen ‘Weltkrieges’ der ‘griechischen’ Antike, Gegenstand u.a. der Ilias ‘Homers’. So trÇgt<br />

die inszenierte Parisjagd den bekanntesten und konsequenzenreichsten Bruch von Gastfreundschaft<br />

der griechischen (mythischen) FrÅhgeschichte in den dadurch als hochrelevant aufgewerteten Zusammenhang<br />

von Der GeprÄfte ein. Auch dazu subtil Renate G. MÅller: Antikes Denken, 1993.<br />

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wendigen’ 172 SchluÉszene dieses StÅcks à la Homer zu tun haben. Doch der Autor und ggf.<br />

sein GesprÇchspartner ‘sahen’ derlei offensichtlich nicht oder bewerteten die Konstellation<br />

anders, hielten das vom etwa ElfjÇhrigen genutzte klare archaische Modell – der GeprÅfte/Sirenius:<br />

Belohnung fÅr Gastfreundschaft; Paris: Bestrafung fÅr Bruch der Gastfreundschaft<br />

– entweder fÅr nicht beachtenswert oder vermochten es nicht zu erkennen, verfehlten<br />

damit freilich den Sinn des gesamten Arrangements (sowie dieses StÅcks). Derartige Kompetenzdivergenzen<br />

in dem fÅr Nietzsches Entwicklung basalen Gegenstandsfeld ‘Griechen’ bedingen<br />

unterschiedliche Offenheit, SensibilitÇten und PrÇferenzen. So, wie ein potentiell allwissender<br />

Editor den Anhang von KGW I 1 vermutlich noch um einige weitere, bisher dem<br />

Kinde Nietzsche zugeschriebene Verse erweitern dÅrfte – wahrscheinlich hÇtte er aber auf<br />

derartige Ausgliederungen ebenso wie auch die fÅr die BÇnde der KGW I 2 und I 3 Verantwortlichen<br />

verzichtet zugunsten mÄglichst strikter chronologischer und manuskriptnÇherer<br />

PrÇsentation –, die weniger allwissende Editoren oder Interpreten als authentische Nietzschetexte<br />

auffassen, weshalb der Verfasser meint, es sei mangels allwissender Editoren und Interpreten<br />

der Sache dienlicher, Texte mÄglichst in ihren von Nietzsche selbst gestifteten ZusammenhÇngen<br />

zu belassen, so dÅrfte auch ein im Blick auf die LektÅre des Kindes Nietzsche<br />

und dessen Interessen kompetenterer Interpret Nietzsches authentische Kindertexte tiefenschÇrfer<br />

zu erfassen vermÄgen als ein primÇr christlich oder gar theologisch orientierter Interpret<br />

selbst besten Willens, wenn dieser nicht Åber das fÅr die Entwicklung des Kindes Nietzsche<br />

bereits relevante altertumskundliche Wissen und souverÇne Offenheit verfÅgt. Da gibt es<br />

wenigstens dann kein Deuteln oder Ausweichen, wenn textlich belegt ist, daÉ das Kind Nietzsche<br />

(kulminierend 1856) stÇrkste BezÅge zu ‘den Griechen’ hatte; und genau das wiederum<br />

hat dann auch Konsequenzen im Blick auf editorische Fragen. Dann bspw. versteht ein Interpret,<br />

wenn zwei scheinbar divergente Texte auf der nÇmlichen Manuskriptseite direkt hintereinander<br />

in einer auf ihre ZusammengehÄrigkeit verweisenden Anordnungsform stehen, ihren<br />

Zusammenhang und damit auch den Grund ihres Hintereinanderstehens; und ein anderer versteht<br />

es eben nicht. Was so lange kein Problem ist, so lange er bereit ist zu lernen. Schwierig<br />

wird es, wenn er glaubt, Lehren aus einer Position erteilen zu kÄnnen, die ihre InferioritÇt<br />

Informierteren zwar nachdrÅcklich dokumentiert, sich gegen Kritik jedoch immunisiert.<br />

Was schlieÉlich die Schrift dieser SchluÉszene betrifft, so hat die nochmalige Autopsie des<br />

Originals (wie der Åbrigen oben erwÇhnten Texte) am 25./26.8.2010 durch Ursula Schmidt-<br />

Losch und den Verfasser bestÇtigt, daÉ keine Åber die geringfÅgigen Divergenzen der Niederschrift<br />

der erhaltenen Akte 1-6 von Der GeprÄfte hinausgehenden Divergenzen in den Zeilen<br />

dieses ‘Nachtrags’ vorliegen, d.h. daÉ Schriftart, SchriftgrÄÉe, die dabei verwandte Tinte,<br />

Feder usw. nicht erkennen lassen, daÉ dieser ‘Nachtrag’ – anders als das „Register“ usw. –<br />

dem 6. Akt erst deutlich spÇter angefÅgt wurde.<br />

So ist es wohl bedauernswerte Unkenntnis oder aber spezifische Absicht, hier, wenn nicht<br />

endlich stichhaltige Argumente nachgetragen werden kÄnnen, Divergenzen mit dem Effekt<br />

anzusetzen, die SchluÉszene des StÅckes von diesem abzutrennen bzw. sie als separates<br />

Fragment auszuweisen; und sie sogar in einem experimentum crucis einer NaK-Interpretation<br />

von Der GeprÄfte wie in DlJ konsequent zu Åbergehen. Wiederum die Frage, warum derlei so<br />

wichtig ist.<br />

Nun erst zurÅck zur Frage der Anordnung des Anhangs von Der GeprÄfte. Beide Editionen<br />

bieten ein Register der Namen (d.h. der beteiligten 5 Kinder) in dem Lustspiel: Der GeprÄfte,<br />

p. 26, des Heftchens (Mappe I 3), und auf der Folgeseite auch der Rollenverteilung der beiden<br />

Akte I und II (I 331 bzw. I 1, 109f.) dieses StÅcks. Leider ist nichts datiert. Doch wiederum<br />

172 DaÉ ein spÇterer Basler Altphilologiedozent, der Heraklits Gnomen vielleicht schon als OberstufenschÅler<br />

in Schulpforta las oder von einem Griechischlehrer einen Hinweis erhielt, zeitweise ‘auf<br />

Heraklit fast abflog’, muÉ Altphilologen wohl kaum erklÇrt werden. Wer dem Kind Nietzsche diese<br />

intuitive Komposition nicht zutraut, wird wohl nur den Ausweg finden, daÉ die Anregung wenigstens<br />

zu dieser SchluÉszene von Ernst Ortlepp ausging.<br />

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teilt I 1 den in (von den Akten 1 bis 6 incl. SchluÉszene des StÅckes) farblich abweichender<br />

Tinte geschriebenen Text auf die Nummern 1 [81] und 1 [81Z] auf, wÇhrend die HKG auf<br />

eine derartige Unterscheidung verzichtet. So wird vielleicht eine Tendenz deutlich: WÇhrend<br />

die HKGW dem Leser eher nahelegt, auf ZusammenhÇnge bei Nietzsche zu achten, bemÅht<br />

sich die KGW I 1 um (auch in anderem Zusammenhang noch relevante) mÄglichst weitestreichende<br />

zwar Zitationsnachweise erleichternde, doch ZusammenhÇnge zerschneidende Differenzierungen<br />

und Ausgliederungen. Ganz so selbstverstÇndlich sind diese jedoch offenbar<br />

nicht, denn sonst hÇtte sie schon Hans Joachim Mette vorgenommen. Was wird – in Korrektur<br />

der HKGW – damit intendiert?<br />

(2) Jetzt erst zur Frage der Relevanz jeweiliger zeitlicher Anordnung von Der GeprÄfte<br />

sowie der Gátter. Aus der Autobiographie des knapp VierzehnjÇhrigen war bekannt, daÉ Fritz<br />

„zwei kleine Schauspiele im Verein mit Wilhelm geschrieben“ zu haben behauptet (I 30 bzw.<br />

I 1, 309), Die Gátter vom Olymp und Orkadal/Orcadal. Von Orkadal/Orcadal sind Fragmente<br />

zugÇnglich (I 372-374 bzw. I 1, 165-168), doch Die Gátter vom Olymp haben in Nietzsches<br />

Skripten mit Ausnahme einer die Rollenverteilung des StÅcks bietenden „Einladung“ geringfÅgig<br />

modifizierten Titels (I 1, 110) offenbar keinerlei weitere Spuren mehr hinterlassen; oder<br />

doch?<br />

Um hier weiterzukommen, analysieren und vergleichen wir also nach einem äberblick<br />

Åber externe Quellen (in 3.4.4.3.) in „Interpretationsfragen“ (in 3.4.4.4.) neben den Titeln (in<br />

3.4.4.4.2.) an erster Stelle das, was wir auÉerdem noch gemeinsam von beiden StÅcken haben:<br />

die „Personen“ bzw. Rollen zuerst aus der Perspektive des Çlteren StÅcks, von Der GeprÄfte,<br />

und anschlieÉend auch aus derjenigen der Gátter (in 3.4.4.4.1.).<br />

3.4.4.3. Quellenprobleme<br />

Leider sind bisher keinerlei externe Quellen zu Der GeprÄfte bekannt geworden: Nietzsche<br />

selbst berichtet offenbar weder zeitnah noch spÇter davon; und auch Dritte haben sich m.W. in<br />

keiner bisher bekannt gewordenen Formulierung hierzu geÇuÉert. So verfÅgen wir lediglich<br />

Åber den in Nietzsches eigener Handschrift vorliegenden Text samt der erwÇhnten ebenfalls in<br />

Nietzsches eigener Handschrift auf zwei weiteren Seiten vorliegenden HinzufÅgungen.<br />

Kurioserweise fast genau umgekehrt ist die Konstellation bei Die Gátter auf den Olymp!<br />

WÇhrend wir von Die Gátter vom Olymp Åber Nietzsches Notiz aus dem Herbst 1858 (vgl.<br />

unten 4.) hinausgehend nur dann etwas wissen, wenn wir das StÅck mit dem Lustspiel Die<br />

Gátter auf den Olymp gleichsetzen, verfÅgen wir zwar auch dann noch Åber keinerlei Text,<br />

doch immerhin Åber<br />

1. eine wohl ebenfalls in Nietzsches Handschrift vorliegende „Einladung“ zu einem<br />

Lustspiel in 8 Akten mit insgesamt 9 Rollen sowie deren Besetzung, betitelt Die Gátter auf<br />

den Olymp (KGW I 1, 110).<br />

So wissen wir nicht einmal mit Sicherheit, ob die „Einladung“ nur ein Entwurf oder<br />

aber die Einladung selbst ist. SchlieÉlich enthÇlt sie weder eine Orts- noch eine Terminangabe.<br />

HÇtten wir nicht mehr als diese „Einladung“, so wÅÉten wir nicht einmal, ob dieses<br />

Lustspiel jemals aufgefÅhrt wurde; geschweige denn, wann und wo. Lediglich die Namen<br />

der Mitspieler erlauben eine Zuordnung auf die Jahre 1855-1858. Mangels weiterer Zeugnisse<br />

empfiehlt sich aber, diese „Einladung“ vorlÇufig als die ausgegebene Einladung aufzufassen.<br />

GlÅcklicherweise kennen wir mittlerweile jedoch fÅnf verschieden zeitnahe, unterschiedlich<br />

umfangreiche, in leider allen fÅnf FÇllen jedoch keineswegs unproblematische ‘Berichte’,<br />

98


die in der Reihenfolge zunehmenden zeitlichen Abstands zu dem durch eine Tagebuchnotiz<br />

(hier unter 2.) gesicherten AuffÅhrungsdatum berÅcksichtigt seien.<br />

2. Der erste und zeitnÇchste ‘Bericht’ stammt von Nietzsches Mutter und ist eine wohl<br />

kurz nach der AuffÅhrung verfaÉte Tagebuchnotiz:<br />

„B. Pinders war ich d. 8. Febr. z. einer Vorstell gelad. welche Wilh. P. u. mein Fritz geschrieben.<br />

„Die GÄtter auf den Olymp“ Hr Rth P Åbernahm f.d. Fehlenden Krug d. Rolle als Jupiter,<br />

Frtz. w. Mars Wilh. Merkur Soph. P. Dyana Gret. P. Juno Lies. Nietz. Pallas Athene es war<br />

wirklich reizend.“ 173<br />

So erfahren wir (a) den mit der Formulierung der „Einladung“ identischen Titel des<br />

StÅcks, (b) das AuffÅhrungsdatum, (c) den AuffÅhrungsort, (d) als Autoren der „Vorstellung“<br />

Wilhelm und Fritz, (e) Nichtteilnahme von Gustav Krug, (f) RollenÅbernahme des –<br />

wenigsten diese Rolle bereits kennenden – Vaters von Wilhelm, (g) ein Gesamturteil sowie<br />

(h) einige der sich mit den Angaben der „Einladung“ deckenden Rollen und Rollenzuordnungen<br />

sowie (i) die Namen aller Mitspieler.<br />

Es fÇllt auf, daÉ 3 der 9 in der „Einladung“ aufgelisteten Rollen keine ErwÇhnung finden:<br />

Apollo, Thalius und Platonius. Hat das etwas und, wenn ja, was hat das fÅr die AuffÅhrung<br />

und ggf. den Text, ‘die Fassung’, des StÅcks zu bedeuten?<br />

3. Auch der zweite nur wenige Monate jÅngere ‘Beleg’ stammt von Nietzsches Mutter,<br />

denn eine Briefpassage vom 25.5.1856 an ihren Bruder Ernst lautet:<br />

„Fritz bleibt noch [!!] seinem Vorsatze treu, Geistlicher zu werden, setzt darum“ – oder weil<br />

seine Mutter und Erbtante Rosalie das ebenso wie Kirchenliedabschriften zu Weihnachten wÅnschen?<br />

– „Psalmen in Musik, schreibt aber auch [!!] kleine TheaterstÅcke, wo diesen Winter zu<br />

aller ErgÄtzen bei Rath Pinders eins [!!] zur AuffÅhrung kam, betitelt ‘Die GÄtter auf dem Olymp’,<br />

und eben schieÉt er im Hof einen [hÄlzernen] Vogel ab.“ 174<br />

Aus etwas Distanz formuliert, weicht dieser ‘Bericht’ von der Tagebuchnotiz nicht unwesentlich<br />

ab. Von Bedeutung ist dabei wohl vor allem zweierlei: (a) Fritz ist Autor mehrerer<br />

kleiner TheaterstÅcke, (b) von denen „eins“ zur AuffÅhrung kam. Hiernach wÇre eher<br />

Fritz alleiniger oder wenigstens ‘fÅhrender’ Autor eines StÅckes, das entweder in der Fassung<br />

von Fritz oder aber durch Dritte bearbeitet zur AuffÅhrung kam. Renommiert hier lediglich<br />

die Witwe vor ihrem Bruder und wertet sie ihren Fritz zum alleinigen Autor auf?<br />

Oder weiÉ sie inzwischen mehr als noch dicht nach der wohl alle Zuschauer Åberraschen<br />

sollenden AuffÅhrung? Jedenfalls scheint das aufgefÅhrte StÅck geringfÅgig verÇnderten<br />

Titels fÅr Nietzsches Mutter – inzwischen – in die Sequenz von Fritz geschriebener TheaterstÅcke<br />

zu gehÄren. Von einer Mitautorschaft Wilhelms erfahren wir nichts mehr.<br />

4. Der nÇchste etwa zweieinhalb Jahre nach der AuffÅhrung des StÅcks wohl Anfang<br />

September 1858 formulierte ‘Beleg’ stammt aus Nietzsches Autobiographie Aus meinem<br />

Leben, genauer: aus dem Zusammenhang der Bewertung und Auflistung seiner poetischen<br />

Leistungen. So fÅhrt Nietzsche nach einem dem Zeitraum 1855-1858 zugewiesenen „VerzeichniÉ“<br />

von 46 Gedichten aus:<br />

173 Franziska Nietzsche, Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1855/56. GSA Weimar 100/840; m.W.<br />

erstmals in NaJ I, S. 369, Anm. 103; wiederholt in NaJ II, S. 758.<br />

174 Adalbert Oehler: Nietzsches Mutter. MÅnchen, 2 1941, S. 66; vgl. auch NaK, S. 876f.; Klaus Goch<br />

gibt in Franziska Nietzsche, 1994, S. 378, Anm. 270, die korrekte Datierung des an den Bruder Ernst –<br />

nicht: Edmund – gesandten Briefes auf den 25.5.1856.<br />

99


„Auch habe ich zwei kleine Schauspiele im Verein mit Wilhelm geschrieben. Das eine von diesen<br />

heiÉt: Die GÄtter vom Olymp. Wir haben es einstmals aufgefÅhrt, aber obgleich es nicht<br />

recht gelang hat es uns doch groÉen SpaÉ bereitet. Die silbern und goldnen Panzer, Schilder und<br />

Helme, ebenso die prÇchtigen von Åberall her geholten AnzÅge der GÄttinnen spielten eine gro-<br />

Ée Rolle.“ (I 30 bzw. I 1, 309)<br />

Die Beschreibung erweckt z.T. den Eindruck, als sei sie an Klein-Elisabeth gerichtet,<br />

denn auÉer (a) der vergleichsweise breit ausgefÅhrten KostÅmiererei und (b) der hierfÅr erforderlichen<br />

Beschaffungsaktionen erfahren wir nur noch, daÉ (c) das StÅck „groÉen SpaÉ“<br />

machte, (d) „obgleich es nicht recht gelang“ (dazu spÇter), und (e) daÉ Fritz es ebenso wie<br />

ein zweites Schauspiel – es handelt sich dabei um Orkadal/Orcadal – „im Verein mit Wilhelm“<br />

geschrieben habe. Leider ist dies m.W. die einzige Aussage von Nietzsche zu diesem<br />

StÅck. Bleibt also zu klÇren, was Nietzsche mit seiner Formulierung „im Verein mit<br />

Wilhelm“ gemeint haben dÅrfte. SchlieÉlich (f): Mittlerweile haben wir (in freilich nur geringfÅgiger<br />

Modifikation) den dritten Titel dieses StÅcks.<br />

5. Ein vierter, 1895 erschienener, vergleichsweise umfangreicher, mehrere Druckseiten<br />

umfassender ‘Bericht’ wurde von Nietzsches Schwester also erst knapp 40 Jahre nach AuffÅhrung<br />

des StÅcks verÄffentlicht. Elisabeth war zum Zeitpunkt der AuffÅhrung von Die<br />

Gátter etwa 9 1/2 Jahre alt. Ihren ‘Bericht’ aufzunehmen und in allen Details zu diskutieren,<br />

ist im Rahmen dieser Metakritik nicht mÄglich.<br />

So sei nur festgehalten, daÉ er mit dem Text der „Einladung“ zur AuffÅhrung der Gátter<br />

einerseits in wesentlichen Punkten inkompatibel ist; daÉ er aber andererseits ‘Informationen’<br />

bietet, die den rÇtselhaften Eindruck dieser „Einladung“, in der mit „Thalius“ und<br />

„Platonius“ immerhin zwei romanisierte Philosophen auftreten, die im Vergleich mit Der<br />

GeprÄfte und allen bisher bekannt gewordenen Texten des elfjÇhrigen Nietzsche geradezu<br />

vom Himmel geplumpst zu sein scheinen, etwas aufzuhellen vermÄgen. Der ‘Bericht’ lÇÉt<br />

erkennen, daÉ weder Fritz allein noch Fritz und Wilhelm gemeinsam mit den drei kleinen<br />

Schwestern Nietzsche und Pinder das StÅck auffÅhrten, sondern daÉ Wilhelms Vater sich<br />

ebenso an den Vorbereitungen wie nach Ausfall von Gustav, um die AuffÅhrung zu retten,<br />

sogar als aktiver Mitspieler an der AuffÅhrung – offenbar sogar ‘aktionsfÅhrend’ – beteiligte.<br />

Was die Frage der Autorschaft betrifft, so formulierte Elisabeth:<br />

„Er faÉte schlieÉlich mit Wilhelm den Plan, ein Schauspiel zu verfassen, das wir dann allesammt<br />

auffÅhren wollten.“ An spÇterer Stelle fÇllt zweimal „die beiden Dichter“. 175<br />

„Er [...] schlieÉlich mit Wilhelm“? Doch „Er faÉte“ schlieÉlich „mit Wilhelm den<br />

Plan“? ErinnerungstÇuschungen ausgeschlossen, legen Elisabeths Formulierungen die Annahme<br />

nahe, Fritz und Wilhelm hÇtten sich wÇhrend der Vorbereitung und AuffÅhrung des<br />

StÅcks eintrÇchtig als dessen Dichter vor ihren kleinen Schwestern und dem Publikum in<br />

Szene gesetzt; doch was die Konzeption und Ausformulierung des StÅckes selbst betrifft,<br />

so ist Elisabeths Wortlaut wenig ergiebig. Offenbar war Fritz es, der mit Wilhelm den<br />

„Plan“ faÉte, „ein Schauspiel zu verfassen“ – doch ob Wilhelm lediglich akzeptierte, daÉ<br />

Fritz der Verfasser war, und erst anschlieÉend ggf. in Absprache mit Fritz modifizierte;<br />

oder ob beide gemeinsam das StÅck schrieben bzw. ausarbeiteten, ist aus ihrer Formulierung<br />

ebensowenig wie aus derjenigen ihres Bruders klar genug zu erkennen, da dieser nicht<br />

mehr formuliert hatte als: „im Verein mit Wilhelm“.<br />

175 Elisabeth FÄrster-Nietzsche: Das Leben Friedrich Nietzsches I. Leipzig, 1895, S. 45-48.<br />

100


SchlieÉlich noch Inhaltsfragen: Schon im ersten Akt soll Fritz als „Held“ einen Gegner<br />

gejagt und auf der BÅhne getÄtet haben; spÇter soll er auf den Olymp erhoben und vergottet<br />

worden sein. Das paÉt trotz mancher NÇhe nicht zur Rolle des Mars und bedeutet, daÉ<br />

das StÅck gegenÅber der Einladung rollenerweitert und ggf. inhaltlich modifiziert wurde.<br />

Es sei denn, Elisabeth habe fabuliert, sich falsch erinnert oder vorsichtshalber Der GeprÄfte<br />

gelesen und entsprechend ErinnerungslÅcken ‘gefÅllt’.<br />

Vielleicht wundert nicht mehr sonderlich, daÉ das StÅck nun einen vierten Titel trÇgt:<br />

„Die GÄtter des Olymp’s“.<br />

6. SchlieÉlich ein 1912, ca. 56 Jahre nach der AuffÅhrung des StÅckes, ebenfalls von Elisabeth<br />

F.-N. (in Der junge Nietzsche. Leipzig, 1912, S. 54-57) vorgelegter, ihre AusfÅhrungen<br />

von 1895 z.T. modifizierender ‘Bericht’. Was die Autorschaft des StÅcks betrifft,<br />

Åbernimmt E. die Formulierungen von 1895. Wieder hÇlt sie das ‘Regisseuramt’ von Wilhelms<br />

Vater fest. Auch in den Åbrigen Punkten decken sich die AusfÅhrungen von 1912<br />

mit denen von 1895 zum grÄÉten Teil. Relevante Abweichungen werden spÇter ggf. berÅcksichtigt.<br />

äberrascht, daÉ es das StÅck 1912 in der sechsten Nennung bereits auf den fÅnften Titel<br />

bringt: „Die GÄtter im Olymp“?<br />

Soweit zu den bisher bekannt gewordenen fÅnf externen Quellen bzw. ‘Berichten’. Was<br />

die Verfasserfrage von Die Gátter betrifft, so dÅrfte deutlich geworden sein, daÉ des Autors<br />

basale Voraussetzung gemeinsamer sowie gleichbeteiligter Autorschaft von Fritz und Wilhelm<br />

vom Textbefund her keineswegs zweifelsfrei gesichert ist; sie bleibt lediglich eine nicht<br />

unwahrscheinliche MÄglichkeit, ist aber nicht hinreichend geeignet, die ihr in DlJ zugedachte<br />

Funktion eines fundamentum inconcussum zugunsten der Hauptthese 1 zu Åbernehmen (dazu<br />

spÇter in 3.4.5.).<br />

Mit diesen äberlegungen und Fragen haben wir freilich das thematisierte Terrain erweitert,<br />

sind von Editions- Åber Quellenfragen nun schwerpunktmÇÉig bereits zu<br />

3.4.4.4. Interpretationsfragen<br />

bzw. nunmehr auch direkt zu HÄdls Hauptthese 1 Åbergegangen, die jedoch noch eher<br />

formalen äberlegungen gelten, bevor wir zu den oben als „Hauptthese 2“ angefÅhrten beiden<br />

Subthesen Åbergehen (in 3.4.4.4.5.); wobei freilich nicht auszuschlieÉen ist, daÉ infolge der<br />

Verschmelzung der hier separierten ThemenstrÇnge eine Problematisierung der in des Autors<br />

Hauptthese 2 formulierten beiden Kritikpunkte schon erfolgt sein kÄnnte, bevor wir uns ihnen<br />

thematisch explizit zuwenden; und der Nebenthese ohnedies.<br />

3.4.4.4.1. Die Rollen/Personen<br />

Beginnen wir also mit der BerÅcksichtigung der personellen bzw. Rollen prÇsentierenden<br />

Tableaus der beiden StÅcke.<br />

(1) Fakten<br />

Um die NachprÅfbarkeit der folgenden Skizzen zu erhÄhen, liste ich die Rollen/Personen<br />

beider StÅcke auf:<br />

Der GeprÄfte. Die GÇtter auf den Olymp.<br />

Akt 1 Personen:<br />

Jupiter. Wilhelm. WÅhlhÇhlm. Jupiter. Gustav Krug<br />

Vesta. Elisabeth. Merkur. W[ilhelm] Pinder<br />

Apollo. Fr.A. Mars. F[riedrich] Nietzsche<br />

Juno. Gr[etchen Pinder]. Apollo. W[ilhelm] Pinder<br />

101


Diana. S[o]p[hie Pinder]. Diana. S[ophie] Pinder<br />

Juno. G[retchen] Pinder<br />

Akt 2 Athene. E[lisabeth] Nietzsche<br />

Bett[elmann]. Fr[iedrich].A. Thalius. F[riedrich] Nietzsche<br />

Siren[ius]. Wihl[helm Pinder]. Platonius. W[ilhelm] Pinder<br />

(I 1, 110).<br />

Akt 3<br />

Apoll[o].<br />

Jup[iter].<br />

Vesta.<br />

Diana.<br />

Juno.<br />

Akt 4<br />

Nymphen. 176 [bzw. Sophie sowie Gretchen Pinder und Elisabeth Nietzsche]<br />

Sirenius.<br />

Akt 5<br />

Vat[er].<br />

Mut[ter].<br />

El[isabeth].<br />

Siren[ius].<br />

Nympfen [bzw. Sophie sowie Gretchen Pinder und Elisabeth Nietzsche]<br />

Akt 6.<br />

Jupiter.<br />

Juno.<br />

Vesta.<br />

Diana.<br />

Siren[ius].<br />

Nympfen.<br />

[SchluÉszene als mythische Gegenprobe:]<br />

Men[elaos].<br />

Paris.<br />

(nach I 327-331 bzw. I 1, 105-110).<br />

Die Auflistung der Rollen und Personen von Der GeprÄfte erfolgt bei Akt 1 und 2 nach einem<br />

„Register“ in Nietzsches Schrift, bei den Akten 3 bis 6 und der SchluÉszene aufgrund des<br />

176 Fritz wechselt in der Schreibweise von „Nymphen“ schnell zu „Nympfen“. Einer der GrÅnde, daÉ<br />

die in der HKGW I vorgelegten Texte des Kindes Nietzsche, wenn man von der Autobiographie des<br />

DreizehnjÇhrigen (Aus meinem Leben) aus dem SpÇtsommer 1858 einmal absieht, jahrzehntelang<br />

wenn nicht beachtet, so doch nicht ernstgenommen wurden, kÄnnte z.T. auch mit der selbst fÅr heutige<br />

VerhÇltnisse irritierend fehlerreichen, offenbar weitgehend seinem thÅringer Dialekt folgenden Rechtschreibung<br />

des Kindes Nietzsche zusammenhÇngen. So schloÉ mancher wohl allzuschnell von orthographischen<br />

Defiziten auf wenig ausgeprÇgte intellektuelle KapazitÇt. Und vielleicht benÅtzt auch<br />

kÅnftig noch mancher entsprechend beeindruckende Zitate, um von einer inhaltlich tiefenschÇrferen<br />

Diskussion abzulenken. (In Na habe ich aus heutiger Sicht vielleicht den Fehler gemacht, Nietzsches<br />

Texte, einerseits, um nicht obige Vorurteile zu bedienen, andererseits aber, um nicht mit der KGW I<br />

oder auch mit der HKGW zu konkurrieren, in modifizierter Rechtschreibung, dem heutigen Sprachgebrauch<br />

etwas angenÇhert, aufzunehmen. Ich wollte auch vermeiden, daÉ Nietzschezitate aus Na<br />

entnommen anstatt daÉ die entsprechenden Editionen konsultiert werden; fairerweise hatte ich sorgfÇltige<br />

Leser aber in einer Anm. auf diesen Sachverhalt eigens hingewiesen.)<br />

102


Textes der einzelnen Akte und dieser SchluÉszene. Die „Personen“ und Rollen der Gátter<br />

bietet die erwÇhnte „Einladung“.<br />

Deutlich ist, daÉ die Rollen der Akte 1, 3 und 6 von Der GeprÄfte mit Ausnahme der Ersetzung<br />

von Apollo durch Sirenius in Akt 6 identisch sind. Und deshalb liegt als Hypothese<br />

nahe, anzunehmen, daÉ auch deren Besetzung konstant bleibt. Das dÅrfte bedeuten, daÉ<br />

Freund Wilhelm in den Akten 1, 3 und 6 die Rolle des Jupiter und in Akt 2 die des Sirenius,<br />

daÉ Fritz hingegen die Rollen des Apollo in den Akten 1 und 3, des verkleideten, unbekannten<br />

Gottes Jupiter in Akt 2 sowie des Sirenius in Akt 6 Åbernimmt, so daÉ jeder von beiden dreimal<br />

eine GÄtter- und einmal die Sireniusrolle Åbernimmt. Einer von beiden darf auÉerdem in<br />

Akt 5 Sirenius und der andere dessen Vater spielen. So bleibt die Besetzung der Sireniusrolle<br />

in Akt 4 zwar offen, doch aus Perspektive der Rollenkonstanz liegt die Annahme nahe, Fritz<br />

wÅrde von Akt 4 bis 6 diejenige des Sirenius und Wilhelm in Akt 5 die des Vaters Åbernehmen.<br />

Deutlich ist auch, daÉ in Der GeprÄfte lediglich Fritz und Wilhelm als Mitspieler eingeplant<br />

sind; und daÉ Freund Gustav erst fÅr Die Gátter als Mitspieler berÅcksichtigt und wohl<br />

auch benÄtigt ist.<br />

DaÉ schon der ElfjÇhrige nachweisbar Apollo zu spielen plant; und Mars, Menelaos und<br />

Thales (s.u.) gespielt zu haben scheint, dÅrfte wenigstens fÅr Sympathisanten der vom Vf.<br />

nachdrÅcklich gegenÅber problemflÅchtigen interpretativen Modernismen und jedweder Art<br />

von BrÄckelchenphilologie betonten immensen psychischen und thematischen KontinuitÇt<br />

Nietzsches seinen Reiz haben.<br />

Ein kleines RÇtsel stellt das unkommentierte „A.“ hinter dem Nietzsche geltenden „Fr.“<br />

des ersten und zweiten Aktes des Registers dar. Was mag es bedeuten? „Fr. Apollo“? Oder<br />

gar, sehr viel plausibler, „Fritz Autor“?<br />

(2) Details und Konsequenzen<br />

Vier der 9 „Personen“ der Gátter – was fÅr den Inhalt und die jeweilige Ausgestaltung der<br />

Rollen ja noch nichts Genaueres besagen muÉ, denn auch den in beiden StÅcken nÇmlichen<br />

‘Personen’ kÄnnten ja je nach verÇndertem Arrangement unterschiedliche Funktionen, Verhaltensweisen<br />

incl. ‘Reden’ usw. zugewiesen worden sein – Åberschneiden sich mit den 7<br />

Rollen von Der GeprÄfte, die im „Register“ fÅr die Akte 1 und 2 belegt sind – es handelt sich<br />

um Jupiter, Apollo, Juno und Diana –, drei davon finden sich ausschlieÉlich in Der GeprÄfte,<br />

wobei ja nur die Akte 1 und 2 eigens spezifiziert sind (nÇmlich: Vesta in Akt 1 und Bettelmann<br />

sowie Sirenius in Akt 2). BerÅcksichtigen wir – in Ausklammerung der Rolle der in Akt<br />

4, 5 und 6 von bis zu drei Personen gespielten Nymphen – auch die restlichen Akte von Der<br />

GeprÄfte, so haben wir in Akt 5 drei weitere Rollen – Vater, Mutter und Elisabeth – einzubeziehen,<br />

weshalb im Lustspiel von Der GeprÄfte 10 Rollen oder Personen – und in der<br />

SchluÉszene zwei weitere Rollen oder Personen – identifiziert werden kÄnnen, von denen<br />

lediglich 4 auch fÅr Die Gátter geplant sind (also beeindruckende 33,33%).<br />

WÅrde ich zur Probe ganz so eng interpretieren, wie der Autor sich Nak-Interpretationen in<br />

der Regel vornimmt, so genÅgte, darauf zu verweisen, daÉ nicht Jahrzehnte spÇter mÄglicherweise<br />

fabulierte Geschichten von Elisabeth, die 1895 und 1912, also knapp 40 und etwa 56<br />

Jahre nach der AuffÅhrung der Gátter, sich biographisch ÇuÉert, die primÇre Basis von Falsifikationen<br />

darstellen, sondern Texte, d.h. Nietzsches Lustspiel Der GeprÄfte und die Einladung<br />

zu Die Gátter in mÄglicherweise ebenfalls Nietzsches Handschrift; und sonst erst einmal<br />

nichts. Dann gelten alle Rollen von Der GeprÄfte, also nicht nur die erwÇhnten 10 Rollen,<br />

sondern auch noch die drei Zweitrollen der Nymphen sowie die beiden Rollen der SchluÉszene,<br />

da auch im Rollentableau der Gátter 3 zweite Rollen aufgefÅhrt sind, so daÉ 15 Rollen<br />

von Der GeprÄfte den 9 Rollen der Gátter entsprechen, von denen jedoch lediglich 4 auch in<br />

Der GeprÄfte auftreten. So haben wir es streng genommen mit einer Differenz von 73,33 %<br />

bzw. einer äberschneidung von lediglich 26,67 % zu tun.<br />

103


Bezeichnend als experimentum crucis vor allem, daÉ die Hauptrolle von Der GeprÄfte, Sirenius,<br />

auf die das ganze StÅck ausgerichtet ist – der Autor verwendet sogar den Ausdruck<br />

„Sirenius-Fragment“ –, in Die Gátter nicht einmal mehr vorkommt. Warum wurde selbst<br />

noch in DlJ dieser entscheidende, unschwer bemerkbare und auch ‘bedenkbare’ Punkt nochmals<br />

Åbergangen? Schon allein deshalb implodiert dieses 2. experimentum crucis. Dabei<br />

bleibt es freilich nicht.<br />

Nun erst genauer zu Die Gátter. In der „Einladung“ des am 8.2.1856 aufgefÅhrten StÅcks<br />

Die Gátter auf den Olymp. in 8 Acten werden 9 „Personen“ aufgelistet, von denen fÅnf Rollen<br />

neu bzw. anders als in Der GeprÄfte besetzt sind: Merkur, Mars, Athene, Thalius und Platonius;<br />

umgekehrt sind nicht weniger als 11 der 15 Personen von Der GeprÄfte – einschlieÉlich<br />

der drei Nymphen und beiden Rollen der SchluÉszene! – nicht mehr in die Besetzungsliste der<br />

Gátter aufgenommen worden.<br />

Fast ÅberflÅssig erscheint, nun wie folgt zusammenzufassen: Beim Vergleich der aus beiden<br />

StÅcken rekonstruierbaren Rollen – selbst ohne den Menelaos-Paris-Text der SchluÉszene<br />

– ist nun mit hinreichender Sicherheit belegt, daÉ bereits in BerÅcksichtigung der Besetzung<br />

der beiden StÅcke die Unterschiede zwischen ihnen erheblich grÄÉer sind – und auch sein<br />

mÅssen – als die Gemeinsamkeiten. Schon daÉ der spezifischen Ausgestaltung der Hauptrolle<br />

von Der GeprÄfte in dem potentiellen Nachfolger keine vergleichbare Rolle mehr entsprechen<br />

kann, liegt wohl auf der Hand, denn: 1. den sechs GÄttern der Gátter – anstatt der fÅnf GÄtter<br />

von Der GeprÄfte – stehen nicht mehr vier ‘ganz normale’ Menschen gegenÅber (wie in Der<br />

GeprÄfte Sirenius, dessen Eltern und Schwester Elisabeth), sondern statt ihrer 2. die beiden<br />

romanisierten Philosophen Thalius und Platonius, deren Åberraschender Auftritt in dem lt.<br />

Autor von zwei ElfjÇhrigen geschriebenen StÅck mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit<br />

auf die Anregung und Mithilfe von Wilhelms Vater (s. u.) zurÅckging; dazu kommt<br />

3., daÉ das VerhÇltnis dieser beiden Philosophen sowohl zueinander als auch 4. zu den GÄttern<br />

in Die Gátter ein prinzipiell anderes gewesen sein muÉte als das eines zwecks ErhÄhung<br />

zum Halbgott auf Gastfreundlichkeit und Mut zu äberprÅfenden sowie seine drei nÇchststehenden<br />

Familienmitglieder mit auf den Olymp Nehmenden (und damit ebenfalls zu HalbgÄttern<br />

Erhebenden) in Der GeprÄfte, liegt nun denn doch wohl ebenfalls auf der Hand.<br />

Schon aus jedem dieser vier GrÅnde und nicht erst aus deren Ensemble – selbst noch dabei<br />

bleibt es nicht! – wÇre die Annahme einer Paenegleichsetzung oder auch nur direkten Ableitung<br />

des einen StÅckes aus dem Anderen bspw. als endfassungsnahe Vorstufe eine bereits in<br />

BerÅcksichtigung der Rollenverteilung beider StÅcke vom dokumentierten Befund her mehrfach<br />

falsifizierte Klitterung.<br />

Die groÉenteils divergenten Rollen legen als bestbewÇhrte Annahme nahe: Es handelt sich<br />

um zwei heterogene, unterschiedlich konzipierte ‘Griechen’-StÅcke, deren zeitlicher Bezug<br />

noch offen und zwischen frÅhestens Ende September 1855 fÅr Der GeprÄfte und Anfang Februar<br />

1856 fÅr Die Gátter anzusetzen ist. Doch weiter!<br />

3.4.4.4.2. Titel der StÅcke<br />

Das mÅÉte zwar lÇngst genÅgen, nun noch ergÇnzend zu den Titeln der beiden StÅcke. Da<br />

wir es beim vorliegenden Text von Der GeprÄfte, wie auch aus dem Register hervorgeht, mit<br />

einem Fragment zu tun haben, denn dessen 1. Akt ist nicht nur weit kÅrzer ausgefallen als die<br />

Åbrigen Akte, ist auch kaum verwunderlich, daÉ die äberschrift fehlt. Doch den Titel finden<br />

wir ja in dem „Register der Namen in den Lustspiel: Der GeprÅfte“ (I 331 bzw. I 1, 109) in<br />

hinlÇnglicher Sicherheit; und der Autor hat gegen diesen Sachverhalt auch keine EinwÇnde<br />

vorgetragen. Auch der (lediglich in der Formulierung geringfÅgig variable) Titel des zweiten<br />

StÅcks liegt quasi authentisch vor, denn die erwÇhnte Einladung formuliert: „Die GÄtter auf<br />

den Olymp“ (I 1, 110).<br />

Ein Vergleich der Titel bestÇrkt des weiteren die im Blick auf die deutliche Rollendivergenz<br />

bereits gewonnene Hypothese, daÉ es sich bei den erwÇhnten StÅcken um so verschiede-<br />

104


ne Konzeptionen handeln mÅsse, daÉ jeder Versuch einer Gleichsetzung oder auch nur Parallelisierung<br />

zumindest solange grob fahrlÇssig ist, solange nicht entsprechende Belege oder<br />

Argumentationen vorgestellt werden – woran es bisher fehlt –, und solange die Interpretation<br />

der lÇngst Vorliegenden allzu undifferenziert und dilettantisch ist bzw. interessiert wirkt. Der<br />

Titel Der GeprÄfte, der den Status der zentralen Rolle/Person des StÅckchens in den Fokus<br />

rÅckt, zeigt, daÉ er als Titel zwar durchaus ernst zu nehmen ist, den Gang und das Ergebnis<br />

des Lustspiels jedoch nicht erschlieÉen lÇÉt: Belohnung als Folge einer glÇnzend bestandenen<br />

PrÅfung – Gegenstand: Gastfreundschaft sowie maritime Mutprobe – und Erhebung eines<br />

ausgewÇhlten Menschen wenigstens zum Halbgott und zur Aufnahme in den Kreis der GÄtter<br />

auf dem hÄchstirdischen Olymp wohlgemerkt, nicht in den christlichen Himmel: bezeichnenderweise<br />

freilich nicht nur des ‘Helden’ Sirenius, sondern auch der drei NÇchstverwandten<br />

des Kindes Friedrich Nietzsche! Was eindeutig daraus zu erschlieÉen ist, daÉ in der ersten<br />

Zeile des Textes des 5. Akts drei in diesem Akt zusÇtzlich zu „Siren[ius].“ erstmals auftretende<br />

Personen („Vat[er]. Mut[ter]. El[isabeth].“) genannt sind, was nun angesichts der Tatsache,<br />

daÉ keine der als Nymphen mitspielenden beiden Schwestern des Freundes Wilhelm ebenfalls<br />

„Elisabeth“ heiÉt – sie heiÉen vielmehr Gretchen und Sophie Pinder (I 1, 109f.) –, die im ersten<br />

Akt von Der GeprÄfte als „Vesta. Elisabeth“ und in den Gáttern als „Athene E[lisabeth]<br />

Nietzsche“ (I 1, 110) auftretende Schwester Nietzsches jedoch als genau diese „El.“ eindeutig<br />

zu identifizieren ist. So haben wir es in Der GeprÄfte, wie sich noch zeigt (in 3.4.4.4.5.),<br />

einerseits mit einem Nietzschefamilienerháhungs- oder -erlásungsstÄck der Kernfamilie<br />

Nietzsches (ohne das Anfang 1850 noch in RÄcken gestorbene zweijÇhrige BrÅderchen Josef)<br />

zu tun, was die DlJ-Interpretation einmal mehr kollabieren lÇÉt. Um nun in aller Pedanterie<br />

aufzulisten und damit einen weiteren Indizienbeweis zu fÅhren: Wohl unstrittig ist, daÉ (1.)<br />

mit den in Akt 5 am Meer stehenden Erwachsenen der Vater und die Mutter von Sirenius gemeint<br />

sind; daÉ (2.) mit der zweiten weiblichen Person am Meer „El.“ der Name „Elisabeth“<br />

gemeint ist; daÉ (3.) Elisabeth eine/die Tochter der am Meer stehenden als „Vater“ und „Mutter“<br />

bezeichneten Erwachsenen und (4.) damit Schwester von Sirenius ist, der als „Sohn“ angesprochen<br />

wird; daÉ (5.) Elisabeth die Schwester des als Mitglied des Theatercommitås genannten<br />

„Fr Wilhelm N.-----e.“ (I 331 bzw. I 1, 109) ist, (6.) in dessen Handschrift Fragment,<br />

Register usw. sowie die genannten nachtrÇglichen EintrÇge in das StÅck vorliegen..., weshalb<br />

mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als konkurrenzlos bestbelegte Hypothese<br />

auch anzunehmen ist, daÉ (7.) Fritz anders als Wilhelm auch Autor dieses StÅckes und daÉ<br />

(8.) das StÅck ein Intentionen dieses Kindes Nietzsche offerierendes NietzschefamilienstÅck<br />

ist.<br />

Und andererseits geht es am Ende des StÅckes mit der Menelaos-Paris-Jagd- und SchluÉszene<br />

gegenwendig nicht mehr um Belohnung von Gastfreundschaft, sondern um Bestrafung<br />

von deren Bruch, so daÉ ebenfalls klassisch archaisch gegenwendig komponiert der untergeordneten<br />

und ‘demÅtigenden’ Rolle des doppelt GeprÅften (in Akt 2 und 4) nun wie in NaK<br />

skizziert die dominante Rolle des kÄniglichen ParisjÇgers der Åberraschenden AbschluÉszene<br />

entspricht. Ein beeindruckend durchkomponiertes ‘griechisch-heidnisches’ StÄck eines ElfjÜhrigen.<br />

So bricht spÇtestens an dieser Stelle der Argumentation auch das neuerliche Kartenhauskonstrukt<br />

des Autors zusammen. Und so zeigt sich nochmals, daÉ auch der Autor von<br />

DlJ den ElfjÇhrigen nicht so recht ernst nahm – oder dem raffinierten Arrangeur Fritz noch<br />

nicht gewachsen 177 zu sein scheint? –, denn sonst hÇtte er sich doch Åberlegen mÅssen, warum<br />

177 Es gibt mÄglicherweise freilich einen Ausweg, sich diesem eher peinlichen Vergleich zu entziehen:<br />

Doch dieser zwingt den Autor von DlJ und ggf. sogar dessen GesprÇchspartner ohne AusweichmÄglichkeit<br />

zurÅck auf eine vor dem FrÅhjahr 1998 ggf. gemeinsam montierte, in Umlauf gebrachte<br />

und schlieÉlich als „Miszelle“ in den „Nietzsche-Studien“ verÄffentlichte Tretmine. Wenn irgend jemand<br />

Fritz 1854/55 ermutigt haben kÄnnte, sich selbst zum Poeten und zum Musiker – und ebensowenig<br />

wie er selbst, 1819ff. – zum Pastor zu entwickeln, mÅÉte es nÇmlich Ernst Ortlepp gewesen sein,<br />

fÅr den als vorrangigen Ermutiger und Anreger gegenÅber GroÉvater Oehler oder dem Vater Wilhelms<br />

105


der von ihm als beweiskrÇftig herangezogene „Theaterzettel“ von Der GeprÄfte nur die beiden<br />

Akte 1 und 2 mit ihrer Rollenzuordnung anfÅhrt, ab Akt 3 aber die Besetzung freigibt –<br />

„Wie immer“ (I 1, 110) –, was als „Wie bisher“ (in den Akten 1 und 2) auch dann fehlinterpretiert<br />

ist, wenn von beibehaltenen Rollen – in einigen FÇllen – auszugehen ist. Das Arrangement<br />

von Fritz intendiert anderes: MÄgen die Freunde alle attraktiven Rollen des restlichen<br />

StÅcks erhalten, wenn unwahrscheinlicherweise doch beide mitspielen sollten; ansonsten aber<br />

Wilhelm jeweils diejenige des unverkleideten Jupiter, denn Fritz hat in Akt 1 und 2 schlieÉlich<br />

bereits gespielt, was er wollte bzw. worauf es ihm ankam: Apollo und Jupiter/Zeus, Letzteren<br />

verkleidet, was fÅr einen aufs Pastorenamt getrimmten graecophilen frÅhen MaskentrÇger<br />

auch nicht schlecht paÉt, und ist nun flexibel, denn irgendwann wird eine Sireniusrolle<br />

schon fÅr ihn abfallen; und wenn nicht, ist auch das dank seines Arrangements des 5. Aktes<br />

nicht nur keine Katastrophe, sondern eine weitere ‘Bombe’. Und wenn geklÇrt ist, daÉ er spÇtestens<br />

in Akt 6 Sirenius spielt, kann er in Akt 5 notfalls auch seinen eigenen Vater spielen,<br />

falls Wilhelm unbedingt Sirenius spielen will; was aber zu bezweifeln ist (dazu unten).<br />

Kurz: Aus alledem lÇÉt sich schon an dieser Stelle als wohl mit immensem Abstand zur<br />

Konkurrenz weiterhin bestbewÇhrte Hypothese aufrecht erhalten, daÉ diese beiden StÅcke<br />

gleichzusetzen oder auch nur einander so anzunÇhern, daÉ von dem einen auf das andere<br />

StÅck ‘zu schlieÉen’ ist, grob fahrlÇssig und den kleinen Autor Fritz um den Sinn dieses von<br />

ihm entworfenen StÅckes Der GeprÄfte betrÅgend ist. Im UmkehrschluÉ bedeutet das, daÉ die<br />

bestbewÇhrte Hypothese weiterhin beinhaltet, daÉ dieses Lustspiel auf Probleme des Kindes<br />

Nietzsche zielt bzw. darauf antwortet, sie im Spiel ausagiert und vielleicht sogar ‘lÄst’. 178 Und<br />

deshalb verwundert nicht, daÉ das Personal des am 8.2.1856 dann aufgefÅhrten StÅcks dieses<br />

eindeutig der Familie Nietzsche zuzuweisende Trio des 5. Aktes von Der GeprÄfte nicht aufbietet,<br />

denn derlei Inszenierung hÇtte die GroÉmutter Pinder, die Eltern Pinder und Krug wohl<br />

eher gelangweilt; und Nietzsches Mutter sowie ggf. GroÉmutter Erdmuthe und Tante Rosalie<br />

vielleicht als peinlich oder hÄchst Çrgerlich empfunden. So geht das Szenario von Der GeprÄfte<br />

nur dann auf, wenn zu den drei Familienmitgliedern des 5. Aktes als das vierte bzw.<br />

erste Familienmitglied Fritz, der Autor des StÅcks selbst, in der auf seine Erfahrungen sowie<br />

BedÅrfnisse zugeschnittenen Rolle des Sirenius sowie der GÄtter Zeus/Jupiter und Apollo<br />

hinzutritt. Folglich dÅrfte Fritz wenigstens in der Konzeption des StÅckes irgendwann in den<br />

Akten 4, 5 oder 6 auch Sirenius spielen. (Unten mehr.)<br />

Nun erst wieder zu Die Gátter! Worum es in diesem StÅck Åberhaupt oder gar im einzelnen<br />

positiv geht, wissen wir nicht, denn aus der „Einladung“ ist nichts Konkretes zu entnehmen.<br />

Wir haben keinerlei Text, verfÅgen jedoch, wie in 3.4.4.3. skizziert, inzwischen Åber<br />

fÅnf verschieden zeitnahe, unterschiedlich umfangreiche und z.T. nicht geringe Probleme<br />

aufwerfende ‘Berichte’.<br />

Vom Inhalt des aufgefÅhrten StÅcks ist leider mit Ausnahme der in ihrem Wahrheitsgehalt<br />

meinerseits nicht abschÇtzbaren ErzÇhlung von E.F.-N., daÉ (a) mÄglicherweise die Paris-<br />

dessen Renommee als Dichter, dessen in Dichtungen auch Äffentlich wie bspw. auf portenser Bergfesten<br />

vorgetragene Theodizeeprobleme – wie vor allem in Vaterunser des neunzehnten Jahrhunderts.<br />

Ein Weltchoral * . – sowie dessen Griechenvorliebe sprechen. AuÉerdem ist belegt, daÉ Fritz schon als<br />

ZehnjÇhriger und Gustav Krug im Mai 1855 das portenser Bergfest besuchten. Vgl. den Brief von<br />

Nietzsches Mutter Franziska an Verwandte in Pobles vom 25.5.1855 (B I 4, 38 bzw. GSA 100/260). *<br />

Wohl erstmals in: Lyra der Zeit, 1834, S. 256-269, sowie neuerdings in: Hermann Josef Schmidt, Ortlepp,<br />

2001, S. 359-367, bzw. 2004, S. 341-348, und A&K 10, 2/2003, S. 270-273. Eine um 9 Verse<br />

gekÅrzte Fass. u.a. in: Ortlepp, Werke 1, 1845, S. 49-61; Hermann Josef Schmidt, NaJ II, 1994, S.<br />

711-714 und 720f., und in Ortlepp, KlÜnge aus dem Saalthal, 1999, S. 17-24.<br />

178 Seit Jahrzehnten gehÄrt zu Praktiken von Familien- und Kindertherapeuten, Kinder ihre Familie<br />

zeichnen zu lassen, um Konstellationen etc. zu erkennen; oder um verschiedene Rollen mit dem Therapeuten<br />

‘durchzuspielen’, wobei das Kind dann auch ‘Vater’ und ‘Mutter’ ‘sein’ und dem Therapeuten<br />

erklÇren sowie ggf. ‘schlagend’ zeigen darf, was es zuhause oder von Dritten erfuhr.<br />

106


Menelaos-SchluÉszene – es werden keine Namen genant – von Der GeprÄfte auch in den Gáttern<br />

eine wichtige Rolle insofern gespielt zu haben scheint, als Fritz als „Held“ einen Gegner,<br />

den anstatt des sich verweigernden Freundes Gustav nun Wilhelm Pinders Vater spielte, auf<br />

der BÅhne schon im 1. Akt tÄten durfte – eine Information, die eher die Annahme nahegelegt<br />

hÇtte, die Gátter als entschieden nietzschebeeinfluÉt anzusehen 179 –, daÉ (b) Fritz spÇter als<br />

Held auf dem Olymp zum Gott erhoben wurde, und daÉ (c) dem Titel gemÇÉ zumindest der<br />

Schwerpunkt der Ereignisse bzw. Handlungen des StÅcks auf dem Olymp gelegen haben<br />

mÅÉte, nichts von Relevanz zu erkennen. Doch wÅrde das nicht bereits genÅgen, um einen<br />

weiteren wesentlichen Unterschied der beiden StÅcke erkennen zu kÄnnen? Die Gátter haben<br />

8 Akte, von denen wir streng genommen nichts Weiteres zum Aufbau des StÅckes usw. genau<br />

genug wissen. Ganz anders bei Der GeprÄfte, denn hier spielen drei der sechs Akte – die Akte<br />

2, 4 und 5 – nicht auf dem Olymp, sondern deutlich tiefer auf der breitbrÅstigen Mutter Erde;<br />

und wir erfahren auch, was dort geschieht. Umgekehrt wissen wir nicht genau genug, ob au-<br />

Éer der vermuteten Parisjagd durch Menelaos Åberhaupt einer oder mehrere der 8 Akte der<br />

Gátter anderenorts als auf dem Olymp selbst spielt bzw. spielen (wie es ja auch dem Titel<br />

entsprÇche). Zwar behauptet Elisabeth F.-N. 1912, das aufgefÅhrte StÅck hÇtte „zur HÇlfte auf<br />

der Erde, und zur anderen HÇlfte in der erwÇhnten GÄtterheimat“ gespielt 180 , doch einerseits<br />

fehlt dieser Hinweis leider 1895, so daÉ nicht auszuschlieÉen ist, sie hÇtte ihrer Erinnerung an<br />

die lÇnger als ein halbes Jahrhundert zurÅckliegende AuffÅhrung durch LektÅre von Der GeprÄfte<br />

etwas aufgeholfen; und andererseits sind die Geschichtchen, die sie aus KleinmÇdchenperspektive<br />

1895 und in dem Band von 1912 erzÇhlt, mit Ausnahme der erwÇhnten ParistÄtung<br />

auf dem Olymp zu lokalisieren. AuÉerdem: Freunde griechischer Mythen wissen, daÉ<br />

groÉe GÄtterfeinde in aller Ewigkeit bestraft wurden: Sisyphos, Tantalos, die Danaiden usw.<br />

So ist nicht unwahrscheinlich, daÉ diese Parisjagd anders als bei ‘Homer’ (Ilias III 325-380)<br />

nicht auf Mutter Erde, sondern in einer frÅhen ewigen Wiederkunft des Gleichen Olympiern<br />

zur Freude in deren Sichtweite (und deshalb nicht etwa im Hades) gedacht war... Und Menelaos<br />

hÇtte Paris – im Angesicht olympischer GÄtter infinit tÄten, tÄten – tÄten dÅrfen? Fragt<br />

sich nur, wer/was mit „Paris“ gemeint war. GrÅndlichere NaK-Leser dÅrften meine – freilich<br />

weiterhin nur hypothetische – Antwort lÇngst kennen. Eine Antwort, die mit freilich wechselnden<br />

Motiven und ‘BegrÅndungen’ dann bis 1888 und zu einem „Gesetz“ Åberraschend gut<br />

‘passen’ kÄnnte?<br />

Kaum minder wichtig ein weiterer nun sogar noch in DlJ unbegreiflicherweise Åbergangener<br />

Sachverhalt: Elisabeth betont 1895 ebenso wie 1912 so nachdrÅcklich, daÉ daran zu zweifeln<br />

kaum AnlaÉ besteht, daÉ Wilhelms Vater, „der Rath Pinder“, „das StÅck uns eingeÅbt“<br />

habe, „so konnte er es fast auswendig“ 181 . Diese in beiden Biographien enthaltene und das<br />

Auftreten von Thalius und Platonius in einem StÅck von ElfjÇhrigen wohl erst verstÇndlicher<br />

machende Passage ist bei einer Diskussion der Vielzahl der Unterschiede des aufgefÅhrten<br />

StÅcks und Der GeprÄfte von ausschlaggebender Bedeutung und angemessen zu berÅcksichtigen,<br />

denn damit spÇtestens kippt die Konstellation wohl selbst fÅr den christophilsten Apologeten<br />

mit Einsprengseln argumentativer Ethik zugunsten der strikten Zwei-StÅcke-These,<br />

die das Lustspiel Der GeprÄfte Fritz und die Gátter im besten Falle offiziell Fritz und Wilhelm,<br />

de facto vielleicht diesen beiden, mit hÄherer Wahrscheinlichkeit Fritz, und mit Sicherheit<br />

auch Wilhelms Vater in fÅr uns nicht abgrenzbarer Weise als Autoren zuweist.<br />

VorlÜufiges Fazit: nicht nur eine Analyse (1) der Rollen bzw. Personen, sondern auch (2)<br />

der beiden Titel, (3) der aus den beiden Titeln sowie den Akten 1.-6. von Der GeprÄfte erschlieÉbaren<br />

Spielorte und (4) zumal die BerÅcksichtigung einer Beteiligung des Vaters von<br />

179 Nicht vÄllig abwegige Alternative: Elisabeth hat diese Szene zur Verherrlichung ihres Bruders<br />

erfunden, angeregt durch ihre spÇte LektÅre von Der GeprÄfte.<br />

180 Elisabeth FÄrster-Nietzsche: Der junge Nietzsche. Leipzig, 1912, S. 54.<br />

181 Elisabeth FÄrster-Nietzsche: Das Leben Friedrich Nietzsches I. Leipzig, 1895, S. 46; in Der junge<br />

Nietzsche. Leipzig, 1912, S. 55.<br />

107


Wilhelm Pinder an der EinÅbung sowie AuffÅhrung Der Gátter auf den Olymp legen die Annahme<br />

weitestreichender Unterschiede zwischen beiden StÅcken als bisher bestbewÇhrte<br />

Hypothese so nachdrÅcklich nahe, daÉ eine Identifikation beider StÅcke oder auch die Annahme<br />

so weitgehender ParallelitÇt, daÉ von einer Autorschaft eines StÅckes B auf diejenige<br />

eines StÅckes A mit der erforderlichen Sicherheit zurÅckzuschlieÉen wÇre, solange ein<br />

Wunsch des Autors von DlJ und ggf. seiner Kombattanten bleibt, solange nicht endlich substantielle<br />

Argumente anstatt des in DlJ nun nochmals Vorgestellten prÇsentiert werden kÄnnen.<br />

3.4.4.4.3. Autorschaft bzw. HÄdls 1. Hauptthese<br />

Der dritte in diesem Zusammenhang m.W. ohne ÇuÉere Not ins Spiel gebrachte Problemkomplex<br />

stellt die Frage gesicherter identischer Autorschaft beider StÅcke dar; eine Frage, die<br />

als Nebenthema in der Rollen/Personen- sowie Titelanalyse usw. unvermeidbar mitlief (und<br />

deshalb auch im Blick auf des Autor These lÇngst negativ entschieden ist). Dennoch sollte sie<br />

nach der Destruktion des kognitiven Anspruchs ihrer beiden BegrÅndungen als Problemseparatum<br />

(Hauptthese 1) nicht vÄllig Åbergangen sein. Sowohl Nietzsches Mutter als auch Nietzsche<br />

selbst sowie seine Schwester ÇuÉerten sich zur Frage einer Autorschaft der Gátter teils<br />

unterschiedlich teils eher vage; doch zur Autorschaft von Der GeprÄfte erfahren wir aus sÇmtlichen<br />

bisher bekannt gewordenen Unterlagen: schlicht nichts. Das ist auch nicht erforderlich,<br />

denn der in hohem MaÉe nietzschebezÅgliche Text liegt in der Handschrift Nietzsches vor,<br />

der als Autor seiner Texte ansonsten nur bestritten wird, wenn eine prÇzise formulierte Hypothese<br />

vorliegt, der keine gleichrangige oder ihr Åberlegene alternative Hypothese korrespondiert.<br />

WÅrde auch der Autor bereit sein, ansonsten angewandte Kriterien fÅr die Zuordnung<br />

eines Textes zu einem Autor anzuerkennen, kÄnnten wir uns die Zeit fÅr die ewige Wiederkunft<br />

von Diskussionen wie diese auf m.E. erbÇrmlicher Textgrundlage und wenig Åberzeugender<br />

Interpretation Inszenierte endlich ersparen.<br />

Verbleibt als wohl letzte Behauptung die MÄglichkeit, mit Verweis auf die zwei frÅhen<br />

Fritz und Wilhelm teils vage teils bestimmt als Autoren von Die Gátter ausweisenden Zeugnisse<br />

von Fritz und seiner Mutter zu behaupten, Fritz und Wilhelm – und eben nicht diese<br />

beiden und auch Wilhelms Vater! – seien die Autoren gewesen. Nun, einerseits behauptet<br />

Nietzsches Mutter in einem Brief vom 25.5.1856 an ihren Bruder Ernst wie erinnerlich sogar,<br />

daÉ Die Gátter von Fritz geschrieben seien 182 : das mag ‘Angabe’ der Witwe gegenÅber ihrem<br />

Bruder, kÄnnte aber auch ihre EinschÇtzung der Situation oder auf mittlerweile genaueren<br />

Informationen basiert gewesen sein; daÉ andererseits weder Fritz noch die stolze Mutter die<br />

Beteiligung von Wilhelms Vater an die groÉe Glocke gehÇngt haben dÅrften, bedarf wohl<br />

kaum einer Diskussion; und Elisabeth lÇÉt genug erkennen. Oder anders herum: Welcher Leser<br />

von Aus meinem Leben, Sommer 1858, der sich an die Schilderung von Wilhelms Vater<br />

erinnert, wÅrde fÅr mÄglich halten, dieser hÇtte so nachdrÅcklich renommiert, der eigentliche<br />

Autor der Gátter sei schlieÉlich er gewesen, daÉ weder Fritz noch dessen Mutter weiterhin<br />

hÇtten formulieren kÄnnen, Fritz und sein Freund oder nur Fritz hÇtten das StÅck geschrieben?<br />

Von „alleinigen“ Autoren schreibt Åbrigens niemand: Nur HÄdl unterstellt es offenbar und<br />

ÅbertrÇgt seine Sichtweise auch auf Der GeprÄfte.<br />

Dennoch ist zu konzedieren, daÉ angesichts des fÅr einen 11jÇhrigen extraordinÇren strategischen<br />

Niveaus einzelner Arrangements von Der GeprÄfte – Vf. kommt noch darauf zurÅck<br />

– die Frage nach einem stillen Helfer nicht vorweg abzulehnen ist. Doch lieÉe sie sich sachkompetent<br />

beantworten, wÇre das Ergebnis fÅr den Autor von DlJ und ggf. auch seinen GesprÇchspartner<br />

– haben sie gar im NachlaÉ Reiner Bohleys einen entsprechenden Hinweis<br />

182 „Fritz [...] schreibt aber auch kleine TheaterstÅcke, wo diesen Winter zu aller ErgÄtzen bei Rath<br />

Pinders eins zur AuffÅhrung kam, betitelt ‘Die GÄtter auf dem Olymp’“. Adalbert Oehler: Nietzsches<br />

Mutter. MÅnchen, 2 1941, S. 66.<br />

108


gefunden? – eher peinlich: Denn der stille Helfer dÅrfte niemand anders als der ‘poetisch theodizeeproblemlastige’<br />

Ernst Ortlepp gewesen sein, der von Herbst 1853 fast durchgÇngig in<br />

Naumburg lebte... Doch fÅr eine äberprÅfung dieser neuerlichen Ortlepphypothese fehlt bislang<br />

jeder konkrete Anhaltspunkt. Und deshalb bleibt bis auf weiteres Fritz alleiniger Autor<br />

von Der GeprÄfte.<br />

Um wiederum im Blick auf des Autors Argumentation in DlJ zusammenzufassen: Unterscheide<br />

ich in der Frage der Autorschaft von Friedrich Nietzsche und Wilhelm Pinder zwischen<br />

beiden StÅcken so, daÉ Nietzsche als Autor von Der GeprÄfte und vorlÇufig beide<br />

Freunde – ohne daÉ wir schon den Beitrag der Beteiligten zu kennzeichnen oder zu unterscheiden<br />

sowie einen (Åber die Rollen Thalius und Platonius hinausgehenden) Anteil des Vaters<br />

von Wilhelm abzuschÇtzen vermÄgen – als Autoren der Gátter gelten, so verwende ich<br />

diejenigen Kriterien, die wir auch ansonsten ansetzen. Wird hingegen behauptet, daÉ sich die<br />

(selbst fÅr Die Gátter nicht eindeutig gesicherte) gemeinsame Autorschaft sogar auf beide<br />

StÅcke erstreckt, so bleibt deren BefÅrworter – in diesem Falle m.W. ausschlieÉlich der Autor<br />

selbst – dafÅr ebenso wie fÅr die Anordnung der genannten Unterlagen in KGW I 1 jedes Åber<br />

Ad-hoc-Strategeme hinausgehende Argument schuldig. Lediglich Anm. 248, S. 100, von DlJ<br />

bietet einen Hinweis, daÉ nÇmlich die Existenz eines Theaterzettels 183 – es geht um das „Register<br />

der Namen“ usw. (I 331 bzw. I 1, 109f.) –, „der sich auf ein StÅck mit dem Namen „Der<br />

GeprÅfte“ bezieht, der von Nietzsche und Pinder unterschrieben ist“, offenbar als Argument<br />

fÅr die Hypothese gelesen wird, Wilhelm sei Co-Autor auch von Der GeprÄfte. Was ist das<br />

nur wieder fÅr ein Argument!? WÅrde ich hier genauso eng interpretieren, wie der Autor von<br />

DlJ sich NaK-Interpretationen vornimmt, kÄnnte ich es mir ganz einfach machen und schlicht<br />

darauf verweisen, daÉ auf derjenigen Seite, die von dem aus Fritz und Wilhelm P. bestehenden<br />

„Theaterkomitå“ unterschrieben ist, nicht steht – und auch sonst m.W. nirgendwo –, daÉ<br />

das StÅck von den beiden Mitgliedern des fÅr die AuffÅhrung verantwortlichen Komitees gemeinsam<br />

verfaÉt wurde – geschrieben ist es ja von Fritz –, sondern nur, daÉ beide dem fÅr die<br />

AuffÅhrung wichtigen Komitee angehÄren. Entscheidend freilich: Ein Versuch, Autorschaft<br />

eines StÅckes und ZugehÄrigkeit zu einem Theaterkomitee zwecks AuffÅhrung des betreffenden<br />

StÅckes zu konfundieren, erscheint auch dann als abwegig, wenn er gediegen formuliert<br />

und in den winzigen Druck einer FuÉnote gesteckt wird. Wann das StÅck geschrieben und<br />

wann das Komitee gebildet wurde, geht aus diesen Unterlagen mit Ausnahme des vielleicht<br />

nicht unwichtigen Sachverhalts, daÉ das StÅck selbst incl. SchluÉszene bereits vor der Installation<br />

des „Theaterkomitå“ aus den beiden Freunden Wilhelm und Fritz ausformuliert und zu<br />

Papier gebracht worden war, also nicht hervor. Folglich wissen wir es nicht, kÄnnen bestenfalls<br />

spekulieren. Tun wir das, so ist deutlich, daÉ Fritz unabhÇngig davon, ob er Autor oder<br />

Co-Autor dieses StÅckes war, Interesse an einer AuffÅhrung gehabt haben kÄnnte; man kann<br />

sogar vermuten, daÉ gerade dann, wenn er das StÅck allein geschrieben hat, wofÅr bis zum<br />

Erweis des Gegenteils alles spricht, sein Interesse an einer AuffÅhrung um so grÄÉer war, je<br />

ausgeprÇgter er das StÅck als Inszenierung einer SelbsterhÄhung oder -erlÄsung konzipiert<br />

und geschrieben haben sollte. Je mehr von Eigenem in diesem StÅck exponiert war, desto<br />

mehr aber muÉte er Wilhelm als unverzichtbaren Mitspieler binden, also Åberzeugen, sich an<br />

diesem Projekt zu beteiligen, muÉte also den Mitspieler Ehrendes wie bspw. ein Theaterkomitee<br />

zustandebringen, ihm attraktivste Rollen vorschlagen usw. Das besagt im RÅckschluÉ auf<br />

Wilhelm als Co-Autor des StÅckes also noch nichts, sondern nur, daÉ sich Fritz nicht 184 damit<br />

183 Wie der Autor hier von einem „Theaterzettel“ sprechen kann, erscheint rÇtselhaft, denn im Gegensatz<br />

zu der „Einladung“ zu Die Gátter ist alles dem Lustspiel Der GeprÄfte AngefÅgte (I 331 bzw. I 1,<br />

109f.) in Nietzsches Schrift ebenso in das betreffende Heft eingetragen wie zuvor das StÅck selbst;<br />

freilich in farblich abweichender dunklerer Tinte.<br />

184 Wohl erst im FrÅhjahr 1859, also drei Jahre spÇter, lÇÉt sich in Briefen usw. genauer verfolgen, wie<br />

Fritz versucht, Wilhelm fÅr ein vergleichbares Projekt, das Prometheus-Projekt, zu kÄdern; und wie<br />

raffiniert er dabei vorging (vgl. NaJ I, S. 317ff.).<br />

109


egnÅgte, dieses StÅck nur zu schreiben; es sollte auch aufgefÅhrt werden. Deshalb ist die<br />

Annahme, gemeinsame Autorschaft erstrecke sich jedenfalls nicht auf Der GeprÄfte, die mit<br />

weitem, weitem Abstand bereits argumentativ besser bewÇhrte Hypothese. Das genÅgt bis zur<br />

Vorlage hochwertigerer Belege oder qualifizierter Argumentationen.<br />

So bleibt es dabei: wir haben ein von dem elfjÇhrigen Nietzsche zwischen Herbst und vermutlich<br />

Jahresende 1855 geschriebenes StÅck Der GeprÄfte, das er mit seiner graecophilen<br />

Kinderclique, von der Nietzsches Schwester in ihren beiden Biographien so viel berichtet,<br />

auffÅhren wollte; und wir wissen von einem am 8.2.1856 aufgefÅhrten StÅck spÇter geringfÅgig<br />

wechselnden Titels Die Gátter auf den Olymp, das (mit Ausnahme des Freundes Gustav)<br />

von dieser Kinderclique 185 unter der Regie von Wilhelms Vater aufgefÅhrt und von Fritz und<br />

Wilhelm – oder aber ebenfalls nur von Fritz 186 ? – geschrieben worden sein soll.<br />

GegenwÇrtig noch offen bleiben ja nicht nur die einzelnen Phasen der Genese dieses zweiten<br />

StÅcks, sondern ebenso offen bleibt auch die Art der Beteiligung der beiden Freunde sowie<br />

von Wilhelms Vater. Wie erinnerlich besitzen wir nur eine die Rollenverteilung bietende<br />

Einladung, deren Rollen mit denjenigen von Der GeprÄfte in spezifischer Hinsicht divergent<br />

sind.<br />

185 Diese Kinderclique wird in DlJ verschiedenenorts als Argument dafÅr angefÅhrt, daÉ deshalb StÅcke,<br />

deren AuffÅhrung fÅr diese Kinderclique ggf. vorgesehen gewesen seien, von Fritz nicht allein<br />

geschrieben worden sein mÅÉten. Kein vorweg abwegiger Einwand, doch was spricht im Blick auf<br />

Der GeprÄfte fÅr und was gegen ihn? Entscheidungen, ob etwa so sein muÉ oder nicht, sind im Blick<br />

auf Nietzsches frÅhe Texte in so seltenen FÇllen einvernehmlich zu erzielen, daÉ wir das Kapitel Interpretation<br />

von Nietzsches Texten nach diesem EingestÇndnis schlieÉen kÄnnten; ein Ergebnis freilich,<br />

das denjenigen, denen an einer Beibehaltung der Mythe des Åberzeugt christlich-frommen Kindes<br />

Nietzsche unabhÇngig vom Inhalt seiner frÅhen Texte liegt, kaum unsympathisch wÇre. SchlieÉen wir<br />

das Kapitel jedoch nicht, so bewegen wir uns im Feld von Hypothesen, die mehr oder weniger qualifiziert,<br />

in diesem Falle also mehr oder weniger nietzscheadÇquat ausfallen dÅrften; worÅber dann kriterienorientiert<br />

zu befinden wÇre. Dann wÇre<br />

1. z.B. festzuhalten, daÉ wir 7 Titel von StÅcken aus Nietzsches Kindheit besitzen, von denen (a.) in 6<br />

FÇllen z.T. nur Fragmente und (b.) in drei FÇllen Rollenverteilungen vorliegen, daÉ (c.) Nietzsche<br />

lediglich von zwei StÅcken (Die Gátter vom Olymp und Orkadal/Orcadal) in seiner Autobiographie<br />

von 1858 behauptet, er hÇtte sie „im Verein mit Wilhelm“ geschrieben, also von ca. 29 %. Zwar liegen<br />

von einem dritten hÄchst fragmentarischen StÅck – Nietzsche scheint unter der sehr problematischen<br />

Voraussetzung, daÉ nicht jeweils Entscheidendes (wie bspw. der Anfang von Der GeprÄfte) verlustig<br />

ging, Åber das Entwurfstadium selten hinauszukommen – ebenfalls bereits einige BesetzungsvorschlÇge<br />

vor, so sollten sich auch der Vater Wilhelms und Seppi Pinder am Untergang Troja’s, 1858, beteiligen<br />

(I 1, 238), doch fÅr eine Erweiterung der Autorschaft auch dieses StÅckes bedeutet das erst einmal<br />

nichts.<br />

2. und wohl wichtiger: Bisher haben wir in Nietzsches frÅhem NachlaÉ der Kinderjahre m.W. nur<br />

poetische Autographen aus seiner Hand. Das gilt nicht nur (a) fÅr die Gedichte, sondern (b) auch fÅr<br />

die TheaterstÅcke.<br />

3. Der GeprÄfte ist, wie sich noch zeigt, ein gut durchdachtes StÅck, das hochgradig nietzschefamilienspezifisch<br />

ist. Da bedÅrfte es solider Argumente, um an der alleinigen Autorschaft von Fritz mit so<br />

guten GrÅnden zweifeln zu kÄnnen, daÉ die schon bisher entwickelten Pro-Argumente geschwÇcht<br />

werden kÄnnten. An derlei Contra-Argumenten fehlt es jedoch in DlJ. So bleibt bereits in BerÅcksichtigung<br />

des Autographenbefundes von Der GeprÄfte die Annahme alleiniger Autorschaft von Fritz die<br />

mit weitem Abstand wahrscheinlichste Hypothese. In BerÅcksichtigung inhaltlicher Argumente wird<br />

diese Hypothese ebenfalls gestÇrkt, und, wie sich zeigen wird, die vom Autor als vÄllig gesichert vorgestellte<br />

Annahme gemeinsamer Autorschaft des StÅckes Die Gátter argumentativ geschwÇcht.<br />

186 Die DlJ-Annahme von Co-Autorschaft Wilhelms ist beim aufgefÅhrten StÅck also problematischer<br />

als alleinige Autorschaft von Fritz bei Der GeprÄfte (dazu unten).<br />

110


3.4.4.4.4. Rollenverteilung bzw. HÄdls Nebenthese<br />

Bleibt auf der Ebene des eher Formalen noch die Frage der Rollenverteilung – also des Autors<br />

„Nebenthese“ (s.o.) – in Der GeprÄfte, die zwar lÇngst vorentschieden, als zweites thematisches<br />

Separatum aber ebenfalls explizit zu diskutieren sowie zu beantworten ist: Der Autor<br />

inszeniert mit ihr nÇmlich eine Art Netzstrategie wohl fÅr den Fall, daÉ er wie ein SeiltÇnzer<br />

im Blick auf beide Hauptthesen, von denen die Hauptthese 1 inzwischen mehrfach direkt falsifiziert<br />

ist, die Hauptthese 2 jedoch bisher nur im Nebenthema quasi indirekt, auch seine<br />

vierte selbstinszenierte argumentative Kontroverse verloren hat und nach Verlust der die beiden<br />

experimenta symbolisierenden Schwergewichte seiner Balancestange wirbelnd von hochgespanntem<br />

Seil abgestÅrzt ist; eine Art RÅckzugsstrategem also, das als Netz(plums)strategie<br />

den brutal-harten Bodenaufschlag vermeiden soll, das wiederum nicht Åbel klingt, denn:<br />

Wenn Fritz nie dazukÇme, Sirenius zu spielen, weil die Rolle des Sirenius bei Wilhelm, der<br />

sie im 2. Akt ja ‘hat’, in den jupiterfreien Akten 4 und 5 – doch auch in Akt 6? – verbliebe,<br />

dann ist’s mit der inszenierten SelbsterlÄsung von Fritz ebenfalls nichts, denn dann kann er<br />

noch so oft in die Rolle des Apollo schlÅpfen, Zeus als verkleideten Bettelmann (wie in Akt<br />

2) spielen oder sogar im vollen Ornat als Herrscher auf dem Olymp thronen, doch er ist es<br />

dann nicht selbst, der durch seinen zweiten heroischen Akt – nach dem Erweisen von Gastfreundschaft<br />

in Anwesenheit von Jupiter/Zeus nun auch durch den Sprung (des damaligen<br />

Nichtschwimmers) ins Meer in Anwesenheit der Nymphen als zusÇtzlicher Voraussetzung der<br />

ErhÄhung zum Halbgott – sich, seine Eltern und Schwester auf den Olymp ‘erhÄht’, sondern,<br />

in wohlwollendster Interpretation, lediglich sein Alter ego Wilhelm2, Freund Wilhelm Pinder<br />

nÇmlich.<br />

Die Argumentation wÇre wieder einmal glÇnzend ausgetÅftelt, wenn sie etwas grÅndlicher<br />

bzw. multiperspektivischer bedacht worden wÇre, denn:<br />

1. Ist eine selbst gespielte SelbsterhÄhung zwar besser als eine lediglich selbst Erdachte,<br />

doch auch Letztere kann zeitweilig emotional befriedigen, worum es Fritz 1855 vielleicht<br />

primÇr ging, ist also bei weitem besser als gar nichts;<br />

2. Hatte Fritz die Besetzung der Akte 3-6 ja nicht festgelegt, sondern ausdrÅcklich offen<br />

gelassen; denn: „Wie immer“ (I 331 bzw. I 1, 110) bedeutet nicht à la DlJ „Wie bisher“,<br />

sondern wohl nicht nur nach meinem SprachverstÇndnis: „Wie (auch) immer“. Und deshalb<br />

wurde in NaK betont, Nietzsche habe die Besetzung der restlichen Akte freigegeben.<br />

3. Doch selbst gesetzt, des Autors „Wie bisher“-Deutung wÇre korrekt, was kÄnnte sie<br />

leisten? DaÉ Fritz ‘wie bisher’ Apollon spielt, gilt ja nur fÅr Akt 3, denn anschlieÉend entfÇllt<br />

diese Rolle – doch was spielt er in den Akten 4-6? FÅr Wilhelm wÅrde die „Wie bisher“-Deutung<br />

ebenfalls aus Perspektive von Akt 1 die Besetzung der Akte 2, 3 und 6 wiederum<br />

in der Rolle des Jupiter sichern. Doch schon in Akt 2 ÅberlÇÉt er diese Rolle Fritz<br />

und spielt selbst Sirenius bzw. den GeprÅften. Damit wird von des Autors „Wie bisher“-<br />

Konzept aber die Besetzung der jeweiligen mÇnnlichen Rolle(n) weder in Akt 4, um den es<br />

doch neben Akt 5 und 6 geht, noch in Akt 5 in irgend einer Form abgedeckt oder festgelegt.<br />

Also mÅÉte unter der Voraussetzung der bisherigen beiden mÇnnlichen Spieler Fritz<br />

und Wilhelm in Akt 6 Fritz ohnedies Sirenius spielen; und in Akt 4 sowie in Akt 5 kÄnnte<br />

er Sirenius spielen, wenn Wilhelm die Rolle des Vaters von Sirenius in Akt 5 Åbernehmen<br />

wÅrde (was schon deshalb hochwahrscheinlich ist, weil das eine halbe Kompensation des<br />

Kniefalls in Akt 2 bedeuten wÅrde). Doch wie auch immer: Selbst des Autors „Wie bisher“-Konzept<br />

impliziert bei korrekter Interpretation die äbernahme der Sirenius-Rolle<br />

durch Fritz spÇtestens im 6. Akt; und schlieÉt deren äbernahme in Akt 4 und/oder 5 keineswegs<br />

aus, lÇÉt sie vielmehr offen.<br />

Aufgehen im Sinne der Nebenthese des Autors wÅrde das „Wie immer“-Konzept also<br />

nur dann, wenn nicht die Besetzung der mÇnnlichen Rollen in Akt 1, sondern in Akt 2 dessen<br />

Grundlage bildete. Doch das nun resultierende Ergebnis impliziert psychische UnmÄglichkeit,<br />

denn dann hÇtte Fritz die Jupiter-Rolle auch noch in den Akten 3 und 6 (vgl. nun<br />

111


Punkt 4. bis 6.); Wilhelm hingegen hÇtte nur in Akt 1 die ranghÄchste Rolle, hÇtte in Akt 2<br />

hingegen die des Sirenius samt Kniefall, in Akt 3 diejenige des Apollo und in Akt 4 sowie<br />

6 wiederum die des Sirenius, was selbst durch äbernahme der Vaterrolle in Akt 5 nicht<br />

kompensiert wÅrde.<br />

Kurz: die „Wie bisher“-Deutung ist nicht nur Produkt sprachlicher Fehldeutung, sondern<br />

auch eines Denkfehlers, denn sie leistet nicht einmal im Falle ihres Zutreffens das<br />

vom Autor Vorausgesetzte bzw. ErwÅnschte. AuÉerdem und vor allem:<br />

4. Wer kennt Prestigeorientierteres als Jungen, die vor ihren Eltern und anderen Erwachsenen<br />

auftreten wollen? Man sehe ihnen doch nur zu – meist genÅgt es schon, nicht<br />

vÄllig taub zu sein –, wenn sie ohne Eingreifen Erwachsener eine Entscheidung suchen,<br />

wer bspw. in einer FuÉballmannschaft welche Rolle Åbernimmt, damit nicht die meisten,<br />

was sie am liebsten tÇten (und lange auch tun), als Individualisten hinter dem Ball herflitzen;<br />

sie konkurrieren in der Regel selbst noch in Formen von Zusammenarbeit, bleiben aber<br />

dennoch (und wohl nur dann, wenn sie das kÄnnen) Freunde: So wie Wilhelm und Fritz<br />

wÇhrend der gesamten Naumburger Kindheit. Selbst noch diese Prestigefixiertheit paÉt zu<br />

‘den Griechen’, denn: Gibt es Agonaleres als die timè-fixierte Kultur der Griechen von<br />

‘Homer’ bis wenigstens ins vierte Jahrhundert v.u.Z., die selbst noch in der Nikomachischen<br />

Ethik des Aristoteles keine geringe Rolle spielt?<br />

5. Auch elementares sozialpsychologisches Wissen suggeriert die Hypothese, es sei nahezu<br />

undenkbar, daÉ Wilhelm durchgÇngig die rangtiefste mÇnnliche Rolle auf der BÅhne<br />

– selbst wenn es die Hauptrolle war –, Sirenius also, hÇtte spielen wollen, wenn das StÅck<br />

je aufgefÅhrt worden wÇre; und daÉ er sich mit diesem Wunsch sogar gegen den so hÄflichen<br />

(und in klarster Einsicht in die geistigen Rangunterschiede dieser Freunde in besonderem<br />

MaÉe auf Balance achtenden) Fritz durchgesetzt hÇtte. Und wÇren die Pausen noch so<br />

lange, das Umziehen noch so schwierig geworden: Die beiden Freunde hÇtten ihre Rollenwechsel<br />

so inszeniert, daÉ die Prestigebalance – zumal bei einer AuffÅhrung in der Wohnung<br />

GroÉmutters Wilhelms! – Åber die 6 Akte genau – eher sogar mit einem leisen äberhang<br />

zugunsten Wilhelms, der ja zum Mitmachen gewonnen werden und sich sogar zum<br />

Kniefall in Akt 2 bereit finden sollte – gestimmt hÇtte. Davon muÉ man einfach ausgehen,<br />

solange den beiden Freunden aneinander lag: Den ranghÄchsten Gott wollte jeder von ihnen<br />

wenigstens einmal spielen – schon die Rollenverteilung von Akt 1 und 2 zeigt die raffinierte,<br />

in NaK berÅcksichtigte Balance –, notfalls noch den ZweithÄchsten im Rang, und<br />

als Kompensation in anderen Akten dann eben auch den rangtiefsten mÇnnlichen Vertreter<br />

des StÅcks, Sirenius. Oder anders: Wer hÇlt es fÅr denkbar, daÉ Wilhelm oder gar Gustav<br />

beharrlich die rangniedrigere Hauptrolle eines wenngleich hochrangigen Menschen beizubehalten<br />

suchen, Fritz hingegen unter dem Zeichen der Freundschaft lediglich zwischen<br />

GÄtterrollen oder einer Vaterrolle wechselt? Ein Autor, der ‘sein StÅck durchkriegen’ will,<br />

dÅrfte zu fast jeder Rollenkonzession bereit sein, wenn es darum geht, den wichtigsten<br />

Mitspieler zu binden. Vielleicht erklÇrt er ihn nachtrÇglich sogar zum Co-Autor. So muÖ<br />

Fritz Interesse daran gehabt haben, daÉ sein Freund (zumal nach dem Kniefall in Akt 2)<br />

spÇter selbst wieder wie schon in Akt 1 die Jupiter/Zeusrolle spielt. Bereits damit ist fÅr<br />

Fritz die Sirenius-Rolle in Akt 6 gesichert. Ob er auch in Akt 4 auftritt und welche der beiden<br />

mÇnnlichen Rollen er in Akt 5 Åbernimmt, konnte offen bleiben.<br />

6. SchlieÉlich: GenÅgt es nicht, Aus meinem Leben oder frÅhe Briefe des in Pforte vom<br />

5.10.1858 an Sistierten zu lesen, um die Bedeutung der Freundschaft zu Wilhelm 187 fÅr<br />

Fritz zu erkennen?<br />

187 Wenn man, um diese Freundschaft zu beurteilen, den erhaltenen schriftlichen NachlaÉ des Kindes<br />

Nietzsche zugrundelegt, so erscheint diese Freundschaft weit mehr als diejenige zum eher streitbaren<br />

Gustav Krug als Nietzsches ‘Herzensfreundschaft’, deren Inhalt die poetischen Interessen der beiden<br />

waren. Wie sehr diese – gegenÅber den musikalischen – im Vordergrund standen, geht vor allem aus<br />

dem Briefwechsel der drei Freunde der ersten portenser Jahre ebenso wie der GrÅndung des litera-<br />

112


7. Sollte neben dem Gesichtspunkt der Rangbalance auch derjenige der ‘Umkleidebequemlichkeit’<br />

bzw. PausenlÇnge eine Rolle spielen, so liegt die Annahme nahe, daÉ Fritz<br />

in den Akten 4, 5 und 6 jeweils Sirenius spielt, Wilhelm in den Akten 3 und 6 wiederum<br />

die Rolle des Jupiter sowie in Akt 5 die des Vaters von Sirenius Åbernimmt: alles in allem<br />

zwar die wahrscheinlichste, doch im Blick auf die Nebenthese des Autors auch peinlichste<br />

Konstellation.<br />

Sollte nach des Autors Meinung von alledem wiederum nichts zutreffen, dann bitte auch<br />

hier NaK-Åberlegene Argumente und keine Arrangements. Ansonsten lohnt sich, Endlosschleifen<br />

mangels stichhaltiger Argumente schon deshalb abzuschalten, weil eine zeitlich<br />

deutlich frÅher als Åblich angesetzte christentumskritische Haltung des Kindes hohe Wahrscheinlichkeit<br />

besitzt und äberlegungen des Autors, die Nietzsches spÇtere Entwicklung<br />

betreffen, nicht vorweg suspendieren muÉ.<br />

Bleibt die Frage, warum dieses Lustspiel trotz klarer Indizien kein SelbsterlÄsungs- oder<br />

-erhÄhungsstÅck sein darf. Und erst recht kein auch die Familie Nietzsches Betreffendes?<br />

Diese Frage auch nur zu stellen, bedeutet wohl fÅr kritische Leser, eine Antworthypothese (im<br />

Sinne von 3.3.2.4.) prÇsent zu haben: in Szene gesetzte ‘griechisch-olympische’ SelbsterlÄsung<br />

eines ElfjÇhrigen, dessen Christlichkeit dank frommer Geschenktexte sowie eines sogar<br />

mehr als drei Jahre spÇteren GelÄbnisses 1858 vÄllig unstrittig war?<br />

3.4.4.4.5. Im engeren Sinne inhaltlich-interpretative Fragen bzw. HÄdls 2. Hauptthese<br />

So bleiben nur noch im engeren Sinne inhaltlich-interpretative Fragen offen, genauer: Die<br />

Analyse und ggf. Destruktion der Berechtigung der Hauptthese 2 ist noch zu leisten, wenngleich<br />

sie sich schon abgezeichnet hat. Das kann auch deshalb mit erheblich weniger argumentativem<br />

Aufwand erfolgen, da wiederum das Argumentationsziel dieser Metakritik nicht<br />

darin besteht, die Treffsicherheit der Interpretationen von NaK zu belegen – das schafft NaK<br />

risch-musikalischen Dreibundes „Germania“ hervor, dessen Konzeption mit Wilhelm, nicht mit Gustav,<br />

wÇhrend eines z.T. gemeinsamen Ferienaufenthaltes besprochen wurde. Vor diesem Hintergrund<br />

Åberrascht dann doch etwas, daÉ und wie der Schweizer Pastor Martin Pernet, der allerdings wie schon<br />

Reiner Bohley seinen Schwerpunkt eindeutig bei der Aufarbeitung von Nietzsches frÅhem religiÄsen<br />

Umfeld besitzt (Das Christentum. Opladen, 1989, und: Eine Quelle fÄr Nietzsches christliche Herkunft.<br />

Der Briefwechsel seines Vaters mit Emil Julius Schenk. In: Nietzscheforschung. Band 11. Berlin,<br />

2004, S. 279-296), und, wie seine kleineren Arbeiten zu Nietzsches Kinderfreund Gustav Krug<br />

zeigen, ausgesprochener Musikfreund ist, in seinem Pinder, Wilhelm gewidmeten Artikel in: Christian<br />

Niemeyer (Hg.): Nietzsche-Lexikon, 2 2011, S. 298f., es fertigbringt, weder die IntensitÇt dieser<br />

Freundschaft noch deren Inhalt, das leidenschaftliche gemeinsame Interesse an Poesie, auch nur zu<br />

erwÇhnen. Statt dessen verweist er selbst noch in dem Pinder-Artikel darauf, daÉ Nietzsche „sich als<br />

Jugendlicher hÇufig im Hause Krug“ aufhielt, woran er spÇter mit vielen dankbaren Erinnerungen<br />

gedacht habe, und zitiert zu dessen Beleg – wie gesagt: im Pinder-Artikel! – sogar aus einem Brief<br />

Nietzsches an Auguste Pinder vom 5.5.1875! Was bezweckt Martin Pernet mit dieser so offensichtlichen<br />

Verzeichnung? Es versteht sich, daÉ von der AuffÅhrung eines gemeinsamen TheaterstÅcks im<br />

Hause der GroÉmutter Wilhelm Pinders, zu der Gustav seine Freunde in letzter Minute schmÇhlich im<br />

Stich lieÉ, weshalb der Vater von Wilhelm sich sogar als Mitspieler beteiligen muÉte, in diesem Artikel<br />

nichts zu finden ist. So bildet der Artikel vielleicht ein wichtiges weiteres Mosaiksteinchen der<br />

schon in NaK, 1991, vom Vf. nachdrÅcklich monierten konsequent-musikophilen Verzeichnung – genauer:<br />

durch Ausblendung des poetischen Schwerpunktes eine Vereinseitigung – der Entwicklung des<br />

Kindes Nietzsche, die die Biographien von Janz und Ross ebenso charakterisiert wie noch Safranskis<br />

Nietzsche, 2000. Nach den Ursachen dieser interpretativen Vereinseitigung zu fragen dÅrfte kaum<br />

minder konsequenzentrÇchtig sein als nach deren Intentionen. Wie der frÅhste Nietzsche jedoch selbst<br />

gewichtet, belegt u.a. ein Vergleich seiner Musikdarstellung usw. in der Autobiographie des DreizehnjÇhrigen<br />

mit der breit angelegten Diskussion seiner verschiedenen poetischen Entwicklungsphasen<br />

nebst Auflistung zahlreicher Titel selbigen Orts, der kaum Vergleichbares in BerÅcksichtigung von<br />

Nietzsches frÅhen, offenbar bei weitem weniger zahlreichen Kompositionen, von denen auch nicht<br />

eine einzige genannt ist, gegenÅbersteht.<br />

113


sogar zu Anfang seines dritten Jahrzehnts in den zentralen Aspekten und vielen Details erstaunlicherweise<br />

noch selbst –, jedes noch so viertrangige Argument zu widerlegen oder kleinere<br />

‘Treffer’ aufzulisten und sie dann zu diskutieren 188 , sondern lediglich darin, tragende<br />

(also: unverzichtbare) NaK-kritische Argumente von DlJ zu ÅberprÅfen und ggf. zu falsifizieren,<br />

da diese eine interpretatio christiana von Der GeprÄfte aufzuwerten – genauer: sie zu<br />

konstituieren, ggf. zu erfinden – und die in Nak exponierte ‘interpretatio graeca’ zu entschÇrfen<br />

trachten.<br />

In der Sache tritt der Autor auch hier fast verwehte alte Spuren tiefer, denn nicht nur er<br />

selbst hatte bereits 1993 versucht, die NaK-Interpretation von Der GeprÄfte via Gátter zu unterminieren,<br />

sondern in Konzentration auf Inhaltsfragen gab es zwei Jahre spÇter Åber die<br />

Deutung von Der GeprÄfte und andere Texte Nietzsches in NaK eine verÄffentlichte Kontroverse,<br />

die in DlJ aber nicht eigens berÅcksichtigt erscheint, zwischen Joergen Kjaer 189 und<br />

dem Verfasser.<br />

Des Autors interpretatio christiana von Der GeprÄfte in DlJ hat jedenfalls eine Doppelaufgabe<br />

zu lÄsen, einerseits im Sinne seiner Hauptthese 2 und deren zweifacher BegrÅndung in<br />

Der GeprÄfte eruierbare christliche Inhalte, Formulierungen usw. gegenÅber der NaK-<br />

Deutung interpretativ aufzuwerten oder aber als fehlerhafterweise Åbersehen aufzuweisen;<br />

und andererseits ‘griechisch-heidnische’ Inhalte, Formulierungen usw. zu entspezifizieren<br />

bzw. als interpretativ wenig relevant abzuwerten; was freilich voraussetzt, daÉ man sie erkennt<br />

und versteht. Nochmals: Meine Metakritik stellt sich nicht die Aufgabe, die Interpretationen<br />

in NaK zu verteidigen oder gar interpretativ aufzupÇppeln – derlei erfolgt allenfalls als<br />

Nebeneffekt –, sondern die Stichhaltigkeit der Argumentationen in DlJ zur StÅtzung der<br />

Hauptthese 2 und deren doppelter BegrÅndung auf Belege und argumentative QualitÇten hin<br />

zu ÅberprÅfen. Selbst im Falle ggf. mehrfach zutreffender Metakritik ist dennoch die Stichhaltigkeit<br />

bzw. Richtigkeit der entsprechenden Interpretationen in NaK noch lÇngst nicht gesichert<br />

oder gar ‘bewiesen’. So ist ja denkbar, daÉ SchwÇchen durch ganz andere äberlegungen,<br />

an die weder der Autor noch sein GesprÇchspartner noch der Vf. denken, aufgewiesen<br />

werden kÄnnten; lediglich die in DlJ entwickelten Gegenargumente, um die es hier ja geht,<br />

wÇren dann destruiert; und Nak wÇre hÄchstens indirekt aufgewertet, weil dessen Verfasser<br />

nach 20 Jahren – endlich oder: noch immer? – zeigt, wo Bartl den Most 190 , der freilich nicht<br />

jedem bekÄmmlich sein muÉ, holt? Es gilt jedenfalls zu unterscheiden.<br />

188 Nicht bereits frÅher berÅcksichtigte Kritik an Details, die ich als stichhaltig akzeptiere, wÅrden in<br />

die unter www.f-nietzsche.de./hjs_start.htm zugÇngliche Errataliste von Na mit Dank an HÄdl aufgenommen.<br />

189 Der Name Joergen Kjaer Äffnet vielleicht den Weg zur ErklÇrung dieser Ausklammerung: WÇhrend<br />

dessen Nietzschesicht von 1990 ja Gegenstand von HÄdls Kritik ist (vgl. DlJ, S. 58-68), wÅrde<br />

HÄdl, trotz seines Vortrags von 1993, nun in manchen Fragen als um anderthalb Jahrzehnte verspÇteter<br />

Kombattant Kjaers auftreten, da dieser gegen NaK mit nicht schlechten Argumenten bereits (s)eine<br />

interpretatio christiana ins Spiel zu bringen suchte. Vgl. Joergen Kjaer, Nietzsches Naumburger Texte,<br />

1995, und Hermann Josef Schmidt, „dergleichen drechselt man“, 1995; der Autor kennt jedoch beide<br />

Arbeiten, vgl. DlJ, S. 66, Anm. 177.<br />

Eine LektÅre dieser beiden Texte von 1995 und ihre Inbezugsetzung zur NaK-kritischen Argumentation<br />

in DlJ kÄnnte die Frage nahelegen, wie hoch der Anteil von Reprisen in zeitgenÄssischen geisteswissenschaftlichen<br />

Diskussionen sein dÅrfte. Die mittlerweile wohl durchgesetzte Tendenz, nur noch<br />

Neuestes und selbst dieses mÄglichst nur noch aus der eigenen Alterskohorte zu zitieren oder auch nur<br />

zu erwÇhnen, garantiert ja nicht nur nahezu risikolose Ausschlachtung Çlterer Arbeiten mittlerweile<br />

nahezu unbekannt(gemacht)er Autoren, sondern vermehrt dramatisch inhaltlichen Leerlauf, da lÇngst<br />

Erkanntes in jeweils aktueller Diktion aufgewÇrmt als innovativ prÇsentiert oder substantiell weitergefÅhrt,<br />

leider auch trivialisiert zu werden vermag.<br />

190 Seit lÇngerem befÅrchtet Vf., sein sehr arbeits- und zeitaufwendiger Versuch, in Nak zumindest in<br />

weiten Partien einen Text vorzulegen, der auch „akademisch Unverseuchten“, so sie nur wach sind<br />

(denen deshalb auch ein persÄnlicher Zugang gilt), gut lesbar erscheint, habe bei einigen Kritikern den<br />

114


Dennoch wÇre mir allmÇhlich lieber, nicht weiterhin Åber die Berechtigung von Hypothesen<br />

in NaK, 1991, nahezu unabhÇngig von der seitherigen, nicht zuletzt durch eigene VerÄffentlichungen<br />

ja vorangetriebenen Entwicklung, sondern auf der Basis gegenwÇrtigen Erkenntnisstandes<br />

Åber Sachfragen kontrovers wenigstens dann zu diskutieren, wenn endlich<br />

substantielle Gegenargumente prÇsentiert werden kÄnnten.<br />

Doch wie geht DlJ nun vor? Im Grunde nach einem sehr einfachen Schema:<br />

1. Schon die DlJ-Inhaltsangabe des StÅckes (S. 79f.) gewichtet anders als NaK:<br />

a. In der NaK-Interpretation Zweitrangiges wird in den Vordergrund geschoben,<br />

b. in der NaK-Interpretation Hochrangiges wird in den Hintergrund geschoben oder Åbergangen:<br />

2. Die diese Inhaltsangabe voraussetzenden und dann in Details gehenden AusfÅhrungen (DlJ,<br />

S. 94-105) suchen wie z.T. schon die Inhaltsangabe selbst<br />

a. ‘Griechisches’ als christlich aufzuweisen,<br />

b. ‘Griechisches’ als facon de parler nicht ernst zu nehmen,<br />

c. als ‘griechisch’ Belegtes schlicht zu Åbergehen,<br />

d. (wie schon in der interpretatio christiana der Moses-Verse, S. 86-93) weitere externe Informationen<br />

in der Absicht herbeizuziehen, des Autors interpretatio christiana von Der GeprÄfte zu<br />

stÇrken.<br />

RoÉtÇuscherei oder eine seit 1993 angestrebte, in DlJ nun erstmals vorgefÅhrte ernsthafte,<br />

ja Åberlegene Alternative, die wenigstens die DlJ-Hauptthese 2 argumentativ als stichhaltig zu<br />

stÅtzen vermag?<br />

Im Folgenden diskutiere ich in (1) die DlJ-Inhaltsskizze von Der GeprÄfte, um mich dann<br />

in (2) wiederum prÇmissenorientiert des Autors alternativer Interpretation sowie seiner Nak-<br />

Kritik zuzuwenden.<br />

(1) Die Inhaltsskizze<br />

Die der NaK-Kritik vorausgeschickte sowie diese vorstrukturierende Inhaltsskizze (S. 79f.)<br />

fÇllt so knapp aus, daÉ sie in vollem Umfang zitiert und, fÅr den Leser ÅberprÅfbar, auch in<br />

einigen Details berÅcksichtigt sei:<br />

„Der Inhalt ist folgender: Sirenius, der Held, nimmt einen Bettelmann auf, gibt ihm Speise und<br />

Trank. Der Bettelmann gibt sich als Jupiter zu erkennen (Akt II). In einer anschlieÉenden GÄtterversammlung<br />

gibt Jupiter bekannt, daÉ er Sirenius belohnen will (Akt III). Im vierten Akt wird Sirenius<br />

von Nymphen aufgefordert, sich ins Meer zu stÅrzen. Sie versichern dem ZÄgernden, daÉ er<br />

nicht sterben werde, sondern „die schÄnste Gab“ erhalte. Nach einigem Hin und Her stÅrzt er sich<br />

endlich ins Wasser. Im fÄnften Akt stehen Vater und Mutter am Grab des Sirenius, der ihnen erscheint.<br />

Sie machen ihm VorwÅrfe, dass er sich hat verfÅhren lassen, er aber antwortet: „O grÇmet<br />

euch nicht. O wie bin ich so glÅcklich! Ein Halbgott bin ich“. Die Eltern folgen Sirenius mit Hilfe<br />

der Nymphen, die in ungelenken Versen ihre Zufriedenheit ausdrÅcken:<br />

„Der Tag war schÄn fÅr uns<br />

Erreichet haben wir den zweck<br />

Der Vater die Mutter der Sohn [/]<br />

bei uns nun immer wohn“ (KGW I/1, 108).<br />

Im sechsten Akt wird Sirenius schlieÉlich noch von Juno und Vesta fÅr frÅhere Wohltaten beschenkt,<br />

woraus, da diese lt. Register als Personen im ersten Akt vorkommen, an dessen uns Åberlieferten<br />

Ende Jupiter beschlieÉt, sich bei Sirenius dankbar zu bezeigen und ihn zum Halbgott zu<br />

erheben, geschlossen werden kann, dass im ersten Akt Vesta und Juno im GÄtterstaate von Sirenius<br />

erzÇhlt haben und so die ganze Geschichte ins Rollen gebracht.“ [Kursivsetzungen durch d.Vf.]<br />

Eindruck erweckt, sie kÄnnten Åber NaK oder gar das in NaK Entwickelte auch dann kompetent urteilen,<br />

wenn sie nur auszugsweise lesen oder gar mit Hilfe von Schnelllesetechniken schmÄkern...<br />

115


Was kÄnnte einem grÅndlicheren Leser, der von Der GeprÄfte nicht mehr weiÉ als er in<br />

den obigen AusfÅhrungen gelesen und sich gemerkt hat, sofort auffallen? FÅnferlei, vermute<br />

ich: Zum einen, daÉ (1.) nicht alle Personen/Rollen erwÇhnt werden – es fehlen Apollo (Akt 1<br />

und 3) und Elisabeth, die mit ihren Eltern im 5. Akt auftritt; zum anderen (2.) die Proportionen<br />

der Skizze; zum dritten, daÉ (3.) der Autor von DlJ es fertigbrachte, das Wort „Olymp“ in<br />

seiner gesamten Inhaltsangabe zu vermeiden; daÉ (4.) der Autor von DlJ es nicht minder fertigbrachte,<br />

das Eintreffen des Vaters auf dem Olymp (!!) und die Freude des Sirenius darÅber<br />

ebenfalls zu Åbergehen, schlieÉlich, daÉ (5.) der Leser nichts Åber das mythische Nach- oder<br />

Gegenspiel der SchluÉszene, die Parisjagd durch Menelaos erfÇhrt, denn solcherart bleibt die<br />

Gastfreundschaftsbelohnungs- und die Bestrafungsaktion von deren Bruch unterbelichtet oder<br />

aber konsequent ausgeblendet. Wieder einmal nur Zufall, wohlÅberlegte Weichenstellungen<br />

oder charakteristische Blindheitsbelege?<br />

Wenn der Autor von DlJ das Lustspiel selbst so gelesen haben sollte, wie er – „Der Inhalt<br />

ist folgender“ – seine Skizze erÄffnet, kÄnnte Vf. diese Metakritik sofort abbrechen (und sich<br />

die Zeit fÅr den Rest ersparen), denn jedweder noch ausstehende ‘Beweis’ wÇre ÅberflÅssig,<br />

da dankenswerterweise bereits mit dieser Skizze erbracht; vorausgesetzt, Vf. kÄnnte davon<br />

ausgehen, daÉ der Leser den Text von Der GeprÄfte zur Hand hat und ihn grÅndlichst liest.<br />

Denn dann wÅÉte er entweder Bescheid; oder kaum eines meiner Argumente kÄnnte ihn mehr<br />

erreichen, also dazu beitragen, zu verstehen, um was es hier in diesem StÅck eigentlich geht<br />

bzw. was gespielt werden sollte; oder was in DlJ gespielt wird?<br />

Doch da die LektÅre von Der GeprÄfte leider nicht vorausgesetzt werden kann, skizziere<br />

ich etwas genauer: Der Anspruch dieser Skizze suggeriert ein seriÄses bzw. ausgewogenes<br />

Referat des Inhalts des StÅcks, denn: „Der Inhalt ist folgender“. Das bedeutet: (1.) Die Inhaltsskizze<br />

ist mÄglichst sachangemessen und interpretationsneutral zu formulieren, denn (2.)<br />

der Leser soll anschlieÉend ja die spezielle Deutung des Autors beurteilen bzw. mit der auch<br />

fÅr alternative Deutungen offenen Inhaltsangabe in Bezug setzen kÄnnen. Was macht der Autor<br />

statt dessen? Er spekuliert nicht Åbel darÅber, was im verloren gegangenen Anfangsteil des<br />

1. Aktes gestanden haben kÄnnte, Åbergeht in diesem Zusammenhang jedoch die basale Information,<br />

daÉ im erhaltenen Rest dieses 1. Aktes (a) sich zwei GÄtter, nÇmlich Jupiter und<br />

Apollo, Åber Sirenius besprechen, daÉ (b) Fritz hier Apollo und (c) Wilhelm Jupiter spielt und<br />

(d) niemand anders als Fritz/Apollo es ist, der erklÇrt: „Ich will in zu einen Halbgott erheben.“<br />

In der Interpretation von NaK sind diese Rollenverteilung und diese Aussage von Apollo die<br />

alles entscheidende ‘griechische’ Ausgangssituation des StÅcks, das bereits mit ihr als<br />

SelbsterhÄhungs- oder -erlÄsungsstÅck Nietzsches steht und fÇllt. Und: Der Autor Åbergeht in<br />

seiner Skizze des 5. Akts die einzige Person des gesamten StÅcks, die nicht in einer fremden<br />

Rolle, sondern als sie hÄchstselbst auftritt, sich also selbst spielt. Sprengt das den Rahmen<br />

eines ‘griechisch-heidnischen’ bzw. ‘rÄmischen’ StÅcks? Vielleicht. Oder lÅftet der Verfasser<br />

da kurz sein Visier? GewiÉ. ErÄffnet gerade die Nennung Elisabeths eine – nicht: die – Absconditus-Dimension?<br />

Offenbar war es Fritz ungemein wichtig, daÉ Elisabeth in seinem StÅck<br />

nicht nur als irgendeine GÄttin (wie im 1., 3. und 6. Akt) oder als eine Nymphe, wie sie und<br />

die beiden Schwestern von Wilhelm im 4., 5. und 6. Akt, sondern (anders als Wilhelms<br />

Schwestern) im 5. Akt auÉerdem noch unter eigenem Namen, also als Elisabeth Nietzsche<br />

auftrat. Warum? Vielleicht, weil dann die Eltern des GeprÅften bzw. Sirenius nicht mehr irgendwelche<br />

Eltern, sondern noch deutlicher als ansonsten erschlieÉbar nicht nur die der im<br />

StÅck auftretenden Elisabeth Nietzsche, sondern damit dann auch die des Dichters Fritz sind,<br />

dessen Schwester schlieÉlich leibhaftig mitspielt und dessen Mutter im 5. Akt Sirenius als<br />

„Sohn“ (I 329 bzw. I 1, 107) anspricht, womit die BrÅcke von Sirenius zu Fritz nicht nur doppelt<br />

geschlagen, sondern im Sinne frÅher rÄmischer Seekriegstechnik auch fixiert worden<br />

wÇre? Was wohl deutlich genug wÇre, wenn der Autor in der InhaltsprÇsentation nicht diese<br />

beiden entscheidenden Rollen und ihre Besetzung Åbergangen hÇtte? Ohne Apollo und dessen<br />

116


Aussage in Akt 1 und die Eltern des Sirenius und Elisabeth in Akt 5 hÜtten wir ein weniger<br />

leicht verstÜndliches StÄck. SchlieÉlich die komplette – bereits editionsvorbereitete – Ausblendung<br />

der zur Gastfreundschaftsbelohnung in den Akten 1-6 gegenwendigen Menelaos-<br />

Paris-Szene, die die Bestrafung von Gastfreundschaftsbruch durch den angekÅndigten verdienten<br />

Tod des TÇters auf die BÅhne bringt.<br />

Soweit zu der DlJ-Inhaltsskizze, auf die leider noch zurÅckzukommen ist; doch auch bereits<br />

zu Fritz. Warum? Weil er sich auch mit diesem verschachtelten Arrangement1 im Arrangement2<br />

– doppelte SelbsterhÄhung einmal als VerhalbgÄttlichung des Sirenius und zielwechselnde<br />

ebenfalls erfolgende VerhalbgÄttlichung bzw. FamilienerhÄhung auf dem Olymp (als<br />

Arrangement1) sowie die dazu gegenwendige „Glorie der AktivitÇt“, die Verfolgung des Brechers<br />

der Gastfreundschaft und RÇubers der Gattin und der SchÇtze des Menelaos, Paris,<br />

durch Menelaos hÄchstselbst (Arrangement2) – schon ohne BerÅcksichtigung des nachtrÇglichen<br />

Elisabeth-Arrangements (Arrangement3) als einen fÅr einen ElfjÇhrigen wohl genialen<br />

strategischen Kopf erweist? Und weil damit klar wÇre, daÉ auch andere Texte von Fritz bereits<br />

aus dieser Zeit nicht mehr apologetisch per interpretatio christiana auf Kleinkindniveau<br />

zu trimmen sind? Und: DaÉ nicht von vergleichsweise kindlicher oder primitiver Sprache mit<br />

schauriger Rechtschreibung in der erforderlichen Sicherheit auf naive Gedanken ‘zurÅckgeschlossen’<br />

werden sollte? Sicherlich; doch nicht fÅr jeden darf es so sein.<br />

Eine Analyse der Proportionen, d.h. der quantitativen Ausgewogenheit der Information<br />

Åber das Lustspiel, fÅhrt leider zu einem Çhnlichen Ergebnis, dessen Verdeutlichung nun auf<br />

pedantischste Weise angesteuert werden soll: durch ZÇhlen von Worten sowie von Zeilen und<br />

von deren Vergleich. Beginnen wir bei des Autors Skizze, die den „Inhalt“ des StÅckes vorstellt,<br />

und zÇhlen incl. der Aktangabe die Worte, mit denen der Inhalt der jeweiligen Akte<br />

referiert wird (Worte von Zitaten werden in Klammer hinzugefÅgt und in der SchluÉabrechnung<br />

dazu addiert). Akt 1 = 54 Worte; Akt 2 = 22 Worte; Akt 3 = 14 Worte; Akt 4 = 35 (+ 3)<br />

Worte; Akt 5 = 42 (+ 36) Worte und Akt 6 = 15 Worte, SchluÉszene = 0 Worte, so daÉ wir in<br />

HÄdls Inhaltsskizze auf ca. 182 (+ 39 = 221) Worte kommen; von denen nicht eines der mythischen<br />

Gegenszene bzw. dem SchluÉ gilt. Ohne nun noch die %-SÇtze bzw. den Anteil auszurechnen,<br />

die bzw. den der Autor jedem der 6 Akte damit an der gesamten Information gibt,<br />

ist zumal in BerÅcksichtigung der Druckzeilen der einzelnen Akte deutlich, daÉ er unterschiedlichst<br />

gewichtet. Sehen wir uns auch Nietzsches Text daraufhin noch an (in I 1, 105-<br />

108): Akt 1 = 5 Zeilen, Akt 2 = 23 Zeilen, Akt 3 = 20 Zeilen, Akt 4 = 27 Zeilen, Akt 5 = 22<br />

Zeilen, Akt 6 = 26 Zeilen, mythische Gegenszene bzw. SchluÉ 7 Zeilen, insgesamt also 130<br />

Zeilen. Die 5 vollstÇndigen Akte 2.-6. liegen also jeweils zwischen 20-27 Zeilen; selbst die<br />

‘AusreiÉer’ entfernen sich vom Mittel um allenfalls 3 1/2 Zeilen. Ganz anders in HÄdls Skizze,<br />

in der die 5 vollstÇndigen Akte auf einen Durchschnitt von 33 1/2 Worte mit ‘AusreiÉern’<br />

von 14 und 15 bzw. 38 und sogar 78 Worten kommen; mit dem Effekt, daÉ Akt 5 ausfÅhrlicher<br />

berÅcksichtigt wird als die Akte 2, 3, 6 und die SchluÉszene zusammengenommen, und<br />

auch Akt 4 breiter exponiert wird als die Akte 2 und 3 usw. zusammengenommen. So prÇpariert<br />

man Konstellationen? Was halten Sie, werter Leser, von einem Test des Inhalts: Welche<br />

dieser 6 Akte sind fÅr des Autors interpretatio christiana die beiden Entscheidenden? Sie haben<br />

gewonnen, wenn Sie an die beiden Akte mit den meisten Worten denken.<br />

Was verfehlt der Autor mit genau diesem Ansatz? Ich ergÇnze etwas gegenwendig gegen<br />

DlJ und fÅlle LÅcken. HÄdl verfehlt, daÉ Der GeprÄfte ein konsequent durchdachtes<br />

SelbsterhÄhungs- oder -erlÄsungsstÅck eines von Fritz fÅr Fritz konzipierten Lustspiels ist, in<br />

dem Fritz (wohl auf dem Olymp) zuerst seine SelbsterlÄsung 191 in der Rolle Apollons als<br />

selbst durchzufÅhren ankÅndigt (in Akt 1), dann in der Rolle des in einen Bettelmann verkleideten<br />

Jupiter den Menschen Sirenius hÄchstselbst auf dessen Gastlichkeit prÅft, nachdem er<br />

191 Aus stilistischen GrÅnden wechsle ich auch kÅnftig zwischen „-erhÄhung“ und „-erlÄsung“, ‘setze’<br />

in der Sache jedoch jeweils beides, weil nach meinem Eindruck das StÅckchen zwischen diesen beiden<br />

Perspektiven oszilliert.<br />

117


sich lange mit ihm wie mit einem vertrauten Freund unterhalten hat, bevor er sich hastig offenbart,<br />

Belohnung ankÅndigt, da Sirenius diese Probe glÇnzend bestanden habe, und verschwindet<br />

(Akt 2) 192 ; was auf Frage des Apollo – den vermutlich nochmals Fritz spielt – dann<br />

auf dem Olymp in einer GÄtterversammlung, an der wiederum auch die 3 GÄttinnen teilnehmen,<br />

bekakelt wird, wobei Jupiter – den wie in Akt 1 als Kompensation fÅr den Kniefall in<br />

Akt 2 Wilhelm spielen dÅrfte – die Gastfreundschaft des Sirenius bzw. Wilhelm sich selbst –<br />

ein Schnell- bzw. Sofortpflaster fÅr eine wunde Seele eines KniefÇlligen Ende des vergangenen<br />

Aktes? – fast hymnisch preist (Akt 3); im Szenenwechsel, wieder auf Erden, steht Sirenius<br />

zaudernd am Meer, soll nun verlockt durch die kleinen Nymphen, eine zweite groÉe Tat tun,<br />

um, erst nach dem Tod im Meer durch den solcherart erfolgten IdentitÇtswechsel durch<br />

VerhalbgÄttlichung auf dem Olymp belohnt zu werden. Doch warum ergreift Jupiter/Zeus den<br />

ãngstlichen nicht wie weiland Ganymed einfach am Wickel? Oder wie Apollo einen seiner<br />

Lieblinge, um Sirenius die TodesÇngste zu ersparen? Nur, weil das auf der BÅhne nicht geht?<br />

Oder vielleicht, weil Fritz Himmelfahrten als etwas suspekt empfindet, weil er im Namen der<br />

neuen – Çlteren! – GÄtter Abstand zu derlei sowie zu bestimmten GÄttern wahren mÄchte?<br />

Jedenfalls, nach langer, nietzschetypischer selbstportraithaltiger Zauderei springt Sirenius ins<br />

Meer, weil Zeus es geboten habe, beschwÄrt kurz sogar den Abschied vom Vaterland (alles<br />

Akt 4). Diesmal kein Szenenwechsel zum Olymp, sondern nur ein weitere IdentitÇtswechsel<br />

ermÄglichender ErlÄsungsakt am Meer, denn nun sind auch die drei NÇchstverwandten von<br />

Sirenius an der Reihe: Sirenius selbst war offenbar bereits erhÄht, kann seine nun (ebenso wie<br />

er selbst zuvor in Akt 4) am Meer als an seinem Grab stehenden und ihn betrauernden Eltern<br />

und Elisabeth motivieren, ihm zu folgen. Der ‘Knaller’ des Akts und des StÅcks ist das vom<br />

Autor ebenfalls nicht mitgeteilte spezielle GesprÇch von Sirenius mit seinem Vater, der zuerst<br />

wissen will, warum sich Sirenius von den Nymphen habe verfÅhren lassen, den Tod im Meer<br />

zu suchen, sich dann aber, verlockt wohl durch den Hinweis, „Ihr werdet auch beglÅ[c]ket<br />

werden“ 193 (I 329 bzw. I 1, 107), dafÅr entscheidet, seinem Sohn zu folgen: „Jetzt tÇht ich es!“<br />

und wissen will, wie man zu Sirenius „hinab“ kommt, bevor die Nymphen ihr Triumphlied<br />

anstimmen (alles Akt 5). Warum „hinab“ ins Meer? WÇre „hinauf“ auf den wenngleich irdischen<br />

Olymp statt in den christlichen Himmel zu massiv gewesen? Der ‘Knaller’ wÇre also<br />

die konsequenzenreiche freie Entscheidung von Nietzsches nach dem Glauben der Familie<br />

zuvor im Himmel weilenden Pastorenvater, front-, seiten- und fahnewechselnd nun in imitatio<br />

filii zu seinem Sohn und den Gáttern auf den Olymp zu gehen (anstatt ihn, Frau und Tochter<br />

192 Wie divergent man Texte beurteilen kann, belegt vielleicht das Ende der DlJ-Anmerkung 230 (S.<br />

91), deren SchluÉsatz zitiert sei: „Allerdings ist auch im zweiten Akt, wo Sirenius, als er Jupiter erkennt,<br />

vor diesem niederfÇllt und ihn um Erbarmen (!) anfleht, weil er ihn nicht besser behandelt habe,<br />

nicht unbedingt das von Schmidt als ‘freundschaftlich’ beschriebene Verhalten der Gottheit gegenÅber<br />

zu erkennen, auch wenn Schmidt NaK 920f. diesen Zug des StÅckes wegzuinterpretieren trachtet.“ Die<br />

NaK-Aussage Åber den freundschaftlichen Umgang des als Bettelmann verkleideten, unbekannten<br />

Gottes und des Sirenius bezieht sich jedoch auf das dem Kniefall vorausgehende GesprÇch der beiden,<br />

in welchem sich Sirenius nach dem Ergehen des Jupiter wie nach demjenigen eines alten Freundes<br />

erkundigt – „So, er wird sich doch nicht schaden thun.“ – also noch vor der Offenbarung des Gottes,<br />

die dieser dann am Ende des Aktes aber lt. NaK eher hastig abmache als daÉ sich der groÉe Gott à la<br />

JAHWE mÇchtig aufplustere. Nietzsches Text: „Jup[iter]. stehe auf! Du verdien[s]est eine[r] Belohn[ung].<br />

Finde dich nach einigen beim Meere ein. verschw[indet].“<br />

193 Doch Ehre, wem Ehre gebÅhrt. Fritz hat sich hier bezeichnend verschrieben: WÇhrend in der<br />

HKGW I zu lesen ist „Ihr werdet“ usw., bringt KGW I 1, 107, „Ich werdet“ usw. Das Original lÇÉt<br />

sich, wie noch Sommer 2010 ÅberprÅft, an dieser Stelle sehr schwer lesen, denn das Wort erscheint als<br />

korrigiert; dennoch: Der Sinn ist aus dem grÄÉeren Zusammenhang zu entnehmen. Fritz kreist jedoch,<br />

wie ‘der Fehler’ anzunehmen nahelegt, entweder noch sehr um seine eigene Befindlichkeit; oder aber,<br />

er hat diesen Text vielleicht an einem spÇten Abend in einer Art Halbtrance im Zustand groÉer MÅdigkeit<br />

formuliert, so daÉ sich ‘die rechte’ gegen die Zensur der ‘linken’ HirnhÇlfte deutlicher durchgesetzt<br />

hat?<br />

118


zu motivieren, ihm auf dem Wege des Heils in den christlichen Himmel zu folgen), erscheint<br />

ausgeblendet, denn DlJ formuliert lediglich blaÉ oder kleinlaut: „Die Eltern folgen Sirenius<br />

mit Hilfe der Nymphen“, um mit einem Hinweis auf die „ungelenken“ Verse der Nymphen<br />

ggf. davon abzulenken, daÉ die Nymphen den Tag zufrieden als fÅr sie „schÄn“ besingen,<br />

weil sie „den Zwe[c]k“ erreicht haben. Hat der Autor von DlJ diesen Zweck des StÅckes<br />

wirklich nicht durchschaut?<br />

Der AbschluÖakt hat es ebenfalls ‘in sich’: Sirenius, wohl spÇtestens jetzt von Fritz gespielt,<br />

wird auf dem Olymp bereits erwartet, wird vielleicht sogar mit dem vollen GÄtterstatus,<br />

jedenfalls mit Geschmeide usw. belohnt, zeigt sich insofern als wahrer Gott und Mensch,<br />

als er im RÅckblick auf seine von den GÄttern gelobte Gastfreundlichkeit anmerkt: „FÅr solche<br />

Sachen hat mein Herz kein lang GedÇchtniÉ“ – doch ‘fÅr andere Sachen’ trotz aller spÇteren<br />

Hymnen auf ‘Vergessen’ unverbrÅchlich? – und seine Freude erklÇrt (doppelt genÇht hÇlt<br />

seit ‘Homer’ schon besser), daÉ sein Vater nun „bei mir“ – also auf dem Olymp – angekommen<br />

sei. Offenbar war genau das besonders wichtig – anstatt der in Naumburg oktroyierten<br />

imitatio patris nun die phantasierte imitatio filii in Der GeprÄfte? –, denn seine Mutter und<br />

Elisabeth, die ja gemeinsam mit dem Vater ebenfalls den Tod im Meer wagten, werden nicht<br />

mehr erwÇhnt. Das SchluÉlied haben wiederum die kleinen Nymphen, die mit den Versen<br />

enden:<br />

„Denn unter den Mensch[en] war<br />

Ein solche[r] wie du warst rahr.<br />

O GÄttersohn sei mir gegrÅÉet.“<br />

Eigentlich mÅÉte man nur noch die einzelnen Momente zusammenfÅgen, um den Sinn des<br />

StÅckes zu verstehen. Den Rahmen bildet olympische GÄtterstaffage in z.T. noch rÄmischer<br />

KostÅmierung, den Hintergrund bilden einige antike Geschichten wie die von Philemon und<br />

Baucis und andere PrÅfungsszenen, die das Kind in Ovids Metamorphosen, in SagenbÅchern<br />

und auch im Alten Testament fand; (auch) christlich ist noch manches am Vokabular (oder an<br />

Mediterranem, was in PalÇstina seit Ende des 2. Jahrtausends v.u.Z. von sesshaft werdenden<br />

semitischen Eindringlingen Åbernommen wurde), doch einige wichtige PflÄcke schlÇgt Fritz<br />

schon ein:<br />

1. Er will sich nicht zu seinem (nach dem Glauben der Familie) sich dort lÇngst aufhaltenden<br />

Pastorenvater in den christlichen Himmel erheben oder erlÄsen lassen, sondern<br />

2. er verkehrt – kongruent zu einem Dutzend bis zu 400 Versen umfassenden ‘Griechengedichten’,<br />

von denen leider, leider 194 nur wenige Fragmente erhalten sind (dabei aber u.a. auch<br />

ein Dankgedicht an Zeus, „Das wir nicht wanken“; I 362 bzw. I 1, 145f. 195 ) – mit olympischen<br />

GÄttern, die allerdings als die Aktiven den Kontakt mit ihm aufnehmen und ihn dank<br />

bewÇhrter Gastfreundschaft belohnen, zum Halbgott oder sogar Gott erheben wollen, wenn er,<br />

der Nochnichtschwimmer, sich der Erhebung durch den schnellen Tod im Meer wÅrdig erweist;<br />

er will<br />

3., daÉ seine Familie einschlieÉlich seines verstorbenen Vaters ebenfalls front- oder fahnewechselnd<br />

zu ihm auf den auÉerhimmlischen Olymp kommt; und das<br />

4. sogar so, daÉ dieser Zielwechsel von einem auÖerweltlichen himmlischen Jenseits zu einem<br />

irdischen, herausragenden Diesseits aufgrund eigener Willensentscheidung sÜmtlicher Familienmitglieder<br />

– Vater, Mutter und Elisabeth – geschieht.<br />

194 So gab es lt. einer eigene poetische Produktionen erfassenden Liste wohl von 1856 die Gedichte<br />

Me[s]senien mit 300, Andromeda mit 150 und Argonautenzug mit 400 Versen (I 371 bzw. I 1, 163);<br />

und Fritz hatte sogar ein Gedicht Die Gátter vom Olymp „Seht GÄtter“ (I 29 bzw. I 1, 308) geschrieben!<br />

Wenn wir das hÇtten, kÄnnte ich mir manche Diskussion wohl ersparen, denn diesem Gedicht<br />

wÇre weniger leicht auszuweichen als dem kleinen Dankgedicht an Zeus wohl von 1856.<br />

195 Vgl. dazu Hermann Josef Schmidt, NaK, S. 231ff.<br />

119


So kÄnnte man das StÅck lesen, wenn man es lÇse – und Nietzsche nicht à la ‘Normalkind’-Interpretation<br />

unterstellen mÅÉte, wieder einmal selbst nichts von alledem gemerkt zu<br />

haben, was er da mit eigener Hand zu Papier gebracht hatte; und wenn man offen genug wÇre,<br />

sich zu erlauben, es so lesen zu dÅrfen?<br />

(2) HÄdls alternative Interpretation<br />

Es sei denn, man bietet eine alternative Interpretation wie dies der Autor auch in seiner<br />

NaK-Kritik erfreulicherweise intendiert. Das „erfreulicherweise“ ist keineswegs ironisch gemeint,<br />

denn das PrÇsentieren einer Alternative in einer Kritik verlangt Mut, da solcherart die<br />

Beweis-, genauer: Argumentationslasten nicht lediglich auf einen der beiden Diskurspartner<br />

verteilt werden. Auch eine Metakritik wie die hier VorgefÅhrte schiebt die Beweislasten usw.<br />

nicht einseitig der kritisierten Auffassung zu, kritisiert bspw. nicht nur immanent ihren primÇren<br />

Objektbereich, sondern verdeutlicht ihrerseits wenigstens indirekt weiterhin kritisierbare<br />

Auffassungen als derzeit (nur) BestbewÇhrte.<br />

Doch wie bietet DlJ eine alternative Interpretation? Ist sie das letzte Refugium von des Autors<br />

NaK-Kritik, das in Bezug auf Der GeprÄfte noch verbleibt, nachdem die Stichhaltigkeit<br />

der unterschiedlichen BegrÅndungsversuche der Hauptthese 1 ebenso wie einiger Teilmomente<br />

im BegrÅndungszusammenhang der Hauptthese 2 der Metakritik bereits zum Opfer gefallen<br />

ist?<br />

Wie arrangiert und motiviert der Autor die christophile Aufwertung bzw. seine Kritik der<br />

christophoben und graecophilen Sichtweise des StÅcks in NaK? Die Inhaltsangabe (S. 79f.)<br />

lieÉ bereits Schwerpunkte erkennen oder Tendenzen wenigstens erahnen:<br />

(a) Minimierung der fÅr Fritz zentralen persÄnlichen (und ihn als Autor fixierenden) Komponente<br />

bspw. durch äbergehen von Elisabeth in Akt 5,<br />

(b) der human(istisch)en Komponente bspw. des Verhaltens des Sirenius (1) in Akt 2 – „Jup.<br />

O edler Mann.“ – und (2) in Akt 5, denn nicht jedem ErlÄsten gefÇllt es auf dem Olymp erst<br />

dann, wenn seine kleine Schwester, seine ihn stÇndig observierende Mutter und selbst noch<br />

sein lÇngst abgeschiedener geistlicher Vater ebenfalls auf dem Olymp eingetroffen sind;<br />

schlieÉlich (3) Aussage („FÅr solche Sachen hat mein Herz kein lang GedÇchtniÉ“) und (4)<br />

Verhalten des Sirenius in Akt 6, und<br />

(c) vor allem freilich Minimierung der ‘griechisch-heidnischen’ bzw. ‘rÄmischen’ Komponenten<br />

durch hochgradig selektiv wirkende Information,<br />

(1) beginnend mit der Ausklammerung von Apollo in Akt 1 und dessen Bedeutung fÅr<br />

das gesamte StÅck,<br />

(2) fortgefÅhrt mit der minimalistischen Inhaltsangabe des 2. Akts,<br />

(3) dem Aufsichberuhenlassen der antiken Szenerie (der Akte 1-6 und SchluÉszene),<br />

(4) der eitel Harmonie der GÄtter und GÄttinnen auf dem Olymp in Akt 3, in Akt 6 und<br />

wohl auch in Akt 1; und<br />

(5) dem HÄhepunkt: Vermeidung selbst des die differentia specifica fixierenden Stichwortes<br />

„Olymp“ in der gesamten Inhaltsbeschreibung.<br />

(d) Das StÅck prÅft weder hochgenerell „tugendhaftes Leben“ noch ist es schlicht „moralistisch<br />

aufgebaut“ (DlJ, S. 91), was dann – als ob es nicht schon Jahrhunderte v.u.Z. hellenistische<br />

und rÄmische insbes. stoische Ethiken gegeben hÇtte! SpÇtestens Xenophon moralisiert<br />

Anfang des 4. Jh.s v.u.Z. in seinen Erinnerungen an Sokrates (Memorabilien), ‘daÉ sich die<br />

Balken biegen’ – als christentumsspezifisch reklamiert wird, sondern es ÅberprÅft, belohnt<br />

und belobigt sehr konkret und bezeichnend Gastfreundschaft (von Akt 2 bis Akt 6) und bestraft<br />

in der SchluÉszene gegenwendig deren Bruch (in der Parisjagd durch Menelaos). Beide<br />

Teile sind typisch archaisch-griechisch komponiert, doch fÅr beides – geschweige fÅr deren<br />

sinnstiftenden Zusammenhang – erscheint DlJ ebenso wie fÅr die Rahmenszene leider blind.<br />

(e) Diese Blindheit bezÅglich einerseits<br />

120


(1) bestimmter Details wie der in NaK grÅndlich diskutierten Frage, was sich das Kind bei<br />

der tief in antike Mythologie fÅhrenden so aufschluÉreichen Wahl des Namens „Sirenius“<br />

gedacht haben kÄnnte (S. 929-953), und andererseits insbes. fÅr grÄÉere ZusammenhÇnge<br />

wie<br />

(2) denjenigen der gegenwendigen Relation der sechs Akte des StÅcks und der mythischen<br />

SchluÉszene, der Parisjagd durch Menelaos, oder gar<br />

(3) denjenigen eines Bezugs der Aussage des Menelaos: „Ich will jetzt rÇchen was du<br />

gethan hast“ (I 330 bzw. I 1, 109) und des SchluÉverses des den Fall der Festung Sepastopol<br />

beklagenden AbschluÉgedichts N. 9. Sepastopol (I 344f. bzw. I 1, 124f.) der Sammlung<br />

zum 2.2.1856: „Mit diesen Muth besiegt man den grÄÉten Feind“ (I 345 bzw. I 1, 125),<br />

kÄnnte eine entscheidende Voraussetzung dafÅr darstellen, daÉ<br />

der Autor von DlJ so erhebliche Schwierigkeiten zu haben scheint, christentumskritische<br />

Aspekte in Der GeprÄfte oder auch in anderen Texten des Kindes identifizieren zu kÄnnen.<br />

Wer das Gastfreundschaftsthema, das Thema des Bruchs dieser Gastfreundschaft einschlieÉlich<br />

der Betonung der Notwendigkeit maximaler Bestrafung dieses Bruchs nicht erkennt, die<br />

Mutapelle usw. Åbergeht oder als nicht relevant einschÇtzt, wird sich kaum jemals fragen, was<br />

der ElfjÇhrige dabei empfunden oder sich gedacht haben kÄnnte, derartiges mit seiner Kinderclique<br />

auffÅhren zu wollen. Oder warum die FamilienzusammenfÅhrung auf dem Olymp nicht<br />

irgendeine FamilienzusammenfÅhrung ist, auf deren Beteiligte oder deren Ort es auÉerdem<br />

kaum ankommt. Wer jedoch diese und weitere Punkte als kompositorisch basal erkennt, ist<br />

der Frage konfrontiert, was derlei Arrangement ‘soll’ bzw. worauf es verweisen kÄnnte bzw.<br />

ob irgendwelche Ereignisse in der Lebensgeschichte des Kindes die Funktion eines SchlÅssels<br />

haben kÄnnten, der dieses vermeintliche GeheimschloÉ zu Äffnen vermag. Womit wohl auch<br />

hier wieder einmal ein Weg zu denjenigen Ereignissen in der Geschichte des Kindes gebahnt<br />

wÇre, die Nietzsche ab 1858 verschiedentlich als seine Entwicklung und sein Erleben nachhaltigst<br />

prÇgend selbst beschreibt: Ereignisse in RÄcken 1848-1849.<br />

Was bietet der Autor nun statt dessen? Mehrfaches: Spezielleres und Generelles in nÇmlicher<br />

Intention.<br />

Schon die meinerseits als wenigst aufwendiges experimentum crucis einer interpretatio<br />

christiana Nitii HÄdls berÅcksichtigte Inhaltsangabe von Der GeprÄfte belegte die Vermutung,<br />

der Autor wÅrde in seiner ‘graecofernen’ wenn nicht ‘graecophoben’ Sichtweise seinen<br />

Schwerpunkt in den beiden von ihm besonders ausfÅhrlich prÇsentierten Akten 4 und 5 so<br />

wÇhlen, daÉ er in weiterer Ausblendung oder Abwertung ‘griechischer’ Interpretation versuchen<br />

wÅrde, christliche Gesichtspunkte nicht nur zu favorisieren, sondern auch (nach meinem<br />

Eindruck) zu kreieren. Ich gestehe, das von ihm hierzu Vorgetragene (dazu unten) schlicht<br />

nicht als problemangemessene Argumentation werten zu kÄnnen, identifiziere – im Sinne von<br />

Metakritik – nochmals spezifische Blindheit, um einmal mehr zu verdeutlichen, wie unumgÇnglich<br />

es ist, Texte Nietzsches unabhÇngig von dem, was man selbst im Blick auf Nietzsches<br />

Alter fÅr plausibel hÇlt, als Texte Nietzsches ernst zu nehmen.<br />

Dazu ein wohl letztes Beispiel aus unserem in DlJ als Objekt des entscheidenden experimentum<br />

crucis gewÇhlten StÅck. Wie erinnerlich macht schon HÄdls Inhaltsangabe den Eindruck,<br />

es kÇme zugunsten der ErlÄsung des GeprÅften weniger auf die ÅberprÅfte Gastfreundschaft<br />

der Szene 2 als auf das Gott- in diesem Falle freilich Zeus-Vertrauen des Sirenius in<br />

Akt 4 an, der nur in diesem Vertrauens- oder Glaubensakt den Sprung ins Meer und damit in<br />

den Tod wage... 196<br />

196 So wird eine Weiche in Richtung christlicher Glaubenshaltung gestellt. Warum auch nicht, wenn<br />

die Weichenstellung berechtigt wÇre? Vor allem: Warum vor allem dann nicht, wenn fast alles, was<br />

am Christentum der ersten anderthalb Jahrtausende auch nur den Anschein von IntellektualitÇt bietet,<br />

helleni(sti)schem Denken * entstammt? Wer/was ist denn hier Epigone? Und ein intellektuell und bil-<br />

121


Doch wie interpretiert nicht der Autor von DlJ, sondern wie inszeniert denn Fritz selbst die<br />

Konstellation? Statt sich auf die Frage des Aufweises eines Vertrauens- oder Glaubensaktes in<br />

Akt 4 zu fixieren, um christliche Auffassungen endlich ins Spiel bringen zu kÄnnen, wÇre es<br />

wieder einmal sinnvoller gewesen, das Arrangement und den Wortlaut des ElfjÇhrigen ernster<br />

zu nehmen. Was finden wir? Wir finden eine doppelte Zuordnung in den beiden sog. PrÅfungsszenen<br />

der Akte 2 und 4, die den gedanklichen Komponisten Fritz sowie dessen PrÇferenzen<br />

demonstrieren, denn: Die PrÅfung in Anwesenheit des diese hÄchstselbst vornehmenden<br />

Jupiter/Zeus in Akt 2 ist der zeitliche ebenso wie axiologische PrioritÇt besitzende entscheidende<br />

Akt. Inwiefern? Um den hohen Rang der PrÅfung zu betonen,<br />

(1) die ausdrÅcklich durch den hÄchsten Gott selbst erfolgt, wird<br />

(2) von ihr auch im Folgeakt, dem Akt 3 auf dem Olymp, wiederum von hÄchsten Gott<br />

selbst, von Jupiter/Zeus nÇmlich,<br />

(3) bezeichnenderweise auf Befragen Apollons, der sein<br />

(4) in Akt 1 bekundetes Interesse an Sirenius nochmals dokumentiert, als von einem groÉartigen<br />

Ergebnis berichtet. Doch doppelt genÇht hÇlt bekanntlich besser und deshalb noch<br />

immer nicht genug:<br />

(5) In Akt 6 wird sogar fast im Sinne ‘homerischer’ Verdoppelung wiederum auf die Bedeutung<br />

der von Sirenius praktizierten Gastfreundschaft massiv hingewiesen, denn hier sekundiert<br />

Åberraschenderweise sogar noch Vesta, die ihren Test auf Gastfreundschaft<br />

hÄchstens im 1. Akt durchgefÅhrt haben kann: „Du na[h]mst mich einst so freund[lich]<br />

auf“ usw., und sie belohnt noch ihrerseits des Sirenius gastfreundliches Verhalten.<br />

(6) Der nymphenverfÅhrte und -gefÅhrte Sturz ins Meer in Akt 5 – man Åbergehe nicht den<br />

Rangunterschied von Jupiter/Zeus und den Nymphen und deren unterschiedliches Verhalten;<br />

Zeus, bevor er sich offenbart und Sirenius ans Meer befiehlt, redet als Mensch inkognito<br />

mit Sirenius von Mensch zu Mensch und prÅft ihn; die Nymphen hingegen locken,<br />

verfÅhren als (halbgÄttliche) Wesen 197 –, ist jedoch nicht Zeichen ausdrÅcklichen Vertrau-<br />

dungsmÇÉig anfangs so Unterlegener, daÉ der vielzitierte und -gepriesene „Sieg des Christentums“ in<br />

der spÇten Antike nur auf politischem Wege und in Vernichtung nahezu sÇmtlicher ‘heidnischer’ KulturgÅter<br />

– ein m.W. weltgeschichtlich einmaliger, historikerseits hierzulande noch immer weitgehend<br />

verheimlichter, marginalisierter oder verniedlichter nahezu den gesamten Mittelmeerraum in barbarische<br />

ZustÇnde zurÅckschleudernder fundamentalistischer Vernichtungssturm ** – erfolgen und dessen<br />

zentrales Ergebnis – zeitweilige Dominanz ‘des’ Christentums in weiten Landstrichen nicht nur des<br />

‘Abendlandes’ – bis in die jÅngere Vergangenheit mit Feuer, Schwert & politischer Gewalt weit hÇufiger<br />

als nur mit dem Weihwasserwedel oder gar Åberzeugenden Worten aufrecht erhalten werden<br />

konnte? * Vgl. bspw. Carl Schneider: Geistesgeschichte des antiken Christentums. Band I/II. MÅnchen,<br />

1954. Der aufschluÉreichste Schwerpunkt dieser beeindruckend kenntnisreichen Geistesgeschichte<br />

liegt in Schneiders Aufweisen u.a. tausendfacher christlicher äbernahmen insbes. platonischer,<br />

stoischer und neuplatonischer Gedanken, alexandrinischer Interpretationsmethoden usw. (einiges<br />

zusammengefaÉt in Bd. II, S. 282ff.); speziell zum Hellenismus vgl. Schneiders Lebenswerk: Kulturgeschichte<br />

des Hellenismus. Band I/II. MÅnchen, 1967 und 1969 (Åber hellenistische Religion insbes.<br />

Bd. II, S. 765-959, und Åber Hellenistische Kultur und Judentum Bd. I, S. 864-901). ** Den weithin<br />

verschwiegenen Themenzusammenhang skizziert Rolf Bergmeier: Requiem fÄr die antike Kultur.<br />

In: AufklÇrung und Kritik 15, 2/2009, S. 170-180. Da kaum Hoffnung besteht, von hierzulande in<br />

staatlichen Institutionen arbeitenden Historikern entsprechende – noch immer karrieresabotierende? –<br />

differenzierte AufschlÅsse zu erhalten, begrÅÉe ich sehr, daÉ Rolf Bergmeier sich entschloÉ, zur Geschichte<br />

dieser verheimlichten Schande als Monographie vorzulegen: Schatten Äber Europa. Der Untergang<br />

der antiken Kultur. Aschaffenburg, 2012.<br />

197 Je unwahrscheinlicher es einem heutigen Leser erscheinen mag, daÉ Fritz Åber derartiges Wissen<br />

verfÅgte, desto eher dÅrfte er dazu neigen, derartige Interpretationen fÅr abwegig zu halten, im Grunde<br />

also seine Augen vor eindeutig belegbaren PhÇnomenen zu verschlieÉen, anstatt Alternativen durchzuspielen<br />

(und sich Åber den immensen geisteswissenschaftlichen Bildungsverlust eines zunehmenden<br />

Teils auch an Hochschulen mittlerweile lehrender deutschsprachiger MitteleuropÇer Gedanken zu<br />

122


ens oder gar monotheistisch geprÇgten Glaubens an Zeus, sondern lediglich Folge konsequenten<br />

Einhaltens des Gebots des Zeus, denn: „Zeus Hat es mir geboten“.<br />

(7) Bezeichnenderweise spielt im weiteren StÅck dieser vermeintliche Glaubensakt, nachdem<br />

er erfolgt ist, keinerlei identifizierbare Rolle mehr: So wird er im 6. Akt ebensowenig<br />

wie die Art der Nachfolge der Familienmitglieder eigens erwÇhnt (durchaus aber nochmals<br />

das Ergebnis der ersten PrÅfung)! So gibt das Einhalten des Gebots des Jupiter/Zeus zwar<br />

den Ausschlag – und nicht irgendein einem monotheistischen Gott geltender Glaubensakt –,<br />

entspricht auch durchaus antiker kultischer ReligiositÇt, doch entscheidend bleibt das in<br />

Akt 2 getestete – und auÉerdem mÄglicherweise auch bereits in Akt 1 berichtete – gastfreundliche<br />

Verhalten des Sirenius.<br />

So lÄsen sich bei genauerer BerÅcksichtigung der Formulierungen auch dieses Textes des<br />

ElfjÇhrigen christliche Interpretationen dieses Lustspiels in Luft auf (wohin sie vielleicht<br />

auch sonst gehÄren).<br />

Kurz noch zur generellen und prinzipielleren Perspektive des Autors. Eine hitzige Diskussion<br />

HÄdls im Juli 1999 wÇhrend des VI. Dortmunder Nietzsche-Kolloquiums nach dem Vortrag<br />

von Renate G. MÅller 198 mit der Referentin und dem Verfasser als Diskussionsleiter Åber das<br />

VerhÇltnis von ‘heidnischen’ antiken ErlÄsungsvorstellungen und christlichen, findet hier in<br />

DlJ nun insofern ihre Fortsetzung zugunsten einer interpretatio christiana, als der Autor in<br />

Åberraschender AusfÅhrlichkeit mit zahlreichen Hinweisen zu belegen sucht (S. 86f.), daÉ das<br />

christliche ErlÄsungsangebot in Teilhabe an der Gottessohnschaft (was immer das auch im<br />

einzelnen bedeuten mÄge 199 ) bestehe und mit dieser – wenigstens in der Phantasie! – alles bei<br />

weitem Åberbiete, was antike ReligiositÇt und insbesondere die Olympische je anzubieten<br />

gehabt hÇtten... 200<br />

Was freilich eher noch kurioser anmutet, ist des Autors Versuch, vorauszusetzen, ausgerechnet<br />

der hÄchstens elfjÇhrige Fritz habe das vom Autor Aufgezeigte schon 1855 oder An-<br />

erlauben). Die Plausibelste hieÉe wohl wieder einmal: Ernst Ortlepp. Zwar wird auch dieser Schmidt-<br />

Refrain im Blick auf Fritz 1855/56 allmÇhlich langweilig; doch vielleicht konzediert der Leser, daÉ<br />

Vf. allen AnlaÉ sah, sich nicht ebenfalls als Interpret wegzuducken, wegzugucken oder darÅber interpretativ<br />

hinwegzuhuschen, sondern zu recherchieren und, vor allem, nachzudenken... Auch auf die<br />

Bedeutung der Nymphen hat Renate G. MÅller: Antikes Denken, 1993, nachdrÅcklich hingewiesen.<br />

198 Renate G. MÅller: Erkenntnis und Erlásung. âber Nietzsches Umgang mit vorchristlich-griechischem<br />

Gedankengut vor dem Hintergrund seiner christlichen Herkunft. In: Nietzscheforschung 8.<br />

Berlin, 2001, S. 219-232.<br />

199 Wenn schon derartige äberlegungen eingebracht werden, mÅÉte im Blick auf das Kind Nietzsche<br />

m.E. auÉer der spezifischen ErwecktenreligiositÇt primÇr die Sichtweise Martin Luthers berÅcksichtigt<br />

werden. Leider erinnere ich mich jedoch nicht daran, in DlJ dem Namen „Luther“, der auch im Stichwortverzeichnis<br />

(S. 625) nicht erwÇhnt ist, wÇhrend meiner LektÅre von DlJ auch nur einmal begegnet<br />

zu sein. Gegenfrage: Wie hoch mag 1855/1856 der Prozentsatz deutscher Lutheraner – worum es ja<br />

ginge, wenn der Verweis auf „Teilhabe an der Gottessohnschaft“ mehr als ein weiteres katholisches<br />

Ad-hoc-Argument, ein argumentativer Joker oder eine nahezu frei interpretierbare Variable wÇre –,<br />

gewesen sein, die von ihrer ‘im Himmel’ gnadengeschenkten „Teilhabe an der Gottessohnschaft“ (DlJ,<br />

S. 87) ausgingen?<br />

200 Was nicht nur insofern sogar stimmen kÄnnte, als nach 2000 Jahren christlicher selbst schwer<br />

Åberbietbare WidersprÅche nahezu spielend integrierender Interpretationskunst wohl keine nur irgendwie<br />

denkbaren – und allzuviele auch undenkbaren – Auffassungen nicht als „christlich“ vorgestellt<br />

und bei Bedarf aus dem in zwei Jahrtausenden angelegten immensen Arsenal diversester interpretationes<br />

christianorum entsprechend requiriert werden kÄnnen: Nahezu unabhÇngig davon, daÉ das<br />

jeweils Ad-hoc-Aufgewiesene in den seltensten FÇllen auch nur von einer grÄÉeren Zahl von Mitgliedern<br />

der eigenen Konfession geglaubt worden wÇre – und vielleicht selbst das bereits einige Jahrzehnte<br />

spÇter nicht mehr: sowie frÅher noch nicht; geschweige denn von der Åberwiegenden Mehrheit konfessionsexterner<br />

in tausenderlei Sekten zersplitterter Mitchristen.<br />

123


fang 1856 gewuÉt, weil im Religionsunterricht des Domgymnasiums gelernt, wenn nicht sich<br />

selbst erarbeitet. Gibt es nicht genug Kirchenlieder, die zu des Kindes Nietzsche Zeiten in den<br />

in Naumburg nachweislich benutzten GesangbÅchern zu finden sind, aus denen Verse entnommen,<br />

zitiert und wie ein Puzzle zusammengebaut werden kÄnnen, die das (jeweils) GewÅnschte<br />

oder Erforderliche – von „O groÉe Not, Gott selbst ist tot“ 201 bis zu schwÅlstigstem<br />

Kitsch à la Zinzendorf, Lutherischen oder gar MÅnzer’schen KampfgesÇngen – ergeben? Und<br />

deren Kenntnis belegt, daÉ Nietzsche auch nicht einen einzigen Kirchenliedvers jemals ironisch<br />

oder bitter ‘zitiert’, kritisch bedacht oder gar skeptisch in Frage gestellt hÇtte? So daÉ<br />

solcherart belegter religiÄser Lebenshintergrund bereits beweist, daÉ in derartigem Kontext<br />

kein Kind kritisch denken kann – unabhÇngig von alledem, was aus seiner Hand heute noch<br />

vorliegt (vgl. dazu 3.3.2.7., Grundthese 6)? Ein Hoch auf ‘Normalkind’-Interpretationen?<br />

3.4.4.4.6. Zu des Autors interpretativem Ansatz<br />

Nun erst skizziere ich zuerst einen mittlerweile deutlicher gewordenen interpretativen Ansatz<br />

des Autors durch Aufweis einer undiskutiert (und mÄglicherweise nicht bewuÉt) angewandten<br />

‘Hintergrundstrategie’ (in (1)); anschlieÉend kommentiere ich eine Passage aus DlJ,<br />

die einerseits zusammenfassenden Charakter hat und andererseits nochmals Intentionen des<br />

Autors von DlJ erkennen lÇÉt, die mit denjenigen des Verfasser leider inkommensurabel sind<br />

(in (2)). In 3.4.4.4.7. schlieÉlich folgen in Diskussion von des Autors Resumee des von ihm<br />

im zweiten experimentum crucis Erarbeiteten vorlÇufig abschlieÉende äberlegungen des Verfassers.<br />

(1) Die gegenwendige Struktur von des Autors direkter Argumentation: (a) Aufwertungsversuche<br />

der Christlichkeit des Kindes durch Betonung christlicher Rahmenvorgaben mit dem<br />

Effekt mÄglichst weitgehender Minimierung ‘kritischer’ Anteile, (b) Abwertungsversuche<br />

hingegen ‘griechischer’ Anteile in Der GeprÄfte insofern, als aus der bereits mit nicht unproblematischen<br />

Interpretationen des Autors spezifisch beleuchteten Tatsache, daÉ<br />

„Nietzsche auch ‘die Griechen’ vornehmlich in der Schule, bei den Eltern der Freunde, im Rahmen<br />

der ‘jÅdisch-christlichen Kultur’ bekannt geworden“ waren, „was sich an der moralistischen Deutung<br />

des VerhÇltnisses des Menschen zu Gott“ zeige, „wie sie sich auch in dem rein ÇuÉerlich [!!]<br />

im Bereich der griechischen Religion angesiedelten ‘Sirenius-Fragment’“ manifestiere (S. 92f.),<br />

offenbar geschlossen wird, daÉ das Kind mit Wie-auch-immer-Rezipiertem nicht eigenstÇndig<br />

oder -sinnig oder gar gegenwendig umzugehen vermag; worauf es im Falle des frÅhsten<br />

Nietzsche wohl primÇr ankommt.<br />

Ginge es nach dem Autor, bliebe nÇmlich unbegreiflich, wie ein Kind mit derartigem<br />

Hintergrund Åberhaupt zu zweifeln und Zweifel ggf. zur Entwicklung zunehmend alternativer<br />

Auffassungen ‘auszubauen’ vermag. Bewiesen und beweisen denn nicht Tausende von Kindern<br />

das Gegenteil des vom Autor hier Behaupteten? Und damit bereits die MÄglichkeit des<br />

von NaK in Nietzsches Texten Aufgezeigten? Die MÄglichkeit; zwar nicht mehr, aber auch<br />

nicht weniger. Den gewiÉ nicht einfachen ‘Rest’ muÉ dann die Interpretation leisten. Des Autors<br />

These, daÉ das „Sirenius-Fragment“ „im Bereich der griechischen Religion“ nur „rein<br />

ÇuÉerlich“ angesiedelt sei, erÅbrigt sich inzwischen wohl zu kommentieren. FÅr einen ElfjÇh-<br />

201 Vgl. auch Olaf Pluta: „Deus est mortuus“. – Nietzsches Parole „Gott ist tot!“ in einer Geschichte<br />

der Gesta Romanorum vom Ende des 14. Jahrhunderts. In: Friedrich NiewÄhner und Olaf Pluta (Hg.):<br />

Atheismus im Mittelalter und in der Renaissance. WolfenbÅtteler Mittelalter-Studien. WolfenbÅttel,<br />

1999, S. 239-270; ders: Zur Genese von Nietzsches Parole „Gott ist todt!“. Eine Untersuchung zu<br />

Nietzsches Quellen in Rácken, Naumburg und Pforta. In: Renate Reschke (Hg.), Zeitenwende – Wertewende.<br />

Internationaler KongreÉ der Nietzsche-Gesellschaft zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches<br />

vom 24.-27. August 2000 in Naumburg. Nietzscheforschung. Sonderband 1. Berlin, 2001, S. 357-366.<br />

124


igen – und nur darum geht es an dieser Stelle! – kannte sich Fritz nÇmlich beeindruckend gut<br />

aus. Dennoch zeigt der Einwand vielleicht klarer als vieles, was unsereiner formulieren kÄnnte,<br />

die Perspektive des Autors von DlJ. Es geht nÇmlich schon deshalb nicht primÇr darum,<br />

inwiefern der ElfjÇhrige „die griechische Religion“ jenseits einiger Mythen, HomerlektÅre<br />

und Ovids Metamorphosen kannte, weil es vor allem darum geht, was dieser ElfjÜhrige mit<br />

Der GeprÄfte in Szene setzt: Religionswechsel der vier engeren Familienmitglieder Nietzsches<br />

ausdrÄcklich einschlieÖlich des verstorbenen Pastorenvaters, der sich ebenso wie die<br />

Äbrigen Mitglieder frei entscheidet und sogar die FÄhrung Äbernimmt. Noch deutlicher hÇtte<br />

sich das Kind ‘in der Sache’ doch kaum mehr ÇuÉern kÄnnen. DaÉ es ‘in der Form’ sich nicht<br />

noch deutlicher artikulierte, dÅrfte viele Ursachen haben; eine davon war der Wunsch, dieses<br />

StÅck auffÅhren zu kÄnnen. – Was die ‘jÅdisch-christliche Kultur’ des Abendlandes 202 betrifft,<br />

verweise ich hier nur 1. auf den schlichten Sachverhalt, daÉ das griechisch-rÄmische Erbe das<br />

christliche, das anfangs ohnedies ein eher unterschichtsnahes hochprozentiges Amalgam hellenistischen<br />

sowie spÇtantiken griechisch-rÄmischen Erbes darstellt, bei weitem auch dann<br />

Åbertrifft, wenn es Defensores fidei Åber ein Jahrtausend lang gelungen ist, Einsichten in diesen<br />

Sachverhalt zu verunmÄglichen – oder deren Erkenntnis, geschweige denn Artikulation zu<br />

kriminalisieren. 203 Und ich verweise 2. darauf, daÉ christlicherseits seit mehr als 1500 Jahren<br />

versucht wurde, Juden mit Feuer & Schwert zu missionieren und im Falle mangelnden Missionserfolgs<br />

ggf. auszurotten. Die neuerdings erst kreierte Schutzbehauptung einer „jÅdischchristlichen<br />

Kultur“ – quasi als Schutzwall gegen die These der Dominanz „heidnisch-antiker<br />

Kultur“ – suggeriert im Blick auf die 1850er Jahre, um die es hier ja geht, vÄllig unangemessene<br />

204 Perspektiven.<br />

Was schlieÉlich in diesem speziellen Falle das Bekanntwerden ‘der Griechen’ durch die<br />

Schule usw. betrifft, so berÅcksichtigt der Autor leider nicht die gerade im Blick auf seine<br />

eigene oben zitierte Argumentation kaum irrelevante Tatsache, daÉ Nietzsche, erst ab Michaelis<br />

– also Herbst – 1855 SchÅler des Naumburger Domgymnasiums und mit beiden Freunden<br />

in die Quinta versetzt, wÇhrend des Besuchs der gesamten Quinta bis Michaelis 1856 noch<br />

keinerlei Griechischunterricht hatte – dieser setzte lt. Schulnachrichten 205 erst in der Quarta,<br />

also erst ab Herbst 1856 mit 4 Stunden ein! –, so daÉ der EinfluÉ der Schule selbst dann,<br />

wenn in Kalligraphie, dem SchÄnschreibeunterricht, neben anderem auch Texte zu ‘den Griechen’<br />

anfielen oder wenn im Geschichtsunterricht neben den damals unvermeidlich vaterlÇndischen<br />

auch antike Themen berÅcksichtigt wurden 206 , gegenÅber dem ‘Eigenanteil’ – wie ja<br />

202 Vgl. Hermann Josef Schmidt: Antike und Christentum – keine seriás belegbare Synthese. Zu Winfried<br />

Schráder, Athen und Jerusalem. Stuttgart, 2011. In: A&K 19, 1/2012, S. 52-61.<br />

203 Vgl. selbst Wolfgang Speyer: BÄchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und<br />

Christen. Stuttgart, 1981; ein katholischer Autor.<br />

204 Kritiker der Sichtweise des Vf.s kÄnnten sich zwecks Gegenprobe vielleicht fragen, in wievielen<br />

mitteleuropÇischen protestantischen oder auch katholischen Kirchen der 1840er oder 1850er Jahre in<br />

Orten, in denen es jÅdische Gemeinden gab – wo sonst hÇtte man „jÅdisch-christliche Kultur“ authentischer<br />

im taufrischen Originalzustand studieren kÄnnen? –, Jesus auf einem zentralen Altarbild in der<br />

Bekleidung eines glÇubigen Juden abgebildet wurde, genauer wohl: hÇtte werden kÄnnen.<br />

205 Vgl. Zu der áffentlichen PrÄfung sÜmtlicher Klassen des Domgymnasiums zu Naumburg vom 10.<br />

bis zum 13. MÜrz 1856 ladet ergebenst ein Dr. Fártsch, Gymn. Dir., Naumburg, 1856, p. VI. Auch die<br />

beiden Zeugnisse der Quinta des Domgymnasiums vom 28. MÇrz und 7. Oktober 1856 (GSA 71/360)<br />

belegen, daÉ Lateinunterricht lediglich durch FranzÄsischunterricht ergÇnzt wurde.<br />

206 In den „Schulnachrichten“ des Domgymnasiums ist als Stoff fÅr die Quinta angegeben: „ErzÇhlung<br />

des WissenswÅrdigsten besonders aus der alten Geschichte, an interessante PersÄnlichkeiten geknÅpft<br />

(nach Welter)“. In: Zu der áffentlichen PrÄfung [...] ladet ergebenst ein Dr. Fártsch, 1856, p. IV.<br />

Doch welcher SchÅler antwortet dann auf dieses Angebot mit einer Auflistung „Stoff zum geschicht<br />

Gedichten“ mit nicht weniger als 68 Positionen oder Personen von „I. Cecrops“ u.a. Åber Solon und<br />

Socrates bis „Tarent genommen“, 271 v.u.Z. (I 352f. bzw. I 1, 132-134), von denen dann einige ‘poe-<br />

125


auch vom Autor nicht erkannte zentrale inhaltliche ‘Aussagen’ von Der GeprÄfte belegen – in<br />

einem mÄglicherweise (lt. Mette) sogar noch vor Aufnahme in das Domgymnasium geschriebenen<br />

StÅck nicht derart in den Vordergrund gerÅckt werden sollte.<br />

Die zunehmend deutlicher werdende differentia specifica interpretationis: Bedeutung sowie<br />

EinfluÉ von (mÄglicherweise irrealen) Rahmenbedingungen – wie Griechischunterricht in<br />

der Quinta des Domgymnasiums 207 ? – versus Eigenanteil, Eigeninteresse und unrubrizierbare<br />

individuelle KreativitÇt; kurz: ‘normalkind’-interpretationsspezifische Nietzsche-Perspektiven<br />

(vgl. oben 3.3.2.2.ff.) des Autors von DlJ und vieler anderer versus diejenigen momentan<br />

wohl leider fast nur des Verfassers von Na sowie anderer Arbeiten, von Renate G. MÅller 208<br />

und Volker Ebersbach 209 primÇr zu Nietzsche.<br />

(2) Im Hintergrund all’ dieser ManÄver oder ggf. Blindheiten sowie der soeben vorgestellten<br />

differentia specifica interpretationis von (1) wird wohl immer deutlicher eine noch basalere<br />

und noch weniger vermittelbare Differenz zwischen dem Autor von DlJ und dem Verfasser<br />

insofern, als Ersterer ‘kritische Eigenanteile’ zugunsten von Rahmenvorgaben usw. nicht nur<br />

minimiert – und damit wie schon Joergen Kjaer, 1990, und wohl alle christophilen Interpreten<br />

ein Kriterium anwendet, das fÅr den GroÉteil mit Nietzsche jeweils Gleichaltriger insbes. heute<br />

zutreffend sein dÅrfte –, sondern ‘kritische Eigenanteile’ sogar mÄglichst suspendiert, wÇhrend<br />

der Verfasser eher eine gegenteilige ‘Interpretationsstrategie fÇhrt’, da er bereits im Kindergartenalter<br />

zu hÄren bekam, nicht demÅtig genug zu sein und unÅbliche Fragen zu stellen.<br />

Genau diese Haltung unterstellte ich nach meinem Prinzip, mich als Gleichaltrigen nicht fÅr<br />

klÅger oder gar fÅr kritischer zu halten als den Autor meines jeweiligen selbstgewÇhlten ‘Interpretationsgegenstands’,<br />

schon nach knapper LektÅre von Nietzsches Texten probehalber<br />

auch diesem: und noch gegenwÇrtig sehe ich keinen AnlaÉ, meine EinschÇtzung Nietzsches<br />

zu Çndern. So las und ÅberprÅfte ich Nietzsches Texte mit dem Effekt, daÉ ich insbes. in BerÅcksichtigung<br />

seines Alters usw. einige seiner frÅhen Texte als ‘Goldgruben fÅr kritischere<br />

KÄpfe’ anzusehen lernte. Vorausgesetzt freilich, Letztere haben sich als Leser oder wenigstens<br />

als Interpreten diejenigen Kenntnisse grÄÉtenteils zuvor erarbeitet, Åber die bereits die-<br />

tisch abgearbeitet’ werden? Der GeprÄfte freilich gehÄrt offensichtlich einer anderen Kategorie/Dimension<br />

an.<br />

207 Nochmals: Der Autor neigt also dazu, Nietzsches poetische Produktion mÄglichst von externen<br />

Anregungen abhÇngig sein zu lassen, stÄÉt dabei jedoch u.a. auf das Problem, daÉ Nietzsche erst im<br />

Herbst 1856, nachdem er in die Quarta des Domgymnasiums versetzt wurde, Griechischunterricht<br />

erhÇlt. So sind allenfalls Anregungen aus dem Geschichtsunterricht nicht auszuschlieÉen. Entscheidend<br />

freilich, wie dieses Kind Anregungen – von wessen Seite auch immer – in Der GeprÄfte (spÇtestens<br />

von Jahresanfang 1856) – oder in dem Herodot folgenden Gedicht Des Cyrus Jugendjahre aus der<br />

Sammlung zum 2.2.1856 umzusetzen vermochte...<br />

208 Von Renate G. MÅller liegen auÉer ihrer mehrfach genannten Dortmunder Dissertation Antikes<br />

Denken und seine Verarbeitung in Texten des SchÄlers Nietzsche vom 22.11.1993 und Erkenntnis und<br />

Erlásung. In: Nietzscheforschung 8. Berlin, 2001, S. 219-232, im Druck noch vor: „Wandrer, wenn du<br />

im Griechenland wanderst...“ – Reflexionen zur Bedeutsamkeit von „Antike“ fÄr den jungen Friedrich<br />

Nietzsche. In: Ebenda 1, 1994, S. 169-79; „De rebus gestis Mithridatis regis.“ – Ein lateinischer<br />

Schulaufsatz Nietzsches im Spannungsfeld zwischen Quellenstudium und Selbstdarstellung. In: Ebenda,<br />

1994, S. 351-63; Anmerkungen zu Nietzsches Tragádienproblem. Von der Schulzeit bis zu den<br />

Vorarbeiten zur „Geburt der Tragádie“ unter BerÄcksichtigung des VerhÜltnisses zu Wagner. In: Ebenda<br />

2, 1995, S. 237-53; Idyllen aus Messina. Versuch einer AnnÜherung. In: Ebenda 3, 1995 (1997),<br />

S. 77-86, und: EIMAPMENH, MOIRA, TYXH/FATUM, SORS, FORTUNA. Zu verschiedenen Aspekten<br />

von „Schicksal“ beim jungen Nietzsche. In: Ebenda 5/6, 2000, S. 405-416.<br />

209 Volker Ebersbach: „Lauter unsichtbare Gedankenkatastrophen“. Nietzsches tragische Anthropologie.<br />

Vier Essays mit einer Vorrede. Teil 1. Leipzig, 2002; ders.: Der „Verlust des Mythus“ oder Das<br />

UnerlÜssliche steht in Frage. Nietzsches tragische Anthropologie. Teil 2. Leipzig, 2006.<br />

126


ses Kind nachweislich verfÅgte; und sie lesen dann sorgfÇltig (sowie ‘bedenklich’) und sie<br />

interpretieren ergebnisoffen.<br />

Fazit: Argumentationen in DlJ belegen zumal in beiden experimenta crucis bei aller ansonsten<br />

oftmals bewiesenen beeindruckenden Kenntnis spezifischen biographisch relevanten<br />

Materials ihres Autors zumal im Blick auf die Frage der Anteile ‘antik-heidnischer’ 210 und<br />

christlicher Komponenten in Der GeprÄfte ebenso wie beim Vergleich des Lustspiels Der<br />

GeprÄfte und Die Gátter auf den Olymp 211 ein solch’ horrendes AusmaÉ an (vermutlich auf<br />

mangelndem altertumswissenschaftlichen Wissen basierenden und zwangslÇufig schwerstwiegende<br />

Analysefehler produzierenden) UnverstÇndnis und/oder an theodizeeproblemflÅchtiger<br />

intellektueller oder emotionaler Blockade 212 , daÉ selbst dann, wenn des Autors Belobigung<br />

christlicher ErlÄsungsvorstellungen, sie vermÄchten weit mehr zu bieten als die der bescheideneren<br />

Heiden, im Recht wÇre, damit noch lÇngst nicht gezeigt ist, daÉ der ElfjÇhrige<br />

diesen Sachverhalt Çhnlich wie in DlJ suggeriert, auffaÉt: Da mag Fritz noch so viele<br />

Kirchenlieder mitgesungen, auswendig gelernt oder auf Wunsch abgeschrieben haben; und<br />

auch noch nicht, daÉ er fÅr das thematisierte StÅck von Bedeutung ist. Bereits die<br />

FamilienzusammenfÅhrung auf dem Olymp (anstatt im christlichen ‘Himmel’) demonstriert<br />

das direkte Gegenteil des von DlJ so aufwendig Propagierten.<br />

Der Autor hingegen schlieÉt ein Zwischenkapitel seiner dem Lustspiel Der GeprÄfte geltenden<br />

äberlegungen ab mit:<br />

„Man kann mit einem Wort das Drama um „Sirenius“ auch als typisch christliche „Wohlverhalten<br />

wird belohnt“-Thematik lesen.“ (S. 93)<br />

Sicherlich; man „kann“ vieles und vor allem weit weniger Kompetentes zu Papier bringen<br />

als das von HÄdl und in DlJ in der Regel Gebotene (und tut es leider auch); fragt sich nur, wie<br />

weit man Entspezifizierung, Uminterpretation oder Ausklammerung des Relevanten wie hier<br />

die Gastfreundschaftsbelohnungsaktion sowie die Bestrafungsaktion von deren Bruch als<br />

PrÇmisse (und deren Konsequenz: ertrÇumter Religionswechsel der Familie durch Erhebung<br />

zu griechischen GÄttern auf den Olymp!) treiben mÄchte; ob man es auch sollte, und – hoffentlich<br />

nicht zuletzt – inwiefern man dabei Nietzsche gerecht wird (worum es in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

wenigstens nach der unmaÉgeblichen Ansicht des Verfassers, der seine<br />

VerÄffentlichungen ‘zu Nietzsche’ deshalb schon seit 1969 213 als Sondervoten versteht, an<br />

erster Stelle gehen sollte).<br />

210 Vgl. im ‘Interpretativen Lasterkatalog’ usw. die Punkte 9: „Mangelnde BerÅcksichtigung oder<br />

Ausklammern der Graecophilie und Graecomanie Nietzsches, FehleinschÇtzung der Relevanz ‘der<br />

Griechen’ und der komplementÇren Relation von ‘Griechentum’ und Christentum fÅr Nietzsches Denken<br />

und Denkentwicklung“ und Punkt 18 „Altertumswissenschaftliche Ahnungslosigkeit“, in: Hermann<br />

Josef Schmidt: Entnietzschung, 2000, S. 133-138 und 150f.<br />

211 ... dessen Einladungszettel zum Zeitpunkt der Niederschrift von NaK noch nicht verÄffentlicht bzw.<br />

Vf. bekannt war; weshalb meine Versuche der 1980er Jahre, aus den wenigen damals (!!) zugÇnglichen<br />

Aussagen Åber Die Gátter vom Olymp Informationen zu extrahieren, hochgradig hypothetisch<br />

und irrtumsanfÇllig sein muÉten. So ist fÅr den Autor von DlJ, 2009, leicht, auf Passagen in Nak, vordatiert<br />

auf 1991, hinzuweisen, die schon 1992 meinem Informationsstand nicht mehr entsprachen.<br />

Doch er selbst kennt (anders als der im GSA erst ab 1991 recherchierende Vf.) diesen Einladungszettel<br />

wohl schon seit 1988. So hÇtte er also genÅgend Zeit gehabt, auf Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede<br />

zu Der GeprÄfte zu achten.<br />

212 Dazu genauer Hermann Josef Schmidt: Kannitverstan (Arbeitstitel), 2010.<br />

213 Hermann Josef Schmidt: Nietzsche und Sokrates. Philosophische Untersuchungen zu Nietzsches<br />

Sokratesbild. Meisenheim, 1969.<br />

127


3.4.4.4.7. Zusammenfassende äberlegungen zum zweiten experimentum crucis<br />

Eine erfreulich differenzierte und Åberraschend vorsichtige – manches zuvor AusgefÅhrte<br />

seinerseits nun fast zurÅcknehmende oder deutlich abdÇmpfende 214 – Zwischenbilanz bietet<br />

DlJ, S. 104f., am Ende seiner direkten Auseinandersetzung mit der NaK-Sicht von Der GeprÄfte<br />

und dessen VerhÇltnis zu Die Gátter auf den Olymp, die fairerweise in vollem Umfang<br />

(doch ohne die 5 umfangreichen Anmerkungen) aufgenommen und anschlieÉend gewÅrdigt<br />

sein soll:<br />

„Meines Erachtens kann man Åber die vorliegenden Texte Folgendes sagen: es handelt sich um<br />

einen Entwurf Nietzsches fÅr ein gemeinsames StÅck, von dessen Gesamtkonzeption wir aufgrund<br />

der äberlieferungslage nicht sicher wissen, was von Nietzsche und was von Pinder stammt. Deshalb<br />

erfordert es die Redlichkeit des Forschers, hier nicht zuviel hineinzulesen. Die nÇhere inhaltliche<br />

Interpretation Schmidts hÇngt an zu vielen Voraussetzungen, die am Text nicht aufzuweisen<br />

sind, als dass man ihm immer folgen wird kÄnnen. Aus der Untersuchung des Textes und der Interpretation<br />

Schmidts hat sich somit ergeben, daÉ diese sich im experimentellen Rahmen, wie ich ihn<br />

oben definiert habe, hÇlt und dass einige der Annahmen Schmidts am Text nicht ausgewiesen werden<br />

kÄnnen. Es bleibt nÇmlich (1) von der Quellenlage her hÄchst fraglich, ob man diesen Text als<br />

Privattext Nietzsches auffassen kann. Obwohl dies nicht mit letzter Sicherheit auszuschlieÉen ist,<br />

legt der ganze Kontext eine andere Deutung nahe. Weiters ist (2) die Annahme, der Knabe bediene<br />

sich literarisch einer Verwirrstrategie, wenigstens an dem von Schmidt im Zusammenhang mit<br />

Nietzsches ErwÇhnung des TheaterstÅcks aus 1856 in der Biographie aus dem [im] Jahr 1858 gebrachten<br />

Beispiel als nicht zutreffend erwiesen worden. Auf der inhaltlichen Seite hat sich (3) gezeigt,<br />

daÉ man die ZusammenhÇnge mit gutem Recht und textlicher Evidenz auch anders interpretieren<br />

kann, als dies Schmidt tut. Somit ist zumindest festzuhalten, dass [/] es (4) nicht als ein gesichertes<br />

Ergebnis der Nietzsche-Forschung gelten kann, daÉ Nietzsche in diesem TheaterstÅck sich<br />

und seine TrÇume, wobei diese als SelbstvergÄttlichung gedeutet werden, inszeniert. Genauso wenig<br />

ist (5) mit Schmidts Interpretation erwiesen, dass der von ihm behauptete religionskritische Impetus<br />

hier bereits am Werk ist.“<br />

Ohne meine gesamte Argumentationen zu paraphrasieren, setze ich gegen des Autors moderate<br />

Zwischenbilanz:<br />

Auch den Argumentationen in DlJ ist es wiederum nicht gelungen, nur ein einziges<br />

stichhaltiges Argument beizubringen, aus dem entnommen werden kÄnnte, daÉ Der GeprÄfte<br />

nicht von Nietzsche selbst geschrieben und im Sinne seiner eigenen Intentionen ausformuliert<br />

worden wÇre. Warum der ElfjÇhrige nicht versuchen soll, einen eigene Intentionen<br />

bÅndelnden Text von einer ohnedies auf ihn orientierten Kinderclique auffÅhren zu<br />

lassen – die Schilderungen Elisabeths von 1895 und 1912 sind selbst dann, wenn man einige<br />

Abstriche vornimmt, wohl eindeutig genug (was der Autor wie so manches andere in<br />

diesen Biographien, was seine Argumentationen nicht zu stÅtzen vermag, leider nicht ernst<br />

genug nimmt oder berÅcksichtigt) –, bleibt unerfindlich.<br />

Das bedeutet: Bei einem von Nietzsche(s Hand) geschriebenen Text, zu dem keinerlei<br />

Beleg oder Aussage Dritter vorliegt, er kÄnne einen Co-Autor besitzen, ist solange von der<br />

Autorschaft Nietzsches auszugehen, bis ein entsprechend hochrangiges Gegenargument<br />

vorgestellt wird. Es genÅgt also nicht, Beweislasten (wie HÄdl seit 1993 vorgeht) umzukehren,<br />

wenn man mit einem Inhalt oder einer Interpretation in NaK, die man in der Sache<br />

kaum zu widerlegen vermag, nicht einverstanden ist. Da sich ohnedies kaum etwas ‘absolut<br />

beweisen’ lÇÉt, zÇhlt nur die QualitÇt der jeweils hypothetischen Argumente unterschiedlichen<br />

Wahrscheinlichkeitsgrades und Niveaus. Die Tatsache, daÉ belegt ist, daÉ<br />

Nietzsche das StÅck, das sogar als NietzschefamilienerhÄhungs- bzw. -erlÄsungsstÅck und<br />

214 Handelt es sich hierbei um einen mÄglicherweise erst kurz vor der Drucklegung ausformulierten<br />

und in das Skript eingefÅgten Text?<br />

128


damit wenigstens als VerhalbgÄttlichungsstÅck zu lesen ist, mit Wilhelm und seiner restlichen<br />

Kinderclique auffÅhren wollte, bedeutet fÅr die Frage gemeinsamer Autorschaft ohne<br />

qualifizierte Proargumente jedenfalls noch nichts. Das VerhÇltnis zu Die Gátter, die eine<br />

Umarbeitung oder WeiterfÅhrung ebenso wie ein Neuansatz sein konnten, von denen bis<br />

1990 inhaltlich aber lediglich eine briefliche Aussage von Nietzsches Mutter, 1856, Nietzsches<br />

Formulierung von 1858 und diejenigen Elisabeths von 1895 und 1912 bekannt waren<br />

– und seitdem m.W. bis auf einen Rollen ausweisenden und zuordnenden Einladungszettel<br />

und eine 1993 erstmals vom Vf. verÄffentlichte private Notiz von Nietzsches Mutter noch<br />

nichts weiteres von entscheidender Relevanz bekannt geworden ist –, bleibt also bis auf<br />

Weiteres ungeklÇrt; was aber keineswegs bedeutet, daÉ deshalb auch Der GeprÄfte als<br />

ebenfalls „im Verein mit Wilhelm“ geschrieben den Gáttern als eine inhaltlich so nahe<br />

Vorstufe zuzuordnen wÇre, daÉ auch fÅr Der GeprÄfte eine (bereits fÅr Die Gátter nicht<br />

gesicherte) Co-Autorschaft Wilhelms ohne hierfÅr spezifische Argumente plausibel gemacht<br />

oder gar belegt wÅrde. Im Gegensatz zu den in DlJ exponierten Argumenten hat<br />

sich gezeigt, daÉ die in NaK formulierten Annahmen, die der Autor so engagiert in Frage<br />

stellt, eher zu bescheiden formuliert waren, weil die SelbsterhÄhung- oder -erlÄsung, -verhalbgÄttlichung<br />

oder sogar -vergÄttlichung lediglich fÅr Sirenius-Nietzsche und nicht – um<br />

damals keine Schlammschlacht auszulÄsen – in vergleichbarer Deutlichkeit auch fÅr die<br />

drei weiteren im 5. Akt auftretenden Familienmitglieder samt seines Pastorenvaters behauptet<br />

wurde.<br />

Zu den DlJ-Punkten (1) bis (5) z. T. nur noch im Stenogramm:<br />

(1) nach der Quellenlage ist die in NaK und hier vertretene Deutung diejenige mit dem<br />

bei weitem hÄchsten PlausibilitÇts- und zumal Wahrscheinlichkeitsgrad, denn: Der GeprÄfte<br />

ist wie belegt derart stimmig und nietzschefamilienorientiert – aus Perspektive des ElfjÇhrigen<br />

– formuliert, daÉ eine inhaltliche Beteiligung oder Co-Autorenschaft des Freundes<br />

Wilhelm nur dann anzunehmen wÇre, wenn hierfÅr Åberzeugende Belege oder stichhaltige<br />

Argumente vorgelegt wÅrden; was unter Voraussetzung des vom Autor Herangezogenen<br />

jedenfalls nicht erfolgen konnte.<br />

Dennoch nochmals in einige Details! Als Beleg, daÉ des Autors Doppelautorenansatz<br />

auch fÅr Der GeprÄfte als argumentativ stichhaltig anzusehen ist, werden wiederum zwei<br />

Gesichtspunkte angefÅhrt: die Existenz eines nur aus Fritz und Wilhelm bestehenden Theaterkommitees<br />

und eine von Fritz 1858 behauptete gemeinsame Autorschaft von Die Gátter<br />

und Orcadal bzw. Orkadal. Doch was leistet jeder dieser beiden Gesichtspunkte bei genauerer<br />

Betrachtung?<br />

Ein gemeinsames Theaterkommitee belegt keineswegs gemeinsame Autorschaft, sondern<br />

schlieÉt deren MÄglichkeit lediglich nicht bereits vorweg aus. Das genÅgt aber nicht<br />

zugunsten einer Pro-Argumentation. Werden inhaltliche Argumente berÅcksichtigt (vgl.<br />

insbes. 3.4.4.4.5.), erscheint schon aus deren Perspektive die Annahme gemeinsamer Autorschaft<br />

als in hohem MaÉe unwahrscheinlich.<br />

VerstÇrkt wird die Annahme hochgradiger Unwahrscheinlichkeit der gemeinsamen Autorschaft<br />

von Der GeprÄfte behauptenden These nicht minder durch mangelnde BeweisqualitÇt<br />

seines zweiten Belegs, einer vom Autor vorausgesetzten gemeinsamen Autorschaft<br />

von Die Gátter und von Orcadal bzw. Orkadal. Fritz formuliert in seiner Autobiographie<br />

vom SpÇtsommer 1858 zwar, er habe „zwei kleine Schauspiele im Verein mit Wilhelm geschrieben“,<br />

doch von dem einen StÅck haben wir nichts auÉer einer „Einladung“; und vom<br />

zweiten nur einige Fragmente ausschlieÉlich aus Nietzsches Hand. Sehen wir uns beide<br />

Kurzkommentare an, so lÇÉt der erste weder zum Gang von Der GeprÄfte noch von Die<br />

Gátter Spezifisches erkennen; und der zweite Kurzkommentar ist keineswegs spezifischer,<br />

verweist zwar auf „Vorbereitungen“, die aber offenbar lediglich aus einer von Fritz komponierten<br />

OuvertÅre und einigen Fragmenten ebenfalls von Nietzsche bestanden zu haben<br />

scheinen, denn „da verfiel allmÇhlich der ganze Plan.“ Identifizierbar fÅr uns ist nur, daÉ<br />

129


auch im zweiten Fall ausschlieÉlich Fritz ‘vorgelegt’ hat, diesmal „eine rasende, vierhÇndige<br />

OuverÅre“ und einige noch erhaltene Fragmente (s.u.); von der Art der Beteiligung<br />

eines Co-Autors erfahren wir hier wie dort nicht das Geringste. AuÉerdem „verfiel allmÇhlich<br />

der ganze Plan“ (I 30 bzw. I 1, 309). Zufall? Lediglich der Plan fÅr Die Gátter verfiel<br />

offenbar nicht. Doch einerseits ist er, sollte Der GeprÄfte Vorstufe der Gátter sein, wie belegt<br />

hochgradig nietzschefamilienspezifisch, und andererseits ist der Autor in seinem experimentum<br />

dem StÅck nicht einmal annÇherungsweise gerecht geworden. DaÉ das sogar<br />

noch fÅr die Fragmente von Orcadal/Orkadal gelten kÄnnte, legt als Annahme der folgende<br />

Punkt (2) mit dem Effekt nahe, daÉ selbst noch Orcadal/Orkadal eher gegen als fÅr des<br />

Autors Hypothese spricht.<br />

(2) Von einer „Verwirrstrategie“ wurde in NaK gesprochen, weil die Differenz der ‘Tiefenstruktur’<br />

von Der GeprÄfte zu dem 1858, 1895 sowie 1912 zu Die Gátter wechselnden<br />

Titels von Nietzsche und seiner Schwester Formulierten so massiv erschien, daÉ Vf. schon<br />

vor einem Vierteljahrhundert fÅr ausgeschlossen hielt, Nietzsche kÄnne mit Wilhelm ein<br />

derart banales ‘Griechen’-StÅck (wie in der Autobiographie von 1858 skizziert) geschrieben<br />

haben. Dort ist nÇmlich lediglich zu lesen:<br />

„Auch habe ich zwei kleine Schauspiele im Verein mit Wilhelm geschrieben. Das eine von diesen<br />

heiÉt: Die GÄtter vom Olymp. Wir haben es einstmals aufgefÅhrt, aber obgleich es nicht<br />

recht gelang hat es uns doch groÉen SpaÉ bereitet. Die silbern und goldnen Panzer, Schilder und<br />

Helme, ebenso die prÇchtigen von Åberall her geholten AnzÅge der GÄttinnen spielten eine gro-<br />

Ée Rolle.“ (I 30 bzw. I 1, 309)<br />

Das war’s. Formulierungen zwar im Blick auf die Interessen der kleinen Schwester, die<br />

lebenslang aparte KostÅmierungen schÇtzte, doch in vÄlliger Ausklammerung jedweden relevanten<br />

Inhalts – deshalb „Verwirrstrategie“. Wie oberflÇchlich diese ‘Beschreibung’ ausfiel,<br />

macht auch ein Vergleich mit den nun bekannt gewordenen Rollen der Gátter deutlich,<br />

denn: Wie paÉt dieser Bekleidungsklimbim samt aufwendiger Klamottenbeschaffungspolitik<br />

auch nur zu Philosophen vom Range eines Thales oder Platon? So erscheint<br />

die Argumentation von NaK sogar noch gestÇrkt; und auch diese beiden Charakterisierungen<br />

bestÇtigen in vielleicht Åberraschender Weise auÉerdem noch die NaK-Hypothese familienadressatenorientierter<br />

Intentionen von Aus meinem Leben. Und: warum gelang das<br />

StÅck denn „nicht recht“? Nur weil lt. E.F.-N. die kleinen, wohlerzogenen GÄttinnen/Nymphen<br />

nach allzu eilig verspeister Ambrosia beim Singen Schluckauf bekamen?<br />

Oder auch, weil Fritz anderes intendiert hatte als zwei ihm damals noch unbekannte Philosophen<br />

auf die heimische BÅhne zu bringen? –<br />

äbrigens gilt das Problem der irrefÅhrenden OberflÇchlichkeit der Beschreibung sogar<br />

noch fÅr Orkadal/Orcadal (von 1856), denn selbst die auf den ersten Blick so harmlos<br />

wirkenden Fragmente dieses Schauspiels, die Nietzsche ebenfalls „im Verein mit Wilhelm“<br />

geschrieben hat (oder haben will) – auch hier haben wir nur Texte aus Nietzsches<br />

Hand –, sind ebenfalls nicht ganz so harmlos, wie anzunehmen die Beschreibung der Autobiographie<br />

von 1858 wieder einmal nahelegt:<br />

„ein Trauerspiel oder vielmehr, eine Ritter und Geistergeschichte, so ganz aus Banketten, Gefechten,<br />

Morden, Gespenstern und Wunderzeichen zusammengefÅgt. Wir hatten schon Vorbereitungen<br />

dazu gemacht, ich hatte eine rasende, vierhÇndige OuverÅre componirt, da verfiel allmÇhlich<br />

der ganze Plan.“ (I 30 bzw. I 1, 309).<br />

Oder ist es Åbergehenswert, daÉ der Christ Orcadal, der nach Jerusalem zu ziehen trachtet<br />

– „Die Lust danach unmÇs[s]ig ist.“ –, aus Freundschaft und Liebe zu dem Sarazenen<br />

Orius auf diese Unternehmung ebenso verzichtet wie der Muslim Orius auf die TÄtung des<br />

Christen Orkadal, der darum bittet: „Doch laÉt uns gute Freunde bleiben“ (I 372f. bzw. I 1,<br />

165f.)? Wird hier nicht – in Nietzsches Texten m.W. erstmals – Freundschaft und ReligionszugehÄrigkeit<br />

so in Bezug gebracht, daÉ Erstere sogar (wie in Der GeprÄfte olympische<br />

130


ReligiositÇt Åber die christliche) wenigstens kurzzeitig zu dominieren scheint? Ein groÉartiges<br />

Programm noch heute! (Bereitet Fritz oder ‘etwas in Fritz’ hier hellsichtig bereits zukÅnftige<br />

Konstellationen mit seinen beiden Freunden vor?)<br />

SchlieÉlich und vielleicht sogar: vor allem. Was leistet denn (in Wiederaufnahme von<br />

3.4.4.3.) des Autors fundamentum inconcussum, d.h. sein Kronzeuge fÅr Doppelautorschaft,<br />

Nietzsches Formulierung „habe ich zwei kleine Schauspiele im Verein mit Wilhelm<br />

geschrieben“, bei genauerem Besehen? Der Autor interpretiert seit 1993 die Formulierung<br />

„im Verein mit“ als sinnidentisch mit „gemeinsam“, gelangt deshalb zur Auffassung, daÉ<br />

diese beiden Schauspiele auch zwei – gleichberechtigte? – Autoren hÇtten, nÇmlich Fritz<br />

und Wilhelm; und er ÅbertrÇgt diese Sichtweise unberechtigterweise sogar noch auf Der<br />

GeprÄfte. Doch wie gesichert ist die Bedeutung von „im Verein mit“ als „gemeinsame Autorschaft“?<br />

Das kann durchaus so sein, doch – anders als der Autor das voraussetzt – es<br />

muÖ keineswegs so sein. Doch um als fundamentum inconcussum fungieren zu kÄnnen,<br />

dÅrfte eine gemeinsame Autorenschaft von Die Gátter von Fritz und Wilhelm nicht im geringsten<br />

zweifelhaft sein; pure MÄglichkeit und selbst hÄhere Wahrscheinlichkeit reichen<br />

nicht aus, um so weitreichende SchlÅsse zu legitimieren wie sie HÄdl seit 1993 zieht.<br />

Wenn der Autor von „Redlichkeit des Forschers“ spricht: bestÅnde nicht nur bei dieser<br />

Fragestellung AnlaÉ, sie in Selbstanwendung zu bringen? (Das gilt auch in BerÅcksichtigung<br />

der QualitÇt seiner Legitimationen editorischer Entscheidungen.) Deswegen: Wir haben<br />

von Nietzsches Mutter sich wechselseitig neutralisierende Aussagen; und Elisabeth<br />

war damals erst 9 1/2 Jahre alt, kann sich, wie ihre Schilderungen zeigen, an ihre eigenen<br />

Empfindungen offenbar noch gut erinnern, dÅrfte aber ‘Interna’ der Beziehung und des<br />

KrÇftespiels der beiden elfjÇhrigen Freunde Wilhelm und Fritz nicht gekannt haben. So<br />

bleiben als Texte primÇr diejenigen Nietzsches; und da sollten wir zu vorsichtig sein, MÄglichkeiten<br />

mit RealitÇten zu identifizieren. Der Bedeutungsspielraum der Formulierung „im<br />

Verein mit“ ist jedenfalls bei weitem grÄÉer als derjenige des Begriffs „gemeinsame Autorschaft“.<br />

Letzteres wÇre eine maximale DlJ-kongruente Deutung von „im Verein mit“;<br />

eine minimale hingegen liefe etwa auf „im Kontakt mit“ oder „in Absprache mit“ usw.<br />

hinaus. Etwas zwischen diesen beiden Extremen wird der DreizehnjÇhrige in seiner Formulierung<br />

gemeint haben. Doch was genau er mit „im Verein mit“ meinte, werden wir auch<br />

dann kaum rekonstruieren kÄnnen, wenn wir die einzige Parallelformulierung des Kindes<br />

heranziehen, an die ich mich erinnere. Im dritten Teil der Erstfassung von Alfonso etwa<br />

vom Jahresanfang 1857 lÇÉt Nietzsche rudernde Schiffer „Lieder aus den Mund des Volks<br />

gebÅrtig“ und dabei eine Art GlÅcksepistel singen:<br />

„Doch von allen wird nur der ganz glÅcklich gepriesen<br />

Welcher nachdem er das Leben in trauter Gemeinschaft mit Freunden<br />

Freudig beschlieÉt um fort von der Erde zu wallen<br />

Hin zu des HÄchsten Verein und wiedererkennend die Lieben<br />

Welche der Tod ihn [...] entrissen“ usw. (I 378f. bzw. I 1, 177f.)<br />

Die letzten 5 Verse des doppelt so umfangreichen Liedes – aus den Mund des Volks gebÅrtig“!<br />

– besingen im konventionellsten Ton der insgesamt 159 Verse des so brisanten<br />

Gedichts die dritte und hÄchste Stufe der GlÅckinterpretation (der damals offiziellen, versteht<br />

sich), der Alfonso jedoch ausdrÅcklich nicht zustimmt. Hier bedeutet, um abzukÅrzen,<br />

„Verein“ gewiÖ nicht Gleichberechtigung, denn der „HÄchste“ mag zwar ‘unter’ doch<br />

nicht ‘neben sich’ vereinen. So bleibt in „des HÄchsten Verein“ der HÄchste noch immer<br />

der HÄchste. (Auch Grimms Deutsches Wárterbuch hilft auÉer mit Hinweisen auf unspezifizierte<br />

Gemeinsamkeit leider nicht sonderlich weiter.) Auf das VerhÇltnis von Fritz mit<br />

Wilhelm Åbertragen mag man mit dieser Formulierung vieles zu belegen suchen, jedoch<br />

die fÅr die DlJ-Argumentation erforderte in jederlei Hinsicht unstrittige „gemeinsame Autorschaft“<br />

kaum so belegen kÄnnen wie dies erforderlich ist, um HÄdls PrÇmisse zu sichern.<br />

131


Weder vÄllig auszuschlieÉen noch ‘zu beweisen’ ist freilich die Vermutung, daÉ Fritz<br />

in seiner Autobiographie fÅr grÅndliche Leser durchaus signalisiert und fÅr sich selbst sogar<br />

festgehalten hat, daÉ er nicht nur alleiniger Verfasser vom Lustspiel Der GeprÄfte,<br />

sondern auch von dem nun Die Gátter vom Olymp genannten Lustspiel ist, das am<br />

8.2.1856 unter dem Titel Die Gátter auf den Olymp in GroÉmutter Pinders Wohnung am<br />

Naumburger Marktplatz aufgefÅhrt worden war. Zwar mag der neue Titel lediglich Folge<br />

des BemÅhens grammatischer Fehlerkorrektur sein – dann wÇre aber anstatt „auf den“ nur<br />

„auf dem“ und nicht „vom“ zu korrigieren richtig gewesen –, doch bei weitem realitÇtsnaher<br />

dÅrfte die folgende Hypothese sein: Fritz hat direkt vor der knappen PrÇsentation seiner<br />

beiden „im Verein mit Wilhelm“ geschriebenen dramatischen Versuche „ein VerzeichniÉ“<br />

seiner Gedichte mit 46 Titeln „folgen lassen“, die den Jahren 1855-1856, 1857 und 1858 (I<br />

27-29 bzw. I 1, 308f.) zugewiesen sind, vor der Auflistung der Gedichte von 1858 jedoch<br />

einen „Nachtrag“ mit den Gedichten Nr. 19 bis 23 aufgenommen, von denen die leider verschollene<br />

Nr. 22 den Titel Die Gátter vom Olymp trÇgt und mit „Seht GÄtter“ (I 29 bzw. I<br />

1, 308) beginnt. Hat Fritz solcherart signalisieren wollen, daÉ ebenso wie sein Gedicht Die<br />

Gátter vom Olymp auch dieses Lustspiel ‘sein’ eigener Text war bzw. daÉ das „im Verein<br />

mit Wilhelm geschrieben“ mit Vorsicht zu deuten oder eher im Sinne seines „Theatercomitè“<br />

von Der GeprÄfte (I 331 bzw. I 1, 109) zu lesen ist? Wir wissen nicht, ob es in der<br />

Kernfamilie Nietzsche 1856ff. oder unter den Freunden Diskussionen Åber die AuthentizitÇt<br />

von Nietzsches dramatischen Produktionen gab, denn die Divergenz der beiden Formulierungen<br />

von Nietzsches Mutter in einer Tagebuchnotiz und in einem Brief aus dem ersten<br />

Halbjahr 1856 kann mancherlei Ursachen haben. Sollte es jemals Diskussionen gegeben<br />

haben, kÄnnte noch Elisabeth FÄrster-Nietzsches 1895ff. erfolgtes Herausstreichen ihres<br />

Bruders als allseits respektierten AnfÅhrers einer graecophilen Kinderclique – ein Sachverhalt,<br />

der m.W. bei keiner Paraphrase von Elisabeths storys seitens Dritter jemals berÅcksichtigt<br />

wurde – verstÇndlicher werden.<br />

Alles in allem steht des Autors Alternative gegen die NaK-Auffassung von Nietzsche<br />

als alleinigen Autors von Der GeprÄfte also mÄglicherweise auf noch schwÇcheren Beinen<br />

als schon belegt. Da die bisherige Metakritik jedoch auch ohne dergleichen Reflexionen<br />

zwingend genug ist, hatte ich dieses Fragezeichen an einer der wohl basalsten PrÇmissen<br />

des Autors bisher wohl nur fÅr sorgfÇltigere Leser erschlieÉbar lÇngst angedeutet, nÇhere<br />

Thematisierung jedoch zurÅckgestellt.<br />

(3) DaÉ man „die ZusammenhÇnge [...] auch anders interpretieren kann als Schmidt es<br />

tut“ – das macht d.Vf. zwecks Gegenprobe oder äberprÅfung in der Regel vor jeder VerÄffentlichung<br />

mehrfach selbst –, ist eine Binsenweisheit. Fragt sich nur, was diese ‘andere<br />

Interpretation’ dann jeweils leistet. Sie kÄnnte zwar durchaus besser sein; doch das wÇre<br />

dann einerseits zu zeigen und nicht nur zu behaupten; und hÇtte sich andererseits in einer<br />

äberprÅfung bspw. durch den Vf. zu bewÇhren. DaÉ man das sogar „mit gutem Recht“<br />

oder gar „mit textlicher Evidenz“ tun kann, halte ich zwar ebenfalls nicht fÅr ausgeschlossen,<br />

doch das in DlJ zu den beiden experimenta crucis Gebotene erfÅllt nicht nur keine experimenta-crucis-Bedingungen,<br />

sondern ist trotz seines bei weitem wissenschaftlicher (als<br />

etwa in der Ortlepp-Miszelle) wirkenden Darstellungsgestus in der verhandelten Sache<br />

nicht einmal ansatzweise mit dem vor 20 Jahren Vorgelegten konkurrenzfÇhig, verzeichnet<br />

vielmehr Basales zwar geradezu fundamental, versucht aber immerhin, eine NaK mittlerweile<br />

angenÇherte Alternative (dazu 3.7.) zu prÇsentieren; freilich wiederum mit dem Effekt<br />

indirekter Aufwertung von NaK.<br />

(4) äber Kriterien der Gesichertheit gesicherter Ergebnisse der Nietzsche-Forschung<br />

mag man unterschiedlicher Auffassung sein, wenn man Åberhaupt auf ‘gesicherte Ergebnisse’<br />

der Nietzscheforschung setzt. Weder Nak noch dessen Verfasser beanspruchen im<br />

Sinne von DlJ, „sicher und vollstÇndig“ (S. 21) etwas rekonstruieren zu kÄnnen (oder gar<br />

rekonstruiert zu haben), da jedwede Interpretation per se hochgradig hypothetisch bleibt.<br />

132


Es genÅgt weiterhin, konkurrenzfÇhigere oder mÄglichst mit enormem Abstand ‘bessere’<br />

Hypothesen zu entwickeln als jede (einschlieÉlich aus DlJ) dem Vf. bisher bekannte. Dennoch<br />

lÇÉt sich auch dann Spreu von Weizen durchaus unterscheiden. Wichtiger erscheint,<br />

daÉ Zweite und auch Dritte nicht weiterhin meilenweit hinter mittlerweile lÇngst erreichte<br />

Niveaus – wie bspw. hinter dem hier vorgenommenen Aufweis zentraler Inhalte von Der<br />

GeprÄfte – zurÅckbleiben. – SchlieÉlich ist<br />

(5) der in NaK behauptete „religionskritische Impuls“ von Texten des Kindes Nietzsche,<br />

die bis in den Oktober 1858 einen Zeitraum von noch weiteren wenigstens 2 1/2 Jahren<br />

umfassen, nicht bereits bei einem so frÅhen Text wie dem aus dem Zeitraum zwischen<br />

Herbst 1855 (lt. Mette) und Jahresanfang 1856 (lt. HÄdl) stammenden Der GeprÄfte oder<br />

den Moses-Versen in der Klarheit spÇterer Texte aufweisbar. 1857 sieht es dann bereits<br />

deutlich anders aus.<br />

Von einem christentumskritischen Impuls unterschiedlicher IntensitÇt ist in altersangemessener<br />

Formulierung jedoch bei beiden Texten bereits wohlbegrÅndet zu sprechen: nur<br />

ansatzweise bei den Moses-Versen, in denen die unangemessen ‘harten’ Folgen eines in<br />

der AT-Schilderung Åberaus verstÇndlichen Zweifels festgehalten werden; in wenig Åberbietbarer<br />

Deutlichkeit jedoch in Der GeprÄfte, in dem immerhin der Front-, Seiten- oder<br />

Religionswechsel der aus vier Personen bestehenden Kernfamilie Nietzsches aus freier<br />

Entscheidung vermutlich zugunsten des Halbgottstatus der olympischen ReligiositÇt auf<br />

die BÅhne gebracht wurde; um anderes nicht ebenfalls nochmals zu erwÇhnen.<br />

SchlieÉlich: Warum Der GeprÄfte nur ein „Entwurf“ sein soll, ist unerfindlich. Es handelt<br />

sich hier um den mit Abstand ausgearbeitetsten Theatertext, Äber den wir aus der<br />

Hand des Kindes verfÄgen. DaÉ der Anfang verschwunden ist, sollte nicht dem Kind<br />

Nietzsche schlechtgeschrieben werden. „Entwurf“ impliziert bereits des Autors wieder<br />

einmal minimalisierende Deutung; setzt sie voraus – anstatt sie, wie so vieles andere auch,<br />

interpretativ stimmig zu belegen.<br />

So bleibt als derzeit mit wohl weitem Abstand plausibelste Hypothese:<br />

(1.) Fritz hat mit Der GeprÄfte sein Nietzschefamilienerháhungs- bzw. -erlásungsstÄck geschrieben;<br />

und er hat es (2.) sogar geschafft, seinen Freund Wilhelm zur Beteiligung an der<br />

AuffÅhrung dieses StÅcks zu gewinnen. (3.) Erst Wilhelms Vater hat Fritz dann beigebracht,<br />

daÉ sein StÅck in entscheidenden Passagen stark abgeÇndert werden mÅsse, wenn es vor<br />

GroÉmutter Pinder und weiteren nÇheren Verwandten der drei mÇnnlichen und drei weiblichen<br />

Akteure mit Erfolg aufgefÅhrt werden sollte, weshalb (4.) zeitnah ein zweites, abweichend<br />

konzipiertes (5.) ebenfalls ‘griechisch-heidnisches’ StÅck entstand.<br />

So hat wohl erst Wilhelms Vater entscheidend umstrukturiert oder weitreichende Modifikationen<br />

veranlasst. Und (6.) dem traurigen Fritz, der sich Anderes vorgestellt hatte, vielleicht<br />

sogar auf dessen Vorschlag in Anspielung auf Schillers Die Gátter Griechenlands oder sogar<br />

auf Die Gátter vom Olymp (I 29 bzw. I 1, 308), ein leider verschollenes Gedicht des Kindes,<br />

in einem (7.) Die Gátter auf den Olymp betitelten StÅck (8.) zur Kompensation groÉzÅgig<br />

schon im 1. Akt die Rolle des Menelaos samt erfolgreicher ParistÄtung, worauf es Fritz<br />

scheinbar ganz besonders ankam, angeboten?<br />

Damit haben wir einen ‘Markstein’ oder ‘SchlÅsseltext’ im Blick auf Nietzsches weitere<br />

Entwicklung gesichert, von dem Interpretationen auszugehen haben, wenn sie sich nicht selbst<br />

genetische Blindheit und perennierenden Dilettantismus attestieren wollen.<br />

Addendum: der Autor in Schriften der Schulzeit (1854-1864), 2000<br />

Soweit vielleicht gut, wenn sich der Autor nicht auch noch anderenorts in kaum weniger<br />

problematischer Weise zur Frage der Autorschaft von Der GeprÄfte und Die Gátter vom<br />

Olymp bzw. Die Gátter auf den Olymp geÇuÉert hÇtte.<br />

133


In seinem nach meinem Urteil groÉenteils dann gelungenen Beitrag Schriften der Schulzeit<br />

(1854-1864) 215 , wenn man davon absieht, daÉ der Autor fÅr eine in NaI I erstmals gegebene<br />

und in NaJ II wiederholte, fÅr die gegenwÇrtige Kontroverse basale Information als Quelle<br />

Klaus Gochs Band Franziska Nietzsche, 1994, angibt sowie daÉ er einen 1997 gehaltenen und<br />

2000 publizierten Vortrag des Vf.s groÉzÅgig Mirko Wischke als Verfasser Åbereignet 216 ,<br />

bleibt als zentrales Problem wieder einmal die Frage des wechselseitigen VerhÇltnisses und<br />

der Autorschaft von Der GeprÄfte und Die Gátter vom Olymp bzw. Die Gátter auf den<br />

Olymp. Der Autor:<br />

„Die dramatischen Versuche aus 1856 spielen in der griechischen GÄtterwelt. äber das VerhÇltnis<br />

der beiden EntwÅrfe Die Gátter vom Olymp und Der GeprÄfte lÇÉt sich auf Grund der Quellenlage<br />

keine vÄllige Klarheit erreichen. Nur von Letzterem ist ein Textfragment erhalten, Besetzungslisten<br />

(„Theaterzettel“) jedoch sind fÅr beide Åberliefert. N.s Autobiographie von 1858 (vgl. KGW I/1,<br />

309) legt, wie die Biographie von Elisabeth FÄrster-N. und eine Tagebucheintragung von Franziska<br />

N. (vgl. Goch, 1994, 207), die Annahme nahe, daÉ letzteres in ersterem aufgegangen ist oder von<br />

diesem ersetzt wurde. [...] Weiter ist der Entwurf eines TheaterstÅcks mit dem Titel Orcadal, das<br />

die Kreuzfahrerthematik (Sarazenen/Christen) behandelt, erhalten (vgl. KGW I/1, 233-38). Zu beachten<br />

ist, daÉ N. selbst in seiner Autobiographie von 1858 angibt, er hÇtte die StÅcke aus 1856<br />

(Der GeprÄfte resp. Die Gátter vom Olymp und Orcadal) ‘im Verein mit Wilhelm [Pinder] geschrieben’<br />

(KGW I/1, 309).“ (S. 68)<br />

Ein hanebÅchener Passus? In Voraussetzung des bisher AusgefÅhrten lassen sich in den wenigen<br />

Zeilen wenigstens folgende strittige Punkte unschwer fixieren:<br />

1. Woher weiÉ der Autor, der in diesem Zusammenhang sogar auf die Biographie von E.F.-N.<br />

[1895, d. Vf.] verweist, sie also kennt und die Hinweise auf Wilhelm Pinders Vater auf den<br />

nÇmlichen Seiten gefunden haben mÅÉte, daÉ „die dramatischen Versuche aus 1856 [...] in der<br />

griechischen GÄtterwelt“ spielen? Schon Orcadal tut dies dies belegtermaÉen nicht.<br />

2. Was bedeutet auÉerdem, daÉ die dramatischen „Versuche“ aus 1856 in der griechischen<br />

GÄtterwelt spielen? Weshalb ist das am 8.2.1856 aufgefÅhrte Lustspiel Die Gátter auf den<br />

Olymp, dessen Text unbekannt ist, lediglich ein Entwurf und ein Versuch?<br />

215 Hans Gerald HÄdl: Schriften der Schulzeit (1854-1864), in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-<br />

Handbuch, 2000, S. 67-73.<br />

216 Vgl. Hans Gerald HÄdl, Ebenda, S. 68 (fÅr Goch) und S. 73, rechte Spalte (fÅr Wischke). Auch<br />

ansonsten produziert die Kunst der Umwidmung von seitens des Vf.s lÇngst PrÇsentiertem zuweilen<br />

seltsame BlÅten. Besonders beeindruckend vielleicht in dem vom Autor am 16.8.2006 unterzeichneten<br />

Vorwort von KGW I 3, 2006, der unter III. gebotene Hinweis: „Die bislang noch nicht verÄffentlichten<br />

Gedichte 14 [58] und 14 [59] liegen uns nicht in der Handschrift Nietzsches, sondern nur in einer vom<br />

Nietzsche-Archiv gefertigten Abschrift von Nietzsches portenser Kommilitonen Guido Meyer vor<br />

(GSA 71/373a)“ (p. VI). Leider ist dieser Text streng genommen wenigstens fÅnffach falsch: 1.<br />

stimmt nicht die Angabe bezÅglich der Nr. 14 [58], denn sie mÅÉte 14 [38] lauten (vgl. I 3, 82); 2.<br />

stimmt nicht die Angabe bezÅglich der Nr. 14 [59], denn sie mÅÉte 14 [39] lauten (vgl. I 3, 84); 3.<br />

stimmt nicht, daÉ das Gedicht 14 [38] noch nicht verÄffentlicht worden ist, denn es ist seit dem<br />

23.5.1994 in des Verfassers NaJ 2, 1994, S. 319f., zu finden; schlieÉlich stimmt auch 4. – wie kaum<br />

mehr anders zu erwarten – nicht, daÉ das Gedicht 14 [39] noch nicht verÄffentlicht worden ist, denn es<br />

ist ebenfalls seit dem 23.5.1994 in des Verfassers NaJ 2, S. 316, zu finden; auÉerdem liegt 5. jeder<br />

dieser beiden Texte in einer Karl-Heinz Hahn, einem frÅheren Direktor des GSA, geschenkten Abschrift<br />

eines Nachfahren von Guido Meyer vor; eine Information, die ebenfalls in NaJ II, S. 316, zu<br />

finden ist. Guido Meyer war ein mit Nietzsche vor allem 1862f. befreundeter Klassenkamerad, der<br />

jedoch beim äberklettern der Schulmauer erwischt und sofort „geschasst“ bzw. von der Schule verwiesen<br />

wurde, dessen ‘Hinauswurf’ gerade Nietzsche sehr bedauerte (vgl. NaJ II, S. 300). WÇre allzu<br />

systemsprengend oder demÅtigend gewesen, Nietzsche absconditus bereits auf der zweiten Seite des<br />

Vorworts eines vom Autor unterzeichneten Bandes der mit hÄchstem Anspruch vorgelegten neuen<br />

Nietzscheedition zu zitieren?<br />

134


3. Warum verwendet der Autor auÉerdem einen Plural („die“ dramatischen Versuche usw.)?<br />

Zwar kÄnnen wir vermuten, daÉ das Lustspiel Die Gátter auf den Olymp in den ersten Wochen<br />

des Jahres 1856 geschrieben wurde, doch einerseits wissen wir nicht einmal das genau;<br />

und andererseits wissen wir von keinem weiteren ‘griechischen’ dramatischen Versuch aus<br />

dem Jahre 1856.<br />

4. Der Autor erweckt den Eindruck, als ob das Lustspiel Der GeprÄfte ebenfalls 1856 geschrieben<br />

worden ist. Was sind seine GrÅnde? Mette datierte auf die Zeit vor Ende September<br />

1855.<br />

5. AuÉerdem: weshalb ist selbst noch Der GeprÄfte ein Entwurf und ein Versuch?<br />

6. Legt eine Formulierung wie „Nur von Letzterem [d.i. Der GeprÄfte, d. Vf.] ist ein Textfragment<br />

erhalten“ nicht den irrefÅhrenden Eindruck nahe, als ob wir von diesem StÅck nur<br />

irgendein grÄÉeres Fragment und nicht einen in sich abgeschlossenen Text von knapp 90%<br />

des Gesamtumfangs besitzen? SchlieÉlich haben wir von diesem Lustspiel in 6 Akten fÅnf<br />

vollstÇndige Akte sowie eine SchluÉszene und vom 1. Akt noch so viel an Text, daÉ wir den<br />

wesentlichen Inhalt auch des verloren gegangenen Hauptteils dieses Aktes dank einer Besetzungsliste<br />

des 1. Aktes annÇhernd zu rekonstruieren vermÄgen.<br />

7. Wurde die Aufmerksamkeit des Lesers nicht von dem recht spezifischen Inhalt von Der<br />

GeprÄfte, um dessen Deutung es in NaK, 1991, ebenso wie in der Kontroverse von 1993 ging,<br />

recht geschickt auf Die Gátter und damit auf ein StÅck abgelenkt, dessen Inhalt nahezu unbekannt<br />

ist?<br />

8. Inwiefern legt „N.s Autobiographie von 1858 [...] wie die Biographie von Elisabeth FÄrster-N.<br />

und eine Tagebucheintragung von Franziska N. (vgl. Goch, 1994, 207), die Annahme<br />

nahe, daÉ letzteres [Der GeprÄfte, d. Vf.] in ersterem [Die Gátter vom Olymp, f. Vf.] aufgegangen<br />

ist oder von diesem ersetzt wurde“? SchlieÉlich ist Der GeprÄfte weder von Nietzsche<br />

selbst noch von Nietzsches Mutter noch von Nietzsches Schwester jemals auf fÅr uns zugÇngliche<br />

Weise auch nur erwÇhnt worden. Zwar ist dem Autor zuzustimmen, wenn er formuliert,<br />

daÉ Åber „das VerhÇltnis“ der beiden StÅcke sich „auf Grund der Quellenlage keine vÄllige<br />

Klarheit erreichen“ lÇÉt, doch die Betonung muÉ hier auf „vÄllige“ liegen, denn ein grÅndlich(er)es<br />

Bedenken der Rollen der Gátter und der Rollen sowie des Inhalts von Der GeprÄfte<br />

lÇÉt Åber „das VerhÇltnis“ dieser beiden Lustspiele mit immerhin hinreichender Klarheit erkennen,<br />

daÉ Der GeprÄfte in Die Gátter auf den Olymp – wir kennen nur das Datum einer<br />

AuffÅhrung eines Lustspiels dieses Titels – auf keinen Fall „aufgegangen“, sondern allenfalls<br />

durch Die Gátter „ersetzt“ worden sein kann. SchlieÉlich sind die rekonstruierbaren Unterschiede<br />

wie belegt bei weitem gewichtiger als die Gemeinsamkeiten.<br />

9. Zuguterletzt: Wie ist die Passage „Zu beachten ist, daÉ N. selbst in seiner Autobiographie<br />

von 1858 angibt, er hÇtte die StÅcke aus 1856 (Der GeprÄfte resp. Die Gátter vom Olymp und<br />

Orcadal) ‘im Verein mit Wilhelm [Pinder] geschrieben’„ zu beurteilen? In BerÅcksichtigung<br />

von „1856“ fÅr beide StÅcke und „resp.“ als doppelte Argumenterschleichung?<br />

Wieviele in dem obigen Zitat Hans Gerald HÄdls hÄchst strittige Interpretationen wurden als unstrittige<br />

Sachaussagen des Autors offeriert? Wie ist dieses Ensemble strittiger Punkte im Lichte des<br />

in 3.4.4. Diskutierten zu beurteilen? Als seriÄse Sachinformationen, geboten in einem hochrangigen<br />

„Nietzsche-Handbuch“? Als erstaunlich dichtes Ensemble keineswegs unproblematischer jedoch<br />

als neutrale Informationen kaschierter Interpretationen? Als apologetischer Genie-, genauer<br />

wohl: Gewaltstreich, der noch Åber Jahrzehnte Leser in die – erwÅnschte? – Irre zu fÅhren vermag?<br />

Oder?<br />

Mein permanentes ceterum censeo: Wir haben von Nietzsche Texte, die wir grÅndlichst lesen,<br />

bedenken und in BerÅcksichtigung von Nietzsches jeweiligen eigenen Kompetenzen nach<br />

bestem Wissen und Gewissen sowie ggf. nach soliden, breit angesetzten Recherchen, fair,<br />

gegenprobenorientiert und mÄglichst ergebnisoffen interpretieren sollten. Was einschlieÉt,<br />

daÉ man sich wie d. Vf. veranlaÉt sieht, auch eine so prinzipielle und detaillierte Kritik wie in<br />

DlJ an einer Interpretation (wie bspw. in NaK) dann selbst einer Metakritik zu unterziehen,<br />

135


wenn man leider von niemandem weiÉ, der oder die das, kompatibel mit dem eigenen Ansatz,<br />

in vergleichbarer Weise zu unternehmen bereit oder fÇhig ist; solange man sich nicht in der<br />

Lage sieht, bisher geÇuÉerte FalsifikationsbemÅhungen als auch nur bedingt problemangemessen<br />

anerkennen zu kÄnnen. Das genÅgt; elementares antikekundiges sowie methodologisches<br />

Wissen des Interpreten und ergebnisoffenes Erkenntnisinteresse freilich vorausgesetzt.<br />

136


3.5. Argumentations- und BeweisgangsÄberprÄfungen 3: DlJ-Kritik „grundlegender<br />

Interpretationsprinzipien“ von Nak, einige allgemeinere Perspektiven des Autors sowie<br />

von dessen Fazit<br />

Doch noch immer steht vielleicht sogar Entscheidendes aus. SchlieÉlich ist noch keineswegs<br />

auszuschlieÉen, daÉ des Autors Versuch in der ersten HÇlfte seines Unternehmens (S. 68-<br />

105), den Anspruch interpretativer QualitÇt von NaK dadurch zu unterminieren bzw. den von<br />

DlJ entsprechend zu erhÄhen, daÉ er nach einer Reihe von VorÅberlegungen, Weichenstellungen<br />

usw. (S. 68-79) vorsichtshalber nicht nur einen frei ausgewÇhlten Text, sondern sogar<br />

deren zweie als besonders zentral von ihm eingeschÇtzte Texte des Kindes Nietzsche (die Moses-Verse<br />

und Der GeprÄfte) fÅr seine experimenta crucis wÇhlte, um die Treffsicherheit seiner<br />

Kritik an deren Interpretation in NaK zu belegen (S. 79-105), zwar beidemale z.T. beeindruckend<br />

Schiffbruch mit dem Vf. als erstauntem Zuschauer erlitt, daÉ er jedoch in der<br />

verbleibenden knapperen HÇlfte (S. 105-130) samt Zusammenfassung (S. 130f.) mit einigen<br />

wohlÅberlegten EinwÇnden vielleicht doch noch wenigstens einen sogar so konsequenzenreichen<br />

argumentativen ‘Treffer’ zu erzielen vermochte, daÉ sein kritisches Unternehmen wenigstens<br />

eine verspÇtete Legitimation erfÇhrt.<br />

Da nach bisherigen Erfahrungen davon auszugehen ist, daÉ (wenn nicht weit mehr, so doch<br />

wenigstens) genau das von an der StÇrkung (s)einer christophilen bzw. prochristlichen Position<br />

Interessierten auch kÅnftig behauptet werden wird, wende ich mich nach einigen Bemerkungen<br />

zu einer Åberraschenden, wenngleich spezifischen basalen argumentativen Leerstelle<br />

sowie zur vom Autor ins Spiel gebrachten Trostfunktion von Religion (hier in 2.5.1.) noch<br />

den beiden als zentral behaupteten methodologischen EinwÇnden des Autors gegen zwei meiner<br />

‘hermeneutischen SchlÅsselbegriffe’ (S. 123) in wiederum metakritischer (d.h. sie insbes.<br />

auf PrÇmissenfehler abklopfender) Weise zu, die er in „Kontrasttechnik als literarische Strategie<br />

des Knaben? Anmerkungen zu Schmidts Kontrastierung literarischer DoppelbÄdigkeit in<br />

den Juvenilia Nietzsches“ (S. 105-130) exponiert und wiederum in einigen z.T. peniblen Interpretationen<br />

zu bewÇhren gesucht hat. Einen innerhalb dieses Teilkapitels vom Autor ebenfalls<br />

behandelten (S. 112ff.) und nach meinem Eindruck in MotivationszusammenhÇnge seiner<br />

Kritik Einblick erlaubenden Problemkomplex klammere ich noch aus, um ihn, seiner Bedeutung<br />

gemÇÉ, erst in 3.6. zu thematisieren. So verbleiben fÅr unsere Analyse in 3.5. nach<br />

den erwÇhnten prÇmissenorientierten Bemerkungen (hier nun in 3.5.1.) vor allem die als methodologisch<br />

relevant angesetzten Problemkomplexe einer Problematisierung der interpretativen<br />

Korrektheit der in Nak als „Kontrasttechnik“ behaupteten literarischen Strategie des Kindes<br />

(hier in 3.5.2.) und des in NaK fÅr die ErklÇrung der Eigenart bestimmter Texte des Kindes<br />

behaupteten Adressatenbezugs dieser Texte (hier in in 3.5.3.). Den AbschluÉ der Argumentations-<br />

und BeweisgangsÅberprÅfungen bildet die Auseinandersetzung mit einem direkt<br />

vor der Zusammenfassung (in 3.5.5.) wirkungsvoll platzierten Totschlagargument eines in<br />

NaK vom Autor aufgewiesenen wenig hermeneutischen, basalen Zirkels (hier in 3.5.4.).<br />

Nachdem jedoch die Metakritik nicht nur der beiden in DlJ als experimenta crucis ausgesuchten<br />

Texte bis in wohl jedes prÇmissenrelevante Detail durchgefÅhrt und damit in jedem<br />

der bisher vom Autor ins Spiel gebrachten Themenfelder einem offenbar geschworenen Feind<br />

eigener mÄglichst kritischer Gegenproben – warum das so sein kÄnnte, sucht 3.6.4. zu verstehen<br />

– vielleicht nochmals gezeigt werden konnte, wie einfach recherchenbasierte, gegenprobenorientierte<br />

kritische Analysen ambitioniert vorgetragene AnsprÅche und auch hochrangig<br />

erscheinende Argumentationen zu destruieren vermÄgen – leider u.a. um den Preis, daÉ der<br />

Umfang dieser Metakritik den fÅr den gesamten Text Angesetzten schon an dieser Stelle um<br />

ein Mehrfaches Åbertrifft –, bittet Vf. um VerstÇndnis, daÉ seine Metakritik sich nur noch auf<br />

das Wesentlichste der in DlJ vorgelegten restlichen Kritik beschrÇnkt; weshalb die jeweiligen<br />

vom Autor entwickelten Kritikpunkte als weiteres Problemseparatum eher aus einer Vogelschau<br />

skizziert und auf EinwÇnde HÄdls nur noch insofern eingegangen ist, als wiederum de-<br />

137


en Voraussetzungen so weitgehend problematisiert werden, daÉ den betreffenden EinwÇnden<br />

(so Åberzeugend sie zumal dann, wenn man sie isoliert, fÅr weniger Textkompetente auch<br />

klingen mÄgen) keinerlei falsifizierender Effekt mehr zuzubilligen ist. Der Autor dÅrfte das<br />

verstÇndlicherweise anders sehen, da er eine beeindruckende FÅlle von Skizzen, Hinweisen,<br />

Diagnosen prÇsentiert, wobei er sich nach meinem Eindruck allzusehr in Details ‘verfitzt’,<br />

deren Kenntnisnahme fÅr weniger eingearbeitete Nietzscheinterpreten freilich aufschluÉ- und<br />

z.T. auch hilfreich ist; deren Diskussion in einer Metakritik jedoch den Umfang nochmals<br />

explodieren lieÉe, weil bspw. selbst auf manche 4-Zeilen-Bemerkung nur bei weitem ausfÅhrlicher<br />

geantwortet werden kann – es sei bspw. an die Diskussion einer eine editorische Entscheidung<br />

legitimierenden Bemerkung des Autors erinnert (in 3.4.4.2.) –, und weil auf den<br />

Seiten 105-123 kein einzelner Text mehr so im Vordergrund steht, daÉ dessen DlJ-<br />

Interpretation in vergleichbarer Weise wie bei Der GeprÄfte strukturiert ÅberprÅft werden<br />

kÄnnte. Des Autors direkt vor der Zusammenfassung exponierte, wohl als besonders hochrangig<br />

eingeschÇtzte Argumentationen der Seiten 123-131 hingegen stehen dann jedoch wieder<br />

im Fokus der Metakritik (in 3.5.3. & 3.5.4.).<br />

SchlieÉlich kommt noch hinzu, daÉ die äberlegungen und AusfÅhrungen der Seiten 105-<br />

123 nach meinem Eindruck nicht tiefenschÇrfer als zuvor ausgefallen sind, was nicht zuletzt<br />

daran liegt, daÉ der Autor die Interpretation jÅngerer graecophiler ‘Griechentexte’ wie bspw.<br />

von ‘Griechengedichten’ zumal von 1856f. sowie VergÜnglichkeit des GlÄcks (I 347-349 bzw.<br />

I 1, 126-129) DlJ-ansatzkongruent Åbergehen konnte. Eine derartige Entscheidung hat Åbrigens<br />

apologetische Arrangements stÅtzende Effekte, weil damit die wesentlichste und umfangreichste<br />

Textgruppe des Jahres 1856 der BerÅcksichtigung entzogen werden konnte, von<br />

der mit bes. guten GrÅnden anzunehmen ist, daÉ es sich bei ihr um ‘echte Privattexte’ des<br />

Kindes handelt, d.h. um Texte, die weder Geschenk- noch Schultexte waren, deren Bilder,<br />

Sprachmaterial usw. deshalb bevorzugt heranzuziehen wÇre, wenn Åber die Berechtigung einer<br />

Unterscheidung zwischen privateren und mehr oder weniger familienbezogenen Texten –<br />

mit offenen Grenzen zu direkten Geschenktexten – unterschieden werden soll.<br />

Bei der vom Autor S. 105-123 jedoch vorgestellten und auszugsweise berÅcksichtigten<br />

Textgruppe bzw. ‘Restmenge’ verschwimmen z.T. Grenzen zu Kirchenliedfragmenten usw.,<br />

ein Effekt, den dieser Autor – sollte er ihn nicht eigens angestrebt oder mit seinem GesprÇchspartner<br />

ausgetÅftelt haben – interpretativ durchaus zu nutzen weiÉ. Insofern wieder<br />

einmal des Vf.s Respekt fÅr’s bedachte Arrangement. Doch trotz groÉenteils akzeptabler, z.T.<br />

sogar respektabler und als beeindruckend kenntnisreich anerkennenswerter Argumentation<br />

(bspw. S. 106ff., insbes. Anm. 274) und Demonstration breiten, Rahmenbedingungen aufarbeitenden<br />

Wissens, weisen des Autors weitere spezifische NaK-kritische AusfÅhrungen, um<br />

die es ja nun geht, neben konsequenzenreichen SchwÇchen erstaunlicherweise gerade dort<br />

eine riesige Leerstelle bzw. VersÇumnisse auf, wo es darum gegangen wÇre, im Themenfeld<br />

der von HÄdl so betont hervorgehobenen Rahmenbedingungen vorrangig religiás Nietzscherelevantes<br />

eigens zu exponieren und zu thematisieren. Dazu nun genauer in 3.5.1.<br />

3.5.1. Problemanzeigen 1 & 2: zur Trostfunktion von Religion und Vergleichbarem sowie zu<br />

einer spezifischen argumentativen Leerstelle in DlJ<br />

Der Religionswissenschaftler bringt die von ihm offenbar als zentral eingeschÇtzte Frage<br />

der Trost- und Schutzfunktion von Religion – jenseits der ‘Wahrheit’ ihrer Inhalte; als ob in<br />

einer Interpretation von äberlegungen usw. gerade des frÅhsten Nietzsche die Frage zu Åbergehen<br />

wÇre, wie sinnvoll Trost- oder Schutzfunktion von Religion abgekoppelt von seitens<br />

der betreffenden Religion erhobenen WahrheitsansprÅchen zu sein vermÄgen ... – ins Spiel<br />

und referiert dazu zwar Sichtweisen renommierter Autoren wie Talcott Parsons, Clifford<br />

Geertz u.a. (vgl. DlJ, S. 124f.), doch einerseits schien er nicht nur vorweg davon auszugehen,<br />

daÉ<br />

138


(a) diese Trost- und Schutzfunktion in jedem einzelnen Fall (und folglich auch in demjenigen<br />

des Kindes Nietzsche) ‘greifen’ kánnte, sondern auch davon, daÉ<br />

(b) sie tatsÇchlich wenigstens bis zu Nietzsches Aufnahme in Pforta am 5.10.1858 kurz vor<br />

dem Ende seiner Kindheit auch durchgÜngig und in allen relevanten Perspektiven ‘griff’.<br />

Eine angesichts von Nietzsches frÅhsten Texten wohl solange unbelegte Auffassung, solange<br />

nicht zu deren StÅtzung stichhaltig argumentiert wird, was in DlJ m.E. jedoch nirgendwo<br />

geschah; schlicht vorausgesetzt werden kann zumal (b) jedenfalls nicht.<br />

AuÉerdem blieb vielleicht charakteristischerweise unberÅcksichtigt, daÉ<br />

(c) GetrÄstetwerdenkÄnnen nicht zuletzt informations-, intelligenz- und zumal charakterabhÇngig<br />

ist, weshalb Personen, je ungebildeter, naiver, extravertierter, physisch oder psychisch<br />

abhÇngiger usw. sie sind, umso leichter ‘zu trÄsten’ sind. Deshalb wÇre zu klÇren<br />

gewesen, wie lange das Kind Nietzsche so naiv oder emotional abhÇngig blieb, durch familiÇr<br />

Angebotenes zwecks Verarbeitung der (ja auch in seinen Texten belegten) RÄckener<br />

Inkonsistenzerfahrungen 217 und angesichts des gerade in diesem Zusammenhang erfolgten<br />

UnglaubwÅrdig(er)werdens von religiÄsen Aussagen sÇmtlicher erwachsener Familienmitglieder<br />

(und damit auch dieser selbst) seitens dieser Familienmitglieder oder von Personen<br />

aus deren in der Regel pastoralen Bekanntenkreis noch getrÄstet werden zu kánnen. Eine<br />

zweifelsohne heikle Materie. Dazu paÉt leider sehr gut, daÉ unverstÇndlicherweise ausgerechnet<br />

(d) diejenigen speziellen Formen protestantischen Christentums, denen das Kind Nietzsche<br />

schon in RÄcken und Pobles konfrontiert war – verblassend rationalistische (wie bei GroÉmutter<br />

Erdmuthe), pietistische (wie mit Abstrichen vielleicht bei GroÉvater Oehler), vorrangig<br />

fÅr die Erweckungsbewegung charakteristische (bei Tante Rosalie und wohl auch<br />

bei Tante Auguste, abgeschwÇcht bei Nietzsches Vater und auch Nietzsches Mutter, in intellektuell<br />

anspruchsvoller und geistig wohl sehr offener (wenn nicht aus ganz anderen<br />

GrÅnden demonstrierter) Form spÇter in Naumburg dann beim Vater des Freundes Wilhelm<br />

u.a.) und betont weltlich (wie lt. Nietzsches Vater bei dessen Schwiegermutter Wilhelmine<br />

Oehler) –, und deren in NaK vorausgesetzte EigentÅmlichkeiten darÅber mitentschieden,<br />

inwiefern religiÄse Trostfunktion das Kind intellektuell auch zu erreichen (geschweige<br />

denn: zu Åberzeugen) vermochte, fÅr den Religionswissenschaft Lehrenden irrelevant<br />

und deshalb ebenso Åbergehenswert gewesen zu sein scheinen wie<br />

(e) eine BerÅcksichtigung der Frage, ob er dem Kind, das schon als ElfjÇhriger in Der GeprÄfte<br />

u.a. ja auch ein Dokument seines intellektuellen Niveaus vorlegte, auch weiterhin zutraut<br />

(oder zumutet), sich mit Formen tradierter und sozial positiv prÇmierter ggf. infantiler<br />

Regression noch zufrieden zu stellen bzw. stellen zu lassen.<br />

So bestÇtigt sich wieder einmal die Relevanz angemessener Deutung von Der GeprÄfte als<br />

frÅhen SchlÅsseltextes Nietzsches. WÇre dieser Text in DlJ angemessener interpretiert und<br />

wÇren die mit (b)-(e) angesprochenen Probleme in DlJ nicht UnberÅcksichtigte geblieben,<br />

hÇtte der Autor erheblich grÄÉere Schwierigkeiten gehabt, bspw. seine in diesem Fall anerkennenswert<br />

differenzierte Kritik an der NaK-Sichtweise einiger Gedichte zum 2.2.1856 (S.<br />

112ff.) oder seine Ablehnung der NaK-Auffassung von Nietzsches Autobiographie (S. 123ff.)<br />

so wie erfolgt zu exponieren. Nietzsche ‘zitiert’ in einem Teil dieser Texte nÇmlich dann,<br />

wenn er zuerst die Allmacht und zumal die Allverantwortlichkeit Gottes betont – in meiner<br />

Sprache: als religiÄse PrÇmisse ausdrÅcklich festklopft –, genau die in seiner Familie ge-<br />

217<br />

äber Monate wenigstens offiziell aufrecht erhaltener Glaube der Familie an den Gebetserfolg bzw.<br />

Heilung Ludwig Nietzsches durch den Allverantwortlichen; abrupter Sprach- und offenbar auch apologetische<br />

Argumentationswechsel jedoch nach dessen Tod („da nahte der Tag der ErlÄsung“; I 5 bzw.<br />

I 1, 285).<br />

139


Çuchliche Pastoren(haus)sprache 218 , die fÅr Erweckte damals charakteristisch war. Kurzformel:<br />

„Deutung jedes [einzelnen] Schicksalsdetails als [Ergebnis] besonderer gÄttlicher FÅgung<br />

[und FÅhrung]“ 219 . Bei einer derartigen religiÄsen Konzeption werden Theodizeeprobleme<br />

auch dann in nur vermeintlich – „jedes Schicksalsdetails“! – religionsferneren ZusammenhÇngen<br />

(wie bspw. bei Seeabenteuern, äberfÇllen usw.) schnell virulent, wenn das ein in<br />

katholischen Enklaven Beheimateter entweder nicht sonderlich ernst nimmt oder aber in ihrer<br />

Brisanz nicht so recht erkennt, da dieser lÇngst damit zu leben gelernt hat, daÉ im meistenteils<br />

trotz aller vatikanischen gegenlÇufigen zeitgenÄssischen BemÅhungen erfreulich<br />

fundamentalismenfernen und folklorenahen mitteleuropÇischen Normalkatholizismus<br />

Differenzen und Inkonsistenzen hÇufig wohlwollend genug ausgebÅgelt werden, Hauptsache,<br />

die Machtfrage wird nicht gestellt (und VermÄgensfragen werden ebenfalls nicht berÅhrt);<br />

wÇhrend bei primÇr bibellektÅreorientierter Christlichkeit Inkonsistenzen und resultierende<br />

kognitive Dissonanzen durchaus Sprengkraft zu entwickeln vermÄgen, solange<br />

GlaubensbedÅrfnisse konsequente ErkenntnisbemÅhungen nicht strangulieren oder<br />

religionskonform domestizieren bzw. regulieren.<br />

So nimmt der Eine entsprechende Arrangements in Nietzsches frÅhen Texten dann auch<br />

nicht sonderlich ernst, Åbersieht sie oder ‘normalisiert’ sie per Interpretation mit freilich jeweils<br />

geradezu bewettbarem – und insofern vielleicht dann doch verrÇterischem – Effekt;<br />

wÇhrend ein Anderer wie bspw. der evangelische Pastor Reiner Bohley, damals sicherlich<br />

weltweit der beste Kenner der engeren religiÄsen und sozialen Rahmenbedingungen des Kindes<br />

Nietzsche, schon in den spÇteren 1980er Jahren meine entsprechenden Argumentationen<br />

anfangs als stichhaltig einschÇtzte (und seinen Selbstschutzmechanismen wie erinnerlich erst<br />

sehr viel spÇter nachgab); und ein Dritter wie bspw. der Verfasser...<br />

Und so stÄÉt der Leser nun schon wieder auf dasjenige Problem, das bereits (in 3.3.2.2.ff.<br />

und auch ansonsten) mehrfach angesprochen worden war – und leider nicht oft genug angesprochen<br />

werden kann; und nun in sogar noch verschÇrfter Version: auf die Frage nach dem<br />

Grad der intellektuellen EigenstÇndigkeit des Kindes Nietzsche und der RigorositÇt seines<br />

ErkenntnisbemÅhens bzw. Erkennenwollens. Und genau an diesem Punkt gibt es wohl kaum<br />

eine Vermittlung: Der Autor von DlJ interpretiert das Kind Nietzsche und dessen Texte, gestÅtzt<br />

auf (und wohl auch beeinfluÉt durch) zahlreiche primÇr adressatenorientierte Texte des<br />

Kindes und Jugendlichen (bspw. in dessen bittengeschwÇngerten Briefen aus Schulpforta)<br />

konsequent aus einer unerklÇrten ‘Normalkind’-Perspektive, die selbst im Falle einiger frÅhster<br />

Texte dieses Kindes bereits irritierend deplatziert wirkt. FÅr den Autor darf zumindest<br />

dieses Kind einfach nicht gemerkt haben, was es eigenhÇndig in mehrfacher Abwandlung<br />

geschrieben hat. Anderenfalls kÄnnte er nicht aus der Sammlung zum 2.2.1856 bspw. die 3<br />

Varianten von SeekatastrophenfÇllen so prÇsentieren, wie er es getan hat. Bezeichnend vielleicht,<br />

daÉ der so Kontextorientierte bspw. vermeidet, die lt. NaK augenÄffnenden Kontrastverse<br />

des Gewittergedichts N. 8. ernstzunehmen und als experimentum crucis in BerÅcksichtigung<br />

des familiÇren Kontexts zu analysieren. Wer trotz NaK-Kommentierung wie der Autor<br />

von DlJ dennoch bspw. Aussagen wie „nur der“ weiterhin Åbergeht und selbst massivste Kontrastarrangements,<br />

die kaum noch dichter erfolgen kÄnnten, nicht ernstnimmt oder wer glaubt,<br />

ihre Relevanz mit dem Nachweis Åbergehen zu kÄnnen, daÉ das Kind Nietzsche schlieÉlich<br />

auch anderenorts als in ReligiÄses exponierenden Gedichten mit Kontrasten als stilistischem<br />

Mittel operiert – anstatt sich dann auch in einem zweiten Schritt zu fragen, worauf derlei ungewÄhnliches<br />

Verhalten denn eine Antwort sein kÄnnte –, demonstriert nach meinem Empfinden<br />

dann, wenn es um die Interpretation eines frÅhen Nietzschetextes geht, systematisch<br />

218<br />

Diese war fÅr NaK noch nicht zu belegen, sondern lediglich zu vermuten; vgl. dazu nun jedoch<br />

Ursula Schmidt-Losch, „ein verfehltes Leben“?, 2001, S. 105-120; und, in spe dann in extenso, Hermann<br />

Josef Schmidt, Nietzsches frÄhe Kindheit (Arbeitstitel).<br />

219<br />

Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. MÅnchen (1983) 6 1993, S. 424.<br />

140


Kannitverstan 220 – und vielleicht auch einen Hauch Willnitverstan? – bevorzugt bei ganz bestimmten<br />

ThemenzusammenhÇngen; auÉerdem dominierten – nochmals: nur bei ganz bestimmten<br />

ThemenzusammenhÇngen – Abwehrmechanismen unterschiedlichen Niveaus. Dabei<br />

verfÅgt gerade dieser Autor Åber ein selten breites Wissen und vermag es auch konzise<br />

darzustellen. Doch fast bewettbar dann, wenn er sich Åber Fragen von arrangierter Christentumskritik<br />

– einen Begriff, den ich altersangemessen im Sinne der Exposition von mehr oder<br />

weniger massiven Inkonsistenzen verstehe – in Analyse von Texten des frÅhsten Nietzsche<br />

ÇuÉerte, fÅhrte alles zum voraussagbaren Effekt: EntschÇrfung, Uminterpretation, sympathische<br />

‘Heimholungen’ aller Art auf jeweils so hohem Niveau und in so gut nachvollziehbarer,<br />

plausibler Argumentation, daÉ ein nicht sehr kritischer und nicht sofort Nietzsches Texte und<br />

NaK zwecks Vergleichs heranziehender Leser HÄdl weitestgehend in der Diagnose zustimmen<br />

dÅrfte, daÉ es bspw. gar nicht darum geht, daÉ das Kind – wie der Verfasser von NaK<br />

nicht mÅde wird, zu behaupten – nach Meinung christophiler Interpreten ‘einfach nichts gemerkt<br />

haben darf’, sondern daÉ es lediglich ebensowenig gemerkt hat wie vielleicht Milliarden<br />

anderer GottglÇubiger, die, befragt, was denn der Inhalt ihrer Gebete oder Glaubensbekenntnisse<br />

sei, und zumal wie deren einzelne Begriffe, Aussagen usw. zusammenpassen, erkennen<br />

lassen, daÉ sie sich dazu – vorsichtshalber? – wohl noch niemals sonderlich – geschweige<br />

denn qualifiziert oder gar kritisch – Gedanken gemacht haben; und schon gar nicht<br />

als Kind deutlich vor Einsetzen der PubertÇt...<br />

Nur die wenigen, die vielleicht andere Kinder waren, die wie bspw. nicht wenige Mitglieder<br />

meiner Generation schon frÅh selbst massivste Inkonsistenzerfahrungen gemacht, gestutzt,<br />

nachgedacht und im ererbten Konglomerat dann – anfangs: keineswegs zu ihrem VergnÅgen –<br />

Serien von Inkonsistenzen entdeckt haben, verstehen zwar mit einem Blick das von Nietzsche<br />

Gemeinte; doch nach meiner Erfahrung versteht kaum mehr einer von ihnen, daÉ und zumal<br />

warum bspw. d. Vf. einen Teil seiner restlichen Lebenszeit mit argumentativen Versuchen<br />

verbringt, wiederholt und vielleicht sogar weiterhin ein FaÉ der Danaiden fÅllen oder gar flicken<br />

zu wollen...<br />

3.5.2. Streitpunkt 1: Kontrasttechnik<br />

Zwar ist dazu schon verschiedentlich prÇmissenorientiert Entscheidendes lÇngst gesagt worden,<br />

doch nun auch mit einigen Details: Bei der sog. „Kontrasttechnik“ (vgl. oben 3.3.2.7.,<br />

des Autors Grundthese 5; DlJ, S. 73) handelt es sich um meine Bezeichnung fÅr eine in den<br />

frÅhen 1980er Jahren an Texten des Kindes Nietzsche erfolgte Beobachtung, daÉ es in ganz<br />

bestimmten Texten – in der Regel besonders deutlich in Geschenktexten insbes. fÅr seine<br />

Mutter – insofern eigentÅmlich zu formulieren scheint, als in diesen Texten – meist Gedichten<br />

– entweder irgendeiner der Verse nicht so recht in den Zusammenhang zu passen scheint: sei<br />

es – seltener – rhythmisch auffÇllig holpert sei es bspw. textimmanent eine massive Diskrepanz<br />

exponiert, die das in SchluÉversen exponierte massive Gotteslob 221 in eigenartiges Licht<br />

taucht usw.; und/oder massive naturale oder psychische Kontraste in Szene setzt: idyllische<br />

Mittagsstimmung versus plÄtzlich aufziehende Gewitterfront mit verderbenbringenden BlitzschlÇgen,<br />

oder GlÅck versus schwerste Trauer oder tiefste Verzweiflung... Vorausgesetzt freilich,<br />

die frÅhen Texte dieses Kindes werden weder als rhythmische Proben noch als Spracharsenal<br />

fÅr frommes Reden, als Darbietungen eines seinen Vater poetisch frÅh Imitierenden<br />

sowie dessen schwaches poetisches Niveau als Norm akzeptierenden Kindes, sondern als – ja,<br />

als was statt dessen verstanden? Genau darauf kommt es nun an.<br />

220<br />

Das bedeutet – um es letztmals zu betonen – glÅcklicherweise nicht, daÉ solcherart verfahrende<br />

Autoren in anderen ThemenzusammenhÇngen nicht hochqualifizierte und vielleicht sogar kreative<br />

Wissenschaftler sein kÄnnen.<br />

221<br />

Wie neben vielen anderen auch bei Ernst Ortlepp eine klassische ‘Zudeckmethode’, die bspw. in<br />

seinem Vaterunser unschwer studiert werden kann.<br />

141


Beim Autor laufen auch diese Texte als nicht sonderlich originelle Belege der EingepaÉtheit<br />

eines Kindes in das Ensemble seiner rekonstruierbaren sozialen Vorgaben wie bspw.<br />

Anregungen seitens der Schule, Spiele mit seinen beiden Freunden, LektÅre usw. oder aber<br />

als Dokumentationen keineswegs sonderlich eigenstÇndigen, vielmehr angepaÉten bzw. sozialintegrierten<br />

religiÄsen Empfindens sowie Denkens, denn: Geistig eigenstÇndiger und dann<br />

auch christentumskritisch(er) wurde Nietzsche offenbar erst nach dessen Konfirmation (zweieinhalb<br />

Jahre nach Beendigung der Kindheit). 222 FÅr NaK sind diese Gedichte z.T. zwar spontan<br />

niedergeschrieben, doch dann als Glieder einer Sammlung bspw. zum 2.2.1856, wie unten<br />

belegt, oder 2.2.1858 absichtsvoll komponierte, durchdacht arrangierte Denkangebote bzw.<br />

-produkte, die, ergÇnzt um auf die Emotionen seiner Mutter bezogene, gemeinsame Erinnerungen<br />

aktualisierende ‘GlanzstÅcke’ wie bspw. Wohin? (I 410 bzw. I 1, 226) 223 , sowie religi-<br />

Äse Spitzenleistungen wie Am Morgen und Am Abend (I 409 bzw. I 1, 225f.) entsprechend<br />

platziert werden.<br />

Hier wie fast Åberall in DlJ stÄÉt man, wenn NaK-Aussagen Gegenstand der Analyse werden,<br />

einerseits auf methodologische Differenzen insofern, als der Autor dazu neigt, stark zu isolieren,<br />

kaum jedoch auf grÄÉere ZusammenhÇnge wie auf das Zusammenspiel verschiedener<br />

Faktoren zu achten. So fÅhrt er bspw. seine Kritik an der sog. „Kontrasttechnik“ auf eine Weise<br />

durch, als ob in Nak Kontrasttechnik nicht eine einzelne Problemexpositionstechnik in<br />

Kombination mit einigen anderen Problemexpositionstechniken oder auch neben anderen<br />

Techniken, Strategien usw. wÇre wie bspw. derjenigen, auf der Ebene von Nebenthemen verschiedener<br />

zeitnaher Texte ein ganz bestimmtes Problem in einigen Varianten durchzuspielen;<br />

andererseits bzw. zweitens stÄÉt man allenthalben auf unterschiedliche EinschÇtzungen des<br />

BewuÉtheits- und gedanklichen EigenstÇndigkeitsgrades 224 dieses Kindes (s. oben).<br />

Zwischen den diesbezÅglichen Auffassungen von DlJ und NaK liegen zwar GrÇben, doch<br />

sie lassen sich ggf. genau dann ÅberbrÅcken, wenn textexterne Kontextfragen weder ausgeblendet<br />

noch aussagennivellierend eingesetzt werden. Wenn der Autor exponiert: „Die Frage<br />

ist fÅr mich aber nicht, ob man in diesen Texten [es geht um Gedichte der Sammlung zum<br />

2.2.1856] diese Problematik entdecken kann, sondern, inwieweit sie vom Knaben schon relativ<br />

bewusst und mit ‘religionskritischer Spitze’ hier in variierender Perspektive durch die<br />

Montage verschiedener UnglÅckssituationen und unterschiedlicher Rettungsaktionen ins Spiel<br />

gebracht werden.“ (S. 113), so ‘hÇngt er die Latte’ im Sinne inverser Beweislastverteilung<br />

‘unerreichbar hoch’, denn wie soll ein ElfjÇhriger in seinen Gedichten eine „religionskritische<br />

Spitze“ so deutlich implantieren, daÉ das einerseits zwar ein Hans Gerald HÄdl nach mehr als<br />

150 Jahren zu akzeptieren vermag, daÉ anderseits aber die Fritz auf religiÄse KonventionalitÇt<br />

trimmende Mutter an ihrem 30. Geburtstag durch den nÇmlichen Text erfreut werden soll:<br />

222<br />

Diese Sichtweise ist benannt als Dogma prochristlicher <strong>Nietzscheinterpretation</strong> in Hermann Josef<br />

Schmidt: Letztes Refugium?, 2011, S. 225-244, und ebenfalls in 3.8.4.<br />

223<br />

In meinem ‘Gedenkvortrag’ zu Nietzsches 90. Todestag am 25.8.1990 in RÄcken – Das Ereignis<br />

Nietzsche – im Ausgang von Rácken, Dortmund, (1992) 2 1995 – hatte ich dieses Gedicht des Kindes in<br />

den Mittelpunkt gestellt, nachdem ich erfuhr, daÉ an der Veranstaltung von Orts- und Kirchengemeinde<br />

viele Dorfbewohner teilnehmen wollten, denen der DDR-verfemte Nietzsche noch weitgehend<br />

unbekannt sei.<br />

224<br />

DaÉ der Autor in DlJ nicht durchgÇngig auf einer Linie argumentiert, sondern durchaus verschiedene<br />

interpretative Niveaus demonstriert, ist zwar von Nachteil, was Stringenz von Argumentationen<br />

betrifft, jedoch von Vorteil, was Einsichtsniveaus betrifft. So Åberrascht er S. 109, Anm. 274, mit der<br />

sehr zutreffenden Beobachtung, daÉ sich in Nietzsches frÅhen Gedichten AnklÇnge an Gedichte bekannter<br />

Autoren – Vf. hatte vor allem auf Schiller und Heine hingewiesen – „finden, die jedoch in sehr<br />

eigenstÇndiger Weise in anderen inhaltlichen ZusammenhÇngen weitergesponnen werden.“ Ausgezeichnet;<br />

und jetzt bitte die Nutzanwendung dieser EigenstÇndigkeitsperspektive auch auf die Art von<br />

dieses Kindes Umgang mit Kirchenliedern....<br />

142


ohne Provokation zwar, dennoch aber mit einer diskreten Stimulation, angesichts all’ dieser<br />

Schlag auf Schlag erfolgenden nun poetisch geballt prÇsentierten UnglÅcksfÇlle Åber naheliegende<br />

eigene Erinnerungen nachdenken zu wollen? Eine Mutter, deren wirtschaftliche SelbstÇndigkeit<br />

von ihrer stadtbekannten RechtglÇubigkeit und unirritierbaren AnstÇndigkeit, vom<br />

Wohlwollen anderer Pastorenfrauen usw. abhing, denen sie Spitzenwaren der Verwandten aus<br />

Plauen zu verkaufen suchte usw. usw.? Um auch hier in aller Deutlichkeit zu formulieren:<br />

Nietzsches Mutter dÅrfte sich lebenslang daran erinnert haben, daÉ wÇhrend ihrer Kindheit<br />

ihre groÉzÅgigen Eltern wochenlang halbverhungerte Pastorenwitwen in Pobles sich sattessen<br />

lieÉen; das war ihr Lebensprogramm und -konzept, denn das sollte ihr, Franziska Nietzsche,<br />

niemals passieren. Und eines ihrer FaustpfÇnder war ihr Sohn Fritz und dessen Karriere, fÅr<br />

die dessen Aufnahme in die berÅhmte Pforte mit den vielen, vielen Verbindungen bis zum<br />

MinisterprÇsidenten in Berlin ‘sorgen’ sollte. Fritz wuÉte das und tat spÇter manches, um sich<br />

aus diesen Verpflichtungen auszulÄsen, freizukaufen, finanzierte auch den Hauskauf im<br />

Weingarten mit. Ein Interpret von Nietzsches frÅhen Texten, Lebensgeschichte usw., der derlei<br />

Informationen ausblendet oder gar als irrelevant erklÇrt – „es gilt nur der Text“, den er<br />

dann alles Recht hat, dilettantisch zu interpretieren? –, attestiert sich ein Problemniveau, fÅr<br />

dessen Charakterisierung der Leser angemessene Formulierungen erwÇgen mÄge. Doch zurÅck!<br />

WÅrde der Autor nÇmlich (a) den spezifischen atmosphÇrischen Kontext des 2.2.1856 in<br />

der Naumburger Neugasse 7, (b) die dreifach variierende Perspektive eines Seenotfalls mit<br />

unterschiedlicher Deutung und Rettung, (c) das bei weitem eindeutigere Gewittergedicht in 40<br />

Versen mit den Versen<br />

Durch die schwarze dunkle Nacht<br />

Fahren Blitze auf und nieder<br />

Und nur der der oben wacht<br />

Der beschÅtzt der Menschen GÅter. [Verse 9-12]<br />

Sehet da des Blitzes Strahl<br />

Der dort in das Haus hineinfuhr<br />

Aus der Wohnung Rauch aufwallt<br />

Auf den Strassen herrschet Aufruhr. [N. 8 Gewitter., Verse 17-20],<br />

das erst die Verantwortlichkeit dessen, „der oben wacht“, festklopft, um wenige Verse spÇter<br />

zu demonstrieren, was von dieser Verantwortlichkeit zu halten ist, der (d) das vorausgehende<br />

Seekatastrophen-Gedicht – ein wunderbares Kontrastarrangement sowohl zum Folgegedicht<br />

wie zum Gedichtsanfang selbst – mit den Versen enden lÇÉt:<br />

Doch nachher dankten alle Gott<br />

Der sie errettete vom Wassertod. [N. 7., Verse 15f.],<br />

der (e) das Folgegedicht des Gewittergedichts bzw. AbschluÉgedicht der Sammlung N. 9.<br />

Sepastopol., enden lÇÉt mit<br />

Mit diesen Muth besiegt man den grÄÉten Feind. [Vers 19],<br />

der, wenn wir vom ErÄffnungs- und dem GlÅckwunschgedicht N. 1. absehen, (f) in den Åbrigen<br />

nur 8 Gedichten der Sammlung neben einer sentimentalen, Gemeinsamkeiten von Sohn &<br />

Mutter beschwÄrenden RÄckenerinnerung (III. Elegie) nicht weniger als fÅnf verschiedene<br />

Rettungsversionen aus Todesnot (Nr. 2. Meeres Sturm., IV. âberfall., N. 5. Rettung., N. 6.<br />

Des Cyrus Jugendjahre und N. 7.), dazu noch das massiv theodizeeproblemhaltige N. 8. Ge-<br />

143


witter und zum AbschluÉ als N. 9. Sepastopol. untergebracht hat, die gefallene Festung, deren<br />

geschwÇrzte Steine noch die Aufforderung zum Gegenangriff „sprechen“:<br />

machet o Russen einen Angriff.<br />

Ihr werdet ihr mÅÉet gewinnen!“<br />

Mit diesen Muth besiegt man den grÄÉten Feind. [Verse 17-19],<br />

also unter dem Vorzeichen von (a) das aus (b) bis (f) ersichtliche Arrangement als Leistung<br />

eines ElfjÇhrigen zu registrieren bereit sein, so kÄnnte auch er akzeptieren, daÉ hier eine<br />

Komposition vorliegt, die recht deutlich zeigt, was in Fritz vorgeht sowie was er seiner Mutter<br />

prÇsentieren will; und ein das Niveau von Der GeprÄfte keineswegs diskreditierendes Arrangement.<br />

Man muÉ nur fÅr mÄglich halten, daÉ dieses Arrangement ebenso wie Der GeprÄfte<br />

und zahlreiche andere Texte dieses Kindes Antworten sind; Antworten auf und Spuren von<br />

einer Auseinandersetzung mit einem Vorkommnis, das all’ diesen Texten deutlich vorausliegt,<br />

also auf Nietzsches frÅhere Kindheit zurÅckverweist. Dann fÅgen sich diese Texte, denn<br />

dann haben wir einen SchlÅssel; einen SchlÅssel, dessen Rohling zwar aus Nietzsches frÅhen<br />

Texten rekonstruiert, dessen Feinschliff solcherart aber wohl nicht gewonnen werden kann.<br />

Da bleiben wir auf externe Quellen angewiesen. Oder, besser noch, auf eine Information von<br />

Fritz selbst Åber das oder wenigstens Åber ein seinen frÅhsten Texten vorausliegendes und mit<br />

vielen ihrer Aussagen kompatibles spezifisches Vorkommnis. Genau diese Information liegt<br />

seit 1878 225 in einer verschlÅsselten und seit spÇtestens 1924 in einer weiteren groÉenteils<br />

akzeptablen, seit 1933 sogar seriÄsen Form lÇngst vor. 226 Und der Autor weiÉ das auch.<br />

Und dennoch oder trotz alledem: Aus des Autors Sicht sieht es dann so aus, daÉ Vf. das,<br />

was er sich „bei der LektÅre der Jugendschriften Nietzsches“ denkt, „nicht als die Innerlichkeit<br />

des SchÅlers Nietzsche ausgeben“ sollte (S. 129, Anm. 326). Damit hÇtte er zweifelsohne<br />

recht, wenn dem so wÇre; genauer: Wenn seine eigene Interpretation der entsprechenden Texte<br />

Nietzsches und der ihnen geltenden NaK-Aussagen ihrerseits seitens Nietzsches legitimiert<br />

oder wenn sie in deutlich hÄherem MaÉe nietzscheadÇquat wÇren. DaÉ sie das jedoch selbst<br />

noch in den vom Autor vorgegebenen experimenta crucis in weit geringerem MaÉe als die<br />

betreffenden Interpretationen des Verfassers sind, kÄnnte zumal in der Metakritik des von<br />

HÄdl zum zentralen experimentum crucis ausgewÇhlten StÅckes Der GeprÄfte (also in 3.4.4.)<br />

deutlich geworden sein. SelbstverstÇndlich kann Vf. sich bei jeder seiner Interpretationen<br />

dennoch tÇuschen – wie jeder andere auch bei der Seinigen. Doch in Akzeptanz dieses fÅr<br />

jeden Interpreten geltenden Sachverhalts und des ohnedies Hypothetischen jedweder Interpretation<br />

kommt es anschlieÉend auf die Reichhaltigkeit und QualitÇt der Argumente sowie Perspektiven,<br />

auf spezifisches Sachwissen incl. prÇzise vorgenommener sowie seriÄs referierter<br />

eigener Recherchen, das interpretative Potential sowie Konzept und auch auf einen mÄglichst<br />

unkonventionellen, ‘tiefenschÇrferen’, Nietzsche weder ÅberhÄhenden noch trivialisierenden<br />

Blick an. HÄdl meint, ich ÅberhÄhe Nietzsche; meint, ich projiziere auf das Kind, was ich in<br />

Anwendung meines Wissens anlÇÉlich seiner Texte aufspÅre. Auf der Ebene der Heuristik hat<br />

er dabei so Unrecht nicht, denn ich neige dazu, einen Text zuerst einmal im Blick auf das, was<br />

er zu leisten vermag, als mÄglichst hochwertig einzuschÇtzen – andere Texte interessieren<br />

mich nicht – und ihn erst anschlieÉend im Blick auf seinen Autor usw. zu ‘melken’. In einem<br />

zweiten, dritten usw. Schritt schrÇnke ich dann ein. So diskutiere ich in NaK mehrfach ver-<br />

225<br />

Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches 72., 1878. Dazu spÇter.<br />

226<br />

Es handelt sich um die Autobiographie des knapp 14jÇhrigen Nietzsche Aus meinem Leben aus dem<br />

SpÇtsommer 1858, die von Elisabeth FÄrster-Nietzsche in ihren beiden Biographien von 1895 und<br />

1912 zerstÅckelt und mit eigenen Texten berankt wurde, um Nietzsches Kindheit zu schildern, m.W.<br />

erstmals 1924 in Der werdende Nietzsche. Autobiographische Aufzeichnungen. Hgg. v. Dr. phil. h.c.<br />

Elisabeth FÄrster-Nietzsche. MÅnchen, 1924, S. 7-40, einigermaÉen korrekt vorgelegt; natÅrlich auch<br />

im 21. Band der Musarionsedition (Autobiographische Schriften und Aufzeichnungen. MÅnchen, 1928,<br />

S. 1-35), und, erstmals in seriÄser Form, 1933 in der HKGW I 1-32 (bzw. I 1, 281-311).<br />

144


schiedene Deutungslinien, die nicht vorweg abwegig erscheinen, um dann erst in einer Quasirangordnung<br />

zu gewichten. Was den Autor und andere christophile Interpreten betrifft, so<br />

empfinde ich ihre Deutungen leider meistenteils als differenziert formulierte Trivialisierungen<br />

des Denkens des frÅhen Nietzsche (und vieler anderer wacher Kinder; vgl. dazu oben<br />

3.3.2.2.ff.).<br />

Drittens: der Autor legt zwar sehr viel Wert auf die Rekonstruktion sozialer HintergrÅnde,<br />

blendet irritierenderweise jedoch genau diejenigen (s.o.) weitestgehend aus, die als entscheidend<br />

fÅr Nietzsches frÅhe Denkentwicklung einzuschÇtzen sind, nÇmlich die (z.T. divergenten)<br />

religiÄsen Auffassungen der Mitglieder der GroÉfamilie Nietzsche und Oehler sowie Fragen<br />

spezifischer Pfarrhaussozialisation (auch dazu ist in Nak lÇngst Substantielles zu finden<br />

227 ). NaK hingegen konzentrierte sich allerdings groÉenteils in direktem Zugriff auf Nietzsches<br />

frÅhe Texte, die zuvor m.W. nirgendwo in grÄÉerer Zahl 228 oder gar in ihrem Zusammenhang<br />

thematisiert worden waren, zeigt ihre Relevanz und z.T. Brisanz auf, untersucht sie<br />

als Fragmente von Nietzsches z.T. schriftlich kondensierten lautlosen SelbstgesprÇchen, bezieht<br />

Konstellatives nur dann ein, wenn es als zum VerstÇndnis des Inhalts unumgÇnglich<br />

erscheint. Beide Perspektiven sind ‘einseitig’, kÄnnten sich ergÇnzen; was jedoch voraussetzen<br />

wÅrde, daÉ Nietzsches Kompetenzen auch in den Kompetenzbereich seiner Interpreten<br />

fallen, daÉ Nietzsche dabei intellektuell nicht unterschÇtzt wird usw. – Doch zurÅck zur Diskussion<br />

Åber die Art und Relevanz von Nietzschescher frÅher Kontrasttechnik.<br />

Solange nun jedenfalls derlei Diskrepanzen, ‘Haken’, Kontraste oder wie immer man dies<br />

bezeichnen will, nur bei einem einzigen Gedicht des Kindes Nietzsche auffallen, kann das<br />

dem kindlichen Poeten vielleicht noch als mangelnde poetische Technik schlechtgeschrieben<br />

werden. Doch was ist, wenn sich diese ‘AusreiÉer’, ‘Haken’ oder WidersprÅche bei bestimmten<br />

Themen und zumal in Geschenkgedichten fÅr ganz bestimmte Personen wiederholen? So<br />

fragte ich mich, ob derlei Auftreten ÅberzufÇllig wÇre. Ob vielleicht sogar eine bestimmte<br />

Problematik hier in Varianten durchgespielt bzw. abgehandelt worden sein kÄnnte? Kurz:<br />

Worauf denn diese dank ihrer HÇufigkeit kaum zu Åbersehende Tatsache eine Antwort des<br />

Kindes Nietzsche sei? Ob sie vielleicht ebenso wie die Schilderung zahlreicher UnglÅcksfÇlle,<br />

von Leiden und Tod 229 sogar als spezifische Problemexpositionsstrategie des Kindes verstanden<br />

werden kÄnnte?<br />

NatÅrlich sprengte ein derartiger Ansatz 1981ff. alles, was zuvor (in der Regel ohne breitere<br />

Textkenntnis) zum frommen Kind Nietzsche als vÄllig unstrittig behauptet bzw., aus Elisabeths<br />

Biographien als bare MÅnze entnommen, wieder einmal nur elaboriert paraphrasiert<br />

anstatt ‘eigensinnig’ bedacht wurde; stellt nun schon seit 1983 bzw. seit mehr als einem Vier-<br />

227<br />

So werden in Hermann Josef Schmidt: NaK im Teilkapitel „RÄcken 1844-1850“, S. 819-899, u.a.<br />

Themen skizziert wie „Dorfpfarrhaus als Glashaus?“, „Pfarrherr Ludwig Nietzsche in (und unter) RÄcken“<br />

und „Versteckspiele im ‘Glashaus’?“. DaÉ die einzige Reaktion, an die sich Vf. erinnert, diejenige<br />

Martin Greiffenhagens war, der „fÅr ein groÉes LesevergnÅgen“ dankte und den hÄchst aufschluÉreichen,<br />

mir zuvor entgangenen vom ihm herausgegebenen Band Pfarrerskinder. Autobiographisches<br />

zu einem protestantischen Thema. Stuttgart, 1982, beifÅgte, empfinde ich als bezeichnend. So<br />

ist das in Schnitzebutz HÇusl.<br />

228<br />

Die einzige mir bekannt gewordene Ausnahme bildet als wohl Çlteste mehrere Texte des Kindes<br />

und wenig Çlteren Alumnen Nietzsche nicht nur isoliert, sondern sogar in ihrem Zusammenhang thematisierende<br />

Untersuchung die beeindruckende Lizentiatsarbeit von Julia Kroedel Åber Heimat und<br />

Fremde in der Lyrik des jungen Nietzsche, UniversitÇt Basel, 1982, auf die Karl Pestalozzi in: Nietzsches<br />

Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe...“, 1984, hingewiesen hatte, und deren Kenntnis ich<br />

der Autorin sowie deren Vermittlung ich Karl Pestalozzi verdanke.<br />

229<br />

Dazu genauer in Hermann Josef Schmidt: Entnietzschung, 2000, die Punkte 7 und 10 des interpretativen<br />

Lasterkatalogs: „Mangelnde BerÅcksichtigung einer Grundproblempartitur des Zerbrechens<br />

von Welt, Sinn und Wert“, S. 133ff., und „Mangelnde BerÅcksichtigung der Bedeutung frÅher Krankheits-<br />

und Todeserlebnisse Nietzsches“, S. 138ff.<br />

145


teljahrhundert einen offenbar unertrÇglichen Consensus-VerstoÉ und zumal eine immense<br />

Provokation derer dar, die aus verstÇndlichen GrÅnden darauf beharren (wollen), Nietzsche<br />

mÅsse ein zutiefst glÇubiges, christliches Kind gewesen sein – denn sonst fallen nahezu sÇmtliche<br />

interpretativen KartenhÇuser, die jahrzehntelang bspw. der Doch-noch- oder Dennoch-<br />

Christlichkeit des spÇte(re)n Nietzsche galten und z.T. noch gelten, fast lautlos zusammen.<br />

Der in der Regel strategisch optimal operierende Autor hat selbstverstÇndlich auch hier angesetzt,<br />

um zu belegen, daÉ die in NaK aufgewiesene Kontrasttechnik hochgradig vorannahmenabhÇngige<br />

Konstruktion von dessen Vf. sei, sich interpretativ jedoch nicht bewÇhre. Einerseits<br />

kontrastiere das Kind nicht ausschlieÉlich in vermeintlich theodizeeproblemhaltigen<br />

Texten – was stimmt, in NaK m.W. aber auch niemals behauptet wurde –, andererseits wÅrden<br />

interpretativ z.T. falsche Schwerpunkte gesetzt. Tendenziell sucht HÄdl bei fast jedem<br />

Kritikpunkt den von ihm behaupteten Sachverhalt 1. an mÄglichst frÅhen Texten Nietzsches<br />

zu belegen, was mangels differenzierten immanenten Kontexts Isolation erleichtert und die<br />

GlaubwÅrdigkeit seiner Analysen zu erhÄhen scheint: So werden Fragen von Theodizeeproblemhaltigkeit<br />

bspw. an drei verschiedene SeenotfÇlle beschreibenden Gedichten des<br />

Jahresanfangs 1856 diskutiert, nicht jedoch an dem zwei Jahre jÅngeren Schulaufsatz Barmherzigkeit<br />

(I 411-413 bzw. I 1, 227-230) vom Jahresanfang 1858, bei dem sich Nietzsches<br />

theodizeeproblemkritische Arrangements nicht nur in erstaunlicher Deutlichkeit aufweisen<br />

lassen (vgl. NaK, S. 563-567), sondern auch als Weiterentwicklung der entsprechenden noch<br />

einfacheren Arrangements Çlterer Gedichte; 2. versucht DlJ bei fast jedem Text und Thema<br />

des Kindes wie erwÇhnt eine eigenanteilminimierende Deutung insofern nahezulegen, als<br />

Text wie Thema weitestgehend als situativ gebunden verstanden werden: beeinfluÉt bspw.<br />

von den Kriegsspielen der drei Freunde Gustav, Wilhelm und Fritz 1854/55, bei denen u.a.<br />

kleine Papierschiffchen verbrannt wurden, weshalb die in Gedichten zum 2.2.1856 geschilderten<br />

SeenotfÇlle ebenso wie ein äberfall usw. eine natÅrliche ErklÇrung fÇnden. Als ob es auf<br />

die Formulierungen der betreffenden Texte nicht mehr sonderlich ankÇme, wenn eine Hypothese<br />

zugunsten einer bestimmten Motivwahl prÇsentiert werden konnte. Derlei äberlegungen<br />

des Autors ergÇnzen das in Nak AusgefÅhrte vielleicht, doch die Fakten sind Lesern der Autobiographie<br />

des Sommers 1858 bereits bekannt und kÄnnen auch als bekannt vorausgesetzt<br />

werden. So wirken des Autors Hinweise eher wie AblenkungsmanÄver, wenn auf die in NaK<br />

bereits angesprochenen Punkte nur z.T. oder gar nicht eingegangen wird. Von grÄÉerer Bedeutung<br />

wÇren sie jedoch nur dann, wenn sie die spezifische Art der GedankenfÅhrung in diesen<br />

Gedichten erklÇren kÄnnten, was wenigstens in DlJ m.E. nicht der Fall ist. So klammern<br />

sie jedoch wieder einmal genau dasjenige aus (oder umgehen es), was in NaK im Mittelpunkt<br />

stand: die mehrfache Variation eines spezifischen theodizeehaltigen Problems; und die diskreten<br />

Hinweise des Kindes auf Diskrepanzen – wie bspw. das erwÇhnte „Doch“ in dem Gedicht<br />

N. 7. der Sammlung zum 2.2.1856 (I 343 bzw. I 1, 122) –, die in DlJ ebenfalls nicht in ihrer<br />

Bedeutung angemessen berÅcksichtigt werden. Der Autor diskutiert m.W. nirgendwo ernsthaft<br />

dergleichen, nimmt sich primÇr Texte vor, in deren Interpretation er Alternativen zur<br />

NaK-Deutung vorzulegen hofft, und erwÇhnt Texte, bei denen diese Strategie schwieriger<br />

wÇre, bestenfalls, geht aber auf sie kaum einmal nÇher als nur im Vorbeigehen ein. WÇren<br />

nicht gerade derlei Texte im Sinne kritischer Gegenproben bevorzugt zu berÅcksichtigen?<br />

Doch zuweilen ist mehr-vom-Guten im Effekt sehr viel weniger. Warum? Der Autor hatte<br />

sich zuvor in seinen beiden experimenta zwei sehr frÅhe Texte des Kindes ausgesucht, um in<br />

zwar beeindruckend konzipierter (vgl. 3.4.4.1.) doch wenig Åberzeugend durchgefÅhrter, da<br />

aussichtsloser Strategie den Verfasser von NaK quasi zum interpretativen Offenbarungseid<br />

bzw. zum argumentativen Tanz in Ketten zu nÄtigen. Doch das Ergebnis war nicht nur in<br />

mehrfacher Hinsicht negativ, sondern auch in anderer Perspektive aufschluÉreich und fÅr weitere<br />

Argumentationen des Autors fast ‘tÄdlich’. Ergab sich wÇhrend der Untersuchung der<br />

Argumente von DlJ im Blick auf Der GeprÄfte als fÅr des Autors Sichtweise hÄchst unerwÅnschter<br />

Nebeneffekt wohl deutlich genug, daÉ dieses elfjÇhrige Kind ein glÇnzender und<br />

146


Åber mehrere Denkschritte hinweg Probleme verfolgender Arrangeur (und bereits damit manchen<br />

Interpreten intellektuell Åberlegen) ist. Gilt das jedoch fÅr den ElfjÇhrigen des Herbstes<br />

1855 oder, um dem Autor maximal entgegenzukommen, des Januar 1856, so sind doch im<br />

Vergleich dazu die theodizeeproblemhaltigen, in NaK z.T. als mit Kontrastarrangements exponiert<br />

aufgewiesenen WiderhÇkchen in Geschenkgedichten an seine Mutter bspw. zum<br />

2.2.1856 oder gar zum 2.2.1858 nur noch Petitessen, also etwas, was das in Arrangements von<br />

Der GeprÄfte lÇngst dokumentierte Problemexpositionsniveau – erinnert sei an die quasi weitergereichte<br />

Betonung der PrÅfungsrelevanz durch Jupiter/Zeus von Akt 1 zu Akt 2, Akt 3 und<br />

6 – im Anspruchsniveau so deutlich unterschreitet, daÉ jeder Versuch, dem Kind Nietzsche<br />

derartige Argumentationen fÅr 1856 oder gar fÅr 1858 nicht zuzutrauen, nach meinem Empfinden<br />

nur dann nicht fast schon peinlich selbstoffenbarend ist – auch dann Åbrigens, wenn er<br />

wiederum mit beeindruckend formulierten Arrangements vorgenommen wird –, wenn zuvor<br />

belegt worden wÇre, daÉ 1856-1858 als eine Regressionsphase des frÅhsten Nietzsche anzusehen<br />

ist; wofÅr es m.W. keinen Anhaltspunkt gibt.<br />

Kontrastierend skizziere ich, diesen Punkt vorlÇufig abschlieÉend, zwei gegenlÇufige Perspektiven,<br />

indem ich [in (a)] zuerst durchspiele und meine vorausgehenden Andeutungen zusammenfasse,<br />

wie ein Defensor fidei arrangieren kÄnnte, wenn er diese in NaK mehrfach belegte<br />

Kontrasttechnik dennoch als fÅr das Kind unzutreffend in ihrem Geltungsanspruch suspendieren<br />

mÄchte; um dann [in (b)] selbst unter der Voraussetzung bzw. in Anerkennung hohen<br />

interpretativen LeistungsvermÄgens einer konkreten NaK-Kritik HÄdls quasi von dessen<br />

eigenem Ansatz her wenn nicht zu zeigen so doch plausibel zu machen, warum seine Kritik<br />

dennoch nicht zu dem seinerseits erwÅnschten Ergebnis zu gelangen vermag, denn: Das interpretative<br />

Scheitern selbst beeindruckend kenntnisreicher Interpretationen HÄdls ist wenigstens<br />

in vielen FÇllen vielleicht weniger deren Autor anzulasten als diesem wohl auÉergewÄhnlich<br />

begabten und konsequent denkenden, von prochristlichen Interpreten incl. des Autors leider in<br />

der Regel pathologisch unterschÇtzten Kind Nietzsche gutzuschreiben.<br />

(a) Ein Defensor fidei, der die in NaK belegte Kontrasttechnik als fÅr das Kind unzutreffend<br />

in ihrem Geltungsanspruch suspendieren mÄchte, kÄnnte, aus der Vogelschau, ÇuÉerst<br />

einfach und simpel vorgehen: Er hÇtte bspw. die Texte, die in den beiden Geburtstagssammlungen<br />

1856 und 1858 als Sequenz wirken, (1.) von einander mÄglichst zu isolieren, (2.) sie<br />

selbst mÄglichst in verschiedene Bestandteile zu zerlegen, (3.) diese wiederum in verschiedene<br />

anderweitige ZusammenhÇnge zu integrieren, (4.) auf Textexternes zu beziehen und bspw.<br />

zu zeigen, daÉ in vielen Kirchenliedern, die das Kind Nietzsche gekannt haben muÉ oder in<br />

angeforderten Geschenktexten sogar abzuschreiben das VergnÅgen hatte, bestimmte Formulierungen<br />

oder Verse ebenfalls vorkommen, weshalb sie, so der unausgesprochene ‘SchluÉ’,<br />

seitens des Kindes (5.) keineswegs mehr im Sinne kritischer Kontrastierung verwandt oder<br />

gar ‘zitiert’ werden kÄnnen; was u.a. (6.) bedeutet, daÉ Nietzsches frÅhste Gedichte vÄllig<br />

harmlos und (7.) in den Rahmen christlicher Tradition voll zu integrieren sind, was (8.) einmal<br />

mehr bewiese, daÉ das Kind Nietzsche ein in jeglicher Hinsicht christliches Kind gewesen<br />

und (9.) ein diese Sichtweise nicht vertretender Interpret auf falscher FÇhrte war. Kompliment?<br />

Jedenfalls beeindruckend argumentiert. Wer derlei fÅr plausibel hÇlt, bewiese sich<br />

damit, daÉ er geistig in einer anderen Welt lebt als weltanschauungskritisch und argumentationstheoretisch<br />

nicht Ahnungslose. Doch wen stÄrt das schon? SchlieÉlich noch<br />

(b). Die AusfÅhrungen bspw. in DlJ, S. 112-116, sind ein sehr substantieller Text, der Zeile<br />

fÅr Zeile diskutiert werden mÅÉte, was selbst hier undurchfÅhrbar ist. So fasse ich mein LektÅreergebnis<br />

zusammen: Aus einer zumeist berechtigt erscheinenden ‘Normalkind’-Interpretationsperspektive<br />

wÇre der den Erfolg der beiden experimenta crucis bspw. S. 116 ausdrÅcklich<br />

voraussetzende, Theodizeeproblemhaltigkeit der drei Seefahrergedichte der Sammlung<br />

zum 2.2.1856 minimierende DlJ-Ansatz kaum unberechtigt. Doch<br />

1. sind HÄdls Argumentationen der beiden experimenta kollabiert;<br />

2. konnte in Diskussion von Der GeprÄfte ein so hohes strategisches Niveau, verbunden<br />

147


3. mit einer heimischer Religion gegenÅber wenigstens kurzzeitig distanzierten Sichtweise<br />

so nachdrÅcklich aufgewiesen werden, daÉ die Gedichten der Sammlung zum 2.2.1856 usw.<br />

geltenden,<br />

4. in DlJ als durchaus mÄglich anerkannten, nicht jedoch als zwingend eingeschÇtzten,<br />

5. mit dem fÅr Der GeprÄfte Eruierten jedoch Åbereinstimmenden NaK-Interpretationen<br />

weiterhin wenigstens Åber eine deutlich hÄhere Wahrscheinlichkeit verfÅgen als jede bisher<br />

(auch in DlJ) exponierte Alternative.<br />

Das bedeutet: Werden die Moses-Verse und zumal Der GeprÄfte wie in NaK als theodizeeproblemrelevant<br />

akzeptiert, erscheint auch die Annahme, das Kind habe Theodizeeprobleme<br />

gehabt, als die plausiblere selbst von JÄrg Salaquarda geteilte 230 Deutungsperspektive,<br />

die dann auch die (ein eindeutig Theodizeeprobleme exponierendes Gedicht enthaltende)<br />

Sammlung zum 2.2.1856 als raffiniert arrangierte Komposition unter der berÅcksichtigten<br />

Voraussetzung verstÇndlich macht, daÉ Theodizeeprobleme in der engeren Familie nicht ungeschÅtzt<br />

kommuniziert werden konnten. Davon war aber vom Vf. schon seit Mitte der<br />

1980er Jahre in BerÅcksichtigung der damals vorliegenden Literatur 231 ausgegangen worden.<br />

Charakteristisch fÅr die in DlJ ausfÅhrlich diskutierten NaK-Interpretationen der 3 Seefahrergedichte<br />

der Sammlung zum 2.2.1856 ist auÉerdem, daÉ (anders als in N. 8. Gewitter) weniger<br />

Åber direkte Kontrastarrangements als Åber ihre Nebenthemen und Åber spezifische Kompositionsgesichtspunkte<br />

einzelne Verse als Elemente grÄÉerer ZusammenhÇnge aufgewiesen<br />

werden; was voraussetzt, daÉ aufgewiesene Gesichtspunkte sammlungsinterner Strategie,<br />

gedanklicher Komposition und eigenstÇndiger Reflexion als hÄherrangig einzuschÇtzen sind<br />

denn Kontextfragen wie BerÅcksichtigung ÇuÉerer Rahmenbedingungen. Und<br />

6. schlieÉlich gewinnt die Theodizeeproblemhaltigkeit der entsprechenden NaK-Interpretationen<br />

selbst in BerÅcksichtigung externer Gesichtspunkte, wie noch (in 3.6.1.) gezeigt wird,<br />

weiteres Gewicht.<br />

Dennoch: äber Gewichtungen zumal im Einzelfall lÇÉt sich zwar immer diskutieren, doch<br />

kaum einmal einvernehmlich entscheiden. Und Åber Hypothesen kommen wir in Diskussionen<br />

Åber Texte Nietzsches wohl nie hinaus. Zwar eine crux, doch auch ein Reiz jedweder<br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong>.<br />

... Weshalb ich zum zweiten basalen methodologischen Einwand des Autors weitergehe,<br />

von dem Aspekte der in ihm aufgezeigten Problematik ebenfalls schon mehrfach berÅhrt wurden.<br />

3.5.3. Streitpunkt 2: Differenz von offiziellem oder Geschenktext und Privattext<br />

Nietzsches frÅhe Kontrasttechnik ist also voraussetzungsreich. Wobei auch hier offen gelassen<br />

werden soll, ob diese Technik schon von Beginn an vom Kind als Technik intendiert und<br />

eingesetzt war; oder ob eher, wie in der NaK-EinfÅhrung fÅr Metaspurenleser ja diskutiert<br />

(vgl. oben 3.3.2.6.), dem Kind in ZustÇnden von MÅdigkeit oder reduzierter Kontrolle auch<br />

aufschluÉreiche Kontrastsetzungen anfangs eher ‘passierten’, also ohne bewuÉte Absicht unterliefen,<br />

so daÉ es erst spÇter, bei der LektÅre seiner Verse, anfangs zumindest erschreckt<br />

bemerkte, was es denn da geschrieben habe. Das kÄnnte vielleicht 1854 noch so gewesen<br />

230<br />

„Seine Christentumskritik speiste sich zu einem guten Teil aus persÄnlicher Erfahrung. Von frÅh<br />

an, vermutlich ausgelÄst durch das langsame, qualvolle Sterben des Vaters, bewegte ihn das Theodizeeproblem<br />

(Schmidt, 1990, Teil III, 858ff.)“ In: JÄrg Salaquarda: Christentum, in: Henning Ottmann<br />

(Hg.), Nietzsche-Handbuch, 2000, S. 207).<br />

231<br />

Vgl. insbes. Martin Greiffenhagen (Hg.): Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte.<br />

Stuttgart, 1984, sowie Reiner Bohley: Nietzsches Taufe. „Was, meinest Du, wird aus diesem<br />

Kindlein werden?“ In: Nietzsche-Studien IX (1980), S. 383-405 (auch in: ders., Die Christlichkeit<br />

einer Schule, 2007, S. 276-298) und: Nietzsches christliche Erziehung. In: Nietzsche-Studien XVI<br />

(1987), S. 164-96 (auch in: ders., Christlichkeit, 2007, S. 308-339).<br />

148


sein; doch Belege haben wir vor allem dann dafÅr nicht, wenn wir den Moses-Vierzeiler nicht<br />

als moralische Provokation fÅr das Kind, sondern als vÄllig harmlos à la DlJ interpretieren.<br />

Was wir jedoch haben, sind Der GeprÄfte und aus dem Jahr 1856 stammende Texte: beginnend<br />

mit der Geburtstagssammlung zum 2.2., fortgesetzt mit einer Serie von wenigstens 11<br />

‘Griechengedichten’, deren Entstehungszeitpunkt nicht bekannt ist, die ohne Integration in<br />

einen grÄÉeren Zusammenhang offenbar jeweils fÅr sich selbst stehen sowie den grÄÉeren<br />

Teil der (noch erhaltenen) poetischen Produktion des Jahres 1856 ausmachen. Diese ‘Griechengedichte’<br />

unterscheiden sich mit vielleicht nur einer Ausnahme jedoch deutlich von den<br />

Gedichten zum 2.2., drehen christlichem Kontext oder Gotteslob – im Bild gesprochen – den<br />

RÅcken zu, exponieren ‘in griechischem Gewande’ jedoch mehrfach Theodizeeprobleme.<br />

Nietzsches Gedichte der beiden Geburtstagssammlungen fÅr seine Mutter zum 2.2.1856<br />

und 1858 hingegen sind im Gegensatz zu diesen Einzeltexten jeweils auch Elemente einer<br />

Komposition, haben in diesen Sammlungen also Åber ihren Eigengehalt hinausgehend noch je<br />

einen spezifischen Stellenwert. Wer das negiert, betrÅgt wieder einmal den Elf- oder DreizehnjÇhrigen<br />

um den Sinn seines Arrangements, der zu erkennen, nicht interpretativ zu unterlaufen<br />

oder zu Åbergehen ist.<br />

Nun ist eine tragende Voraussetzung der Interpretationen des Vf.s, also auch in NaK, daÉ<br />

es sich angesichts der von Interpreten behaupteten zahlreichen WidersprÅche Nietzsches<br />

lohnt, Nietzsches Texte selbst nicht nur mÄglichst in chronologischer Perspektive zu lesen,<br />

sondern genau zu visitieren, da derlei WidersprÅche nicht selten Resultate von Interpretationsfehlern<br />

zu sein scheinen, also weniger Nietzsche als Interpreten ‘anzulasten’ wÇren. Doch wie<br />

steht es um Nietzsches eigenen Anteil? Geht man dieser Frage nach, so stÄÉt man zumal beim<br />

frÅh(st)en Nietzsche – und spÇter am Einfachsten beim Autor von Nietzsches Briefen – auf<br />

Texte, die eindeutig adressatenorientiert sind, sowie auf andere Texte, die sich von diesen<br />

deutlich unterscheiden, offenbar fÅr Nietzsches ‘Hausgebrauch’ formuliert worden waren;<br />

und man stÄÉt auf Interpreten, vor allem freilich auf diejenigen einer spezifischen Species, die<br />

sich geradezu enthusiasmiert auf eindeutig als Geschenk- oder offizielle Texte Identifizierbares<br />

‘stÅrzt’, um solcherart ihr Nietzschebild zu sanktionieren. Hier argumentativ eingehakt<br />

bzw. interpretative BlÄÉen indiskret enthÅllt zu haben, gilt wohl als weiterer Consensus-<br />

VerstoÖ von NaK, weshalb selbst diese unschwer identifizierbare textinterne Differenz noch<br />

in jÅngster Vergangenheit interpretativ zu nivellieren intendiert wurde. Das vorweg.<br />

DaÖ es Geschenktexte des Kindes gibt, ist auch zwischen dem Autor und Vf. nicht strittig.<br />

Strittig ist, welchen Stellenwert, welche Funktion und welchen Inhalt sie haben; und auch,<br />

welcher nicht in Geburtstagssammlungen mit direkter Widmung aufgenommene Text als Geschenktext<br />

anzusehen ist. Der Autor findet unabhÇngig von der Frage, ob bspw. die beiden<br />

Sammlungen fÅr Nietzsches Mutter eine FÅlle christlicher Assoziationen im Sprachmaterial<br />

bieten – die Sammlung zum 2.2.1856 weniger, die zum 2.2.1858 deutlich mehr –, daÉ deren<br />

Texte nicht nur nicht Zweifel an der GlÇubigkeit des Kindes belegen, sondern daÉ Glaubensthemen<br />

im Grunde zumal in der Sammlung zum 2.2.1856 kaum eine Rolle spielten. Es sei unangemessen,<br />

davon zu sprechen, Nietzsche schenke seiner Mutter „primÇr religiÄse Gedichte“<br />

(DlJ, S. 115, zu Nak, S. 204). Damit hat der Autor insofern recht, als diese verkÅrzte NaK-<br />

Formulierung leider nicht genau genug trifft, was mit ihr gemeint war: „religiÄse Gedichte“<br />

meinte, „Gedichte, in denen meist im Nebenthema brisante, religiÄs relevante Fragen eine<br />

Rolle spielen“ – wie zumal Theodizeeprobleme –, nicht aber Gedichte, deren Thematik primÇr<br />

und offenkundig religiÄs ist. Letzteres gibt es zwar auch, doch derlei Texte stellen selbst<br />

1858 eine MinoritÇt dar, erwecken dann sogar eher den Eindruck von ‘Mache’ (wie die beiden<br />

gebetartigen so glatten Gedichte von 1858 Am Morgen und Am Abend; I 409 bzw. I 1, 225f.,<br />

die Vf. an Christian Morgensterns „Die Rehlein beten zur Nacht“ denken lieÉen 232 ). Anderer-<br />

232<br />

Christan Morgenstern: Das Gebet. In: ders., Galgenlieder, bspw. in: ders., Alle Galgenlieder. Berlin<br />

u.a., 1962, S. 22.<br />

149


seits sind mehrere Gedichte beider Sammlungen – noch mehr freilich Texte der vom Autor<br />

kaum berÅcksichtigten Sammlung zum 2.2.1857 – mehr oder weniger theodizeeproblemhaltig;<br />

worauf es in Nak u.a. ankam. Auch insofern ist dem Autor zuzustimmen, daÉ zumal<br />

die meisten Texte der Sammlung zum 2.2.1856 Bezug zu den Kriegsspielen Nietzsches mit<br />

seinen Freunden haben. Doch das ist banal und Lesern der Autobiographie des Sommers 1858<br />

bekannt, muÉte also nicht mehr eigens betont werden; auÉerdem ist nichts davon in Nak je<br />

bestritten worden. In Nak ging es vielmehr darum, was dieses Kind in den vorliegenden Texten<br />

aus seinen Themen gestaltet hat, wie es sie inszeniert und was es an ihnen exponiert:<br />

Durchspielen eines bestimmten Problems in diversen Varianten bspw. als Nebenthema diverser<br />

Texte (Stichwort: kontextorientierte Textinterpretation). Erst unter diesen Voraussetzungen<br />

wird dann deutlich, warum in NaK so argumentiert wurde, wie dort argumentiert wurde;<br />

und warum thematische Sequenzen aufgezeigt wurden bzw. werden konnten.<br />

Wenn der Autor immer wieder auf Nietzsches beide Kinderfreunde verweist, mit denen<br />

Fritz seine Kriegsspiele spielte, fÅr die er ebenso wie fÅr deren Schwestern TheaterstÅcke<br />

schrieb und die – ebenso wie deren VÇter! – in seiner Autobiographie eine so groÉe Rolle<br />

spielen, und aus alledem zu schlieÉen scheint, daÉ die drei Kinderfreunde wenn nicht auf die<br />

nÇmliche so doch auf eine Çhnliche Weise empfunden, gedacht und in die Welt geguckt hÇtten,<br />

so macht er, der doch Sozialkonstellatives so nachdrÅcklich betont, dabei eine weitere<br />

hochproblematische – nach meinem Urteil: geradezu abwegige – Voraussetzung: diejenige<br />

Çhnlichen Erfahrungshintergrunds. Denn der Erfahrungshintergrund ist bei den drei Freunden<br />

extrem divergent: Alle drei sind zwar der nÇmlichen Form engagierter erweckter Christlichkeit<br />

ausgesetzt und besuchten seit 1850 die nÇmliche Klasse derselben Naumburger Schule,<br />

doch mit z.T. erheblich divergentem Lebenshintergrund. Keiner der beiden Freunde hat seine<br />

Heimat verloren; beide empfinden anders als Nietzsche Naumburg als ihre Heimat – Nietzsche<br />

lernte es mÅhsam und nur Åber die wenige Jahre spÇter bereits abblassende Liebe zu seinen<br />

Freunden; beide haben nicht vergleichbare innerfamiliÇre Katastrophen erlebt wie Fritz in<br />

RÄcken, denn die Eltern beider Freunde leben noch, gehÄren sogar zur Naumburger Oberschicht,<br />

sind respektiert und nicht unvermÄgend. Und die VÇter der Freunde sind zufÇlligerweise<br />

die wohl entscheidenden Naumburger KulturtrÇger: der musikalische und offenbar auch<br />

philosophisch interessierte Vater des Freundes Gustav Krug des musikalischen, und der literarisch<br />

orientierte Vater des Freundes Wilhelm des literarischen wie offenbar auch caritativen<br />

Lebens in Naumburg: beide organisierten und leiteten sogar die Naumburger literarische Gesellschaft,<br />

zu deren Veranstaltungen einmal wÄchentlich auch portenser Lehrer mit der Schulkutsche<br />

eintrafen. Vielleicht auch zugunsten der Freundeskonkurrenz und gewiÉ, um seine<br />

Mutter zu erfreuen, hat Fritz seinen an einer Gehirnerweichung gestorbenen Vater in seiner<br />

Biographie nach KrÇften – auch als Prinzessinnenerzieher am Herzogshof in Altenburg 233 –<br />

herausgeputzt. Werden diese und andere Unterschiede berÅcksichtigt, liegt es nahe, in der<br />

Analyse von Nietzsches frÅhen Texten auf Inkonsistenzen bzw. Dissonanzartikulationen eher<br />

zu achten als in denjenigen der beiden vielfach begÅnstigten Freunde, sollte von diesen ein<br />

vergleichbares Œvre je vorliegen. So verwundert auch weniger, daÉ Fritz von frÅh an andere<br />

Wege ging als die beiden Freunde und immer wieder AnlaÉ fand, auf die Bedingungen seiner<br />

eigenen Lebensgeschichte zu reflektieren; und auch aus dieser Perspektive das GesprÇch zumal<br />

mit seiner Mutter zu suchen. Auch deshalb ist tiefenschÇrfere LektÅre insbes. der Ge-<br />

233<br />

Die entsprechenden Passagen hat Nietzsche ein paar Jahre spÇter entfernt bzw. das betreffende<br />

Blatt (nach Aussage von Schwester Elisabeth) aus dem gebundenen Skript selbst herausgerissen. Vorausgesetzt,<br />

es handelt sich dabei nicht um eine Schutzbehauptung, um ihren eigenen Versuch zu verheimlichen,<br />

die Schilderung ihrer Mutter und der Pobleser Verwandten oder aber Hinweise auf die<br />

Vorgeschichte der tÄdlichen Krankheit des gemeinsamen Vaters ihrerseits zu beseitigen. (DaÉ dabei<br />

nicht nur 2, sondern 4 Seiten entfernt wurden, ist eine Entdeckung HÄdls, vgl. dessen Dichtung oder<br />

Wahrheit?, 1994).<br />

150


schenktexte des Kindes fÅr seine Mutter unabdingbar, solange es um ein besseres VerstÇndnis<br />

der Entwicklung Nietzsches sowie des wechselseitigen VerhÇltnisses 234 geht.<br />

Was nun den Geschenkstatus der Geburtstagssammlungen zum 2.2.1856-1858 sowie den<br />

strittigen der Autobiographie von 1858 betrifft, so mag durchaus sein, daÉ das Kind in jede<br />

der drei Sammlungen Texte aufgenommen hat, die ursprÅnglich nicht als Geschenktexte formuliert<br />

waren. Aber einige ‘echte’ Geschenktexte wie das GlÅckwunschgedicht waren in jeder<br />

der Sammlungen von Anfang an dabei; und gerade diese waren – im RÅckblick auf eigene<br />

Erfahrungen – wohl theodizeeproblemhaltig genug. Doch selbst noch ganz frÅhe Geburtstagsgedichte<br />

und NeujahrswÅnsche (I 1, 317-319), die m.W. erstmals Jorgen Kjaer, 1990 235 , ver-<br />

Äffentlicht und interpretativ berÅcksichtigt hat, enthalten (immer im Blick auf die nÇhere Familiengeschichte,<br />

deren Relevanz Nietzsche in jeder seiner frÅhen autobiographischen Aufzeichnungen<br />

nachdrÅcklichst betont) reichhaltige theodizeeproblemhaltige Konterbande, die<br />

einigen AnlaÉ zum Nachdenken bot. 236 Schon die Auswahl der in die Sammlungen zum<br />

2.2.1856-1858 aufgenommenen Gedichte legt die Annahme nahe, daÉ das Kind sich und seiner<br />

Mutter in/mit diesen Gedichten etwas zeigen will, daÉ es versucht, mit ihr Åber gemeinsam<br />

Erlebtes ins GesprÇch kommen, und deshalb in einigen dieser Gedichte Wege begeht, die<br />

nicht nur die eigenen, sondern auch die Interessen seiner Mutter sowie das vertraute Idiom<br />

berÅcksichtigen. So bietet das Kind einerseits jeweils direkte Problemtexte (wie die beiden<br />

Gewitter-Gedichte), aber auch indirekte Problemtexte (wie die Seefahrerlieder, Schilderungen<br />

von KatastrophenfÇllen usw.) sowie eher Neutrales, und andererseits quasi kompensatorisch<br />

passgenau auf die Emotionen seiner Mutter Bezogenes (wie etwa das grandiose Wohin?) sowie<br />

einige besonders brave/fromme Texte, die, wie 1858 die meinerseits als Babypoesie Bezeichneten,<br />

fast schon ins Parodistische kippen, wenn man sie mit anderen zeitgleichen oder<br />

frÅheren (seiner betriebsamen Mutter kaum bekannten) Texten vergleicht. Schreibt das Kind<br />

fÅr sich selbst, bewegt es sich zunehmend in anderen Terrains.<br />

Doch auch hier gibt es ein experimentum crucis, nÇmlich den umfangreichsten Text aus<br />

Nietzsches gesamter Kindheit, einen autobiographischen Prosatext (Aus meinem Leben), den<br />

Fritz im SpÇtsommer 1858 kurz vor Ende seiner Kindheit und vor dem äbergang nach Pforte<br />

fast schon als RÅckblick auf die Naumburger und RÄckener Kindheit bzw. VerhÇltnisse<br />

schrieb.<br />

Die Interpretation dieses Textes, in NaK auf Åber 100 Seiten behandelt (S. 445-567), ist<br />

zwischen Autor und Vf. konsequenterweise in mehrfacher Hinsicht strittig: einerseits im<br />

Blick auf die Hypothese in NaK, der Text selbst sei mehrschichtig; andererseits im Blick auf<br />

die These von NaK, der Text sei keineswegs lediglich als Privattext Nietzsches, sondern als<br />

multifunktional geplant und ausgefÅhrt worden, denn bestimmte EigentÅmlichkeiten legen die<br />

Annahme nahe, daÉ es sich bei diesem Text sogar um einen Text handelt, den sich dieser<br />

schon frÅh multimotiviert agierende Fritz als Geschenk, wahrscheinlich als Weihnachtsgeschenk<br />

1858 (primÇr) fÅr seine Mutter Åberlegt habe; was selbstverstÇndlich nicht ausschlieÉt<br />

(und in NaK auch nicht ausgeschlossen wurde), Fritz habe den Text auch fÅr sich selbst geschrieben.<br />

(Und unabhÇngig davon sichert, daÉ er in Naumburg archiviert blieb; und damit fÅr<br />

234<br />

So hÇtte bspw. auch die ErzÇhlung von Ludger LÅtkehaus: Die Heimholung. Nietzsches Jahre im<br />

Wahn. Basel, 2011, vermutlich gewinnen kÄnnen, wenn der Autor auch bei Fragen der Genese des<br />

hochkomplexen und z.T. tragischen wechselseitigen VerhÇltnisses vor allem die RÄckener und Naumburger<br />

Kindheit Nietzsches stÇrker in seine äberlegungen einbezogen hÇtte.<br />

235<br />

Jorgen Kjaer: Nietzsche, 1990.<br />

236<br />

Wurden sie als so theodizeehaltig gewertet, daÉ sie als wohl Çlteste gedichtartige Texte des Kindes<br />

den Band KGW I 1, 1995, nicht erÄffnen durften, sondern – als dem Kind diktiert oder als von Vorlagen<br />

abgeschrieben – in den Anhang versetzt wurden? Doch immerhin erschienen sie 1995 wenigstens<br />

dort (und wurden nicht ebenfalls aus dem Skript entnommen und fÅr den Nachbericht zurÅckgestellt).<br />

Auf die äberprÅfung der im Nachbericht vorzulegenden Belege, daÉ jeder dieser Texte von dritter<br />

Seite diktiert oder von einer Vorlage abgeschrieben worden sei, freut sich der Verfasser.<br />

151


ihn ebenso wie die Geburtstagssammlungen usw. weiterhin zugÇnglich.) Nun legte HÄdl 1994<br />

– s.o. 1.2. VorlÇufer 2 – eine Kritik der Deutung dieser Autobiographie in dem Sinne vor, daÉ<br />

dieser Text von Fritz ausschlieÉlich fÅr Fritz selbst geschrieben worden sei; und er stellt seine<br />

Auffassung hier in DlJ sogar noch ausfÅhrlicher dar (S. 123ff.). Bezeichnenderweise mit dem<br />

Argument, daÉ in diesem Text nirgendwo stÅnde und auch – fÅr ihn! – an „keinerlei Anzeichen“<br />

(S. 126) erkennbar sei, daÉ Fritz diesen Text als Weihnachtsgabe 1858 fÅr seine Mutter<br />

geplant habe. Und dann wird vÄllig zu recht breit ausgemalt, daÉ dieser Text ein echter Nietzschetext<br />

ist; und woran man das erkennen kÄnne. Als ob das jemals bestritten worden wÇre.<br />

Es ging vielmehr schon vor Jahrzehnten um spezifische EigentÅmlichkeiten dieses Textes,<br />

die in NaK zwar differenziert diskutiert wurden, dessen zahlreiche als Indizien prÇsentierte<br />

Argumente, daÉ dieser Text als Geschenk fÅr Nietzsches Mutter und die engere Familie gedacht<br />

gewesen sei, der Autor leider grÄÉtenteils weiterhin entweder Åbergeht oder, nachdem<br />

das schon 1994 freundlich moniert wurde (NaJ II, S. 757f.), mittlerweile anders einordnet.<br />

Um wenigstens einmal im Detail zu zeigen, was an Argumenten bereits in NaK entwickelt<br />

worden war, um die dort exponierte – 1994 und 2009 vom Autor in Auseinandersetzung mit<br />

NaK bestrittene – Hypothese als wahrscheinlichste zu belegen, fÅge ich ausnahmsweise die<br />

entsprechende Passage als lÇngeres Zitat aus „Zweiter Einschub: zum Sinn dieser Autobiographie“<br />

(S. 512-516) unter Streichung der meisten Anmerkungen, geringfÅgig gekÅrzt und<br />

ansonsten unverÇndert ein:<br />

„So mÄchte ich nun doch meine Vermutung zum Sinn dieses ganzen LebensrÅckblicks nicht weiter<br />

zurÅckhalten, sondern belegen: dieser LebensrÅckblick muÉ, wenn [!!] er einen Nietzsches autobiographische<br />

Interessen noch Åberschreitenden Sinn [!!] gehabt haben soll 237 , ein Geschenk an<br />

Mutter und Schwester (vermutlich als Abschiedsgeschenk anlÇÉlich des äbergangs nach Pforta und<br />

zu Weihnachten 1858) oder eine Art Gesamtgeschenk fÅr die nÇchste Verwandtschaft (einschlieÉlich<br />

Mutter, Erbtante und Schwester) gewesen sein, zumal der Junge annehmen konnte, daÉ er, neu<br />

in Pforta, im SpÇtherbst keine Zeit mehr haben [/] dÅrfte, Geschenktexte fÅr seine Verwandten zu<br />

erstellen; und der Peinlichkeit einer nochmaligen speziellen ‘Weihnachtsgabe’ fÅr seine Mutter<br />

wollte er sich diesmal wohl frÅhzeitig entziehen. Also hat er schlicht vorgearbeitet [...].<br />

Belege fÅr unsere These? Sie sind zahlreich, wenngleich nicht gleichwertig. So entscheidet die Addition.<br />

Zwei Gegenthesen sollten vorher diskutiert werden:<br />

These 1: Nietzsche hat diesen LebensrÅckblick ausschlieÉlich fÅr sich selbst geschrieben; so eventuell<br />

ja auch Elisabeth: „aus eigenem Antrieb, nicht als Schulaufgabe“ (I 15), wenn man dabei Geschenkabsichten<br />

ausschlieÉen wollte;<br />

These 2: der Junge schrieb den Text fÅr Pforta.“<br />

Beides wird S. 513f. zwar problematisiert, doch dabei werden einige Argumente eingebracht,<br />

die dann auch fÅr die obige Ausgangsthese gelten:<br />

237<br />

„Die erste Gegenthese ist nur partiell Gegenthese: da Nietzsche jeden Text, den er schreibt, auch<br />

fÅr sich selbst schreibt [!!], kann davon ausgegangen werden, daÉ er sich als Person gerade in einem<br />

Geschenktext fÅr Mutter und Schwester – damit wÇre gesichert, daÉ der Text fÅr ihn selbst archiviert<br />

wird, ihm stÇndig zugÇnglich ist usw. – einigermaÉen frei bewegen kann, wenn man von<br />

bestimmten Konzessionen, die primÇr den religiÄsen Sprachgebrauch und den Verzicht auf allzu<br />

abstrakte und polemische Bemerkungen implizieren, absieht. Ein Geschenktext an die Mutter ist allemal<br />

ein Zwitter: er ist exo- und esoterisch, so daÉ zumindest zwei Lesarten zu unterscheiden sind.<br />

[Anm. 59, S. 512 von 1991:] ... und daÉ er den durchaus hatte, geht daraus hervor, daÉ der SchÅler,<br />

der oftmals klagte, Åber zu wenig freie Zeit zu verfÅgen, sich so enorm viel Zeit fÅr diesen langen Text<br />

genommen und dabei so viel MÅhe gegeben hat (feine Schrift – Schriftprobe: Faksimile I 16, Gegenseite<br />

–, Daten gesammelt, bombastische religiÄse Diktion in den Anfangs- und SchluÉpassagen), und<br />

inhaltlich: Spuren bis zur Unkenntlichkeit verwischt!<br />

152


238<br />

Gegen die These, daÉ der Junge diesen Text ausschlieÉlich fÅr sich selbst geschrieben hat, sprechen<br />

vor allem inhaltliche GrÅnde, die wir besprochen haben, aber auch exoterisch-Çsthetische Gesichtspunkte<br />

(etwa in der Schilderung des TheaterstÅcks). FÅr die These, der Text sei als verwandtenorientierter<br />

Geschenktext zu deuten, spricht hingegen, daÉ der Junge in seiner Geschenkauswahl in<br />

der Regel frei war und daÉ auch der ÇuÉere AnlaÉ – AbschluÉ der Untertertia (und geahnter/gewuÉter<br />

238 ) äbergang nach Pforta – es durchaus legitimierte, auf die vergangenen Jahre ausfÅhrlicher<br />

zurÅckzublicken. So lieÉen sich Nietzsches autobiographische Intentionen einerseits und seine<br />

Geschenkabsichten sowie -verpflichtungen andererseits optimal verbinden.<br />

Die zweite Gegenthese ist weniger leicht zu widerlegen und vor allem kaum zu integrieren. Mir erscheint<br />

es deshalb nicht plausibel, daÉ Nietzsche seine Autobiographie fÅr Pforta schrieb, weil sie<br />

1. sonst in Pforta archiviert worden wÇre und weil<br />

2. die SchÅler als ersten Klassenaufsatz in Pforta einen LebensrÅckblick (Aus meinem Leben) zu<br />

geben hatten. Da aus vielen Berichten deutlich wird, daÉ Pforta zum Zeitpunkt des Eintritts von<br />

Nietzsche eine seriÄse Anstalt war, halte ich es fÅr unwahrscheinlich, daÉ durch einen derartigen<br />

Aufsatz zuvor eingereichte Biographien ÅberprÅft werden sollten – oder umgekehrt.<br />

Eine Reihe weiterer und vielleicht Åberzeugenderer GrÅnde lÇÉt sich aus Nietzsches Text selbst ableiten,<br />

wenngleich keinem der Belege Beweiskraft zukommt. Nietzsche hat im Text<br />

3. so ausfÅhrlich von sich und seinen Interessen gesprochen, daÉ die Grenze zur Egozentrik z.T.<br />

Åberschritten sein dÅrfte; ich vermute, das war ihm bewuÉt. Auf diese Art hÇtte er sich in der ihm<br />

unbekannten Anstalt kaum prÇsentiert. AuÉerdem: im Text selbst spricht der Junge<br />

4. Åber seine Musikinteressen und die Auseinandersetzungen mit dem ‘NeutÄner’ Gustav so, daÉ er<br />

diesen Text kaum einem Unbekannten vorgelegt hÇtte. Des weiteren:<br />

5. die religiÄsen Phrasen sind so penetrant und<br />

6. die Kontrastarrangements so massiv, daÉ der Junge zu vorsichtig gewesen sein dÅrfte, dergleichen<br />

Fremden zugÇnglich zu machen, deren Intelligenz er nicht abzuschÇtzen wuÉte.<br />

7. Sein Vater wird ebenso hervorgehoben wie der Bezug zur Mutter und Schwester unberÅcksichtigt<br />

gelassen; wenngleich die ‘patriarchalische’ Orientierung Pfortas auch dem Jungen bekannt gewesen<br />

sein dÅrfte, ist der Kontrast zu massiv. (Weitere Gegenargumente lassen sich aus der BeweisfÅhrung<br />

zugunsten der Geschenktext-These unschwer ableiten.)<br />

Nun aber zu den Belegen fÅr meine Vermutung, daÉ es sich bei der Autobiographie um einen Geschenktext<br />

entweder an die restlichen Mitglieder der eigenen Familie [also an Nietzsches Mutter<br />

einschlieÉlich der kleinen Schwester, d. Vf.] oder aber an die nÇhere Verwandtschaft (eigene Familie<br />

und Tante Rosalie) handeln dÅrfte.<br />

1. WÇhrend der Junge jahrelang seine Mutter zu Weihnachten und zu ihrem Geburtstag mit Geschenktexten<br />

bedachte, ist kein Weihnachtsgeschenktext von 1858 vorhanden. Es ist aber ausgeschlossen,<br />

daÉ Nietzsche seiner Mutter nichts schrieb; und es ist ebenso ausgeschlossen, daÉ die<br />

Mutter ihr Geschenk nicht verwahrte.<br />

2. Nietzsche klammert sich als Person gerade in seinem intellektuellen Wachstum fast vÄllig aus;<br />

hingegen nehmen (die?) Emotionen des Kindes in der Darstellung einen breiten Raum ein. Das<br />

dÅrfte ebenso adressatenorientiert sein wie das Sichverstecken hinter religiÄsen Phrasen, die so penetrant<br />

auftreten wie sonst nur in Weihnachtstexten. Erinnern Sie sich an die „Kleine Weihnachtsgabe<br />

fÅr meine liebe Mutter“ vom Vorjahr?<br />

3. Wer kann sich Åber den Klimbim, der Åber das so zentrale TheaterstÅck ausgesagt wird, schon<br />

freuen, wenn nicht die Schwester, die als kleines MÇdchen eine GÄttin spielen durfte und sich fÅr<br />

die KostÅmiererei besonders interessiert haben dÅrfte?<br />

Also: zwar nur ein Indizienbeweis, aber es dÅrfte wohl jetzt schon reichen. Ein viertes Argument<br />

kÄnnen wir nachliefern, wenn wir<br />

4. die Liste der fÅr die erste Periode erwÇhnten Gedichte berÅcksichtigen: Die Liste beginnt mit –<br />

der Gedichtssammlung fÅr den Geburtstag der Mutter 1856! Die neun Gedichte sind die ersten<br />

neun der Reihe. GenÅgt der Beweis?<br />

[Anm. 60, S. 513 von 1991:] Elisabeth schildert ihr Entsetzen, als sie von dem Freistellenangebot<br />

an Fritz erfuhr; doch es ist nicht unwahrscheinlich, daÉ der diskrete Bruder sie von den bevorstehenden<br />

VerÇnderungen nicht informierte, da er ihre Traurigkeit – und ihre Szenen? – fÅrchtete. [Zus.<br />

2011: Der Frage „Wie ich nach Pforta kam“ ist in NaJ I, 1993, S. 214-235, ein Kapitel gewidmet.]<br />

153


5. Gegenprobe: selbstverstÇndlich ist keines der ‘kritischen’ Gedichte aufgenommen, also keine der<br />

drei Phantasien, von denen die erste Åbrigens prachtvolle Bosheiten gegen die Schwester enthÇlt<br />

(wie schon Werner Ross betont hat). Als Belege<br />

6. + 7. kann ich schon vorweg ankÅndigen: die Listen der Gedichte aus den beiden folgenden Perioden,<br />

die ebenfalls fast alles ausklammern, was unserer Meinung nach fÅr den spÇteren Nietzsche<br />

weiterfÅhrend war, die Geburtstagsgedichte an die Mutter hingegen groÉteils enthalten, das persÄnliche<br />

ErÄffnungsgedicht an sie bezeichnenderweise immer an erster Stelle.<br />

8. Wenn ich sage, daÉ die Geburtstagsgedichte „groÉteils“ enthalten sind, dann kÄnnen Sie sich<br />

wahrscheinlich schon ausrechnen, welche Texte fehlen dÅrften... Gewonnen? Das „Schifferlied“<br />

fehlt ebenso wie „Colombo“. „Zwei Lerchen“ ist sogar dabei, aber das kÄnnen Mutter und Schwester<br />

nicht entschlÅsseln. Interpreten haben es ja auch nicht gekonnt.<br />

9. Und noch ein Argument fÅr den Geschenkcharakter: Schulpforta wird im Text nicht erwÇhnt,<br />

was verwundert. WÇre es nicht etwas riskant gewesen, sich, ohne zu wissen, wie alles wird, schon<br />

vorweg in Kalligraphie darÅber zu ÇuÉern?“<br />

Soweit in NaK 1991. Und dazu direkt der Autor noch 2009 in DlJ: „Man muss jedoch festellen,<br />

daÉ es zwar einige Indizien gibt, die dafÅr sprechen, daÉ es sich nicht um einen ‘Geschenktext’<br />

handelt, wÇhrend keinerlei [!!] Anzeichen dafÅr vorhanden sind, dass es sich um<br />

einen solchen handelt, wenn man die von Schmidt darin vorgefundene ‘Kontrastkompositionentechnik’<br />

abzieht.“ (S. 126f.) Nehmen wir den Autor ernst und ziehen von den oben aus<br />

NaK zitierten Indizien die ‘Kontrastkompositionentechnik’ ab, was bleibt dann nur noch Åbrig?<br />

SÜmtliche Indizien? Ein unbegreiflicher Blindheitsbeleg, Demonstration interpretativer<br />

Nonchalance oder doch ein klassisches ‘Bluff’-Beispiel? GlÅcklicherweise argumentiert der<br />

Autor meistenteils zwar seriÄser, doch schon dieses Zitat legt die Frage nahe, wie es mÄglich<br />

ist, daÉ ein Hans Gerald HÄdl, der in der zweiten HÇlfte von DlJ z.T. beeindruckend zu argumentieren<br />

weiÉ und zeigt, daÉ er sein Handwerk versteht, sich hier derartige BlÄÉen gibt? Die<br />

Argumentation in NaK lieÉe sich nÇmlich noch mit zusÇtzlichen Argumenten als weiterhin<br />

bestbelegte Hypothese stÅtzen, doch ich denke, es reicht dann lÇngst, wenn ich noch kurz sieben<br />

weitere Argumente, nÇmlich die nun in DlJ erstmals exponierten (a-c) drei zentralen Gegenargumente<br />

bzw. oben inserierten Indizien berÅcksichtigte, auÉerdem (d-f) drei in Nak<br />

nicht mehr aufgelistete, aber erschlieÉbare, Punkte nachtrage, die der Autor offenbar ebenfalls<br />

nicht beachtet hat, und (g) mit einem weiteren Punkt abschlieÉe, den er, wÇre er nicht fast<br />

instinktiver (herkunftsmÇÉig jedoch nachvollziehbarer) Feind eigener Gegenproben, ebenfalls<br />

selbst hÇtte finden mÅssen.<br />

Zuerst also zu den Gegenargumenten des Autors (S. 126f. incl. Anm. 317). Es sind vor allem<br />

drei – und jedes ist nach meiner EinschÇtzung anachronistisch: (a) Einerseits verweist er<br />

auf die in Pforta im Winter 1858/59 gefÅhrte Korrespondenz mit Freund Wilhelm Åber die<br />

WeiterfÅhrung ihrer biographischen BemÅhungen; (b) andererseits auf die Tatsache, daÉ diese<br />

Autobiographie des Sommers 1858 im April 1861 in Naumburg in einem Kasten lag, in welchem<br />

auch andere Sachen Nietzsches lagen. Wie so oft, fÅhrt der Autor Fakten auf, die als<br />

Fakten zwischen uns unstrittig sind, verwendet sie jedoch zugunsten einer BeweisfÅhrung,<br />

deren argumentative QualitÇt nicht annÇhernd leistet, was er sich von ihr verspricht; vorausgesetzt,<br />

er will nicht – ‘was dieser Autor so alles weiÉ’? – bluffen. Was fortgefÅhrte biographische<br />

BemÅhungen und was der Austausch des im Winter 1858/59 Geschriebenen zwecks<br />

wechselseitiger LektÅre zur Entscheidung darÅber beitragen, ob Monate zuvor ein erster Teil<br />

einer Biographie, die damals vom Freund ja gegengelesen worden sein dÅrfte, als ein fÅr ihn<br />

selbst wohl jederzeit zugÇngliches Geschenk an Dritte intendiert gewesen war oder auch nicht<br />

– eine Intention, die spÇter realisiert worden sein mag; oder angesichts geÇnderter UmstÇnde<br />

auch nicht –, ist hoffentlich nicht nur dem Vf. nicht erfindlich. Das gilt nicht weniger fÅr die<br />

Frage der Relevanz des Depots dieser Biographie im Jahre 1861 fÅr die Entscheidung in der<br />

Frage der Intention der Biographie des Sommers 1858. Nietzsches Mutter hat ihre Geschenke<br />

offenbar nicht versteckt, denn sonst hÇtte Nietzsche die Titel und die genaue Reihenfolge der<br />

154


in die Geschenksammlungen zum 2.2.1856-1858 aufgenommenen Gedichte im Sommer 1858<br />

kaum so akkurat aufschreiben kÄnnen; vielleicht hat Nietzsches Mutter ihrem Sohn ihr Geschenk<br />

wieder zugÇnglich gemacht – oder ihm ist dann doch noch ein anderes Weihnachtsgeschenk<br />

eingefallen, von dem wir aber nichts wissen, so daÉ er seine Biographie behalten<br />

konnte. Es ging in NaK jedenfalls um Fragen u.a. nach Intentionen, die der Text vom Sommer<br />

1858 fÅr den Zeitraum seiner Niederschrift aufwirft, die kaum mit Verweis auf SpÇteres eindeutig<br />

genug negativ entschieden werden kÄnnen, wenn eine Serie von Pro-Indizien vorgestellt<br />

ist. Der nÇmliche Einwand gilt auch (c) fÅr HÄdls drittes Fragezeichen: Ob die Art, wie<br />

Nietzsche seine Christentumskritik spÇter (wie bspw. in Fatum und Geschichte, um Ostern<br />

1862) begrÅndet, mit der NaK-Interpretation von Nietzschetexten der Jahre 1856 bis Sommer<br />

1858 kompatibel ist oder nicht, entscheidet u.a. einerseits nur dann Åber die Stichhaltigkeit<br />

der NaK-Interpretationen, wenn davon ausgegangen werden kÄnnte, daÉ Nietzsches Argumentationen<br />

von hoher Konstanz gekennzeichnet wÇren – Konstanz gilt eher fÅr seine Motive,<br />

Themen und viele Bilder, doch kaum Åber lÇngeren Zeitraum auch nur fÅr eine einzige<br />

seiner ‘BegrÅndungen’ –, und andererseits setzt das voraus, daÉ man der Identifikation und<br />

Diskussion von theodizeeproblemhaltigen Kontrastarrangements nicht – wie HÄdl bspw. im<br />

Blick auf den in NaK breit diskutierten 1. Absatz des RÅckblicks der Autobiographie vom<br />

Sommer 1858 – auszuweichen scheint.<br />

Der die NaK-Argumentation ergÇnzende erste Punkt: (d) Der umfangreichste zitierte Text<br />

in der gesamten Autobiographie stammt aus „einer kleinen Festschrift“ und ist wenig Åberbietbar<br />

herzig, bejubelt den HÄhepunkt der zuvor geschilderten Weihnachtsfreuden (I 25 bzw.<br />

I 1, 304). Er stammt wÄrtlich aus der Kleinen Weihnachtsgabe fÄr meine liebe Mutter von<br />

1857, und paÉt als indirekte Ansprache an sie, die groÉe Spenderin und Organisatorin von<br />

Geschenken selbst noch (dank der sorgsam gepflegten Verbindung mit verschiedenen Personen<br />

der Herzogsfamilie und einer Hofdame) aus Altenburg, zwar glÇnzend zu dem NaK-<br />

Argument, daÉ wie erwÇhnt die den Jahren 1855-1858 zugeordneten Gedichtlisten (I 28f.<br />

bzw. I 1, 308) jeweils mit Gedichten erÄffnet wurden, die den Geburtstagssammlungen fÅr<br />

Nietzsches Mutter entstammen und an diesen Sachverhalt des mutterehrenden Sohnes diskret<br />

erinnern sollen; doch Kannitverstan sagt weiterhin: Nein?<br />

Der zweite Punkt: (e) daÉ Nietzsche im Sommer 1858 durchaus an Weihnachten gedacht<br />

hat, belegt das Gedicht Weihnachten (I 444 bzw. I 1, 276) aus dem Zeitraum der Niederschrift<br />

der Autobiographie.<br />

Ein dritter Punkt: (f) Dieser Text hat auch die ÇuÉeren fÅr Geschenktexte charakteristischen<br />

Merkmale, also hochwertigeres Papier, SchÄnschrift in wenigen Zeilen usw.<br />

Zum letzten, vielleicht etwas weniger offensichtlichen Punkt (g): Wenn HÄdl nÇmlich betont,<br />

daÉ Nietzsche diesen Text nur fÅr sich selbst geschrieben hat, und sich vor allem mit<br />

dem Argument, im Text stÅnde nicht, daÉ er ein Geschenk ist, gegen die MÄglichkeit einer<br />

Geschenkabsicht, die Monate spÇter schlieÉlich nicht eingehalten worden sein muÉ, ausspricht,<br />

muÉ er angesichts der FÅlle der in NaK prÇsentierten Pro-Indizien und des minimalen<br />

kognitiven Gehalts seines Einwandes wohl davon ausgehen, daÉ dieser Text als Geschenk<br />

anders ausgefallen wÇre als der vorliegende Text, dessen potentiellen Geschenkstatus der Autor<br />

spÇtestens seit 1994 bestreitet. Das wÅrde dann wohl bedeuten, daÉ fÅr den Autor einerseits<br />

in dem vorliegenden Text nichts zu finden ist, was er als fÅr einen Geschenktext von<br />

Fritz typisch ansieht bzw. daÉ in einem Geschenktext etwas enthalten sein mÅÉte, was der<br />

vorliegende Text jedoch nicht enthÇlt. Oder daÉ HÄdl andere GrÅnde hat, die er nicht artikuliert,<br />

weshalb dieser Text nicht als Geschenktext intendiert gewesen sein darf. MuÉ denn in<br />

einem Text selbst eine Widmung stehen? Und wo sind Kriterien fÅr diese Differenz in DlJ<br />

exponiert? SchlieÉlich: Warum ist die Aufrechterhaltung dieser Differenz – es gibt zwar Geschenktexte<br />

fÅr Nietzsches Mutter, aber diese Autobiographie gehÄrt ganz gewiÉ nicht dazu –<br />

fÅr den Autor denn so wichtig? Dabei waren die schon in Nak vorgelegten Indizien fÅr die<br />

Geschenkhypothese so reichhaltig, daÉ zu erwarten gewesen – und wozu m.E. der Autor we-<br />

155


nigstens in einer Habilitationsschrift auch verpflichtet gewesen – wÇre, sie korrekt zu referieren<br />

und sie dann auch Punkt fÅr Punkt zu widerlegen. Doch kaum etwas davon geschieht; wie<br />

schon 1994 geht er meinen zahlreich angefÅhrten Indizien als Indizien weitgehend aus dem<br />

Wege, entwickelt lieber eigene, z.T. hochinteressante äberlegungen, als sich sehr konkret auf<br />

die entsprechenden Passagen von NaK zu beziehen, deren Ergebnisse dann jedoch den Gegenstand<br />

seiner Kritik und seines ablehnenden Urteils bilden. 239<br />

So konzentriert sich diese Metakritik nach Auseinandersetzung mit dem bis zuletzt aufgesparten<br />

Totschlagargument eines wenig hermeneutischen Zirkels (hier nun in 3.5.4.) und des<br />

Autors Zusammenfassung seiner Nak-Kritik (in 3.5.5.) nunmehr auf die offenbar entscheidende<br />

Frage: warum darf denn dieser Text offenbar um keinen Preis als Geschenktext 240 insbes.<br />

zu Weihnachten 1858 fÅr Nietzsches Mutter oder fÅr die nÇhere Familie – Mutter, Schwester<br />

und Tante Rosalie – angenommen werden? Ihre Beantwortung ist fÅr des Autors äberlegun-<br />

239<br />

Warum bringt er sich in eine so leicht angreifbare Position? Des Autors Methode, die Diskussion<br />

bestimmter Texte Nietzsches in – nach meinem Urteil – z.T. Anachronismen berÅhrender Manier in<br />

seiner generell chronologisch orientierten Darstellung dennoch teils vorzuziehen – wie bspw. ein Gedicht<br />

des SechzehnjÇhrigen in das „biographische Setting von Nietzsches Kindheit“ (S. 30-42) – teils<br />

zeitlich zurÅckzustellen, fÅhrt nun dazu, daÉ S. 166-178 in der Darstellung von „Nietzsches Bildungsprogramm<br />

in der Naumburger Autobiographie von 1858“ Informationen nachgetragen und weitere<br />

Auseinandersetzungen mit NaK gefÅhrt werden, die hier in 3.5.3. hÇtten berÅcksichtigt werden mÅssen,<br />

ohne daÉ seitens HÄdls jedoch ein expliziter Hinweis auf NaK erfolgt, erschwert ebenso wie der<br />

Ort seiner Diskussion vorgegebener Rollenbilder (S. 161-165), die Texten gilt, die das Kind vor eigenen<br />

Produktionen als Festtagsgedichte zu Geburtstagen oder Neujahr abgeschrieben oder diktiert erhalten<br />

haben soll, eine auf die direkte NaK-Analyse HÄdls, S. 68-131, beschrÇnkte Metakritik ungemein.<br />

So mÅÉten im Fortgang von DlJ stÇndig NachtrÇge in meine Anmerkungen eingefÅgt werden,<br />

was jedes Konzept sprengt. Alternative wÇre eine Kritik an den in DlJ vorgetragenen Aussagen zu<br />

Texten aus Nietzsches Kindheit (unabhÇngig von deren Ort in DlJ, an dem sie zur Sprache kommen)<br />

bspw. in streng chronologischer Folge (der Texte Nietzsches) oder nach systematischen Gesichtspunkten.<br />

So besteht das kleinere DarstellungsÅbel wohl in widerwilliger BeschrÇnkung des Verfassers auf<br />

HÄdls direkte NaK-Kritik lediglich der Seiten 68-131 (und ggf. HinzufÅgung weniger EinwÇnde in<br />

Parenthese oder in den Anmerkungen, ‘wenn’s noch allzudick kommt’).<br />

240<br />

Die Forderung, daÉ es sich bei diesem Text um einen Geschenktext handelt oder daÉ eine Geschenkabsicht<br />

vorliegt, mÅsse in dem betreffenden Text selbst eindeutig ausgedrÅckt werden, um einen<br />

Text als intendierten Geschenktext ansehen zu kÄnnen, erscheint mir dann unberechtigt, wenn<br />

einerseits fÅr die Hypothese einer Geschenkintention zahlreiche Indizien angefÅhrt und andererseits<br />

alternative Hypothesen – in diesem Falle: nur fÅr sich selbst geschrieben; oder aber im Zusammenhang<br />

mit der Aufnahme in der Landesschule Pforta – ÅberprÅft werden; auch dann „zahlreiche Indizien<br />

angefÅhrt“, wenn der Autor in seiner Kritik 1994 ebenso wie 2009 nahezu jeden Hinweis darauf<br />

unterlÇÉt.<br />

Der Ausdruck „Geschenktext“ wird in NaK ebenso wie hier im weiten Sinne von „geschenktem<br />

Text“ gebraucht. Im engeren Sinne hingegen impliziert „Geschenktext“, daÉ dieser Text bereits vor<br />

seiner Entstehung als Geschenk konzipiert wurde, also adressatenorientiert ausfÇllt und je nach EinschÇtzung<br />

des Adressaten vielleicht sogar mit ihm ein GesprÇch aufzunehmen sucht; eine Gleichsetzung<br />

des engeren Sinns von „Geschenktext“ mit dem Weiteren bzw. mit „geschenktem Text“ wÇre<br />

irrig, denn geschenkte Texte kÄnnen ja auch Texte sein, die Fritz zwar fÅr sich selbst schrieb, spÇter<br />

aber dann doch als Geschenke verwendete. Das bedeutet im UmkehrschluÉ, daÉ zumal der Mutter<br />

geschenkte Gedichtsammlungen heterogenes Material enthalten dÅrften: Gedichte, die Fritz fÅr sich<br />

selbst schrieb, mit denen er aber Geschenksammlungen auffÅllte oder ausbalancierte, wenn er zu wenig<br />

‘echte’ Geschenkgedichte hatte (wie bspw. zum 2.2.1860). Im Einzelfall zu unterscheiden dÅrfte<br />

schwierig sein, doch wenn Gedichte bspw. fÅr seine Mutter Theodizeeprobleme auf eine spezifischere<br />

Weise formulieren als privat gebliebene Gedichte, dÅrfte dies ein Hinweis darauf sein, daÉ wir es bei<br />

diesen Gedichten dann mit Geschenkgedichten im engeren Sinn zu tun haben; und nicht mehr nur mit<br />

geschenkten.<br />

156


gen und seine interpretativen PrÇmissen aller Wahrscheinlichkeit nach so weichenstellend,<br />

daÉ sie erst in 3.6. diskutiert wird.<br />

3.5.4. Problemanzeige 3: Ein wenig hermeneutischer Zirkel in NaK?<br />

Bis direkt vor seine Zusammenfassung spart sich der Autor ein wohl als besonders zentral<br />

bewertetes kritisches Argument auf: den Vorwurf eines unhermeneutischen sehr basalen argumentativen<br />

Zirkels der Interpretationen von NaK. Das Argument betrifft die Differenz von<br />

„exoterischer“ und „esoterischer“ Sprechweise des Kindes und sei mit Ausnahme der 3 FuÉnoten<br />

Nr. 322-324 ungekÅrzt zitiert:<br />

„Schmidt will aber zwischen einer ‘exoterischen’ und einer ‘esoterischen’ 322 Sprechweise des<br />

Knaben unterscheiden. Die Kriterien dafÅr kann er aber nur aus der Unterscheidung von Privattext<br />

und Geschenktext 323 ziehen. Mit der Einschreibung der aus dieser Unterscheidung gewonnenen<br />

Beschreibung der literarischen Strategie des Knaben in Texte, deren Charakter als ‘Äffentlicher’<br />

Text 324 nur aus der Konstatierung des Vorhandenseins nÇmlicher Strategie erschlossen wird, gerÇt<br />

er jedoch in einen Zirkel, der mir gerade kein hermeneutischer zu sein scheint. Er setzt, kurz gesagt,<br />

voraus, was er beweisen will. Sowohl in der Biographie aus 1858 als auch im Tagebuch von<br />

1859 konstatiert er ParadefÇlle von angeblich nur im Hinblick auf familiÇre Leserschaft entstandenen<br />

Formulierungen, ohne daÉ er einen Beweis dafÅr, dass hier im Hinblick auf gerade diese Rezipienten<br />

formuliert wird, bringt, der darÅber hinausginge, dass des Knaben Texte eben naturgemÇÉ<br />

in diesem Kontext formuliert sind. Sind sie das aber nun, so gilt dies fÅr alle Texte des Knaben.<br />

Somit fÇllt aber die ganze Unterscheidung im Ansatz weg. Das bedeutet wiederum nicht, daÉ man<br />

nun von der Lesart, diese Texte dokumentierten den Weg Nietzsches zu sich selbst, abgehen mÅsste,<br />

allerdings wird man gegenÅber der ‘Wahrheit’ oder ‘VerlÇsslichkeit’ von Nietzsches Formulierungen<br />

zu einer anderen EinschÇtzung gelangen. Sicherlich kann man aus diesen Texten Konflikte<br />

ablesen. Diese sind jedoch nicht primÇr als Abwehr einer eindeutig identifizierbaren Umwelt und<br />

des BemÅhens, sich von ihr zu emanzipieren, anzusehen, sondern sie sind in ‘Nietzsche’ selbst eingetragen.“<br />

(S. 128f.)<br />

Vor der Analyse viererlei. Das eine dichte Argumentation beinhaltende Zitat belegt (a) eine<br />

als basal gewertete Kritik an NaK (und konkretisiert diese an zwei Beispielen), bietet (b) am<br />

Ende des Zitats eine als different behauptete These, die jedoch auf der Basis einer kaschierten<br />

äbernahme einer Auffassung von NaK einen Unterschied suggeriert, der eher mittels einer<br />

Problemverschiebung ‘begrÅndet’ als deutlich genug spezifiziert ist, impliziert (c) den vielleicht<br />

zentralen, entscheidenden Sachverhalt, daÉ selbst dann, wenn diese obige Kritik (a)<br />

berechtigt und wenn die NaK-Sichtweise meinerseits nicht hinreichend begrÅndbar wÇre, damit<br />

auch dann noch keine einzige der in NaK als theodizeeproblemhaltig oder theodizeeproblemkritisch<br />

behaupteten Aussagen als nicht theodizeeproblemhaltig oder nicht theodizeeproblemkritisch<br />

aufgewiesen wÇre, solange der Autor ohne zuvor erfolgte prÇzise Textanalyse<br />

lediglich bemÅht zu sein scheint, ganz generell Theodizeehaltigkeit von Texten des Kindes<br />

zu verharmlosen. SchlieÉlich bietet der knappe Text (d) 2 Musterbeispiele einer Argumentationsstrategie,<br />

die von schlichtem Bluff trennscharf genug zu unterscheiden dem Vf.<br />

wieder einmal nicht gelingt; und deshalb als Beispiel auch ansonsten praktizierter Strategeme<br />

ebenfalls berÅcksichtigt seien.<br />

Um den Stellenwert des in DlJ aufgezeigten bzw. behaupteten Zirkels sowie einige seiner<br />

Voraussetzungen bereits vorweg zu klÇren, gehe ich zugunsten der AbkÅrzung meiner Argumentation<br />

nun in umgekehrter Reihenfolge vor.<br />

Zuerst exemplarisch zu (d). Der Autor prÇsentiert hier zwei seine Diagnose eines wenig<br />

hermeneutischen Zirkels legitimierende Beispiele bzw. Belege (d1 und d2). Was leisten sie?<br />

Wenn der Autor in einer sich bisher exklusiv auf Nietzsches Kindertexte konzentrierenden<br />

Kritik als (d2) zweiten Beleg nun Åberraschenderweise auf einen Text 241 zurÅckgreift, der<br />

241<br />

Friedrich Nietzsche: Pforta. v. Nietzsche. – 1859. (I 116-154 bzw. I 2, 98-136) aus dem Zeitraum<br />

vom 6. August bis zur 2. OktoberhÇlfte 1859 (vgl. Hermann Josef Schmidt, NaJ I, 1993, S. 440-471).<br />

157


ereits aus der Endphase des 2. und der Anfangsphase des 3. portenser Semesters nach Nietzsches<br />

Kindheit stammt, (wieder einmal) ohne jedoch auf Argumente des Vf.s einzugehen, ist<br />

diese Strategie m.E. von Bluff oder Argumenterschleichung zwar kaum zu unterscheiden,<br />

dennoch aber aufschluÉreich: Gelang dem Autor nicht, ein zweites Textbeispiel aus Nietzsches<br />

Kindertexten anzufÅhren? So hÇngt seine Argumentation wiederum an (d1) Nietzsches<br />

Autobiographie des Sommers 1858, dem ersten von ihm angefÅhrten Beispiel bzw. Beleg<br />

(dazu oben 3.5.3.). Und hier unterscheidet zwischen seriÄser Diagnose oder ebenfalls schlichtem<br />

Bluff vor allem die Deutung dessen, was der Autor unter „Beweis“ 242 versteht bzw. welche<br />

Kriterien er hierbei ansetzt. Deutlich ist: Je ambitionierter die Beweiskriterien sind bzw.<br />

‘je hÄher die Latte gelegt ist’, Åber die zu springen ist, desto geringer die Wahrscheinlichkeit,<br />

ihnen entsprechen zu kÄnnen, bzw. desto hÄher die Wahrscheinlichkeit, daÉ der Kritiker recht<br />

behÇlt. Und vom kritisierten Text Leistungen bzw. Merkmale einfordert, die der Kritiker<br />

selbst jedoch nicht einmal ansatzweise erbringt? Also kommt es auf die situative usw. Angemessenheit<br />

der Kriterien an. Was formuliert dazu der Autor? Er formuliert, es seien in NaK<br />

„ParadefÇlle von angeblich nur im Hinblick auf familiÇre Leserschaft entstandenen Formulierungen“<br />

konstatiert worden, ohne daÉ jedoch der Vf. „einen Beweis dafÅr, dass hier im Hinblick<br />

auf gerade diese Rezipienten formuliert wird,“ erbracht hÇtte, „der darÅber hinausginge,<br />

dass des Knaben Texte eben naturgemÇÉ in diesem Kontext formuliert sind.“ Als ob nicht<br />

EigentÅmlichkeiten der Sammlungen zum 2.2.1856-1858 als GesprÇchsangebote an Nietzsches<br />

Mutter diskutiert und gegen andere Texte wie bspw. Griechengedichte, die nicht als<br />

Geschenktexte verwandt wurden, abgehoben worden wÇren. So haben also die vom Autor<br />

gesetzten Kriterien fÅr den von ihm geforderten Beweis darÅber hinauszugehen, „dass des<br />

Knaben Texte eben naturgemÇÉ in diesem Kontext formuliert sind.“ Doch was heiÉt hier „naturgemÇÉ“?<br />

DaÉ die Texte „in diesem Kontext formuliert sind“ ist unstrittig; diesen Sachverhalt<br />

eigens zu betonen also so banal, daÉ nur die Kenntnis der Interpretation des harmlosen<br />

WÄrtchens „naturgemÇÉ“ durch den Autor weiterhelfen wÅrde, um zu eruieren, welche Beweiskriterien<br />

er als erforderlich ansieht usw. Nun wurde „naturgemÇÉ“ aber in keinerlei Hinsicht<br />

auch nur andeutungsweise spezifiziert. So, wie sich der Text liest, handelt es sich aus<br />

weltanschauungskritischer Perspektive vielleicht schon bei „Beweis“, mit an Sicherheit grenzender<br />

Wahrscheinlichkeit aber bei „naturgemÇÉ“ um einen argumentativen Joker, dessen<br />

nahezu freie Verwendbarkeit dem Autor erlauben wÅrde, jeweils das seine Kritik Aufwertende<br />

hier ad hoc entsprechend einfÅhren zu kÄnnen. Nahegelegt wird diese Hypothese auch<br />

durch die Art des Umgangs zwar nicht mit ‘Beweisen’, durchaus aber mit den zahlreichen<br />

Indizien (vgl. oben 3.5.3.), die Vf. bereits in NaK, 1991, angefÅhrt hat, um dessen Hypothese,<br />

es handele sich bei dieser Autobiographie um ein intendiertes Geschenk an Nietzsches Mutter<br />

usw., in ihrer PlausibilitÇt so zu erhÄhen, daÉ keine relevanten Gegenargumente mehr anfallen.<br />

Haben wir es hier nicht eher mit einem Paradefall von Argumentationsverweigerung des<br />

Autors zu tun? Jedenfalls leistet auch das vom Autor als erstes Beispiel AngefÅhrte wenig<br />

oder sogar nichts zugunsten seines Beweises der Zirkelstruktur der Argumentation von NaK.<br />

242<br />

Des Autors Manier, gegenÅber NaK-Interpretationen stÇndig auf ‘Beweisen’ zu insistieren, seinerseits<br />

jedoch munter zu spekulieren oder den Eindruck zu erwecken, ggf. nach Bedarf zu bluffen, dabei<br />

selbst elementarste Sachverhalte (vgl. 3.4.4.4.1.-4.) groÉzÅgig zu Åbergehen oder Fakten (wie in<br />

3.4.4.2. wohl belegt) zugunsten eigener Vorannahmen auf spezifische Weise zu prÇsentieren, selbst im<br />

Dutzendpack aufgefÅhrte Indizien jedoch zu Åbergehen, liefert einerseits wunderbare Beispiele fÅr die<br />

in 3.8.1. monierte inverse Beweislastverteilung usw.; und widerspricht andererseits anderenorts sorgsam<br />

und erfreulich abgewogen formulierten Passagen. So stellt DlJ nicht nur ein Ensemble recht unterschiedlicher<br />

und nur z.T. dicht vernetzter EinzelbeitrÇge dar – in meinen Rezensionen sprach ich<br />

deshalb von „InselhÅpfen“ -, sondern der Autor wechselt (fast wie ein Drummer Rhythmen) auch innerhalb<br />

einzelner BeitrÇge und zumal in seiner NaK-Kritik in irritierender Bandbreite zwischen unterschiedlichsten<br />

argumentativen Niveaus.<br />

158


Also mÅÉte die Argumentation des Autors auf andere Beweise oder wenigstens Belege rekurrieren,<br />

um ihrem Anspruch zu entsprechen. Doch wo sind sie?<br />

Die Annahme (c) liegt nahe, denn der Aufweis von Theodizeeproblemhaltigkeit eines Textes<br />

ist nicht davon abhÇngig, ob der Text als exo- oder als esoterisch verstanden ist, sondern<br />

von seiner Formulierung; diese freilich kann in ihrer mÄglicherweise spezifischen Art ggf.<br />

besser verstanden werden, wenn eine Exo- und Esoterikdifferenz interpretativ einsichtig oder<br />

wenigstens plausibel gemacht und wenn der soziale Kontext des Textproduzenten ebenso wie<br />

der primÇren -rezipienten berÅcksichtigt werden kann. Was nun die Argumentationen des<br />

Autors in DlJ betrifft, so ist fÅr diese 1. charakteristisch, daÉ er, der sich wie erinnerlich nicht<br />

genug tun kann, Kontextfragen zu thematisieren, dennoch den spezifischen religiÄsen Kontext<br />

dieses Kindes – ErwecktenreligiositÇt sowie Pfarrhaussozialisation – konsequent ausklammert<br />

(vgl. 3.5.1.); daÉ er 2. im Zusammenhang der Theodizeeproblematik eine m.E. recht naive<br />

Voraussetzung macht (vgl. dazu im Folgenden 3.6.3.); daÉ er 3. prÇzise Textanalysen der in<br />

NaK als in hohem MaÉ theodizeeproblemexponierend angesetzten Texte nicht vornimmt und<br />

4. das nietzschefamilienspezifische Erfordernis wechselseitiger Schonung und hoher Diskretion<br />

bzw. damit kompatiblen Verhaltens243 nicht beachtet und schlieÉlich 5. als Textbasis seiner<br />

eigenen Argumentation in DlJ sich vor allem beim SchÅler Nietzsche auf grÄÉtenteils mehr<br />

oder weniger adressatenorientierte Texte wie LebenslÇufe usw., Texte also mit reduzierter<br />

oder minimaler AuthentizitÇt, konzentrierte.<br />

(b) Die abschlieÖende DlJ-Passage ab „Das bedeutet wiederum nicht“ bis „in ‘Nietzsche’<br />

selbst eingetragen“ (S. 129) hat mich etwas Åberrascht. WÇhrend der Satz von „Das bedeutet<br />

wiederum nicht“ bis „abgehen mÅsste“ der Sichtweise von NaK folgt – und „Sicherlich kann<br />

man aus diesen Texten Konflikte ablesen“ kaum minder –, ist des Autors EinschÇtzung der<br />

Wahrheit und VerlÇÉlichkeit „von Nietzsches Formulierungen“ doch an erster Stelle abhÇngig<br />

von der VerlÇÉlichkeit sowie Hochrangigkeit der interpretativen Kunst des Autors, die im<br />

Falle seines eigentlichen experimentum crucis (vgl. 3.4.4.) kaum zu Åberzeugen vermochte;<br />

und deren QualitÇt im Blick auf Nietzsches Autobiographie des Sommers 1858 zumindest aus<br />

DlJ fÅr den Vf. nicht ersichtlich ist, um mich wohlwollend auszudrÅcken.<br />

Bleibt der SchluÉsatz, daÉ die in Nietzsches Texten ausgedrÅckten Konflikte „nicht primÇr<br />

als Abwehr einer eindeutig identifizierbaren Umwelt und des BemÅhens, sich von ihr zu<br />

emanzipieren, anzusehen“ seien, „sondern [...] in ‘Nietzsche’ selbst eingetragen“ wÇren. Auch<br />

hier bedarf es leider mancher Differenzierung. Mir ist nicht erinnerlich, in NaK betont oder<br />

auch nur behauptet zu haben, daÉ das Kind Nietzsche groÉen Wert darauf gelegt hÇtte, sich<br />

von seiner Umwelt sonderlich zu unterscheiden: Vermutlich spÇtestens schon seit 1849 war<br />

dieses Kind anders, legte es aber nicht primÇr darauf an, anders zu sein, als anders zu wirken<br />

oder zu gelten. Er konnte schlicht nicht anders. (Nietzsche beruft sich spÇter auf die Unfreiwilligkeit<br />

seines Denkens noch oft genug: „keine Alternative“! Und der Autor weiÉ das auch.)<br />

Hier jedoch konstruiert der Autor im Blick auf NaK eine falsche Alternative, denn bei Fritz<br />

verhielt es sich eher umgekehrt: Das von RÄcken 1850 ins fremde Naumburg versetzte, emotional<br />

expatriierte Kind versuchte wohl Åber Jahre fast verzweifelt, sich zu integrieren, doch<br />

es erlebte sich als bereits – genauer wohl: als irreversibel – divergent:<br />

„Dort auf jener Felsenspitz<br />

Dort da ist mein Lieblingsssitz. – (I 307 bzw. I 1, 6)<br />

Und warum?<br />

243 Genauer: Erfordernis der „zum guten Ton ‘zarte RÅcksicht unter einander’“ zu nehmen,<br />

verpflichteten Nietzschetradition. Reiner Bohley, Erziehung, 1989, S. 388, mit Verweis auf Elisabeth<br />

FÄrster-Nietzsche, Der junge Nietzsche, 1912, S. 34.<br />

159


„Ich hatte in meinem jungen Leben schon sehr viel Trauer und BetrÅbniÉ gesehn und war deshalb<br />

nicht ganz so lustig und wild wie Kinder zu seien pflegen. [...] Von Kindheit an suchte ich die Einsamkeit<br />

und fand mich da am wohlsten, wo ich mich ungestÄrt mir selbst Åberlassen konnte. Und<br />

dies war gewÄhnlich im freien Tempel der Natur, und die wahrsten Freuden fand ich hierbei“ (I 8<br />

bzw. I 1, 288).<br />

Dabei blieb es nicht nur in der BÅrgerschule (1850 bis Michaelis 1853), sondern auch im Institut<br />

des Candidaten Weber (bis Michaelis 1855) und selbst im Domgymnasium, wie der<br />

DreizehnjÇhrige 1858 in seiner Autobiographie ebenfalls betont. 244 Und genau dieses Kind<br />

steht nicht nur im Zentrum von NaK, sondern wird dort verstanden aus den spezifischen Bedingungen<br />

seiner RÄckener Genese und seinen nicht weniger spezifischen Versuchen der<br />

Auseinandersetzung mit seinen Erfahrungen, der Art der Bearbeitung seiner Inkonsistenzerlebnisse<br />

und seinen vielfÇltigen Versuchen, allein ebenso wie mit seinen Freunden, die es allerdings<br />

auf seine eigenen Interessen und Sichtweisen weitestmÄglich zu verpflichten suchte –<br />

was bis Herbst 1858 bei Wilhelm eher gelang als bei Gustav, der sich schon frÅher vom dominanten<br />

EinfluÉ seines Freundes Fritz zu emanzipieren vermochte –, sich (s)eine Welt aufzubauen.<br />

Mit DlJ kann das durchaus als mittlerweile „in ‘Nietzsche’ selbst eingetragen“ (S.<br />

129) verstanden werden. Die Formulierung ist vielleicht neu. Der Gedanke aber wie auch<br />

sonst zuweilen jedoch nicht.<br />

Nun erst zu (a), dem Exo-Esoterik-Zirkel. NatÅrlich besteht er, wenn die Kleinigkeit akzeptiert<br />

wird, daÉ der Autor 1. unerfÅllbare Beweiskriterien prÇsentiert, die fÅr seine eigenen Argumentationen<br />

nicht zu gelten scheinen; daÉ er 2. kaum eines meiner Argumente akzeptiert<br />

oder auch nur zur Kenntnis zu nehmen scheint und 3. dem Leser auch nur wenige davon zugÇnglich<br />

macht. Oder 4. gar so argumentiert wie zu Anfang der zitierten Passage, in der er<br />

offenbar allen Ernstes behauptet, die Unterscheidung „zwischen einer ‘exoterischen’ und einer<br />

‘esoterischen’ 322 Sprechweise des Knaben“ entnehme die „Kriterien dafÅr [...] nur [!!] aus<br />

der Unterscheidung von Privattext und Geschenktext 323 “, sei aber deshalb nicht aufrecht zu<br />

erhalten, weil schlieÉlich jeder Text des Kindes in Naumburg ohnedies allen Interessenten aus<br />

der Familie zugÇnglich – und, offenbar wieder einmal unbedacht, deshalb auch eo ipso verstÇndlich?<br />

– sei.<br />

Glaubt der Autor Letzteres wirklich, dann ist der von ihm monierte Zirkel von NaK allein<br />

schon aus diesem Grunde ein NaK zu Unrecht unterstellter Zirkel. Um ein Zirkel-Argument<br />

belegen zu kÄnnen, nivelliert DlJ zuvor entscheidende Differenzen. Da der Autor meine anhand<br />

der Autobiographie vom Sommer 1858 im zweistelligen Bereich aufgewiesenen Pround<br />

Contra-Indizien samt & sonders nicht ernst zu nehmen bereit zu sein scheint, wÇhle ich<br />

zur Verdeutlichung ein anderes, Çlteres, bereits vertrautes Beispiel. So ist in NaK betont, daÉ<br />

Fritz Theodizeeproblemrelevantes in Geschenken fÅr seine Mutter 1856 anders exponiert als<br />

in ‘Griechengedichten’ des nÇmlichen Jahres, die er offenbar fÅr sich selbst geschrieben hat<br />

244<br />

Deshalb war Pforta mit seinem im Minutentakt verplanten Tageslauf fÅr diesen EinzelgÇnger eine –<br />

seinen Verwandten (mit Ausnahme seines GroÉvaters) gegenÅber allerdings kaum eingestandene –<br />

Katastrophe, denn Fritz hatte ob seiner BefÄrderung und Aufnahme in diese renommierte Schule als<br />

Stipendiat der Stadt Naumburg bzw. als Alumnus portensis ja stolz und dankbar zu sein. Vgl. dazu in<br />

extenso NaJ I, Teil I., 1993, und NaJ II, S. 673-693; als Kurzfassung Naumburg oder Pforta? – Eine<br />

Pfártner Verlust- und Gewinnbilanz in: Nietzscheforschung, Band 1, 1994, S. 291-311. (Der knappe<br />

Artikel Schulpforta von Thomas H. Brobjer in: Christian Niemeyer, Nietzsche-Lexikon, 2 2011, S. 341,<br />

bietet zwar gediegen recherchierte und korrekte, freilich eher ÇuÉerliche Informationen, lÇÉt aber leider<br />

nicht einmal andeutungsweise erkennen, in welcher Hinsicht die 6 portenser Jahre Nietzsches<br />

Denken insbes. in Auseinandersetzung mit Themen der attischen TragÄdie usw. geprÇgt haben. So<br />

wird an weiterfÅhrender Literatur lediglich auf zwei Titel verwiesen, von denen Reiner Bohley: äber<br />

die Landesschule zur Pforte. In: Nietzsche-Studien 5, 1976, S. 298-320, auÉerdem eine wenig relevante<br />

KÅrzestfassung der seit 2007 im Druck zugÇnglichen hochinformativen Lizentiatsarbeit „Die Christlichkeit<br />

einer Schule. Schulpforte zur Schulzeit Nietzsches“ darstellt.)<br />

160


(mÄglicherweise durfte Wilhelm sie lesen; doch genau wissen wir auch das nicht). Diese<br />

‘Griechengedichte’ sind aus BildungsgrÅnden seiner Mutter ebenso wie der kleinen Schwester<br />

und sogar Tante Rosalie von ihrem Inhalt her, auf den es ja ankommt, auch dann zunehmend<br />

weniger gut zugÇnglich, wenn sie diese in aller Ruhe lesen wÅrden. Diese innerfamiliÜre Bildungs-<br />

sowie VerstÜndnisdifferenz ist bei einer Diskussion einer Eso- versus Exoterikproblematik<br />

zwingend einzubeziehen, nicht jedoch zu nivellieren. äbrigens spielt Fritz bereits ein<br />

Jahr spÇter – so sicher ist er sich mittlerweile ‘seiner Sache’ – mit dieser innerfamiliÇren Bildungsdifferenz<br />

– wie in Nak gezeigt! – schon in den beiden Fassungen von Alfonso [I. und<br />

auch II. (I 377-381 und 384-386 bzw. I 1, 175-180 und 185-187)], mit denen er die Sammlung<br />

zum 2.2.1857 einerseits erÄffnet und andererseits (nach meiner damaligen Interpretation)<br />

durch Verharmlosung der ersten Fassung von Alfonso diese abmildert und auÉerdem die beiden<br />

in Theodizeeproblemperspektive ebenfalls hochbrisanten Gedichte Rinaldo (I 382-384<br />

bzw. I 1, 182-185) sowie Der Raub der Prosperpina (I 386-388 bzw. I 1, 187-191) etwas entschÇrft<br />

(I 384-386 bzw. I 1, 185-187). Wobei er sich sogar noch den weiteren SpaÉ erlaubt,<br />

unter dem Titel „Raub der Proserpina“ nicht diese Hades-Kore-Demeter-Mythe, sondern die<br />

Dryope-Episode zu prÇsentieren, was im Effekt doppelte Theodizeeproblemhaltigkeit bedeutet,<br />

denn beide Mythen sind grausamen Inhalts und Dokumente groben gÄttlichen Unrechts;<br />

der Raub abgeschlossen mit vier wunderbar verharmlosend sÇuselnden Versen. Oder: Fritz<br />

spielt in den beiden Alfonso-Fassungen eine Art RÇtselraten, denn in der zunehmend weltlichen<br />

ersten Fassung – die GlÅcksthematik wird à la Herodot, Historien (I 29ff.), exponiert –<br />

kontaktiert der GlÅckssucher Alfonso einen Weisen im Walde, dessen Name nicht fÇllt, der<br />

aber Alfonso auf sich selbst verweist: „Du weiÉst am besten dann selbst.“ (I 379 bzw. I 1,<br />

179). Allerdings. Erst in der zweiten spÇter nachgeschobenen mittelalterlich anmutenden, verharmlosenden<br />

Fassung, in der man derlei nicht vermutet, wird dann der Name des Weisen<br />

genannt: Solon von Athen. Das erinnert an die Solongeschichte bei Herodot, Solons GesprÇch<br />

mit Kroisos und Solons skeptisches VerstÇndnis des gÄttlichen Waltens. Davon ahnen Mutter<br />

und Tante jedoch nicht das Geringste. Und der Autor? Obwohl in NaK auch das nachzulesen<br />

ist? Welchen Sinn haben unter derlei Voraussetzungen noch Argumentationen jenseits prochristlicher<br />

und anderweitiger Klischeehorizonte? Wieder einmal ‘unbotmÇÉige’ Fragen? Das<br />

zu HÄdls ZirkelschluÉ.<br />

Zur ‘Sache’ wichtig: WÇhrend olympische ReligiositÇt fÅr das Kind 1855 mit dem HÄhepunkt<br />

vielleicht in Der GeprÄfte wohl eine Art Gegenreligion und emotionaler Zuflucht war,<br />

lÇÉt sich in Nietzsches Kindertexten ab 1856 bereits zunehmend eine Depotenzierung auch<br />

der Olympier – zuletzt auch einschlieÉlich des Zeus – mit dem HÄhepunkt in Fragmenten von<br />

Untergang Troja’s (I 417-420 bzw. I 1, 232-238), 1858, beobachten. (äbrigens ist sogar in<br />

einer Zeichnung in NaK, S. 1066, genauer zu erfassen gesucht, wann und wie sich beim frÅhsten<br />

Nietzsche die zentrale GlÅcksthematik, an der die wesentlichen Themen der Jahre 1855-<br />

1858 ‘hÇngen’, entwickelt.)<br />

Nietzsches Texte dieser wenigen Jahren 1855-1858 belegen also eine rasante Entwicklung,<br />

sind irritierend vielschichtig, wirken auf den ersten Blick heterogen und diskrepant, nach differenzierten<br />

Deutungen und kompetenter Interpretation geradezu schreiend; und sie unterlaufen<br />

naive Exo-Esoterik-Dichotomien wie andere Strategeme Çhnlichen Niveaus bereits vielfach.<br />

Doch auf was davon oder auch auf was an Vergleichbarem geht DlJ Åberhaupt ein? Was<br />

von dem in NaK Relevanten versteht/erkennt der Autor von DlJ eigentlich?<br />

Probleme ‘realexistierender’ hermeneutischer Zirkel kÄnnen wir hier nicht zu klÇren suchen. Das<br />

wÇre zu voraussetzungsreich. So kÅrze ich wiederum ab, denn ich bin es allmÇhlich leid, in Endlosschleifen<br />

in jeweils neuer Version Argumente fÅr m.E. lÇngst weitgehend GeklÇrtes nachzutragen. Des<br />

Autors (a5) weiteren Hinweis darauf, „dass des Knaben Texte eben naturgemÇÉ in diesem [Naumburger<br />

familiÇren] Kontext formuliert sind“ und daÉ das aber nun „fÅr alle Texte des Knaben“ gelte (S.<br />

129), weshalb eine Exo-Esoterik-Differenz zirkulÇr sei, setzt also einen Naumburger familiÇren Kontext<br />

ohne jegliche Binnendifferenzierung voraus, was vÄllig abwegig ist; und was schon mit dem<br />

Hinweis auf allen Familienmitgliedern zwar zugÇngliche, von ihnen unterschiedlich verstandene oder<br />

161


sogar ausschlieÉlich Fritz verstÇndnismÇÉig zugÇngliche Gedichte bspw. ‘griechischen’ und ‘rÄmischen’<br />

Inhalts selbst in der Geburtstagssammlung zum 2.2.1857 oben belegt wurde; und dem Autor<br />

bekannt sein mÅÉte.<br />

Wichtiger und sachlich relevanter ist, daÉ (a6) tatsÇchlich Zirkel sowohl in DlJ als auch in NaK<br />

wenigstens dann kaum vermeidbar sind, solange man davon ausgeht, daÉ Texte vÄllig selbsterklÇrend<br />

sein kÄnnen, und nicht, um zirkulÇre Argumentationen zu vermeiden, ‘irgendwann’ und ‘irgendwo’ in<br />

der Argumentationskette zumindest dann Åber konkreten RealitÇtsbezug verfÅgen mÅssen, wenn es<br />

sich um Texte eines Kindes handelt. Der Autor, der in seiner NaK-Kritik „eine grundsÇtzliche Unterscheidung<br />

in den [...] vorgebrachten Thesen [...] zwischen der philosophischen Interpretation und den<br />

biographischen resp. psychologischen äberlegungen“ (S. 69) vornimmt, argumentiert dennoch hÇufig<br />

aus biographisch gewonnenen Perspektiven, mÅÉte fairerweise entsprechende äberlegungen dann aber<br />

auch ‘von der Gegenseite’ und zumal dann einbeziehen, wenn äberlegungen und Fakten, die Nietzsches<br />

Entwicklung betreffen, lÇngst bekannt geworden sein sollten, die auch fÅr philosophische Interpretationen<br />

im engeren Sinne hochrelevant sind. Das vorweg; und nun vor der interpretationshorizonterweiternden<br />

„metakritischen Offensive“ fast rein immanent nur noch quasi als Abgesang zu<br />

3.5.5. Autors Zusammenfassung und NaK-kritischem Fazit<br />

GÇbe es innerhalb der fÅnf Punkte der Zusammenfassung des Autors (S. 130f.) samt Fazit nicht<br />

doch einen Punkt, dessen BerÅcksichtigung unumgÇnglich ist, wÇre eine Diskussion dieser Zusammenfassung<br />

hier freundlicherweise Åbergangen worden, da sie nach dem Vorausgegangenen wohl als<br />

weithin redundant und als neuerlicher sadistischer Akt 245 moniert werden kÄnnte. Doch manchmal<br />

geht es kaum anders. Deshalb gehe ich nun so vor, daÉ ich des Autors hauptsÇchliche „Ergebnisse“<br />

seiner „Auseinandersetzung mit Schmidts Interpretationsansatz“ zuerst im Wortlaut prÇsentiere und<br />

sie ebenso wie HÄdls Fazit dann in Voraussetzung des bisher bereits AusgefÅhrten mÄglichst knapp<br />

diskutiere.<br />

245<br />

„1. Wie die ErÄrterung von Schmidts Interpretation des Sirenius-Fragments gezeigt hat, kann<br />

dieses nicht als Indiz und schon gar nicht als Beweis fÅr Schmidts These herangezogen werden, daÉ<br />

Nietzsche hier a) seine TrÇume inszeniert und diese b) auf SelbstvergÄttlichung hinauslaufen und<br />

sich darin c) die griechische GÄtterwelt als religiÄse Alternative zur christlichen Tradition zeigt.<br />

2. Somit fÇllt auch die MÄglichkeit weg, diese Thesen als Ergebnisse der Untersuchung in den<br />

weiteren Argumentationen zu verwenden, was z.B. dazu fÅhrt, dass eines der beiden externen Kriterien<br />

wegfÇllt, die Schmidt fÅr seine Interpretation der „Seefahrergedichte“ aus der Geburtstags-<br />

In einer Rezension von Der alte Ortlepp 1 , 2001, in einer literarischen Zeitschrift Mitteldeutschlands<br />

(J.Fried: Neues von Nietzsche. In: Palmbaum. Literarisches Journal aus ThÅringen IX, 2001/1+2, S.<br />

179f.) wurde moniert, wenn man das Bild eines Boxkampfs verwenden wÅrde, wÇre der Kontrahent<br />

doch bereits nach dem ersten Schlag so hilflos KO gegangen, daÉ es unbegreiflich sei, warum der<br />

Verfasser noch weitere hundert Seiten auf ihm habe herumtrampeln mÅssen. Doch einerseits wagte Vf.<br />

mit leider besten GrÅnden nicht davon auszugehen, daÉ jeder Leser auch nur halb so reflektiert wie J.<br />

Fried (bzw. die Person, die sich dahinter verbergen dÅrfte) die anfangs exponierten Argumente so zu<br />

entschlÅsseln vermag, daÉ der nÇmliche Eindruck wie fÅr J. Fried resultiert; andererseits sollte damals<br />

auf den Åber 100 Seiten einmal so exemplarisch durchexerziert werden, daÉ sich Vf. kÅnftig darauf<br />

berufen kann, wie gegenprobenorientierte äberprÅfung auch in einem vermeintlich aussichtslosen Fall<br />

als „unleugbar“ bewiesen Inseriertes eines als Fachmann Akzeptierten sogar mehrfach zu falsifizieren<br />

vermag (in der dank DlJ, insbes. S. 21-131, leider nicht bestÇtigten Hoffnung, derlei niemals mehr<br />

wiederholen zu mÅssen); drittens besteht fÅr Kritizisten ein basaler Unterschied zwischen Herumtrampeln<br />

auf Personen und Destruieren von Behauptungen: Theorien nÇmlich soll man ‘tÄten’, doch nicht<br />

Menschen. In der Vergangenheit war es leider eher anders. Man tÄtete Menschen, wenn man deren<br />

Theorien nicht gewachsen war. Und viertens: Was SpÇtfolgen der weiteren hundert Seiten betrifft:<br />

derlei Tote leben manchmal noch lange; wie man nicht zuletzt an DlJ und hoffentlich auch weiterhin<br />

sieht.<br />

162


sammlung [fÅr Nietzsches Mutter zum 2.2.] des Jahres 1856, dass diese nÇmlich die Theodizeeproblematik<br />

behandeln, ausfÅhrt.<br />

3. Das zweite dieser Kriterien, nÇmlich die Adressatenorientiertheit der Texte kommt so, wie<br />

Schmidt sie als hermeneutischen SchlÅssel anwendet, in ernsthafte Schwierigkeiten, weil er a) auf<br />

Adressatenorientiertheit bei nicht eindeutig gewidmeten Texten plÇdiert und b) davon ausgeht, daÉ<br />

keiner der in Frage kommenden Texte vor dem Zugriff der Leserschaft, vor dem Nietzsche sich in<br />

seinen Texten durch literarische Verbergungsstrategien schÅtzen will, gesichert ist. Es fehlt somit<br />

ein Bezugspunkt fÅr diese Unterscheidung.<br />

4. Der textimmanente Hinblick ergibt, dass Nietzsche a) Kontrastierungen als Stilmittel nicht bloÉ<br />

im religiÄsen Kontext verwendet und b) auch religiÄse Texte schreibt, in denen diese Kontrastierungen<br />

nicht vorkommen. [S. 130]<br />

5. Praktisch zeigt sich die Ungenauigkeit von Schmidts hermeneutischen Mitteln darin, dass er, wie<br />

dargelegt, in von Nietzsche abgeschriebenen oder montierten Texten aus der religiÄsen Tradition<br />

die gleichen literarischen Strategien aufzufinden meint, die lt. ihm fÅr die verborgene Religionskritik<br />

des Knaben charakteristisch sind. [S. 130f.]<br />

Ich meine nun, dass damit erwiesen ist, dass Schmidts Interpretation der frÅhen Aufzeichnungen<br />

Nietzsches als versteckte Religionskritik nicht die textliche Evidenz hat, die er dafÅr beansprucht.<br />

Damit ist aber weder die Frage nach der religiÄsen Sozialisation Nietzsches und ihrem Einfluss auf<br />

ihn eindeutig beantwortet, noch die Frage, wie intensiv Nietzsches VerhÇltnis zum Christentum<br />

seiner Kindheit gewesen ist und wann und aus welchen GrÅnden er begonnen hat, sich vom Christentum<br />

abzuwenden. Mir geht es im Folgenden nicht primÇr um die Beantwortung dieser eher<br />

biographischen und entwicklungs- oder religionspsychologischen Fragestellungen. Ich meine nur,<br />

dass Johann Figl zu Recht darauf hingewiesen hat, dass man solche Fragen nur jeweils vom Standpunkt<br />

eines als solches ausgewiesenen psychologischen Modells beantworten kann (Figl, 1994,<br />

275)“ (S. 131).<br />

Liest man diese fÅnf Punkte nebst Fazit in ihrem Zusammenhang, so erwecken auch sie wieder<br />

einmal den Eindruck hoher Geschlossenheit, denn sie suggerieren nicht nur beeindruckendes<br />

kompositorisches, ja strategisches, sondern auch nicht geringes argumentatives Niveau.<br />

Doch zuweilen trÅgt selbst der schÄnste Schein, denn auch hier keine Leistung ganz<br />

ohne Risiko bzw. Preis zumal dann, wenn diese fÅnf Punkte zwar nicht in einem direkten ‘logischen’,<br />

doch durchaus in einem quasi hierarchisch materiellen Zusammenhang dergestalt<br />

arrangiert sind, daÉ die Stichhaltigkeit nahezu der gesamten zusammenfassenden Argumentation<br />

in abnehmender Relevanz abhÇngig ist von der LeistungsfÇhigkeit der Punkte 1.-3. mit<br />

PrioritÇt von Punkt 1 und damit an wohl erster Stelle von der SeriositÇt einer viele Details<br />

berÅcksichtigenden und SoliditÇt der dabei herangezogenen Belege voraussetzenden Argumentation.<br />

DaÉ es jedoch mit alledem bzw. genau damit auch noch in DlJ und in sogar besonderer<br />

Weise in des Autors Analyse ‘des Sirenius-Fragments’ sowie der entsprechenden<br />

NaK-Argumentationen ganz erheblich hapert, ist mittlerweile wohl fast bis zum ErmÅden<br />

insofern gezeigt worden, daÉ jeweils dann, wenn hinter dem Lack wohlformulierter sprachlicher<br />

OberflÇche eine spezifische Argumentation, BegrÅndung usw. des Autors dem Skalpell<br />

der Metakritik ausgesetzt wurde, in der Regel vor allem im PrÇmissenbereich erhebliche und<br />

zuweilen sogar schwer nachvollziehbare Recherche- sowie argumentative MÇngel nachgewiesen<br />

werden konnten.<br />

Die Gliederung dieser Zusammenfassung: Punkt 1 bietet als PrÇmisse der Argumentation<br />

die im Sinne des Autors erfolgreiche, im Ergebnis eines experimentum crucis falsifikatorische<br />

ZurÅckweisung interpretativer AnsprÅche von NaK, demonstriert und spezifiziert am ‘Sirenius-Fragment’<br />

bzw. an Der GeprÄfte. Die Punkte 2. und 3. nennen die „beiden externen Kriterien“,<br />

die ‘somit’ im Blick auf weitere Argumentationen von NaK entfallen: die durch Falsifikation<br />

der Nak-Interpretation von Der GeprÄfte nun nicht mehr legitime Theodizeeproblem-<br />

163


perspektive (Punkt 2) und „Adressatenorientheit“ (Punkt 3). WÇhrend Punkt 4 „Kontrastierungen“<br />

als ungeeignetes „Stilmittel“ behauptet, holt der Autor in Punkt 5 zum groÉen Fangschlag<br />

aus: „Ungenauigkeit von Schmidts hermeneutischen Mitteln“.<br />

Ein Ensemble ‘tÄdlicher’ EinwÇnde, dem Fazit zur Grundlage dienend?<br />

Zu Punkt 1: Schon bei der ersten LektÅre dieses des Autors experimentum crucis von Der<br />

GeprÄfte als gelungen postulierenden ersten Punktes fragte ich mich, wie oft es wohl vorgekommen<br />

sein mag, daÉ innerhalb der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> eine vergleichbar ambitioniert<br />

vorgetragene These selbst dann so vielfach und damit so beeindruckend falsifiziert werden<br />

konnte wie hier (vgl. insbes. 3.4.4.), wenn weder „Indiz“ – als zu ‘schwach’ – noch „Beweis“<br />

– als zu ‘stark’ – auch nur annÇhernd trifft, was in NaK prÇsentiert und hier spezifiziert wurde:<br />

ein allen EinwÇnden mÄglichst noch nach Jahrzehnten bei weitem Åberlegenes und, wenn<br />

nicht, so wenigstens auch langfristig forschungs- und interpretationsstimulierendes Hypothesenensemble.<br />

Und damit ‘kippt’ bereits dieses 5-Punkte-Arrangement insofern, als nicht nur<br />

eine, sondern die entscheidende PrÇmisse entfÇllt. Streng genommen genÅgt das bereits...<br />

Zu Punkt 2: „Somit fÇllt auch die MÄglichkeit weg, diese Thesen als Ergebnisse der Untersuchung<br />

in den weiteren Argumentationen zu verwenden“. Eine korrekte Formulierung bzw.<br />

Diagnose zwar dann, wenn der Autor dabei an seine eigenen seit 1993 im Bezug auf Der GeprÄfte<br />

vorgestellten und in DlJ differenzierter als je zuvor prÇsentierten Thesen denken wÅrde,<br />

doch im Blick auf NaK gilt das gerade nicht, denn NaK geht aus des Autors argumentativem<br />

Bombardement wider Erwarten sogar gestÇrkt hervor. Damit entfÇllt, wie sich zeigt, eine basale<br />

PrÇmisse weiterer AusfÅhrungen des Autors nicht nur in seiner „Zusammenfassung“,<br />

sondern im restlichen Text in DlJ. Die Beseitigung der zentralen Alternative zu DlJ ist nÜmlich<br />

vállig miÖlungen. Doch selbst dabei bleibt es nicht, denn der Preis, den der Autor fÅr seine<br />

Art der Nak-Kritik bezahlen muÉ, ist im Blick auf seine eigene Argumentation in DlJ<br />

enorm (vgl. 3.8.3.).<br />

Was schlieÉlich die vom Autor ggf. als externes Kriterium angefÅhrte, offenbar als zentral<br />

erachtete Theodizeeproblematik betrifft, so irritiert die Ansetzung der Theodizeeproblematik<br />

als ‘externes Kriterium’. Ansonsten verweise ich in ErgÇnzung des bisher eher en passant<br />

AusgefÅhrten zwar auf 3.6., bitte den Leser aber, den hohen Stellenwert, den der Autor auch<br />

noch in seiner Zusammenfassung der Theodizeeproblematik zubilligt, zu beachten sowie zu<br />

erinnern.<br />

Zu Punkt 3: Auch hier gerÇt „in ernsthafte Schwierigkeiten“ wohl primÇr der Autor, weil er<br />

maÉlos Åbertreibt, wenn er selbst in seiner Zirkelhaftigkeit einer basalen NaK-Argumentation<br />

nachzuweisen intendierenden Argumentation (vgl. hier 3.5.4.) auf nur zwei Belege zurÅckgreift,<br />

von denen lediglich einer aus dem Zeitraum von Nietzsches Kindheit stammt – und nur<br />

um diesen geht es in NaK -, wobei jedoch genau dieser ‘Beleg’ zwischen Autor und Vf. seit<br />

1994 auf eine Weise mehr als wohl nur strittig ist, da der Autor die vom Vf. schon 1991 im<br />

Dutzendpack gebotenen Indizien weiterhin schlicht Åbergeht, und der Vf. selbst noch jedes<br />

auch der neuerlichen DlJ-Gegenargumente des Autors erfolgreich problematisierte (wie oben<br />

in 3.5.3. wohl hinreichend deutlich belegt). Was schlieÉlich die Frage der ‘Gesichertheit’ in<br />

Texten des Kindes enthaltenen abweichenden bspw. theodizeekritischen Denkens betrifft,<br />

erinnere ich an den mehrfach gegebenen Hinweis auf innerfamiliÇre Wissensdifferenzen, mit<br />

denen Fritz schon 1857 selbst in seiner Geburtstagsgedichtsammlung fÅr seine Mutter bereits<br />

spielt (vgl. noch 3.5.4.). So ‘trÇgt’ auch hier in Punkt 3 weder a) noch b).<br />

Damit kollabiert auch das gesamte in den Punkten 1. bis 3. prÇsentierte Ensemble der NaKkritischen<br />

Thesen in DlJ.<br />

164


Zu Punkt 4: So ergibt sich die paradoxe Konstellation, daÉ der Autor, obwohl der Aussage<br />

seiner Punkte a) und b) zuzustimmen ist, damit dennoch keinerlei NaK-kritisches Potential<br />

gewinnt, da er den Gesichtspunkt bzw. das Stilmittel „Kontrastierung“ bei Nietzsche absurderweise<br />

isoliert und bspw. hier vÄllig auÉer Acht lÇÉt, daÉ bei Nietzsche zwischen Geschenk-<br />

und Privattexten zwar nicht in allen FÇllen, durchaus aber in vielen, zu unterscheiden<br />

ist.<br />

Zu Punkt 5: Nochmals ergibt sich eine paradoxe Konstellation, da der Autor – diesmal sogar<br />

mit seiner Kritik an einer fehlerhaften bereits in der Errataliste in NaJ II, 1994, berÅcksichtigten<br />

NaK-Interpretation – sogar in bestem Recht ist, daraus jedoch wiederum voreilig<br />

SchlÅsse zu extrahieren sucht, die einmal mehr methodologische Nonchalance zu bestÇtigen<br />

scheinen und andererseits auch nicht annÇhernd zu leisten vermÄgen, was er sich von ihnen zu<br />

versprechen scheint: (1) Einerseits formuliert er im Plural, was unberechtigt bzw. Artikulation<br />

von Wunschdenken oder vielleicht sogar Bluff ist; andererseits wÇre (2) des Autors Argumentation<br />

bestenfalls dann stichhaltig, wenn Vf. keinen fallibilistischen, sondern wie der Autor<br />

selbst einen massiv ‘begrÅndungstheoretisch-certistischen’ Interpretationsansatz (vgl. dazu,<br />

was den Autor betrifft, die Skizze in 3.6.4.) – und damit das direkte Gegenteil von allem in<br />

seinen Schriften teils Vorausgesetzten teils (wie bspw. auch hier explizit) Vertretenen – ‘verfechten’<br />

wÅrde. So setzt der Autor nÇmlich u.a. voraus, daÉ einerseits die in NaK verwandten<br />

‘hermeneutischen Mittel’ bereits diskreditiert wÇren, wenn auch nur ein einziger Fall einer<br />

Fehlanwendung nachgewiesen werden kÄnnte – postuliert also wie bereits vermerkt in Verwechslung<br />

von Roma aeterna und NaK kurioserweise ein fÅr NaK mÄglicherweise sogar exklusives<br />

Unfehlbarkeitsprinzip, was (wie ebenfalls bereits vermerkt) ein haarstrÇubender<br />

Denkfehler wÇre -, und postuliert schlieÉlich (3), daÉ religiÄse Texte zeitÅberhoben eindeutig<br />

wÇren, d.h. keineswegs vielschichtig-mehrsinnig sein oder als vielschichtig verstanden werden<br />

kÄnnten: Was freilich so absurd ist, daÉ sich wohl jeder Beleg erÅbrigen wÅrde, wenn es<br />

nicht darum ginge, Kannitverstan auch argumentativ begegnen zu wollen. DaÉ das formale<br />

ebenso wie bspw. literaturkundliche Niveau eines Interpreten auch Åber inhaltliche Deutungen<br />

religiÄser Texte entscheidet, bedarf wohl keiner Diskussion. So sind auch religiÄse Texte nur<br />

dann sakrosankt, wenn man zu Unrecht meint, dem wÇre so.<br />

Was nun das Kind Nietzsche betrifft, so bedarf es einer erheblich breiteren Textbasis, als<br />

der Autor zumal in Ausklammerung nahezu aller ‘griechischen Sujets’ geltenden Texte des<br />

Kindes bisher wÇhlte, und, wie am Beispiel des vom Autor ausgewÇhlten zentralen experimentum<br />

crucis ja in extenso belegt wurde, einer erheblich prÇziseren sowie auf der Informationsebene<br />

kompetenteren Interpretation als der Autor selbst noch in DlJ dann prÇsentiert,<br />

wenn er sich Texten des frÅhsten Nietzsche zuwendet. Was schlieÉlich die Genese von Nietzsches<br />

‘Kontrasttechnik’ betrifft, so ist nicht einmal unwahrscheinlich, daÉ ihm dieses Prinzip<br />

sogar an fast schon abenteuerlich provokativen – naive GlÇubigkeit fixierenden, fÅr manchen<br />

auch: testenden – religiÄsen Texten insofern ‘aufgegangen’ ist, als er in ihnen ‘wiedergespiegelt’<br />

fand, was er an Kontrasten selbst erlebt hatte. Doch was besagt das?<br />

Was schlieÉlich das Fazit des Autors betrifft, so erÅbrigt sich wohl, nochmals zu zeigen,<br />

daÉ wenigstens so, wie bisher vom Autor zuletzt nun auch in DlJ NaK-kritisch argumentiert<br />

wurde, keineswegs „erwiesen ist, dass Schmidts Interpretation der frÅhen Aufzeichnungen<br />

Nietzsches als versteckte Religionskritik nicht die textliche Evidenz hat, die er dafÅr beansprucht“.<br />

Weniger freilich erÅbrigt sich, nochmals darauf hinzuweisen, daÉ<br />

1. der Autor unter textlicher Evidenz anderes versteht als der Verfasser. Letzterer formuliert<br />

Hypothesen und bewertet diese solange als vorlÇufig gÅltig, solange keine auch nur bedingt<br />

akzeptablen Alternativen prÇsentiert wurden. DaÉ dies nun selbst in DlJ nicht der<br />

Fall war, Åberrascht auch den Verfasser.<br />

165


2. Wenn der Autor anschlieÉend seine eigenen Intentionen schildert, sei ihm das unbenommen.<br />

Sein Hinweis darauf, daÉ man bestimmte „Fragen nur jeweils vom Standpunkt eines<br />

als solches ausgewiesenen psychologischen Modells beantworten kann (Figl, 1994, 275)“,<br />

provoziert freilich zu der Bemerkung, daÉ diese Sichtweise leider unschwer zur Problemflucht<br />

benutzt bzw. als apologetisches ManÄver ‘in Einsatz gebracht’ werden kann (dazu<br />

genauer in 3.8.4.): dann kann man zumal als vÄllig Fachfremder nÇmlich Åber konkurrierende<br />

psychologische Modelle, Legitimationen jeweiliger Auswahl usw. fast bis zum<br />

Sankt-Nimmerleins-Tag ‘kontrovers diskutieren’ – und ist wieder einmal der Auseinandersetzung<br />

mit Nietzsche bzw. seinen Texten diskret entfleucht...? Worum es ja seit mehr als<br />

einem Jahrhundert zu gehen scheint?<br />

3. Der erste Satz des Fazits prÇsentiert einerseits wieder einmal einen SchluÉfehler zugunsten<br />

einer äbertreibung, wenn der Autor ernstlich glaubt resÅmieren zu kÄnnen, daÉ „Schmidts<br />

Interpretation der frÅhen Aufzeichnungen Nietzsches als versteckte Religionskritik nicht<br />

die textliche Evidenz hat, die er dafÅr beansprucht“, wenn er zuvor nicht alle NaK-<br />

Interpretationen „der“ frÅhen Aufzeichnungen Nietzsches ÅberprÅft hat, sondern davon nur<br />

einige. So bleibt ja offen, ob diejenigen Interpretationen – die Åberwiegende Mehrheit –,<br />

die er nicht ÅberprÅft hat, den seitens des Autors unterstellten Evidenzanspruch einzulÄsen<br />

vermÄgen. Deshalb hÇtte der Autor entweder alle entsprechenden Interpretationen ÅberprÅfen<br />

oder, wenn ihm das zu aufwendig erschienen wÇre, korrekterweise bspw. formulieren<br />

mÅssen: „daÉ nicht jede der den frÅhen Aufzeichnungen Nietzsches geltenden Interpretationen<br />

Schmidts“ usw. Soweit zur Logik. Andererseits bleibt festzuhalten, daÉ keines der<br />

beiden vom Autor eigens angesetzten experimenta crucis, deren Erfolg er jedoch voraussetzt,<br />

auch nur in bescheidenstem Sinne erfolgreich war.<br />

4. Der erste Satz des Fazits prÇsentiert auÉerdem anerkennenswerterweise nahezu ungeschminkt<br />

das eigentliche Motiv der gesamten nun zwei Jahrzehnte umfassenden Na-Kritik<br />

des Autors: die Hypothese versteckter Religionskritik des Kindes Nietzsche soll an erster<br />

Stelle falsifiziert werden. Darum ging es, geht es und wird es wohl solange auch weiterhin<br />

gehen, solange ...<br />

Deshalb in 3.6.bis 3.8. eine metakritische Offensive nebst AnhÇngen.<br />

Es gibt freilich neben der Tatsache, daÉ 1. m.W. niemand anders sosehr als der Autor, der<br />

extra muros argumentativ von vornherein zwar keinen leichten Stand, positionsbedingt als<br />

langjÇhriger Mitarbeiter der erhofften, bisherige VerÄffentlichungen von Texten des<br />

frÅh(st)en Nietzsche bei weitem Åbertreffenden Edition jedoch hohes Prestige hatte und sich<br />

im Juli 1993 als NaK-Kritiker sogar ‘in die HÄhle des LÄwen’ – zwar eingeladen, aber dennoch<br />

– gewagt hatte, detaillierte ebenso wie prinzipielle NaK- und mit Abstrichen auch NaJ-<br />

Kritik zu praktizieren suchte, des weiteren anzuerkennen, daÉ 2. diese Kritiken in der Regel<br />

strategisch optimal angesetzt waren bzw. sind. Das ist auch hier zu betonen; und soll seitens<br />

des Vf.s ausdrÅcklich festgehalten sein. Daran ist auch in metakritischer Perspektive nun<br />

wirklich nichts zu beanstanden. Doch was nÅtzt selbst noch die beste Strategie, wenn, ja wenn<br />

‘die Dinge’ eben ‘nicht so’ sind? Manchmal helfen zwar qualifiziertere Recherchen und<br />

stichhaltigere Argumentationen ‘noch einigermaÉen aus der Patsche’, doch auch nicht immer.<br />

Vieles lÇÉt sich nach anderthalb Jahrhunderten vor allem dann nicht mehr klÇren, wenn die<br />

Bedeutsamkeit einer Sache oder einer Person – bspw. der Entwicklung eines ins nahe Naumburg<br />

expatriierten Dorfkindes anhand derjenigen seiner Texte, die verwandtschaftlichen Selektionen<br />

groÉenteils vermutlich nur wegen ihrer (vermeintlichen) Harmlosigkeit entgingen,<br />

noch rekonstruiert werden soll; dabei ist eher erstaunlich, beeindruckend und faszinierend,<br />

was von Nietzsche selbst und aus seinem nÇchsten familiÇren Umfeld alles erhalten blieb –<br />

hÄchstens fÅr eine kleine, auf ihren groÉen Bruder immens stolze Schwester deshalb<br />

166


feststand, weil dieses Kind selbst davon trÇumte, ein groÉer Dichter & Komponist & Pianist<br />

& noch vieles auÉerdem werden zu kÄnnen. Auch Pastor?<br />

Doch nun SpaÉ beiseite: Zum Wissenschaftsspiel gehÄrt, daÉ man irgendwann auch einmal<br />

Ergebnisse – wenngleich nur vorlÇufig – akzeptiert, wenn man selbst im vierten Anlauf nach<br />

mehr als einem Jahrzehnt und nun sogar in einer vermutlich noch nachtrÇglich Åberarbeiteten<br />

– sonst wÇren die internen, auf ‘ReifungsvorgÇnge’ oder zunehmenden Einsichtsgewinn<br />

schlieÉen lassenden Verschiebungen von Argumentationen noch erstaunlicher – Habilitationsschrift<br />

trotz der UnterstÅtzung durch wenigstens einen in Sachen Nietzscheforschung und<br />

-interpretation hochrangigen GesprÇchspartner usw. usw. und trotz strategisch optimal angesetzter<br />

EinwÜnde noch immer keine stichhaltigen Argumente vorzubringen weiÉ, die wissenschaftlichen<br />

Kriterien zu entsprechen vermÄgen...<br />

... und wenn das Desaster um so gráÖer wird, je prinzipieller die Intentionen des Na-<br />

Kritikers ausfallen. Nochmals: Der Autor hatte wohl jedes ihm erreichbare Argument, Kriterium,<br />

jeden ihm und seinem GesprÇchspartner zugÇnglichen Beleg und manches weitere Instrument<br />

mit dennoch negativem und z.T. ruinÄsem Erfolg (u.a. mit dem Effekt einer Aufwertung<br />

von Na) eingesetzt. Wer soll es nun besser machen? GroÉe Preisfrage. Dabei hat sich der<br />

Autor auch dann noch tapfer zur FortfÅhrung seiner Kritiken ermuntert, als er aus Verfasserperspektive<br />

sich lÇngst in eine aussichtslose de-profundis-Position manÄvriert hatte, da er sich<br />

quasi in einer argumentativen dreidimensionalen ZwickmÅhle fixierte, in der er seitdem festsitzt.<br />

Man muÉ derlei freilich auch bemerken (kÄnnen und wollen). Vielleicht sollte ‘man’<br />

allmÇhlich lernen, Ergebnisse auch dann – als vorlÇufig! – akzeptieren zu kÄnnen, wenn es<br />

‘nur’ Hypothesen sind (dazu noch 3.6.4.). Denn auch Hypothesen kÄnnen solange peinlich<br />

invariant sein, solange die bisher vorgestellten Kritiken sowie die entwickelten Alternativen –<br />

und niemand formulierte m.W. bessere, ja auch nur halbsogute wie der Autor – das Intendierte<br />

auch nicht annÇhernd leisten konnten. Dem wenden wir uns nun zu.<br />

Als nahezu tragisch bewertet Vf., daÉ der Autor mit seinen lÄblichen Na-kritischen Intentionen<br />

nun auch sein weiteres DlJ-Projekt nicht nur belastet, sondern leider sogar ‘von Grund<br />

auf verdorben’ bzw. irreparabel beschÇdigt hat (dazu vor allem in 3.8.3.). Doch genau das<br />

kommt davon, wenn eigene Konzeptionen usw. usw. einen Sog entwickeln...<br />

... nun aber zurÅck zur offenbar entscheidenden Frage des Schlusses von 3.5.3.: „warum<br />

darf denn dieser Text [d.h. die Autobiographie des DreizehnjÇhrigen, d. Vf.] offenbar um keinen<br />

Preis als Geschenktext insbes. zu Weihnachten 1858 fÅr Nietzsches Mutter oder fÅr die<br />

nÇhere Familie – Mutter, Schwester und Tante Rosalie – angenommen werden?“<br />

Und damit: Auf zur metakritischen Offensive in wiederum drei Schritten oder ‘Schichten’...<br />

167


3.6. Metakritische Offensive 1: Pudels Kern oder Katze aus dem Sack: Suspension theodizeeproblem-<br />

und christentumskritischer Perspektiven in NaK?<br />

„Unwahrscheinlichkeit [...] von Schmidts Interpretation der frÅhen<br />

Texte Nietzsches auf Theodizeeproblematik hin“.<br />

Hans Gerald HÄdl (DlJ, S. 19, Anm. 86).<br />

Warum also nur um alles in der Welt darf Nietzsches Autobiographie der spÇten Kindheit,<br />

begonnen in der zweiten AugusthÇlfte 1858, damals nicht auch als Geschenktext fÅr Nietzsches<br />

Mutter, Schwester usw. vermutlich zu Weihnachten 1858 intendiert gewesen sein?<br />

Wenn ich einmal davon absehe, daÉ Widerspruch nicht nur SpaÉ machen kann sowie nicht<br />

selten als Versuch intellektuellen Potenzbeweises inszeniert ist, kÄnnte es doch auch inhaltliche<br />

GrÅnde gegeben haben, die jenseits des streng genommen fÅr fast jede substantiellere<br />

Hypothese zum frÅhen Nietzsche zitierbaren Refrains mangelnder Beweisbarkeit und eines<br />

bestenfalls akzeptablen hypothetischen Status eine oftmals unterschÇtzte Rolle spielen. Aus<br />

des Autors Text von 1994 ebenso wie aus DlJ entnehme ich einschlieÉlich der Aussage, daÉ<br />

ihm die Annahme des intendierten innerfamiliÇren Geschenkstatus dieser Autobiographie<br />

nicht „plausibel“ erscheint, so wenig von argumentativem Belang (s. oben 3.5.3.), daÉ ich<br />

mich fragte, warum der Autor bei seiner so nachdrÅcklichen Negation der MÄglichkeit einer<br />

Geschenkintention bei dieser Autobiographie bleibt, obwohl er doch selbst gemerkt haben<br />

mÅÉte, wie wenig stichhaltig seine Argumente – genauer wohl: wie offenkundig seine AusweichmanÄver<br />

– ausfielen. Warum also war bzw. blieb fÅr ihn so wichtig – idealiter vielleicht<br />

sogar: zwingend –, eine Geschenkintention bei dieser Autobiographie zu negieren?<br />

So ist das obige „um keinen Preis“ oder „um alles in der Welt“ die vielleicht plausibelste<br />

Antwort, wenn berÅcksichtigt wÅrde, welche Rolle der Status dieser Autobiographie im gesamten<br />

Argumentationszusammenhang von NaK ebenso wie von DlJ im Blick auf die philosophische<br />

Genese und die Art frÅher Selbst(re)prÇsentation Nietzsches spielt. Diese Hypothese<br />

soll hier nun verdeutlicht werden.<br />

Deutlich wurde ja, daÉ der Dissens zwischen NaK, 1991, und DlJ, 2009, in BerÅcksichtigung<br />

frÅhster Texte Nietzsches jenseits mittlerweile zahlreicher gemeinsamer Sichtweisen<br />

vornehmlich in Annahme der Relevanz der frÅhen Entwicklung Nietzsches im Blick auf ‘den<br />

Philosophen Nietzsche’ ein prinzipieller Dissens insofern ist, als in Nak und neueren VerÄffentlichungen<br />

des Verfassers herausgearbeitet ist, daÉ die Genese dieses Religionskritikers<br />

wenigstens einige ihrer Ursachen schon in dessen frÅher Kindheit haben muÉ und daÉ selbst<br />

frÅhste Texte des Kindes u.a. bereits als Dokumente der Auseinandersetzung mit diesen –<br />

ihnen zeitlich noch vorausliegenden – theodizeeproblemhaltigen Erfahrungen zu lesen sind.<br />

Der Autor hingegen suchte spÇtestens seit 1993 zu zeigen, daÉ tragende PrÇmissen der Na-<br />

Interpretationen nicht nur nicht sonderlich stichhaltig, sondern geradezu als falsch einzuschÇtzen<br />

sind (vgl. den jeweils zentralen Kritikpunkt der Na-Kritik des Autors von 1993, 1994 und<br />

1998, deren Beurteilung in 2.4. sowie die direkte ArgumentationsfÅhrung insbes. seiner beiden<br />

experimenta crucis in DlJ).<br />

Wie wichtig dem Autor gerade die Problematisierung des kindliche Theodizeeprobleme<br />

berÅcksichtigenden Ansatzes zumal von NaK wenn vielleicht auch nicht mehr gegenwÇrtig<br />

ist, so doch wenigstens in den 1990er Jahren war, lÇÉt eine freilich nicht ‘an die groÉe Glocke’<br />

gehÇngte, sondern nur fÅr sorgsame Leser im Kleindruck gebotene Information erschlie-<br />

Éen, die der Autor lÇngst vor seinem diese Beobachtungen bestÇtigend-verschÇrfenden Fazit –<br />

„Ich meine nun, dass damit erwiesen ist, dass Schmidts Interpretation der frÅhen Aufzeichnungen<br />

Nietzsches als versteckte Religionskritik nicht die textliche Evidenz hat, die er dafÅr<br />

beansprucht“ (S. 131) – bereits in seiner „Einleitung“ auf der Seite 19 in der Anmerkung 86<br />

fÅr sorgsame Leser untergebracht hat. Diese Information legt den Eindruck nahe, seine Auseinandersetzung<br />

mit NaK ziele vielleicht sogar primÇr darauf, die „Unwahrscheinlichkeit [...]<br />

von Schmidts Interpretation der frÅhen Texte Nietzsches auf Theodizeeproblematik hin vgl. u.<br />

168


2.1.4.“ zu belegen, denn mit „vgl. u. 2.1.4.“ bezieht sich der Autor auf den gesamten (!!) Text<br />

seiner direkten Auseinandersetzung mit „Hermann Josef Schmidts „Spurenlesen’ bei Nietzsche“<br />

auf den Seiten 68-131. (Dazu genauer unten in 3.8.3.)<br />

Damit wird seitens des Autors also selbst darÅber informiert, wie wichtig ihm gerade dieser<br />

Unwahrscheinlichkeitsaufweis war; und die Auswahl der den beiden experimenta crucis<br />

zugrundegelegten NaK-Interpretationen der frÅhen Nietzschetexte „Moses der groÉe Gottesmann“<br />

sowie von Der GeprÄfte belegt ebenso wie die Art der DlJ-Diskussion der drei NaK-<br />

Interpretationen von Seefahrtskatastrophen schildernden Gedichten der Sammlung zum<br />

2.2.1856 usw. usw., daÉ der Autor sich an sein Programm auch konsequent gehalten hat. Um<br />

so erstaunlicher und eigentÅmlicher freilich, daÉ der Autor nach meiner Erinnerung nirgendwo<br />

in DlJ sich auf die Theodizeeproblematik bei Nietzsche im Detail eingelassen hat. (So<br />

fehlt auch im Stichwortverzeichnis, S. 631, nach „teleologisch“ und „Tertia“ sowie vor „Theseus“<br />

und selbst „Thomas von Aquin“, der verstÇndlicherweise selbst hier nicht fehlen darf,<br />

das betreffende Stichwort.) Doch zurÅck!<br />

Welchen Stellenwert hat in dieser Theodizeeproblemhaltigkeit von Texten selbst des<br />

frÅh(st)en Nietzsche kontrovers diskutierten Konstellation nun Nietzsches ‘groÉe’ Autobiographie<br />

von 1858 und dabei die Frage, ob es sich bei ihr um einen ausschlieÉlich fÅr sich<br />

selbst geschriebenen Text Nietzsches (so HÄdl) oder um eine auch als innerfamiliÇres Geschenk<br />

intendierte Autobiographie handelt, in welcher sich der DreizehnjÇhrige also z.T. adressatenorientiert<br />

prÇsentiert?<br />

Vielleicht hilft die klassische Frage des cui bono auch hier weiter. So kÄnnte der Autor<br />

wenn vielleicht auch nicht mit mehr Recht 246 , so doch mit hÄherer PlausibilitÇt gegen Theodizeeproblemexpositionen<br />

in NaK bspw. bezÅglich der Gedichte in den beiden Sammlungen<br />

zum 2.2.1856 und 1858 votieren, wenn diese Autobiographie nicht zu genau diesen beiden<br />

Textgruppen, zu denen als Drittes noch die Sammlung zum 2.2.1857 (I 377-389 bzw. I 1,<br />

175-193), bei der es ja ebenfalls m.E. ÅberflÅssige editorische – und interpretative ohnedies –<br />

Schwierigkeiten gegeben zu haben und noch immer zu geben scheint 247 –, mit der Folge einer<br />

246<br />

Pikanterweise ist fÅr die Frage des Aufweises von Theodizeeproblemexpositionen in Aus meinem<br />

Leben die KlÇrung der Frage nicht vorrangig, ob der Text als Geschenktext intendiert war oder nicht,<br />

sondern der Wortlaut der betreffenden Passagen und deren ‘NÇhe’ bspw. zu den entsprechenden Gedichten<br />

in Nietzsches Geschenksammlungen zum 2.2.1856-1858. SchlieÉlich ist deren Autor ja derselbe,<br />

nÇmlich Fritz. Die meinerseits in NaK rekonstruierte Geschenkintention erhÄht lediglich die<br />

PlausibilitÇt der vorgestellten Argumentation; gehÄrt aber nicht in deren PrÇmissenbereich. Exzessive<br />

Diskussion der Geschenkhypothese (wie nun in DlJ weitergefÅhrt und zu Unrecht ausschlieÉlich auf<br />

die Mutter zugespitzt, worauf meinerseits zu antworten war) lenkt eher von einer angemessenen BerÅcksichtigung<br />

der in Nietzsches frÅhsten Texten bereits ‘verlinkten’ Theodizeeexpositionen hier und<br />

dort ab; was zwar ein weiteres auf NebenkriegsschauplÇtze ablenkendes apologetisches Strategem<br />

wÇre, dem Autor als bewuÉte Strategie meinerseits aber nicht unterstellt werden soll.<br />

247<br />

Noch DlJ spricht lediglich von „‘EntwÅrfen’, die jedoch „keinen sicheren AufschluÉ darÅber“ zulassen,<br />

wie die „(wohl sicher abgefaÉte 272 , aber nicht erhaltene) Sammlung aufgebaut war“ (S. 108f.)<br />

„Schwierigkeiten“ bedarf ebenso einer ErklÇrung wie die These des Autors, die Sammlung sei ‘nicht<br />

erhalten’ worden. Was diese These des Autors betrifft, so wÇre es seine Sache gewesen, seine These<br />

im einzelnen zu erklÇren. Doch vielleicht gelingt es im Nachbericht.<br />

Deshalb nur zu „Schwierigkeiten“. Was (I.) deren editorische betrifft, so zeigt Autopsie der Originale<br />

(1.) in aller Klarheit, daÉ das in I 380 als 6. Teil von Alfonso [I.] 32 Verse umfassende, fÅr den Gesamtzusammenhang<br />

wichtige, die Chiron-Achill-Mythe sowie sogar den Kampf um Troia in den Gedankengang<br />

einschleusende Gedicht, im Gutachterskript S. 166f. noch aufgenommen, in I 1 jedoch zu<br />

Unrecht vom Abdruck ausgenommen worden ist. Aus unbekannter Zeit – und dem Kind Nietzsche<br />

auÉerdem auch nicht eindeutig genug (und schon gar nicht fÅr Februar 1857) zuweisbarer Hand, worauf<br />

es ja ankÇme! – sind die beiden ersten Strophen – also die Verse 1 bis 8 – gemeinsam mit einem<br />

dicken Strich ausgestrichen; die Åbrigen Strophen 3 bis 8 mit weiteren 24 Versen jedoch nicht. (2.) Die<br />

Bemerkung „Nimm diese Gedichte nun hin als andere Sammlung, die erste“, die im Skript wie Edition<br />

169


dem Gedicht Alfonso als eigene Texteinheit 3 [2] folgt, gehÄrt an eine andere Stelle, nÇmlich vor die<br />

letzte Strophe, die mit „Endlich ist“ beginnt. (3.) Dem sich Alfonso [I.] als zweites Gedicht anschlie-<br />

Éenden Geb[burtstagslied] ist bereits eine zweite Bemerkung Nietzsches angefÅgt, die Mette wenigstens<br />

im Nachbericht (I 462) bringt, Gutachterskript und I 1 jedoch Åbergehen. Damit war einem sorgfÇltigen<br />

HKGW-I-Nutzer klar, daÉ es sich bei Alfonso (I) nicht um das Neujahrsgedicht 1857 handeln<br />

kann, sondern um die ErÄffnung der offenbar verspÇtet abgeschlossenen Geburtstagssammlung zum<br />

2.2.1857 gehandelt haben muÉ – also eindeutig des Originals. Angesichts der Notwendigkeit einer<br />

schnellen Begutachtung des seitens des çFF mir Vorgelegten jedoch hatte ich nicht die Zeit, gegen<br />

Ende des SS 1994 noch nach Weimar zu fahren und im Goethe-Schiller-Archiv entsprechend Einblick<br />

in Nietzsches Handschriften zu nehmen, ging vielmehr davon aus, Mette habe nicht korrekt ediert.<br />

Nun zeigte die Autopsie aber auch hier das Gegenteil. So ist dem Geburtstagslied direkt anzufÅgen:<br />

„(Noch eine Bitt’; beim Lesen der kleine[n] Gedichte Die ich Dir zutrauensvoll als Gab Åbergebe<br />

Nimm nur fÅrlieb; fang aber an ich habe Dich lang aufgehalten.)“ Diese beiden Bemerkungen belegen<br />

m.E. bereits in aller Eindeutigkeit, daÉ es sich bei diesen Seiten trotz ihres Çsthetisch wenig Åberzeugenden<br />

Eindrucks um die Sammlung zum 2.2.1857 selbst handelt, da deren Adressatin zweimal direkt<br />

angesprochen wird. – Lediglich die Frage des Endes der Sammlung ist ein vielleicht zu bedenkendes<br />

Problem. DaÉ christophile Interpreten des MÅtterleins Himmelsreise, die den AbschluÉ der ‘EntwÅrfe’<br />

(?) bildet, gerne ausklammern wÅrden, versteht sich zwar wieder einmal von selbst. Editoren jedoch<br />

haben nach anderen Gesichtspunkten zu urteilen. Doch ob Franziska Nietzsche bei ihrer LektÅre geschmeichelt<br />

oder pikiert reagierte, bleibt fÅr manchen ebenso offen wie die Frage, ob Fritz seiner Mutter<br />

schmeicheln oder sich Åber sie leise und von ihr unbemerkt lustig machen wollte. (Eine Sichtweise,<br />

der kein christophiler Interpret zustimmen wÅrde. Wie langweilig, derlei ‘Reaktionen’ jeweils mit<br />

Erfolg prognostizieren zu kÄnnen?) Was hingegen (II.) interpretative Schwierigkeiten betrifft, so geht<br />

es seit lÇngerem darum, dass zuweilen votiert wird, die Texte I 377-389 bzw. I 1, 175-193, seien nicht<br />

die Geburtstagssammlung zum 2.2.1857. Dabei lÇÉt Fritz mit den letzten 4 Versen in faszinierendem<br />

SchluÉakkord quasi als dea ex machina niemanden anders als sein eigenes erst 31jÇhriges MÅtterlein<br />

„Wen der verhÅllende Schleier einst sinket“, doch „entfesselt von Banden“, emporfliegen und „verklÇrt<br />

von jenen heilgen“ Lichte, unter „Seraphinen Chor“ singen (I 389 bzw. I 1, 193). In NaK hatte<br />

ich mich dazu etwas belustigt-despektierlich geÇuÉert.<br />

So erscheint die Situation als denkbar einfach: (1.) die Sammlung zum 2.2.1856 ist die erste Gedichtsammlung<br />

– „erste Gedichtsammlung“; nicht jedoch das erste selbstgeschriebene Gedicht, das Fritz<br />

seiner Mutter an einem 2.2. Åberreichte, sei es nun selbst ‘gedichtet’, abgeschrieben oder ihm diktiert<br />

-, die das Kind mit eigenen Gedichten seiner Mutter schenkte; (2.) sie liegt in der Handschrift Nietzsches<br />

auch vor. (3.) Zum 2.2.1857 und 2.2.1858 liegt jedoch keine vergleichsweise sauber geschriebene<br />

Geburtstagssammlung in Nietzsches Handschrift vor, jedoch jeweils anderes: (4.) die Sammlung<br />

zum 2.2.1858 mit Verweis auf Fritz aus der Hand von Nietzsches Mutter („Gedichte von meinen guten<br />

Kindern v Fritz“; vgl. I 463). Dieser Fall wÇre also klar. (5.) Bleibt das Problem einer Sammlung zum<br />

2.2.1857? Nach meinem Empfinden wohl nur fÅr Personen, denen der optische Eindruck oder der<br />

Inhalt dieser Sammlung miÉfÇllt, denn: Mit hÄchster Wahrscheinlichkeit liegt sie sogar im Original<br />

vor, nÇmlich in Nietzsches Handschrift in der Mappe I 11 auf den diese erÄffnenden Seiten 1-12 (I<br />

377-389 bzw. I 1, 175-191). Das wird hinreichend deutlich aus den beiden (oben zitierten) Bemerkungen<br />

des Kindes, in denen Fritz die Adressatin der Sammlung, seine Mutter, sowohl Åber deren Status<br />

wie deren Entwicklungsgang bzw. Vollendungsgrad informiert, mit ihr als Beschenkter also das GesprÇch<br />

aufnimmt, das den Sachverhalt klÇrt, wobei die zweite Bemerkung in I 1 leider nicht aufgenommen<br />

wurde. So werden ZusammenhÇnge verunklart. Die „andere Sammlung“ ist also die vorliegende<br />

von 1857 (denn diejenige von 1856 wÇre dann „die eine“), umfaÉt die Seiten 1-3 des Skripts<br />

bzw. dessen Verse 1-149 (in der ZÇhlung der HKGW I); „die erste“ (des Jahres 1857) hingegen ist sie<br />

deshalb, weil sie noch durch ‘eine zweite’ fortgesetzt wird, nÇmlich auf den folgenden Skriptseiten 4-<br />

12 (in der HKGW I 380, ab Z.5 v.u.). Bereits nach dem Folgegedicht, dem Geburtstagslied, ist die<br />

zweite Bemerkung eingefÅgt – „vertrauensvoll als Gab Åbergebe“ [kann das Kind noch deutlicher<br />

formulieren und damit noch anderthalb Jahrhunderte spÇter den Geburtstagsbezug markieren?] -, die<br />

oben zitiert ist. Das legt die Annahme nahe, daÉ diese mit ihren Ausstreichungen usw. von der ãsthetik<br />

zwar wie ein Konzept wirkende Sammlung das am Ende in EntwÅrfen auslaufende Original der<br />

Geburtstagssammlung ist, als deren Fermate die Himmelsreise Franziska Nietzsches wirkungsvoll<br />

genutzt ist; eine Geburtstagssammlung, die ins Reine zu schreiben Fritz wohl keine Zeit mehr hatte;<br />

170


weiteren VerÇnderung in KGW I 1 gegenÅber dem Gutachterskript, sowie als Viertes die erwÇhnte<br />

Kleine Weihnachtsgabe von 1857 gehÄrt, deren aufschluÉreiche und deshalb in NaK<br />

gewÅrdigte Vorstufe wiederum nicht den Weg vom Manuskript des Gutachters in den Band I<br />

1 fand, nun quasi als FÅnftes und damit als umfangreichster und jÅngster Text des Kinds hinzukÇme.<br />

Warum kann, soll und darf sie genau dieses nicht?<br />

3.6.1. Kontaminiertes GelÜnde?<br />

Haben wir hier nicht nur einen entscheidenden, sondern nun vielleicht den (aus des Autors<br />

Sicht) sogar ausschlaggebenden zweiten Punkt – der erste war Der GeprÄfte – der gesamten<br />

Na-Kritik des Autors – vielleicht schon seit dem Moment, als er erstmals frÅhsten Texten<br />

Nietzsches geltende Zeilen des Verfassers gelesen hatte – erreicht? NÇhern wir uns hier endlich<br />

dem sogar eigentlichen Feld der eigentlichen Auseinandersetzung, in der es abschlieÉend<br />

quasi ‘um die Wurst geht’? Hier auf den Seiten 123-130, so wirkt die ArgumentationsfÅhrung<br />

auf mich, werden des Autors entscheidende Argumente, quasi seine ‘Eliteeinheiten als argumentativer<br />

Heimatschutz’ mit dem HÄhepunkt des Zirkelvorwurfs (S. 128f.) direkt vor der<br />

„Zusammenfassung“ (S. 130f.), die in 5 Thesen die im Fazit dann verkÅndete ebenfalls fÅnf<br />

Thesen umfassende Erfolgsmeldung (vgl. oben 3.5.5.) vorbereiten, ins vielleicht erst entscheidende<br />

„Treffen“ (vgl. DlJ, S. 81) gefÅhrt, denn es geht dabei nicht nur um die Probleme<br />

der Kontrastarrangements sowie der Adressatenorientiertheit, sondern andererseits (in deren<br />

Hintergrund) um das Motiv, warum der Autor beiden Themen eine so groÉe und dabei der<br />

Frage einer Adressatenorientiertheit der Autobiographie des Sommers 1858 eine offenbar<br />

sogar kontroversen(mit)entscheidende Bedeutung zuzubilligen scheint.<br />

Letztmals die Frage: warum ist das so? Und letztmals die Antwort: weil es (fÅr ihn offenbar)<br />

genau so sein muÉ. Genauer: Weil der Autor die Diskussion des weitestgehend unbekannten<br />

frÅhen Lustspiels Der GeprÄfte (ebenso wie diejenige der Ortlepp-Problematik) notfalls<br />

noch ausklammern kÄnnte, nicht mehr jedoch die BerÅcksichtigung der nahezu jedem<br />

Nietzscheinterpreten bekannten Autobiographie, weshalb er seine Argumentationen, die der<br />

Ablehnung von TheodizeeproblemÇuÉerungen in Gedichten dienten, die Fritz seiner Mutter<br />

zum 2.2.1856 schenkte, als offenbar gefÇhrdet, wenn nicht als suspendiert gewertet bzw. erlebt<br />

zu haben scheint, wenn Theodizeeproblemhaltigkeit nicht nur von hÄchstens einem einzigen<br />

Gedicht zum 2.2.1858, sondern noch von weiteren Texten des Kindes und zumal der Autobiographie<br />

des SpÇtsommer 1858 belegt werden kÄnnte. Genau diesen Sachverhalt mehrerer<br />

weiterer zumindest theodizeeproblemhaltiger Texte des Kindes Nietzsche aber in aller Klarheit<br />

zu registrieren, ist zwar selbst dann kaum zu umgehen, wenn man das schon 1933 in der<br />

HKGW verÄffentlichte – von Nietzsche selbst sowie Seitherigen ja ausgekÇmmte 248 – Œvre<br />

weshalb er in 2 Bemerkungen jeweils das GesprÇch mit seiner Mutter aufnahm. Seine Autobiographie<br />

von 1858 zeigt, unter welchem Arbeitsdruck das viel zu wenig schlafende Kind bereits in den Jahren<br />

1856-1858 wÇhrend des Domgymnasiumsbesuchs stand – in Pforta ging es ja noch viel schlimmer<br />

weiter (vgl. dazu NaJ I). Im Folgejahr hat Nietzsches Mutter dann eingegriffen, vermutlich fasziniert<br />

insbes. von dem SchluÉgedicht der Sammlung Wohin? (I 410 bzw. I 1, 226), und ihrerseits Nietzsches<br />

uns m.W. nicht mehr zugÇngliche Vorlage nun selbst abgeschrieben. (Und die Vorlage danach vielleicht<br />

nach Pobles zu ihren Eltern oder zu einem ihrer BrÅder geschickt?)<br />

248<br />

DaÉ die heute noch zugÇnglichen Texte von Fritz nur – braver? – Restbestand sein dÅrften, geht<br />

zum einen daraus hervor, daÉ 1. aus den sie z.T. enthaltenden Kladden usw. ganze und auch halbe<br />

BlÇtter entfernt sind, daÉ 2. Nietzsches Schwester – wahrscheinlich zu Unrecht * – betont, es sei viel<br />

(vielleicht sogar das Meiste) der frÅhen Texte von Fritz selbst – anstatt auch (oder: fast nur?) von ihr –<br />

beseitigt worden; und wird zum 3. vor allem daran deutlich, daÉ sich im Blick auf Nietzsches Texte<br />

der sechs Internatsjahre in NaJ I & II zeigen lieÉ, daÉ insbes. Texte aus diesen Jahren, die niemals in<br />

die Hand der Mutter oder Schwester Nietzsches gerieten, einen ‘so anderen Fritz’ belegen, daÉ einseitige<br />

Selektion des ZugÇnglichen vorauszusetzen die bei weitem besser begrÅndete Hypothese ist. Au-<br />

Éerdem weiÉ wohl niemand, was spÇter aus dem Bestand ‘abgezweigt’ worden sein mag. Texte wie<br />

171


des Kindes berÅcksichtigt, doch der Autor wie wohl fast jeder andere entsprechend Interessierte<br />

kann ja leider davon ausgehen, daÉ das noch immer kaum jemand ernstlich tut. WÅrde<br />

man es dennoch tun, so mÅÉte man auf der einen Seite auch alle Åbrigen theodizeeproblemhaltigen<br />

Texte heranziehen, und auf der anderen Seite die wenigstens einen Teil der Sammlung<br />

zum 2.2.1857 bildenden Texte, in denen (wie oben formuliert), das Kind vorsichtig sogar<br />

schon in die Offensive geht: wie vor allem Alfonso (I), Der Raub der Proserpina und Rinaldo.<br />

Der Autor, der gewiÉ nicht zu unterschÇtzen ist, weiÉ das spÇtestens aus seiner NaK-LektÅre<br />

wohl schon seit dem SpÇtjahr 1988 m.E. auch ganz genau. Da er jedoch keine separate NaK-<br />

Kritik als Habilitationsschrift einreichen, sondern seinem Thema entsprechend Nietzsches<br />

Entwicklung zum letzten JÅnger des Dionysos bis 1888 nachzeichnen wollte, die seiner eigenen<br />

Konzeption im Wege stehende NaK-Sichtweise Nietzsches zuvor jedoch wie auch immer<br />

aus dem Wege rÇumen – idealiter jedoch widerlegen – muÉte, verblieb nach dem seitens des<br />

Autors vorausgesetzten Erfolg der beiden experimenta crucis vor allem noch ein Text des<br />

Kindes Nietzsche, dessen Nak-Interpretation schon deshalb zu falsifizieren war, weil dieser<br />

Text fÅr seine eigenen äberlegungen hochrelevant ist: Aus meinem Leben, die Autobiographie<br />

des Sommers 1858, umfangreichster Text des Kindes – und einziger Text des frÅhsten Nietzsche,<br />

der seit Jahrzehnten auch von Interpreten zur Kenntnis genommen wird, die lediglich<br />

Werke des spÇten Nietzsche studieren –, ihm kann man weder als Faktum noch in seiner spezifischen<br />

Gestaltung aus dem Wege gehen. Zumindest seit NaK, 1991, und noch verstÇrkt seit<br />

dem 15.10.1994, geht das nicht mehr so recht.<br />

So erscheint nur konsequent, daÉ der Autor schon 1993/94 seine Kontroversen mit dem Vf.<br />

als Kritik der NaK-Interpretationen von Der GeprÄfte und Aus meinem Leben begann; und<br />

daÉ es bei diesem Schwerpunkt auch in DlJ geblieben ist. SchlieÉlich wird in NaK argumentiert,<br />

daÉ der Text mehrschichtig ist, daÉ es Passagen gibt – wenige, doch an ausgezeichneter<br />

Stelle -, in denen Fritz auf eine Weise religiÄse Formeln traktiert und im ersten Absatz seines<br />

RÅckblicks sogar in massiver sprachlicher Form („Ich habe es fest in mir beschlossen, mich<br />

seinem Dienste auf immer zu widmen.“ I 31 bzw. I 1, 310) ein GelÄbnis abzulegen scheint,<br />

das Çlteren Texten auf eine Weise kontrastiert, daÉ man sich fragt, warum Fritz hier zu TÄnen<br />

findet (vor allem in der groÉartigen SchluÉapotheose dieses RÅckblicks, fast wie eine Deusex-machina-Inszenierung<br />

und dank der prÇsentierten Widerspruch um Widerspruch inszenierenden<br />

Formeln fast als eine Parodie des GelÄbnisses wirkend), die nachdrÅcklich an die<br />

Kleine Weihnachtsgabe fÄr meine liebe Mutter von 1857 erinnern, die auch als kleine „Festschrift“<br />

erwÇhnt und mit dem Åppigsten von Fritz selbst ausgewiesenen Zitat vertreten (I 25<br />

bzw. I 1, 304) ist. Auch damit wÅrde aber die Autobiographie als weiterer Beleg fÅr geschenktexttypische<br />

DoppelbÄdigkeit interessant, da sie lt. NaK insofern 249 zwar glÇnzend zu<br />

Der GeprÄfte des ElfjÇhrigen belegen, auf welchem Niveau Fritz schon frÅh sich zu artikulieren vermochte.<br />

* Eine der besonderen StÇrken von Christian Niemeyer (Hg.): Nietzsche-Lexikon. Darmstadt,<br />

2011, besteht in der BerÅcksichtigung der Frage von TextfÇlschungen und deren verhÇngnisvolle Konsequenzen<br />

in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong>. Vgl. dazu Christian Niemeyer: BrieffÜlschungen, S. 57-60,<br />

und WerkfÜlschungen, S. 419-422.<br />

249<br />

Sehr viel einfacher, doch das gehÄrt nur unter den Strich, ist in Nak jedoch ausfÅhrlich gezeigt, lÇÉt<br />

sich DoppelbÄdigkeit etwa anhand der Strategeme aufweisen, die Fritz durchfÅhrt, um verschiedene<br />

Fliegen mit seiner Klappe zu schlagen. Bekanntlich ist er musikalisch leidenschaftlich engagiert, was<br />

bei einem Klavierspieler vor allem dann, wenn sein Freund Gustav geigespielender Wagnerianer ist,<br />

mit viel LÇrm verbunden ist: Den hÄrt man aber nicht nur, sondern der muÉ, zumal wenn die Klaviermiete<br />

der sparsamen Mutter Geld kostet, das sie anderweitig verwenden kÄnnte, ihrem Geschmack<br />

entsprechend legitimiert werden. Wie legitimiert Fritz nun? Er lobt die ‘erhebende’ Wirkung der Musik<br />

in hÄchsten TÄnen und versucht dieser Erhebung wo irgend mÄglich einen christlichen Anstrich zu<br />

geben. Anders freilich die Poeterei, denn hier denkt Fritz still und leise selbst; ein Refugium, das er<br />

sich bewahren mÄchte. Also macht er sich als Dichter einerseits so schlecht – und Interpreten paraphrasieren<br />

diese Negativcharakterisierungen des DreizehnjÇhrigen noch immer als zutreffend? -, daÉ<br />

172


Nietzsches mutterzentrierten Geschenktexten, weniger jedoch zu den von ihm allem Anschein<br />

nach nur fÅr sich selbst geschriebenen Texten passen wÅrde (denn da hat er derlei Deklamationen,<br />

Demutsrituale sowie Verbergungsspiele nicht mehr nÄtig) 250 . Das kann man schon an<br />

ãuÉerem erkennen. SchlÄsse nÇmlich der Kreis der als Geschenkte fÅr Nietzsches Mutter<br />

geltenden Texte von Fritz nicht mehr nur – in chronologischer Reihenfolge – 1. und 2. die<br />

Sammlungen zum 2.2.1856 sowie zum 2.2.1857, 3. die Kleine Weihnachtsgabe 1857 und 4.<br />

die Sammlung zum 2.2.1858, sondern 5. und als jÅngsten Text nun auch Aus meinem Leben<br />

vom SpÇtsommer 1858 ein, so wÇre er nicht nur insofern geschlossen als nun die wichtigsten,<br />

frommes Vokabular massiv enthaltenden und problematisierenden Texte des Kindes – wenn<br />

man von Schularbeiten wie Barmherzigkeit (I 411-413 bzw. I 227-230) absieht – allesamt als<br />

mutterbezogen – d.h. nicht: nur mutterbezogen – identifiziert wÇren, sondern wir besÇÉen in<br />

Aus meinem Leben sogar (wie in NaK diskutiert) Nietzsches frÅhsten Kommentar zu eigenen<br />

Texten, vor allem aber auch zu muttergeschenkten Gedichten usw. vom 2.2.1856 bis<br />

2.2.1858. Genauer: Dann nÇmlich wÅrden die massiven religiÄsen Einsprengsel samt dem so<br />

dick aufgetragenen – auf Zweifel seiner Mutter, wie bereits aus deren mehr als zwei Jahre<br />

zurÅckliegenden Brief an ihren Bruder Ernst hervorging, beruhigend antwortenden – GelÄbnis,<br />

„mich seinem Dienste auf immer zu widmen“ (I 31 bzw. I 1, 310), fÅr Nietzsche selbst<br />

weniger besagen als die wiederholten theodizeeproblemhaltigen mehr oder weniger massiven<br />

Provokationen oder z.T. biographisch relevanten kommentarartigen DenkanstÄÉe in den Texten<br />

fÅr Nietzsches Mutter.<br />

seitens von Nietzsches weiblichen Verwandten ebenso wie vieler Interpreten kaum mehr anzunehmen<br />

ist, auÉer den Åblichen poetischen allenfalls niveaudemonstrierenden kostenfreien Festtags- und Geschenkgaben<br />

noch Relevantes erwarten zu kÄnnen. Doch Fritz will sich selbst schlieÉlich auch gerecht<br />

werden; und einige Leser seiner Gedichte wissen, warum. Wie schafft er nun die Balance? So, daÉ er<br />

seine negativen Selbstbeurteilungen der einzelnen Phasen nachtrÇglich immer dann zurechtrÅckt, wenn<br />

er, um die jeweils thematisierte Phase schlechtzumachen, die Vorlausliegende plÄtzlich in einem sehr<br />

viel positiveren Vokabular schildert, das, ZufÇlle Åber ZufÇlle, schon recht treffsicher zu den erhaltenen<br />

Texten der betreffenden Zeit paÉt. So einfach geht das – und so wenig erkannt bis NaK sowie,<br />

leider, bis heute?<br />

Man kann freilich auch ‘dem Geist des Protestantismus’ nÇher, gegen den Nietzsche spÇter ja anrennt,<br />

argumentieren, daÉ, je hÄher Fritz bestimmte Phasen seiner Poeterei selbst einschÇtzt, er desto<br />

massiver sie abwerten („sich demÅtigen“) muÉ, um die erforderlichen Demutsrituale vor dem allgegenwÇrtigen<br />

HErrn und seinen noch weniger weit entfernten Dienerinnen zu demonstrieren – doch<br />

dann wird fÅr diejenigen ‘ein Schuh daraus’, die ja behaupten, der Text sei als reiner Privattext geschrieben<br />

-, was dann dazu fÅhrt, daÉ bei der nÇchsten Abwertungsprozedur bspw. der poetischen Phase<br />

2 deren Abwertung umso Åberzeugender ausfÇllt, je mehr kontrastiert wird: bspw. gegen die Stufe<br />

1, die solcherart nicht per se, sondern quasi nur per Arrangement aufgewertet worden wÇre, so daÉ ihre<br />

Aufwertung als rein instrumentell zu verstehen wÇre. Doch selbst dann: Die bei diesen Ab- und Aufwertungen<br />

verwandten Argumente und Beschreibungen kÄnnen dennoch mehr oder weniger zutreffend<br />

sein; und wenn sie bei Abwertungen oberflÇchlich gesehen zwar korrekt, Sublimeres freilich<br />

ausklammernd, in dieser Hinsicht also deplatziert, und bei vermeintlichen Aufwertungen aufschluÉreich<br />

zutreffend ausfallen, wÇren wir in der Argumentationsspirale nur eine Drehung weitergekommen:<br />

noch immer hÇtten wir einen kleinen Autor dieser Arrangements, der diese Spiele in seinem Sinne<br />

spielt: der als intellektuell umso hochrangiger eingeschÜtzt werden mÄÖte, je weiter seinerseits<br />

diese Spirale gedreht wird (was dann zu Problemen fÅhrt, welche diejenigen, die derlei Spiralen in<br />

Gang setzen, umsoweniger ‘brauchen’ kÄnnen, je weniger sie „Fritz“ intellektuell zutrauen)... Und der<br />

sein Spiel auÉerdem so spielt, daÉ im Ergebnis immer wieder deutlich wird, daÉ dieses Kind seine<br />

eigenen Wege zu gehen sucht...; und das offenbar auch vermag.<br />

250<br />

Diese Differenz von Privat- und Geschenktext kÄnnte HÄdl wenn nicht nivellieren – worum es ihm<br />

ja einerseits geht, wÇhrend er andererseits jedoch unausgesprochen gerade auch eine Differenz voraussetzt<br />

-, so doch problematisieren, sollte es ihm gelingen, die Interpretation der Autobiographie als Privattext<br />

Nietzsches zu fixieren, weil damit die diese Differenz ggf. konstituierenden Merkmale wenigstens<br />

zum Teil jedoch entfielen.<br />

173


Und genau die gegen diese Einsicht erbaute Mauer, die der Autor interpretativ errichtete<br />

und an deren Sicherung er sich spÇtestens seit 1993 abarbeitet, diese Mauer gegen die (sich<br />

gerade ihm als Magister katholischer Theologie, Dr. zumal christlicher Philosophie und Religionswissenschaftler<br />

sowie jahrelang mit Nietzsches frÅhen Texten BeschÇftigten aufdrÇngende)<br />

Identifizierung hochrelevanter Theodizeeprobleme des Kindes Nietzsche, die dieses lt.<br />

NaK in mehreren Gedichten zumal seiner Mutter in dem ihr vertrauten, familiÇren Idiom nahen<br />

Vokabular vorsichtig prÇsentiert, diese Mauer kommt nun noch stÇrker ins Wanken, wenn<br />

auch noch diese Autobiographie dem theodizeeproblemexponierenden Kontext zuzuschlagen<br />

ist. Ins „Wanken“ kommt sie, weil es im Bildmaterial ebenso wie in Beschreibungen familiÇrer<br />

TodesfÇlle der Autobiographie und in bestimmten der Mutter zum 2.2. geschenkten Gedichten<br />

ZusammenhÇnge gibt, die wie SchlÅssel und SchloÉ wirken, wenn man diese Texte<br />

nicht unterschiedlichst gruppiert, sich dabei derlei legitimierender Theoreme bedient und diese<br />

Texte auf eine Weise interpretativ auseinander hÇlt, als ob sie sich wechselseitig mit Pest<br />

oder Cholera zu infizieren vermÄchten. Was wenigstens im Blick auf christophile Interpreten<br />

auch stimmt, solange diese entschlossen zu sein scheinen, die Existenz von Theodizeeproblemen<br />

des Kindes Nietzsche konsequent zu negieren – um sofort, wenn diese Strategie<br />

sogar an von ihnen selbst in Widerlegungsintention ausgewÇhlten Objekten scheitert, den<br />

nÇchsten Minimierungs- oder Entspezifizierungsversuch usque ad infinitum fortzusetzen<br />

(Çhnlich wie bspw. u.s.-amerikanische Weltuntergangspropheten, die sich trotz mehrfacher<br />

Fehlprognosen weiterhin leisten kÄnnen, alle paar Jahre wieder einen medial weltweit inserierten,<br />

unbegreiflicherweise vielfach brav geglaubten Weltuntergang nahezu risikofrei vorauszusagen)?<br />

-, denn: FÅr die in Gedichten mit bestimmtem Vokabular offerierten Theodizeeprobleme<br />

bietet Aus meinem Leben im nÇmlichen Vokabular die konkrete Nutzanwendung<br />

bzw. einen Kommentar! Genauer: Erlebnisse und insbes. TodesfÇlle aus bzw. wÇhrend Nietzsches<br />

Kindheit, zumal Ereignisse im Zusammenhang mit Krankheit, Leiden und Tod des Vaters<br />

Ludwig werden in der Autobiographie in Bildern beschrieben, die bereits in bis zu mindestens<br />

2 1/2 Jahre zurÅckliegenden theodizeeproblemhaltigen Versen des Kindes bezeichnenderweise<br />

in Geschenksammlungen fÅr seine Mutter zum 2.2. begegneten. Das wurde<br />

lÇngst gezeigt in NaK, 1991.<br />

Seitdem war auch einigen Christen klar: Der Kreis ist geschlossen, Theodizeeprobleme des<br />

Kindes sind in seinen Texten manifest und: Inhaltlich sowie historisch verweist das Syndrom<br />

wie in Nak hypothetisch rekonstruiert zurÅck in Nietzsches frÅhe Kindheit, und dort in das<br />

çrtchen RÄcken bei Leipzig, wo Nietzsches Vater Pastor war, wo Fritz geboren wurde und als<br />

VierjÇhriger die fast einjÇhrige depotenzierende Krankheit seines Vaters sowie dessen Leiden<br />

und Tod mit den oben (in 3.3.2.7.) unter dem Stichwort „Schicksal“ skizzierten Folgen erlebte.<br />

In der Kritik wurde diesem Ansatz m.W. anfangs nicht substantiell widersprochen; spÇter<br />

scheint die Schrecksekunde bei Mitgliedern einer hierzulande noch immer feder- wenn auch<br />

nicht geistig fÅhrenden religiÄsen Richtung beendet worden zu sein, denn es war auch einigen<br />

Rezensenten klar, welche ‘Bombe’ mit und in NaK zumal fÅr AnhÇnger einer interpretatio<br />

christiana Nitii glÅcklicherweise eher im Verborgenen tickt ...<br />

Nun erst erweitere ich den meine Argumentationen bisher begrenzenden Rahmen dieser<br />

Metakritik, als ich mich insofern auf des Autors Darstellungsebene begebe, daÉ ich nicht<br />

mehr nur seine Kritik an NaK berÅcksichtige, sondern in grÄÉere (nach meinem Urteil: entscheidende)<br />

ZusammenhÇnge einzuordnen suche, und dabei auch explizit dasjenige Wissen<br />

berÅcksichtige, das er seit NaK, 12.1990, NaJ I, 5.1993, NaJ II, 5.1994, weiteren Çlteren und<br />

neueren Untersuchungen nicht zuletzt des Verfassers gewonnen hat, denn der Autor argumentierte<br />

in seiner gesamten Kritik mit vollem Recht in BerÅcksichtigung jedweden Arguments,<br />

das er nur finden konnte, um die Stichhaltigkeit seiner Kritik zu erhÄhen; womit Vf. vÄllig<br />

einverstanden war und weiterhin ist. Doch Kritikfreiheit impliziert auch Pflichten. Wie erin-<br />

174


nerlich wurde (in 3.1.) argumentiert, es sei nicht gestattet, sich auf die zumal von Apologeten<br />

praktizierte Strategie zurÅckzuziehen, Belege nur auf äbereinstimmung hin zu suchen<br />

und/oder auf BestÇtigung hin zu interpretieren, sondern als Wissenschaftler sei man u.a. die<br />

wissenschafts- und forschungsethische Verpflichtung eingegangen, in einem 2. Schritt, nachdem<br />

man in einem 1. die eigene Theorie gestÇrkt hat, Gegenproben mit idealiter falsifizierendem<br />

Effekt bereits selbst vorzunehmen.<br />

So soll nun ein externer Beleg berÅcksichtigt werden, der nicht nur dem Verfasser, sondern<br />

auch dem Autor von DlJ seit einer Vielzahl von Jahren bekannt ist. Genauer:<br />

1. seit mehr als anderthalb Jahrzehnten ist Äffentlich zugÇnglich, daÉ Aufzeichnungen von<br />

dritter Seite existieren, die quasi in Zeitbombenform sowie zumindest im Ansatz Theodizeeprobleme<br />

schon des vierjÜhrigen Kindes Nietzsche belegen; genauer: die belegen, daÉ<br />

das Kind Nietzsche schon mit 4 Jahren im Zusammenhang mit der seinen Vater zerrÅttenden<br />

Gehirnerkrankung nachzudenken begonnen hatte, warum Gott seinen Vater nicht<br />

lÇngst gerettet hatte, sondern noch immer leiden lieÉ;<br />

2. die entsprechenden Belege hat der Verfasser am 15.10.1994, Nietzsches 150. Geburtstag, in<br />

Nietzsches Taufkirche in RÄcken (Åbrigens in Anwesenheit Johann Figls, der als Vorredner<br />

251 auftrat) in einem Vortrag zitiert und kommentiert;<br />

3. dieser Vortrag wurde Herbst 1995 in einem der Nietzscheforschung geltenden Jahrbuch, in<br />

dem auch HÄdl vielfach als Autor vertreten ist, verÄffentlicht 252 ;<br />

4. der Autor hat aus dieser VerÄffentlichung des Verfassers sogar in DlJ nicht nur zitiert, sondern<br />

auch ein RÄckener Folgewirkungen beim Kind Nietzsche betreffendes Fazit in einer<br />

Anmerkung untergebracht 253 ;<br />

5. wird der im gewÇhlten Zusammenhang wohl relevanteste Beleg bei einem weiteren Autor,<br />

dem HÄdl steinbruchartigen „Umgang mit der Nietzsche-Literatur“ 254 vorwirft, berÅcksichtigt<br />

und in einer Kurzfassung zitiert 255 ;<br />

6. Åbergeht der Autor den 1994 vorgestellten und 1995 verÄffentlichten Beleg nicht nur insofern,<br />

als er sich m.W. nirgendwo in DlJ mit ihm in fÅr mich erkennbarer Weise direkt auseinandersetzt,<br />

sondern er verzichtet irritierenderweise<br />

7. vor allem darauf, im Sinne einer kritischen Gegenprobe oder eines fakteninduzierten HÇrtetests<br />

aus diesem Beleg Konsequenzen, seine eigenen Argumentationen dabei ÅberprÅfend<br />

und ggf. entsprechend modifizierend, zu ziehen; und er nÅtzt<br />

8. auch weitere aus der Briefkonzeptkladde von Nietzsches Mutter im nÇmlichen Vortrag<br />

erstmals verÄffentlichte Informationen vor allem Åber nÇhere UmstÇnde der zum Tode von<br />

Nietzsches Vater fÅhrenden Gehirnerkrankung leider keineswegs als freihaus gelieferte<br />

willkommene Gelegenheit, seine angesichts der 1995 verÄffentlichten Informationen fast<br />

schon peinlich idyllische Schilderung des ‘biographischen Settings von Nietzsches Kindheit’<br />

(DlJ, S. 30-42) à la Reiner Bohley, 1987, ebenso wie einige NaK-kritische (nach meinem<br />

Urteil hÄchst riskante 256 ) Argumentationen zu ÅberprÅfen.<br />

251<br />

Johann Figl: Geburtstagsfeier und Totenkult. Zur ReligiositÜt des Kindes Nietzsche. In: Nietzscheforschung,<br />

Bd. 2. Berlin, 1995, S. 21-34; der Text ist bis auf wenige Worte identisch mit: GottesverstÜndnis<br />

und TotengedÜchtnis. Zur ReligiositÜt des Kindes Nietzsche. In: Ulrich Willers (Hg.): Theodizee<br />

im Zeichen des Dionysos. MÅnster u.a.O., 2003, S. 59-68.<br />

252<br />

Hermann Josef Schmidt: Friedrich Nietzsche aus Rácken. In: Nietzscheforschung, Bd. 2, 1995, S.<br />

35-60.<br />

253<br />

Vgl. DlJ, 2009, S. 73, Anm. 188, und S. 74, Anm. 190.<br />

254<br />

Ebenda, S. 48, Anm. 141.<br />

255<br />

Christian Niemeyer: Nietzsches andere Vernunft. Psychologische Aspekte in Biographie und Werk.<br />

Darmstadt, 1998, S. 58.<br />

256<br />

Erinnert sei insbes. an die AusfÅhrungen hier in 3.4.2.<br />

175


Damit stellt sich die Frage, warum DlJ auf die bereits 1995 verÄffentlichte, den obigen Punkt<br />

1. belegende Information nirgendwo eingeht; und obwohl die Kenntnis dieser Passage zwar<br />

die Jahre zuvor erschienenen Interpretationen in NaK nicht als richtig beweist, aber vielleicht<br />

doch einerseits den Gedanken nahelegen kÄnnte, wie realitÇtsnah und insofern auch zutreffend<br />

geisteswissenschaftliche Interpretationen auszufallen vermÄgen, wenn man auch Texte<br />

Nietzsches als Texte eines Menschen anerkennen kÄnnte, dessen Recht nicht bestritten wird,<br />

in seinen Texten zu formulieren, was er formuliert: anstatt ihm interpretativ aufzunÄtigen<br />

bzw. seine Texte interpretativ insofern zu vergewaltigen, als man ihnen als Sinn dasjenige<br />

entnimmt, was man gerne hÇtte, das dort formuliert worden wÇre. Aber derlei Offenheit<br />

scheint zumal seit der Erfindung ethisch anspruchsvoller monotheistischer Religionen eines<br />

der grÄÉten Probleme leider nicht nur seitheriger Heils-, sondern auch Hermeneutikgeschichte<br />

usw. geworden zu sein. Und andererseits freilich auch zu registrieren, wie ganze Interpretationskulturen<br />

kollabieren kÄnnen, wenn sie trotz allen apologetischen BemÅhens und faszinierender<br />

hermeneutischer Tricks allzusehr mit den Fakten in einen Widerspruch geraten, den<br />

keinerlei Dialektik seriÄs aufzulÄsen vermag.<br />

Die Beantwortung der Frage nun, warum der Autor auf das im Folgenden angefÅhrte – es<br />

gibt noch weitere! – nach meinem Urteil argumentationsmitentscheidende Zitat in seiner Auseinandersetzung<br />

nirgendwo eingeht, das in ihm Exponierte also nicht seinerseits zum Problem<br />

macht oder (im Sinne einer Gegenprobe) wenigstens als Fragezeichen an seiner theodizeeproblementschÇrfenden<br />

Interpretation frÅhster Texte Nietzsches selbst dann nicht zu nutzen<br />

sucht, wenn er eines der betreffenden Zitate wie erwÇhnt auch anderenorts gefunden haben<br />

muÉ, ergibt sich aus des Autors Perspektive hier in DlJ vermutlich ganz einfach: Hatte er<br />

nicht, wie (in 3.3.2.1.) skizziert, S. 69 eine „grundsÇtzliche Unterscheidung“ zwischen philosophischer<br />

Interpretation und „biographischen resp. psychologischen äberlegungen“ vorgenommen?<br />

Selbst wenn Vf. nun von einer nÇheren Diskussion seiner Hypothese absieht, daÉ es (1) geradezu<br />

abwegig wÇre, bei der in NaK-falsifizierender Intention vorgenommenen Interpretation<br />

von Texten eines ca. elfjÇhrigen Kindes (wie des Moses-Vierzeilers und von Der GeprÄfte)<br />

bereits zwischen einer philosophischen Interpretation und biographischen sowie psychologischen<br />

äberlegungen unter der Voraussetzung strikt zu trennen, daÉ biographische Fakten und<br />

psychologische äberlegungen sowohl philosophisch als auch bei tiefenschÇrferer Interpretation<br />

von Texten eines ElfjÇhrigen irrelevant wÇren, demonstriert der Autor hier in fast lehrbuchreifer<br />

Manier die Folgelast des meinerseits schon vor Jahrzehnten monierten – nicht selten<br />

jedoch apologetisch genutzten – Denkfehlers 257 , theoretisch Unterscheidbares als auf der<br />

Faktenebene von einander unabhÇngig anzusetzen, indem er (2) diese theoretische Unterscheidung<br />

zwischen unterschiedlichen Interpretationsperspektiven offenbar so auf die Faktenebene<br />

ÅbertrÇgt, daÉ biographische und psych(olog)isch hochgradig relevante Fakten wie<br />

bspw. Erlebnisse, dokumentierte Aussagen usw. fÅr eine ‘philosophische’ Interpretation so<br />

irrelevant wÇren, daÉ sie in einer entsprechenden Untersuchung wie in DlJ nicht einmal erwÇhnenswert<br />

sind. Will der Autor ernstlich in Problementsorgungsperspektive – genauer: in<br />

Theodizeeproblementsorgungsintention – jeden nur denkbaren Faktenbefund in Nietzsches<br />

Lebensgeschichte aus seiner ‘philosophischen’ Interpretation selbst noch von Texten des Kindes<br />

ausklammern? Widerspricht dem nicht sein eigenes Verhalten, zumal NaK-Interpretationen<br />

frÅher Nietzschetexte per ‘KontextabhÇngigkeitsaufweise’ interpretativ zu entschÇrfen?<br />

Um dann jedoch trotzdem solcherart erzielte Resultate als erfolgreiche NaK-Kritik zu verÄffentlichen<br />

und einer auch in solchen Fragen leider weitgehend ahnungslosen FachÄffentlichkeit<br />

quasi zu inserieren? Jedenfalls kein schlechter Test auf Leserkompetenz?<br />

257<br />

Vgl. Hermann Josef Schmidt: Weltanschauungsgenese und Weltanschauungskritik. Zum VerhÜltnis<br />

von Weltanschauungsgenese und Weltanschauungskritik sowie zu P.Strassers Problematisierung der<br />

PrÜmissen und Relevanz des weltanschauungskritischen Ansatzes von Ernst Topitsch. In: Conceptus<br />

VIII (1974), S. 95-108.<br />

176


Nun erst zum entscheidenden obigen ersten Punkt: Das wohl klarste Portrait des RÄckener<br />

Kindes Nietzsche, das m.W. bis Oktober 1994 aus Archivunterlagen eruiert werden konnte,<br />

steht in engstem Zusammenhang mit dem sprachlich nicht angemessen beschreibbaren innerfamiliÇren<br />

GAU von 1848/1849, dem sich Åber 9 Monate hinziehenden Leiden seines Vaters<br />

und der verzweifelten Trauer der zahlreichen Verwandten. In BriefentwÅrfen, in denen Nietzsches<br />

Mutter Franziska von der ersten lÇngeren BewuÉtlosigkeit ihres Gatten zu berichten<br />

sucht, erwÇhnt sie auch das tÇgliche Mitbeten ihrer Kinder:<br />

„Unsre drei Kinderchen sind Gott sei Danck wohl [...] sie bethen auch tÇglich um die Gesundheit<br />

des guten Pappa und sorgen sich mit uns um ihn [...] Fritz ist [...] ganz verstÇndig und hÇlt immer<br />

fÅr sich seine Betrachtungen warum der liebe Gott den Pappa nur noch nicht gesund mache und<br />

trÄstete gestern warte nur meine Mamma wenn es nur erst anfÇngt zu blitzen dann wird uns schon<br />

der liebe Gott eher hÄren“ 258 .<br />

So finden wir lt. Bericht seiner eigenen Mutter, 7 bis 9 Jahre spÇter primÇre Adressatin spezifisch<br />

theodizeeproblemhaltiger Texte des Kindes, bereits im FrÄhjahr 1849 dasjenige<br />

Sprachmaterial beim erst VierjÜhrigen, das in lt. NaK theodizeeproblemhaltigen Gedichten<br />

der Sammlungen vom 2.2.1856 bis 2.2.1858 und der Autobiographie des Sommers 1858 von<br />

Fritz wiederum auftaucht: Zu SchloÖ und SchlÄssel kommt in diesem Briefkonzeptauszug aus<br />

dem FrÅhjahr 1849 nach mehr als anderthalb Jahrhunderten 259 endlich auch der Inhaber von<br />

beidem unÅbersehbar ins Bild: das vierjÜhrige Kind Friedrich Nietzsche! So einfach ist das?<br />

Aber wohl nur dann, wenn man nicht Interpretationstheorien prÇferiert, die legitimieren, nahezu<br />

jeden denkbaren Sachverhalt liquidieren zu kÄnnen? Und, zugegeben, wenn man als<br />

Spurenleser aufwendig, systematisch und sich auf Arbeiten Dritter nicht verlassend vorgeht,<br />

dabei bspw. in Archiven den erforderlichen ‘Strukturblick’ sowie auch etwas GlÅck 260 hat.<br />

258<br />

Briefentwurf Franziska Nietzsches wohl an Emma Schenk, FrÅhj. 1849 (GSA 100/846, S. 54); vgl.<br />

Hermann Josef Schmidt: Friedrich Nietzsche aus Rácken, 1995, S. 56. Dieser weitestgehend Åbergangene<br />

– oder: verschwiegene? – Beleg ist fÅr <strong>Genetische</strong> nietzscheadÇquatere <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

m.E. so zentral, daÉ er in unterschiedlichen ZusammenhÇngen leider weiterhin anzufÅhren und jeweils<br />

wenigstens mit einer Kurzkommentierung zu versehen ist – selbst um den Preis auch dem Vf. hÄchst<br />

unsympathischer Doubletten unterschiedlichen Orts, fÅr die er grÅndliche Leser um VerstÇndnis bittet.<br />

259<br />

Vf. wird wohl nie den Moment vergessen, als er gegen 2.30 nachts kurz nach Jahresanfang 1994 an<br />

der Endkorrektur von NaJ II arbeitete, und seine Frau, die sich die Transkription der Briefkonzeptkladde<br />

von Nietzsches Mutter aus den Jahren 1844ff. vorgenommen hatte, eilig in seinen Arbeitsraum<br />

kam, sagte, sie wÅrde ihm gerne sofort die neueste Entdeckung vorlesen... und wir uns danach nur<br />

ansahen. Seitdem fehlt lediglich noch ein einziger, freilich ‘vÄllig undenkbarer’ Beleg, um die Kette<br />

schlieÉen zu kÄnnen. Ein ‘vÄllig undenkbarer’ Beleg jedoch fÅr etwas, das aus Nietzsches Texten<br />

lÇngst rekonstruiert werden konnte, jedoch nur ‘belegt’ werden kÄnnte, wenn das erforderliche externe<br />

Mosaiksteinchen, und seien dessen Fragmente fast nur atomar, noch hinzukÇme. (Da Vf. sich schon<br />

vor Jahren angewÄhnt hatte, immer dann, wenn ein fÅr christophile Interpreten bes. brisantes Thema<br />

angeschnitten wurde, nach Belegen zu suchen, die auch drei ihm bekannte Interpreten als inkarnierte<br />

Falsifikatoren – des Autors GesprÇchspartner war immer dabei – unter der Voraussetzung primÇren<br />

Erkenntnisinteresses Åberzeugen kÄnnen mÅÉte, verfÅgte er ein ein recht ‘hartes’ Kriterium zur Beurteilung<br />

der ‘ValiditÇt’ bestimmter Belege.)<br />

260<br />

Wer glaubt ernstlich, daÉ dieser Text und Vergleichbares 160 Jahre lang erhalten geblieben wÇre,<br />

wÅrde ‘man’ ihn schon vor Jahrzehnten gelesen haben? Und wenn der Text manchem in die Hand<br />

gefallen wÇre, der oder die hÇtte voraussetzen kÄnnen, daÉ diesen Text niemand zuvor gelesen hÇtte<br />

bzw. von seiner Existenz wÅÉte? Wie leicht hÇtte das betreffende Blatt à la Elisabeth aus der Kladde<br />

entfernt werden kÄnnen? Und an solchen ‘ZufÇllen’ hÇngt tiefenschÇrfere <strong>Nietzscheinterpretation</strong>?<br />

Womit einmal mehr belegt wÇre, wie sehr es auf vollstÇndige und seriÄse Editionen – sowie ggf. auf<br />

Autopsie! – auch dann ankommt, wenn man vor dem Umfang der BÇnde erschrickt, die Zeit der Lek-<br />

177


FÅr die Annahme der AuthentizitÇt der geschilderten Ereignisse spricht, daÉ diese in nur<br />

geringfÅgig abweichender Version in zwei weiteren EntwÅrfen aus den nÇmlichen Tagen<br />

festgehalten sind. Und fÅr die Annahme wenigstens damals wohl pastorenhausÅblicher Reformulierungen<br />

261 sowie glashausorientierter Beseitigungsversuche 262 von selbst nur bedingt<br />

AnstÄÉigem spricht schlieÉlich, daÉ im Brief vom 8. MÇrz 1849 an Emma Schenk, Ehefrau<br />

von Ludwig Nietzsches bestem Freund, dem Archidiakon Emil Ludwig Schenk aus Zeitz, die<br />

gesamte sich auf Fritz und das Beten der Kinder beziehende Passage des ansonsten groÉenteils<br />

wÄrtlich Åbernommenen Briefentwurfs komplett entfÇllt – und das sogar im Brief an die<br />

wohl vertrauteste Freundin der spÇten RÄckener Jahre...<br />

Das Zitat selbst zeigt seit mehr als anderthalb Jahrzehnten in wohl unverdÇchtiger Perspektive<br />

einen vierjÇhrigen Fritz in Åberraschender TiefenschÇrfe:<br />

– Nietzsche war als Kind in auÉergewÄhnlichem MaÉe wohl stressbedingt ‘frÅhreif’. FrÅhreife<br />

ist u.a. dadurch belegt, daÉ seine Mutter – offenbar ohne sich darÅber sonderlich zu verwundern<br />

– fÅr sich lediglich notiert, daÉ er als VierjÇhriger „ganz verstÇndig“ sei, also in<br />

erstaunlichem MaÉe bereits eigenstÇndig denke und handele, insofern er „immer“ und „fÅr<br />

sich“ selbst „seine Betrachtungen“ anstelle, offenbar bevor er mit anderen Åber Inhalte seines<br />

Nachdenkens spricht.<br />

– Nietzsche stellte schon als VierjÇhriger an seine Herkunftsreligion basale Fragen wie bspw.,<br />

warum seine Gebete und die seiner Familie nicht erhÄrt werden; zumal wenn behauptet<br />

wird, der HErr liebe es doch, Gebete zu erhÄren, weshalb auch weiterhin gebetet werden<br />

solle.<br />

– Die Art der von Nietzsches Mutter festgehaltenen Formulierung des VierjÇhrigen lÇÉt wenigstens<br />

leise Ungeduld, Irritation oder eben Theodizeeproblemhaltigkeit – warum der liebe<br />

Gott den Pappa „nur noch nicht“ gesund mache – des Kindes (und/oder vielleicht auch<br />

seiner sich hinter ihrem Kind versteckenden Mutter?) erkennen.<br />

– Gegenstand der Frage ist nicht die Art des Verhaltens von Menschen, sondern Gottes: ihn<br />

bzw. sein Verhalten sucht dieses Kind bereits zu verstehen, sich zu erklÇren.<br />

– Schon das vierjÇhrige Kind also erscheint in charakteristischer Weise als vertikal verstÇndnisorientiert<br />

und -interessiert.<br />

– Gegenstand der Frage ist auch nicht ganz unspezifisch Gott, sondern ein spezifisches Verhalten<br />

Gottes, dessen All- oder Zaubermacht dabei vorausgesetzt ist. Was auch der beste<br />

Arzt wie Dr. Stapf aus Naumburg oder selbst Prof. Oppolcer aus Leipzig nicht mehr kÄnnen,<br />

seinen Vater zu heilen, kann Gott, vorausgesetzt, daÉ er das auch will...<br />

– DaÉ Gott jedoch kann und daÉ ER auch will, steht fÅr den VierjÇhrigen offenbar (noch) fest:<br />

problematisch fÅr ihn erscheint gegenwÇrtig lediglich der Zeitpunkt – „nur noch nicht“ –<br />

der fest vorausgesetzten, durch eigenes Beten quasi als gesichert erreichbar erscheinenden<br />

gÄttlichen Hilfe.<br />

tÅre ÅberschlÇgt und mit dem Wust aufgedrÇngter Verpflichtungen, die zu absolvieren sind, sowie der<br />

Vielzahl wichtiger anderweitiger LektÅren usw. vergleicht, die deshalb nicht mehr erfolgen kÄnnen?<br />

261<br />

Zur „Gott“ thematisierenden Sprache im RÄckener Pastorenhaus vgl. Ursula Schmidt-Losch: „Leben“,<br />

2001, S. 105-120.<br />

262<br />

Zur Situation speziell im RÄckener Pfarrhaus vgl. Hermann Josef Schmidt, Nak, 1991, S. 822-832,<br />

und 1995, passim; auÉerdem Klaus Goch: Franziska Nietzsche, 1994, und: Nietzsches Vater oder Die<br />

Katastrophe des deutschen Protestantismus. Eine Biographie. Berlin, 2000. Allgemein zum Hintergrund<br />

Martin Greiffenhagen (Hg.): Pfarrerskinder. Stuttgart, 1982; ders.: Anders als andere? Zur<br />

Sozialisation von Pfarrerskindern. In: ders. (Hg.), Pfarrerskinder, S. 14-34; ders. (Hg.): Das evangelische<br />

Pfarrhaus. Stuttgart, 1984; Ruth Rehmann: Der Mann auf der Kanzel. MÅnchen, 4 1988. Neuerdings<br />

nochmals Hermann Josef Schmidt: Wie Herkunft Zukunft bestimmt oder: zum Fall des Philosophen<br />

Friedrich W. Nietzsche aus Rácken. RÄckener Gedenkrede zu Nietzsches 110. Todestag am<br />

25.8.2010. In: AufklÇrung und Kritik 17, 4/2010, S. 158-179, und: www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

178


– Und nur deshalb vermag bereits der VierjÇhrige zu trÄsten: er vertraut auf die gÄttliche Hilfe<br />

und er glaubt zu wissen, daÉ sie eintreten wird, wenn Gott will... So ist er<br />

– reif genug, sich anderen zuzuwenden:<br />

– mÄglicherweise muÉ aber noch eine weitere Bedingung erfÅllt werden, bevor Gott hilft:<br />

Gott muÉ das Beten auch hÄren – vielleicht wird von allen Familienmitgliedern nicht nur<br />

leise, sondern laut gebetet. (Alternative Deutung: kann dieser VierjÇhrige noch nicht zwischen<br />

„erhÄren“ und „eher“ bzw. „besser hÄren“ unterscheiden?)<br />

– Deutlich ist auch, daÉ in bisher vielleicht noch nicht vÄllig geklÇrter Weise das HÄren, Helfen,<br />

Kommen oder ErhÄren Gottes mit den Stichworten „Gewitter“ und „Blitz“ zusammenhÇngt...<br />

Diesen Stichworten und deren nÇherem Kontext begegnen wir in Nietzsches<br />

Dichtungen jedoch seit Anfang 1856 in mehrfacher Version.<br />

DaÉ „Gewitter“ und „Blitz“ auch eine – die erste? – BrÅcke zu dem griechischen Herrn der<br />

Blitze, zu Zeus, schlagen, der in der Graecophilie des Kindes 1855/1856 den hÄchsten<br />

Rang einnimmt und schon bei ‘Homer’ wie noch in Der GeprÄfte Garant des Gastrechts<br />

ist, bedarf wohl kaum eines Kommentars. Und vielleicht auch nicht mehr, was das bedeutet?<br />

Bereits mit diesem Beleg ist wohl selbst fÅr christophile Skeptiker gesichert: Schon der VierjÇhrige<br />

antwortet auf seine eigenen Fragen nicht nur<br />

1. als kleiner Selbstdenker, denn er betet nicht nur mit, sondern denkt selbst nach, indem er<br />

„immer fÅr sich seine Betrachtungen“ hÇlt, „warum der liebe Gott den Pappa nur noch<br />

nicht gesund mache“, sondern auch<br />

2. als kleiner PrÇfalsifikationist, denn: Er vergleicht das Reden der Erwachsenen mit deren<br />

Handeln, und die ggf. tÇglich auf ihn einprasselnden frommen SprÅchlein, Durchhalteparolen<br />

und Ermunterungen mit der brutalen RealitÇt. Eine sich verschÜrfende Inkonsistenzerfahrung,<br />

deren Art der Verarbeitung und ‘philosophischen Umsetzung’ den Denker Nietzsche<br />

prÜgte.<br />

3. SchlieÉlich zeigt diese Momentaufnahme aus dem FrÅhjahr 1849 das Kind quasi in einem<br />

SpÇtstadium noch verpuppten Zweifels so, als ob wir dabei zusehen kÄnnten, wie diese<br />

Puppe bei jedem Schmerzensschrei oder Verzweiflungsausbruch Ludwig Nietzsches deutlicher<br />

zu vibrieren und zu zucken beginnt... Nach dem im Widerspruch zu allen Gebeten<br />

und Aussagen Çlterer Familienmitglieder dann doch erfolgten Tod seines Vaters am<br />

30.7.1849 samt sofortigen religiÄsen Sprachwechsels (zu „Tag der ErlÄsung“) stand das<br />

Kind zuerst wohl unter Schock und hat die nÇchsten Tage sowie Beerdigungsfeierlichkeiten,<br />

Trauerszenen usw. in einer Art wacher Halbtrance Åberstanden. Doch vermutlich<br />

sehr schnell differenzierte – und dissoziierte? – sich bei Fritz wohl dessen geistigemotionale<br />

Entwicklung. Um diesen zeitweise wohl deutlich mehrspurigen ProzeÉ besser<br />

zu fassen, kÄnnte man einerseits auf den prÇchtigen Schmetterling achten, der sich aus dieser<br />

Puppe befreite (und sich ca. 6 1/2 Jahre spÇter in einem autotherapeutisch so gelungenen<br />

Lustspiel wie demjenigen des ElfjÇhrigen ‘materialisierte’); andererseits freilich dÅrften<br />

sich Zweifel wie metastasenproduzierende KrebsgeschwÅre in nahezu alles zuvor naiv<br />

Geglaubte gefressen und zu der nur zeitweilig unterbrochenen chronischen Traurigkeit dieses<br />

Kindes gefÅhrt haben, die der DreizehnjÇhrige in Aus meinem Leben wohl erstmals<br />

selbst beschreibt; und auch noch der spÇtere Nietzsche in einigen Texten als „Verlust der<br />

Kindheit“ usw. beschwÄrt. 263<br />

Jedenfalls dÅrfte damit jenseits aller interpretativen Finessen deutlich geworden sein, daÉ<br />

schon der VierjÜhrige auf eine DenkfÜhrte eingeschwenkt ist, auf der wir den Elf- bis Drei-<br />

263<br />

Mazzino Montinari: Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875 bis 1879, 1982, S. 21-<br />

37, und: Hermann Josef Schmidt: Von „Als Kind Gott im Glanze gesehn“ zum „ChristenhaÖ“?, 2001,<br />

S. 95-118.<br />

179


zehnjÜhrigen in einigen seiner Texte bereits wÜhrend der letzten Jahre seiner Kindheit gedanklich<br />

begleiten kánnten, wenn wir dazu bereit wÇren. Warum wir das nicht sein sollten, ist<br />

zumindest fÅr diejenigen rÇtselhaft, die sich auch dann intellektuell nicht als bedroht empfinden,<br />

wenn ein Kind ander(e)s zu denken wagt, als man das selbst tut oder fÅr richtig hÇlt.<br />

GenÅgt dieser Beleg vom FrÅhjahr 1849, um unseren argumentativen Sack nun endlich zuzuziehen?<br />

Nietzsche bewegt sich wÇhrend seiner gesamten textlich belegten Kindheit in Gedichten<br />

und TheaterstÅckchen ebenso wie in seiner Autobiographie des Sommers 1858 mehr<br />

oder weniger deutlich im Horizont des oben Skizzierten, wobei diese poetische Wiederkehr<br />

des Fast-schon-Gleichen unter obwaltenden UmstÇnden wohl kaum nachdrÅcklicher erfolgen<br />

konnte. Das gilt sogar dann, wenn nicht weiter bedacht wÅrde, daÉ der nach dem Tode Ludwig<br />

Nietzsches mittlerweile knapp FÅnfjÇhrige, der die Endphase des schmerzhaften Gehirnleidens<br />

seines Vaters, dessen permanentem Klagen und verzweifelten Schmerzschreien im<br />

hellhÄrigen RÄckener Pfarrhaus nur tagsÅber und bei gutem Wetter ausgewichen werden<br />

konnte, nach dem Tode seines Vaters seine Fragen an Gott nicht eingestellt hat – genauer<br />

wohl: sie trotz wenigstens anfangs besten Willens nicht einzustellen vermochte –, sondern<br />

radikalisiert haben dÅrfte: warum Gott, dessen Existenz und Macht fÅr Fritz noch lange unstrittig<br />

blieben, seinen Vater so fÅrchterlich leiden lieÉ, ihn geradezu folterte 264 , schlieÉlich<br />

sterben lieÉ, und warum er ihn nicht heilte, warum er durch dessen Tod auch die nun ernÇhrerlose<br />

Familie bestrafte usw.<br />

Nietzsches Texte legen die Annahme nahe, dieses Kind habe Gott befragt – und irgendwann<br />

fÅr den MÄrder seines Vaters gehalten. Ein wohl ‘umwerfendes Erlebnis’, nur verdrÇngbar<br />

– falls mÄglich –, in seiner Pastorenfamilie jedenfalls nicht kommunizierbar; und sie<br />

bieten dem sorgfÇltigen Leser, der sich derlei naheliegende Annahmen nicht verbietet, Fragmente<br />

von Nietzsches frÅhen Gott bzw. gÄttliches Verhalten thematisierenden poetisch (z.T.<br />

in ‘griechischer’ Verfremdung) geronnenen SelbstgesprÇchen, in denen in vielfachen AnlÇufen<br />

und in unterschiedlichen Versionen fast Punkt fÅr Punkt abgearbeitet oder in kompensatorischer<br />

Phantasie poetisch bewÇltigt wird: sei es in breiter Palette verfremdet an ‘griechischen’<br />

Themen, einsetzend spÇtestens mit Der GeprÄfte, sei es in Seefahrer- oder Gewittergedichten,<br />

Schilderungen von UnglÅcksfÇllen und tapferer Rettung, sei es in historisierenden<br />

Gedichten, sei es in autobiographischer Schilderung.<br />

Doch all’ das ist lÇngst schon, einsetzend in den frÅhen 1980er Jahren, in BerÅcksichtigung<br />

frÅher Texte Nietzsches thematisiert, in Na, 1991-1994, fÅr das Naumburger Kind und den<br />

Alumnen der berÅhmten ‘Gelehrtenschule’ Schulpforta skizziert und z.T. dokumentiert, in<br />

VortrÇgen bzw. BeitrÇgen ab 1990 auch in BerÅcksichtigung von Texten des ‘reiferen Nietzsche’<br />

als noch aufweisbarer Subtext belegt 265 sowie in einigen Konsequenzen in einem ‘interpretativen<br />

Lasterkatalog dominierender ‘Blindheiten’ und Einseitigkeiten, mangelnder Kompetenzen,<br />

verweigerter Perspektiven oder ausgeklammerter Inhalte’ in seiner Relevanz fÅr<br />

nietzscheadÇquatere <strong>Nietzscheinterpretation</strong> prÇsentiert und diskutiert. 266<br />

264<br />

Belegt hier noch die ansonsten kaum verstÇndliche spÇte Dionysos-Dithyrambe Klage der Ariadne<br />

(VIII 3, 396-399) ZusammenhÇnge? Das war Rudolf Kreis: Der gekreuzigte Dionysos, 1986, lediglich<br />

in Kenntnis der Autobiographie von 1858, schon vor langem aufgefallen.<br />

265<br />

Hermann Josef Schmidt: „ich wÄrde nur“, 2002, S. 83-104; FÄr „das Heidenthum seinem Grundcharakter<br />

nach eingenommen“? Nietzsches ProblemkontinuitÜt. In: Roland Seim (Hg.), „Mein Milieu<br />

meisterte mich nicht“. Festschrift Horst Herrmann. MÅnster, 2005, S. 126-145; und: Nietzsches Testament<br />

oder: Das „Gesetz wider das Christenthum“ in genetischer Perspektive. In: Eric Hilgendorf<br />

(Hg.), Wissenschaft, Religion und Recht. Hans Albert zum 85. Geburstag. Berlin, 2006, S. 201-222.<br />

266<br />

Hermann Josef Schmidt: Entnietzschung, 2000, S. 105-174.<br />

180


Um zur Erinnerung nur ein einziges, wenngleich an TiefenschÇrfe schwerlich Åberbietbares<br />

Beispiel grandioser Selbstanalyse – oder ‘unbewuÉter Eruption’? – basaler Motivationen<br />

Nietzsches anzufÅhren:<br />

Grad der moralischen Erhitzbarkeit unbekannt. – Daran, dass man gewisse erschÅtternde Anblicke<br />

und EindrÅcke gehabt hat oder nicht gehabt hat, zum Beispiel eines unrecht gerichteten, getÄdteten<br />

oder gemarterten Vaters [...] eines grausamen feindlichen Ueberfalls, hÇngt es ab, ob unsere Leidenschaften<br />

zur GlÅhhitze kommen und das ganze [!!] Leben lenken oder nicht. Keiner weiÉ, wozu<br />

ihn die UmstÇnde, das Mitleid [!!], die EntrÅstung [!!] treiben kÄnnen, er kennt den Grad seiner<br />

Erhitzbarkeit nicht. 267<br />

Verwundert, wenn derlei zumal von Interpreten bestimmter weltanschaulicher Richtungen<br />

auch 20 Jahre nach Erscheinen der KindheitsbÇnde von Nietzsche absconditus und selbst nach<br />

Vorlage entsprechender Zeugnisse seitens Dritter oder damit kompatibler Texte des spÇteren<br />

Nietzsche, die weite Perspektiven erÄffnen kÄnnten, offenbar noch immer nicht akzeptiert zu<br />

werden vermag? Dabei dÅrfte es bleiben, bis sich niemand mehr fÅr Friedrich Nietzsche und<br />

zumal fÅr dessen Entwicklung interessiert. Da selbst in Mitteleuropa altertumswissenschaftliche<br />

Kenntnisse 268 bereits gegenwÇrtig Seltenheitswert sogar bei Nietzscheinterpreten zu gewinnen<br />

scheinen, und solange auÉerdem quasi semikirchenstaatliche VerhÇltnisse dominieren,<br />

werden „auÉerhalb der geistigen Bannmeile der Zeit“ 269 platzierte Untersuchungen auch kÅnftig<br />

auf spezifische Rezeptionsschwierigkeiten stoÉen. So sind aufklÇrungsorientierte und consensussprengende<br />

Sondervoten sinnvoll wie eh und je, ja Ehrenpflicht.<br />

So ist vielleicht wiederum nicht allzu schwer abzusehen, wie von prinzipiellen Gegnern<br />

der hier entwickelten Sichtweise auf den Inhalt des obigen Belegs aus dem FrÅhjahr 1849 und<br />

auf die weiteren ihn stÅtzenden ebenfalls bereits 1995 im Druck vorgelegten Informationen<br />

aus der Hand von Nietzsches Mutter (sowie auf Argumentationen des Vf.s) reagiert werden<br />

267<br />

Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches 72., 1878. Auch dieser m.W. ebenfalls stillschweigend<br />

Åbergangene – genauer wohl: als genetischer Blindheitstest verwendbare – Text ist fÅr<br />

<strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong> m.E. so zentral, daÉ er in entsprechendem Zusammenhang auch<br />

dann kaum zu Åbergehen ist, wenn der Vf. grÅndliche Leser wiederum um VerstÇndnis fÅr die wiederholte<br />

PrÇsentation bitten muÉ. (Eine Geschichte der Relevanz ausgeklammerter Nietzschebelege fÅr<br />

tiefenschÇrfere <strong>Nietzscheinterpretation</strong> kÄnnte aufschluÉreich sein.)<br />

268<br />

Durchaus bin ich mir bewuÉt, daÉ es sich hierbei mittlerweile um ein eher heikles, ressentimenttrÇchtiges<br />

sowie -produzierendes Thema handelt, das denjenigen, der wie d. Vf. diesen Punkt seit<br />

Jahrzehnten beharrlich betont, umso mehr isolieren dÅrfte, je weniger Personen noch Åber Elementarkenntnisse<br />

der antiken Literatur usw. verfÅgen. So avanciert unsereiner auch in dieser Hinsicht schnell<br />

zum „Spielverderber“, denn: äber ‘Nietzsche’ urteilen zu kÄnnen, glaubte jahrzehntelang fast jeder,<br />

der intellektuell etwas auf sich hielt. Und davon, daÉ man als Leser und zumal als Interpret ‘Nietzsche’<br />

ohnedies bestens zu verstehen vermag – besser jedenfalls, als Nietzsche sich selbst –, ging man<br />

weitestgehend unreflektiert aus. Doch ohne Kenntnis von Nietzsches Kompetenzen geht das eben<br />

nicht; und zu diesen Kompetenzen gehÄren wohl an erster Stelle Kenntnisse der antiken Mythologie<br />

und Literatur von ‘Homer’ Åber die Lyriker, Tragiker, Historiker und Philosophen bis tief in den Hellenismus<br />

und z.T. auch in die rÄmische Literatur. Schon das Kind hat sich, wie seine Texte vor allem<br />

ab 1855 zeigen, zeitweise ‘zu den Griechen verkrochen’; und noch der von AusÅbung seiner altphilologischen<br />

Professur 1879 Befreite hat wohl fast jeden fÅr ihn entscheidenden Gedanken in Auseinandersetzung<br />

mit – z.T. wohl auch nur in Modernisierung von – antiken Gedanken entwickelt. Eine Interpretation,<br />

die diese Komponente ausklammert – wie fast jede aus theologischer Richtung – bestÇtigt<br />

sich hiermit vorweg bereits ein recht problematisches Kompetenzniveau. Das gilt auch dann, wenn<br />

eine Diskussion Åber diesen Sachverhalt wie auch Åber eine Reihe anderer ZusammenhÇnge seit Jahrzehnten<br />

verweigert wird bzw. bestenfalls hinter vorgehaltener Hand erfolgt.<br />

269<br />

Ludwig Marcuse: Heine. Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer. Rothenburg ob der Tauber,<br />

1970, S. 187.<br />

181


dÅrfte; vorausgesetzt freilich, die Dominanz genetischen Desinteresses wÅrde gemindert. Wenigstens<br />

fÅnf aus interpretations- oder weltanschauungskritischer Perspektive skizzierbare<br />

Strategeme dÅrften zu erwarten 270 sein:<br />

Strategie 1 bestÅnde darin, die AuthentizitÇt dieser Texte anzuzweifeln. Da die Belege jedoch<br />

von jedem im GSA Weimar selbst Recherchierenden nachprÅfbar sind, lohnt sich kaum,<br />

abenteuerliche Theorien wie bspw. des Inhalts zu erfinden, sie seien in die Briefkonzeptkladde<br />

hineinmanipuliert worden – Defensores-fidei-Interpreten diverser Couleur traue ich nach<br />

Jahrtausenden unsÇglicher Interpretationen 271 mittlerweile leider nahezu ‘alles’ zu –, sondern<br />

es dÅrfte versucht werden, am Wahrheitsgehalt des eindeutig Gegebenen Zweifel anzumelden.<br />

Zuerst wohl Zweifel daran, ob Nietzsches Mutter bei diesen Notizen ehrlich war. So<br />

kÄnnte bspw. unterstellt werden, sie selbst hÇtte zwar zunehmend Theodizeeprobleme gehabt,<br />

sich diese aber nicht eingestehen wollen und sie deshalb ihrem Çltesten Kind in die Schuhe<br />

geschoben. Das mag sogar stimmen; dann hÇtte Fritz – vermutlich anfangs – nur artikuliert,<br />

was seine Mutter fÅhlte, und in ihr vielleicht sogar noch in den ersten Naumburger Jahren<br />

eine stille, freilich zunehmend ambivalente VerbÅndete gehabt... Ein derartiges Mutter-Kind-<br />

Zusammenspiel kann zumal bei Witwen und einem Sohn, „der noch an die glÅcklichen Jahre<br />

erinnert“, schlieÉlich oft genug beobachtet werden. Doch damit wÇre dann genau dieses, nÇmlich<br />

ein nur anfangs intuitives Zusammenspiel Mutter-Kind noch wÇhrend der Naumburger<br />

Kinderjahre als mÄglich konzediert. Und damit der Versuch eines Zusammenspiels Kind-<br />

Mutter, welche sich zunehmend zu verweigern schien, wenigstens im Blick auch auf die Geburtstagssammlungen<br />

zum 2.2.1856-1858 in den Bereich des Plausibleren gerÅckt; was jedoch<br />

kaum im Sinne apologetischer Strategen wÇre. Oder: Eine weniger differenzierte Aussage<br />

des Kindes wÇre erst von seiner Mutter ‘aufgerÅstet’ worden wie bspw. um das WÄrtchen<br />

„nur“.<br />

Vermuten lÇÉt sich hier vielerlei. Doch wer die AuthentizitÇt dieser und anderer Notizen<br />

von 1848/49 bestreitet, kÄnnte dies mit mehr Recht dann auch bei spÇteren Aufzeichnungen<br />

usw. von Nietzsches Mutter tun: Hier sich nicht immer dann in Spekulationen zu verlieren,<br />

wenn das Ergebnis von Archivrecherchen miÉfÇllt, dÅrfte vor allem dann nicht einfach sein,<br />

wenn sich belegen lÇÉt, daÉ Nietzsches Mutter brieflich durchaus raffiniert zu tricksen vermag,<br />

wenn sie bspw. auf diese Weise zu Geld kommen kann. (Dazu unten.)<br />

270<br />

Wie bereits in NaK, S. 146-170, antizipiere, skizziere und destruiere ich mÄglichst auch potentielle<br />

Gegenargumente; was leider nicht ausschlieÉt, daÉ derlei dennoch vorwurfsvoll prÇsentiert werden<br />

wird.<br />

271<br />

Die Formulierung „nach Jahrtausenden“ soll verdeutlichen, daÉ es sich bei „defensores-fidei-<br />

Interpreten“ keineswegs nur um einige mehr oder weniger ‘bestallte’ Verfechter einer hierzulande in<br />

bestimmten Regionen noch offiziell dominanten Religion handelt, sondern um eine bei weitem grÄÉere<br />

und z.T. auch Çltere Gruppe, zu der auch antike Orakelpriester und nicht wenige Philosophen bis zu<br />

Vertretern sog. ‘Ersatzreligionen’ und sogar sog. K-Gruppen gehÄren konnten und kÄnnen. Am Anfang<br />

von 3.6.3. wird bspw. deutlich, wie weit z.B. auf dem europÇischen Kontinent in dieser Hinsicht<br />

wenigstens zurÅckzugehen ist. DaÉ Vf. bei seiner Kritik an Defensores-fidei-Interpreten oder auch<br />

-interpretationen ‘einseitig’ ist, bleibt solange unvermeidbar, solange beeindruckende subversive Aktionen<br />

allenfalls aus grÄÉerer historischer Distanz diskutiert, jedoch nicht ‘an die groÉe Glocke gehÇngt’<br />

werden sollen. So wÇre mit bestem Grunde auch von „Subversions-Interpreten“ und „-interpretationen“<br />

zu sprechen, denn die europÇische Philosophie- und noch mehr Religionsgeschichte ist erfreulicherweise<br />

voll davon, doch Bemerkungen dazu gehÄren ohne Namensnennung hÄchstens in die<br />

Anmerkungen des Anhangs 4. Andererseits freilich kann man ‘dem PhÇnomen’ im Rahmen kindlicher<br />

Konzeptionen und Diktion bspw. begegnen bei einem inzwischen in Naumburg akklimatisierten Kind<br />

namens Fritz aus den Jahren 1855/56, dessen Lustspiel Der GeprÄfte erstmals in NaK grÅndlichst diskutiert<br />

und seitdem im Fokus der Kontroverse des Autors mit d. Vf. stand.<br />

182


Strategie 2 wÇre die ErÄffnung einer Diskussion, ein vierjÇhriges Kind wÇre zu dergleichen<br />

Aussagen wie den von seiner Mutter Notierten gar nicht fÇhig...<br />

... und Nietzsches naive 272 und wenig gebildete junge Mutter hÇtte diesen erst zeitgenÄssischer<br />

Psychologie zugÇnglichen Sachverhalt verstÇndlicherweise noch nicht zu antizipieren<br />

vermocht. Da muÉ das obige Zitat dann wohl vom Himmel geplumpst sein? Doch mit derlei<br />

AusweichmanÄvern ist nun wohl bevorzugt zu rechnen. DaÉ jemand, der angesichts von hunderten<br />

nicht nur Entwicklungspsychologen und Kindertherapeuten zugÇnglichen Zeugnissen,<br />

daÉ Kinder in diesem Alter durchaus zu vergleichbaren Aussagen in der Lage sind, dann,<br />

wenn er dennoch eine derartige Strategie ‘fÇhrt’, vielleicht auch seine eigene psychische Visitenkarte<br />

Åberreicht, sollte dabei nicht Åbersehen und vor allem nicht erst nachtrÇglich<br />

schmerzlich bedacht werden.<br />

Es gibt weitere Belege aus den RÄckener Jahren 273 , die die Annahme nahelegen, daÉ<br />

„Fritz“ nach heutigen MaÉstÇben als frÅhreif angesprochen werden kÄnnte; was ihn freilich<br />

von tausenden anderer Kinder seiner Generation und seitdem kaum unterscheiden dÅrfte.<br />

Strategie 3 kÄnnte darauf abheben, daÉ, selbst wenn der Text authentisch wÇre, und selbst<br />

wenn Fritz genau so wie berichtet gesprochen hÇtte, spÇtere Texte wie bspw. das Gewittergedicht<br />

der Sammlung zum 2.2.1856 oder Çhnlich klingendes Sprachmaterial mit der Notiz vom<br />

FrÅhjahr 1849 gedanklich nicht gleichzusetzen wÇren – was zwar stimmt, von Defensores<br />

fidei allerdings dann gern unter der Hand in „vÄllig unabhÇngig voneinander“ umgedeutet<br />

wird –, zumal Nietzsche 1856ff. sich an die Ereignisse in RÄcken schon deshalb nicht mehr<br />

genau erinnern kÄnne, weil Familienmythen mittlerweile ja ihre Arbeit getan hÇtten. Diese<br />

Familienmythen hÇtten Nietzsches eigene Sichtweise zuerst modifiziert und spÇter sogar gelÄscht.<br />

Belegt ist davon freilich nichts; der Einwand bliebe also hochgradig hypothetisch (und<br />

widersprÇche anderen Hypothesen).<br />

Doch nehmen wir gegenprobehalber einmal an, Nietzsche hÇtte Familienmythen Åbernommen<br />

und formuliere 1856ff. auch in deren Sprache, so bleibt immer noch die Frage: Was<br />

haben Apologeten damit gewonnen? Denn auch um die KompatibilitÇt der Familienmythen ist<br />

es ja erbÇrmlich bestellt. So paÉt schon der vielzitierte „Tag der ErlÄsung“ nicht zur langanhaltenden<br />

Trauer und noch weniger zum monatelangen tÇglichen Beten um die Gesundung<br />

und Rettung – und eben nicht um einen sanften und schnellen Tod! – des Familienoberhaupts.<br />

Kaum besser paÉt dazu der Text der damaligen RÄckener Kirchendecke, den das Kind schon<br />

wÇhrend der Krankheit seines Vaters – es hatte mit vier Jahren zu lesen gelernt – und spÇter<br />

auch noch bei jedem RÄckenbesuch, der vom Pobleser Pfarrhaus des Vaters von Nietzsches<br />

Mutter aus bis Ostern 1860 bei Ferienaufenthalten erfolgt sein dÅrfte, nachlesen konnte:<br />

272<br />

Die in Biographien verbreitete Annahme, Nietzsches Mutter sei naiv oder gar etwas einfÇltig gewesen,<br />

habe ich bereits in NaK, S. 839ff., nicht nur in Zweifel gezogen, sondern lÇngst destruiert. 1994<br />

wurde in Roland Dressler, Hermann Josef Schmidt und Rainer Wagner: Spurensuche, 1994, S. 188,<br />

eigens ein Brief von Nietzsches Mutter an Frl. v. Grimmenstein, Hofdame in Altenburg, vom<br />

26.1.1866 aufgenommen, in welchem Franziska Nietzsche einige Register zieht, eine weitere auÉerplanmÇÉige<br />

UnterstÅtzung aus dem Herzogshaus fÅr ihren inzwischen in Leipzig studierenden Sohn zu<br />

erhalten, um exemplarisch zu belegen, um wen es sich bei dieser vermeintlich tumben Pastorenwitwe<br />

handelt. Wer bspw. die Briefe der 17jÇhrigen Verlobten aus dem Sommer 1843 an ihren fast doppelt<br />

so alten BrÇutigam, das „TausendschÄnchen“, im Original liest, weiÉ fortan, wer in dieser Ehe ‘die<br />

Hosen anhatte’; auch dann, wenn Franziska, Mittlere von 11 Kindern, von frÅh an gelernt hatte, sich<br />

jeweils einzufÅgen (um aus dieser Position dann aber konsequent zu steuern. Dazu Ursula Schmidt-<br />

Losch: „ein verfehltes Leben“?, 2001).<br />

273<br />

Vgl. Hermann Josef Schmidt: Friedrich Nietzsche aus Rácken, 1995, S. 35-60; mÄglichst viele<br />

relevanten Unterlagen werden berÅcksichtigt vom Verfasser in spe: Nietzsches Kindheit 1844-1850<br />

(Arbeitstitel).<br />

183


„Es sollen wohl Berge weichen und HÅgel hinfallen, aber meine Gnade wird nicht von Dir weichen“,<br />

spricht der Herr, Dein Erbarmer.<br />

Vieles paÉt nicht, wenn man genauer hinsieht: weder bei den Familienmythen, wenn man auf<br />

Vereinbarkeit von deren Inhalten achtet, noch beim religiÄsen Angebot; und auch das – wenngleich:<br />

nicht nur das – dÅrfte vor allem dann das Problem dieses Kindes gewesen sein, wenn<br />

die ihm bekannten Christen moralisch so hochwertig gewesen sein sollten, daÉ frÅhe Zweifel<br />

an Gott als Verrat an ihnen als Personen empfunden worden sein kÄnnten, wÅrden, mÅÉten.<br />

Strategie 4 schlieÉlich kÄnnte ebenfalls darauf abheben, daÉ, selbst wenn der Text authentisch<br />

wÇre, und selbst wenn Fritz genau so wie berichtet gesprochen hÇtte, Fritz von seinem<br />

damaligen Denken ebensowenig wie von seinem damaligen Erleben Erinnerungen behalten<br />

hÇtte, denn sein autobiographisches GedÇchtnis sei noch nicht so ausgeprÇgt gewesen, um<br />

Erinnerungen aus dem 5ten Lebensjahr prÇsent halten zu kÄnnen. Gibt es doch genug Zeitgenossen,<br />

die sich nicht einmal an ihre ersten Schuljahre erinnern kÄnnen.<br />

Auch diese Ausweichstrategie basiert auf einer Hypothese, deren Belege mich interessieren.<br />

Denn das Kind war, wie aus RÄckener Unterlagen entnommen werden kann, 1849<br />

sprachlich bereits so gut eingespurt, daÉ davon ausgegangen werden kann, daÉ auch sein autobiographisches<br />

GedÇchtnis entsprechend stabil war 274 .<br />

Doch wÇre selbst dann, wenn (wie wohl auch bei jedem von uns) das autobiographische<br />

GedÇchtnis des Kindes nicht durchgÇngig voll funktionsfÇhig gewesen sein sollte, ist die vom<br />

Strategen dabei verwandte Voraussetzung noch lÇngst nicht als zutreffend belegt, daÉ nur<br />

Inhalte, an die man sich aktuell jederzeit klar erinnern kann, in Dichtungen ihre Rolle spielen<br />

kÄnnten. So kÄnnen Gedichte fÅr den jeweiligen Skribenten durchaus Hochrelevantes ausdrÅcken,<br />

wenn sie, wie der DreizehnjÇhrige ja selbst beschreibt, erst abends, wenn Schwester<br />

Elisabeth schon schlief, vermutlich vor allem dann im Zustand nicht geringer MÅdigkeit geschrieben<br />

wurden. SchlieÉlich muÉte Fritz morgens um 6 Uhr aufstehen. Da mag ihm manches<br />

in die Feder ‘gerutscht’ sein, was er sich in wacherem Zustand zu schreiben verboten hat.<br />

Doch warum soll das weniger authentisch sein? AuÉerdem habe ich in der „Einleitung fÅr<br />

Metaspurenleser“ in NaK mich damals zu derlei so differenziert inhaltlich geÇuÉert, wie ich<br />

das gerne auch einmal ‘von der Gegenseite’ gelesen 275 hÇtte.<br />

Strategie 5 hingegen wÅrde ganz anders einsetzen, wÅrde den Beleg als Beleg akzeptieren,<br />

dann jedoch monieren, daÉ Theodizeeprobleme tÇgliches Brot fÅr jeden nachdenkenden<br />

Christen seien und schon deshalb fÅr diesen nicht annÇhernd so bedeutsam wÇren wie Kritiker<br />

schon seit der Antike zu Unrecht annehmen. Christliche Religion gehe in Philosophie bekanntlich<br />

nicht auf, erkenne vielmehr an, daÉ ‘der Mensch’ dem GÄttlichen ‘nicht gewachsen’<br />

sei usw. Diese Auffassung ist ebenso wie ein Ensemble weit ambitionierterer Argumentationen,<br />

die jedoch auf den nÇmlichen Effekt hinauslaufen und ohnedies nicht christentumsspezifisch<br />

sind, seitens eines philosophisch orientierten Kritikers problemlos als Glaubenshaltung<br />

zu akzeptieren, solange ein Christ zu philosophischen Argumentationen sein instrumentelles<br />

274<br />

Vgl. bspw. Johann Caspar RÅegg: Gehirn, Psyche und Kárper. Neurobiologie von Psychosomatik<br />

und Psychotherapie. Stuttgart, 5 2011, S. 120ff.<br />

275<br />

Dann aber bitte nicht kapitellang methodologische oder hermeneutisch aufgezÇumte AusweichmanÄver<br />

– solcherart kann man sich Problemen immer entziehen –, um erst dann auf Inhaltliches nÇher<br />

einzugehen, wenn die meisten Interessenten lÇngst ihre LektÅre abgebrochen haben und auch vom<br />

Rest wiederum die meisten erfolgreich eingeschlÇfert werden konnten, sondern ad fontes, an die Texte!<br />

184


VerhÇltnis beibehÇlt, seine Gottesvorstellungen usw. also à la Tertullian 276 , Joseph Ratzinger<br />

277 , Hans KÅng 278 und vielen anderen 279 vor Kritik abschirmt bzw. immunisiert 280 , da sol-<br />

276<br />

„prorsus credibile est, quia ineptum est“ („es ist vÄllig glaubwÅrdig, gerade weil es [so, d. Vf.]<br />

ungereimt ist“). Tertullian: De carne Christi 5 (2, 761 Migne). In: Karl Bayer, Nota bene! Das lateinische<br />

Zitatenlexikon. DÅsseldorf und ZÅrich, 3 1999, Nr. 352, S. 85.<br />

277<br />

Vgl. dazu Hans Albert: Joseph Ratzingers Rettung des Christentums. BeschrÜnkungen des Vernunftgebrauchs<br />

im Dienste des Glaubens. Aschaffenburg, 2008; Zum Dialog zwischen Joseph Ratzinger<br />

und JÄrgen Habermas. Ein kritischer Kommentar. In: Gerhard Engel (Hg.), Schwerpunkt: Atheismus.<br />

In: AufklÇrung und Kritik 17, 3/2010, S. 56-71, und: Joseph Ratzinger als Rechtsphilosoph.<br />

In: A&K 19, 1/2012, S. 36-38.<br />

278<br />

So fand ich von Hans KÅng eine wunderbare Passage, die vielleicht mehr leistet als mancher aufwendige<br />

Kommentar: „Gott aber ist der Urgrund und Urheber von allem. Hinter das Ur kann man<br />

nicht noch weiter zurÅckgehen. Sonst wÇre es kein Ur. Was dieser Urgrund ist, bleibt freilich ein Geheimnis.<br />

Aber nur er erklÇrt die Entstehung von allem.“ In: Mein Leben ist einfach nicht nichts. Der<br />

Theologe und Kirchenkritiker Hans KÄng Äber Trost durch Glauben, die Freude, fremde Galaxien zu<br />

betrachten, und die Freiheit, das Ende des Lebens selbst zu bestimmen. Ein OstergesprÜch. In: Frankfurter<br />

Rundschau, 68. Jg., 7.-9.4.2012, Nr. 83, S. 21-23, das Zitat S. 23. Zu KÅng vgl. Hans Albert:<br />

Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans KÄng. Hamburg, 1979, erw. Neuausgabe<br />

Aschaffenburg, 2005; und ders.: Hans KÄngs Rettung des christlichen Glaubens. Ein<br />

MiÖbrauch der Vernunft im Dienste menschlicher WÄnsche. In: A&K 13. 2006/1, S. 7-39.<br />

279<br />

Nachdem Hans Albert in: Traktat Äber kritische Vernunft, Kap. V. Glaube und Wissen. TÅbingen,<br />

(1968) 5 1991, S. 124-155; Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der menschlichen Vernunft. Kap. V.<br />

Theologie und Weltauffassung. TÅbingen, 1982, S. 96-185, und ders.: Kritischer Rationalismus. Vier<br />

Kapitel zur Kritik illusionÜren Denkens, IV. Kapitel. Wissen, Glauben und Heilsgewissheit. Zur Kritik<br />

der reinen Religion und der religiÄsen Weltauffassung. TÅbingen, 2000, S. 138-188, Fragen der Religionsanalyse<br />

und -kritik behandelte, erlaubt er sich vor allem in den letzten Jahren das VergnÅgen,<br />

sich jeweils in den Vordergrund gerÅckte religions-, glaubens- oder theologieverteidigende Schriften<br />

bevorzugt unter den Gesichtspunkten des Umgangs der betreffenden Autoren mit dem Theodizeeproblem<br />

und mit ihren Wissenschaftlichkeits- und ErkenntnisansprÅchen im einzelnen vorzunehmen.<br />

WÇhrend Gerhard Ebeling (Theologische Holzwege. Gerhard Ebeling und der rechte Gebrauch<br />

der Vernunft. TÅbingen, 1973), Hans KÅng und Joseph Ratzinger Monographien gewidmet wurden,<br />

ÅberprÅfte Albert bevorzugt in der von ihm mitinitiierten und bescheidenerweise nur mitherausgegebenen<br />

Zeitschrift A&K die argumentative SeriositÇt neuerer Schriften einzelner Autoren wie bspw.<br />

von Alexander Kissler (MissverstÜndnisse eines katholischen AufklÜrers. Alexander Kisslers missglÄckter<br />

Versuch einer Kritik am neuen Atheismus. In: A&K 15, 2008/2, S. 10-21), Wolfgang Huber<br />

(Wolfgang Hubers christlicher Glaube. Apologetische BemÄhungen eines christlichen Theologen. In:<br />

A&K 16, 2009/1, S. 5-18), Walter Kasper (Walter Kaspers Apologie des christlichen Glaubens. Ein<br />

kritischer Kommentar. In: A&K 17, 2010/1, S. 189-195), Anselm GrÅn (Religiáse Einsichten eines<br />

Kapuziners. Zu den theologischen Betrachtungen des Paters Anselm GrÄn. In: A&K 18, 3/2011, S.<br />

59-69) und Christoph SchÄnborn (Der Kardinal und der Darwinismus. Christoph Schánborns Beitrag<br />

zur Evolutionslehre. In: A&K 19, 1/2012, S. 39-51).<br />

280<br />

Da dies jedoch in der Regel geschieht, ist es fÅr einen Kritiker nur noch eine Frage des Zeitpunkts<br />

und des Orts bzw. der Stelle in der betreffenden Theodizeeproblemdiskussion, wann christlicherseits<br />

ein ‘argumentativer Joker’, gezogen wird, der eine rationalen Standards verpflichtete Diskussion beendet.<br />

Hochinformativ, bedenkenswert und wohl auch treffend die evolutionsbiologisch orientierten<br />

Diagnosen von Andreas Kilian, Kunst & Nutzen der PrÇsentation zusÇtzlicher, extern nicht ÅberprÅfbarer<br />

Argumente bezÅglich Religion und ihrer Funktionen herausarbeitend: „Religion bietet eine von<br />

der RealitÇt gelÄste Argumentationsebene, um seine Egoismen fast beliebig rechtfertigen und ausleben<br />

zu kÄnnen“, genauer: „Religion ist das konsequente und folgerichtige Anwenden der Nicht-Logik, um<br />

seine Egoismen schein-argumentativ rechtfertigen und durchsetzen zu kÄnnen“. Unter dieser Perspektive<br />

wÇre „Religion [...] das tradierte Bereitstellen von funktionalen Verhalten und Rechtfertigungen,<br />

um seine Egoismen gegen oder mit seinen Gruppenmitgliedern zusammen ausleben zu kÄnnen sowie<br />

dafÅr zu sorgen, dass die Gemeinschaft zum Ausnutzen erhalten bleibt“, u.a. mit dem Effekt, daÉ „Re-<br />

185


cherart ja philosophisch ernst zu nehmende ErkenntnisansprÅche entfallen. Sollten sie dennoch<br />

gestellt werden, wird das kaum unkommentiert bleiben.<br />

Was nun jedoch das Kind Nietzsche betrifft, so ist deutlich geworden, daÉ dieses Kind sich<br />

nicht durchgÜngig mit vorgegebenen ProblementschÇrfungen zufriedenzustellen vermag, sich<br />

auch nicht stÜndig – themenwechselnd – ablenken lÇÉt, auf Demutsappelle wenigstens zeitweise<br />

nur ÇuÉerlich reagiert, weil es schlicht auf Erkenntnis setzt. Es will nÇmlich verstehen,<br />

idealiter: erkennen, warum der gÄtige AllmÜchtige seinen Vater nicht nur nicht geheilt, sondern<br />

seinem Empfinden nach Äber Monate gefoltert und schlieÖlich dann auch noch getátet<br />

hat. Und davon lÇÉt Fritz (oder: etwas in ihm) sich von niemandem abbringen, saugt hingegen<br />

dankbar jede Anregung auf, die dazu beitragen kÄnnte, auf seiner ProblemfÇhrte, diesen ungeheuren<br />

konzeptsprengenden Vorgang – ausgerechnet der ‘groÉe Gottesmann’ und nicht<br />

etwa eine seiner beiden stets krÇnkelnden Tanten muÉte so qualvoll sterben! – zu verstehen,<br />

voranzukommen. So spielt er seine Probleme in immer neuen Versionen, Variationen und<br />

Sujets vorsichtshalber meist verdeckt in Christentumsfernerem durch, erlebt sich dabei und<br />

inszeniert sich wohl auch berechtigterweise als (ver)einsam(t)en Helden, beschwÄrt seinen<br />

Mut, den Fritz in derartiger Konstellation fÅrwahr benÄtigt, um nicht durchgÇngig ‘zu Kreuze<br />

zu kriechen’... Und einige Jahre spÇter, 1861ff., ist der Leser dann ‘plÄtzlich’ mit Texten konfrontiert,<br />

die fÅr ihn, je weniger grÅndlich er nachprÅfte und nachdachte, wieder einmal ‘vom<br />

Himmel gefallen zu sein scheinen’, weshalb er, peinlich verrÇterisch, empfinde ich, dann<br />

flugs eine entsprechende Anregungstheorie oder ãhnliches konstruiert, denn dann mÅssen<br />

Formulierungen bspw. Emersons oder Feuerbachs herhalten, um ‘ErklÇrungen’ zu finden, die<br />

argumentative LÄcher stopfen sollen; anstatt sich zu fragen, ob und ggf. inwiefern dergleichen<br />

Belege auf einer bereits zuvor sich abzeichnenden Denklinie Nietzsches liegen.<br />

Diese Sicht des Vf.s setzt also voraus, daÉ dieses Kind sich nicht so verhielt, wie die meisten<br />

Åbrigen Kinder sich in einer vergleichbaren Situation verhalten haben, verhalten und sich<br />

wohl auch weiterhin verhalten werden. Genau diese differentia specifica belegen schon frÅhste<br />

Texte Nietzsches; und einige Texte des ‘reiferen’ und sogar des ‘spÇten Nietzsche’ ebenfalls.<br />

‘In der Interpretation’ spielt das trotz mancher BemÅhungen des Vf.s offensichtlich<br />

kaum eine Rolle. 281 Dabei dÅrfte es bleiben, solange Christian Morgensterns wohl bekannteste<br />

Formulierung, daÉ nicht sein kann, was nicht sein darf, stilles Motto leider nicht nur mancher<br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong>en zu sein und leider auch zu bleiben scheint.<br />

3.6.2. Erstes auch Editionsfragen betreffendes ResÄmee<br />

Kehren wir also auf die Hauptspur unserer Argumentation zurÅck und ziehen damit bei aller<br />

reservatio mentalis, daÉ das Gehirn eines sich seit mehr als einem halben Jahrhundert mit<br />

philosophischer und wissenschaftlicher Literatur BeschÇftigenden sich zu einem mÄglicherweise<br />

zwar leistungsfÇhigen, mit Sicherheit jedoch weiterhin hochgradig irrtumsanfÇlligen<br />

ligiÄse Institutionen“ zu bestimmen wÇren als „ZusammenschlÅsse von religiÄsen Dienstleistern, die<br />

ihr Substrat zum eigenen Vorteil manipulieren, um sich durch die Erschaffung und Bereitstellung einer<br />

nicht-logischen und nicht-ÅberprÅfbaren Argumentationsebene etwas von der Macht der realen Alpha-<br />

Tiere zu erschleichen.“ Hans Kilian: Die Logik der Nicht-Logik. Wie Wissenschaft das PhÜnomen<br />

Religion heute biologisch definieren kann. Aschaffenburg, 2010, S. 123 und 136f.; dazu Hermann<br />

Josef Schmidt: Die Wiesen jenseits des Totenflusses... Andreas Kilian: Die Logik der Nicht-Logik<br />

usw. In: A&K 17, 2/2011, S. 283-285.<br />

281<br />

Polemisiert Vf. dann nach Jahren registrierter Einsichtsblockade, wird moniert, das schrecke Interessenten<br />

ab. (Doch wo waren diese zuvor?) Formuliert er seine Argumente noch weitere Jahrzehnte in<br />

freundlichstem Ton, werden sie nicht beachtet, auf Zerrspiegelniveau ‘diskutiert’ oder ggf. Åberlegen<br />

lÇchelnd schlicht umgedreht: ‘SchlieÉlich haben wir die Macht’. Dann doch schon besser zuweilen<br />

Texte wÅrzende, in der Sache wohl mehr als nur vollauf berechtigte Polemik; damit diejenigen, die<br />

sich Argumenten ohnedies nicht stellen, mit ihresgleichen wenigstens distinguiert Åber Stilfragen diskutieren<br />

kÄnnen?<br />

186


‘Sinngenerator’ mit dem Effekt entwickelt haben dÅrfte, Hypothesenensembles auszuformulieren<br />

oder auch nur zu skizzieren, die zwar Åber keinen geringen PlausibilitÇts- und wohl<br />

auch Wahrscheinlichkeitsgrad verfÅgen, die, je Åberzeugender sie jedoch erscheinen mÄgen,<br />

desto prinzipiellerer – allerdings: sachkompetenter und ergebnisoffener! – äberprÅfung unterworfen<br />

werden sollten (und mÅÉten), nun insofern den Sack dieser bereits zweiten 282 umfangreichen<br />

Metakritik eines von seiner Intention her nun sogar basale NaK-Hypothesen in<br />

ihren kognitiven AnsprÅchen mÄglichst polydimensional und prÇmissenorientiert destruierenden<br />

Textes des Autors zu und bieten als wie immer hypothetisches erstes Resumee:<br />

1. Die Elimination der Theodizeeproblematik aus Nietzsches Kindertexten – und damit eine<br />

prÇmissenorientierte EntschÇrfung der Hypothese in NaK, das Kind Nietzsche sei zumindest<br />

phasenweise u.a. auch ein kleiner Christentumsproblematisierer und -kritiker 283 gewesen<br />

– stellt ein charakteristisches Merkmal sowie vermutlich auch basales Motiv der unermÅdlichen,<br />

unverzichtbare Voraussetzungen der in NaK entwickelten Nietzschesicht des<br />

Verfassers mÄglichst prinzipiell suspendierenden NaK-Kritik Hans Gerald Hádls dar.<br />

Ein Aufweis eines derartigen Motivs bedeutet jedoch schon deshalb noch keineswegs bereits<br />

per se dessen prinzipielle Diskreditierung oder gar IllegitimitÇtserklÇrung, weil auch<br />

aus dessen Perspektive argumentative SchwÇchen von NaK aufgewiesen werden kÄnnten.<br />

„kÄnnten“, doch es geschah nicht. Dabei hat Vf. die Argumente des Autors incl. DlJ als<br />

Aussagen des nach seinen sechs çFF-finanzierten ‘Nietzschejahren’ vonrechtswegen informiertesten<br />

Fachmannes in allen Fragen, die die Texte usw. des SchÅlers Nietzsche betrafen,<br />

deshalb mÄglichst ernst genommen und zum Ausgangspunkt seiner seine Na-<br />

Thesen ÅberprÅfenden Recherchen gemacht – soweit er sie nicht in BerÅcksichtigung eigenen<br />

Wissens und dank schlichten Nachdenkens ohnedies widerlegen konnte. DaÉ die bisherigen<br />

Rechercheergebnisse seine in Unkenntnis der betreffenden Archivalien formulierten<br />

Hypothesen in der Regel in sogar hohem MaÉe zu bestÇtigen vermochten, hat ihn Åberrascht,<br />

doch auch insofern erfreut, als solcherart wieder einmal deutlich werden kÄnnte,<br />

daÉ geistesgeschichtliche Interpretationen Åber hohen, bestÇtigten RealitÇtsgehalt verfÅgen<br />

kÄnnen, weshalb modernistisches, BanalitÇten strapazierendes Gerede wie „alles ist Interpretation“<br />

darÅber hinwegtÇuschen soll, daÉ keineswegs alle Interpretationen (worauf es ja<br />

ankommt) gleichwertig sind – und die meisten leider erbÇrmlich. Da jedoch „die meisten“,<br />

dominieren nicht selten deren Protagonisten. C’est la vie. Andererseits freilich vermag<br />

vielleicht erst die Identifikation eines derartigen theodizee- und christentumskritikflÅchtigen<br />

Motivs, verbunden mit dem DlJ-charakteristischen Ansatz (vgl. 3.8.3.), die spezifische<br />

Art der ArgumentationsfÅhrung des Autors – als unter der genannten Voraussetzung in<br />

sich beinahe konsistent bzw. ‘logisch’, im Effekt aber bedauernswert ‘tragisch’ – wenigstens<br />

z.T. nachvollziehbar zu machen, die ansonsten weniger verstÇndlich – genauer: irritierend<br />

fehlerhaft wirkend – bliebe. Es kommt dabei u.a. also auf die Menge belegbarer intentions-<br />

sowie ansatzkongruenter bzw. ansonsten wenig(er) verstÇndlicher Details an.<br />

282<br />

Die erste erfolgte in Hermann Josef Schmidt: Der alte Ortlepp 1 , 2001, S. 33-206, bzw. bereits deutlich<br />

gekÅrzt Der alte Ortlepp 2 , 2004, S. 33-143.<br />

283<br />

Auch wenn dies nicht bei jeder Gelegenheit wiederholt werden kann: Wenn vom Kind als<br />

„Christentumsproblematisierer“ oder „Christentumskritiker“ u.Ç. gesprochen wird, ist damit im Sinne<br />

von 3.3.2.4. immer impliziert, daÉ dieses Kind sich zuerst einmal mit denjenigen Vorstellungen, Aussagen,<br />

Bildern von Christentum und Religion ‘kritisch’ d.h. Inkonsistenzen aufspÅrend auseinandersetzt,<br />

die ihm in Familie und nÇherer Umwelt incl. Schule, natÅrlich auch in Kirchenliedern usw. begegneten.<br />

Die frÅhe Graecophilie trug freilich dazu bei, schon frÅh den Blick zu weiten – wie insbes.<br />

Der GeprÄfte ja belegt –, um Inkonsistenzen zunehmend prinzipieller ‘fassen’, zunehmend also<br />

‘Strukturmerkmale’ identifzieren zu kÄnnen; was bei einem ‘Gegenstand’ wie „Christentum“ ein wohl<br />

niemals abschlieÉbares KunststÅck ist. (Woran das u.a. liegt, ist auch aus diesem Text deutlich.)<br />

187


2. Das genannte Motiv des Autors wirkt nun aber als gestÇrkt und z.T. pseudolegitimiert<br />

durch ein Ensemble editorischer Entscheidungen (vgl. oben 3.4.3.1. und 3.4.3.2.) vermutlich<br />

des Sommers 1994, die allerdings<br />

a) erst nach der im Auftrag des çFF durch den Verfasser durchgefÅhrten Begutachtung des<br />

Editionsprojekts der Kindertexte Nietzsches in der Kritischen Gesamtausgabe Werke, Abteilung<br />

I, Band 1, 1995, erfolgten: d.h.<br />

(1) mit dem Effekt einer nachgutachterlichen Revision derjenigen Editionskonzeption, die<br />

der Begutachtung pÇsentiert worden war;<br />

(2) mit dem Effekt eines dank der nun erst durchgefÅhrten alternativen Konzeption284 wenn<br />

nicht dadurch erstrebten, so doch erzielten weitreichenden Freibriefs zugunsten kÅnftiger<br />

editorischer Entscheidungen, da nun eine deutlich umfangreichere Textmenge erst im<br />

Nachbericht vorzulegen ist sowie<br />

(3) mit dem Effekt einiger bereits konsequenzenreicher inhaltlicher Modifikationen im<br />

Band I 1, die z.T. sogar in direktem Widerspruch<br />

(a) zu dem dem Vf. als çFF-Gutachter eingereichten Skript (Vorwort vom 31.3.1994),<br />

(b) zu dem mit dem Gutachterskript anordnungsmÇÉig und auch inhaltlich weitestgehend<br />

Åbereinstimmenden Band I der HKGW und ebenfalls z.T<br />

(c) in direktem Widerspruch zur zumal in NaK, 1991, artikulierten Auffassung des Verfassers,<br />

(d) doch z.T. rÇtselhafterweise kongruent mit der Sichtweise des Autors von DlJ erfolgt zu<br />

sein scheinen, der zwar vom 1.4.1988 bis 31.3.1994 als wiss. Mitarbeiter diesen Band vorbereitete<br />

und nun Åberraschenderweise in DlJ auch einige der nachgutachterlich erfolgten<br />

VerÇnderungen sowie der sonstigen bes. problematischen EigentÅmlichkeiten dieses Bandes<br />

auf zwar charakteristische, aber m.E. wenig Åberzeugende Weise zu begrÅnden sucht,<br />

obwohl er im Sommer 1994, anders als etwa sein GesprÇchspartner, keineswegs zu dem<br />

fÅr editorische Entscheidungen verantwortlichen Herausgeberkreis der Kritischen Gesamtausgabe<br />

gehÄrte.<br />

3. VerstÇndlicherweise wirft auch die Art des Zusammenhangs des in den Punkten 1. und 2.<br />

Formulierten Fragen auf, die seitens des Verfassers bestenfalls zu exponieren sind. So ist<br />

mit alledem wohl deutlich: in einer aus der umfassenden Perspektive <strong>Genetische</strong>r Nietzscheforschung<br />

und -interpretation ausformulierten Metakritik an DlJ, die dabei so prinzipienorientiert<br />

vorgeht, daÉ sie auch Fragen der LegitimitÇt und ggf. SeriositÇt DlJ-<br />

284 Genauer: VollstÇndigkeit der im Druck vorgelegten Aufzeichnungen der textlich belegten Jahre<br />

Nietzsches wird erst dann erreicht, wenn auch der Nachbericht der betreffenden Abteilung vorliegt,<br />

versus ‘liberal’ verstandene VollstÇndigkeit im jeweiligen chronologisch angeordneten Band mit der<br />

Folge eines quantitativ deutlich geringeren und wohl auch weniger relevanten ‘Restbestands’ an Aufzeichnungen<br />

der Jahre ca. 1853-7.9.1864 erst im Nachbericht.<br />

Zu ‘liberal’: ‘liberal’ meint in diesem Zusammenhang, daÉ seitens des Vf.s keineswegs eine zweiwertige<br />

bzw. dichotomische Strategie ‘gefahren’ wird, sondern daÉ es auf ein Mehr-oder-Weniger<br />

ankommt. So gehÄren umfangreichere sog. ‘Vorstufen’ eben nicht erst in den Nachbericht, sondern in<br />

engsten rÇumlichen Zusammenhang mit der sog. ‘Endfassung’ in dem betreffenden Band. Und deshalb<br />

ist die Herausnahme eines textlich deutlich abweichenden Konzepts bzw. einer sog. ‘Vorstufe’ wie<br />

bspw. der Kleinen Weihnachtsgabe an meine liebe Mutter 1857 eine keineswegs periphere Modifikation.<br />

Und das ist sie zumal dann nicht, wenn bspw. der Gutachter in NaK auf sie eigens verwiesen und<br />

‘von ihr her’ die Korrektheit einer christophilen Interpretation des Geschenktexts problematisiert hat.<br />

Doch sogar im Bereich des Prinzipiellen war Vf. zugunsten der FortfÅhrung dieser Edition durch diesen<br />

Hg. zu einer schmerzlichen Konzession bereit: dem Passierenlassen eines reine Schulmaterialen<br />

usw. enthaltenden Anhangs und der Tolerierung der damit notwendig verbundenen Imponderabilien<br />

wie bspw. einer AbschÇtzung von EigenstÇndigkeitsgraden, was dann ja auch zu monierenswerten<br />

Ergebnissen fÅhrte. DaÉ auf der Basis erfolgter Konzessionen des Vf.s dann aber noch zusÇtzlich<br />

‘krÇftigst draufgesattelt’ wurde, gehÄrt wohl zum Lehrgeld bzw. Lernkapital eines zu konziliant<br />

vertretenen „Principiis obsta“.<br />

188


elevanter (und ggf. vom Autor mitgetragener oder gar beeinfluÉter) editorischer Entscheidungen<br />

nicht bequem ausklammert, haben wir es mit einem ProblemknÇuel besonderer Art<br />

zu tun, weil sich hier Entscheidungsfolgen akkumulieren, die ihre z.T. recht spezifische<br />

Geschichte haben; und Einblicke in ZusammenhÇnge bieten, die in der Regel allenfalls<br />

vorsichtig umkreist werden. VerstÇndlicherweise bringt bereits eine weniger vertrackte<br />

Konstellation einen Metakritiker in eine wohl auch dann auf keine Weise fÅr die Beteiligten<br />

schmerzlos auflÄsbare Situation, wenn nahezu jeder der wohl primÇren EntscheidungstrÇger<br />

mittlerweile nicht mehr unter den Lebenden weilt. Deshalb bestand fÅr den Vf. ein<br />

Problem ja nicht lediglich darin, ob er weiterhin schweigt oder in erheblicher zeitlicher<br />

Distanz seine Sichtweise nun auf eine Weise artikuliert, daÉ sie (wie hier) selbst spezifisch<br />

Interessierte nur mit einigem Aufwand zu erreichen vermag, Kritisiertes seinerseits also<br />

nicht vorweg ‘an die groÉe Glocke hÇngt’, sondern in einem vermutlich nur von Wenigen<br />

grÅndlich gelesenen Text in der Hoffnung so deutlich artikuliert, daÉ bereits dieser AnstoÉ<br />

nun genÅgen mÄge, um vereinbarte und lÇngst fÇllige Leistungen 1. endlich einzulÄsen und<br />

dabei 2. auf deutlich weniger problematische Art, als lt. DlJ etwa zu befÅrchten steht, endlich<br />

zu erbringen. Ein kaum geringeres Problem bestand und besteht fÅr den Vf. in der<br />

wohl unerreichbaren Balance zwischen (a) seiner Anerkennung all’ der physischen, psychischen<br />

und Zeit-Investionen sowie Verzichtleistungen, die zumal nicht- oder nur geringbezahlte<br />

editorische Arbeiten (wie insbes. diejenige Johann Figls) erfordern, (b) der Freude<br />

Åber den in Druck, Seitengestaltung, Bindung. Einband usw. groÉzÅgig gestalteten Band,<br />

(c) Bedauern, daÉ nicht wenigstens einige der Åberaus dynamischen Zeichnungen und/oder<br />

Malereien explodierender Schiffe, die den Feuerwerker Fritz belegen, auch farblich geboten<br />

wurden, und (d) dem Aufweis sowie der Art der Diskussion spezifischer konzeptioneller<br />

Entscheidungen sowie ihrer leider eher noch spezifischeren Rahmenbedingungen. Das<br />

vorweg.<br />

Zwecks Entlastung der weiteren Argumentation sowie angesichts der Bedeutsamkeit dieses<br />

Vorgangs bzw. Verhaltens der hierfÅr ja erschlieÉbaren verantwortlichen Herausgeber und<br />

Mitherausgeber der KG oder einzelner Abteilungen285, von denen vielleicht lediglich eine<br />

bes. engagierte Teilgruppe286 ein Ergebnis durchgesetzt haben dÅrfte, das als Verfahrens-<br />

285 EigentÅmlich freilich: Johann Figl dankt sowohl im Vorwort vom 21.3.1993, p. VII, als auch in<br />

demjenigen vom 26.10.1994, p. XIII, wÄrtlich bzw. buchstabengetreu in nÇmlicher Weise insbes. „den<br />

Hauptherausgebern, Prof. Wolfgang MÅller-Lauter und Prof. Karl Pestalozzi, sowie den Herausgebern<br />

der anderen Abteilungen, besonders der BÇnde der Abteilung II [der fÅnf TextbÇnde Philologica, d.<br />

Vf.], den Professoren Fritz Bormann und Glenn W. Most [...] und ebenso den Herausgebern der Briefe,<br />

Professorin Anneliese Pieper und den Professoren Norbert Miller sowie JÄrg Salaquarda. Von ihnen<br />

durfte ich wertvolle RatschlÇge im Hinblick auf die editorische Gestaltung des Bandes I/1 erhalten;<br />

gerade angesichts der schwierigen Situation des frÅhsten Nachlasses Nietzsches war der Rat im<br />

Hinblick auf dessen VerÄffentlichung eine wichtige Orientierung.“ Wunderbar. Doch damit potenzieren<br />

sich die RÇtsel bzw. wird die hier entscheidende Frage eher noch dringlicher: warum wurde dieser<br />

von den Genannten schon lÇngst vor dem 21.3.1994 erteilte, in dem dem Gutachter eingereichten<br />

Skript seitens des Hg. also entsprechend umgesetzte und vom Gutachter Ende Juli 1994 dann positiv<br />

evaluierte Rat offenbar nahezu postwendend nach Eintreffen dieser positiven Begutachtung beim çFF<br />

nunmehr in weitreichender, den bisherigen eigenen Rat konterkarierender sowie der Begutachtung<br />

nunmehr entzogener, der diesen Personen bekannten Auffassung des Vf.s ohnedies massiv zuwiderlaufender<br />

Weise revidiert? Diese Frage bleibt offen.<br />

286 ... wozu Vf. den eigentlichen Hg. des betreffenden Bandes ausdrÅcklich nicht rechnet, da er davon<br />

ausgeht, daÉ dieser einen wohl erst im SpÇtsommer 1994 erfolgten entsprechenden Auftrag einer Herausgebermehrheit<br />

umzusetzen und in seinem erheblich Åberarbeiteten Nachwort vom 26.10.1994<br />

bestmÄglich zu legitimieren veranlasst worden war. Direkt zu „veranlasst“: um zu verstehen, welche<br />

Risiken ein Hg. ggf. eingeht, wenn er erst nach Jahren ein Äffentlich gefÄrdertes Projekt abbricht,<br />

bspw. weil eine Herausgebergruppe eine nachgutachterliche KonzeptÇnderung mehrheitlich durchsetzt<br />

bzw. durchzusetzen sucht, mit der er jedoch nicht einverstanden sein kann, habe ich versucht, mich<br />

189


uch des seitens des çFF durchgefÅhrten äberprÅfungsverfahrens und ggf. auch als Hintergehung<br />

des schlieÉlich zur Begutachtung eigens aufgeforderten Vf.s. wohl selbst dann<br />

kaum unangemessen zu bewerten ist, wenn Vf. damit durchaus ‘leben’ konnte und weiterhin<br />

kann, weil er selbst ja weiÉ – und hier erstmals ‘begrÅndet’ –, was er von bestimmten<br />

Entscheidungen inhaltlich hÇlt. Doch da das mÄglicherweise fast nur fÅr ihn selbst gilt,<br />

wurden und werden entscheidende Punkte aus der Sicht des Vf.s nun so klargestellt, daÉ<br />

im Folgenden (insbes. in 3.6.5.) lediglich noch an einige Fakten zu erinnern ist, die dort<br />

nur deshalb nochmals erwÇhnt werden, weil sie in engstem Zusammenhang mit Entscheidungen<br />

oder Argumentationen in DlJ stehen, welche die ãnderungen des Sommers 1994<br />

zu legitimieren suchen oder sich auf diese berufen.<br />

„Verfahrensbruch“ und „Hintergehung“ klingt in dem monierten Zusammenhang fÅr manchen<br />

vielleicht sogar etwas bombastisch oder gar moralistisch, erscheint aber nicht als unangemessen,<br />

wenn erst nach erfolgter abschlieÉender Begutachtung eines Projekt(teil)s<br />

weitreichende konzeptionelle und auch inhaltliche VerÇnderungen vorgenommen werden<br />

(wie in KGW I 1 ja erfolgt), die auÖerdem vom Vf. niemals gutachterlich befÅrwortet worden<br />

wÇren. Nach dem Rechtsempfinden des Vf.s jedenfalls mÅÉte nicht nur fÅr nachgutachterliche<br />

konzeptionelle Revisionen, sondern bereits fÅr inhaltliche Modifikationen 1.<br />

die Zustimmung der das Projekt finanzierenden Institution gewonnen und folglich 2. das<br />

Ergebnis dieser unabgesprochenen Revision usw. einer neuerlichen Begutachtung durch<br />

die bisherigen Gutachter ausgesetzt werden, da deren zuvor erfolgte Bewertung unter ungÅltigen<br />

– genauer: nachtrÇglich suspendierten, da revidierten – Voraussetzungen erfolgt<br />

ist.<br />

Als Belege fÅr des Vf.s These nachgutachterlicher Revision der Editionskonzeption usw.<br />

usw. verweise ich fÅr „Modifikationen“ auf die Skizzen in 3.4.3.1. & 3.4.4.2.; ansonsten<br />

genÅgt hier bereits, die ErÄffnungssÇtze der Vorworte vom 21. MÇrz 1994 und vom 26.<br />

Oktober 1994 zu zitieren und knapp zu kommentieren.<br />

Das dem Gutachter eingereichte Vorwort beginnt: „I. Im vorliegenden Band werden<br />

erstmals vollstÇndig die frÅhesten Aufzeichnungen aus der Kindheit und Jugend Nietzsches<br />

verÄffentlicht.“ (p. I). Das vorgelegte Skript lÄste diesen Anspruch unter der Voraussetzung<br />

ein, daÉ wenigstens jede seitens des Hg. als wichtig erachtete Aufzeichnung des Kindes<br />

Nietzsche in diesen Band aufgenommen wurde. Dem Vf. war zum Zeitpunkt seiner<br />

Begutachtung kein lÇngerer persÄnlicher Text des Kindes bekannt, dessen Fehlen zu monieren<br />

gewesen wÇre. Das Vorwort des ausgedruckten Bandes formuliert hingegen: „I. In<br />

der Abteilung I der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches (KGW I) werden<br />

erstmals vollstÇndig die frÅhesten Aufzeichnungen aus der Kindheit und Jugend Nietzsches<br />

verÄffentlicht.“ (p. VII). Damit mÅÉte unstrittig sein:<br />

1. Der Anspruch auf vollstÇndige Edition – beide Vorworte bieten wÄrtlich: „erstmals vollstÇndig<br />

die frÅhesten Aufzeichnungen aus der Kindheit und Jugend Nietzsches verÄffentlicht“<br />

– gilt erfreulicherweise hier wie dort, ist und bleibt also erhalten. Das ist und bleibt<br />

ein entscheidender Punkt, solange und wenn...<br />

2. Die nachgutachterliche Entscheidung, den VollstÇndigkeitsanspruch der drei jeweils bestimmte<br />

Zeitabschnitte der Entwicklung des SchÅlers Nietzsches „vollstÇndig“ abdecken-<br />

entsprechend zu informieren. Danach hÇtte ein Hg. bspw. riskiert, sÇmtliche FÄrder(ungs)mittel, d.h.<br />

die ggf. erhaltenen Sachmittel und das SalÇr fÅr den 6 Jahre gefÄrderten wiss. Mitarbeiter HÄdl und<br />

ggf. noch dessen Nachfolger Ingo Rath bis zur KÅndigung des betreffenden Vertrags aus eigenen Mitteln<br />

an den Äffentlichen Geldgeber zurÅckerstatten zu mÅssen. Solcherart ergÇben sich schnell Erpressungskonstellationen.<br />

SelbstverstÇndlich muÉ das hier skizzierte Szenario nicht auch fÅr die Situation<br />

in Berlin im Sommer 1994 gegolten haben. Doch um sowohl zu verstehen, welchen Risiken ein Hg.<br />

ggf. ausgesetzt werden kann, als auch, warum Vf. sich erst in groÉem zeitlichen Abstand ÇuÉert, sollte<br />

eine breitere Palette an GrÅnden als meistens Åblich bedacht werden, bevor moralische Urteile gefÇllt<br />

werden. Andererseits mÅssen irgendwann bestimmte Vorkommnisse, sollte dem so gewesen sein, in<br />

der Hoffnung auf erschwerte Wiederholung ‘auch auf den Tisch’.<br />

190


287<br />

den BÇnde KGW I 1-3 zugunsten erst der betreffenden Abteilung KGW I aufzugeben,<br />

fÅhrt bspw. dazu, daÉ Texte des Kindes Nietzsche, die in dem Band I 1 hÇtten aufgenommen<br />

werden mÅssen, nun im gÅnstigen Falle zugunsten des fÅr die drei BÇnde I 1-3 geplanten<br />

gemeinsamen Nachberichts zurÅckgestellt werden; im ungÅnstigsten Fall jedoch<br />

mÅÉten sie sogar erst im letzten innerhalb der Abteilung I erscheinenden Nachbericht vorgelegt<br />

werden – sei es auch ein Nachbericht, der nicht mehr Nietzsches SchÅlerzeit, sondern<br />

einem Zeitraum der Studentenjahre gelten kÄnnte, in dem der betreffende Text dann<br />

erst bspw. als ‘Vorstufe’ einer 1867 ausformulierten Passage zugÇnglich gemacht oder fast<br />

schon versteckt werden kÄnnte. Insgesamt fÅhrt dies 1. einerseits zu einer Proportionenverschiebung<br />

zugunsten der NachberichtbÇnde, 2. weiterer Ausgliederung, 3. Erschwerung<br />

chronologischer Rekonstruktion und 4. zur verzÄgerten Vorlage von Texten, die ansonsten<br />

in den BÇnden I 1-3 vorgelegt worden wÇren, denen der Druck des betreffenden Nachberichts<br />

zeitlich in mehr oder weniger groÉem Abstand folgen dÅrfte.<br />

3. Alles in allem handelt es sich dabei um eine so weitreichende Revision der begutachteten<br />

Konzeption, daÉ bereits damit m.E. der Sinn fachgutachterlicher Beurteilung des<br />

betreffenden Editionskonzepts suspendiert wurde.<br />

Wenn sich Leser fragen sollten, warum Vf. angesichts all’ der weltweiten politischen, wirtschaftlichen<br />

usw. Probleme vÄllig anderer Dimension der Frage vor mehr als anderthalb<br />

Jahrzehnten erfolgter nachtrÇglicher Modifikationen und sogar einer Revision einer bereits<br />

gutachterlich abschlieÉend beurteilten Konzeption weiterhin nicht geringe Bedeutung zumiÉt,<br />

anstatt den betreffenden Sachverhalt als lange zurÅckliegenden schlimmstenfalls<br />

halbseidenen Trick, als Petitesse oder lÇchelnd als weltanschauungskongruente Absicherung<br />

eigener Sichtweise und editorischer Entscheidungen, die selbst eine Herausgebergruppe<br />

nicht einmal tagesbewuÉtseinsklar bemerken muÉ, quasi abzubuchen, sei an einige<br />

mittlerweile freilich Jahrzehnte zurÅckliegende Fakten erinnert.<br />

Ebenso wie die Briefwechselausgabe der KG, 1975ff. 287 , die den Text der vier bis bis zum<br />

7. Mai 1877 bereits fortgefÅhrten BÇnde der Briefe Nietzsches der HKG Briefe, 1938-<br />

1942, in den BÇnden I 1 und I 2, 1975, II 1, 1977, II 3, 1978, und II 5, 1980, Åbernahm,<br />

nachdem das Ehepaar Janz sich bereit fand, vor der Drucklegung noch eine äberprÅfung<br />

an denjenigen Autographen, die in Weimar und Basel vorlagen, und ggf. Korrekturen vorzunehmen<br />

288 , so war auch fÅr die KGW 289 geplant gewesen, den Text der fÅnf bis in den<br />

Sommer 1869 fortgefÅhrten WerkbÇnde der HKG, 1933-1940, mit Ausnahme der Vorlesungen<br />

in der bereits vorliegenden Form als I. Abteilung der KGW nachzudrucken und<br />

Nietzsches abgeschlossene Philologica sowie die Vorlesungen als deren Abt. II vorzulegen,<br />

um dann mit der III. Abteilung der KGW (mit deren Texten in anderer Anordnung<br />

dann auch die Kritische Studienausgabe bzw. KSA, 1980, 2 1988, beginnt) zeitlich direkt an<br />

die I. Abteilung bzw. die 5 WerkbÇnde der HKG anzuschlieÉen.<br />

Erst nach dem Tod Mazzino Montinaris (24.11.1986) konnten nicht zuletzt durch insistierende<br />

BemÅhungen des Vf.s die verantwortlichen Herausgeber erfreulicherweise Åberzeugt<br />

werden, die Planung einer vollstÇndigen Neuedition der Abteilung I aufzunehmen. Um<br />

diese Entscheidung vorzubereiten, hatte d. Vf. in einer Kritischen Expertise 290 Vorstellun-<br />

Vgl. Hermann Josef Schmidt: Nietzsches Briefwechsel im Kontext, ein kritischer Zwischenbericht.<br />

In: Philosophischer Literatur-Anzeiger XXXVIII (1985), S. 359-378.<br />

288<br />

Curt Paul Janz: Die Briefe Friedrich Nietzsches. Textprobleme und ihre Bedeutung fÄr Biographie<br />

und Doxographie. ZÅrich, 1972.<br />

289<br />

Hermann Josef Schmidt: Nietzsche: Werke – ein kritischer Zwischenbericht. In: Philosophische<br />

Rundschau XXIV (1977), S. 59-67.<br />

290<br />

Hermann Josef Schmidt: Kritische Expertise zum Projekt Friedrich Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe<br />

(KG), Werke und Briefwechsel (insbesondere Werke Abteilung I) nebst einem Persánlichen<br />

Nachwort (fÄr die Herausgeber und Mitarbeiter der Kritischen Gesamtausgabe z.Hd. von Wolfgang<br />

191


gen entwickelt, wie das Projekt der KGW durch gewisse Modifikationen so aufgewertet<br />

werden kÄnnte, daÉ nicht nochmals in einigen Jahrzehnten eine dann erstmals ‘rundum<br />

Åberzeugende’ neue Chronologisch-Historisch-Kritische Edition mit dem absehbaren Risiko<br />

erarbeitet werden mÅsse, hierfÅr nicht nochmals mit FÄrderung durch steuerfinanzierte<br />

Forschungsgemeinschaften sowie weltweit durch UniversitÇtsbibliotheken als KÇufer usw.<br />

rechnen zu kÄnnen. Deshalb sollten wenigstens die (konzeptionell noch nicht im Detail<br />

festgelegten) Abteilungen I und II so ausgestaltet werden, daÉ sie den mittlerweile gewachsenen<br />

AnsprÅchen an eine Kritische Nietzsche-Gesamtausgabe voll zu entsprechen<br />

vermÄgen. Nach einigem Hin-und-Her incl. frÅh erhobener ‘Nietzsche-Fundamentalismus’-VorwÅrfe<br />

in Richtung Dortmund, von denen Wolfgang MÅller-Lauter dem Vf. erzÇhlte,<br />

wurde beschlossen, das Projekt einer vÄllig neu erarbeiteten I. Abteilung der KGW,<br />

die Nietzsches Schriften bis in die frÅhen Basler Monate 1869 erfassen sollte, um den direkten<br />

AnschluÉ zur III. Abteilung herzustellen, nun konsequent in Angriff zu nehmen und<br />

Johann Figl, dessen Kompetenz auch fÅr den Vf. unstrittig war 291 , die Herausgeberschaft<br />

wenigstens der Texte bis zu Nietzsches Abitur, Herbst 1864, anzutragen. U.a. mit dem bereits<br />

erwÇhnten Ergebnis, daÉ der spÇtere Autor von DlJ vom 1.4.1988 an fÅr 6 Jahre als<br />

wiss. Mitarbeiter eingestellt werden konnte, um Johann Figl zuzuarbeiten. Und so wunderte<br />

sich der Vf., der sich zur GKW und KGB 1977 und 1985 im Druck lÇngst geÇuÉert hatte,<br />

auch nicht, daÉ er kurz nach Erscheinen von NaK vom çFF die Anfrage erhielt, ob er<br />

bereit wÇre, die Begutachtung dieses innovativen Projekts zu Åbernehmen.<br />

Unter diesen Vorzeichen beinhaltete die im Sommer oder Herbst 1994 vorgenommene<br />

nachgutachterliche Revision der ursprÅnglichen mit den VorschlÇgen des Vf.s noch tolerierbar<br />

kompatiblen Konzeption aus Sicht des Vf.s schon deshalb keine Petitesse, weil von<br />

einer Zustimmung zur erfolgten Revision in der nun ausgedruckten Form keineswegs auszugehen<br />

war; was kaum jedem der fÅr diese Revision Verantwortlichen unbekannt gewesen<br />

sein dÅrfte.<br />

Streng genommen war mit dem nachgutachterlichen Konzeptionswechsel fÅr den Vf., der<br />

wie erinnerlich sich im FrÅhjahr 1988 in seiner Kritischen Expertise dafÅr eingesetzt hatte,<br />

eine Nietzsches Texte in ihrem genuinen Zusammenhang belassende, vollstÜndige Edition<br />

der Kindheits- und Jugendtexte als Basis einer spÇteren, sorgfÇltigeren Edition der Texte<br />

Nietzsches mit dem Beginn der Basler Zeit vorzunehmen (wie dies nun in der KGW IX erfolgreich<br />

geschieht), der Sinn dieser Neuedition entfallen, genauer wohl: sabotiert. Da hÇtte<br />

es genÅgt, wie ursprÅnglich geplant, die 5 BÇnde der HKGW nachzudrucken und diese<br />

durch einen differenzierten Nachbericht (wie er bspw. zu KGW III vorliegt), zu ergÇnzen.<br />

Aber auch darÅber hinaus wÇre eine Zustimmung meinerseits weder aus inhaltlichen<br />

noch aus eher formalen GrÅnden verantwortbar gewesen. Die eher inhaltlichen GrÅnde<br />

wurden groÉteils in 3.4.3.1. und 3.4.4.2. verdeutlicht; die eher formalen GrÅnde hingegen<br />

betrafen das eigentÅmlich zurÅckhaltende ‘Editionstempo’, da mit der Vorlage der vom<br />

Abdruck in I 1, 1995, zugunsten des Nachberichts nun zurÅckgestellten und des weiteren<br />

erst im Nachbericht (anstatt in den BÇnden I 2 und I 3) prÇsentierten groÉenteils noch un-<br />

MÄller-Lauter). FrÅhjahr 1988, ca. 30 S., unverÄffentlicht. Eine besonders erfreuliche SpÇtfolge der<br />

durch diese Expertise ausgelÄsten Diskussionen, die im Herbst 1988 zu einer Tagung im Berliner Wissenschaftszentrum<br />

fÅhrten, an welcher der Vf., nachdem MÅller-Lauter von einem nicht abebben wollenden<br />

Sturm im Wasserglas erzÇhlte, den diese Expertise zumal bei einigen jÅngeren wiss. Mitarbeitern<br />

der KGW ausgelÄst habe, vorsichtshalber dann doch nicht teilnahm, um spannungsfreiere Diskussionen<br />

zu ermÄglichen, ist die Konzeption einer Nietzsches handschriftlichen NachlaÉ ab 1885 (mit<br />

Ausnahme der Briefe) vollstÇndig in differenzierter Transkription vorlegenden IX. Abteilung der<br />

KGW, Hgg. von Marie-Luise Haase und Michael Kohlenbach, Berlin; New York, 2001ff.<br />

291<br />

Johann Figl: Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie mit BerÄcksichtigung<br />

unveráffentlichter Manuskripte. DÅsseldorf, 1984.<br />

192


292<br />

bekannten Materials kaum mehr in absehbarer Zeit – noch zu ‘Wachzeiten’ des Vf.s – zu<br />

rechnen war.<br />

Dazu nun etwas genauer. AuslÄser dieser äberlegungen war das nach meinem Empfinden<br />

irritierend spÇte Erscheinen dieses ersten Bandes der Abteilung I. Schon der zuvor ins Auge<br />

gefaÉte Erscheinungstermin spÇtestens im Sommer 1994, also einige Wochen vor<br />

Nietzsches 150. Geburtstag, wÇre erst einige Monate nach Ende der sechsjÇhrigen (!!) TÇtigkeit<br />

des Autors von DlJ als wiss. Mitarbeiter Johann Figls zwecks Erarbeitung der Unterlagen<br />

der KGW-BÇnde I 1-3 sowie des Nachberichts erfolgt. Der Eindruck schwer begreiflich<br />

spÇten Erscheinens von Band I 1 basiert auf der Tatsache, daÉ wenigstens 3/4 des<br />

in KGW I 1 gebotenen Textes in sorgfÇltiger 292 Transkription und Edition bereits von Hans<br />

Joachim Mette in KGW I, 1933, vorgelegt worden war. Und Nietzsches frÅhe im GSA<br />

ebenfalls archivierte Zeichnungen, deren Aufnahme in den Band der Vf. in seinem Gutachten<br />

von 1991 als unverzichtbar begrÅndete, weshalb das Konzept entsprechend erweitert<br />

wurde, konnten in Åberschaubarer Zeit erfaÉt und bearbeitet werden. Selbst bei groÉzÅgiger<br />

Bemessung der Einarbeitungszeit des Autors und der Notwendigkeit, den gesamten<br />

(lÇngst aufgearbeiteten) Bestand 293 der in Nietzsches SchÅlerjahre fallenden Autographen<br />

zu sichten und zu erfassen, hÇtte dieses Skript spÇtestens nach ca. 3 Jahren, wenn sich der<br />

Autor voll auf seine Aufgabe konzentriert hÇtte, also zum 1.4.1991 – oder nach vier Jahren,<br />

also zum 1.4.1992, wenn dem Autor zugestanden worden wÇre, diese 6 çFF-finanzierten<br />

Jahre auch zum AbschluÉ seiner Promotion zu nutzen –, dem Hg. zur Endredaktion vorliegen<br />

kÄnnen und wohl auch mÅssen. Da das Vorwort des dem Vf. zur Beurteilung zugeleiteten<br />

Skripts jedoch erst aus dem MÇrz 1994 stammt und der Anhang noch damals wenig<br />

geordnet erschien, kann fÅr diese immense VerzÄgerung kaum der Verlag verantwortlich<br />

gemacht werden. 294<br />

Die Tatsache also, daÉ Vf. das Skript von I 1, dessen Vorwort aus dem letzten Monat der<br />

sechsjÇhrigen TÇtigkeit des Autors stammt, erst im FrÅhsommer 1994 zur Beurteilung erhielt,<br />

lieÉ angesichts der noch recht geringen Editionsprobleme von I 1 befÅrchten, daÉ bei<br />

Vorlage der beiden restlichen BÇnde und zumal des Nachberichts mit bei weitem grÄÉeren<br />

VerzÄgerungen mit dem Ergebnis zu rechnen ist, daÉ dieser Konzeptionswechsel – VollstÇndigkeit<br />

nicht in dem jeweils eine entsprechende Zeitphase dokumentierenden BÇnden<br />

von Nietzsches Kindheit sowie der ersten und zweiten HÇlfte der portenser Alumnenjahre,<br />

sondern erst in einem vor AbschluÉ von I 3 nicht abschlieÉbaren Nachbericht – durch Ver-<br />

Johann Figl betont die Sorgfalt der Deskriptionen Mettes bei verschiedensten Gelegenheiten. Dem<br />

kann Vf. nur zustimmen, der sich leider erst 1991 in Weimar Åber diesen Sachverhalt ins Klare setzen<br />

konnte. So erschien in NaK manche Bemerkung schon im Jahr des Erscheinens unberechtigt und deshalb<br />

sehr bedauerlich. EndgÅltig beurteilt werden kann das LeistungsvermÄgen der ausschlieÉlich<br />

Nietzsches SchÅlerjahren geltenden beiden ‘Mette-BÇnde’ HKGW I und II erst, wenn im Nachbericht<br />

der KGW I 1-3 alle noch ausstehenden Texte des SchÅlers Nietzsche vorgelegt sind, weil ggf. zu enge<br />

Auswahlkriterien Mettes frÅher nicht belegbar sind.<br />

293<br />

Das belegen nicht nur die Markierungen in den Autographen selbst, sondern insbes. von Hans Joachim<br />

Mette: Sachlicher Vorbericht zur Gesamtausgabe der Werke Friedrich Nietzsches. In: I p.<br />

XXXI-CXXII.<br />

294<br />

NÇmliches gilt fÅr Band I 2, dessen Skript m.E. spÜtestens zum 1.4.1995 dem Hg. hÇtte vorliegen<br />

mÅssen, wenn der Autor sich auf seine Aufgabe voll konzentriert hÇtte. So bleibt auch der kaum weniger<br />

verzÄgerte Erscheinungstermin von Band I 2, 2000, dem Åbrigens keinerlei Zeichnungen Nietzsches<br />

mehr beigefÅgt wurden, fÅr d. Vf. rÇtselhaft. Lediglich fÅr das Skript von Band I 3 wÇre ggf. mit<br />

einer lÇngeren Bearbeitungsphase zu rechnen gewesen, da fÅr die anspruchsvolleren lateinischen und<br />

griechischen Texte des Primaners ggf. die Mitarbeit eines altphilologisch in hÄherem MaÉe Kompetenten<br />

erforderlich war. Der Band erschien jedoch erst 2006, also 18 Jahre nach Beginn der Aufnahme<br />

der entsprechenden TÇtigkeit des Autors. Vor allem fÅr den Nachbericht dÅrfte die hoffentlich lÇngst<br />

erfolgte Mitarbeit eines gewitzten Altphilologen unverzichtbar gewesen sein.<br />

193


lagerung zumal noch unverÄffentlichter Texte, auf die es angesichts der Existenz der<br />

HKGW in besonderer Weise ankam, auf den Nachbericht zu mÄglicherweise noch viele<br />

Jahre andauernden weiteren VerzÄgerungen mit dem Effekt der ZurÅckhaltung ggf. hochgradig<br />

interpretationsrelevanter Unterlagen nahezu bis auf den St. Nimmerleinstag fÅhren<br />

kÄnnte 295 , da die Edition des Nachberichts dank viele Details notwendigerweise berÅcksichtigender,<br />

rechercheaufwendiger Kommentierung die mit groÉem Abstand anspruchsvollste<br />

und damit schwierigste, wenngleich lÇngst bezahlte ‘Arbeit’ darstellt.<br />

3.6.3. Problemanzeige 4: Relevanz ‘des’ Theodizeeproblems usw.<br />

Die äberschrift signalisiert: Hier werden einerseits basale Probleme angesprochen, die<br />

zwischen dem Autor von DlJ usw. und dem Verfasser von NaK usw. einvernehmlich kaum<br />

lÄsbar sein werden, deren Kenntnis bzw. BerÅcksichtigung jedoch ermÄglicht, Differenzen<br />

und den so deutlichen basalen Dissens genauer zu verstehen; andererseits kÄnnte ein RÅckblick<br />

auf die in NaK vorausgesetzte Genese des sich mit seiner heimischen Religion auseinandersetzenden<br />

und diese Auseinandersetzung in seinen Texten dokumentierenden Kindes<br />

Nietzsche verstÇndlicher erscheinen lassen, warum leider nicht nur in DlJ bestimmte Entscheidungen<br />

auf diejenige Weise gefÇllt wurden, in der sie gefÇllt worden waren.<br />

(1) Zum Hintergrund: Um bei dem im europÇischen Raum seit wenigstens 2.500 Jahren<br />

strittigen, brisanten Theodizeeproblemthema nicht ins Uferlose zu geraten, lediglich einige<br />

hier sehr ins Grobe formulierte Hypothesen:<br />

1. Das Theodizeeproblem – d.h. das Problem der Rechtfertigung des Verhaltens von GÄttern<br />

oder Gottes anlÇÉlich der erfahrenen IrrationalitÇt des Weltenlaufs 296 – setzt die Annahme<br />

(auch) ethisch hochwertig handelnder GÄtter oder Gottes bereits voraus. Nur bei Voraussetzung<br />

einer ethisch oder moralisch positiven GÄtter- oder Gottesauffassung kÄnnen The-<br />

295<br />

Es sei konzediert: diese immense VerzÄgerungen sind nicht zuletzt Folge des Strukturproblems,<br />

daÉ editorische Arbeit gegenlÇufig zu ihrer Relevanz hochschulintern nur so bescheidene Anerkennung<br />

findet, daÉ jÅngere Wissenschaftler, die ein derartiges Projekt verfolgen, doppelgleisig verfahren<br />

bzw. in dem fÅr Editionsarbeiten aus Steuermitteln finanzierten Zeitraum dennoch bemÅht sind (und<br />

vielleicht auch bemÅht sein mÅssen), ihre wissenschaftliche Qualifikation durch entsprechende thematisch<br />

also divergierende Arbeiten voraussetzende/erfordernde AbschlÅsse wie bspw. Promotion zu<br />

erhÄhen. So haben in vielen FÇllen vermutlich zur Verzweiflung der hierfÅr Verantwortlichen derartige<br />

Projekte fÅr die betreffenden wiss. Mitarbeiter oft nur eine Art Sprungbrettfunktion: Man arbeitet<br />

am Editionsprojekt selten mit voller Kraft, auÉerdem nur so lange, bis Perspektivenreicheres gefunden<br />

wurde. Oder man fÇhrt, mit der Folge unvermeidlicher VerzÄgerungen, mehrgleisig. Dennoch aber<br />

gibt es PrioritÇten: Wenn Steuermittel eingesetzt werden, um Editionen zu fÄrdern, muÉ diese TÇtigkeit<br />

vor allem dann erste PrioritÇt genieÉen, wenn ein groÉzÅgiger Herausgeber dem frÅheren Mitarbeiter<br />

das Recht zubilligt, bereits im Impressum von Band I 2, 2000, genannt zu werden; und bei Band<br />

I 3, 2006, sogar als Mitherausgeber figurieren zu dÅrfen.<br />

296<br />

Der Begriff „Theodizee“ stammt zwar erst von Leibniz und meint „die Frage nach der Vereinbarkeit<br />

des im gegenwÇrtigen Weltzustand begegnenden äbels in metaphysischer, physischer und moralischer<br />

Hinsicht (so die Einteilung bei Plotin und Leibniz) mit der Gerechtigkeit und Vollkommenheit<br />

Gottes.“ (H.-J.Schrey: Theodizee. II. Dogmengeschichtlich. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart<br />

[RGG]. Bd. 6. TÅbingen, 1962, Sp. 740), doch das damit angesprochene Problem ist ubiquitÇr.<br />

Schon aus den alten orientalischen Hochkulturen sowohl aus Mesopotamien (Sumer!) wie aus<br />

ãgypten liegen Zeugnisse bereits aus dem 3. Jt.v.u.Z. vor; und seitdem dominieren EntschÇrfungsversuche<br />

daran Interessierter. SpÇtestens seit I. Kant (âber das Misslingen aller philosophischen Versuche<br />

der Theodizee, z.B. In: Werke in 6 BÇnden. Hgg. v. W. Weischedel. Bd. VI. Frankfurt am Main,<br />

1964, S. 105-124) gehen auch primÇr philosophisch Orientierte von der UnlÄsbarkeit des Theodizeeproblems<br />

aus, da es sich um eine „Glaubenssache“ (S. 119) oder um ein schon klassisches Scheinproblem<br />

handelt. Zur philosophiegeschichtlichen Verwendung usw. vgl. bspw. S. Lorenz: Theodizee.<br />

In: Historisches WÄrterbuch der Philosophie. Bd. X. Basel, 1998, Sp. 1066-1073.<br />

194


odizeeprobleme entstehen, denn GÄtter oder ein Gott ‘jenseits von Gut und BÄse’ stehen<br />

damit auch jenseits jeder Verantwortung gegenÅber ‘dem’ oder den Menschen fÅr ihr Verhalten.<br />

Schon vor mehr als 2000 Jahren soll Epikur diese Problemkonstellation auf eine berÅhmte<br />

Formel gebracht haben:<br />

„Entweder will Gott die äbel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es<br />

nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will<br />

und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will,<br />

dann ist er miÉgÅnstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, so<br />

ist er sowohl miÉgÅnstig als auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will<br />

und kann, was allein sich fÅr Gott ziemt, woher kommen dann die äbel und warum nimmt<br />

er sie nicht weg?“ 297<br />

Im griechischen Polytheismus, in dem Macht und Verantwortung einzelner GÄtter durch<br />

diejenige anderer GÄtter sowie durch eine unterschiedlich umfassend verstandene Weltgesetzlichkeit<br />

begrenzt gedacht wurden usw., war dieses Problem jedoch noch nicht annÇhernd<br />

so brisant wie in monotheistischen Religionen, die wie insbes. das sich aus hunderten<br />

‘christlicher’ Sekten in einigen basalen Formen herausentwickelnde und ausdifferenzierende<br />

Christentum – auch noch in mittlerweile meist prÇdestinationsbefreiten in Mitteleuropa<br />

dominanten Versionen – von einer ethisch hochwertigen ‘guten’ Gottheit (und in<br />

populÇren Versionen sogar von einem „lieben Gott“) ausgehen (mÅssen).<br />

Eine sich seit Xenophanes herauskristallisierende philosophische hÄchstwertgesegnete<br />

quasi theodizeeproblementschÇrfende Auffassung wird innerhalb der ‘klassischen Philosophie’<br />

insbes. bei Platon deutlich, dessen Sprecher im SpÇtwerk Nomoi (Gesetze X) sie jedoch<br />

noch immer nicht argumentativ Åberzeugend zu belegen vermag, sondern sich gegen<br />

Atheisten sowie die Gerechtigkeit oder Unbestechlichkeit Gottes oder der GÄtter Bezweifelnde<br />

nicht anders zu helfen weiÉ als diese im Falle beharrlicher weiterer Leugnung sei es<br />

der Existenz, Gerechtigkeit oder Unbestechlichkeit von GÄttern oder Gottes aus der Polis<br />

durch sanktionierte Ermordung zu entfernen. VerstÇndlicherweise Modell und Legitimation<br />

fÅr SpÇteres, auch beim Kirchenvater Augustinus (vgl. diverse Untersuchungen von<br />

Kurt Flasch).<br />

2. Brisanz gewinnt die Theodizeeproblematik insbes. in einer monotheistischen Religion, die,<br />

mit z.T. monotheismusnahen metaphysischen Auffassungen im hellenistischen Kulturraum<br />

konfrontiert, sich trotz des christlichen Schwelgens in GegensÇtzen, das zeitÅbergreifend<br />

auf nahezu „allen Gebieten symptomatisch“ 298 war und blieb, genÄtigt sah, ein auch philosophische<br />

AnsprÅche erfÅllendes, HÄchstwertprÇdikate nun widerspruchsfrei(er) kombinierendes<br />

sowie integrierendes Konzept ihres trotz Paulus und Augustin (zunehmend) ‘guten’<br />

Gottes zu entwickeln; dieses Gottesbild also mit einer Serie z.T. ethisch hÄchstwertiger<br />

Attribute auszustatten wie bspw. Allmacht, Allwissenheit, OmniprÇsenz, Gerechtigkeit und<br />

GÅte. Nun sind diese PrÇdikate, streng genommen, zwar inkompatibel 299 , doch zumal sei-<br />

297<br />

Vgl. Lactantius, de ira dei 13, 19-22; Fragment 374 Usener. Nach: Epikur: Von der âberwindung<br />

der Furcht. Katechismus. Lehrbriefe. Spruchsammlung. Fragmente. Eingel. u. Åbertr. v. Olof Gigon.<br />

ZÅrich und MÅnchen, (1949) 3 1983, S. 136.<br />

298<br />

Carl Schneider: Das Christentum. In: Golo Mann und Alfred HeuÉ (Hg.): PropylÇen Weltgeschichte.<br />

Bd. 4. Rom . Die rÄmische Welt. Frankfurt am Main / Berlin, 1963, S. 483.<br />

299<br />

Kritisch zur Theodizeeproblematik vgl. insbes. Gerhard Streminger: Gottes GÄte, 1992, und John<br />

Leslie Mackie: Das Wunder des Theismus. Argumente fÄr und gegen die Existenz Gottes (1982). Aus<br />

dem Engl. Åbers. v. R. Ginters. Stuttgart, 1987, Kap. 9: Das Problem des äbels, S. 239-281. Leicht<br />

erreichbar Norbert Hoerster: Die Frage nach Gott. MÅnchen, 2005, Kap. VII: Warum lÇÉt Gott das<br />

äbel zu?, S. 87-113.<br />

195


tens ReligiÄser wurden hinreichend ‘Ausgleichsmechanismen’, Serien diverser Defensivtaktiken<br />

(bspw. Begriffe bis zur Unkenntlichkeit zu verallgemeinern bzw. zu entspezifizieren),<br />

Immunisierungsstrategien usw. – von Kritikern als jeweils frei wÇhlbare Joker eingeschÇtzt<br />

– kreiert und angeboten, um sich selbstaufgeworfenen Problemen zu entziehen wie<br />

bspw. Versuche, ‘das BÄse’ zu suspendieren, indem etwa davon gesprochen wird, daÉ Gott<br />

das BÄse allenfalls als Mittel fÅr ein noch grÄÉeres Gutes einsetze wie etwa menschliche<br />

Willensfreiheit usw. Oder ‘der unerforschliche RatschluÉ des Herrn’ wird ins Spiel gebracht.<br />

Oder das schluÉendlich doch mit hÄchster jenseitsbelohnter DemutsprÇmie versehene<br />

stille „Beugen unter Gottes gewaltige Hand“. Oder aber Vorstellungen eines deus<br />

absconditus, eines Teufels, eines gar mitleidenden Gottes, bestimmte Versionen einer „Malum“-Problematik<br />

ohnedies usw. usw. SchlieÉlich sind zumal mit Definitionsmacht ausgestatteter<br />

apologetischer Phantasie kaum Grenzen gesetzt.<br />

So gibt es zwischen konsequenten Defensores fidei und Kritikern, die derlei eher als zeitgeist-<br />

und machthofierende Ad-hoc-Kreationen und intellektuelle Harakiristrategeme einschÇtzen,<br />

wohl kaum eine VerstÇndigung.<br />

3. Im Gegensatz zum Katholizismus, der zwecks Ausbalancierens inkonsistenter BibelbezÅge<br />

usw. auf eine reichhaltige – Åber den Neuplatonismus und die Stoa bis zu Platon und Theagenes<br />

von Rhegion 300 zurÅckreichende groÉzÅgig genutzte – Tradition theodizeeproblemvernebelnder<br />

Strategeme verfÅgt, religionskritische(re) AnsÇtze zu unterlaufen, ist stÜrker<br />

bibellektÄreorientierte protestantische ReligiositÜt dem Zwang ausgesetzt, fÅr (aus ethischen<br />

Perspektiven) zahlreiche Inkonsistenzen nicht traditions-, sondern bibelkonforme ErklÇrungen<br />

zu finden, was die Bandbreite vermeintlich legitimer theodizeeproblemflÅchtiger<br />

ManÄver einschrÇnken und schon insofern die Theodizeeproblematik wenigstens fÅr<br />

diejenigen drastisch verschÇrfen dÅrfte, die der ‘Hure Vernunft’ mehr Respekt zollen als<br />

der wohl sprachmÇchtigste deutsche Reformator.<br />

4. Eine nochmalige, erhebliche VerschÇrfung der Theodizeeproblematik resultierte aus dem<br />

GottesverstÇndnis der Erweckungsbewegung 301 , da Gott nicht nur abstrakt als verantwortlich<br />

fÅr jedes einzelne Ereignis des Weltenlaufes geglaubt wurde, sondern da sehr konkret<br />

jedes einzelne Ereignis als Resultat ganz besonderer, persánlicher FÄrsorge Gottes 302 u.a.<br />

um den Preis verstanden war, daÉ das sich solcherart ergebende GeborgenheitsgefÅhl,<br />

‘immer unter Gottes Schutz und Schirm’ zu sein, angesichts der massiven IrrationalitÇt des<br />

Weltlaufs und zahlloser Einzelschicksale sowie -ereignisse, einer immensen und ungebrochenen<br />

Glaubensfreudigkeit oder -intensitÇt bedurfte.<br />

Jedwede Art von Zweifel hingegen war gegenÅber einer derartigen Glaubenshaltung so<br />

kontraindiziert, daÉ selbst der kleinste Zweifel, wenn er nicht ‘mit Stumpf und Stiel ausgerottet’<br />

werden konnte, nicht nur naive GlÇubigkeit, sondern auch theodizeeproblementschÇrfende<br />

Konstrukte quasi viral zu infizieren vermochte. Genau diese Konstellation gehÄrte<br />

unausweichbar zu ‘den Vorgaben’ fÅr das nachdenkliche Kind Nietzsche.<br />

300<br />

Vgl. schon Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens<br />

von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. Stuttgart, 2 1942, S. 128.<br />

301<br />

Den grÄÉeren Zusammenhang skizziert bspw. der Historiker Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte<br />

1800-1866, 6 1993, S. 423-440, ein protestantischer Autor (vgl. S. 415); Åber die Erweckungsbewegung<br />

aus protestantischer Sicht spezieller mit vielen Details doch wenig tiefenscharf bspw. E.<br />

Beyreuther: Erweckung. I. Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert. In: RGG. Bd. 2. TÅbingen,<br />

1958, Sp. 621-629.<br />

302<br />

So sind bspw. Briefe von Nietzsches Tante Rosalie der Jahre 1842ff. an ihre in RÄcken lebende<br />

Mutter Erdmuthe gespickt mit entsprechenden Formulierungen (GSA 100/134).<br />

196


(2) Nun erst direkt zu Nietzsche 303 , hier nur zum Kind Nietzsche, zu Fritz, der in seiner Autobiographie<br />

des SpÇtsommers 1858 ebenso wie noch als Jugendlicher in mehreren biographischen<br />

Aufzeichnungen seine anhaltende Betroffenheit Åber das Leiden und den Tod seines<br />

Vaters keineswegs verheimlicht, sondern nachdrÅcklichst betont. Wer diese Texte des Kindes<br />

(und Jugendlichen) nicht ernst nimmt, mÅÉte dann aber auch so konsequent sein, sie als mitleid(er)heischende<br />

‘Masche’ einzuschÇtzen. Und entsprechend ‘angepaÉte’ Texte des Kindes<br />

dann ebenfalls nicht ernst nehmen! Tertium non datur?<br />

1. Das Kind Nietzsche war in einem primÇr von der ReligiositÇt der Erweckungsbewegung 304<br />

bestimmten sozialen Nahfeld sowohl in RÄcken 1844-1850 als auch seit Ostern 1850 in<br />

Naumburg aufgewachsen und den dadurch implizierten Inkonsistenzen und Glaubensrisiken<br />

von Anfang an unausweichbar ausgesetzt. Vor allem des Vaters Çltere Schwester, die<br />

zumal nach dem Tod ihres Bruders, 30.7.1849, fÅr Geistliches primÇr ZustÇndige, die<br />

Intellektuelle der Familie, war von dieser ReligiositÇt geprÇgt 305 .<br />

2. Das grÄÉte – nicht das einzige! – Inkonsistenzerlebnis, das das Kind Nietzsche erfahren hat,<br />

dÅrfte das vielmonatige Leiden und der Tod ausgerechnet des grÄÉten Gottesmannes, den<br />

das Kind kennengelernt hatte, seines eigenen Vaters nÇmlich, gewesen sein, fÅr dessen<br />

Heilung in der Familie tÇglich gebetet wurde. Von tÇglichem Beten, der Betroffenheit des<br />

Kindes durch Leiden und Tod seines Vaters und der nicht unproblematischen Integration<br />

dieses Leidens und Todes des fÅr das kleine Kind anfangs Gottvertretenden in die innerfamiliÇr<br />

vorgegebene Bandbreite religiÄser Konzepte ging ich bei der Niederschrift von NaK<br />

lÇngst aus. Das Ensemble dieser Annahmen setzt schlieÉlich nur bescheidende Kenntnis<br />

‘protestantischer VerhÇltnisse in PastorenhÇusern’, erweckungsspezifischer ReligiositÇt<br />

und von Nietzsches frÅher vita voraus. So formulierte ich in einem 1984 erschienenen Aufsatz:<br />

303<br />

„Der Junge litt immens unter diesen Ereignissen und verzieh sie seinem Gott wohl schon<br />

von Anfang an nicht.“ 306<br />

In Nietzsches frÅhen Texten glaub(t)e ich nÇmlich u.a. auch Spuren der Auseinandersetzung<br />

mit den durch Leiden und Tod seines Vaters aufgeworfenen Fragen und Problemen<br />

des allseits von ReligiÄsen umgebenen Kindes gefunden zu haben: beginnend vielleicht<br />

mit dem Zweifeln des Moses, fortgefÅhrt mit der spielerischen Umsiedlungsaktion der gesamten<br />

nÇheren Familie auf den Olymp zu griechischen GÄttern sowie deren VerhalbgÄtt-<br />

DaÉ Nietzsches Denkentwicklung – auch; also: nicht nur – unter dem Vorzeichen erst ‘positiver’<br />

und spÇter ‘negativer’, mehrfacher modifizierter Theodizee, Kosmodizee, Biodizee und ggf. Biophilie<br />

gezeichnet werden kann, ist fÅr d. Vf. seit Jahrzehnten so deutlich, daÉ fÅr ihn die Entdeckung von<br />

‘positiven’ Theodizeeproblemen in Nietzsches Kindertexten auch deshalb so Åberraschend war, weil<br />

ihm unverstÇndlich blieb, daÉ dieser seit 1933 schlieÉlich unschwer auffindbare Sachverhalt auf keinerlei<br />

vom Vf. bisher identifiziertes Interesse gestoÉen zu sein scheint. So empfand er die LektÅre des<br />

knappen Artikels Theodizee von Georges Goedert in: Christian Niemeyer (Hg.), Nietzsche-Lexikon,<br />

2 2011, S. 372f., als Wohltat, denn Goedert formuliert lapidar, daÉ Nietzsches Philosophie „deutlich“<br />

von einer Theodizee „bestimmt“ wird (S. 373). Doch das gilt nicht erst seit Nietzsches Basler VerÄffentlichungen,<br />

sondern vermutlich schon etwa ab 1849/50, wenn wir „Theodizee“ kindgemÇÉ aufzufassen<br />

bereit wÇren.<br />

304<br />

Speziell im Blick auf Nietzsches Vater und Nietzsches sozialen Hintergrund in RÄcken und Naumburg<br />

Reiner Bohley, Nietzsches christliche Erziehung, 1987 und 1989; z.T. auch Martin Pernet: Das<br />

Christentum. Opladen, 1989; und z.T. erfreulich kritisch Klaus Goch: Nietzsches Vater, 2000, S.<br />

198ff.<br />

305<br />

Vgl. dazu Reiner Bohley, Erziehung, 1989, S. 388.<br />

306<br />

Hermann Josef Schmidt: Nietzsche ex/in nuce, 1984, S. 141.<br />

197


lichung (Der GeprÄfte), in von Jahr zu Jahr wiederholten Denkimpulsen in jeweils neuer<br />

Version und abweichender Gestaltung fÅr seine Mutter usw. usw.<br />

3. Hans Gerald HÄdl hingegen akzeptiert diese NaK-Sichtweise nicht, formuliert Einwand um<br />

Einwand gegen Deutungen einzelner Texte, macht aber bei seinen Skizzen von Nietzsches<br />

sozialem Hintergrund, den er gegen die NaK-Interpretationen von Texten des Kindes<br />

Nietzsche diese normalisierend sowie trivialisierend abzuheben sucht, ausgerechnet von<br />

der nach meiner Auffassung fÅr das VerstÇndnis dieser Texte zentralen religiÄsen ‘erweckten’<br />

Auffassung der Allverantwortlichkeit Gottes fÅr jedes Einzelereignis – nochmals:<br />

„Deutung jedes [einzelnen] Schicksalsdetails als [Ergebnis] besonderer gÄttlicher FÅgung<br />

[und FÅhrung]“ 307 – keinerlei ersichtlichen Gebrauch, bezieht in seine äberlegungen auch<br />

nicht die 1995 z.T. verÄffentlichten Aufzeichnungen von Nietzsches Mutter ein, in denen<br />

die Auffassung von NaK eher bestÇtigt wird 308 , kreiert statt dessen einen interpretativen<br />

Ansatz (S. 69), der den Eindruck nahelegt, eigens zwecks UmgehenkÄnnens dieser wichtigen<br />

Aufzeichnung von Nietzsches Mutter aus dem MÇrz 1849 formuliert worden zu sein<br />

(s. hier in 3.7.). Da der Autor von DlJ, wie andere seiner Untersuchungen und nicht wenige<br />

Passagen in DlJ zeigen, meistens ein sorgsamer und kompetenter Interpret ist, fÇllt nicht<br />

ganz leicht, fÅr das Ensemble dieser Defizienzen eine stimmige, geschweige denn zutreffende<br />

honorige Deutung zu prÇsentieren.<br />

(3) Textprobleme und interpretative Divergenzen. Um im thematisierten Problemfeld Divergenzen<br />

zwischen eher christophilen Interpretationen und bspw. Schriften des Verfassers<br />

inhaltlich besser erfassen zu kÄnnen, empfehlen sich bspw. die folgenden Distinktionen, Zuordnungen<br />

und Fragen:<br />

1. Welche Texte in der Handschrift des Kindes Nietzsche ‘sind’ theodizeeproblemhaltig?<br />

Woran lÇÉt sich das erkennen?<br />

2. Ist die Einsicht in die jeweilige Theodizeeproblemhaltigkeit (a) dem Kind selbst zuzutrauen<br />

oder ist deren Annahme lediglich (b) Interpretendiagnose oder -projektion?<br />

3. Gibt es vom Kind Nietzsche wenigstens einen Text, der sogar theodizeeproblemexponierend<br />

ist? Woran lÇÉt sich das erkennen?<br />

4. Lassen sich inhaltliche und/oder thematische Schwerpunkte bei theodizeeproblemhaltigen<br />

oder theodizeeproblemexponierenden Texten des Kindes Nietzsche belegen?<br />

307<br />

Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866, 61993, S. 424.<br />

308<br />

Deshalb scheitern auch die Argumentationen zu „Nietzsches Selbstthematisierungen“, was die<br />

Naumburger Jahre betrifft (DlJ, S. 160-178), d.h. die äberlegungen zu ‘Vorgegebenen Rollenbildern’<br />

ebenso wie zu „Nietzsches Bildungsprogramm in der Naumburger Autobiographie von 1858“, mit<br />

dem Versuch, nachzuweisen, daÉ in der „Naumburger Situation [...] der Knabe trotz mancher UnglÅcksfÇlle“<br />

bei allem ‘Gottes segnende Hand’ erkannt [!!] habe (S. 180) und keine „Kontrastwelt<br />

gegen die religiÄse Welt von Nietzsches Kindheit“ (S. 178) aufgebaut worden wÇre. Die Konstruktion<br />

von DlJ basiert nÇmlich auf konsequenter Ausklammerung (a) des (nun mehrfach zitierten) Spezifikums<br />

der ErwecktenreligiositÇt, vom DreizehnjÇhrigen in dichtestmÄglichem Kontrast zu den sein<br />

Leben gestaltenden Ereignissen und betonten Erfahrungen prÇsentiert, (b) des seit 1994/1995 bekannten,<br />

in dreifacher Aufzeichnung von Nietzsches Mutter fixierten Nachdenkens des VierjÇhrigen, warum<br />

Gott seinen Vater nicht heile, und (c) auf der durch harte Konstraste belegten DoppelbÄdigkeit<br />

dieser Autobiographie incl. des groÉartig komponierten dreifachen „Ach Gott“ im Zusammenhang mit<br />

Nietzsches Bericht vom Tod seines Vaters (vgl. NaK, S. 472), worauf DlJ zwar nicht verweist, wohl<br />

aber auf eine die NaK-Deutung voraussetzende – von ihren Intentionen her sie jedoch zu entschÇrfen<br />

suchende – Interpretation des am 15.10.1994 in RÄcken nach einer Pause referierenden, sich von den<br />

AusfÅhrungen des Verfassers eingangs ausdrÅcklich distanzierenden, hÄchlichst irritiert vortragenden<br />

Kollegen Peter Andrå Bloch („Aus meinem Leben“. Der Selbstportraitcharakter von Nietzsches Lebensbeschreibungen:<br />

Selbstdialog als Selbstbefragung. In: Nietzscheforschung, Band 2, 1995, S. 61-<br />

94).<br />

198


5. Sind diese Texte eher reine Privat- oder auch adressatenorientierte Texte wie bspw. in<br />

Sammlungen zum 2.2. fÅr Nietzsches Mutter? Oder ist diese Unterscheidung nur zeitweise<br />

gÅltig? Oder durch eine andere zu ersetzen?<br />

6. Gibt es bestimmte Methoden oder spezifische Arrangements, die das Kind in seinen theodizeeproblemhaltigen<br />

oder theodizeeproblemexponierenden Texten anwendet?<br />

7. Welche Rolle spielen Themen wie Zweifel, GlÅck, GlÅckssuche, UnglÅck, Schicksal usw.<br />

in Nietzsches frÅhen Texten?<br />

8. Welche Rolle spielen Worte wie „Gott“, „Jesus“ oder „Der Herr“ – und wann? – in Nietzsches<br />

frÅhen Texten?<br />

9. Und welche – damit kontrastierend? – Rollen spielen – und wann? – griechische und ggf.<br />

andere GÄtter, Heroen usw.?<br />

10. Wann und auf welche Weise beginnt sich in Texten des Kindes ‘NaturreligiositÇt’ abzuzeichnen?<br />

So kÄnnte zwar Glasperlenspielern zur Freude ad libitum fortgesetzt werden, doch fÅr diese<br />

Metakritik dÅrfte genÅgen, zugunsten klarerer Einsicht in den prinzipiellen Charakter dieser<br />

langjÇhrigen Kontroverse die divergenten Antworten des Autors und des Verfassers entsprechend<br />

zuzuordnen. So kÄnnten die einzelnen Facetten der TheodizeeproblementschÇrfungen<br />

des Autors klarer identifiziert werden (was hier nun auszufÅhren zu weit fÅhren wÅrde).<br />

Deutlich ist ebenfalls, daÉ unabhÇngig von inhaltlichen PrÇferenzen der Beteiligten diese<br />

auch die intellektuelle KapazitÇt des Kindes Nietzsche unterschiedlich einschÇtzen: Der einer<br />

unerklÇrten ‘Normalkind’-Interpretation verpflichtete Autor von DlJ neigt dazu, das Kind<br />

Nietzsche als intellektuell weniger entwickelt und als wohlintegriert in seine sozialen Rahmenbedingungen<br />

sowie als quasi ‘auf einer Ebene’ mit seinem Kindheitsfreund Wilhelm aufzufassen;<br />

der Verfasser hingegen hÇlt das Kind Nietzsche – im Gegensatz bspw. zum Studenten<br />

– fÅr fÄrderungs- und stressbedingt ausgesprochen frÅhreif, sieht es als seinem Freund<br />

Wilhelm gegenÅber intellektuell deutlich Åberlegen an 309 und unterstellt seinen Texten einen<br />

bei weiterem hÄheren BewuÉtheitsgrad als der Autor von DlJ. Als Zusatzhypothese fÅhrt der<br />

Verfasser EinflÅsse des theodizeeproblemkritischen Dichters Ernst Ortlepp 310 als wichtigsten<br />

Anregers des Kindes Nietzsche ein, verzichtet hier jedoch – noch – darauf, dessen EinflÅsse<br />

im Detail zu spezifizieren.<br />

Derlei und einige weitere Divergenzen sind gegenwÇrtig wohl kaum zu vermitteln.<br />

3.6.4. Problemanzeigen 5 & 6: Certistische VerfÄhrungen & Catholica?<br />

Diese ZwischenÅberlegung kÄnnte unterschiedlichen Orts platziert werden, denn das in ihr<br />

Anzusprechende spielt in der gesamten NaK-Kritik von DlJ und auch im weiteren Fortgang<br />

der Monographie zwar seine Rolle, gehÄrt aber in den Bereich der vom Autor von DlJ vielleicht<br />

nicht voll ‘realisierten’ bzw. nur partiell aufgearbeiteten erkenntnistheoretischen PrÇ-<br />

309<br />

Selbst wenn man viele Abstriche vornimmt, ist aus den Biographien von Nietzsches Schwester von<br />

1895 und 1912 deutlich, daÉ Fritz allseits respektierter AnfÅhrer einer seine beiden Freunde, die drei<br />

jÅngeren Schwestern und zeitweise vielleicht auch noch einen E. Stoeckhardt (I 1, 168) umfassenden<br />

graecophilen Kinderclique war; lediglich der ‘Musikfreund’ Gustav Krug rebellierte zuweilen gegen<br />

Nietzsches stille doch klare Dominanz. Da die Freunde Gustav bis 1904 und Wilhelm sogar bis 1928<br />

lebten, also Einspruch erheben konnten, wenn Elisabeth 1895 oder 1912 allzusehr zugunsten ihrer<br />

Sichtweise ihres Bruders geflunkert oder retouchiert haben sollte, ist jedenfalls von keiner hochgradigen<br />

RealitÇtsdistanz auszugehen.<br />

310<br />

Vgl. Hermann Josef Schmidt: „Ein rÇtselhafter Archivfund: Friedrich Nietzsches (ver)heimlich(t)er<br />

Kindheits- und Jugendvertrauter“, in: NaJ II, S. 694-741; Der alte Ortlepp 2 , 2004, insbes. S. 275-309;<br />

und zuletzt: Ernst Ortlepp – mehr als nur irgendeine Gestalt im weiten Meer der Geschichte? Festvortrag<br />

zum 210. Todestag Ernst Ortlepps, Zeitz am 21.8.2010. In: htpp://www.ernst-ortlepp.de und<br />

www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

199


gungen aus seiner – vermutlich: eher ferneren – Vergangenheit; ist meinerseits also auch nur<br />

hochgradig hypothetisch umschreibbar.<br />

Kritischeren Lesern hier in 3.2. vorgezogener ResÅmees von DlJ bezÅgl. NaK kÄnnte nicht<br />

nur aufgefallen sein, wie absurd gegen einen so hochgradig hypothetisch angesetzten Text wie<br />

das Spurenlesen in Na VorwÅrfe – oder gar: Diagnosen – von MonokausalitÇt sind, oder der<br />

unterstellte Anspruch, „sicher“ und „vollstÇndig“ das Denken des Kindes Nietzsche 311 rekonstruieren<br />

zu kÄnnen (alles DlJ, S. 21), sondern sich auch die Frage aufgedrÇngt haben, aufgrund<br />

welcher eigenen Einstellung jemand (im Sinne von Bedingungen der MÄglichkeit) zu<br />

einer derartigen Verzeichnung zu gelangen vermag.<br />

Dieses Problem ist hier mit dem Stichwort „certistische VerfÅhrungen“ angesprochen. Was<br />

der Autor glaubt, dem Verfasser von NaK unterstellen zu mÅssen, ist im Sinne der Sprachfunktionen<br />

Karl BÅhlers 312 usw. zwar mehr auf den Autor zurÅckweisende Symptom- oder<br />

Ausdruckssprache als eine in der Sache berechtigte Diagnose. Doch was ist des Autors Grund,<br />

sich dieser Ausdruckssprache zu bedienen? Offenbar seine Voraussetzung, jemand, der vielschichtig<br />

und polydimensional Texte zu verstehen sucht, setze deshalb auf VollstÇndigkeit<br />

und Sicherheit. Werden dann beharrlich Komparative und vergleichbare Formulierungen nivelliert,<br />

vielleicht nicht einmal registriert, sondern Åberlesen oder in ihrer Relevanz nicht erkannt,<br />

so legt das einerseits die Vermutung nahe, der Betreffende ‘lese’ unter bestimmten,<br />

hochgradig restriktiven erkenntnistheoretischen – genauer: -abstinenten – Voraussetzungen.<br />

FÇllt dann aber andererseits auf, wie oft der Autor betont, es ginge ihm bei seinen eigenen<br />

äberlegungen in DlJ nicht um VollstÇndigkeit; so drÇngt sich sowohl der Eindruck auf, er<br />

wisse um das Fragmentarische seiner eigenen Skizzen, als auch die Vermutung, er kÇmpfe<br />

dabei jedoch mit der Vorstellung, ‘eigentlich’ Kriterien wie bspw. VollstÇndigkeit und zumal<br />

Sicherheit entsprechen bzw. sie erfÅllen zu mÅssen. Was bedeutet, daÉ Erkenntnisideale neuzeitlicher<br />

rationalistischer Philosophie à la Descartes verinnerlicht worden sein dÅrften, die<br />

ihrerseits wieder auf seit Platon als Erkenntnisideale ins Spiel gebrachte mathematische Erkenntniskonzeptionen<br />

rekurriert, deren frei wÇhlbare PrÇmissen aber nicht als frei wÇhlbar<br />

durchschaut, sondern als ‘fest’ angesehen wurden, denen philosophisch aber zu entsprechen<br />

sei. DaÉ von Religionen mit Offenbarungsanspruch und zumal Christentum derartige Vorstellungen<br />

rezipiert wurden, ist ebenso belegt wie die Tatsache, daÉ wohl keine Offenbarungsreligion<br />

jemals aufgrund ihrer interpretativ bei nÇherem Besehen dann doch meist recht variablen<br />

Offenbarungsinhalte selbst, sondern lediglich als Vehikel anderweitiger Interessen – Herrschaftsinteressen<br />

in der Regel – ‘sich durchzusetzen’ vermochte; genauer: gewaltsam durchgesetzt<br />

wurde. Das bedeutet jedoch im innerreligiÄsen Bereich Inszenierung mÄglichst frÅher<br />

Åberwachter PrÇgungsakte, die religiÄse Sicherheiten nur um den Preis von Zweifelsvermeidung<br />

und hochgradiger selektiver Wahrnehmung sowie mittels bestimmter ‘Denkstrategeme’<br />

aufrecht zu erhalten bzw. ‘zu garantieren’ vermochten; im Klartext: Sicherheit um den Preis<br />

der Zweifelsvermeidung und damit von Denkverzicht versprechen (im verrÇterischen Doppelsinn<br />

des voranstehenden Verbs).<br />

Solcherart lebensgeschichtlich frÅh religiÄs GeprÇgte, denen beigebracht worden war,<br />

Zweifel als schuldhaft zu erleben und um den Preis ihrer ewigen Seligkeit auszumerzen, tun<br />

sich schwer, die in der Zweifelsvermeidung implizierten certistischen VerfÅhrungen zu erkennen;<br />

und sie tun sich wohl noch schwerer, fallibilistische Argumentationen (wie in NaK<br />

angewandt) auch nur zu verstehen. Ein zweifelsohne mÅhsamer Emanzipationsvorgang, dem<br />

der zuweilen sogar fallibilistisch argumentierende spÇtere ‘Nietzsche’ wohl schon zigtausendfach<br />

als Katalysator diente?<br />

311<br />

Was der Autor unter dem ‘gesamten Text’ Nietzsches versteht, ist m.W. von ihm nicht nÇher ausgefÅhrt,<br />

mir deshalb auch nicht klar geworden.<br />

312<br />

Vgl. Karl BÅhler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (1934). Mit einem Geleitwort<br />

von Friedrich Kainz. Frankfurt/M. – Berlin – Wien, 1978, S. 28.<br />

200


Soweit wieder einmal gut und mit brauchbarer Entwicklungsperspektive, wenn es sich bei<br />

der ‘Einstellung’ des Autors bei noch nÇherem Besehen vielleicht nicht noch um eine hochspezifische<br />

Art fixer und dennoch háchstfragiler certistischer AttitÄde handeln kÄnnte: weniger<br />

im Blick auf Erkenntnisideale neuzeitlicher rationalistischer Philosophie à la Descartes als<br />

vielmehr auf eine glÜubige Heilsgemeinschaft. Einen Fingerzeig zu dieser Vermutung liefert<br />

der Autor sogar selbst bspw. in seiner Anm. 86, S. 19, in der ihm ja nicht nur eine Formulierung<br />

Åber die wohl basale – vom Fazit seiner in 5 Punkten formulierten „Zusammenfassung“<br />

seiner NaK-Kritik bestÇtigte (s. oben 3.5.5.) 313 – Intention seiner Nak-Kritik ‘in die Tasten<br />

geflutscht’ ist (dazu genauer unten in 3.8.3.), sondern in dieser Formulierung gleichzeitig<br />

auch eine Spezifizierung dessen, was er, der vom Vf. enragiert verschiedentlich ‘Beweise’<br />

anstatt Hypothesen einfordert, in Anlehnung an eine Formulierung Christian Niemeyers – „in<br />

den Rang einer intersubjektiven GewiÉheit aufsteigern lieÉe“ 314 –, darunter wenigstens dann<br />

zuweilen zu verstehen scheint, wenn er nicht ganz genau aufpaÉt (und sich dabei offensichtlich<br />

nicht Åberlegt, daÉ bspw. d. Vf. zumal als hochrangig inserierte VerÄffentlichungen des<br />

Autors, in denen explizit Na-Kritik als erfolgreich durchgefÅhrt behauptet ist, sich nicht zuletzt<br />

unter dem Gesichtspunkt nÇher vornimmt, um fÅr sich selbst zu klÇren, warum der Autor<br />

weiterhin glaubt, so argumentieren mÅssen, wie er das seit 1993 trotz den Vf. niemals Åberzeugender<br />

Argumentation schlieÉlich demonstriert hat). Das vorweg.<br />

Bei seinen in der Einleitung von DlJ, S. 1-27, deutlich werdenden Versuchen, seine eigene<br />

Sichtweise von derjenigen von Verfassern, die sich zeitlich z.T. lÇngst vor DlJ auch zu fÅr<br />

dessen Autor relevanten Fragen der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> geÇuÉert haben, prononciert abzugrenzen,<br />

um eigenen interpretativen Freiraum entsprechend zu markieren, erfolgt u.a. auch<br />

ein kleines ScharmÅtzel mit Christian Niemeyer, Nietzsches andere Vernunft, 1997, dahingehend,<br />

daÉ in Aufnahme einer oben zitierten Formulierung Niemeyers moniert wird:<br />

„mÅsste [...] eigentlich dazu veranlassen, hier nicht einfach eine These [...], die von einer solchen<br />

Interpretationsstrategie vÄllig abhÇngig, als bewiesen – intersubjektiv gewiss – zu zitieren. [Kursivsetzung<br />

durch d. Vf.]<br />

Hier wird Niemeyer ggf. noch ironisch ‘zitiert’, doch dann nimmt der Autor Niemeyers Formulierung<br />

auf und prÇsentiert nun auf eigene Rechnung:<br />

„Zur Unwahrscheinlichkeit der intersubjektiven Gewissheit von Schmidts Interpretation der frÅhen<br />

Texte Nietzsches auf Theodizeeproblematik hin vgl. u., 2.1.4.“ (S. 19, Anm. 86),<br />

d.h. seine komplette Auseinandersetzung mit des Vf.s NaK. Lediglich eine ZurÅckweisung<br />

eines interpretativen Anspruchs Niemeyers durch den in bzw. mit DlJ, S. 68-131, so erfolgreichen<br />

NaK-Kritiker HÄdl? Das kÄnnte so sein; und damit wÇre er insofern ‘noch einigerma-<br />

Éen aus dem Schneider’ als damit die verfÇnglichste Artikulation, an die sich Vf. momentan<br />

erinnert, z.T. entschÇrft wÇre...<br />

Doch wÅrde das bislang analysierte, aufgewiesene und z.T. in wohl allen erforderlichen<br />

Details auch belegte NaK-’kritische’ Argumentationsniveau von DlJ den gegenwÇrtigen<br />

äberlegungen ‘zugrundegelegt’, liegt die obige HÄdls niemeyerkritische äberlegungen ergÇnzende<br />

Perspektive durchaus nahe, daÉ der Autor die in Niemeyers Formulierung gebotene<br />

313<br />

„dass damit erwiesen ist, daÉ Schmidts Interpretation der frÅhen Aufzeichnungen Nietzsches als<br />

versteckter Religionskritiker nicht die textliche Evidenz fÅr sich hat, die er dafÅr beansprucht“ (DlJ, S.<br />

131).<br />

314<br />

Christian Niemeyer: Nietzsches andere Vernunft, 1998, S. 7; der Autor unterlÇÉt in der Anm. 80<br />

zwar den betreffenden Seitenhinweis, liefert ihn Anm. 81 aber bei einem anderen Zitat Niemeyers<br />

dann nach.<br />

201


methodologische Perspektive durchaus teilt; und sogar noch radikalisiert. Das wÅrde bedeuten,<br />

daÉ auch der Autor bereits „intersubjektive GewiÉheit“ mit ‘Beweis’-QualitÇten ausstattet:<br />

und genau so argumentiert er schlieÖlich auch, fast von Seite zu Seite, wenigstens von<br />

grÄÉerer Gedankeneinheit zur nÇchsten zumindest in seiner NaK-Kritik. Da, so erweckt er<br />

(wie schon in seiner Ortlepp-Miszelle, 1998f., vgl. Anhang 1) den Eindruck, daÉ sogar schon<br />

seine eigene GewiÉheit (genauer: subjektive GewiÉheitserfahrung bzw. „intrasubjektive Gewissheit“)<br />

fÅr ihn genÅgt, um von ‘Beweis’ oder ‘bewiesen’ zu sprechen. Und daÉ folglich<br />

seitens des Autors in hohem MaÉe als intrasubjektiv Åberzeugend erfahrene und als intersubjektiv<br />

dann argumentativ Åberzeugend erzielte PlausibilitÇt ebenfalls von „Beweis“ nicht<br />

trennscharf genug unterschieden wird.<br />

Das wÅrde dann freilich bedeuten, daÉ fÅr den Autor wenigstens dann, wenn er nicht aufpaÉt,<br />

„intrasubjektiv gewiss“ mit „intersubjektiv gewiss“ und wenigstens offiziell Letzteres –<br />

inoffiziell freilich auch Ersteres – mit „bewiesen“ gleichzusetzen ist?! Heiliger Bimbam. Sollte<br />

das in wenig bedachten Momenten nicht nur fÅr ihn selbst, sondern auch fÅr die Catholica<br />

generell gelten – ein Blick ins ‘argumentative Geheimarchiv’ 315 ? –, dann verstehe ich endlich<br />

zu Beginn meines 8ten Jahrzehnts, warum noch wÇhrend meiner Jugend respektierte Akademiker<br />

mit ehrlichem Augenaufschlag behaupten konnten, Glaubenswahrheiten seien beweisbar.<br />

GenÅgt es doch in einer Glaubensgemeinschaft bereits, intersubjektiv fÅr gewiss Gehaltenes<br />

als intrasubjektiv gewiss zu erlernen – notfalls à la Blaise Pascal 316 oder –, um à la HÄdl<br />

„vollkommen davon Åberzeugt“ 317 zu sein usw. usw. –, weiter- bzw. kÅnftighin in einer Art<br />

‘PendelschluÉ’ Intrasubjektives fÅr Intersubjektives und umgekehrt und beides fÅr „bewiesen“<br />

zu halten sowie zu ‘setzen’? Dann kann zwar jede Clique jeden Glauben beweisen, denn intersubjektive<br />

Gewissheit lÇÉt sich – wie noch heute belegbar – schon durch frÅhkindliche Indoktrination<br />

bei einer hinreichenden Menge von Personen erreichen bzw. in intrasubjektive<br />

GewiÉheit transformieren (und weitere vergleichbare ‘PendelschlÅsse’ mit Dynamisierungseffekt<br />

lassen sich notfalls sozialkontrollengefÄrdert ‘erzielen’). Vermutlich gelingt derlei auch<br />

mit Psychopharmaka. Manchmal scheinen zwischen „Aufgabe der Wissenschaft“ und „Aufgabe<br />

von Wissenschaft“ nur noch Gradunterschiede zu bestehen.<br />

315<br />

Diese Vermutung ist leider – „leider“, weil auch Kritiker Interesse an problemnahen, keineswegs<br />

eigengeschichtsblinden Argumentationen wenigstens hochrangigster Vertreter von weltweit dominanten<br />

Glaubensgemeinschaften haben – nicht ganz so abwegig, wie sie fÅr AuÉenstehende vielleicht<br />

klingen mag. Um einen mÄglichst ‘aktuellen’ Beleg zu bieten, verweise ich auf des ranghÄchsten Benediktiners,<br />

eines Abtprimas Åber ca. 800 KlÄster, Notker Wolf vorgelegtes BÇndchen: Alles Gute<br />

kommt von oben. Kleine Wahrheiten fÄr zwischendurch. Reinbek bei Hamburg, 2010, und auf das<br />

wieder einmal wohltuend prÇsentierte LektÅreergebnis von Hans Albert: Abtprimas Notker Wolf als<br />

Ratgeber. ErzÜhlungen und RatschlÜge des obersten Benediktiners. In: A&K 3/2012, S. 80-87. Schon<br />

wer nur Alberts Skizze nachdenklich liest, wird die Frage kaum los, auf welchem eigene Religionsgeschichte<br />

betreffenden Kenntnisniveau inzwischen selbst von ranghÄchsten Kirchenvertretern nahezu<br />

risikofrei publiziert werden kann. DaÉ das Theodizeeproblem hier ebenso wie in den meisten anderen<br />

neueren VerÄffentlichungen von Religionsvertretern teils Åbergangen teils trivialisiert wird, versteht<br />

sich inzwischen leider ‘fast schon von selbst’. Eine alternative DeutungsmÄglichkeit wÅrde zwar auf<br />

die in Anhang 3 angedeutete Problematik verweisen; doch wÇre ein derartiger ‘Ausweg’ nicht noch<br />

fragwÅrdiger?<br />

316<br />

Zu derlei Strategemen vgl. in KÅrzestfassung bspw. Hans Albert: Zur Glaubensproblematik bei<br />

Pascal, Kierkegaard und James. In: Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans<br />

KÄng. Hamburg, 1979, S.211-221, erw. Neuausgabe Aschaffenburg, 2005, S. 199-208. Die Fassung<br />

bei Norbert Hoerster (Hg.): Glaube und Vernunft. Texte zur Religionsphilosophie. MÅnchen, 1979,<br />

bzw. Stuttgart, 1985, S. 318-327, ist gekÅrzt.<br />

317<br />

In Hans Gerald HÄdl: Der alte Ortlepp war es Äbrigens nicht..., seiner Philologie fÄr Spurenleser.<br />

In: Nietzsche-Studien XXVII (1998), [Herbst] 1999, S. 440-445, zeigt sich der Autor S. 443 „vollkommen<br />

davon Åberzeugt [...], „daÉ es sich bei der Eintragung in Nietzsches ‘Album’ tatsÇchlich um<br />

die Handschrift von Georg Hermann Stoeckert handelt.“ Causa finita?<br />

202


Sollte dem im Jahre des Heils 2012 wirklich noch immer so oder wenigstens so Çhnlich<br />

sein, hieÉe dann „Aufwachen“ und ernsthaft nachzudenken die Parole nicht wenigstens dann,<br />

wenn man sich am ‘Wissenschaftsspiel’ weiterhin beteiligen mÄchte? Und das mÄglichst<br />

schon heute?<br />

3.6.5. Zweites Resumee oder Werden ZusammenhÜnge deutlicher?<br />

Das vielleicht nicht mehr jeden Leser Åberraschende erste ResÅmee usw. in 3.6.2. soll nun<br />

in BerÅcksichtigung wesentlicher in 3.1. bis 3.6. identifizierter oder rekonstruierter Problemoder<br />

Kritikpunkte in unerklÇrter Zusammenfassung meiner sich notgedrungen verzweigenden<br />

Skizzen konkretisiert und belegt werden.<br />

Wenn (1.) die Austreibung der Theodizeeproblematik aus Nietzsches Kindertexten durch interpretative<br />

Falsifikation wesentlicher Interpretationen (und damit auch Diskreditierung des<br />

u.a. die BerÅcksichtigung von Theodizeeproblemen fÄrdernden Ansatzes von Nietzsche absconditus)<br />

das eigentliche inhaltliche Motiv der unermÅdlichen und respektablerweise jeweils<br />

an entscheidenden Punkten ansetzenden NaK-Kritik des Autors darstellen sollte; und wenn<br />

(2.) ‘hinter’ HÄdls ArgumentationsfÅhrung eine ‘theodizeeproblem- und christentumsproblematisierungs-<br />

sowie -kritikflÄchtige apologetische Intention’ als eine des Autors mehr als anderthalb<br />

Jahrzehnte lang fortgefÅhrte und radikalisierte NaK-Kritik ÅberbrÅckende – genauer:<br />

‘integrierende’ sowie motivierende –, wohl erst seit DlJ rekonstruierbare Perspektive nun<br />

auch Dritten einsichtiger werden kÄnnte, so muÉ eine derartige Doppelhypothese schon deshalb<br />

mÄglichst umfassend belegt werden, weil bei Çhnlich brisanten, ungewohnten und als<br />

wenig sympathisch gewerteten Argumentationsketten meist mit einem zwecks Problemeskamotierung<br />

und Diskreditierung sich solcherart ãuÉernder schnell erhobenen, von Kombattanten<br />

dankbar weiterverbreiteten bzw. getuschelten Paranoiavorwurf oder der Behauptung, es<br />

wÇre ‘mal wieder eine VerschwÄrungstheorie’ 318 konstruiert worden, zu rechnen ist.<br />

So kÄnnte verstÇndlich(er) werden, daÉ und wie (a) einzelne relevante Kritikpunkte des<br />

Autors, z.T. kongruent mit (b) editorischen Entscheidungen in KGW I 1, 1995, ebenso wie (c)<br />

meinerseits ins Spiel gebrachte – seitens Dritter unschwer nachprÅfbare – und in den nÇmlichen<br />

Zusammenhang gehÄrige, vom Autor jedoch nicht angemessen berÅcksichtigte oder<br />

fehlinterpretierte Fakten sowie (d) vielleicht auch das spezifische Faktum, daÉ der Autor belegtermaÉen<br />

dazu neigt, frÅhe Texte Nietzsches in BerÅcksichtigung von Kontextgesichtspunkten<br />

in ihrer ‘familiÇren Unzeit- und UnortsgemÇÉheit’ zu entschÇrfen resp. interpretativ<br />

zu normalisieren, was in Perspektive von Selbstanwendung u.a. die Frage nahelegt, ob und<br />

ggf. welche Rolle bzw. Relevanz denn des Autors eigener beruflicher und lebensgeschichtlicher<br />

katholischer Kontext im Zusammenhang seiner NaK-kritischen Argumentationen spielen<br />

mag bzw. besitzt, vielleicht erst in ihrer Kombination von (a) bis (d) eine Art Kippeffekt auszulÄsen<br />

bzw. ein so scharf konturiertes Bild zu ergeben vermÄgen, daÉ die Frage fast schon<br />

aufgedrÇngt wird, warum eine derartige Konstellation nicht schon – mÄglichst von dritter Seite<br />

– vor lÇngerem identifiziert, analysiert und Äffentlich diskutiert wurde.<br />

Nun, von dritter Seite war und ist insbesondere bei dieser Thematik aus einer Reihe von<br />

GrÅnden leider wohl besonders wenig zu erwarten; denn wer will schon genauso wie d. Vf.<br />

„tot“ sein? Als dieser im Sommer 1995 den Band KGW I 1 erhalten hatte und ihn genauer<br />

durchging, hatte er zwar nicht vÄllig ausgeschlossen, daÉ oben skizzierte ZusammenhÇnge im<br />

Rahmen der erfolgten Modifikationen und konzeptuellen Revision ihre Rolle gespielt haben<br />

kÄnnten, denn die bes. im Fokus stehenden erst nachgutachterlich erfolgten editorischen ãnderungen,<br />

deren Ensemble dann auch auf einige weitere weniger provokative schon im Gut-<br />

318<br />

Als ob es noch niemals VerschwÄrungsartiges in Politik, Wirtschaft oder auch Wissenschaft gegeben<br />

hÇtte; und als ob es auch im Falle eines entsprechenden Vorwurfs nicht erst einmal auf die QualitÇt<br />

der vorgestellten Argumente ankommen wÅrde.<br />

203


achterskript enthaltenen Abweichungen von der Metteedition unerwartetes Licht werfen<br />

kÄnnten, passten schlieÉlich allzugut zur Argumentation von des Autors DNK-Vortrag von<br />

Juli 1993; doch in so zahlreichen Details wie nun prÇzisieren lassen sich zunehmend verdichtende<br />

BefÅrchtungen in fÅr d. Vf. kaum mehr umgehbarer Weise erst seit und dank DlJ, 2009.<br />

Manchmal muÉ man freilich einen sehr langen Atem, Geduld und auch das GlÅck haben,<br />

trotz allmÇhlich nachlassenden DetailgedÇchtnisses fÅr vor Jahrzehnten Erarbeitetes noch einigermaÉen<br />

‘aktionsfÇhig’ zu sein, wenn nun mit DlJ eine seit lÇngerem nicht mehr ausgeschlossene<br />

‘Eskalationsstufe III’ 319 erfolgte: Nach der editorischen Weichenstellung 1994 (als<br />

‘Eskalationsstufe I’) sowie der Ortlepp-Miszelle, 1998/1999, samt ihren charakteristischen<br />

Rahmenbedingungen (als ‘Eskalationsstufe II’) nunmehr durch die 2009 vorgelegte, auf editorischen<br />

Entscheidungen des in mancherlei Hinsicht ‘heiÉen’ und im Blick auf <strong>Genetische</strong><br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong> besonders konsequenzenreichen und erfolgreichen Jahrs 1994 320 z.T.<br />

basierende sowie diese (ebenso wie weitere von der Mette-Edition abweichende editorische<br />

ãnderungen) auf z.T. bemerkenswerte Weise legitimierende, grÅndlicher und umfassender als<br />

je zuvor NaK-Kritik durchfÅhrende <strong>Nietzscheinterpretation</strong> DlJ; irgendwann vielleicht gefolgt<br />

durch den u.a. die editorischen Entscheidungen des Sommers 1994 vermutlich auch weiterhin<br />

kaum stichhaltig genug legitimierenden 321 Nachbericht der Nietzsches Texte der SchÅlerzeit<br />

(mit Ausnahme des Briefwechsels) bietenden BÇnde KGW I 1-3, den zu erstellen niemand<br />

anders als der Autor von DlJ nicht nur Detailkenntnisse, sondern auch die Verantwortung<br />

Åbernommen hat und ohnedies mehr als nur die Anstandspflicht 322 besitzt, ggf. vor allem dann<br />

als ‘Eskalationsstufe IV’, wenn sich herausstellen sollte, daÉ der in DlJ quasi ‘auf den Begriff<br />

gebrachten’ NaK-Kritik im Sinne eines Destruktionsversuchs einer die frÅhe geistige Ent-<br />

319<br />

Dabei ist hoffentlich deutlich: Kritik bewertet Vf. dann, wenn aus ihr etwas gelernt werden kann,<br />

vor allem freilich, wenn Fortschritte erzielt anstatt Regressionen zu legitimieren gesucht werden, als<br />

ausgesprochen fárderlich; und auch dann keineswegs als „‘Eskalationsstufen’“, wenn er sie als nicht<br />

sonderlich relevant einschÇtzt (wie bspw. die beiden NaK-Kritiken des Autors von 1993 oder 1994).<br />

Anders freilich die als „‘Eskalationsstufen’“ I und II bezeichneten VorgÇnge oder nun ein Versuch,<br />

auch auf der Basis nachgutachterlich erfolgter VerÇnderungen oder anderweitiger m.E. unberechtigter<br />

editorischer Entscheidungen in KGW I 1, 1995, Kritik an NaK zu Åben.<br />

DaÉ von dem im Sommer 1995 erschienen Band KGW I 1 als „‘Eskalationsstufe I’“ gesprochen wird,<br />

motiviert vielleicht manchen Leser, sich zu fragen, warum d. Vf. – anders als in Reaktion auf seinerseits<br />

als ‘Eskalationsstufen II und III’ Bezeichnetes – nicht bereits 1995ff. entsprechend Äffentlich<br />

votierte. Dazu wie folgt: 1. Angesichts der Åberraschenden Vorlage eines Nachdrucks der fÅnf WerkbÇnde<br />

der HKG, 1933-1940, als FrÄhe Schriften bereits im FrÅhsommer 1994 selbst im Taschenbuch<br />

konnte jedoch vorausgesetzt werden, daÉ wenigstens sorgsame Leser und zumal Interpreten ohnedies<br />

beide Editionen konsultieren, dabei die entsprechenden Divergenzen bemerken und ggf. zu deuten<br />

vermÄgen. So lieÉ sich Vf. 2. angesichts obwaltender UmstÇnde und vor allem 3., um den Fortgang<br />

der Edition nicht zu gefÇhrden, und 4. unter der Voraussetzung Zeit, eine entsprechend basierte (und<br />

die Abweichungen vom Skript idealiter erklÇrende, ggf. auch nur legitimierende) Interpretation aus<br />

dem Kreis der fÅr die Sommer 1994 erfolgten Modifikationen von KGW I 1 Verantwortlichen abzuwarten<br />

sowie grÅndlich zu ÅberprÅfen; was mit dieser Metakritik von DlJ nun ja erfolgt. Umso Åberraschender<br />

dann freilich die Vorlage des als ‘Eskalationsstufe II’ Bezeichneten ohne Angebot direkter<br />

bzw. zeitgleicher Replik in den Nietzsche-Studien, 1999.<br />

320<br />

Genaueres dazu in Anhang 2: Ein ‘heiÖes’ oder nur konsequenzenreiches Jahr 1994?<br />

321<br />

Die manchen vielleicht irritierende Serie von EinwÇnden gegen bestimmte Entscheidungen im Zusammenhang<br />

von KGW I 1, 1995, und die bereits hier skizzierten und in die Anmerkungen verbannten<br />

Widerlegungen antizipierter GegeneinwÇnde wurden in der erklÇrten Hoffnung formuliert, daÉ sie sich<br />

in concreto als gegenstandslos erweisen, weil im Nachbericht zur KGW I 1-3 auf eine stichhaltigere<br />

Weise argumentiert wird als noch in DlJ.<br />

322<br />

Der Autor von DlJ erhielt eigens fÅr dessen Erarbeitung zusÇtzlich zu dem 6 Jahre ÅberbrÅckenden<br />

SalÇr des çFF schon vor Åber einem Jahrzehnt einen ebenfalls durch ein Gutachten des Vf.s befÅrworteten<br />

namhaften Betrag aus dem 50-Jahre-JubliÇumsfond der çsterreichischen Nationalbank.<br />

204


wicklung Nietzsches als eines erstaunlich konsequenten, wenngleich leidvollen poetischen<br />

Selbstbefreiungsversuchs von christlichen Glaubensvorgaben aufweisenden Hypothesenensembles<br />

des Verfassers, im Nachbericht zu KGW I 1-3 dann Strategeme, Textarrangements<br />

und/oder eine prochristliche Interpretationen prÇferierende ‘Informationspolitik’ folgen sollten.<br />

Was nun DlJ selbst betrifft, so erscheint aus metakritischer Vogelschau des Autors Vorgehen<br />

nicht mehr das volle thematische NaK-3-SÇulen-Destruktionskonzept der zentralen Argumentationen<br />

von 1993, 1994 und 1998 zu systematisieren und perfektionieren, sondern die<br />

argumentative StabilitÇt nur noch der beiden ersten ‘SÇulen’ zu perfektionieren, ansonsten<br />

aber weitere Gesichtspunkte einzubeziehen.<br />

Das bedeutet konkret, um auf die fÅr grÅndliche Leser bereits in 2.4. Fazit gegebene Skizze<br />

zurÅckzukommen:<br />

(1) im Vortrag von 1993 ging es darum, den extraordinÇrsten frÅhen Text Nietzsches, das<br />

Lustspiel Der GeprÄfte, einerseits (a) dem Kind Nietzsche als Autor zu entziehen und andererseits<br />

(b) ihn in seinem ‘griechisch-heidnisch’-affirmativen, subtil christophoben Charakter<br />

zugunsten einer interpretatio christiana zu entspezifizieren, quasi also umzuwidmen. Und DlJ,<br />

2009, hat diesen Doppelansatz aufgenommen und in seinem 2. experimentum crucis zu systematisieren<br />

und zu radikalisieren gesucht (s. oben 3.4.4.).<br />

(2) Im Folgejahr hingegen, 1994, ging es darum, denjenigen Text des Kindes, der (die) hermeneutische(n)<br />

SchlÅssel bietet, um die zumal in den drei Geburtstagsgeschenksammlungen<br />

zum 2.2.1856-1858 vom Kind prÇsentierten z.T. massiv theodizeeproblemhaltigen ‘Ansprachen’<br />

an seine Mutter aufzuschlieÉen – die Autobiographie des SpÇtsommers 1858 Aus meinem<br />

Leben –, um nahezu jeden interpretativen Preis als potentiellen Geschenktext ebenfalls an<br />

Nietzsches Mutter zu negieren – offenbar in der Hoffnung, argumentative ‘BrÅckenschlÇge’<br />

zu erschweren, und den Text deshalb ebenso (in stiller Ausklammerung alles WiderstÇndigen)<br />

einer interpretatio christiana zu unterwerfen. Wiederum hat DlJ diesen Ansatz aufgenommen,<br />

dreist als bereits 1994 erfolgreich durchgefÅhrte NaK-Kritik behauptet und durch weitere Indizien<br />

noch zu stÇrken gesucht (vgl. oben 3.5.3.). SchlieÉlich<br />

(3), die Ortlepp-Miszelle von 1998/99. Sie sprengte keineswegs den Rahmen, sondern hatte<br />

u.a. einerseits die Funktion, die vom Vf. ins Spiel gebrachte Verbindung zu einem Theodizeeprobleme<br />

thematisierenden, im Naumburger Raum 1853-1858 respektierten, spÇter nach<br />

dem Scheitern der beiden letzten ‘RettungsplÇne’ – nach spÇtem Staatsexamen Lehreranstellung,<br />

1856; weitere Herausgeberarbeiten bei dem kriselnden, 1859 dann in Konkurs gegangenen<br />

Naumburger Verlag Garcke – verzweifelt vagabundierenden Dichter, der angesichts der<br />

frÅhen Lebensgeschichte Nietzsches und von dessen poetischen Interessen Anreger zu und<br />

Stichwortgeber von aufschluÉreichen poetischen eher christentumskritischen Produkten des<br />

Kindes und portenser SchÅlers gewesen sein dÅrfte, auf eine Weise zu kappen, daÉ das Ortlepp-Thema<br />

obsolet zu sein schien. Daran bestand auch von dritter Seite erhebliches Interesse.<br />

Andererseits wirkte dieser Text auch auf jeden der Kollegen (darunter auch eine Kollegin) aus<br />

z.T. diversen Disziplinen anderer Hochschulen, die ich zwecks äberprÅfung meines Urteils<br />

um LektÅre und um rÅckhaltlos offene Mitteilung ihres Eindrucks gebeten hatte, als ob beabsichtigt<br />

worden wÇre, des Vf.s Recherche-, Reflexions- und InterpretationsseriositÇt ebenso<br />

wie -kompetenz auf eine Weise in Zweifel zu ziehen, daÉ Vf. nicht nur als Kritiker nachgutachterlicher<br />

Modifikationen von KGW I 1, sondern auch als Interpret, Gutachter, Antragssteller<br />

bei einer Forschungsgemeinschaft (bspw. im Blick auf FÄrderung des DNK), Referent<br />

usw. nachhaltig, wenn nicht irreversibel diskreditiert werden sollte (und nachgewiesenerma-<br />

Éen auch konnte. Vgl. oben Anm. 22). Angesichts der Tatsache, daÉ es sich bei den Argumenten<br />

dieses Texts nahezu durchgÇngig um Platzpatronen handelte und der Ton der Miszelle<br />

sowie einige BegleitumstÇnde hochspezifisch waren, stand Vf. vor der unisono vorgeschlagenen<br />

Alternative, entweder kÅnftig kein Wort mehr zu Nietzsche zu verÄffentlichen oder aber<br />

‘den Ball aufzunehmen’, was dann mit Der alte Ortlepp, 2000, 2001 und 2004, auch geschah.<br />

205


Um zusammenzufassen: die beiden wohl wichtigsten ‘kritischen’ Texte des frÅh(st)en<br />

Nietzsche und der wichtigste ‘kritische’ Anreger standen im Fokus zwecks Umwidmung oder<br />

EntschÇrfung der NaK-Interpretationen. Offenbar mit respektablem Erfolg bei denjenigen, die<br />

entweder schon vorweg ‘auf der Seite’ des Autors und zumal seiner wichtigsten Kombattanten<br />

standen oder sich, wie Vf. befÅrchtet, mit den betreffenden Themen keineswegs intensiv<br />

befaÉt haben; diejenigen hingegen, die ergebnisoffen nachprÅften und/oder die entsprechenden<br />

Texte des Vf.s kannten, konnten davon ausgehen, daÉ der Vf. die betreffenden Argumentationen<br />

einer genaueren äberprÅfung unterwerfen wÅrde und ermutigten den Vf. Dieser hatte<br />

‘in Sachen Ortlepp’ inzwischen so grÅndlich recherchiert und dazu auch verÄffentlicht, daÉ es<br />

fÅr den Autor ratsamer gewesen zu sein scheint, das Ortlepp-Terrain zugunsten von Parallelargumentationen<br />

zu (a) und (b) sowie einigen Innovationen in DlJ zu rÇumen.<br />

VerstÇndlicherweise geht die hier und in 2.4. skizzierte ‘BeweisfÅhrung’ von Annahmen<br />

aus, die weder selbstverstÇndlich noch gar ‘natÅrlich’ sind, sondern ‘strategisches Niveau’<br />

voraussetzen, das in unterschiedlichen ZusammenhÇngen jedoch mehrfach belegt ist. Dennoch<br />

war in Gegenproben mehrfach eine Reihe alternativer ‘Konzepte’ genetisch und systematisch<br />

durchzuspielen: von (1) dem ‘menschlich-allzumenschlichen’, angesichts Na ‘irgendwo’<br />

kritisch einsetzen zu wollen, um zu zeigen, ‘daÉ man auch noch da ist’, Åber (2)<br />

noch unverÄffentlichte, vermeintliche GlÅcksfunde wie die Besetzungsliste von Die Gátter<br />

auf den Olymp, deren LeistungsvermÄgen im Blick auf Der GeprÄfte naiv ÅberschÇtzt wurde,<br />

bis zum (3) Refugium des Åber Jahre in Handschriften der Mitte des 19. Jahrhunderts mittlerweile<br />

Eingelesenen, wenigstens auf der Ebene eines Handschriftenvergleichs ‘noch einen<br />

Stich machen’ und quasi im Mehrfachpack auch noch den theodizeekritischen Dichter Ernst<br />

Ortlepp ‘entsorgen’ sowie drittens des Vf.s diverse AktivitÇten multifunktional ‘entschÇrfen’<br />

zu kÄnnen – eine äbermotivation, die dann in ihrem Sog dazu gefÅhrt haben kÄnnte, auf basale<br />

Recherchen zu verzichten und die eigenen Funde allzu intentionskompatibel zu interpretieren<br />

– und der schlieÉlich keineswegs unrealistischen (4) Hoffnung, als weltanschaulich eindeutig<br />

positionierter, dennoch im Wissenschaftsspiel dank der TÇtigkeit im Zusammenhang<br />

der Edition von KGW I 1-3 & Nachbericht als Fachmann Respektierter wahrgenommen und<br />

idealiter im Sinn der Anmerkung 23, S. 520f., von NaJ I bekannt und ‘belohnt’ zu werden.<br />

Doch mÄgen derlei Motive so verstÇndlich oder ‘allzumenschlich’ gewesen sein wie auch<br />

immer, in einer Metakritik wie hier muÉ vorausgesetzt werden kÄnnen, daÉ als legitim anerkannt<br />

wird, deren Objekt bzw. DlJ als epistemisch hochwertiges Produkt in seiner stÇrksten<br />

Version als strategisch optimal zu sezieren; seien Motive von dessen Autor wie auch immer<br />

und sei deren direkter oder indirekter EinfluÉ wie auch immer. Deshalb zurÅck auf die Hauptspur<br />

der Argumentation.<br />

So stehen auch in der NaK-Kritik von DlJ die beiden ‘PrimÇrtexte’ Der GeprÄfte und Aus<br />

meinem Leben nochmals und ausfÅhrlicher als je zuvor in des Autors Fokus, doch nun ergÇnzt<br />

um einige weitere eher nur skizzierte Nak-kritische AnsÇtze in Alternativinterpretationen insbes.<br />

der Moses-Verse, wohl von 1854/55, und drei SeenotfÇlle thematisierende Gedichte der<br />

Sammlung zum 2.2.1856. Neu hingegen war die Nak-kritische BerÅcksichtigung zweier<br />

„grundlegender Interpretationsprinzipien“, doch auch deren Diskussion litt wie diejenige der<br />

ansonsten herangezogenen Texte (s.o.) auÉer an ihren eigenen jeweiligen argumentativen<br />

SchwÇchen vor allem daran, daÉ sie von der als entscheidendes experimentum crucis inszenierten,<br />

jedoch desastrÄs gescheiterten Kritik an der NaK-Interpretation von Der GeprÄfte und<br />

der nicht minder gescheiterten interpretatio christiana als der eigenen alternativen Interpretation<br />

von Der GeprÄfte ‘tÄdlich’ infiziert waren. So fÅhren in DlJ ‘alle Wege’ weniger direkt<br />

nach Rom als zum in vollem Umfang als gelungen inserierten und deshalb methodologisch<br />

auch als SchlÅssel zu weiteren NaK-Kritiken genutzten experimentum crucis von Der GeprÄfte<br />

mit den entsprechend ruinÄsen Folgen fÅr das gesamte DlJ-Ensemble NaK-kritischer Arrangements<br />

und Argumentationen.<br />

206


Deshalb das Kapitel 3.6. nun abschlieÉend zur Auffrischung der Erinnerung und mit einem<br />

Seitenblick auf die vom Autor bereits in die Einleitung von DlJ aufgenommene Intention, die<br />

„Unwahrscheinlichkeit der intersubjektiven Gewissheit von Schmidts Interpretation der frÅhen<br />

Texte Nietzsches auf Theodizeeproblematik hin“ (S. 16, Anm. 86) zu belegen, als nicht<br />

mehr kommentierte Belegsammlung eine deshalb in Frageform prÇsentierte Liste der wohl<br />

wesentlichen grÄÉtenteils in DlJ selbst – meist sogar im Zusammenhang der beiden experimenta<br />

crucis – eruierten und in 3.1. bis 3.6. dieser Untersuchung thematisierten Problem- und<br />

Kritikpunkte! Da sie sich zum grÄÉeren Teil lediglich auf den zentralen, vom Autor als entscheidendes<br />

experimentum crucis der interpretativen SeriositÇt von Nak ausgewÇhlten Text<br />

Der GeprÄfte beziehen, lieÉen und lassen sie sich unschwer erweitern. Um etwas Ordnung in<br />

diese Auflistung z.T. eigentÅmlich systemisch wirkender ZufÇlle zu bringen, gehe ich dabei<br />

mÄglichst ‘nietzschechronologisch’ vor.<br />

– Versteht man nun besser, warum in des Autors biographischem „Setting von Nietzsches<br />

Kindheit“ (1844-1858) Krankheit, Leiden und Tod von Nietzsches Vaters (ca. 9.1848-<br />

30.7.1849) kaum Åberbietbar verharmlosend gezeichnet wurden? Und warum die konkretes,<br />

hochexistentielles theodizeeproblemhaltiges Nachdenken des erst VierjÇhrigen belegenden<br />

– in dieser Hinsicht also brisanten – Notizen von Nietzsches Mutter aus dem FrÅhjahr<br />

1849 selbst dann aus der Argumentation in DlJ ausgeklammert 323 wurden und auch<br />

ansonsten der Diskussion weitestgehend entzogen zu sein scheinen – oder gar: werden<br />

mÅssen –, wenn der Nachweis dieses Sachverhalts kaum gering einzuschÇtzende SeriositÇtsfragen<br />

324 aufwirft?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum die fÅr das engste soziale Umfeld<br />

des RÄckener und Naumburger Kindes Nietzsche wichtigste und in bes. MaÉe theodizeeproblemtrÇchtige<br />

Form protestantischer ReligiositÇt, die ReligiositÇt der Erweckungsbewegung,<br />

in DlJ keinerlei zentrale Rolle zu spielen scheint?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum der in den militÇrtechnischen Aufzeichnungen<br />

von 1854/55 eingetragene – vom Kind in ihnen versteckte? – Moses-<br />

Vierzeiler weder neben den zwei Kriegsliedern und dem Gedicht zum Fall von Sewastopol<br />

– zu deren Sinn er doch vielleicht einen SchlÅssel darstellen kÄnnte – noch auch in beibehaltener<br />

rÇumlicher NÇhe zu dem Lustspiel Der GeprÄfte von 1855 samt Parisjagd des<br />

Menelaos verblieb, sondern kontextfrei in den Anhang des Kindheitsbandes der Kritischen<br />

Gesamtausgabe, Werke, unter unzutreffender äberschrift ausgegliedert – genauer wohl:<br />

323<br />

Besonders eigentÅmlich berÅhrt, daÉ der Autor sich im Zusammenhang seiner Auflistung der<br />

„Grundthesen von Schmidts Interpretation“ in seiner Anm. 188, S. 73, diesem heiÉen Thema fast bis<br />

auf Haaresbreite nÇhert, indem er nicht nur auf den betreffenden Vortrag verweist, sondern auch „auf<br />

das Erlebnis der Krankheit und des Todes des Vaters“. Sogar mein emotionale Folgen dieses Erlebnisses<br />

skizzierendes Fazit (1995, S. 60) ist zitiert, doch der zentrale Beleg Äber die theodizeehaltige Art<br />

des Nachdenkens des vierjÜhrigen Kindes ist ebenso ausgeklammert wie die naheliegende Frage nach<br />

potentiellen ‘poetophilosophischen Folgen’ dieses Erlebnisses. SchlieÉlich verletzt sie heutzutage<br />

doch kaum mehr ein Tabu, eine Ausklammerungsvereinbarung oder ein VerschweigungsgelÅbde.<br />

Oder doch? Andererseits ist sogar noch auf eine weitere dieselbe Thematik wie obiges Fazit betreffende<br />

Passage verwiesen. (Es handelt sich dabei um Hermann Josef Schmidt: „Auf nie noch betretener<br />

Bahn“. Poetische Selbstfindungsversuche des Kindes Nietzsche. In: Kjaer, Joergen (Hg.): Nietzsche<br />

im Netze. Nietzsches Lyrik, ãsthetik und Kindheit im deutsch-dÇnischen Dialog. Nietzsche i dankstysk<br />

dialog. Aarhus, 1997, S. 16.)<br />

324<br />

Die Tatsache, daÉ dieser vor 1994 unbekannte Text in Nak noch keine Rolle spielt, erlaubt schon<br />

deshalb nicht Ausklammerung in einer NaK-Kritik, die darauf hinauslÇuft, dem Verfasser zu unterstellen,<br />

sein Aufweis von Theodizeeproblemhaltigkeit bestimmter Texte sowie der in ihnen artikulierten<br />

Auseinandersetzung – und identifizierbaren Stellungnahme – des Kindes dazu wÇre unangemessen,<br />

basiert auf dem Sachverhalt, daÉ der Verfasser bereits in NaK Hypothesen formulierte (vgl. S. 849ff.),<br />

die durch diese Notizen von Nietzsches Mutter aus dem FrÅhjahr 1849 in kaum fÅr mÄglich gehaltener<br />

Weise bestÇtigt wurden.<br />

207


entsorgt – wurde? Dabei hÇtte er doch an seinem ursprÅnglichen Ort bspw. die Frage nahelegen<br />

kÄnnen, ob er einen – den? – BrÅckenschlag von den KÇmpfen des Krimkrieges und<br />

insbes. um Sewastopol, die die militÇrtechnischen Aufzeichnungen und die Oracularia 325<br />

bzw. wohl auszuwÅrfelnden Orakelspiele des Zehn- und ElfjÇhrigen dominieren, einerseits<br />

zu den KÇmpfen um Troja und der Parisjagd durch Menelaos sowie andererseits Åber Zeus,<br />

den SchÅtzer des Gastrechts und Herrn der Blitze, zur heimischen Religion gebildet habe;<br />

ein BrÅckenschlag, der zeitlich lÜngst vor den Gedichten Alfonso und Rinaldo, Anfang<br />

1857, erfolgt zu sein scheint.<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum dieser Moses-Vierzeiler nach der<br />

editorischen ‘Entsorgung’, 1995, nun in DlJ auch noch bei m.E. wenig Åberzeugendem<br />

‘nietzschespezifischem’ Argumentationsniveau interpretativ entschÇrft werden ‘muÉte’?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und warum der Autor sich in DlJ einerseits zur äberprÅfung<br />

des LeistungsvermÄgens der Interpretationen in NaK nicht nur mÄglichst frÅhe Texte des<br />

Kindes Nietzsche aussuchte, sondern auch Texte, die lt. NaK theodizeeproblemhaltig sind,<br />

bei denen aber 326 die alleinige Autorschaft Nietzsches zu bestreiten nicht vorweg schon absurd<br />

ist, weil der eine dieser Texte, der Moses-Vierzeiler, bereits in NaK als Paraphrase eines<br />

Textes des Mosesbrunnens unterhalb der SchÄnburg unweit von Naumburg ausgewiesen<br />

ist, und weil die AuffÅhrung des zweiten Textes, des Lustspiels Der GeprÄfte, durch<br />

ein nur aus den beiden Personen Fritz und seinem Freund Wilhelm bestehendes Theaterkomitee<br />

gefÄrdert werden sollte? Und daÉ der Autor aber andererseits auch nicht einen<br />

einzigen Text des Kindes, dessen Autorschaft auch fÅr den Autor unstrittig und dessen<br />

Theodizeeproblemhaltigkeit dennoch offensichtlich ist, einer genaueren Interpretation unterzog?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum der Hauptteil des Kindheitsbandes<br />

der KGW mit wenigstens einigen von Nietzsche in Setzkastenmethode verwandten christlichen<br />

Texten (vgl. dazu oben 3.3.2.7., Grundthese 6) angereichert ist, die m.E. bestenfalls<br />

in einen Anhang gehÄren, strenger genommen aber lediglich im Nachbericht erwÇhnt zu<br />

werden brauchen? Und vor allem, warum der Autor hierfÅr in DlJ eine so beeindruckende<br />

Argumentation liefert?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum der Autor die in der Edition erfolgte<br />

Abtrennung der SchluÉszene von Der GeprÄfte auf eine wohl lehrbuchreife Weise so zu<br />

begrÅnden sucht, daÉ zwar kaum eine seiner Aussagen direkt falsch, dennoch aber jede<br />

von ihnen irrefÅhrend ist, bestenfalls wenig bedacht zu sein scheint? Und daÉ sowie vielleicht<br />

auch warum der Autor in seiner Interpretation von Der GeprÄfte bzw. in seiner Kritik<br />

an der entsprechenden NaK-Interpretation die BerÅcksichtigung dieser gegenwendigen<br />

SchluÉszene des StÅcks konsequent ausblendet?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum die Tatsache, daÉ in Der GeprÄfte<br />

drei weitere Mitglieder der Familie Nietzsche als deren Mitglieder auftreten – und in Die<br />

Gátter auf den Olymp auch nicht eines davon! –, fÅr die DlJ-Interpretation keinerlei Rolle<br />

gespielt zu haben scheint?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum im Gegensatz zu den NaK-<br />

Analysen auch in DlJ trotz kollabierender Argumentation Der GeprÄfte kein SelbsterhÄhungs-<br />

oder gar -erlÄsungsstÅck des Kindes Nietzsche sein darf? Und warum statt dessen<br />

325<br />

Kurt Jauslin: Hexensprache der Vernunft. Bilderfluchten und Flucht der Bilder in den Kindertexten<br />

Friedrich Nietzsches. In: Nietzscheforschung 5/6. Berlin, 2000, S. 345-367, und ders.: Was der Láwe<br />

nicht vermochte: etwas fÄr Kinder und Kindskápfe. âber Fritz Nietzsches Naumburger Festungsbuch.<br />

In: a.a.O. 8, 2001, S. 189-203.<br />

326<br />

Vor allem in BerÅcksichtigung der Tatsache, daÉ sich in den angesprochenen Fragen unglÅcklicherweise<br />

kaum jemand auskennt (und m.W. sich auch kaum jemand einarbeitet), so daÉ genÅgt, unabhÇngig<br />

von allen nur denkbaren Widerlegungen weiterhin mit Erfolg zu behaupten, die eigene<br />

Sichtweise sei bestens begrÅndet?<br />

208


der Autor schon in seiner Inhaltsangabe und ebenso in seiner Interpretation von Der GeprÄfte<br />

das vom Kind Nietzsche inszenierte Befolgen eines Befehls des Zeus als Glaubensund<br />

Vertrauensakt christlich umzudeuten sucht?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum in Der GeprÄfte der in Folge freien<br />

(!!) Entscheids von Nietzsches wiederauferstandenem oder nach dem Glauben der Familie<br />

aus dem christlichen Himmel zurÅckgekehrten Vaters vollzogene und von Mutter und<br />

Schwester mitvollzogene Ortswechsel auf den ‘heidnischen’ Olymp in der Hoffnung,<br />

ebenfalls mit dem Halbgottstatus eines Paeneolympiers anstatt christlich verstandener<br />

Teilhabe an der Gottessohnschaft ‘beglÅckt’ zu werden, in seiner KonsequenzentrÇchtigkeit<br />

vom Autor sei es nicht erkannt oder mit einer selbst noch das Wort „Olymp“ ausklammernden<br />

Formulierung – „Die Eltern folgen Sirenius mit Hilfe der Nymphen“ (S. 79)<br />

– auf eine Weise Åberspielt wurde, daÉ dabei auch noch ein Hinweis auf die ihre Eltern begleitende<br />

Schwester des Sirenius (und damit des Autors Nietzsche), Elisabeth, entfiel?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum selbst noch in DlJ der Denkfehler<br />

nicht bemerkt wurde, aus der Unterschrift zweier Freunde auf der ein Theaterkomitee<br />

zwecks AuffÅhrung dokumentierenden Seite von Nietzsches Skript jedoch auf gemeinsame<br />

Autorschaft bezÅglich des betreffenden StÅckes zu schlieÉen? Und auch warum vielleicht<br />

schon im Juli 1993 wichtig gewesen sein mag, fÅr das Lustspiel Der GeprÄfte, 1855, die<br />

alleinige Autorschaft von Fritz mit Verweis auf eine Formulierung Nietzsches aus dem<br />

SpÇtsommer 1858, Die Gátter vom Olymp betreffend, mit schon damals wenig stichhaltigen<br />

GrÅnden zu negieren?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum ebenfalls nicht ohne nachtrÇgliche<br />

editorische Finessen und in Inkaufnahme irritierender editorischer Ungereimtheiten das<br />

Lustspiel Der GeprÄfte in engsten zeitlichen Bezug mit einem Einladungszettel des am<br />

8.2.1856 aufgefÅhrten TheaterstÅcks Die Gátter auf den Olymp gebracht wurde?<br />

– Versteht man dann aber noch weniger, warum die schon im Juli 1993 in Dortmund vertretene<br />

und offenbar bereits mit einigem zeitlichen Vorlauf bestehende Sichtweise des Autors<br />

im editorischen Arrangement von Der GeprÄfte zwar noch nicht in dem Manuskript (Vorwort<br />

vom 21. MÇrz 1994) enthalten war, das dem Vf. als Gutachter des çFF zur abschlie-<br />

Éenden Beurteilung des Nietzsches Kindertexte bietenden Bandes der KGW im FrÅhsommer<br />

1994 zugeleitet wurde, durchaus aber im dann noch entsprechend geÇnderten ausgedruckten<br />

Band I 1, 1995, mit einem entscheidend verÇnderten Vorwort vom 26.10.1994?<br />

Und daÉ sowie vielleicht auch warum irritierend fahrlÇssige Interpretationen – weit unter<br />

dem vom Autor bei weniger theodizeeproblemnahen Themen in DlJ demonstrierten<br />

theoretischen Niveau – dazu dienen muÉten, Nietzsches Lustspiel Der GeprÄfte mÄglichst<br />

dicht an das am 8.2.1856 aufgefÅhrte Lustspiel Die Gátter auf den Olymp anzuschlieÉen?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum sich der Autor offenbar auch kaum<br />

Gedanken darÅber erlaubt zu haben scheint, wie wahrscheinlich es sei, daÉ zwei erst elfjÇhrige<br />

Freunde in Die Gátter auf den Olymp die beiden Philosophen Thales und Plato in<br />

sogar lateinischer Version – als „Thalius“ und „Platonius“! – auf die BÅhne bringen wollten,<br />

was einmal mehr auf die Bedeutung der ‘Mitarbeit’ des Justizrates Pinder an diesem<br />

StÅck verwiesen hÇtte? Und daÉ und vielleicht auch warum der Autor sogar den wichtigen<br />

Hinweis in beiden Biographien Elisabeth-FÄrster Nietzsches Åberging, daÉ der Vater von<br />

Nietzsches Freund Wilhelm die AuffÅhrung am 8.2.1856 einÅbte, arrangierte und sich sogar<br />

als Mitspieler beteiligte?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und warum die von Nietzsche anderthalb Jahre zuvor, wohl<br />

Ende Januar 1857, im Sinne absoluter Suprematie verwandte Formulierung „im Verein<br />

mit“ als Beleg gemeinsamer offenbar gleichberechtigter Autorschaft von Fritz und Wilhelm<br />

gedeutet wurde?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum die Erst- und ZweitverÄffentlichung<br />

der zeitnahen Tagebucheintragung von Nietzsches Mutter Åber das am 8.2.1856<br />

209


aufgefÅhrte Lustspiel Die Gátter auf den Olymp in NaJ I, 5.1993, und NaJ II, 5.2004, sowohl<br />

in DlJ als auch in des Autors Beitrag Schriften der Schulzeit (1854-1864), 2000, Åbergangen<br />

und statt dessen als ‘Quelle’ der m.W. erst Oktober 1994 erschienene Band von<br />

Klaus Goch, Nietzsches Mutter, angefÅhrt wurde, genauer wohl: werden muÉte?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum der Autor die sogar in NaK schon<br />

diskutierte Schilderung Elisabeths nicht berÅcksichtigte, daÉ Fritz 1855/56 Chef einer<br />

graecophilen Kinderclique war, von der ein Mitglied, ein kleines etwa 6-8jÇhriges MÇdchen<br />

(vermutlich Gretchen Pinder) in der auch von Nietzsches Schwester besuchten<br />

Naumburger TÄchterschule unweit des Marientors die EmpÄrung bzw. den „bedeutenden<br />

AnstoÉ“ eines Çlteren christlichen Freundes der Schule durch ihren Vortrag von Schillers<br />

Jahrhundertgedicht Die Gátter Griechenlands erregte, weil sie „da so beweglich um die<br />

verschwundenen GÄtter“ klagte 327 ?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum weitere theodizeeproblemhaltige<br />

‘griechischen’ mythischen oder historischen Themen geltende in NaK besprochene Gedichte<br />

in DlJ unberÅcksichtigt blieben? Und daÉ und vielleicht auch warum das kleine<br />

Dankgedicht an Zeus ohne äberschrift, „das[s] wir nicht wanken“, ebenfalls von 1856, ein<br />

reines Privatgedicht, vom Autor in DlJ nicht als Selbstzeugnis berÅcksichtigt wurde?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum der Autor auch in DlJ nicht nur die<br />

‘griechischen’ theodizeeproblemhaltigen Gedichte interpretativ ausklammerte, sondern<br />

selbst noch das ebenfalls in NaK besprochene theodizeehaltige quasi katholische Gedicht<br />

Rinaldo, das auch im Blick auf die Fritz noch jahrelang von seinen Verwandten zugemutete<br />

Pastorenlaufbahn hÄchst aufschluÉreich ist, vom Jahresanfang 1857 Åberging? Und<br />

das sogar in einer Untersuchung, die der Genese von Nietzsches Religionskritik gewidmet<br />

ist?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum schon 1994 ein Versuch gestartet<br />

wurde, Nietzsches Autobiographie des Sommers 1858 Aus meinem Leben um keinen Preis<br />

als einen auch als Geschenk an Nietzsches Mutter oder die nÇhere Verwandtschaft intendierten<br />

sowie zu deutenden, auch deshalb mehrschichtigen Text aufzufassen? Und daÉ dabei<br />

die in NaK zugunsten der Geschenkhypothese prÇsentierten zahlreichen Indizien zwar<br />

weitgehend Åbergangen wurden, dennoch aber in DlJ behauptet wird, die Auffassung von<br />

NaK sei schon seit 1994 widerlegt?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht auch warum nun in DlJ dieses Thema nochmals<br />

aufgegriffen wurde – und daÉ des Autors Argumente dank anachronistischer Einsprengsel<br />

an QualitÇt nicht sonderlich gewonnen haben, sondern daÉ weiterhin die in NaK lÇngst gebotene<br />

Argumentation als Argumentation kaum BerÅcksichtigung findet? Und auch der in<br />

DlJ Gebotenen noch ‘haushoch Åberlegen’ ist?<br />

– Versteht man nun besser, daÉ und vielleicht sogar auch warum ganz bestimmte EintrÇge in<br />

„Nietzsches Album“, die inhaltlich vermutlich aus den Jahren 1858 bis 1863 stammen oder<br />

an Ereignisse dieser Jahre erinnern sollen, in das „Album“ aber vielleicht erst ab 1861 eingetragen<br />

worden sein kÄnnten, um keinen Preis 328 von dem Dichter Ernst Ortlepp 329 stam-<br />

327<br />

Elisabeth FÄrster-Nietzsche: Das Leben Friedrich Nietzsches I. Leipzig, 1895, S. 48; in Der junge<br />

Nietzsche. Leipzig, 1912, entfÇllt diese vielleicht etwas anstÄÉige, so aufschluÉ- und konsequenzenreiche<br />

Geschichte. DafÅr erfahren wir das Alter des MÇdchens: „von sechs bis acht Jahren“! Und wir<br />

erfahren S. 54-57 sehr viel mehr zum aufgefÅhrten StÅck als etwa aus Nietzsches frÅher Autobiographie;<br />

ein StÅck, das in jeder Schilderung und bei nahezu jeder Gelegenheit einen etwas anderen Titel<br />

erhÇlt: nun heiÉt es „Die GÄtter im Olymp“.<br />

328<br />

Darum ging es in Hans Gerald HÄdls Widerlegungsversuch Der alte Ortlepp war es Äbrigens<br />

nicht..., 1999, S. 440-445, lediglich auf der Basis eines m.E. keineswegs unstrittigen Schriftvergleichs,<br />

der im Falle der Schrift des zeitweiligen Klassenkameraden Stoeckert lediglich anhand weniger Kopien,<br />

nicht jedoch an den Originalen, durchgefÅhrt wurde. WÇren inhaltliche Fragen herangezogen<br />

worden, wÇre die auf einen nur ein Jahr Çlteren MitschÅler bezogene Deutung angesichts der Schilde-<br />

210


men sollten: denn den vom Wiener Staatskanzler Metternich 1835 persÄnlich sowie ohnedies<br />

zensurverfolgten und -ruinierten Dichters Ernst Ortlepp, der zu seinen Glanzzeiten in<br />

der ersten HÇlfte der 1830er Jahre vielleicht mehr als jeder andere damals bekannte deutsche<br />

Dichter Theodizeeprobleme poetisch exponierte 330 – sein mehrfach erwÇhntes Vaterunser<br />

des 19. Jahrhunderts mit den Versen „Ach, woran soll dich dein Kind erkennen,<br />

wenn es betet und du hÄrst es nicht“ dÅrften portenser SchÅler und das Kind Nietzsche Äfters<br />

von Ernst Ortlepp selbst deklamiert gehÄrt haben –, sich als frÅhen poetischen Mentor<br />

des Kindes Nietzsche vorzustellen, erhÄht die PlausibilitÇt der Annahme von Theodizeeproblemhaltigkeit<br />

von Texten des Kindes Nietzsche des weiteren...<br />

– Versteht man nun besser, um hier mit einem Blick auf den spÇteren Nietzsche und das inhaltliche<br />

Konzept von DlJ vorerst abzuschlieÉen, warum sogar eine selbsthematisierende<br />

und religionskritisch so relevante Aussage Nietzsches aus einem erklÇrt autobiographischen<br />

Text wie diejenige, er sei „Feind und Vorforderer Gottes“ (Vorrede 1. vom FrÅhling<br />

1886 von Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fÄr freie Geister. Erster Band), in<br />

DlJ keinerlei Rolle spielen konnte, und warum nicht lediglich die seit 1993 in immer neuen<br />

AnlÇufen angesetzte NaK-Kritik, sondern sogar das gesamte DlJ-Projekt auch – also: nicht<br />

nur! – als z.T. umwegiger und m.W. bisher hÄchstrangiger Versuch gelesen werden kÄnnte<br />

rung eines Liebesverrats oder Treuebruchs und seiner sich Åber Jahre hinziehenden SpÇtfolgen als<br />

deutlich weniger wahrscheinlich denn die Interpretation des Vf.s. wohl offensichtlich geworden. Vgl.<br />

dazu 2.3. und 2.4. sowie Anhang 1.<br />

329<br />

Vermute ich zu Unrecht, daÉ fast jeder, der sich fÅr die Entwicklung auch des frÅhen Nietzsche<br />

interessiert und mÄglicherweise in erst diesem Zusammenhang dem Namen Ernst Ortlepp begegnet,<br />

sich fragt, ob der Vf. von Na von einer Obsession geplagt sei, der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> und -forschung<br />

alle paar Jahre schon wieder Neues aufdrÇngen zu wollen? Zuerst einige Modifikationen innerhalb<br />

der Nietzsche-Studien, 1985ff., und eine neue Edition der Texte der SchÅler- und Studentenjahre,<br />

1988ff., dann mit Nietzsche absconditus ein Zweieinhalbtausendwerk zu Nietzsches SchÅlerjahren,<br />

1991-1994, obwohl es zu diesem Thema m.W. nicht einmal einen Aufsatz, geschweige denn eine<br />

Monographie aus dritter Hand gab; ab 1992 ein ab 1994 erscheinendes zweites z.T. DNK-gestÅtztes<br />

Nietzschejahrbuch, ab 1994 auch die Ernst-Ortlepp-, ab 2000 die Entnietzschungsproblematik und<br />

schlieÉlich die Thematik einer <strong>Genetische</strong>n Nietzscheforschung und -interpretation. Und das, obwohl<br />

er doch merke, daÉ das Interesse an seinen Offerten kaum zunehme? Und nun legt dieser – wie schon<br />

in NaJ II, 1994, und Der alte Ortlepp 1 , 2001 und Der alte Ortlepp 2 , 2004 – nochmals eine Deutung<br />

der Relevanz nicht nur von Ernst Ortlepp fÅr das Kind Nietzsche, sondern en passant auch eine ErklÇrung<br />

fÅr den nicht so recht nachvollziehbaren Dissens Åber ein paar Handschriften in einem „Album“<br />

Nietzsches, fÅr das sich vor dem Vf. vielleicht noch niemand ernstlich interessierte, so vor, daÉ man<br />

plÄtzlich den prinzipiellen Charakter der Kontroverse Åber Divergenzen in der Analyse von Handschriften<br />

eines vor knapp 150 Jahren Gestorbenen versteht, da in der diese Fragen erstmals thematisierenden<br />

VerÄffentlichung, einer Miszelle, die interpretative und analytische Sorgfalt sowie SeriositÇt<br />

des Verfassers auf eine Weise in Zweifel gezogen wurde, die diesen ehemaligen Gutachter des Projekts<br />

KGW I als potentiellen Kritiker derjenigen Edition, an deren nachgutachterlichen VerÇnderungen<br />

der Autor der Miszelle selbst und zumal sein GesprÇchspartner (als Mithg. der Briefwechseledition)<br />

kaum unbeteiligt gewesen sein dÅrften, unglaubwÅrdig erscheinen lassen muÉte? Und warum es fÅr<br />

den Verfasser in einer seines Wissens bisher noch in keinem Nietzscheforschungsorgan thematisierten<br />

Monographie unumgÇnglich war, die Ortlepp-Nietzsche-Problematik einer weitergefÅhrten KlÇrung zu<br />

unterziehen und auÉerdem mit der umfÇnglichen Metakritik der RecherchequalitÇt ebenso wie der<br />

argumentativen SeriositÇt der betreffenden Miszelle ein Exempel zu statuieren? Sowie dieses Exempel<br />

mit hoffentlich besserem Erfolg nun zu wiederholen? (Den vielleicht leichtest erreichbaren äberblick<br />

Åber die Nietzsche-Ortlepp-Konstellation bietet Hermann Josef Schmidt: Ein konsequenzenreiches<br />

und rÜtselhaftes VerhÜltnis: Friedrich Nietzsche und Ernst Ortlepp. Eine Skizze. In: A&K. Sonderheft<br />

4/2000: Friedrich Nietzsche, S. 69-79, bzw.: www.f-nietzsche.de./hjs_start.htm).<br />

330<br />

Ortlepp wird als Theodizeeproblempoet vorgestellt in Hermann Josef Schmidt: Ernst Ortlepp –<br />

mehr als nur irgendeine Gestalt. In: www.ernst-ortlepp.de, und www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

211


- und wenigstens im Sinne einer Gegenprobe331 aus Perspektiven des Vf.s vielleicht auch<br />

gelesen werden sollte –,<br />

1. der Brisanz von Nietzsches Religionskritik auf wohl kaum bemerkte Weise aus dem<br />

Wege zu gehen,<br />

2. in Aspekten des Nebenthemas auch Nietzsches Kritik an Jesus zu entschÇrfen und<br />

3. auf der beeindruckend herausgearbeiteten Ebene von Idealbildung sogar unthematisierte<br />

Verbindungen zu spirituelleren christlichen Auffassungen zu ermÄglichen bzw. bereits zu<br />

knÅpfen.<br />

FÅr ein derartiges Hypothesenensemble sprÇchen immerhin einige basale Perspektiven von<br />

DlJ, denn ebenso wie der theodizeeproblemorientierten Rekonstruktion der frÅhen religionskritischen<br />

Genese Nietzsches in NaK und anderen Arbeiten des Vf.s die - u.a. Ausblendung<br />

spezifischer ‘erweckter’ ReligiositÇt und berechtigte VernachlÇssigung von Nietzsches<br />

frÅhem ‘graecophilen’ Schwerpunkt ab 1855 voraussetzende - Kritik im zweiten Teil<br />

von DlJ gilt, so polt die interessante ArgumentationsfÅhrung in den Teilen 4. und 5. von<br />

DlJ primÇre Intentionen der Religionskritik Nietzsches auf idealorientierte Fragestellungen<br />

um. Eine jedenfalls hochrangige strategische Konzeption und wohl auch Leistung.<br />

... immer vorausgesetzt freilich, um nochmals Fragezeichen zu exponieren, meine eingangs<br />

von 3.6.5. exponierte Doppelhypothese wÇre alternativlos; was Hypothesen, denen die Begnadung<br />

von Unleugbarkeit und Zweifellosigkeit ohnedies fehlt, hÄchst selten sind. Wie<br />

kÄnnten jedoch weniger ‘menschlich-allzumenschliche’, destruktive und statt dessen mÄglichst<br />

akzeptable Alternativen usw. aussehen?<br />

Eine allerdings nicht fÅr sÇmtliche der oben aufgefÅhrten Punkte mÄgliche und vielleicht<br />

auch Plausibelste: hochgradige, recht spezifische Inkonsistenzenblindheit bzw. mangelnde<br />

SensibilitÇt insbes. bezÅglich theoretischer Dissonanzen, verbunden mit irritierender NichtberÅcksichtigung<br />

von Wissen, Åber das wohl jeder Nietzscheinterpret und ansonsten erst recht<br />

ein Hans Gerald HÄdl verfÅgt: Erinnerungen an Formulierungen Nietzsches in dessen mittleren<br />

– wie obiger Auszug aus MA 72. belegt – und zumal spÇten noch von Nietzsche selbst<br />

verantworteten VerÄffentlichungen. Wenn ein Autor so nachdrÅcklich wie Nietzsche die Einsamkeit<br />

seiner Kindheit und seine Verborgenheit 332 sowie die Relevanz frÅhster Erfahrungen<br />

333 betont, muÖ derlei in seinen frÅhen Texten selbstverstÇndlich nicht BestÇtigung finden.<br />

Er kÄnnte ja phantasiert oder sonstwie AnlaÉ gefunden haben, sich entsprechend zu inszenieren.<br />

Man sollte sie freilich auch daraufhin grÅndlich ÅberprÅfen. Doch wenn jemand wie der<br />

Autor berechtigterweise Wert darauf legt, selbst Aussagen aus der Gátzen-DÜmmerung im<br />

RÅckgriff bspw. auf portenser Texte wenigstens partiell als korrekt zu bestÇtigen (vgl. die<br />

äberlegungen zu Sallust, DlJ, S. 188ff.), andererseits Nietzsches Texte selbst noch der spÇteren<br />

Naumburger Kindheit samt und sonders so konsequent auf ungebrochene NaivitÇt und<br />

religiÄse Zweifelsfreiheit hin interpretiert, wie dies nun in intensivstem BemÅhen selbst noch<br />

in DlJ durchexerziert wird, ist, wenn ich von Um-fast-jeden-Preis-Konkurrieren- oder Widersprechenwollen<br />

weiterhin absehe, nach meinem Empfinden entweder Beleg glasklarer<br />

wie-auch-immer motivierter apologetischer Intentionen, Fixierung auf ‘Normalkind’- und/<br />

oder ‘Mainstream’-Interpretation, allenfalls lebensgeschichtlich erklÇrbarer so hochgradiger<br />

Inkonsistenzenerfahrungsblindheit, daÉ dies einem Mitglied aus der Generation derer, die ihre<br />

331 Vgl. dazu die freilich Åberaus vorsichtig argumentierende Rezension von Hermann Josef Schmidt:<br />

Haarscharf daneben oder fast schon getroffen? Zu [...] Der letzte JÄnger des Philosophen Dionysos,<br />

2009, in: www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

332<br />

Dazu genauer Hermann Josef Schmidt, „Jeder tiefe Geist braucht die Maske“. Nietzsches Kindheit<br />

als SchlÄssel zum RÜtsel Nietzsche? In: Nietzscheforschung, Bd. 1, Berlin 1994, S. 137-60.<br />

333<br />

Dazu ebenfalls genauer Hermann Josef Schmidt, Von „Als Kind Gott im Glanze gesehn“ zum<br />

„ChristenhaÖ“?, 2001, S. 95-118.<br />

212


Erinnerungen an die letzten Jahre des tausendjÇhrigen Reiches, an nach dessen Ende umfrisierte<br />

LebenslÇufe sowie an zahlreiche zerstÄrte oder immens belastete Familien nicht vÄllig<br />

verdrÇngt haben, kaum mehr nachvollziehbar 334 ist; oder aber positional bedingter Treueverpflichtungen<br />

bzw. RÅcksichtsnahme?<br />

Dennoch: Verstehen Sie wirklich? Denn vor das VerstehenkÄnnen und zumal -wollen haben<br />

der jeweils HÄchste und seine weit mÇchtigeren Heerscharen seit Jahrtausenden das VerstehendÅrfen<br />

und nicht minder das NichtverstehendÅrfen sowie dessen SpÇtfolgen bereits fÅr<br />

Zweifel gesetzt. Derlei KollateralschÇden 335 begegnen Spurenleser allenthalben; selbst noch<br />

in ansonsten hoch qualifizierten <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en; und leider nicht einmal nur dort...<br />

334<br />

Eine Formulierung wie ‘allenfalls lebensgeschichtlich erklÇrbare spezifische Inkonsistenzerfahrungsblindheit’<br />

ist meinerseits Versuch des Einbaus einer Variablen in meine Argumentation, da es<br />

mir sehr darum geht, in meiner Metakritik nicht nur problemangemessen zu sezieren, sondern auch<br />

darum, nicht ungerecht zu sein, und, wenn ich schon Motivationslagen usw. des Autors nicht vÄllig<br />

aus der Beurteilung ausschlieÉe, weitestmÄglich auch externe Gesichtspunkte – und sei es nur als Gegenprobe<br />

– zu berÅcksichtigen, die einigen der obigen Hypothesen eine weniger negative Deutung<br />

geben kÄnnten. So bezieht eine Diagnose wie diejenige von „allenfalls lebensgeschichtlich erklÇrbarer<br />

spezifischer Inkonsistenzerfahrungsblindheit“ auch den Diagnostizierenden als Diagnostizierenden<br />

und damit auch dessen Perspektiven ausdrÅcklich in diese Metakritik ein. Das bedeutet u.a., daÉ bspw.<br />

zur Diagnose „Inkonsistenzerfahrungsblindheit“ in diesem Falle wie angedeutet auch der spezifische<br />

Erfahrungshintergrund des Verfassers gehÄrt, der, 1941 kriegsbedingt Halbwaise geworden, Åber lange<br />

Jahre Einblick in verschiedene kriegsbedingt zerstÄrte oder immens belastete Familien gewann,<br />

genauer: depressive, verzweifelte oder jahrelang trauernde Frauen erlebte, deren Partner getÄtet worden<br />

waren, als KrÅppel oder aber als vÄllig verÇnderte Personen („psychisch Fremde“) ‘zurÅckkamen’...;<br />

oder traumatisierte Schulkameraden. Das schÇrfte schon frÅh den Blick fÅr Inkonsistenzen<br />

sowie deren Relevanz und nicht nur fÅr theoretische Dissonanzen, wenn bspw. ein Griechischlehrer<br />

sich abmÅhte, Platons Apologie von Paulusbriefen oder der Apostelgeschichte her zu deuten oder<br />

wenn nach Thukydides(original)lektÅre ein Blick in ein hymnisch gepriesenes Evangelium, dagegen<br />

eher wie ein BarfÅÉertext wirkend, geworfen werden sollte. Liest man dann Jahrzehnte spÇter Texte<br />

des frÅhsten Nietzsche, erscheint vieles so irritierend klar und manches auch recht strukturvertraut –<br />

was im Sinne kritischer Gegenproben zu grÄndlichsten âberprÄfungen nicht nur motiviert, sondern<br />

zwingt –, was jedoch jemandem, der bspw. in bereits saturierter Nachkriegssituation oder in der ‘alten<br />

DDR’ aufgewachsen ist, aus freilich sehr unterschiedlichen GrÅnden eher fremd vorkommen mag. So<br />

hat dieser anderweitige PrÇferenzen, weil er eine andere Person mit weitgehend anderem Erfahrungshintergrund<br />

ist. Derlei mag auch fÅr einige der deutlichen Differenzen der Autoren von DlJ und NaK<br />

gelten. Doch was besagt das im Blick auf Angemessenheit von Interpretationen bspw. der in seinen<br />

Texten hinlÇnglich dokumentierten Entwicklung des frÅh(st)en Nietzsche? Und nicht minder von Kritikern?<br />

335<br />

Wie aktuell dieser Hinweis leider noch immer ist, demonstriert Rolf Bergmeier in seiner Untersuchung<br />

Kaiser Konstantin und die wilden Jahre des Christentums. Die Legende vom ersten christlichen<br />

Kaiser. Aschaffenburg, 2010, die Serien schwer nachvollziehbarer Zitate z.T. renommierter Historiker<br />

vorlegt, wenn zugunsten der Annahme von spezifischer Christlichkeit Konstantins oder gar bestimmter<br />

Ereignisse nahe einer milvischen BrÅcke usw. ‘argumentiert’ wird. Auch deshalb als ceterum censeo<br />

mein nicht oft genug zu wiederholender „Vorschlag zur Bildung eines stillen Netzwerks in der<br />

Absicht, Philosophie, Wissenschaft und Interpretation nicht weiterhin korrumpieren zu lassen“, in:<br />

Hermann Josef Schmidt, Ortlepp, 2001, S. 345-353, bzw. 2004, S. 321-350 (nun als Anhang 4); sowie<br />

meine entsprechenden Hinweise in NaJ I, 1993, bspw. S. 122, die bereits 1993 zur Verfemung des<br />

Bandes beigetragen haben dÅrften. In der Intention paÉt dazu auch sehr gut Fritz Gebhardt: Ende der<br />

Landnahme Ende der Zeitnahme Pamphlet gegen die Erláser. o.O. (Ehrenkirchen bei Freiburg im<br />

Brg.), 2004. DaÉ derlei Texte hierzulande heute ohne Gefahr fÅr Leib und Leben des Autors, Verlegers,<br />

Druckers, VerkÇufers etc. gedruckt, gekauft und wenigstens in AufklÜrung und Kritik sowie im<br />

humanistischen pressedienst – hpd berÅcksichtigt sowie ins Internet gestellt werden kÄnnen, ist eine<br />

mit dem Blute vieler bezahlte Errungenschaft, die wir nicht hoch genug einschÇtzen und nicht konsequent<br />

genug verteidigen kÄnnen.<br />

213


3.7. Metakritische Offensive 2: Hans Gerald HÇdls Alternative<br />

„ein Modell [...], das es erlaubt, die allmÇhliche Ablásung Nietzsches<br />

von seinem Kinderglauben zu beschreiben, ohne dass diese bereits in<br />

die frÄhen Texte eingetragen werden muss, wo die philologischhistorische<br />

Evidenz fÄr eine solche Absetzbewegung [...] háchst problematisch<br />

ist. (DlJ, S. 187; Kursivsetzung vom Vf.)<br />

Das in der Metakritischen Offensive 1 (oben in 3.6.) ZusammengefaÉte und Belegte und in<br />

eine rekonstruierte Konzeption Eingeordnete kÄnnte zwar als AbschluÉ einer Metakritik genÅgen,<br />

doch auch eine noch so umfangreich gewordene, Gegenproben verwendende Metakritik<br />

wie bisher durchgefÅhrt sollte, zumal wenn sie den Titel <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

im Spannungsfeld wissenschaftlicher AnsprÄche, apologetischer Arrangements und weltanschauungskritischer<br />

Analysen trÇgt, sich nicht lediglich auf vielfÇltig belegte und ‘begrÅndete’<br />

Falsifikationsversuche der basalen NaK-Kritiken in DlJ sowie auf damit in nÇherem<br />

Zusammenhang stehende weitere Informationen beschrÇnken. Deshalb sollte sie noch vor<br />

dem abschlieÉend gezogenen, bisherige ResÅmees ergÇnzenden, polyperspektivischen Fazit<br />

(in 3.8.) im Sinne einer letzten Gegenprobe ebenso wie inhaltlichen ErgÇnzung die in DlJ<br />

dankenswerterweise gebotene eigene, Åbrigens eine beeindruckende Rang-Differenz zur Nak-<br />

Kritik belegende, fast einen Hiatus signalisierende Alternative ihres Autors vorstellen sowie<br />

ihrerseits nicht nur wiederum kritisch beleuchten (in 3.7.1), sondern auch Entwicklungspotential<br />

dieses m.E. innovativen Ansatzes Hans Gerald HÄdls schon deshalb nicht unberÅcksichtigt<br />

lassen (in 3.7.2.), weil dieser Ansatz dank seines Niveaus mÄglicherweise fÅr einen lÇngeren<br />

Zeitraum der <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en im Blick auf Nietzsches frÅhe ‘religiÄse’<br />

Entwicklung dominierende sein und bleiben dÅrfte. PaÉt er doch glÇnzend in diverse Konzepte<br />

attraktiver ‘Normalkind’- sowie Mainstream-Interpretationen. Insofern ist auch diese<br />

Skizze als antizipiertes Sondervotum zu lesen.<br />

Mittlerweile nur noch an meinem mehrfachen Fazit Interessierte kÄnnen sofort zu 3.8.<br />

Åbergehen.<br />

3.7.1. Zur alternativen DlJ-Sicht religiáser Entwicklung des Kindes Nietzsche<br />

Was den Autor von DlJ als forschungsstimulierenden Interpreten auch dann auszeichnet,<br />

wenn seine NaK-Kritiken sich nicht als sonderlich stichhaltig erwiesen haben (sollten), ist<br />

seine Bereitschaft sowie sein Mut, seine jeweilige Kritik durch einen eigenen und, wie schon<br />

in seinen kleineren Arbeiten von 1993, 1994 und 1998/1999, wenigstens auf den ersten Blick<br />

sogar hochplausiblen Alternativvorschlag zu komplettieren. So also auch hier in DlJ: Der als<br />

gelungen inserierten Destruktion interpretativer AnsprÅche von NaK folgt wiederum die Demonstration<br />

einer besseren Alternative in DlJ.<br />

DaÉ HÄdls Alternativvorschlag angesichts des Status der vorliegenden Metakritik nur en<br />

passant berÅcksichtigt werden kann, versteht sich zwar von selbst; doch vÄllig Åbergangen<br />

werden soll er nicht, denn schlieÉlich exponiert er – allerdings nach Ausblendung von in NaK<br />

(ebenso wie hier) angesprochenen Gesichtspunkten – einen in hohem MaÉe nicht nur seriÄs<br />

erscheinenden, sondern in der Sache sogar so erstaunlich ‘progressiven’ Interpretationspfad,<br />

daÉ er auch unabhÇngig von der Beurteilung der QualitÇt der in DlJ durchgefÅhrten experimenta<br />

crucis von Nak-Interpretationen usw. als attraktiv gewertet werden kÄnnte. Einen Interpretationspfad<br />

auÉerdem, den, wie zu vermuten steht, noch weitere christophile Interpreten<br />

zumal dann zu begehen und auszubauen versucht sein kÄnnten, wenn sie vom Vf. seit 1983<br />

artikulierte Sichtweisen des Inhalts, ‘bereits das Kind Nietzsche entfernte sich von christlichen<br />

Auffassungen’ nicht (mehr) zu bekÇmpfen, sondern ihnen kÅnftig vielleicht sogar fast<br />

bis zur eigenen Schmerzgrenze entgegenzukommen bereit sein sollten, auf lediglich noch<br />

214


einer differentia specifica jedoch weiterhin bestehen wollen: Sichentfernen vom Christentum<br />

schon als Kind „zwar ja, doch nicht in einer in frÅhsten Texten belegbaren kritischen Auseinandersetzung,<br />

sondern nur quasi unbewuÉt“?<br />

Damit wÅrden sich kÅnftig christophile Interpreten der ‘religiÄsen’ Entwicklung des frÅhsten<br />

Nietzsche im Bereich ihrer MÄglichkeiten in ihren Sichtweisen quasi fÇcherartig aufteilen:<br />

auf der einen Seite progressivere Interpreten wie der Autor, die – steter Tropfen hÄhlt<br />

doch irgendwann noch so manchen Stein – inzwischen konzedieren, daÉ sich Nietzsche bereits<br />

wÇhrend seiner Kindheit von tradierten religiÄsen Auffassungen entfernt habe – und von<br />

denen einige bspw. à la Joergen Kjaer, 1995, dann hÄchstens noch darauf bestehen, daÉ eine<br />

bspw. in Der GeprÄfte deutlich gewordene ‘Gegenreligion’ doch christentumsstrukturverwandt<br />

sei, Nietzsches frÅhes ‘Gegen’ also keineswegs bereits ein ‘echtes’ oder vollumfÇngliches<br />

‘Gegen’ wÇre usw. –, Åber zahlreiche Zwischenstufen bis zur seit NaK, 1991, wohl kaum<br />

mehr mit auch nur tolerablen GrÅnden noch haltbaren Gegenposition bspw. à la Hans Pfeil 336 ,<br />

um Namen Lebender in diesem Zusammenhang weiterhin unerwÇhnt zu lassen, die in Äffentlichen<br />

Weihnachtsfeiern einsichtsresistent und unwidersprochen vom christlichen Kind Nietzsche<br />

schwÇrmen, selbst noch dickst aufgetragene Geschenktexte des portenser Oberprimaners<br />

wÄrtlich nehmen, „Noch einmal eh ich weiter ziehe“ 337 vielleicht mit feuchten Augen ahnungslos<br />

deklamieren oder sogar noch den Studenten Nietzsche fÅr einen guten Christen halten<br />

mÄgen. Das vorweg.<br />

Die Grundgedanken seines m.W. erstmals entwickelten hochinteressanten, konsequenzentrÇchtigen<br />

und ggf. ‘ausbaufÇhigen’, da ‘seitenausstiegshaltigen’ (dazu genauer unten in<br />

3.7.2.) alternativen Interpretationspfades bietet HÄdl in einem zusammenfassenden RÅckblick<br />

auf Nietzsches Naumburger und portenser SchÅlerjahre (S. 185-187), bevor inhaltliche Verbindungen<br />

zu „spÇteren philosophischen Ansichten“ Nietzsches thematisiert werden:<br />

Je mehr er [d.h. Nietzsche, d. Vf.] nun die Stelle als ErzÇhler einnimmt, je ausgeprÇgter und reflektierter<br />

also sein SelbstverhÇltnis ist, das schon in der Naumburger Biographie des Jahres 1858 bezeichnenderweise<br />

nicht im Sinne einer religiÄsen Biographie Åber das GottesverhÇltnis vermittelt<br />

ist [und lÇngst zuvor in zahlreichen Texten ebenfalls nicht, d.Vf.], desto mehr wird „Gott“ ausgeblendet,<br />

wird zum AtmosphÇrischen, zum Merkmal der Landschaft seiner Herkunft. Dies drÅckt er<br />

schlieÉlich 1863 dadurch aus, daÉ er seine Herkunft aus dem Pfarrhaus mit dem Bild der Pflanze,<br />

die nahe dem Gottesacker wÇchst, beschreibt (S. 187).<br />

Der gut formulierte, cum multis granibus salis zwar weiterhin theodizeeproblemflÅchtige<br />

doch fÅr christophile Interpreten erfreulicherweise durchaus progressive sowie im Blick auf<br />

NaK sogar konzessionstrÇchtige DlJ-Interpretationspfad: immerhin hÇlt, vorbereitet von JÄrg<br />

Salaquarda, 1986, und Reiner Bohley, 1987, von allen christentumsaffirmativen <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en<br />

m.W. wohl erstmals DlJ ein Entschwinden Gottes sogar schon in Nietzsches<br />

frÅhen SchÅlertexten nicht nur fÅr mÄglich, sondern auch in einer anspruchsvollen VerÄffentlichung<br />

als faktisch gegeben schlicht fest!<br />

Doch offenbar ohne jegliches seitens selbst sorgfÇltigster Interpreten – noch? – erkennbare<br />

Problem sind wÇhrend Nietzsches spÇter Kindheit Inhalt um Inhalt seines Kinderglaubens 338<br />

von ihm langsam und auf eine Weise abgefallen – wie Åber Monate BlÇtter von manchen<br />

hochsommergeschÇdigten BÇumen abfallen mÄgen –, daÉ Nietzsche selbst nicht das Geringste<br />

336 Hans Pfeil: Von Christus zu Dionysos. Nietzsches religiáse Entwicklung, Meisenheim 1975.<br />

337 Friedrich Nietzsche: II 428 (als Faksimile gegenÅber der S. 320) bzw. I 3, 391. Dagegen das Kapitel<br />

„‘FrÄhlich ist das PfÄrtnerleben’ und ‘Noch einmal eh ich weiter ziehe’ wie Nietzsches Erleichterung<br />

gegen Nietzsches GelÄbnis?“ in Hermann Josef Schmidt, NaJ II, 1994, S. 615-645.<br />

338 Darf Nietzsche auch dann keinen anderen Glauben als einen „Kinderglauben“ gehabt haben, wenn<br />

sich dieser inhaltlich mit dokumentierten ãuÉerungen erwachsener Familienmitglieder deckt? Oder<br />

haben Åber 90% der heute lebenden Christen, die an einen „lieben Gott“ glauben dÅrften, nur einen<br />

„Kinderglauben“? Und, wenn ja, was wÅrde das bedeuten?<br />

215


davon bemerkt hat? PlÄtzlich aber, vielleicht schon nach seiner Konfirmation bereits in der<br />

zweiten MÇrzhÇlfte 1861, ist der portenser Alumne aus seinem zunehmend leichteren dogmatischen<br />

Schlummer dann aufgewacht: Und, siehe da, verwundert rieb er sich die Augen, sein<br />

Kinderglaube samt „Gott“ waren unbemerkt und spurlos entschwunden, blieben unauffindbar<br />

und kehrten vor ca. 1893 erfolgter massiver Gehirninsuffizienz auch niemals wieder? So bedurfte<br />

es sogar noch weiterer zwei Jahre bis der Alumnus portensis Nr. 10.549 Friedrich<br />

Nietzsche schlieÉlich in einem Lebenslauf vom 18.9.1863 vielleicht noch immer ambivalent<br />

genug formulierte, er sei „als Pflanze nahe dem Gottesacker, als Mensch“ jedoch „in einem<br />

Pfarrhause geboren“ 339 ?<br />

Kann die soeben skizzierte Sichtweise jedoch zutreffen? So soll Nietzsches ‘religiÄse’<br />

Entwicklung wÇhrend seiner spÇten Kindheit und frÅhen Jugend verlaufen sein?<br />

Als wiederum „hochplausibel“ ist dieser alternative Interpretationspfad – er kÄnnte wie<br />

auch die 7 Grundthesen (in 3.3.2.7.) eine typische spÇte JÄrg-Salaquarda-Kreation sein –<br />

schon deshalb zu bezeichnen, weil diese Auffassung manchen spÇteren Aussagen Friedrich<br />

Nietzsches durchaus entspricht. Den Eindruck glatten, problemlosen Ausgleitens aus seiner<br />

Herkunftsreligion suchte Nietzsche verschiedentlich nicht nur in seinen selbst verÄffentlichten<br />

Texten, sondern durch selektive Information auch in persÄnlichen Kontakten, ja sogar noch<br />

bei Lou von Salomå zu erwecken, da er selbst noch 1882 wÇhrend des gemeinsamen Tautenburger<br />

Aufenthalts sogar seinem „Geschwistergehirn“ die fÅr seine denkerische Entwicklung<br />

wohl entscheidenden frÅhen Inkonsistenzerfahrungen einschlieÉlich sogar des Faktums des<br />

Todes seines Vaters schlicht vorenthielt. 340<br />

Andererseits freilich: DaÉ Nietzsche diese seine Entwicklung entdramatisierende Strategie,<br />

wenn er in Publikationen jedoch nach 1882 und zumal in SpÇtschriften mit einigen Hinweisen<br />

durchaus wieder problematisierte, ja dadurch durchkreuzte, daÉ er mehrfach seine schon frÅhe<br />

seelische Vereinsamung bzw. den frÅhen Verlust seiner Kindheit betont, mÅÉte ebenfalls bekannt<br />

sein. 341 Nietzsches zeitweilige Strategie des Verbergens frÅher Glaubenskonflikte paÉt<br />

also nicht nur nicht u.a. zu (1) gegenteiligen Aussagen des spÇteren Nietzsche, sondern vermag<br />

auch (2) die zahlreichen theodizeeproblemhaltigen Stellen in Gedichten schon des Kindes<br />

Nietzsche, (3) die in einem Lustspiel des ElfjÇhrigen inszenierte FamilienzusammenfÅhrung<br />

der Kernfamilie Nietzsches auf dem Olymp anstatt im christlichen Himmel (Der GeprÄfte,<br />

wohl gegen Jahresende 1855) und ebenfalls nicht (4) die seitens seiner Mutter etwa Anfang<br />

MÇrz 1849 dokumentierten „Betrachtungen“ schon des VierjÇhrigen usw. usw. in ein stimmiges<br />

Konzept zu bringen.<br />

Wie geht DlJ nun vor? HÄdl wÇhlt einige Geburtstags- und Neujahrsgeschenkverse, die<br />

dem Kind wohl zwischen 1851 und 1854 mÄglicherweise diktiert wurden oder die es abgeschrieben<br />

haben kÄnnte (I 1, 317-319), als dessen erste „Selbstthematisierungen, die noch<br />

vollstÇndig Fremdthematisierungen“ seien (S. 187). Das bedeutet, daÉ HÄdl dabei u.a. schlicht<br />

‘setzt’, dieses Kind habe diese im Blick auf die erst 2 bis 5 (!!) Jahre zurÅckliegenden – und<br />

noch 1861 beschriebenen und nachhaltig betrauerten! – RÄckener Ereignisse hochbrisanten, in<br />

den Anhang von Band I 1, 1995, aufgenommenen Geburtstags- und Neujahrsgeschenkverse<br />

339 Friedrich Nietzsche: Mein Leben (I 3, 190). Der Text wurde wohl erst nach Erscheinen des zweiten<br />

Werkbandes der HKG, 1934, entdeckt. So erschien er in: Friedrich Nietzsche. Werke in drei BÜnden.<br />

Hgg. von Karl Schlechta. Band III. MÅnchen, 1956, S. 107-110.<br />

340 „als der einzige Sohn eines Predigers in RÄcken bei LÅtzen geboren, von wo sein Vater spÇter nach<br />

Naumburg versetzt wurde.“ Lou Andreas-Salomå: Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894). Mit<br />

Anm. von Thomas Pfeiffer. Hgg. v. Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main, 5 1983, S. 33. Dazu Hermann<br />

Josef Schmidt: NaJ I, 1993, S. 40-46; und: Entnietzschung, 2000, S. 73f.<br />

341 AuÉerdem war vom Vf. wÇhrend des III. Dortmunder Nietzsche-Kolloquiums, Juli 1993, in Anwesenheit<br />

des Autors von DlJ ein den hier angesprochenen Fragen geltendes Referat vorgetragen worden:<br />

„Jeder tiefe Geist braucht die Maske“, 1994, S. 137-160; weitere Belege in: Von „Als Kind Gott<br />

im Glanze gesehn“, 2001, S. 95-118.<br />

216


weder selbst formuliert oder paraphrasiert und inbes. emotional untangiert jeweils vÄllig naiv<br />

nachgeplappert oder unreflektiert nachgebetet. Und das bis 1854? Bei diesem Fritz eine psychische<br />

UnmÄglichkeit.<br />

So hat der Autor seinen Ausgangs- bzw. Nullpunkt gewonnen, um nun Åber die Jahre<br />

1851-1858 hinweg seine Linie konsequenter Ausblendung alles angesichts von Nietzsches<br />

RÄckener Inkonsistenzerfahrungen in diesen frÅhen ‘fremden’ ebenso wie in den spÇtestens<br />

ab 1855 vorliegenden eigenen Texten in der Formulierung Brisanten durchzuziehen. Wie erinnerlich<br />

abgesichert durch eine an Verharmlosung schwerlich Åberbietbare selbst Bohleys<br />

Informationen noch trivialisierende Darstellung des biographischen Settings von Nietzsches<br />

Kindheit (S. 30-42) mit dem HÄhepunkt der Zeichnung der 9monatigen RÄckener Familienkatastrophe<br />

des Leidens und Sterbens von Nietzsches Vater; fortgefÅhrt in Nichtbeachtung u.a.<br />

der Tatsache, daÉ in Nietzsches Texten von 1856 – auch in den ‘Griechengedichten’ – auffÇllig<br />

oft gekÇmpft, gelitten und gestorben wird, daÉ ein Katastrophen- oder UnglÅcksfall nach<br />

dem anderen abgehandelt wird; und in primÇrer BerÅcksichtigung von Texten, die wie in der<br />

Kindheit Geschenktexte, schon seit 1994 zwischen Autor und Vf. als Geschenktexte strittig,<br />

in den frÅhen Pfortejahren zu bewertende Schulaufgaben waren oder gar offiziellen Status<br />

besaÉen. 342 Doch in AuÉerachtlassung nahezu aller Texte des Kindes sowie auch des Portensers,<br />

die in Na als die fÅr Nietzsches Weiterentwicklung relevanten Texte diskutiert wurden;<br />

und auÉerdem in AuÉerachtlassung der Tatsache, daÉ die vor seinen Freunden gehaltenen<br />

„Germania“-VortrÇge – wie in NaJ diskutiert – nicht als reine Privattexte einzuschÇtzen sind,<br />

sondern als Texte verstanden werden mÅssen, mittels derer Nietzsche auch noch 1861-1862<br />

das zunehmend ausdÅnnende GesprÇch mit seinen beiden Naumburger Freunden aufrecht<br />

erhalten und idealiter weiterfÅhren wollte.<br />

So wird in DlJ also eine sehr, sehr schlichte Linie der Entwicklung Nietzsches gezeichnet,<br />

auf der das Verblassen kindheitsreligiÄser Formeln bis zu deren vÄlligem Verschwinden konstatiert<br />

wird. Dann ist Nietzsche jedoch wenigstens 16 1/2 Jahre alt... Deshalb kann die DlJ-<br />

Sicht von Nietzsches Entwicklung bestenfalls in die gehobene Standard- bzw. Mainstreaminterpretation<br />

des frÄhen Nietzsche (wie sie bereits von Richard Blunck, 1953 343 , sowie Curt<br />

Paul Janz, 1978 344 , und Werner Ross, 1980 345 , vertreten wurde) einmÅnden, fÅr die Fatum<br />

und Geschichte, FrÅhjahr 1862, der erste Text Nietzsches ist, aus dem sich Nietzsches kritischere<br />

Haltung zu seiner Herkunftsreligion deutlich genug belegen lÇÉt; in DlJ bereichert erfreulicherweise<br />

um Gesichtspunkte, die die Entwicklung von Nietzsches historischem VerstÇndnis<br />

betreffen. 346<br />

Und so kann DlJ zusammenfassen:<br />

Indem also [...] genauer gezeigt worden ist, wie Nietzsche den religiÄsen Rahmen [...] zunÇchst in<br />

die ersten eigenstÇndigen Texte in diesem Kontext, dann in die ersten Autobiographien Åbernimmt,<br />

dieser Rahmen dann ab 1861 [dem Konfirmationsjahr; d. Vf.] sich durch kritische Infragestellung<br />

von der Autobiographie sozusagen entkoppelt, wodurch die religiÄse Einbettung von Nietzsches<br />

Bildungsprogramm schlieÉlich verloren geht, ist, wie ich meine, ein Modell entwickelt worden, das<br />

es erlaubt, die allmÜhliche Ablásung Nietzsches von seinem Kinderglauben zu beschreiben, ohne<br />

dass diese bereits in die frÄhen Texte eingetragen werden muss, wo die philologisch-historische Evidenz<br />

fÄr eine solche Absetzbewegung [...] háchst problematisch ist. (S. 187; Kursivsetzung vom<br />

Vf.)<br />

342<br />

Zu diesen und den im restlichen Absatz angesprochenen Fragen vgl. Hermann Josef Schmidt:<br />

Haarscharf daneben, 3.2.<br />

343<br />

Richard Blunck: Friedrich Nietzsche, 1953.<br />

344<br />

Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche, 1978.<br />

345<br />

Werner Ross: Der Üngstliche Adler, 1980.<br />

346<br />

Vgl. Hermann Josef Schmidt: Haarscharf daneben, 2.1.5., bzw. (V)ERKANNTER NIETZSCHE?,<br />

2.5.<br />

217


In anderen Worten: Der Autor zeigt in anfangs vielleicht von Dritten Åbernommenen und spÇter<br />

in nahezu ausschlieÉlich exoterischen eigenen Texten des Kindes Nietzsche zwar ein Abblassen<br />

religiÄser Diktion und Bildlichkeit, weigert sich aber weiterhin entschieden, einerseits<br />

seine minimalauthentische Textbasis um ‘kritischere’ Texte des frÅhsten Nietzsche zu erweitern;<br />

andererseits aber auch nur bescheidene Fragen nach ggf. eruierbaren GrÅnden, Motiven<br />

dieses Abblassens bzw. dieser allmÇhlichen AblÄsung zuzulassen oder gar zu stellen. Das<br />

bedeutet: Er hat zwar m.W. erstmals eine Weiche in die (im Sinne von NaK) richtige Richtung<br />

gestellt, ist dann aber ob der Ungeheuerlichkeit dieses Schrittes wohl so nachhaltig erschrocken,<br />

daÉ er weiterfÅhrende äberlegungen mit Formulierungen wie „schlieÉlich verloren<br />

geht“ und „ausgeblendet“ vielleicht weniger abblockte als erst einmal offen lieÉ.<br />

Doch was ist, wenn das Kind Nietzsche selbst in frÅhe Texte nicht nur eine „allmÇhliche<br />

AblÄsung [...] von seinem Kinderglauben [...] eingetragen“, sondern bereits als ElfjÇhriger –<br />

wie mit der FamilienzusammenfÅhrung der verhalbgÄttlichten Kernfamilie Nietzsches auf<br />

dem Olymp (Der GeprÄfte) belegt – eine noch strukturnahe Alternative zu seinem ererbten<br />

Kinderglauben kunstvoll inszeniert hat? Und wenn diese sogar als (s)eine Antwort auf zurÅckliegende<br />

Ereignisse in der Lebensgeschichte dieses jungen Autors entschlÅsselt zu werden<br />

vermag? Eine Antwort, deren gegenwendiges Arrangement als Belohnung von Gastfreundschaft<br />

sowie als Bestrafung des Bruchs von Gastfreundschaft sogar einen Deutungsund<br />

Bewertungsversuch 347 genannter zurÅckliegender Ereignisse in der Lebensgeschichte des<br />

jungen Autors durch diesen selbst erkennen lieÉ? Und wenn sich im Ausgang von diesem<br />

Text Åber Gedichte von 1856 und 1857 zeigen lieÉ, wie das Kind seinen Gottesglauben – genauer:<br />

die in dominanten Sprachmustern seiner Pastorenfamilie implantierten und ihm nahegebrachten<br />

Vorstellungen eines ‘lieben Gottes’ – quasi empirisch falsifiziert? Ja, „empirisch<br />

falsifiziert“, denn genau das tut es schlieÉlich bereits in kaum Åberbietbarer Deutlichkeit in<br />

dem Gewitter-Gedicht der Sammlung zum 2.2.1856 ebenso punktgenau wie bspw. in Rinaldo<br />

in der Sammlung zum 2.2.1857. Q.e.d. lÇngst in Nak.<br />

Ein weiterer Einwand: Angesichts der vorliegenden frÅhsten Texte Nietzsches stellt HÄdls<br />

These, die „allmÇhliche AblÄsung Nietzsches von seinem Kinderglauben“ (bzw. HÄdls AblÄsungsthese)<br />

mÅsse nicht seitens eines Interpreten unberechtigterweise in Nietzsches „Texte<br />

eingetragen“ werden, in denen fÅr den Autor davon offenbar keinerlei Spuren identifizierbar<br />

sind, eine Åbrigens mit einer anderen These HÄdls wenig kompatible Unterstellung dar,<br />

inhaltlich freilich die von ihm selbst skizzierten VerhÇltnisse sogar auf den Kopf. Einerseits<br />

muÉ ein Interpret schon sehr unsensibel, uninformiert oder voreingenommen sein, um selbst<br />

klarste Konstellationen, wie lÇngst aufgezeigt, in so hohem MaÉe verzeichnen zu kÄnnen.<br />

Andererseits konfligieren doch des Autors eigene Thesen, ‘die religiÄse Entwicklung’ des<br />

Kindes betreffend, im Blick auf obige Unterstellung fast schon kurios: Da formuliert der Autor<br />

doch selbst, daÉ Gott – von niemandem anders als vom Kind als ‘TÇter’ denkbar (dazu<br />

unten) – immer mehr „ausgeblendet“ werde (HÄdls Ausblendungsthese), andererseits soll die<br />

„allmÇhliche AblÄsung Nietzsches von seinem Kinderglauben“ zumal wÇhrend seiner Kindheit<br />

etwas seitens dieses Kindes selbst so Unbemerktes gewesen sein, daÉ es offenbar der Impertinenz<br />

eines Interpreten bedarf, derlei GeheimvorgÇnge in Nietzsches Texte widerrechtlich<br />

einzutragen? Als ob die Ausblendungsthese einen ‘in der Sache’ nicht erheblich weitergehenden<br />

Vorgang beschriebe als lediglich eine AblÄsungthese? Die erstere These jedoch behauptet<br />

der Autor nicht nur, glaubt sie an Texten Nietzsches auch belegen zu kÄnnen; doch bei der<br />

zweiten bei weitem harmloseren These installiert der Autor im Blick auf Nietzsches frÅhe<br />

Texte ein Tabu? Haben wir es hier mit einem Vorgang zu tun, der an Prozeduren der Echternacher<br />

Springprozession erinnert? Bei Fritz oder beim Autor? FÅr wen inszeniert Letzterer<br />

derlei EiertÇnze?<br />

347 Dazu in KÅrzestfassung: Hermann Josef Schmidt, Wie Herkunft Zukunft bestimmt, A&K 17,<br />

4/2010, S. 158-179, und: www.gkpn.de sowie www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

218


Und was wÇre schlieÉlich, wenn die skizzierte DlJ-Argumentation nur eine bereits nicht<br />

unerheblich modifizierte Hauptlinie, des Autors offizielle Lesart vorerst letzter Hand, bieten<br />

wÅrde...<br />

3.7.2. Seitenausstieg mit Stellschrauben?<br />

..., deren Nebenlinie(n) oder gar BrÅche sich m.E. jedoch bereits an einigen Stellen in unterschiedlicher<br />

Deutlichkeit artikuliert haben dÅrfte(n): am deutlichsten wohl in HÄdls des Kindes<br />

Nietzsche religiÄse und ggf. christentumskritische Entwicklung umschreibender kryptischer<br />

These, daÉ „Gott“ immer mehr „ausgeblendet, [...] zum AtmosphÇrischen“ werde, „zum<br />

Merkmal der Landschaft seiner Herkunft“ (187). Doch was heiÉt in diesem Zusammenhang,<br />

daÉ „Gott“ immer mehr „ausgeblendet“ wird? Wer oder was ist Agens dieses Ausblendungsvorgangs,<br />

der bzw. das Gott ausblendet? Da Gott sich in der Entwicklung des Kindes Nietzsche<br />

bzw. in dessen Texten wohl kaum selbst auszublenden geruht oder auch nur sich selbst<br />

auszublenden vermag, bleibt zu fragen, von wem anders als vom Kind Nietzsche Gott denn<br />

‘ausgeblendet’ wird. Und schon sind wir bei einem ganzen Ensemble konsequenzentrÇchtiger<br />

Fragestellungen wie bspw. denen nach der Genese, nach Phasen, ModalitÇten, Motiven usw.<br />

derartiger Ausblendung(en) Gottes durch das Kind Friedrich Nietzsche.<br />

Geben des Autors Formulierungen auch hierzu bereits konkretisierende Anhaltspunkte?<br />

Nur Weniges sei hier noch berÅcksichtigt.<br />

„Je mehr“ der dreizehnjÇhrige Nietzsche Sommer 1858 „die Stelle als ErzÇhler“ einnehme<br />

und „je ausgeprÇgter und reflektierter [...] sein SelbstverhÇltnis“ geworden sei, „desto mehr“<br />

werde „‘Gott’ ausgeblendet“, desto mehr werde ER „zum AtmosphÇrischen, zum Merkmal<br />

der Landschaft seiner [d.h. von Nietzsches, d.Vf.] Herkunft.“ So korreliert der Grad zunehmender<br />

Selbstreflexion und ausgeprÇgteren SelbstverhÇltnisses Nietzsches dem Grad der –<br />

von Hans Gerald HÄdl in Nietzsches frÅhsten Texten derzeit bereits konzedierten! – Ausblendung<br />

Gottes in Texten Nietzsches? Wie wunderbar man in divergierendem Sprachspiel sich<br />

demjenigen anzunÇhern vermag, was in NaK lÇngst entwickelt, belegt und seitdem vom Autor<br />

auch noch zuvor in DlJ bekÇmpft wurde? Voll einverstanden also zumal dann, wenn vom<br />

Autor und von Dritten nicht weiterhin ausgeklammert wÅrde, daÉ diese Selbstreflexionen<br />

nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit religiÄsen Vorgaben seiner Umwelt, mit weltanschaulich<br />

relevanten GegenstÇnden seiner LektÅre erfolgten und daÉ sich wenigstens Spuren davon<br />

in Nietzsches frÅhsten Texten finden sowie aufweisen lieÉen wie lÇngst in NaK belegt ... Und<br />

so reduzieren sich die vor Jahren doch so substantiellen Differenzen zu den in NaK entwickelten<br />

Interpretationen der frÅhen Texte Nietzsches auf fast nur noch sprachlich divergierende<br />

Formulierungen? Oder doch nicht? Einerseits finden wir die NaK-Argumentationen diametral<br />

entgegengesetzte These des Autors, daÉ noch fÅr die Autobiographie vom SpÇtsommer 1858<br />

gelte, daÉ „der Knabe trotz mancher UnglÅcksfÇlle“ bei allem ‘Gottes segnende Hand’ erkannt<br />

habe (S. 180) und keine „Kontrastwelt gegen die religiÄse Welt von Nietzsches Kindheit“<br />

(S. 178) aufgebaut worden wÇre; andererseits scheint fÅr den Autor von DlJ im nÇmlichen<br />

Text Nietzsches aus dem SpÇtsommer 1858 dieser „gott“-ausblendungsbestimmte Entwicklungsprozess<br />

bereits so deutlich geworden zu sein, daÉ er dazu auch dann eine voraussetzungsreiche,<br />

differenzierte Aussage formuliert, wenn er zumindest hier in DlJ äberlegungen<br />

zur Vorgeschichte dieses Entwicklungsprozesses – noch? – ausblendet bzw. sie zu einer dem<br />

Kind Nietzsche offenbar unbewuÉten Entwicklung von naiver GlÇubigkeit bis zur Haltung<br />

eines RÅckblicks auf „Gott“ als „Merkmal der Landschaft seiner Herkunft“ zu trivialisieren<br />

sucht. Nun liegen aus den drei bis vier dem SpÇtsommer 1858 direkt vorausgehenden Jahren<br />

jedoch zahlreiche Gedichte und mehrere TheaterstÅckchen usw. dieses Kindes vor: Und in<br />

keinem dieser Texte lassen sich trotz der schon 1849 dokumentierten Wachheit Nietzsches<br />

auch nur die geringsten Spuren dieser vermeintlich zwar unbewuÉten, in der Sache und im<br />

Blick auf Nietzsches spÇteres Œvre jedoch immens folgenreichen Entwicklung, wÇhrend der<br />

immerhin sogar lt. DlJ nicht weniger als Gott ausgeblendet wird, identifizieren? Nicht durch<br />

219


sorgsame Interpreten? Und auch Nietzsche selbst soll wÇhrend all’ der Jahre nichts gemerkt<br />

haben? Da sind nicht nur noch einige LÅcken zu fÅllen, sondern auch noch viele WidersprÅche<br />

zu beseitigen und Inkonsistenzen aufzuarbeiten, bevor eine zur NaK-Sicht der Entwicklung<br />

des frÅhen Nietzsche entwickelte mehr als nur noch pseudoalternative Theorie substantiellere<br />

Formen annimmt?<br />

Dennoch: Wenn der Autor in DlJ anerkennenswerterweise m.W. erstmals bereit zu sein<br />

scheint, eine „allmÇhliche AblÄsung Nietzsches von seinem Kinderglauben“ nicht nur als<br />

Faktum zu akzeptieren, sondern sogar „zu beschreiben“, so reduziert er die Differenz zu NaKbasalen<br />

Argumentationen nunmehr Åberraschenderweise insofern auf nur noch Graduelles, als<br />

diese „AblÄsung Nietzsches von seinem Kinderglauben“, auf deren BewuÉtheits- und Absichtlichkeitsgrad<br />

es u.a. ankÇme, zwar nicht „bereits in die frÅhen Texte eingetragen werden<br />

muss, wo“ fÅr den Autor von DlJ trotz des nach seiner Auffassung NaK-destruktiven Resultats<br />

seiner vorgefÅhrten experimenta crucis und weiterer Argumentationen „die philologischhistorische<br />

Evidenz fÅr eine solche Absetzbewegung“ bereits keineswegs mehr vÄllig ausgeschlossen,<br />

sondern lediglich „hÄchst problematisch“ ist. Ein eigentlich erstaunliches Urteil<br />

(oder EingestÇndnis), das einerseits die Vermutung nahelegt, der Autor von DlJ sei sich seiner<br />

Sache (mittlerweile) weit weniger sicher als etwa im Vorwort noch quasi ex cathedra inseriert;<br />

ein Urteil, das angesichts des Scheiterns insbes. der beiden basalen experimenta crucis<br />

und all’ der bisher exponierten weiteren Fragezeichen und EinwÇnde seitens des Autors von<br />

DlJ nunmehr dahingehend zu revidieren wÇre, als wenigstens „die philologisch-historische<br />

Evidenz“ – und keineswegs nur diese! – der NaK-Interpretationen im Sinne der bisher mit<br />

wohl weitem Abstand qualifiziertesten Hypothesen auch dann anzuerkennen wÇre, wenn<br />

„Evidenz“ kein sonderlich glÅckliches Kriterium ist, um das von Autor Gemeinte zu charakterisieren.<br />

Ob er dazu jemals die SouverÇnitÇt und Freiheit besitzt?<br />

DaÉ der Autor von DlJ von einer impliziten Anerkennung der NaK-Sichtweise mittlerweile<br />

nicht mehr durchgÇngig siriusweit entfernt bzw. auf seine antipodische Perspektive in weit<br />

geringerem MaÉe als noch in den spÇten 1990er Jahren fixiert zu sein scheint, legt auch seine<br />

S. 104 artikulierte reservatio mentalis bezÅglich seiner Kritik an der NaK-Interpretation von<br />

Der GeprÄfte nahe: „Obwohl dies nicht mit letzter Sicherheit auszuschlieÉen ist“. Da muÉ er<br />

der Wahrscheinlichkeitswaage wohl nur noch einen kleinen Stupser geben...<br />

Um zusammenzufassen: Stellschrauben dieses Seitenausstiegs des Autors von DlJ im<br />

Blick auf seine EinschÇtzung der Relevanz und Stichhaltigkeit der seinerseits zu destruieren<br />

gesuchten NaK-Interpretationen sind bereits in den oben zitierten grÄÉeren Passagen der S.<br />

187 mehrerenorts bzw. mehrfach angeboten. Eine entsprechend fokussierte Analyse der NaKkritischen<br />

DlJ-Seiten bietet noch weiteres Material, auf das Interessierte verwiesen seien, dessen<br />

BerÅcksichtigung den Rahmen dieser Metakritik jedoch nochmals dehnen wÅrde.<br />

Nach meinem Eindruck hat sich der Autor aus dem Korsett seiner eigenen Vorgaben auch<br />

der spÇten 1990er Jahre zwar lÇngst 348 herausgedacht. Doch niemand soll es bemerken, zeitweise<br />

nicht einmal er selbst. Denn sonst mÅÉte er zuweilen anders argumentieren. Diese folgenreiche<br />

Einsicht angemessen zu dokumentieren, erscheint gegenwÇrtig vielleicht noch verfrÅht.<br />

348 Doch derlei Einsprengsel bereits in DlJ sind nicht Gegenstand dieser Metakritik, die sich auf unberechtigte<br />

NaK-Kritik und deren Folgen konzentriert. DaÉ der Autor schon in Nietzsche, Jesus und der<br />

Vater, 2003, Kap. 2 und 3, S. 71-82, m.E. bei weitem stichhaltiger argumentiert, lÇÉt hoffen.<br />

220


3.8. Metakritische Offensive 3: Polyperspektivisches Fazit<br />

„erwiesen [...], dass Schmidts Interpretation der frÅhen Aufzeichnungen<br />

Nietzsches als versteckte Religionskritik nicht die<br />

textliche Evidenz hat, die er dafÅr beansprucht.“<br />

Hans Gerald HÄdl (DlJ, S. 131).<br />

WÇhrend 3.6.2. bereits ein erstes ResÅmee und 3.6.5. quasi eine Auflistung wesentlicher gro-<br />

Éenteils inhaltlicher Kritikpunkte teils an der direkten NaK-Kritik des Autors teils an seinen<br />

seine Kritik ihrerseits erst legitimierenden oder Alternativen exponierenden AusfÅhrungen<br />

bietet, formuliert 3.8. ein der Skizze von des Autors eigener Deutung der frÅhesten ‘religiÄsen’<br />

Entwicklung Nietzsches (in 3.7.) nun erst folgendes Fazit aus z.T. so erheblicher Distanz,<br />

daÉ aus der LektÅre allein von 3.8. nicht deutlich genug zu werden vermag, um was es in der<br />

NaK-Kritik in DlJ im einzelnen ging; und auch nicht, welchen Stellenwert insbesondere die<br />

beiden vom Autor exemplarisch durchgefÅhrten experimenta crucis zweier frÅher Texte des<br />

Kindes Nietzsche, des sog. Moses-Vierzeilers und zumal des Lustspiels Der GeprÄfte des<br />

ElfjÇhrigen, sowie die Autobiographie des knapp VierzehnjÇhrigen, Aus meinem Leben, in der<br />

Argumentation des Autors sowie fÅr <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong> besitzen. So bietet<br />

dieses Fazit nicht nur im Sinne einer Abrundung der vorliegenden konkreten Metakritik, sondern<br />

auch der Spezifizierung des im Titel dieser Untersuchung genannten Spannungsfeldes<br />

weitere Informationen eher fÅr speziell Interessierte: Informationen, Voten, Perspektiven also,<br />

die, mit Ausnahme vielleicht von 3.8.4., fÅr sich allein genommen ein leider bei weitem negativeres<br />

Bild von DlJ bieten als eine ohnedies sich bereits auf Schwachpunkte usw. konzentrierende,<br />

meistenteils auch inhaltliche Fragen thematisierende Metakritik, geschweige denn eine<br />

DlJ im groÉen Zusammenhang beurteilende Rezension. 349<br />

Zumal primÇr inhaltlich Interessierte, die nicht die gesamte <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

lesen wollen, seien deshalb ausdrÅcklich wenigstens auf 3.6. sowie schon deshalb auf<br />

eine zumindest kursorische LektÅre der 3.6. vorausgehenden AusfÅhrungen verwiesen, weil<br />

ansonsten vermutlich unverstÇndlich bliebe, was zumal in 3.6.5. nur noch aufgelistet wurde.<br />

Das Fazit bietet aus divergenten theoretischen sowie unterschiedlich DlJ-nahen Perspektiven:<br />

– in 3.8.1. (1) ein eher methodologisch-weltanschauungskritisch orientiertes Fazit, das einige<br />

Methoden des Autors und mehr oder weniger bewuÉt angewandte Strategien oder Strategeme<br />

in ideologie- oder weltanschauungskritischer Perspektive bewertet: Strategien usw.,<br />

die, in weltanschaulich relevanten ZusammenhÇngen hÇufig zwecks StÅtzung, pseudoargumentativer<br />

‘Absicherung’ und ggf. Immunisierung eigener AnsÇtze angewandt, fÅr die<br />

Argumentationen dieses Autors also nicht spezifisch sind. Erst anschlieÉend werden nach<br />

(2) allgemeinen äberlegungen (3) in kontrastierender Ringkomposition schon eingangs in<br />

DlJ prÇsentierte Kritikpunkte an NaK nochmals ins GedÇchtnis gerufen und beurteilt.<br />

– in 3.8.2. ein aus noch erheblich grÄÉerer Distanz skizziertes eher prinzipienorientiertes Fazit,<br />

das nur noch an die beiden wohl prinzipiellsten Gesichtspunkte erinnert, deren Nachweis<br />

in DlJ nicht nur angestrebt, sondern auch als gelungen inseriert wurde.<br />

– in 3.8.3. ein nicht lediglich auf des Autors NaK-Kritik, sondern ein auf den Aufbau von DlJ<br />

insgesamt gerichtetes eher speziell DlJ-ansatzorientiertes Fazit, das erst nach einigem ZÄgern<br />

des Verfassers hier nun (1) einerseits äberlegungen exponiert, deren Artikulation aus<br />

mehrfachen GrÅnden bisher zurÅckgestellt worden war. Sie hier einzubeziehen ist jedoch<br />

kaum mehr zu umgehen, da vielleicht erst auf diese Weise ‘strukturanalytisch’ Orientier-<br />

349 Vgl. dazu Hermann Josef Schmidt: Haarscharf daneben, 2011, bzw. (V)ERKANNTER NIETZ-<br />

SCHE?, 2011.<br />

221


terten wenigstens plausibel wird, warum der Autor 1. dank des von ihm gewÇhlten (z.T.<br />

vom Ansatz von DlJ abhÇngigen) Kritikansatzes an NaK ‘schon von vornherein faktisch<br />

chancenlos war’ seine kritischen Intentionen stichhaltig genug einzulÄsen, weshalb er wenigstens<br />

zu einem GroÉteil der aufgewiesenen Fehler usw. bereits ansatzbedingt fast schon<br />

genÄtigt gewesen sein dÅrfte; Fehler, die ihm bei seiner NaK-Kritik insgesamt und zumal<br />

bei seinen beiden experimenta crucis unterliefen (und deren geringe argumentative QualitÇt<br />

bspw. bereits mit derjenigen seiner hier in 3.7. skizzierten äberlegungen, vor allem aber<br />

mit zahlreichen spÇteren Passagen von DlJ inkommensurabel ist); und warum er 2. bei genauerem<br />

Besehen auch nicht erfolgreich sein konnte, die mit dem Haupt- und Untertitel<br />

von DlJ nahegelegten Erwartungen informierterer Leser auch nur annÇhernd zu erfÅllen<br />

und damit den Anspruch von DlJ konsequent einzulÄsen... (2) Andererseits hingegen ist<br />

ein Problem zu berÅcksichtigen, das durch die Frage nach der Relevanz des Ansatzes von<br />

DlJ auch dann aufgeworfen wird, wenn die zuvor aufgezeigten Probleme ausgeklammert<br />

werden kÄnnten. SchlieÉlich sind (3) noch andere Ursachen des Scheiterns der NaK-Kritik<br />

skizziert.<br />

– in 3.8.4. ein eher persánliches Fazit, da diese Metakritik fÅr den Verfasser aus einer Vielzahl<br />

von GrÅnden ein bei weitem schwierigerer Balanceakt ist als eine Textinterpretation,<br />

auf deren Rahmenbedingungen es weniger ankommt als bei dieser Metakritik oder Hypothesen<br />

Åber MÄglichkeiten (und WiderstÇnde gegenÅber) <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong>.<br />

So war bspw. mehrfach zu entscheiden, ob ‘Dinge’ angedeutet wurden, die zwar<br />

normalerweise schweigend Åbergangen werden, deren Kenntnis aber kaum verzichtbar sein<br />

dÅrfte, wenn es darum geht, bestimmte Entwicklungen der deutschsprachigen ‘Nietzscheszene’<br />

seit den 1990er Jahren aus durch grÄÉere Distanz erleichterter Klarheit besser zu<br />

verstehen. Deshalb ist zumal im Blick auf prochristliche Nietzscheinterpreten mit wissenschaftlichem<br />

Anspruch dieses vierte, leider wiederum eher Probleme ansprechendes Fazit<br />

aufgenommen worden.<br />

3.8.1. Methodologisch-weltanschauungskritisch orientiertes Fazit<br />

(1) FÅr metakritisch – idealiter kritizistisch oder weltanschauungskritisch – orientierte Leser<br />

wÇre das Fazit dieser Metakritik von des Autors neuerlicher, zweiter nunmehr weit sorgsamerer<br />

und zumal bei weitem polyperspektivischer vorgestellten „Philologie fÅr Spurenleser“ 350<br />

etwa wie folgt formulierbar:<br />

Dank ihrer Kontroversen vorstrukturierenden und deren Ergebnis in der Regel bereits vorwegnehmenden<br />

methodologischen Perspektiven bietet Hans Gerald HÄdls auf hohem argumentativen<br />

und z.T. beeindruckend informativem Niveau angesiedelte, reich belegte,<br />

wohlformulierte und in weiten Teilen vielschichtige Auseinandersetzung sowohl mit von<br />

ihm als exemplarisch angesehenen Interpretationen als auch mit basalen Interpretationsprinzipien<br />

primÇr der KindheitsbÇnde von Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei<br />

Nietzsche, 1991, streng genommen auch Musterbeispiele ansprechender, z.T. hochgestochen<br />

formulierter, informativer, auf der PrÇmissenebene jedoch leider, leider in nicht geringem<br />

MaÉe weltanschaulich gebunden wirkender zumal theodizeeproblemflÅchtiger und<br />

von der Tendenz her christentumskritikentschÇrfender Argumentation, wobei neben<br />

(1) spezifischer Problemflucht<br />

(2) einige sich groÉenteils Åberlappende basale ‘Argumentationsmuster’ apologetischer<br />

Strategeme auffielen wie insbesondere<br />

350 „Philologie fÅr Spurenleser“ lautet der Untertitel eines Manuskripts Hans Gerald HÄdls, das spÇtestens<br />

seit FrÅhjahr 1998 kursierte und als Der alte Ortlepp war es Äbrigens nicht..., 1999, S. 440-445,<br />

erschien; doppelt gekontert in Hermann Josef Schmidt: Der alte Ortlepp war’s wohl doch. In: Nietzsche-Studien<br />

XXVIII (1999), 2000, S. 257-60, sowie insbes. in Der alte Ortlepp 1 , 2001, bzw. Der alte<br />

Ortlepp 2 , 2004.<br />

222


(a) inverse Beweislastverteilung,<br />

(b) hochgradige SelektivitÇt von Pro- und Contra-Argumentationen,<br />

(c) Ausblendung von Argumenten ‘der Gegenseite’,<br />

(d) assoziative VerknÅpfung von Heterogenem,<br />

(e) strikte Ausklammerung von Gegenproben,<br />

(f) Imponiergehabe und AblenkungsmanÄver,<br />

(g) ungedeckte WahrheitsansprÅche bzw. erschlichene BeweisqualitÇten<br />

(h) sowie Ad-hoc-Strategeme;<br />

(3) eine zusammenfassende Beurteilung der QualitÇt ebenso wie der SeriositÇt derjenigen<br />

editorischen Entscheidungen, auf die sich der Autor nicht nur beruft, sondern die er erstaunlicherweise<br />

z.T. sogar auf beachtenswerte Weise zu begrÅnden/legitimieren sucht und<br />

die seinen Argumentationen z.T. zu Grunde liegen, genauer: Folge der in DlJ wohl erstmals<br />

nun zugÇnglich gemachten Argumentationen derer sein dÅrften, welche die vom Vf.<br />

als Gutachter des çFF am 29.7.1994 beurteilte Fassung des Manuskripts des Bandes KGW<br />

I 1, 1995, einer nachtrÇglichen, von der Anordnung der HKGW I, 1933, nun abweichenden<br />

und mit basalen Voraussetzungen von NaK weniger kompatiblen, umorganisierenden,<br />

konzeptuellen Revision in neuerlicher Bearbeitung unterworfen haben (vgl. oben<br />

3.4.2.1.1., 3.4.2.2.2., 3.6.2. und die Zusammenfassung einiger Kritikpunkte in 3.6.5.), sei<br />

an dieser Stelle ausdrÅcklich ausgeklammert.<br />

Doch bei diesem Komprimat fÅr primÇr argumentationskritisch usw. Orientierte bleibt es verstÇndlicherweise<br />

nicht, denn ich verzichte zwar darauf, die aufgelisteten Kritikpunkte von (1)<br />

bis (2h) eigens zu erklÇren 351 und an Beispielen aus DlJ zu belegen, da das Vorausgehende fÅr<br />

jeden dieser Kritikpunkte wenigstens einen Beleg bietet; und anderes noch zu erwÇhnen in<br />

diesem Zusammenhang wichtiger erscheint.<br />

AuÉerdem bleibt hier eine Diskussion der Frage offen, ob (4) der Autor diese Praktiken in<br />

Folge divergenter Erfahrungen oder frÅhkindlicher christlicher PrÇgung, die wÇhrend seiner<br />

Theologie-, Philosophie- und Religionswissenschaftsstudien bisher nur partiell kritisch aufgearbeitet<br />

zu sein scheinen, anwandte, weshalb sie ihm unbemerkt in die Feder oder Tasten gerutscht<br />

sein kÄnnten. Oder aber ob ihre passagenweise so konsequent wirkende Anwendung<br />

sogar als eine Strategie zu verstehen ist, die der Autor ggf. mit seinem im Vorwort erwÇhnten<br />

GesprÇchspartner vor vielen Jahren ausgetÅftelt hat, um in wiederholtem Anlauf den zumal<br />

fÅr christlich orientierte Nietzscheinterpreten kaum umgehbaren Felsen des AnstoÉes, das<br />

ãrgernis Nietzsche absconditus, interpretativ zu bewÇltigen (bzw. argumentativ zu sprengen),<br />

dessen Provokationen zu entschÇrfen bzw. Nietzsche absconditus in seinem Modellcharakter<br />

als kritisches Spurenlesen dadurch zurechtzustutzen, daÉ (1) zahlreiche Interpretationsfehler<br />

behauptet, (2) ein monokausaler (also: dogmatischer) Anspruch unterstellt und zumal (3) konsequenzenreiche<br />

SchluÉfolgerungen von Nietzsche absconditus als bestenfalls hochgradig<br />

spekulative, seitens des Verfassers dem Kind Nietzsche zu Unrecht unterstellte, luftige Hypothesen<br />

aufgewiesen wÅrden; kÄnnte ansonsten doch derlei exemplarisches Spurenlesen, den<br />

351 Interessierte, denen die hier vorgestellte Denkweise neu ist und dennoch attraktiv erscheint, mÄgen<br />

vor allem Karl Raimund Poppers äberlegungen weiterfÅhrende Schriften von Hans Albert und Ernst<br />

Topitschs – hier in den Anmerkungen sind Hinweise auf ihre entsprechende Titel zu finden; bei Karl<br />

Raimund Popper erÅbrigt sich das wohl – konsultieren: Hans Albert ist der methodologischsystematisch,<br />

Ernst Topitsch der weltanschauungskritisch-philosophie- sowie kulturhistorisch Orientiertere.<br />

Beide gehÄren m.E. zu den wenigen, die im deutschen Sprachraum in den vergangenen Jahrzehnten<br />

Philosophie und kritisches Denken vorangebracht haben, freilich deshalb, weil sie hermeneutische<br />

ebenso wie ‘rechte’ oder auch ‘linke’ LuftschlÄsser destruierten, so ausgeschwiegen wurden,<br />

daÉ man ihren Argumenten – nicht selten auch Ausweichversuchen vor diesen – zwar hÇufiger, kaum<br />

aber einmal ihren Namen begegnen kann. Es gibt viele Arten, „tot“ zu sein. Vielleicht sind Schweigerituale<br />

nicht nur die stabilste, sondern auch hÇufigste Form von philosophia perennis.<br />

223


Intentionen seines ‘Erfinders’ gemÇÉ, auch anderweitig getestet werden: wohl nicht nur fÅr<br />

AnhÇnger jedweder (vermeintlich) geschlossenen Lehre eine Schreckensvorstellung.<br />

SchlieÉlich ging es vielleicht auch darum, sich nicht nur als besten, sondern auch als kritischsten<br />

Kenner sowie nunmehr sogar Interpreten der Texte des frÅhen Nietzsche zu bewÇhren.<br />

Ob das wohl gelang? Mittlerweile im 8ten Jahrzehnt angekommen und daran interessiert,<br />

wÇhrend ggf. restlicher Jahre weniger mit Nebenthemen meiner Interessen befasst zu sein,<br />

hÇtte ich mich gefreut, in dem auch meinerseits verschiedentlich gefÄrderten Hans Gerald<br />

HÄdl einen detailkompetenten ‘Nachfolger’ gefunden zu haben, wenn ich seinen Interpretationen<br />

– trotz nicht zu Åbersehender zunehmend gemeinsamer Voraussetzungen – in hÄherem<br />

MaÉe hÇtte zustimmen kÄnnen als dies noch immer der Fall ist. Jedenfalls bedarf es auch<br />

kÅnftig wenigstens eines einerseits weltanschauungskritisch-fallibilistischen und andererseits<br />

altertumswissenschaftlich interessierten und wenigstens einigermaÉen belesenen, keineswegs<br />

graecophob orientierten, konsequent genetisch ansetzenden, detailkompetenten, prÇzise sowie<br />

korrekt argumentierenden Interpreten, um eine zeitweise leider nicht selten eher von Mode zu<br />

Mode hastend wirkende oder aber sich lediglich auf begrenzte Zeitabschnitte (frÅhestens ab<br />

FrÅhjahr 1869) konzentrierende, erstaunlicherweise weitestgehend kriterien(diskussions)abstinente<br />

Nietzscheforschung sowie zumal -interpretation nicht noch so sympathischen, zunehmend<br />

sachkompetenten ‘Heimholern’ usw. zu Åberlassen, deren StoÉrichtung zukÅnftiger<br />

Interventionen wohl absehbar ist. Denn so lange NietzschelektÅre und -interpretation als attraktiv<br />

erscheint, so lange werden Strategeme polydimensionaler Entnietzschung 352 weitestgehend<br />

dominieren; schon wer hierzulande insbes. in deutschsprachigen SÅdstaaten an einer<br />

Hochschule in einer geisteswissenschaftlichen oder anderweitig weltanschaulich relevanten<br />

Disziplin Karriere machen will, erreichte sie nicht auf dem Wege des Verfassers, wie immer<br />

man auch die QualitÇt der konkurrierenden Auffassungen beurteilen mag.<br />

(2) So ist nun auch des Autors vierter Versuch, an Argumentationen des Verfassers in falsifizierender<br />

Intention Kritik zu Åben, trotz eines m.W bisher wohl von keinem Vierten Åbertroffenen<br />

Einarbeitungs- und Informationsgrads und dem Aufweis weniger in einigen Details<br />

berechtigter Kritikpunkte, die jedoch in keinem Fall Prinzipielleres betreffen, nicht nur wieder<br />

einmal 353 gescheitert, sondern zumal sein in concreto durchgefÅhrter Ansatz, seine Kritik in<br />

352 „Entnietzschung“ meint, daÉ fÅr Nietzsche oder Nietzsches Texte Charakteristisches bzw. Spezifisches<br />

nivelliert, trivialisiert oder auch interpretativ ‘geadelt’, jedenfalls in seiner Eigenart nicht ernst<br />

genommen wird. Der Terminus deckt also ein riesiges, partiell nicht eindeutig abgrenzbares Ensemble<br />

von Ausweichstrategien und -instrumentarien ab. Die vielleicht wesentlichsten 25 sehr eng nietzschebezogenen<br />

Kritikpunkte wurden in einem interpretativen „Lasterkatalog dominierender ‘Blindheiten’<br />

und Einseitigkeiten, mangelnder Kompetenzen, verweigerter Perspektiven oder ausgeklammerte Inhalte“<br />

in Hermann Josef Schmidt: Entnietzschung, 2000, S. 105-174, skizziert. (KÅrzestfassungen: Gegen<br />

weitere EntschÜrfung der Provokation Nietzsche: ein interpretativer Lasterkatalog. In: A&K. Sonderheft<br />

4/2000: Friedrich Nietzsche, S. 87-97, bzw. www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm.; aktualisiert: „Entnietzschung“<br />

– eine Formel fÄr „EntschÜrfung der Provokation Nietzsche“? Heterodoxe âberlegungen<br />

zu konstitutiven Trends dominanter <strong>Nietzscheinterpretation</strong>. In: Matthias Ruppert, Tarek Badawia<br />

und Helga Luckas (Hg.): Ethos – Sinn – Wissenschaft. Historisch-systematische Perspektiven einer<br />

philosophischen PÇdagogik. Festschrift Erwin Hufnagel. Remscheid, 2005, S. 217-235.)<br />

353 „wieder einmal“ ist auch in diesem Falle nicht dahergesagt, denn in der Erstausgabe von Der alte<br />

Ortlepp 1 , 2001, war ein „III. Teil HintergrÅnde einer apologetischen Philologie fÄr Spurenleser“ * aufgenommen,<br />

in welchem z.T. basalere Differenzen als hier thematisiert wurden. Zugunsten der Aufnahme<br />

von Nietzsche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von 1853 bis wenigstens 1861<br />

gelesener Texte Ortlepps aus dem „Naumburger Kreisblatt“ 1853-1864 wurde dieser Teil in der Neuausgabe<br />

2004 ebenso wie ein „Dekalog interpretativer Redlichkeit“ (S. 159f.) nicht mehr Åbernommen.<br />

Der Vf. hoffte 2003, die AusfÅhrungen von 2001 hÇtten genÅgt; und der Autor hÇtte das Prinzip<br />

vorheriger sorgfÇltiger kritischer Gegenproben schon aus Selbstschutz nun ebenso Åbernommen wie<br />

einige elementare Texte von Karl Popper, Hans Albert und Ernst Topitsch grÅndlich angesehen. * In-<br />

224


experimenta crucis zweier NaK-Interpretationen frÅher Texte des Kindes Nietzsches ausfÅhrlicher<br />

als je zuvor zu demonstrieren und zu bewÇhren, als in mehrfacher Hinsicht fehlerhaft<br />

aufgewiesen.<br />

Dennoch aber bleibt auch die hier vorgefÅhrte Metakritik vielleicht nur ein weiteres Kratzen<br />

an der OberflÇche basaler Differenzen (angedeutet in 3.6.4.), solange es sich dabei, wie<br />

schon 2001 skizziert, leider um nicht weniger als um „Philosophische Fundamentaldifferenzen<br />

im Spannungsfeld von Christlicher Philosophie und (selbst)kritischer AufklÜrung“ handelt,<br />

die trotz nunmehr freundlicheren Tons und meist sehr viel prÇziseren Analysen als zuvor<br />

auch weiterhin noch nicht zu vermitteln sind, und, wie die seit 1993 weitergefÅhrte Kontroverse<br />

wohl deutlich genug belegt, interpretationsstrukturierend wirken, wobei AufklÇrer nicht<br />

nur gegenÅber Apologeten, sondern auch gegenÅber wissenschaftlich orientierten, prochristlichen<br />

Autoren Vorteile und erhebliche Nachteile haben: Letztere verfÅgen hierzulande noch<br />

immer Åber einfluÉreichere Medien, partizipieren im zunehmend an lÇngerer Leine gefÅhrten<br />

unerklÇrten und z.T. unfreiwilligen, im Effekt jedoch strukturkonservativen BÅndnis mit an<br />

verteilungsskandalÄser Beibehaltung des status quo Interessierten an gesellschaftlicher Macht,<br />

haben deren Ressourcen usw. weiterhin auf ihrer Seite, genieÉen zumal in dem seit 1990 noch<br />

breiter gewordenen GÅrtel deutschsprachiger SÅdstaaten selbst an ‘eigentlich’ freier Lehre<br />

und Forschung verpflichteten Hochschulen wohl noch immer bessere „Beruf(ung)schancen“<br />

und erfreuen sich notfalls sogar eigens fÅr sie eingerichteter Reservate mit z.T. beneidenswerten<br />

MÄglichkeiten von Studentenmassen weitestgehend unbehelligten, selbstbestimmten<br />

Glasperlenspiels, mÅssen extra muros freilich weit mehr Geist aufwenden (und sogar – paradox<br />

genug – ‘besitzen’) als AufklÇrer, um z.T. kuriose und historisch hÄchst belastete Auffassungen<br />

in immer neuen, zeitgemÇÉ gestalteten Versionen zu offerieren, haben, je seriÄser sie<br />

selbst sind, deshalb auch nicht selten Probleme im Selbstbezug, was hier nicht auszufÅhren<br />

ist. AufklÇrer hingegen kÄnnen in der Regel zwar leichter argumentativ Paroli bieten, da u.a.<br />

von weniger Denkverboten behindert, sind ansonsten aber in vielfacher Hinsicht benachteiligt,<br />

wenn man davon absieht, daÉ sie sich als Glied der vielleicht wertvollsten abendlÇndischen<br />

Tradition empfinden kÄnnen, der Tradition konsequenter humanistisch orientierter kritischer<br />

AufklÇrung nÇmlich.<br />

(3) Doch hier schlage ich abschlieÉend den Bogen zurÅck zu dem in der Einleitung von<br />

DlJ bereits vorgezogenen ResÅmee mit all den dort prÇsentierten vollmundigen Behauptungen,<br />

die abschlieÉend im Sinne einer Ringkomposition als nun DlJ-belegte Warnung nochmals<br />

zitiert seien, um erkennen zu lassen, wie hochgestochene AnkÅndigungen scheitern kÄnnen.<br />

Wie erinnerlich hatte sich DlJ unter die Beweispflicht fÅr folgende Thesen gestellt:<br />

1. in Na wird monokausal argumentiert;<br />

2. in Na wird behauptet, „man kÄnne den gesamten“ Text „Nietzsche(s)“ rekonstruieren; und<br />

zwar „durch Hintergrundarbeit am verschriftet vorliegenden Text Nietzsches“.<br />

3. FÅr diese Rekonstruktionsleistung wird in Na hÄchste epistemische QualitÇt beansprucht,<br />

denn sie erfolge nicht nur „sicher“, sondern auch „vollstÇndig“ (S. 21).<br />

halt dieses III. Teils: A. „Mir will es eher scheinen“ oder Philosophische Fundamentaldifferenzen im<br />

Spannungsfeld von Christlicher Philosophie und (selbst)kritischer AufklÇrung? 1. Eine Wiener-<br />

SchmÇh-Einlage in den Nietzsche-Studien? 2. Divergente Philosophietraditionen? 3. Selbstimmunisierungen<br />

und Verharmlosungen? B. „unleugbar“ und „so deutlich, daÉ ich mir nicht erklÇren kann“: ein<br />

multifunktionaler Kryptoexorzismus oder Verweisen UntertÄne und Kontext der Philologie auf einen<br />

Zusammenhang? 1. „unleugbar“? 2. Angst – Problemfluchtstrategien – Exorzismus? 3. Ein harter<br />

Kern in sÅÉer Frucht? 4. Metternich usque ad infinitum? Ein Gedankenexperiment. 5. Eine Improvisation<br />

à la Ernst Ortlepps Der Traum oder Bilder einer Nacht? (S. 161-206).<br />

225


4. Der „Nachweis“, daÉ „dieser Text der Kindheit Nietzsches nicht in der VollstÇndigkeit rekonstruiert<br />

werden kann, wie dies“ auch Na annimmt, erfolgt „historisch-kritisch“ und<br />

„methodologisch“; ebenso erfolgt<br />

5. der „Nachweis“, daÉ „auch der“ noch „rekonstruierbare Teil“ des Textes der Kindheit<br />

Nietzsches „viele Schlussfolgerungen“, die auch durch Na „gezogen werden, nicht zulÇsst“,<br />

sowohl „historisch-kritisch“ als auch „methodologisch“ (S. 29).<br />

So fragt sich, was ist davon und was ist in Beantwortung der ebenfalls in 3.2. exponierten 14<br />

Fragen, die aus obigen Behauptungen abgeleitet werden konnten, als tatsÇchlich erbrachte<br />

NaK-kritische Leistung der Metakritik nicht zum Opfer gefallen? Keine der 14 Fragen wurde<br />

stringent positiv beantwortet; auÉerdem stellt der Aufweis von Theodizeeproblemhaltigem<br />

usw. in Nietzsches frÅhen Texten ja nur eines 354 der diversen Themenfelder dar, die Vf. in<br />

diesen Texten aufgezeigt hatte. Die ‘begrÅndete’ Beantwortung der meisten dieser 14 Fragen<br />

scheint wohl schon deshalb unterblieben zu sein, weil der Autor zu klug war, sein interpretatives<br />

Scheitern noch deutlicher erkennen zu lassen; daÉ jedoch nicht einmal der Versuch identifizierbar<br />

ist, jede dieser Fragen im Sinne des Autors positiv zu beantworten, dÅrfte auch mit<br />

dem Sachverhalt zu tun haben, daÉ DlJ ja nicht mit der Nak-Kritik S. 131 endet, sondern daÉ<br />

diese nicht zuletzt die Funktion hatte, Freiraum fÅr eine eigene, alternative Deutung der Entwicklung<br />

Nietzsches zu schaffen. So ist zumal die NaK-Kritik zwar miÉlungen, doch die<br />

zweifelsohne kenntnisreiche Deutung mancher Facetten der spÇteren religionskritischen Entwicklung<br />

Nietzsches in DlJ ist dennoch lesenswert. 355<br />

3.8.2. Prinzipienorientiertes Fazit<br />

Um auch prinzipienorientiert aus hoher, sehr distanzierter Vogelschau zusammenzufassen:<br />

Die beiden basalen VorwÅrfe, MonokausalitÜt und Äberzogene SchluÖfolgerungen, die DlJ<br />

schon in der Einleitung – mancher liest ja nicht mehr, sollte aber mit der erhofften Quintessenz<br />

von DlJ bedient werden – so schÄn als bewiesen offeriert, treffen also, was die BelegqualitÇt<br />

der Argumentation des Autors betrifft,<br />

zum einen schon angesichts des hypothetischen Charakters, der vielfÇltigen InterpretationsansÇtze<br />

und breiten Themenpalette von Na als eines Spurenlesens in Texten des frÅhen<br />

Nietzsche nicht zu;<br />

zum anderen scheiterten die BemÅhungen, sie zu belegen, schon daran, daÉ sowohl der Versuch,<br />

an zwei exemplarischen frÅhen Texten Nietzsches, den Moses-Versen und Der GeprÄfte,<br />

die Interpretationen der KindheitsbÇnde von Nietzsche absconditus, 1991, generell<br />

zu problematisieren – genauer: in experimenta crucis zu suspendieren -, in wohl jeder relevanten<br />

Hinsicht nicht nur implodierten, sondern daÉ die Metakritik dabei so massive Recherche-<br />

und Argumentationsfehler zumal im Bereich des basalen experimentum crucis,<br />

der Widerlegung der NaK-Interpretation von Der GeprÄfte, zu belegen vermochte, daÉ<br />

kaum mehr verwundert, daÉ auch der im AnschluÉ vorgenommene Versuch, methodologisch<br />

basale InterpretationsansÇtze der KindheitsbÇnde zu unterlaufen oder einen unhermeneutischen<br />

argumentativen Zirkel aufzuweisen, ebenfalls nicht erfolgreich sein konnte;<br />

zum dritten freilich ermÄglichte vielleicht erst des Autors erneute Kritik, die zwar frÅh gehegten<br />

jedoch noch kaum in Details belegbaren BefÅrchtungen des Verfassers, die Nak-<br />

Kritiken Hans Gerald HÄdls hÇtten aus was fÅr GrÅnden auch immer primÜr theodizeeproblemflÄchtige<br />

christentumsapologetische Motive, in unerwarteter Klarheit und Eindeutigkeit<br />

– doch noch immer: ‘nur hochgradig hypothetisch’ – schon insofern zu belegen,<br />

als wohl erst diese Hypothese ermÄglicht eine auf erstaunlich weite Perspektive konzipierte<br />

Systematik ‘Wiener ákumenischer Interventionen’ zugunsten einer interpretatio christiana<br />

Nitii erkennen zu lassen, die mit einer freilich eher noch langfristiger angelegten Stra-<br />

354 DaÉ der Autor sich hier in DlJ vor allem auf dieses Thema konzentriert und meine Metakritik<br />

HÄdls Argumenten folgt, bedeutet also noch lange nicht, daÉ NaK deshalb monokausal argumentiert.<br />

355 Vgl. dazu Hermann Josef Schmidt: Haarscharf daneben.<br />

226


tegie des Verfassers 356 zwecks Befreiung der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> von weltanschaulichen<br />

oder religiásen Okkupationen kollidierte (und wohl auch kollidieren muÉte);<br />

zum vierten schlieÉlich konnten die in DlJ exponierten kritischen EinwÇnde, selbst wenn sie<br />

wider alle Wahrscheinlichkeit sogar berechtigt wÇren, zumindest in Anwendung bisher<br />

eingebrachter Argumente schon deshalb nicht belegt – geschweige denn: ‘bewiesen’ –<br />

werden, weil diesem die Hydra Nietzsche absconditus mit mittlerweile abnehmendem Impetus<br />

bekÇmpfenden Herakles ein detailkompetenter, antikekundiger sowie ‘geistesfreier’<br />

Iolaos bzw. die weit leuchtende Fackel antikekundiger sowie weltanschauungskritischer<br />

Analyse noch fehlt; und erstaunlicherweise zumal im Zusammenhang der selbstgewÇhlten<br />

experimenta crucis sogar das Florett detailkompetenter sowie formal stichhaltiger Argumentation<br />

auf eine Weise entglitten zu sein scheint, als ob es sich bei Nietzsche absconditus<br />

um eine traumatisierende, Erstarrung auslÄsende Gorgo 357 und nicht vielmehr um einen<br />

hochhypothetischen erstmaligen Versuch handeln wÅrde, Nietzsche bereits in seinen<br />

frÄh(st)en Texten als denjenigen mÄglichst tiefenscharf zu identifizieren, der (seine) eigene(n)<br />

DenkfÜhrten bereits aufgenommen und entsprechende poetische Spuren gelegt hat.<br />

3.8.3. Ansatzorientiertes Fazit oder ein interpretatives Katastrophenprogramm?<br />

Wie bei fast allen seiner Interpretationen hat Vf., wenn er meinte, argumentativ reiche es<br />

lÇngst, einige (und zuweilen auch wichtigere) Argumente bis auf weiteres zurÅckbehalten.<br />

(1) Ein zentrales, auch in den beiden DlJ-Rezensionen noch zurÅckgestelltes, prÜmissendestruktives<br />

kritisches Argument ist das eines m.E. generell verfehlten Ansatzes der gesamten<br />

mit DlJ vorgestellten Untersuchung. Streng genommen hatte sich der Autor von DlJ nÇmlich<br />

in eine ausweglose Situation manÄvriert, da er bereits im Ansatz Heterogen-GegenlÇufiges<br />

mit dem ruinÄsen Effekt zu integrieren suchte, daÉ er keine der drei in Titel und Untertitel<br />

inserierten Intentionen einzulÄsen vermochte; was – nochmals sei es betont – nicht ausschlieÉt,<br />

daÉ der in Einzelpartien zerfallende Band dennoch lesenswerte, hochrangige Kapitel<br />

bzw. Argumentationspassagen enthÇlt.<br />

Dazu nun etwas genauer. Titel und Untertitel suggerieren Dreifaches: 1. „Der letzte JÄnger<br />

des Dionysos“ suggeriert eine Darstellung von Nietzsche als des letzten JÅngers des Dionysos,<br />

356 Schon wÇhrend seiner Studentenzeit, etwa ab Winter 1963/64, hatte Vf. nach einem ihn Åberraschenden<br />

frÅhen Promotionsangebot in Philosophie sich fÅr den Fall, es gelÇnge ihm sogar, Hochschullehrer<br />

in Philosophie zu werden, vorgenommen, mangelnde interpretative SeriositÇt wenigstens<br />

innerhalb der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> im Sinne einer ‘Ehrenrettung Nietzsches’, den er trotz zahlreicher<br />

Fragezeichen angesichts seiner VerÄffentlichungen z.T. auch von 1870-1876 und von 1883ff. fÅr<br />

einen (spÇter verzweifelten) AufklÇrer hielt, exemplarisch aufzuweisen, da ihn vor allem ‘christliche’<br />

interpretative Nietzscheklitterungen, die er als symptomatisch und fÅr das damalige Restaurationsklima<br />

ab 1945 fÅr exemplarisch einschÇtzte, nachhaltig Çrgerten. (Nach Nietzsches Sokratesbild, der im<br />

Sommer 1967 eingereichten Dissertation, waren damals Nietzsche und Platon sowie als drittes Projekt<br />

eine Destruktion sÜmtlicher WiedertÜuferinterpretationen von ihren AnsÇtzen her geplant. Doch der<br />

eine in hohem MaÉe selbstbestimmte HochschullehrertÇtigkeit versprechende und unter bestimmten<br />

Bedingungen auch einlÄsende Wechsel nach Dortmund Çnderte fast alles.) Der äbertragung theologischer<br />

und nach meinem Eindruck prinzipiell apologetischer Argumentationsmuster in philosophische<br />

und wissenschaftliche Argumentationen mÅÉte endlich wohlbegrÅndeter Einhalt geboten werden, weil<br />

nach meinem Empfinden ansonsten das Problem grassierender interpretativer Korruption wohl noch<br />

schwerer als Problem erkannt werden dÅrfte.<br />

357 In Hermann Josef Schmidt: Haarscharf daneben bzw. (V)ERKANNTER NIETZSCHE? ist angedeutet,<br />

daÉ DlJ wirkt, als ob der Autor wie von einem Bann befreit worden sei, nachdem in der genetisch<br />

angesetzten Untersuchung Nietzsches SchÅlerzeit, deren Texten Na ja galt, zugunsten der Weiterentwicklung<br />

Nietzsches wÇhrend der Studentenjahre verlassen worden war. Vor allem die Nietzsches<br />

Texten ab 1881 geltenden umfangreichen Teile 4 und 5 (S. 361-593) wirken sehr viel stimmiger und<br />

auch souverÇner.<br />

227


was m.E. wenigstens Doppeltes impliziert: (a) eine der Entwicklung Nietzsches folgende<br />

Analyse, die sich in hohem MaÉe auf Nietzsches altertumswissenschaftliches Wissen, auf<br />

Phasen und Inhalte von dessen spezifischen Erwerb und z.T. wechselnder Bewertung, (b)<br />

immer jedoch im Blick auf Dionysos, konzentriert, da das mit „Dionysos“ Gemeinte sonst im<br />

bestenfalls beziehungsreichen Halbschatten verbleibt.<br />

Der Untertitel prÇsentiert einen davon nicht nur in weiten Teilen unabhÇngigen, sondern<br />

sogar in doppelter Weise ‘abstÇndigen’ Ansatz. Die inserierten „Studien zur systematischen<br />

[!!] Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext [!!] seiner Religionskritik“<br />

mÅssen ja nicht nur 2. den zentralen Beitrag zur AusfÅllung obigen Haupttitels leisten, sondern<br />

auch 3. von ihrem eigenen Ansatz her nicht nur intern bzw. ‘horizontal’ kompatibel,<br />

sondern synergetisch effektiv, sowie mit dem Haupttitel ‘vertikal’ kompatibel und synergetisch<br />

effektiv sein. Das meint: Wenigstens einige der Selbstthematisierungen Nietzsches mÅssen<br />

nicht nur im Kontext seiner Religionskritik situierbar, sondern sie mÅssen auch hinreichend<br />

informationshaltig bzw. leistungsfÇhig sowie – sollte es sich nicht um Bluff handeln –<br />

von sogar systematischer Bedeutung sein. Genau dies – Informationshaltigkeit und systematische<br />

Bedeutung – ist in einer erfreulicherweise der Entwicklung Nietzsches folgenden Untersuchung<br />

jedoch vor allem dann mehr als nur problematisch, wenn man den spezifischen Ansatz<br />

des Autors wÇhlt. Zwar liegt aus Nietzsches Kindheit und der restlichen SchÅlerzeit eine<br />

Reihe expliziter und zum Teil sogar ausfÅhrlicher Selbstthematisierungen vor, so daÉ es an<br />

‘Material’ nicht fehlt – doch jede von ihnen ist mehr oder weniger exoterisch, denn kaum ein<br />

einziger dieser z.T. umfangreicheren Texte ist und bleibt rein privat. So lÇÉt sich angesichts<br />

der Tabuierung auch nur christentumsskeptischer – geschweige denn: kritischer – Aussagen in<br />

Nietzsches Familie und spÇter in der Phase behÄrdlich betriebener Rechristianisierung der<br />

christlichen Landesschule Pforte 358 aus Nietzsches Selbstthematisierungen in wenigstens drittleseroffenen,<br />

meistens jedoch offiziellen Texten (SchulaufsÇtzen, LebenslÇufen usw.) der<br />

SchÅlerjahre nur dann religionskritisch Relevantes eruieren (worum es dem Autor offiziell ja<br />

geht), wenn dabei zuvor ganz andere Texte im Fokus stehen (bei deren Analyse erst diejenigen<br />

Gesichtspunkte erarbeitet werden, deren Kenntnis dann jedoch ermÄglicht, in den vom<br />

Autor schwerpunktmÇÉig und untertitelkongruent berÅcksichtigten Texten die entsprechenden<br />

Gesichtspunkte – so Åberhaupt vorhanden – meist in nur abgeschwÇchter Form identifizieren<br />

zu kÄnnen); Texte aber, die der Autor nicht berÅcksichtigte, weil sie allenfalls sehr indirekt<br />

selbstthematisierungsrelevante Texte des Kindes oder Jugendlichen Nietzsche waren bzw. zu<br />

sein scheinen. Anders formuliert: Nietzsches Religionskritik lÇÉt (und: lieÉ) sich in ihrer Genese<br />

durchaus und z.T. sogar in Details rekonstruieren – doch leider nicht aus denjenigen<br />

Texten, die wie LebenslÇufe, Autobiographien usw. im Sinne des Autors als primÇre Selbstthematisierungen<br />

zu verstehen und deshalb auch vom Autor wenigstens z.T. berÅcksichtigt<br />

sind. Sie sind nÇmlich erst dann aufschlieÉbar, wenn zuvor diejenigen Texte, in denen das<br />

Kind und der Jugendliche sich christentums- und im Ansatz auch religionskritisch artikulieren,<br />

bereits analysiert wurden: vor allem also ‘griechischen’ Sujets geltende Texte des Kindes<br />

sowie des Jugendlichen. Diese erst schlagen zwar Åber oft weite Strecken BrÅcken sogar zu<br />

„Dionysos“, fallen aber nach Auffassung des Autors nicht unter Nietzsches „Selbstthematisierungen“,<br />

die nicht nur den Ausgangsbereich von DlJ bilden, sondern sogar von systematischer<br />

„Bedeutung im Kontext seiner Religionskritik“ sein sollen.<br />

Das bisher Skizzierte ist zwar schon ruinÄs genug, doch nun erst wirkt die Konstellation<br />

fast schon absurd oder wenigstens tragisch, denn nicht zugunsten seiner eigenen, auf den spÇten<br />

letzten JÅnger des Dionysos hinzielenden Konzeption sowie Argumentation, sondern um<br />

die von ihm als wichtigste, mit seinem Ansatz als konkurrierend eingeschÇtzte <strong>Nietzscheinterpretation</strong>,<br />

Nietzsche absconditus, 1991-1994, einem beeindruckend erfolgreichen experimentum<br />

crucis unterziehen zu kÄnnen, wÇhlt der Autor einen Text des wohl elfjÇhrigen Kin-<br />

358 In NaJ I, 1993, Teil II, S. 131ff., wurden diese und verwandte Fragen berÅcksichtigt.<br />

228


des (Der GeprÄfte) aus, dem er jedoch tragischerweise einerseits alles ‘Griechisch-Heidnische’<br />

zugunsten der Unterstellung christlicher Intentionen abzusprechen sucht (wobei er ihn<br />

unglÅcklicherweise auch noch weitestmÄglich mit einem zweiten, inhaltlich unbekannten<br />

Text, von dem wir lediglich den Titel und 9 Rollen bzw. „Personen“ haben, Die Gátter vom<br />

Olymp bzw. Die Gátter auf den Olymp, konfundiert sowie zwecks maximaler Parallelisierung<br />

entsprechend entspezifiziert); und er versucht seit 1993 dem Kind Nietzsche ausgerechnet<br />

diesen so informationshaltigen Text als Selbstzeugnis abzusprechen, da er dessen selbstÇndige<br />

Autorschaft (wie in 3.4.4.4. belegt) zu negieren sucht; freilich auf eine Weise zu negieren<br />

sucht, die an der interpretativen Sorgfalt und Kompetenz des Autors zweifeln lieÉe, wenn es<br />

sich dabei nicht (ebenso wie beim GroÉteil der restlichen NaK-Kritik) um einen mittlerweile<br />

nachvollziehbaren tendenziÄsen ‘AusreiÉer’ handeln wÅrde. „tragischerweise“ deshalb, weil<br />

dieser Çlteste bisher bekannte ‘Griechen’-Text des Kindes einen wohl idealen Ausgangspunkt<br />

einerseits der frÅhen Christentumsproblematisierung bzw. -kritik des Kindes bildet und andererseits<br />

BezÅge zur spÇteren Dionysosthematik – und sei es nur Åber spezielle Kontraste –<br />

ermÄglicht. Dazu kommt: Sowohl die theodizeeproblemhaltigen und damit aus Perspektive<br />

des ‘erweckten’ Lebenshintergrundes des Kindes christentumskritischen anderweitigen Texte<br />

des Kindes wie Alfonso oder Rinaldo bleiben seitens des Autors ebensowenig berÅcksichtigt<br />

wie die beiden Gewittergedichte der Sammlung zum 2.2.1856 sowie 1858 und die Theodizeeprobleme<br />

exponierenden weiteren ‘Griechen’-Gedichte des Kindes. So liegt die spezifische<br />

theodizeeproblemnegierende NaK-Kritik von DlJ schon deshalb quer zu einigen unverzichtbaren<br />

Voraussetzungen der Erarbeitung des im Titel von DlJ Implizierten, weil zunehmend<br />

radikale Theodizeeproblematisierung schon des Kindes Nietzsche (und des portenser Alumnen<br />

ohnedies) mit der FrÄhphase der Religionskritik des Denkers Nietzsche wenn nicht identisch<br />

so doch nÜchstverwandt bzw. das wohl relevanteste Teilelement gewesen sein dÄrfte.<br />

Um mÄglichst verstÇndlich und im Vorgriff zu formulieren: Das, was der Autor benÄtigen<br />

wÅrde, um tragfÇhige BrÅcken zur spÇten, keineswegs christentumsbejahenden Dionysosapotheose<br />

Nietzsches schlagen zu kÄnnen, negiert er aus NaK-Kritikintentionen sogar doppelt: 1.<br />

in Minimierung von Eigenanteilen des frÅhsten Nietzsche bei dem in Blick auf Nietzsches<br />

spÇte Selbstkennzeichnung wohl relevantesten sehr frÅhen Text – Der GeprÄfte darf nicht<br />

vom Kind alleine geschrieben worden sein, sondern hat den so braven Freund Wilhelm als<br />

Co-Autor, kann damit auch interpretativ christophil trivialisiert werden – und 2. ist auch ‘der<br />

griechische Anteil’ von Der GeprÄfte zugunsten einer interpretatio christiana zu minimieren.<br />

So konfligieren der Titel von DlJ sowie die NaK-Kritikintention samt -ausfÅhrung basal (und<br />

wohl auch tragisch). Ein interpretatives Katastrophenprogramm?<br />

So hÇngt fÅr den Autor jedoch die weitere christentums- und cum grano salis religionskritische<br />

auf Nietzsche als letzten JÅnger des Dionysos hinlaufende Entwicklung Nietzsches quasi<br />

‘in der Luft’. Denn auch in Nietzsches ersten portenser Jahren folgt der Autor ja der griechisch-religionskritischen<br />

Linie, die den Zeitraum von FrÅhjahr 1859 bis Herbst 1861 ÅberbrÅcken<br />

wÅrde, um dann im FrÅhjahr 1862 mit Fatum und Geschichte scheinbar neu einsetzen<br />

zu kÄnnen, konsequent nicht... So zeigt sich in der Diskussion der religionskritischen<br />

Entwicklung des Jugendlichen ebenso wie des Studenten, daÉ der Autor zwischen unterschiedlichen<br />

AnsÇtzen und z.T. Åberzeugenden Deskriptionen jedoch pendelt – genauer: zu<br />

pendeln gezwungen ist –, d.h. aber, daÉ der Autor die sich entwickelnde Religionskritik<br />

Nietzsches nicht konsequent aus dessen expliziten frÅhen Selbstthematisierungen zu gewinnen<br />

vermag, sondern gezwungen ist, partiell Exoterisches (wie bestimmte auf seine Freunde<br />

bezogene Passagen des Vortrags Fatum und Geschichte des 17jÇhrigen bspw.) nun als nietzscheauthentisch<br />

fehlzuinterpretieren. So daÉ er in Folge seiner Ausblendung der ‘griechischen’<br />

religionskritischen Entwicklungslinie des Portensers Nietzsche zu einem weit konventionelleren<br />

VerstÇndnis Nietzsches gelangt als dies der Fall wÇre, wenn der Autor klarer zwischen<br />

Nietzscheauthentischem und auf die Freunde Bezogenem zu differenzieren gesucht<br />

sowie vermocht hÇtte.<br />

229


Anders formuliert: (1) die Selbstthematisierungslinie, (2) die ‘Griechen’- sowie spÇter u.a.<br />

auch die ‘Dionysos’-Linie – und schlieÉlich (3) die Religionskritiklinie verlaufen beim<br />

frÅh(st)en Nietzsche anfangs nur z.T. parallel: Vor allem die explizite Selbstthematisierungsund<br />

die Religionskritiklinie berÅhren sich in Nietzsches ersten Jahrzehnten aus lÇngst rekonstruierten<br />

GrÅnden nur sehr wenig; ganz anders die in der spÇten erklÇrten Selbstdiagnose als<br />

letzten JÅngers des Dionysos auslaufende ‘Griechen’linie sowie die diversen Religionskritiklinien.<br />

Doch die Erstere spielt in DlJ keine erklÇrte Rolle, wird, noch immer verbissen in die<br />

NaK-Kritik, vom Autor tragisch verfehlt. Erst beim spÇteren Nietzsche verbinden sich (bei<br />

sich verschiebender Dominanz) die drei Linien in zunehmendem MaÉe – doch dann versteht<br />

man sie in ihrer Genese sowie in ihrer Spezifik zu wenig.<br />

SchlieÉlich: wenigstens psychisch auflÄsen lieÉe sich die skizzierte Konstellation wohl nur<br />

unter einer einzigen Bedingung: Wenn es dem Autor darum gegangen wÇre, Nietzsches Religionskritikgenese<br />

auf eine mÄglichst harmlose, domestizierte Weise zu diskutieren, hÇtte er<br />

fÅr das Kind und den Jugendlichen kaum einen geeigneteren textlichen Ausgangspunkt finden<br />

kÄnnen als die Serie vorliegender nicht durchgÇngig authentischer, bis zum Abgang des knapp<br />

ZwanzigjÇhrigen von Pforte drittleseroffener oder sogar adressatenorientierter grÄÉtenteils<br />

autobiographischer Texte. Doch wollte der Autor ein derart eindeutiges apologetisches Programm<br />

‘durchziehen’ und sogar auf hÄchster akademischer sowie auf renommierter Publikationsebene<br />

‘absegnen’ lassen? 359<br />

359 Da Vf. sich dessen nicht vÄllig sicher ist, zur Genese dieser vielleicht erst im Endeffekt so ruinÄsen<br />

Konstellation wieder einmal quasi als Gegenprobe (auch zu entsprechenden äberlegungen in 3.6.5.)<br />

die Entwicklung einer kontextberÅcksichtigenden wohlwollenden Vermutung, daÉ die Konzeption der<br />

schlieÉlich den Titel DlJ tragenden Untersuchung(en) noch aus den frÅhen 1990er Jahren stammt und<br />

sich vielleicht erst im Laufe der Weiterarbeit (zumal nach dem Tod seines GesprÇchspartners) als nicht<br />

mehr prinzipiell revidierbares, zu unflexibles Korsett erwiesen haben kÄnnte, weil der bereits seit dem<br />

1.4.1994 am Religionswissenschaftlichen Institut Arbeitende, innerhalb weniger Jahre nun mit einer<br />

dritten groÉteils fremden ÇuÉerst einarbeitungsintensiven ‘Materie’ konfrontiert, sich wie schon vom<br />

1.4.1988 an – statt weiterhin Theologie nun aber einerseits Vorbereitung einer Edition der Texte des<br />

SchÅlers Nietzsche und andererseits wohl zeitgleich dazu eine philos. Dissertation Åber den kathol.<br />

Religionsphilosophen Ferdinand Ebener – nun nochmals gezwungen sah, groÉenteils Neuland zu betreten.<br />

So lag fÅr den Autor wohl schon aus Zeitmangel nahe, auf lÇngst Erarbeitetes idealiter zugunsten einer<br />

Habilitation Åber Nietzsche zurÅckzugreifen. LÇngst erarbeitet waren vermutlich Nietzsches autobiographische<br />

Texte unter dem Gesichtspunkt der Selbstthematisierung – ein zweifelsohne attraktives<br />

Thema, das jedoch kaum als habilitationsadÇquat anzusehen ist. Also muÉte ‘auf-‘ bzw. ‘nachgerÅstet’<br />

werden. Da die Auseinandersetzung des Autors mit Na wohl lÇngst vor ausgereifteren HabilitationsplÇnen<br />

in kritische Stadien getreten war, eine Destruktion der kritischen AttitÅde von Na aber, um<br />

eigenen ‘interpretativen Freiraum’ zu gewinnen, unumgÇnglich war, auÉerdem auch im Interesse unterschiedlichster<br />

Interpreten gelegen haben kÄnnte, die sich mangels spezifischen Sachwissens aber<br />

nicht zutrauten, sich selbst entsprechend Äffentlich – unter der Hand freilich desto eifriger – zu artikulieren,<br />

war der Autor Åber Jahre in die hochattraktive, singulÇre Rolle eines nietzschetextkompetenten<br />

Kronzeugen gegen den Vf. gerÅckt. So konnte er schon deshalb davon ausgehen, auf breite Sympathie<br />

zu stoÉen, wenn es ihm gelÇnge, idealiter in einer der Religionskritik Nietzsches gewidmeten Untersuchung<br />

basale sowie stichhaltige Kritik an zentralen Interpretationen des Vf.s zu Åben. AuÉerdem lag<br />

dazu seitens des Autors auch bereits einiges vor, das lediglich noch zu spezifizieren, zu systematisieren,<br />

zu integrieren und vor allem freilich qualitativ erheblich zu verbessern war. Eine offene Flanke<br />

jedweder nietzschebezogenen Argumentation des Autors lag zwar in seiner wenig ausgeprÇgten<br />

Kenntnis antiker Literatur, Mythologie usw., doch das unterschied ihn von seinem GesprÇchspartner<br />

und den wichtigsten seiner Kombattanten nicht, lieÉ sich ggf. durch interpretatio christiana der betreffenden<br />

Texte des frÅhsten Nietzsche vor allem dann kompensieren, wenn es gelingen sollte, spezifische<br />

EinwÇnde des Vf.s zu unterlaufen. Damit war auch das Risiko minimiert, daÉ ein interpretativer<br />

Ansatz, der erlaubt, die zahlreichen graecophilen Texte des Kindes Nietzsche ebensowenig berÅcksichtigen<br />

zu mÅssen wie die entsprechenden Fortsetzungen wÇhrend der ersten fÅnf portenser Semes-<br />

230


(2) Ein ganz anderes ProblembÅndel betrifft die Frage der Konsistenz, Konstanz und Relevanz<br />

des NaK-kritischen Ansatzes von DlJ auch dann, wenn die unter (1) skizzierten ProblemzusammenhÇnge<br />

ausgeklammert bzw. als irrelevant aufgewiesen werden kÄnnten.<br />

Mit dieser Frage ist einerseits zwar ein Problem angesprochen, das fÅr jede anspruchsvolle<br />

Untersuchung eine Rolle spielen dÅrfte, die Åber einen lÇngeren Zeitraum wie bspw. Åber 5<br />

oder noch mehr Jahre durchgefÅhrt wird (was nicht nur fÅr Na, sondern auch fÅr DlJ gelten<br />

dÅrfte). Sollte ein Autor nicht vÄllig einsichtsresistent, sondern lernfÇhig sowie ggf. sogar<br />

lernbereit sein, so steht zu vermuten, daÉ sich das in der betreffenden Untersuchung erfreulicherweise<br />

auch bemerkbar macht, d.h. von BefÅrwortern ebenso wie von Kritikern identifiziert<br />

werden dÅrfte. Da meistens Verbesserungen auch dann resultieren, wenn vielleicht der<br />

Stil, ‘die Geschlossenheit’ und die äbersichtlichkeit der betreffenden Untersuchung dabei<br />

leiden kÄnnten, sollten identifizierbare Einsichtsgewinne dann auch nicht gegen den betreffenden<br />

Autor negativ geltend gemacht werden kÄnnen.<br />

Andererseits freilich wird (wie im gegenwÇrtigen Fall) angemessene Kritik dann schwierig,<br />

wenn der Eindruck gewonnen werden sollte, daÉ anfangs und vielleicht Åber viele Jahre<br />

mÄglicherweise auch rufschÇdigende, konsequenzenreiche – nach nÇherer Analyse seitens des<br />

Vf.s aber jeweils als wenig substantiell aufgewiesene – und anfangs in DIJ, S. 21 und 29 (vgl.<br />

oben 3.2.), ‘fast auf den Begriff gebrachte’ Kritik dann aber in spÇteren Passagen von DIJ<br />

sukzessive auf eine Weise so zurÅckgenommen werden soll, daÉ einerseits sich der Autor als<br />

Person nahezu salviert, andererseits freilich all’ die in die Fachwelt gesetzten und durch DIJ,<br />

S. 21 und 29, ergÇnzten Thesen usw. nicht nur ihren ggf. irreversiblen Flurschaden lÇngst unkorrigiert<br />

angerichtet haben, sondern auch kÅnftig ‘nicht mehr aus der Welt zu bringen’ oder<br />

‘an irgend eine Leine zu nehmen’ sind.<br />

Vielleicht nur ein metakritisch Orientierter wie d. Vf. wird dann auch dieses Problem noch<br />

als Problem ansprechen, verdeutlichen sowie trotz des Faktums, daÉ ‘Tieferes’ oftmals eher<br />

‘im AtmosphÇrischen verbleibt’, auch belegen. Was nun im Blick auf DlJ geschehen soll.<br />

Meine Diskussion von ‘HÄdls zusammengefaÉten äberlegungen zum zweiten experimentum<br />

crucis’ (in 3.4.4.4.7.) hatte ich wie erinnerlich eingeleitet mit: „Eine erfreulich differenzierte<br />

und Åberraschend vorsichtige – manches zuvor AusgefÅhrte seinerseits nun fast zurÅcknehmende<br />

oder deutlich abdÇmpfende [...] Zwischenbilanz bietet DlJ [...] am Ende seiner direkten<br />

Auseinandersetzung mit der NaK-Sicht von Der GeprÄfte und dessen Aussagen Åber<br />

Die Gátter auf den Olymp“ usw. Es wurde dabei zwar darauf verzichtet, den auch anderenorts<br />

in DlJ aufweisbaren Sachverhalt ‘breit auszuwalzen’, daÉ der Autor basalen zuvor z.T. leidenschaftlich<br />

bestrittenen wenn nicht ‘bekÇmpften’ Sichtweisen d. Vf.s mittlerweile doch<br />

recht nahe gekommen zu sein, Antipodisches sich zu KontrÇrem und stellenweise zu nur noch<br />

Graduellem sowie sogar zu minimal Graduellem gemildert zu haben scheint, doch vÄllig<br />

Åbergangen soll die offenbar zunehmende Ambivalenz des Autors, die auch in 3.4.1. angedeu-<br />

ter, obwohl primÜr dort die Genese von Nietzsches frÅher Christentums- und Religionskritik zu eruieren<br />

war, noch auf basale nietzsche- und antikekundige Kritik stoÉen kÄnnte. Was jedoch die Ausblendung<br />

frÅher ‘Griechentexte’ und der Uminterpretationsversuch von Der GeprÄfte in Richtung einer<br />

interpretatio christiana usw. fÅr die LeistungsfÇhigkeit seines eigenen Ansatzes bedeuten kÄnnte –<br />

nÇmlich dessen maximale SchwÇchung –, ist dem Autor wohl ebensowenig wie dem GesprÇchspartner<br />

je klargeworden. Mit den oben skizzierten Folgen. Ein ‘ungutes GefÅhl’ bei alledem scheint der Autor<br />

freilich wohl nie ganz losgeworden zu sein. Vielleicht deshalb hat er den vielleicht interessantesten<br />

Problemtext des frÅhen portenser Nietzsche wohl aus den ersten Monaten nach dessen Konfirmation<br />

am 10.3.1861, das titellose Gedicht Mich trieb der Geist einst in des Waldes Nacht (I 275f. bzw. I 2,<br />

253-255), aus seinem zeitlichen und inhaltlichen autobiographischen Kontext gelÄst und Åberraschenderweise<br />

bereits im biographischen Setting von Nietzsches Kindheit (S. 38f.) diskutiert, wohin er nur<br />

mit wenigen Aspekten der NaJ-I-Argumentation gehÄrt. Um die Relevanz der betreffenden NaJ-I-<br />

Argumentation ÅberprÅfen zu kÄnnen, mÅÉte freilich zuvor Nietzsches Kenntnis von und Auseinandersetzung<br />

mit antiken Texten usw. bis ca. Mai 1861 aufgearbeitet worden sein.<br />

231


tet wurde, nicht, sondern an einer vielleicht nicht nur zentralen, sondern sogar weichenstellenden<br />

fast schon verschwurbelt wirkenden Passage verdeutlicht werden.<br />

GrÅndlichen Lesern kÄnnte – mÅÉte! – aufgefallen sein, daÉ d. Vf. die erste metakritische<br />

Offensive bzw. das Kapitel 3.6. mit einem Zitat des Autors einleitete, das dort jedoch gekÅrzt<br />

worden war (in 3.6.4. dann jedoch vollstÇndig gegeben wurde); und sorgsame Leser kÄnnten<br />

geschmunzelt haben, als sie bemerkten, daÉ wenig spÇter dieses Zitat auch knapp diskutiert –<br />

freilich wiederum nur in seiner verkÅrzten Form diskutiert – wurde. Noch sorgsamere Leser<br />

bzw. Leser, wie Vf. sie Nietzsche wÅnscht, Leser also, die nicht nur (wie Vf. sowohl in NaK<br />

als auch in NaJ I schon als Motto) zitieren, daÉ und wie sehr Nietzsche wÅnscht, sorgsam<br />

gelesen zu werden, sondern die es (d.h. grÅndliches Lesen) dann auch selbst tun, kÄnnen und<br />

in ihren Interpretationen belegen; solche Lieblingsleser haben in DlJ nachgesehen, bei des<br />

Vf.s äberlegungen zu des Autors ‘DenkhintergrÅnden’ (in 3.6.4.) geschmunzelt und seitdem<br />

wohl darauf geachtet, ob und ggf. wann „es“ kommt, ob der Vf. sich AufschluÉreiches entgehen<br />

lieÉ, da er es vielleicht nicht einmal bemerkte, oder ob ggf. und wie er die Gelegenheit<br />

nutzt, ein mÄglicherweise konsequenzenreiches Problem anzusprechen.<br />

Nun erst in medias res. Das meinerseits anfangs nur gekÅrzt gebotene Zitat des Autors:<br />

... „mÅsste Niemeyer eigentlich dazu veranlassen, hier nicht einfach eine These Schmidts,<br />

die von einer solchen Interpretationsstrategie vÄllig abhÇngig, als bewiesen – intersubjektiv<br />

gewiss – zu zitieren. Zur Unwahrscheinlichkeit der intersubjektiven Gewissheit von<br />

Schmidts Interpretation der frÅhen Texte Nietzsches auf Theodizeeproblematik hin vgl. u.,<br />

2.1.4.“ (DlJ, S. 19, Anm. 86)<br />

„Welch’ Wort entfloh dem Gehege deiner ZÇhne?“, hÇtte der Autor in Çlteren ‘Homer’-äbersetzungen<br />

dazu finden kÄnnen. Deutlich ist, daÉ die meinerseits als Motto genutzte Formulierung<br />

dem Autor in seiner bereits in die „Einleitung“ vorgezogenen Auseinandersetzung mit<br />

bestimmten – nach HÄdls Meinung offenbar zu ‘schmidtnahen’ – AusfÅhrungen Christian<br />

Niemeyers in dessen Band: Nietzsches andere Vernunft. Psychologische Aspekte in Biographie<br />

und Werk. Darmstadt, 1998, vielleicht nicht allzu grÅndlich bedacht als Paraphrase ‘in<br />

die Tasten gerutscht’ ist und ihm auch bei den einzelnen KorrekturgÇngen, da schlieÉlich intentionskongruent,<br />

nicht mehr als dåcouvrierend aufgefallen zu sein scheint. Warum „dåcouvrierend“?<br />

Weil die Passage „Zur Unwahrscheinlichkeit [...] vgl. u., 2.1.4.“ doch bei genauerem<br />

Besehen im Kontext von DlJ recht eigentÅmlich ist.<br />

Und warum „recht eigentÅmlich“? Weil der Hinweis ebenso wie einige wenige andere –<br />

neuere? – Passagen in DlJ die Annahme nahelegen, es ginge dem Autor nicht mehr wie noch<br />

zum Zeitpunkt der Konzeption von DlJ und der Ausformulierung Çlterer Passagen – wie in<br />

oben 3.3. unterschiedlichen Orts belegt – ‘beinhart’ darum,<br />

(1) die Unangemessenheit „von Schmidts Interpretation der frÅhen Texte Nietzsches auf Theodizeeproblematik<br />

hin“ zu ‘beweisen’ oder,<br />

(2) im Anspruch bereits deutlich reduziert, wenigstens noch zu ‘belegen’; oder es ginge dem<br />

Autor, nun<br />

(3) nochmals anspruchsreduziert, ‘nur noch’ darum, die „Unwahrscheinlichkeit“ von<br />

„Schmidts Interpretation der frÅhen Texte Nietzsches auf Theodizeeproblematik hin“ zu beweisen<br />

oder<br />

(4) wenigstens zu belegen, sondern, anspruchsreduzierter geht’s wohl kaum noch, schlieÉlich<br />

sogar nur noch darum,<br />

(5) die „Unwahrscheinlichkeit der intersubjektiven Gewissheit“ von Schmidts Interpretation<br />

usw. zu beweisen oder, nochmals anspruchsreduziert, auch nur<br />

(6) zu belegen? SchlieÉlich ist in argumentationsrelevanter Perspektive damit schlicht nichts<br />

mehr ‘bewiesen’ oder auch nur belegt.<br />

232


Zwar mag sich der Autor mit dem Hinweis zu salvieren suchen, er habe lediglich Niemeyers<br />

Formulierung ironisch zitiert, doch das ggf. nur ironisch Zitierte paÉt optimal ins wohl<br />

mehrfach anspruchsreduzierte Konzept bzw. in die (zuletzt noch oben in 3.7. belegte) ‘argumentative<br />

DlJ-Verlaufskurve’ der letzten Jahre der Ausformulierung des Druckmanuskripts.<br />

In der ggf. ironisch paraphrasierten Formulierung Niemeyers ist komprimiert erfaÉt, wodurch<br />

die ‘DlJ-Interpretationsverlaufskurve’ charakterisiert ist bzw. zu werden vermag. Ist in drastischer<br />

mehrfach abgestufter Anspruchsreduktion lediglich noch eine AbwÇgung von Wahrscheinlichkeiten<br />

„von Schmidts Interpretation der frÅhen Texte Nietzsches auf Theodizeeproblematik<br />

hin“ geblieben, die auÖerdem<br />

(7) einem so dubiosen PhÇnomen wie „der intersubjektiven Gewissheit“ von Interpretationen<br />

gelten (dazu schon oben in 3.6.4.)?<br />

WÅrde dieses bis auf das Jux- oder Bluff-Kriterium „intersubjektiver Gewissheit“ minimierte<br />

‘Anspruchsreduktionsprogramm’ als noch argumentativ leistungsfÇhig ernst genommen,<br />

kÄnnte man sich DlJ-legitimiert besten Gewissens auch in religiÄse Konventikel oder in Politsekten<br />

zurÅckziehen. Da hoffentlich nicht nur der Vf. ein epistemologisches ‘Beweis’-Kriterium<br />

wie „intersubjektive Gewissheit“ fÅr geradezu abwegig hÇlt – seien deren Vertreter wer<br />

auch immer –, was schon insofern deutlich wird, daÉ nicht nur mancher vermeintliche consensus<br />

omnium, sondern auch weitestverbreitete ‘intersubjektive Gewissheiten’ allzuoft Torheiten<br />

gelten, wie bspw. religiÄse oder politische Fundamentalisten auch dann in deprimierender<br />

NaivitÇt weltweit demonstrieren, wenn einige gelernt haben sollten, sich in Wissenschaftsvokabular<br />

zu artikulieren, wÅrde sich die gesamte (in DlJ freilich nur passagenweise<br />

wie ein abziehendes Gewitter anmutende) Kontroverse mittlerweile fast schon in Luft auflÄsen.<br />

Womit Vf. durchaus einverstanden wÇre, wenn damit auch sÇmtliche Haupt-, Neben- und<br />

Folgewirkungen innerhalb und auÉerhalb der engeren ‘Nietzscheszene’, denen der Autor seit<br />

spÇtestens 1993 als z.T. agiler Kronzeuge gegen des Vf.s Argumentationen diente, ebenso wie<br />

die vom Gutachterskript von KGW I 1 abweichenden nachtrÇglichen VerÇnderungen, Modifikationen<br />

usw. samt deren Legitimationen und Legitimationsversuchen rÅckgÇngig gemacht<br />

werden kÄnnten. Da daran aber nicht einmal zu denken und die Zeit nicht zurÅckzudrehen ist,<br />

sondern im Gegenteil sogar davon ausgegangen werden muÉ, daÉ die hier destruierten Argumentationen<br />

noch jahrzehntelang ihre dankbaren Vertreter finden werden, erweist sich angesichts<br />

des sich seit spÜtestens Mitte der 1990er Jahre abzeichnenden schleichend sich verstÜrkenden<br />

Flurschadens multimethodischer Marginalisierung sowie EntschÜrfung máglichst<br />

tiefenscharfer, nietzscheadÜquater <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong>, um mich freundlich<br />

verklausuliert auszudrÅcken, diese hier durch d. Vf. vorgenommene – erstmals in aller Deutlichkeit<br />

die Na-kritischen Thesen des Autors von 1993 und 1994 ebenso wie die NaKkritischen<br />

Hauptthesen in DlJ meinerseits destruierende – und Interessierten nunmehr unschwer<br />

zugÇngliche Metakritik als leider auch in ihrer Klarheit und Eindeutigkeit trotz beibehaltenen<br />

hypothetischen Charakters noch als unumgÇnglich.<br />

(3) Um noch weitere Ursachen des Scheiterns der NaK-Kritik des Autors lediglich zu skizzieren:<br />

(a) dessen weitestmÄglich isolierende interpretative Technik scheitert bereits an dem kindlichen<br />

Integrationsgenie Nietzsche deshalb, weil sie viel zu eng angesetzt ist; und das ist vielleicht<br />

vor allem deshalb so, weil sich der Autor, anders als vor allem Renate G. MÅller, wohl<br />

nie so richtig auf die hintergrÅndigeren der Texte dieses Kindes eingelassen hat.<br />

(b) Der erste Satz des Teils 2.1.4., in welchem sich der Autor mit „Hermann Josef<br />

Schmidts „Spurenlesen“ bei Nietzsche“ (S. 68-131) auseinandersetzt, lautet:<br />

„In anderer Akzentuierung geht H.J. Schmidt in seiner Interpretation von den SchicksalsschlÇgen<br />

aus, die dem jungen Nietzsche widerfahren sind.“ (S. 68)<br />

233


Welcher Leser vermutet nun nicht, der spezifische Ansatz von NaK bestÅnde darin, „von den<br />

SchicksalsschlÇgen“ auszugehen, „die dem jungen Nietzsche widerfahren sind“? Doch derlei<br />

LektÅre stellte den Ansatz von NaK geradezu auf den Kopf: Dessen Vf. ging nÇmlich keineswegs<br />

von irgendwelchen SchicksalsschlÇgen oder von anderweitigen Ereignissen in Nietzsches<br />

Leben aus, sondern ausdrÅcklich von Nietzsches frÅhen, in vielem rÇtselhaften eigenen<br />

Texten, die er selbst zu verstehen und spÇter dann auch dem Nak-Leser verstÇndlicher zu machen<br />

suchte, weshalb er erst im Verlaufe seines Spurenlesens zumal in Teil III, in einem<br />

„Blick zurÅck ins AbgrÅndige“ (S. 808-915), biographisch relevante äberlegungen entwickelte,<br />

um anschlieÉend wieder „Nietzsches Selbstbilder und Ichideale“ aus Texten von 1864/55<br />

und 1858 zu eruieren (bis S. 1063). Was ist daran und warum ist das so schwer zu verstehen?<br />

NaK ist vom Ansatz her also primÇr ein Spurenlesen in Nietzsches eigenen frÅhen Texten<br />

(das belegt vor allem Teil II); und nicht etwa eine Biographie mit textinterpretativen Einsprengseln.<br />

Es sei freilich konzediert, daÉ im Laufe der Jahre der Ausdifferenzierung von<br />

NaK (sowie von NaJ) zunehmend biographische Gesichtspunkte in die Interpretation einbezogen<br />

wurden – genauer: werden muÉten –, weil 1. Nietzsche selbst, beginnend in seiner spÇten<br />

Kindheit, zunehmend hÇufiger auf seine eigene Entwicklung zurÅckkam, und weil 2. eine<br />

ausschlieÉlich textimmanente Interpretation – wie noch in Nietzsche und Sokrates, 1969, konsequent<br />

durchgehalten – frÅh an Grenzen stieÉ und erst differenziertere biographische Perspektiven<br />

sowie Analysen, insofern sie Åbliche NaivitÇten zu suspendieren vermochten, zuweilen<br />

nachvollziehbar machten, wie z.T. raffiniert, hintersinnig und nicht selten ambivalent<br />

das Kind und der jugendliche Nietzsche sich mit bestimmten ProblemzusammenhÇngen auseinanderzusetzen<br />

suchte.<br />

(c) SchlieÉlich: Versuche des Autors, von Falsifikationen bestimmter NaK-Interpretationen<br />

frÅhster Texte des Kindes Nietzsche (so sie Åberhaupt zu erfolgen vermochten) auf das LeistungsvermÄgen<br />

von NaK als spezifisches Spurenlesen bei Nietzsche quasiinduktiv ‘hochzurechnen’,<br />

treffen auch jenseits aller logischen KuriositÇten und der MiÉachtung des hypothetischen<br />

Status der Argumentationen in NaK schon ‘materialiter’ nicht zu, weil dann nicht frÅhste<br />

Texte wie Nietzsches Moses-Verse oder auch Der GeprÄfte des ElfjÇhrigen, sondern Texte<br />

des DreizehnjÇhrigen in der NaK-Interpretation Gegenstand der DlJ-Kritik hÇtten sein mÅssen,<br />

da erst aus Perspektive des textinternen wie -externen Kontexts dieser Texte und der entsprechenden<br />

NaK-Interpretationen eine solche Menge an ‘Knoten’ gewinnbar wie dazu erforderlich<br />

gewesen wÇre, um dann aus Perspektive von deren Ensemble das LeistungsvermÄgen<br />

von NaK ggf. kompetenter zu beurteilen. So haben wir hier im Sinne einer weiteren Ringkomposition<br />

eine vergleichbare Konstellation wie oben in (1): So wie die NaK-Kritikintention<br />

des Autors mit dem Effekt der ‘Umwidmung’ und christophilen Fehlinterpretation von Der<br />

GeprÄfte usw. usw. sein Interpretationskonzept in Perspektive von Nietzsche als des letzten<br />

JÅngers des Dionysos fast schon sprengte, so suspendierte die Konzentration des Autors auf<br />

NaK-Interpretationen sehr frÅher Texte des Kindes sein Destruktionskonzept eines in und mit<br />

NaK durchgefÅhrten exemplarischen Spurenlesens in Nietzsches Texten. Hier wie dort stimmten<br />

die PrÇmissen nicht. Doch von den Folgewirkungen eines bestimmten Sogs war schon<br />

frÅher die Rede ... 360<br />

360 Vielleicht bedarf obige Abbreviatur einer Konkretisierung. Deshalb unter dem Strich noch einige<br />

Bemerkungen zur konfligierenden Strategie einer NaK-Kritik als „Spurenlesen bei Nietzsche“ einerseits<br />

und des Autors speziell angesetzter Kritik an NaK als einer den frÅhsten Nietzsche bereits als<br />

Christentumskritiker aufweisenden Interpretation andererseits. HÄdl setzt in seiner NaK-Kritik mit der<br />

Analyse mÄglichst frÅher als theodizeeproblemrelevant behaupteter Texte Nietzsches ein. So versucht<br />

er bei den beiden im Sinne eines experimentum crucis AusgewÇhlten die alleinige Autorschaft Nietzsches<br />

zu bestreiten. DaÉ das bei den Moses-Versen nicht nÄtig war, weil es auf anderes ankam, und<br />

bei dem Lustspiel Der GeprÄfte nicht gelang, muÉ kaum betont werden. Nicht zu Åbergehen hingegen<br />

ist, daÉ, selbst wenn Letzteres gelungen wÇre, der Autor damit im Sinne einer Gesamtbilanz wieder<br />

einmal kaum etwas in seinem Sinne WeiterfÅhrendes erreicht hÇtte. Er hÇtte ohne weitere Zusatzan-<br />

234


nahmen nicht einmal ‘interpretativ gesichert’, daÉ Nietzsche nicht dennoch seine Sichtweise in dem<br />

StÅckchen untergebracht hÇtte. Doch der Kollateralschaden hÇtte seinen Minimalgewinn deutlich Åbertroffen.<br />

Warum? Einerseits: wÇre die Kritik gelungen, daÉ Fritz nicht alleiniger Autor von Der GeprÄfte<br />

war, hÇtte das fÅr die Interpretation seiner Texte zum 2.2.1856 noch nichts bedeuten mÅssen.<br />

Oder sollte deren Autorschaft ebenfalls bestritten werden? Und wÇre auch im Sinne des zweiten Kritikpunkts<br />

– christophile Deutung à la HÄdl anstelle der Interpretation in Nak – der Autor erfolgreich<br />

gewesen, hÇtte das wiederum noch nichts im Blick auf die Sammlung zum 2.2.1857 bedeuten mÅssen.<br />

Oder gar fÅr die Sammlung zum 2.2.1858. Oder fÅr andere Gedichte des Kindes. So hÇtte sich der<br />

Autor also selbst im Falle eines Erfolgs in die Notlage gebracht, alle in NaK als theodizeeproblemrelevant<br />

diskutierten Gedichte von Fritz interpretativ christophil entschÇrfen zu mÅssen, was auf einen<br />

mehrfachen Kollateralschaden hinausgelaufen wÇre: nun wÇren wie bisher weder (1) die ‘Griechengedichte’<br />

des Kindes auszuklammern gewesen, noch (2) hÇtte der Autor es (wie bei den frÅhsten Texten)<br />

mit Texten zu tun gehabt, die aus ihrem textinternen Kontext so leicht zu isolieren gewesen wÇren;<br />

und vor allem: (3) einige Gedichte des ZwÄlf- und DreizehnjÇhrigen sind bei weitem anspruchsvoller,<br />

genauer: was dem Autor noch bei einigen Gedichten der Sammlung zum 2.2.1856 an EntschÇrfung<br />

vielleicht gelungen wÇre, hÇtte sein zweites experimentum crucis mehr in seinem Sinne geleistet, hÇtte<br />

mit den in DlJ angewandten interpretativen Mitteln schon bei einigen Gedichten zum 2.2.1857 zu<br />

deutlichstem Scheitern gefÅhrt. Fritz hat an Intellekt und Raffinesse von Jahr zu Jahr deutlich gewonnen...<br />

So hatte die Wahl des Autors, zwei mÄglichst frÅhe Texte von Fritz seinen experimenta crucis<br />

zugrundezulegen, ihre durchaus begreifliche (in BerÅcksichtigung seiner basalen Intentionen freilich<br />

geradezu ruinÄse) Logik. Und damit auch den Preis zusÇtzlichen kollateralschadenartigen Effekts, daÉ<br />

mit seinem NaK-äberprÅfungsansatz bei frÅhsten Texten des Kindes eine methodologische Gesichtspunkte<br />

integrierende prinzipielle NaK-Kritik, die sich auf das in Na demonstrierte Prinzip spezifischen<br />

Spurenlesens bei Nietzsche beziehen mÅÉte, faktisch ausgeschlossen wird. ‘Spurenlesen’ ist nÇmlich<br />

Integrieren mÄglichst vieler z.T. heterogener Informationen, die primÇr aus Nietzsches zeitlich mÄglichst<br />

dicht benachbarten Texten zu gewinnen sind. Doch des Autors bevorzugte Methode ist Isolation.<br />

Und dies vor allem da, wo das bes. einfach ist, also bei Nietzsches frÅhsten Texten, weil diesen gro-<br />

Éenteils noch relevanter textinterner Kontext fehlt. Mit dem Effekt mangelnder ReprÇsentativitÇt seiner<br />

NaK-Analyse fÅr Texte bereits des nur ein oder zwei Jahre Çlteren Kindes.<br />

235


3.8.4. Persánlicheres Fazit auch im Blick auf prochristlich orientierte Interpreten<br />

„Durch seine unnachsichtige Kritik hat Nietzsche dem christlichen Glauben neues<br />

Profil gegeben. Christen – nicht gerade nur die Theologen – haben allen Grund, diesem<br />

Denker dankbar zu sein.“ Ulrich Willers, 2003 361<br />

„Der denkende Umgang mit Nietzsches radikaler Christentumskritik erscheint im<br />

RÅckblick auf die nun ein Jahrhundert wÇhrende Wirkungsgeschichte fÅr christliche<br />

Theologen dann erschwert, wenn in dieser Konfrontation und Rezeption die eigene<br />

Position in Bewegung geraten kann; also eigentlich immer.“ Peter KÄster, 1990362<br />

SchlieÉlich ein eher persÄnliches, angesichts der kaum mehr Åberschaubar wirkenden, trotz<br />

eingeengten und festgelegt wirkenden Deutungsrahmens 363 usw. dennoch wenig Åberbietbar<br />

heterogenen sowie im Niveau zwischen trostlos dogmatisch-apologetischen, <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

quasi als Missionswissenschaft betreibenden, und subtilst reflektierenden 364 , z.T.<br />

raffiniert argumentierenden, in hohem MaÉe sachkundigen Darstellungen sowie Auseinandersetzungen<br />

mit ‘Nietzsche’ seit mehr als einem Jahrhundert, vielleicht auch manche freilich<br />

nur sehr elementare Punkte berÅcksichtigendes, diese um fÅr <strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung<br />

und -interpretation basale Gesichtspunkte und Informationen angereicherte Kontroverse meinerseits<br />

fast schon abschlieÉendes Fazit insbesondere im Blick auf prochristlich orientierte<br />

Interpreten von Texten Nietzsches:<br />

1. Das begrÅÉenswerte und z.T. beeindruckende Ergebnisse zeitigende Bestreben prochristlich<br />

orientierter Interpreten, zur Nietzscheforschung und -interpretation produktiv und substantiell<br />

361 Ulrich Willers: Das Theodizeeproblem – christlich-allzuchristlich? In: ders. (Hg.), Theodizee im<br />

Zeichen des Dionysos. Nietzsches Fragen jenseits von Moral und Religion. (Religion – Geschichte –<br />

Gesellschaft. Fundamentaltheologische Studien Bd. 25.) MÅnster – Hamburg – London, 2003, S. 211.<br />

Dagegen jedoch bspw. Franz Overbeck, der 1870 auf den Lehrstuhl fÅr neutestamentliche Exegese<br />

und Kirchengeschichte an der UniversitÇt Basel berufen wurde und mehrere Jahre mit Nietzsche unter<br />

einem Dach wohnte: „Von [...] hÄre ich, er sei jetzt so weit mit Nietzsche, daÉ er ihn fÅr einen der<br />

besten Erzieher zur Theologie erklÇrt. FÅr das Parasitenwesen der Theologie ist sein Urteil allerdings<br />

charakteristisch. So hat es die Theologie stets gemacht und sich weiter geholfen, indem sie sich an das<br />

ihr Fremdartige heranwarf und davon lebte, so insbesondere an die Wissenschaft. An der hat sie Åberhaupt<br />

ihre Parasitentalente entwickelt und immer wieder bewiesen, daÉ sie auch mit dem dezidiertest<br />

IrreligiÄsen auskommt. WÇhlerisch darf ja der Parasit Åberhaupt nicht sein, es muÉ verzehren, was ihm<br />

vorgesetzt wird, es kommt ihm nur auf einen gedeckten Tisch an.“ In: ders., Erinnerungen an Friedrich<br />

Nietzsche [1906]. Mit Briefen an Heinrich Káselitz und mit einem Essay von Heinrich Detering.<br />

Berlin, 2011, S. 83. Doch auch im Blick auf Overbecks AusfÅhrungen gilt die Kunst der Balance.<br />

362 Peter KÄster, Nietzsche als verborgener Antipode in Bonhoeffers „Ethik“. In: Nietzsche-Studien<br />

XIX, 1990, S. 367.<br />

363 Das meint: Solange jede der betreffenden VerÄffentlichungen fast bewettbar wenigstens in ihren<br />

SchlÅssen ‘rom’-, ‘wittenberg’- oder ‘genfkompatibel’ usw. ausfÇllt, bleiben im Prinzip wohl nur zwei<br />

Fragen fÅr kritischere Leser noch offen: 1. Ab wann schlÇgt der anfangs oft hochrangig wissenschaftlich<br />

argumentierende Text seine ‘rom-XYZ-konformen’ Haken? Und 2.: Hatte der betreffende Autor<br />

den Mut, in seinen Text als ggf. nur grÅndlichen Lesern identifizierbare ‘Gegenstimme(n)’ ggf. systemsprengende<br />

Informationen (noch besser freilich: GedankengÇnge) zu implantieren? Derlei Fragen<br />

gelten auch fÅr jede andere unter ‘spezifischen Systemkongruenzforderungen’ bpsw. eines ZK usw.<br />

erarbeitete ggf. Çltere Untersuchung (wie etwa Hermann Ley: Geschichte der AufklÜrung und des<br />

Atheismus. Berlin, 1966ff.). Man muÉ dann aber fairerweise nicht lediglich auf Vorworte usw. achten,<br />

sondern sich in offenbar zunehmend verpÄnter ‘GanztextlektÅre’ den kompletten Text incl. Anmerkungen<br />

‘vorknÄpfen’. SpÇtestens die VerÄffentlichungen von Pierre Bayle haben gezeigt, daÉ und<br />

inwiefern sich derlei lohnen kÄnnte.<br />

364 Hochrangige Deskriptionen sowie Formen der Auseinandersetzung bieten in monographischer<br />

Form bspw. Johann Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, oder Ulrich Willers: Friedrich Nietzsches antichristliche<br />

Christologie. Eine theologische Rekonstruktion. Innsbruck; Wien, 1988.<br />

236


eizutragen, kÄnnte in Respektierung ihrer (jeweils unhintergehbaren und positional vielleicht<br />

auch erforderlichen) AnsÇtze als wesentliche Bereicherung wirken und auch extra muros breitere<br />

Anerkennung finden, wenn einige elementare GrundsÇtze akzeptiert zu werden vermÄchten:<br />

a. Respekt 365 vor allen Texten in der von Nietzsche selbst Åberlieferten Textgestalt und weitestmÄglich<br />

auch in der von Nietzsche Åberlieferten Form sowie in BerÅcksichtigung des<br />

textinternen Kontexts sowie des Zeitpunktes 366 der Formulierung bzw. rekonstruierten Niederschrift<br />

der betreffenden Formulierung.<br />

b. Deutliches SichbewuÉtwerden oder -bleiben der eigenen Glashausexistenz, deren historische<br />

Erblasten und glaubensbedingte Argumentationsrestriktionen z.T. in Verbindung mit<br />

institutionell ‘gesicherten’ fundamentalistischen WahrheitsansprÅchen fÅr eigene, Gegenproben<br />

konsequent ausschlieÉende und Gegenbelege Åbergehende, bspw. mit Kategorien<br />

wie „unleugbar“ oder „zweifellos“ operierende Argumentationen, Tendenzen zu gezinkten<br />

Argumentationsverfahren in apologetischer Intention 367 nahezulegen sowie leider nicht selten<br />

auch auszulÄsen scheinen, denen ebenso wie allem Åbrigen mit wohlwollendem VerstÇndnis<br />

von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu begegnen fast Åbermenschliche Anforderungen an<br />

humanistisch und erkenntnistheoretisch orientierte Fallibilisten oder Kritizisten darstellt,<br />

die sich ihrer beschrÇnkten Lebenszeit bewuÉt sind und Einsichten in den hypothetischen<br />

Charakter jedweder Aussage lÇngst so verinnerlicht haben, daÉ sie diesen Sachverhalt nicht<br />

alle paar Seiten in jeder ihrer Abhandlungen wiederum betonen mÅssen.<br />

c. Nachdenken Åber die Frage, ob nicht wenigstens hochgradige sowie spezifische Inkonsistenzenblindheit<br />

als eine Form von ‘Seelenblindheit’ sowie von Erfahrungsresistenz einzuschÇtzen<br />

ist; und ob derlei vielleicht unumgÇngliche Perspektiven angemessen sind, in<br />

einer Interpretation von Texten eines so polydimensional Denkenden und bis zu achtfache<br />

Motivierungen ins Spiel bringenden Autors wie Nietzsche, worauf schon Lou Andreas-<br />

Salomå 368 hinwies, ‘in Einsatz gebracht’ zu werden. Denn: Nicht jeder noch so intelligente<br />

und gebildete Interpret paÉt zu jedem ‘Objekt’.<br />

365 Das Thema des Respekts ist wohl gerade in monotheistischen Religionen hochgradig tabuiert, denn<br />

diese maÉ(t)en sich – dank eines Dritten abwegig erscheinenden monopolistischen Wahrheitsanspruchs<br />

– im besten Falle nur bis in unsere jÅngere Vergangenheit an, mit Zeugnissen anderer Religionen<br />

ebenso wie mit deren TrÇgern, geschweige denn mit Zeugnissen religions-, weltanschauungskritischer<br />

oder gar atheistischer Provenienz oder deren Protagonisten, auf eine Weise umzugehen, die das<br />

vergleichsweise religionstolerante Niveau hellenistisch geprÇgter MittelmeerlÇnder v.u.Z. seitdem in<br />

hohem MaÉe zu suspendieren vermochte. Noch gegenwÇrtig werden von Fundamentalisten wenigstens<br />

von zwei der drei sog. abrahamitischen Religionen Artefakte bzw. Erbschaften und auch aktuelle<br />

Zeugnisse konkurrierender Auffassungen nahezu risikofrei zerstÄrt; genauer: z.T. von Auffassungen,<br />

mit denen monotheistische Religionen als religionsgeschichtliche SpÜtlinge konkurrieren, denn selbst<br />

atheistische Auffassungen sind bei weitem Çlter als Christentum und Islam, aber auch als ein monotheistisches<br />

‘Judentum’, das sich wohl erst wÇhrend der sog. babylonischen Gefangenschaft zu entwickeln<br />

begann.<br />

366 Das wÅrde bspw. ausschlieÉen, daÉ von ‘Nietzsche’ in einer Weise gesprochen wird als ob sich<br />

bspw. zwischen Fatum und Geschichte (FrÅhj. 1862), Schopenhauer als Erzieher (1873), Die fráhliche<br />

Wissenschaft (1882) und Der Antichrist (1888) Nietzsches Denken nicht mannigfach gewandelt<br />

hÇtte.<br />

367 Erinnert sei bspw. an den 1967 in der Katholischen Kirche zwar abgeschafften doch durch andere<br />

GelÄbnisse ersetzten von allen Geistlichen (incl. Theologieprofessoren) vor ihrer Weihe zu beschwÄrenden<br />

Antimodernisteneid – vgl. oben 3.3.2.4., Anm. – u.a. des Inhalts, daÉ „die Meinung“ verurteilt<br />

wird, „nach der der christliche Gelehrte zwei Personen in sich vereinigen kÄnne, eine, die glaubt, und<br />

eine, die forscht, so daÉ dem Historiker erlaubt sei, etwas fÅr wahr zu halten, was dieselbe Person vom<br />

Standpunkte des Glaubens als falsch erkennen muÉ.“ Johannes Hoffmeister (Hg.), Wárterbuch der<br />

philosophischen Begriffe. Hamburg, 2 1955, S. 612f.<br />

368 Lou Andreas-Salomå: LebensrÄckblick. GrundriÖ einiger Lebenserinnerungen. Aus dem NachlaÉ<br />

hgg. v. Ernst Pfeiffer. Neu durchges. und mit einem Nachwort des Herausgebers. Frankfurt am Main,<br />

14 1998, S. 246.<br />

237


d. Das bedeutet – um VerdÇchtigungen, seitens des Vf.s sollten ‘MaulkÄrbe verpaÉt werden’,<br />

in aller Form bereits vorweg entgegenzutreten – ausdrÅcklich nicht, daÉ etwa fachlich so<br />

hochrangigen christlichen Forschern und/oder Interpreten, die nicht wie bspw. Eugen Biser<br />

schon vorweg als Theologen und dennoch mit wissenschaftlichem Anspruch auftreten, wie<br />

bspw. Reiner Bohley 369 , Joergen Kjaer 370 , Johann Figl 371 , JÄrg Salaquarda 372 , Ulrich Wil-<br />

369 Von Reiner Bohley, dem bis zu seinem Tod in der Silvesternacht 1988 wohl kompetentesten Kenner<br />

der Rahmenbedingungen der frÅhen Genese Nietzsches sowie dem stillen (Wieder-)Entdecker der<br />

Bedeutung Ernst Ortlepps fÅr tiefenschÇrfere <strong>Nietzscheinterpretation</strong> sind an wichtigen Untersuchungen<br />

zugÇnglich, (a) Die Christlichkeit einer Schule. Schulpforte zur Schulzeit Nietzsche’s. Wissenschaftliche<br />

Abhandlung zur QualifikationsprÅfung. Naumburg o.J. (1974), Skript; (b) âber die Landesschule<br />

zur Pforte. Materialien aus der Schulzeit Nietzsches, in: Nietzsche-Studien, Bd. V, 1976, S.<br />

298-320; (c) Nietzsches Taufe. „Was, meinest Du, will aus diesem Kindlein werden?“, in: ebd., Bd.<br />

IX, 1980, S. 383-405; (d) Der alte Ortlepp ist Äbrigens todt, in: Wilfried Barner u.a. (Hg.), Literatur in<br />

der Demokratie. FÅr Walter Jens zum 60. Geburtstag, MÅnchen 1983, S. 322-331, (e) Nietzsches<br />

christliche Erziehung, in: Nietzsche-Studien, Bd. XVI, 1987, S. 164-196, und (f) Nietzsches christliche<br />

Erziehung II, in: ebd., Bd. XVIII, 1989, S. 377-395. Die Untersuchungen (a) und (c) bis (e) sind<br />

nachgedruckt in: Ders., Die Christlichkeit einer Schule: Schulpforte zur Schulzeit Nietzsches. Hgg. und<br />

mit einem Nachwort versehen von Kai Agthe. Jena Quedlinburg 2007; der Band enthÇlt auÉerdem<br />

Bohleys unverÄffentlichten Vortrag (g) Naumburg in der Jugendgeschichte Nietzsches (1971), S. 253-<br />

275; (h) Die GrÄndung der sÜchsischen Landesschulen und der Versuch, eine christliche Einigkeit zu<br />

erhalten. Eine Skizze (1987), S. 340-378, und S. 391 auch einen „Lebenslauf von Reiner Bohley“.<br />

370 In diesen Zusammenhang dÅrften von Joergen Kjaer vor allem gehÄren: Nietzsches Naumburger<br />

Texte, 1995, S. 341-367; Gott, Vorsehung, Fatum, Geschichte, Zufall und (Selbst-)Bildung in den Texten<br />

Nietzsches 1854-1864. Vortrag V. DNK, 9.7.1997, Skript, 38 S., und Nietzsches Auseinandersetzung<br />

mit dem Christentum in seiner Naumburger und Portenser Zeit. In: Nietzscheforschung 8. Berlin,<br />

2001, S. 137-156.<br />

371 In diesem Zusammenhang sind von Johann Figl bes. wichtig: Dialektik der Gewalt, 1984; ãsthetische<br />

Theorie und tragische Existenz. MusikverstÜndnis als Erlebnishorizont des jungen Nietzsche. In:<br />

Mesotes II (1992), 4/1992, S. 466-477; Der junge Nietzsche – Deutung und Bedeutung von Biographie<br />

und Werk. In: Jahresschrift der FÄrder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e. V. (Hg.):<br />

Band II: 1991/1992. Halle, 1992, S. 7-12; Biographisch orientierte Analysen eines Philosophen. Zu<br />

neueren AnsÜtzen in der Nietzsche-Deutung. In: Nietzsche-Studien XXIII (1994), S. 273-284; Interpretation<br />

der Jugendschriften Nietzsches. Zum VerhÜltnis von Biographie und Philosophie. In: Borsche,<br />

Tilman / Federico Gerratana / Aldo Venturelli (Hg.), Centauren-Geburten. Wissenschaft, Kunst<br />

und Philosophie beim jungen Nietzsche. Berlin / New York, 1994, S. 309-25; Edition des FrÄhen<br />

Nachlasses Friedrich Nietzsches – grundsÜtzliche Perspektiven. In: Nietzscheforschung I. Berlin,<br />

1994, S. 161-168; Die Abteilung I im Kontext der kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches.<br />

Ein Zwischenbericht. In: Nietzsche-Studien XXIV, 1995, S. 315-323; Nietzsche. Johann Figl zu Hermann<br />

Josef Schmidts Werk Äber die Kindheits- und Jugendschriften des Philosophen. In: Information<br />

Philosophie XXIII, 1995/3, S. 91-94; Geburtstagsfeier und Totenkult, 1995, S. 21-34, bzw. GottesverstÜndnis<br />

und TotengedÜchtnis, 2003, S. 59-68; Die „Ausbildung der Seele erkennen“. Die Bedeutung<br />

der frÄhen Texte Nietzsches innerhalb seiner Philosophie im ganzen. In: Nietzscheforschung 5/6,<br />

2000, S. 433-442; „Dionysos und der Gekreuzigte“. Nietzsches Identifikation und Konfrontation mit<br />

zentralen religiásen ‘Figuren’. In: Nietzscheforschung 9, Berlin, 2002, S. 147-161; Nietzsche und die<br />

Religionsstifter. In: Ebenda 11, 2004, S. 87-96; Nietzsche-Meditationen. Das Kloster, das Meer und<br />

die „neue“ Unendlichkeit. Wien; Berlin, 2007, und: Nietzsche und die Religionen. Transkulturelle<br />

Perspektiven seines Bildungs- und Denkweges. Berlin; New York, 2007.<br />

372 Von JÄrg Salaquarda, mit dem ich seit 1972 in Kontakt stand, hatten mich schon vor Jahren bes.<br />

zwei kleinere Arbeiten beeindruckt: Der Antichrist. In: Nietzsche-Studien II. Berlin, New York, 1973,<br />

S. 91-136, und: Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches VerstÜndnis des Apostels Paulus. In:<br />

Zeitschrift fÅr Religions- und Geistesgeschichte XXVI (1974), S. 97-124; nun auch in: ders. (Hg.):<br />

Nietzsche. Darmstadt, 1980, erw. 2 1996, S. 288-332; und noch seine beiden Christentum-Artikel in<br />

Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch, 2000, S. 207-212 und 381-385, sind mit den erwÇhnten<br />

EinschrÇnkungen von beeindruckender QualitÇt.<br />

238


lers 373 oder auch Hans Gerald HÄdl 374 ihr Recht bestritten werden soll, in Verwendung aller<br />

legitimen Interpretationsmethoden und gerne zuweilen auch mit einem pfiffigen Trick –<br />

Hauptsache, jeder ‘stellt sich’ auch den interpretationswiderstÇndigsten Texten sowie Informationen<br />

(und unterlÇÉt Diffamierungen) – christliche Interpretationsperspektiven<br />

mehr-oder-weniger erklÇrt insbes. im Blick auf den frÅhen Nietzsche durch Ergebnisse eigener<br />

Recherchen 375 weitestmÄglich zu stÇrken oder argumentativ zu stÅtzen, solange keine<br />

MonopolansprÅche entwickelt und anderweitige Auffassungen sachorientiert sowie<br />

kompetent diskutiert oder wenigstens unkommentiert respektiert, im Falle einer themenbezogenen<br />

Darstellung jedoch nicht verheimlicht werden. Im Falle der Kritik an christlichen<br />

Interpretationen widersprechenden Auffassungen, Argumentationen usw. wie bspw. des<br />

Verfassers 376 und insbes. im Falle der ErÄffnung einer Kontroverse gelten dann allerdings<br />

die in 3.1. zum AbschluÉ betonten Gesichtspunkte: „weder dem Kritiker noch dem Vf. eines<br />

kritisierten Textes, einer ggf. destruierten Argumentation usw. sei es gestattet, sich auf<br />

die zumal von Apologeten praktizierte Strategie zurÅckzuziehen, Belege nur auf äbereinstimmung<br />

hin zu suchen und/oder auf BestÇtigung hin zu interpretieren, sondern er ist u.a.<br />

die wissenschafts- und forschungsethische Verpflichtung eingegangen, Gegenproben mit<br />

idealiter falsifizierendem Effekt selbst vor- sowie ernstzunehmen.“<br />

e. SchlieÉlich zu der (bereits zu Ende von 3.4.4.4.7. angeklungenen) kaum unwichtigen Frage,<br />

daÉ freilich nicht nur in ‘christlichen Auseinandersetzungen mit Nietzsche’ hochseriÄs<br />

373 Ulrich Willers: Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie. Eine theologische Rekonstruktion.<br />

Innsbruck; Wien, 1988; ders. (Hg.), Theodizee im Zeichen des Dionysos, 2003.<br />

374 AuÉer den mehrfach erwÇhnten Na-Kritiken gehÄren von Hans Gerald HÄdl noch in diesen Zusammenhang<br />

insbes.: Verlust der Heimat. „Rácken“ in Nietzsches Autobiographien 1858-63. In: Mesotes<br />

II, 4/1992, S. 478-487; Musik, Wissenschaft und Poesie im Bildungsprogramm des jungen Nietzsche<br />

oder: „Man ist Äber sich selbst entweder mit Scham oder mit Eitelkeit ehrlich“. In: GÅnther PÄltner<br />

/ Helmuth Vetter (Hg.): Nietzsche und die Musik. Frankfurt am Main u. a., 1997, S. 17-37; „Vom<br />

kleinen Stockphilister zum Kritiker der greisenhaften Jugend.“ Reflexionen zum Kontext von Bildungsprogramm<br />

und SelbstentwÄrfen Nietzsches 1858-1865. Selbst ein Entwurf. In: Nietzscheforschung<br />

5/6, 2000, S. 369-381; und: Nietzsche, Jesus und der Vater, 2003, S. 69-86.<br />

375 So hat Johann Figl in Geburtstagsfeier und Totenkult, 1995, S. 21-34, bzw. GottesverstÜndnis und<br />

TotengedÜchtnis, 2003, S. 59-68, eine von der Sichtweise des Vf.s zwar deutlich abweichende, jedoch<br />

auf eigenstÇndigen Archivrecherchen basierende Skizze der ReligiositÇt des Kindes Nietzsches vorgelegt;<br />

und schon 1984 hat Johann Figl in Dialektik der Gewalt, 1984, S. 62-71, leider undatierte (m.E.<br />

ca. 1863 entstandene) Aufzeichnungen Nietzsches zur Religionslehre zugÇnglich gemacht und einer<br />

subtilen Interpretation unterworfen (dazu NaJ II, 1994, S. 396-398).<br />

376 Vielleicht ist aufgefallen, daÉ der Verfasser in den mittlerweile gut 4 Jahrzehnten, seitdem er sich<br />

zu Fragen der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> ÇuÉert, anders als noch in seiner Studentenzeit geplant, vor dem<br />

SpÇtherbst 2010 mit Ausnahme der mit Jorgen Kjaer vereinbarten, freundschaftlichen Kontroverse,<br />

1995, auch nicht eine einzige, und sei es eine noch so kleine, separate, kritische VerÄffentlichung zur<br />

SeriositÇt von Argumentationen christlicher Nietzsche-Interpreten vorgelegt hat, obwohl es ihn zuweilen<br />

in den Fingern juckte, wenn er bestimmte Elaborate oder auch Argumentationen las. In NaK und<br />

NaJ hingegen war die Stellungnahme zu Interpretationen insbes. von Reiner Bohley und Martin Pernet,<br />

von Eugen Biser, Manfred Balkenohl und Johann Figl nicht zu umgehen. Vf. hofft zwar, daÉ sie<br />

als fair empfunden wurde, doch da die betreffenden Autoren die ‘kritische Munition’ nicht kannten,<br />

deren VerÄffentlichung dabei unterblieb, hatten sie vermutlich andere Vorstellungen von Fairness. So<br />

begnÅgte ich mich, meine eigene Sichtweise darzustellen; immer in der Hoffnung, christliche Interpreten<br />

wÅrden sich wenigstens einige meiner Texte ansehen, Åber sie nachdenken und ggf. eigene Auffassungen<br />

ÅberprÅfen. Um diesen Vorgang nicht zu beeintrÇchtigen, hatte ich auch darauf verzichtet,<br />

unter Namensnennung spezifische Kritik zu Åben. Leser kÄnnen ja vergleichen, wenn bestimmte Texte<br />

von diversen Autoren unterschiedlich diskutiert werden. Lediglich dann, wenn meine Sichtweise oder<br />

Argumentationen in m.E. unberechtigter Weise kritisiert oder wenn sie gar diffamiert wurden, habe<br />

ich mir die entsprechenden Argumentationen in der Regel auch erst dann genauer vorgenommen,<br />

wenn eine kritische Antwort lÇngst ÅberfÇllig war.<br />

239


wirkende AusweichmanÄver aufspÅrbar sind, bzw. zur Kunst, PrÇliminarienlisten auszuspinnen<br />

oder Kriterienkataloge ad libitum et usque ad infinitum zu entwerfen, die erfÅllt<br />

sein mÅssen, bevor ein verantwortbares – in der Regel: christliche, paenechristliche oder<br />

ansonsten weltanschauliche Auffassungen problematisierendes – nicht genehmes Urteil<br />

‘gefÇllt’ zu werden vermag... Wenn oben schlicht formuliert wurde: „Hauptsache, jeder<br />

‘stellt sich’ auch den interpretationswiderstÇndigsten Texten sowie Informationen“, so ist<br />

seitens des Verfassers der Schwerpunkt ausdrÅcklich auf die Analyse von und Auseinandersetzung<br />

mit Nietzsches eigenen Texten gelegt, denen nach Eindruck des Vf.s jedoch allzugerne<br />

dadurch ausgewichen wird, daÉ zuweilen lange Reihen von HÅrden liebevoll aufgebaut<br />

und nicht endende Listen von Zusatzqualifikationen aufgestellt werden, wenn es<br />

darum zu gehen scheint, ggf. miÉliebige Textinterpretationen in deren Brisanz selbst dann<br />

zu minimieren, wenn man in seinen eigenen Interpretationen keineswegs seine – primÇr im<br />

Blick auf unliebsame Dritte? – selbst errichteten interpretativen HÅrden nimmt, sondern<br />

bei weitem weniger solcherart zuvor verstellte Strecken wÇhlt (oder sich sogar in seinen<br />

himmlischen Fahrstuhl setzt d.h. spezifisch theologische PrÇmissen in eine Argumentation<br />

kaschiert einzuschleusen sucht); oder wenn man ‘in der Sache selbst’ allzuwenig zu bieten<br />

hat.<br />

Um an einem keinerlei theologische Restriktionen bzw. AusflÅchte wÇhlenden, anspruchsvollen<br />

Text eines renommierten und auch meinerseits anerkannten Interpreten und<br />

Fachmanns an mÄglichst reprÇsentativer Stelle, nÇmlich dem Nietzsche-Handbuch, 2000,<br />

zu belegen, worum es dem Vf. dabei geht, sei eine Passage von Johann Figl als eines unverdÇchtigen<br />

Zeugen zitiert:<br />

„Wenn die Lebensgeschichte im Zusammenhang mit der Werkgeschichte, also eine lebenszeitimmanente<br />

Interpretation vorgenommen wird, so muÉ man sich Rechenschaft darÅber ablegen, welche<br />

anthropologischen Vorstellungen vom VerhÇltnis der Kindheit zu Jugend und Erwachsenenalter<br />

bestehen, welche Phasenmodelle psychologischer Art (in Anlehnung an Freud, Erikson, Jung<br />

oder andere) verwendet werden, wie hier der Bezug zwischen Psychologie- bzw. Biographiekonzept<br />

einerseits und PhilosophieverstÇndnis andererseits bestimmt wird. Im Hinblick auf eine umfassende,<br />

Leben und Werk nicht verkÅrzt einbeziehende Interpretation bedarf es der ausfÅhrlichen<br />

Explikationen aller Aspekte des psychologisch-biographischen Umfeldes und des kulturellideengeschichtlichen<br />

Kontextes derselben. Nur in der Zusammenschau dieser vielfÇltigen Dimensionen<br />

kann die ausreichende hermeneutische Basis zum VerstÇndnis tragender – auch peripherer –<br />

Existenzerfahrungen und Aussagen N.s zugrundegelegt werden.“ 377<br />

AnschlieÉend bietet Johann Figl ein Beispiel des Bezugs von Leben und Werk, nÇmlich<br />

„prÇgender Kindheitserfahrungen“, das anhand von „N.s Selbstinterpretation erschlossen<br />

werden“ kann: Schon als Kind sei N. der Musik „in positivem Kontext begegnet, die einen<br />

unauslÄschlichen Eindruck bei ihm hinterlieÉ.“ Figl zitiert dann ausfÅhrlich aus Der Wanderer<br />

und sein Schatten, Nr. 168, und kommentiert:<br />

„An diesem Aphorismus zeigt sich nicht nur, daÉ N.s musiktheoretische Notizen biographische<br />

Wurzeln haben, sondern daÉ allgemeine ErÄrterungen bei diesem Denker fast immer mit eigenen<br />

Lebenserfahrungen verbunden sind. Die Musik ermÄglichte ihm, tiefere Schichten des unbewuÉten<br />

FÅhlens zu erreichen sowie auszudrÅcken; sie wurde ihm schon in der Gymnasialzeit zu einer Metapher<br />

fÅr das Geschehen der Dinge. N. war aber zugleich von dem theoretischen Zugang zur<br />

Wirklichkeit in Anspruch genommen – und dieses Dilemma findet sich z.B. in den musik- und<br />

kunsttheoretischen äberlegungen der Gymnasial- und besonders Studentenzeit, die auf die Geburt<br />

der Tragádie vorausweisen“. 378<br />

377 Johann Figl: Jugendschriften (1852-1869). In: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch, 2000,<br />

S. 64.<br />

378 Ebenda, S. 64f.<br />

240


Wie auch sonst zuweilen, gehe ich nun in umgekehrter Reihenfolge vor. Cum granibus<br />

salis kann ich Figls Interpretation von WS 168 zustimmen, denn sie deckt sich in der Tendenz<br />

– „allgemeine ErÄrterungen bei diesem Denker fast immer mit eigenen Lebenserfahrungen<br />

verbunden“ – mit dem auch meinerseits seit Jahrzehnten AusgefÅhrten. Die KÄrnchen<br />

Salz bestehen neben einer partiell anderen Perspektive und Wortwahl – Vf. sieht den<br />

frÅhen Nietzsche nicht „zugleich von dem theoretischen Zugang zur Wirklichkeit in Anspruch<br />

genommen“, sondern an ihrer Erkenntnis leidenschaftlich interessiert – u.a. im<br />

MiÉtrauen des Vf.s gegen Aussagen Nietzsches, wenn dieser vielleicht Jahrzehnte spÇter<br />

auf seine Kindheit zurÅckkommt: Vf. ‘nimmt’ Nietzsche als Information Åber seine Kindheit<br />

(bzw. als in ihrer Information Åber jeweils gegenwartsgebundene Aussagen hinausgehend)<br />

‘nur ab’, was sich in Texten aus seiner Kindheit noch belegen, wenigstens aber als<br />

hochwahrscheinlich rekonstruieren lÇÉt.<br />

Doch nun: Voranstehend hat Figl drei konsequenzenreiche lÇngere SÇtze formuliert. Der<br />

zentralen Absicht Figls stimme ich erfreut und mit allem Nachdruck zu. Nicht nur dem Vf.<br />

ist seit Jahrzehnten aufgefallen, daÉ es selten eine ‘moderne’ psychologische, psychoanalytische,<br />

psychotherapeutische, geschweige denn sozialwissenschaftliche oder philosophische<br />

‘Theorie’ gab oder auch nur eine Modeerscheinung kreiert wurde, deren Vokabular<br />

nicht wenig spÇter in VerÄffentlichungen auch zu ‘Nietzsche’ auf eine Weise begegnet<br />

werden konnte, als ob der Eindruck sorgsam vermieden werden sollte, die meisten der betreffenden<br />

Autoren hÇtten sich in Nietzsches Texte oder gar in die nun herangezogenen<br />

Theorien bzw. auch nur deren Termini zuvor grÅndlich ‘eingelesen’ oder gar eingearbeitet,<br />

geschweige denn darÅber mÄglichst unabhÇngig nachgedacht. Wird nicht wie mit Karamellen<br />

an Karneval zuweilen selbst in anspruchsvolleren ‘<strong>Nietzscheinterpretation</strong>en’ jeweils<br />

nach neuestem Jargon mit dem entsprechenden Vokabular um sich geworfen? Ein<br />

Jahr spÇter ist (bei offenbar abnehmender ‘Halbwertzeit’) zuweilen fast alles – glÅcklicherweise<br />

– schon wieder vergessen. Pfauen, die ihre RÇder in der aufgehenden Sonne<br />

schlagen, kÄnnen das wohl noch immer besser. Gegen derlei Scharlatanerie kann sich zumal<br />

ein Spurenleser, erst recht ein Metakritiker nur nachdrÅcklich verwahren. Doch in<br />

Figls Passage steckt in BerÅcksichtigung ihres genauen Wortlauts bei weitem mehr als<br />

Abwehr von Scharlatanerie und Unbedachtem, weshalb auf deren potentielle ‘Nebenwirkungen’<br />

wie bei einem hervorragenden Medikament zumindest seitens eines vielleicht<br />

mittlerweile interpretationsbetriebserfahrenen, weltanschauungskritisch Orientierten durchaus<br />

zu achten ist.<br />

Dem ersten Satz stimme ich mit der EinschrÇnkung zu, daÉ nicht nur bei Interpretationen<br />

frÅher Texte Nietzsches, sondern auch dann, wenn „die Lebensgeschichte im Zusammenhang<br />

mit der Werkgeschichte, also eine lebenszeitimmanente Interpretation vorgenommen<br />

wird“, der Interpret ‘mÄglichst wenig theoretisch draufsatteln’, sondern sein Augenmerk<br />

weniger auf eigenen oder fremden theoretischen (oft allzu wenig ‘nietzscheangemessenen’)<br />

Aufputz oder gar genetisch blinde (meta)hermeneutische 379 Spielereien, sondern<br />

auf grÅndlichstes Bedenken der Texte selbst und ihrer ihnen eigenen oft hintergrÅndigen<br />

ZusammenhÇnge, von denen manches durchaus identifizierbar ist, sowie ggf. auf Fakten<br />

richten sollte. GrÅndlichstes „Bedenken der Texte selbst und ihrer eigenen oft hintergrÅndigen<br />

ZusammenhÇnge“ kommt nÇmlich in der Regel leider viel zu kurz; Defizite da-<br />

379 Vielleicht sollten wir Interpreten uns zuweilen daran erinnern, daÉ die wohl ersten abendlÇndischen<br />

Hermeneutiker antike Orakelpriester waren, die Orakel so ‘weit’ bzw. fÅr weniger Scharfsinnige unerkannt<br />

mehrsinnig zu formulieren und auszulegen hatten, daÉ ‘der Gott’ – welcher auch immer – schon<br />

das vorletzte Wort mit dem Effekt behielt, daÉ die Ehre des Gottes und zumal die fortlaufenden EinkÅnfte<br />

seiner Diener dank nicht erkannter Immunisierungsstrategeme von Orakeln gesichert blieben.<br />

241


ei kÄnnen anderweitig aber nicht mehr kompensiert werden. Schon deshalb stehen nicht<br />

wenige <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en auf nicht einmal mehr tÄnernen Beinen. 380<br />

Also: Was Figls Zentralpunkt betrifft, sich selbst Rechenschaft abzulegen Åber eigene<br />

Vorstellungen (mit Hilfe anderer Vorstellungen, Kriterien usw., Åber die man sich ebenfalls<br />

wieder Rechenschaft ablegen [kÄnnen] sollte usw. usw. ...), die interpretativ mehr<br />

oder weniger konsequent umgesetzt werden, ist immer wieder sinnvoll und unabdingbar,<br />

gehÄrt deshalb spÇtestens seit dem platonischen Sokrates zum Kernbestand von Philosophie.<br />

Dem zweiten und auch dem dritten Satz kann ich in dieser m.E. zu ambitionierten Form<br />

nicht zustimmen; und ich hoffe, Johann Figl tut es schmunzelnd ebensowenig, denn die in<br />

ihm exponierten Forderungen kÄnnen streng genommen nur zu einem einzigen Ergebnis<br />

fÅhren: Finger weg von jedweder <strong>Nietzscheinterpretation</strong> und vorsichtshalber auch von jeder<br />

anderen. Ein lÄblicher Vorschlag vielleicht fÅr Unsterbliche, die nahezu risikolos ggf.<br />

einige hundert Jahre fÅr ‘hermeneutische Grundlegungen sowie Grundlagendiskussionen<br />

aller Art’ investieren kÄnnen, doch sowohl Johann Figl als auch Vf. hielten sich nicht daran;<br />

und Ersterer wenigstens mit gutem Grund. Warum? Weil ausfÅhrliche „Explikationen<br />

aller [!!] Aspekte des [!!] psychologisch-biographischen Umfeldes und des [!!] kulturellideengeschichtlichen<br />

Kontextes derselben“ schlechterdings infinit sind. Und das sind sie<br />

schon deshalb, weil Einvernehmen zwischen interpretativen Kontrahenten erzielt werden<br />

mÅÉte, wann denn eine Explikation „ausfÅhrlich“ genug ist – hier spÇtestens steckt der erste<br />

argumentative Joker. Ob jemals ein Sterblicher in Åberschaubarer Zeit „alle Aspekte“<br />

des jeweiligen psychologisch-biographischen Umfeldes eruieren und auflisten kann? Und<br />

„des kulturell-ideengeschichtlichen Kontextes derselben“ noch auÉerdem? Hier stecken<br />

sogar mehrere Joker in wohl jedes Interpreten ãrmel, denn schon dabei kommt man nie an<br />

ein Ende – und wenn man das selbst ausnahmsweise einmal doch meint, dann ist mit Sicherheit<br />

bereits der nÇchste Kritiker da, der auf Leider-noch-immer-Fehlendes verweist...<br />

Derlei Spiele kann man nÇmlich immer spielen 381 . Reizvoll und zuweilen vielleicht sogar<br />

erforderlich sind sie vor allem dann, wenn man selbst ‘gute GrÅnde’ sucht, sich mit ‘seriÄs<br />

wirkender Abwehrhermeneutik’ weiterhin mit einer Problematik nicht auseinanderzusetzen,<br />

sondern sich ihr ‘ohne Gesichtsverlust’ weiterhin entziehen zu wollen. Ein Verhalten,<br />

das Johann Figl ebenso wie Vf. wohl versucht sein dÅrfte, beinahe als anthropologische<br />

Konstante eines Fluchtwesens zu deuten.<br />

Zuletzt eine Gegenprobe zu diesem zweiten Satz: Inwiefern bestimmt das in ihm Skizzierte<br />

Figls zitierte Interpretation von WS Nr. 168? Fazit: Es geht in bescheidenem Rahmen<br />

auch so. Und das findet Vf. akzeptabel. Ohnedies mÅssen wir uns damit abfinden, daÉ jede<br />

Interpretation in BerÅcksichtigung dessen, was vielleicht noch mÄglich gewesen wÇre,<br />

wenn nicht..., verkÅrzt ist; und auch „verkÅrzt“ bleibt. Was noch lÇngst nicht bedeutet, daÉ<br />

sie deshalb mit allen Åbrigen ebenfalls verkÅrzten Interpretationen gleichwertig usw. ist.<br />

So daÉ es eher auf die Art, inwiefern eine Interpretation verkÅrzt ist, als auf die Tatsache<br />

ankommt, daÖ jede Interpretation in irgendeiner Hinsicht nicht nur verkÅrzt ist, sondern<br />

auch verkÅrzt bleiben muÉ?<br />

SchlieÉlich zum dritten Satz: Auch hier drohen hohe, fÅr einen Fallibilisten wie den Vf.<br />

nicht nur unÅberspringbare, sondern wohl auch unberechtigte HÅrden. Wieder: „die ausreichende<br />

hermeneutische Basis“. Sie ‘existiert’ jedoch nur als z.T. normatives Konstrukt,<br />

dessen Elemente wenigstens zum Teil freier und damit auch ‘interessierter’ Interpretation<br />

380 AuÉerdem sollten Versuche erschwert werden, unter dem Signum von „<strong>Nietzscheinterpretation</strong>“<br />

hermeneutische oder anderweitige Hobbys in VerÄffentlichungen ‘an den Mann’ zu bringen, wenn<br />

deren ‘Nietzscheinformationsgehalt’ minimal und deren Nietzsche(text)kenntnis vielleicht sogar erbÇrmlich<br />

ist.<br />

381 Vgl. Eric Berne: Spiele der Erwachsenen. Psychologie der menschlichen Beziehungen. Reinbek bei<br />

Hamburg, 1967.<br />

242


unterliegen; JokerbÅndel sind wiederum gezÅckt. äber eine ‘ausreichende hermeneutische<br />

Basis’ lÇÉt sich noch jahrhundertelang genuÉvoll oder auch erbittert streiten – so kommen<br />

wir nie zu Nietzsche und vor allem nicht zu tiefenschÇrferer <strong>Nietzscheinterpretation</strong>. Wollen<br />

wir das?<br />

Also gilt auch hier die Kunst der Balance, denn in all’ diesen äberlegungen steckt auch<br />

zusÇtzlich zur Ablehnung modernistischer Schwadroneure nicht nur ein sinnvoller Kern:<br />

Wir sollten uns klarmachen – nicht nur: klarwerden –, was wir aus welchen Perspektiven<br />

bei Nietzsche erkennen wollen. Und wir sollten uns bemÅhen, aus mÄglichst heterogenen<br />

und qualitativ hochwertigen Perspektiven, in Nietzsches eigenen Kompetenzen mÄglichst<br />

kundig – woran es m.E. einem leider nicht geringen Teil der ‘Nietzsche’-Interpreten bedauerlicherweise<br />

in nicht unerheblichem MaÉe zu fehlen scheint -, uns auf das VerstÇndnis<br />

seiner Texte einzulassen. Dabei sollten wir uns immer bewuÉt bleiben, daÉ selbst eine<br />

noch so stimmig wirkende Interpretation sei es Alternativen offenlassen oder wenigstens<br />

weiterfÅhrende Modifikationen ermÄglichen kÄnnte. Immer im BewuÉtsein, daÉ die Auseinandersetzung<br />

mit heterogenen Auffassungen oder Interpretationen 382 , so sie nur hochwertig<br />

sind, kognitiv bereichert. Doch ÇuÉerste Vorsicht gegenÅber allen Versuchen, Kriterienkataloge<br />

mÄglichst in certistischer oder gar grundlegungstheoretischer Intention aufzustellen,<br />

deren SchwÇchen schon Aristoteles erkannt und insbes. Hans Albert mit seinem<br />

„MÅnchhausen-Trilemma“ 383 karikiert hat. Interpretativen Scharlatanen sollten nicht noch<br />

mehr rote Teppiche finanziert und ausgerollt werden als das ohnedies schon der Fall ist.<br />

2. Was Inhaltliches wie bspw. das Problem theodizeeproblemhaltiger, graecophiler usw.<br />

Texte des Kindes Nietzsche betrifft, wÇre ruhiges Bedenken u.a. folgender äberlegungen<br />

vielleicht hilfreich:<br />

a. Das Kind Nietzsche darf diejenigen Probleme gehabt haben, die bspw. in NaK exponiert<br />

wurden (und in sicherlich noch verbesserter Version hÇtten exponiert werden kÄnnen,<br />

wenn Mitte der 1980er Jahre die Forschungssituation anders gewesen und bspw. der Verfasser<br />

384 jemals auch nur Åber ein einziges von anderweitigen Verpflichtungen befreites<br />

Forschungsfreijahr hÇtte verfÅgen kÄnnen), ohne daÉ man sich selbst in irgendeiner Form<br />

bedroht fÅhlen muÉ; das setzt freilich u.a. auch voraus, daÉ man es schlicht fÅr mÄglich<br />

hÇlt, daÉ dieses Kind nicht wie Åblich gedacht haben muÉ, daÉ es vielleicht schon frÅh<br />

auch intellektuell ‘seine eigenen Wege’ gegangen sein kÄnnte... Es mag ja sein, daÉ der Vf.<br />

sich bei seinen Beobachtungen tÇuschte oder falsch interpretierte, doch genaueres Hingucken<br />

lohnt sich auch fÅr christliche Interpreten.<br />

Da die poetische Produktion schon des Kindes Nietzsche jedoch nicht nur eine graecophile<br />

‘Schlagseite’, sondern sogar einen ‘griechisch-heidnischen’ Schwerpunkt hat, wÇre das<br />

äberdenken nicht nur des bisherigen Dogmas christlicher Nietzscheinterpreten – Nietzsche<br />

darf als SchÅler, wenn Åberhaupt, frÅhestens als portenser Alumne (und auch dann erst<br />

frÅhestens nach seiner Konfirmation am 10. MÇrz 1861) allmÇhlich christentumskritischer<br />

385 geworden sein –, sondern auch der vielleicht basalen crux christlicher Nietzschein-<br />

382 So mag sich der Leser in den Zustand eines Teilnehmers der Gedenkveranstaltung zu Nietzsches<br />

150. Geburtstag am 15.10.1994 in RÄcken versetzen, der nach einigen BegrÅÉungen usw. zuerst den<br />

Vortrag Johann Figls (Geburtstagsfeier und Totenkult, 1995, S. 21-34) und direkt danach dann denjenigen<br />

des Vf.s hÄrte (Friedrich Nietzsche aus Rácken, 1995, S. 35-60).<br />

383 Vgl. dazu Hans Albert: Traktat Äber kritische Vernunft, 3 1991, insbes. S. 11-18, 220ff., 236ff. und<br />

257-268, sowie andere Untersuchungen von Hans Albert.<br />

384 So wie der Autor von DlJ zugunsten seines Anteils der Erarbeitung der Texte des SchÅlers Nietzsche<br />

fÅr KGW I 1-3 & Nachbericht dank ehrenamtlicher GutachtertÇtigkeit auch des Vf.s 6 çFFfinanzierte<br />

Jahre usw. hatte.<br />

385 GrÅndlichere Leser kÄnnten bemerkt haben, daÉ sich JÄrg Salaquarda in seinem zweiten Artikel<br />

Christentum in: Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch, 2000, S. 381, seiner Art entsprechend,<br />

243


terpreten, die crux altertumswissenschaftlicher und insbes. grÇzistischer Unkenntnis oder<br />

aber mangelnden Interesses an antiker hellenistischer sowie vorhellenistischer philosophischer,<br />

wissenschaftlicher und gehobener poetischer Literatur, dringend geboten. 386 Es genÅgt<br />

nicht, die griechische und lateinische Sprache ggf. souverÇn zu beherrschen und jede<br />

Anspielung auf bspw. die Septuaginta, das NT usw. bei Nietzsche aufspÅren zu kÄnnen,<br />

jedoch nicht einmal diejenigen antiken Texte usw., die schon das Kind wenigstens in<br />

äbersetzungen las, zu kennen, geschweige denn sich bspw. in diejenigen ProblemstÅcke<br />

der attischen TragÄdie, mit denen sich Nietzsche mit weitestreichenden Folgen 387 schon als<br />

SchÅler intensivst auseinandersetzte, grÅndlich eingedacht zu haben. Und es genÅgt auch<br />

nicht, um an ein prominentes Beispiel zu erinnern, darauf hinzuweisen, daÉ zentrale Argumentationsketten<br />

Nietzsches bspw. „christliche Wurzeln“ 388 haben oder daÉ sie so auf<br />

christliche ethische PrÇmissen zurÅckgefÅhrt werden, daÉ der Eindruck entsteht bzw. nahegelegt<br />

wird, christliche Wertungen bildeten wie auch immer kaschiert die Grundlagen<br />

zeitweiliger nietzschescher Theoreme: Ohne sich dabei jedoch zu fragen, geschweige denn<br />

zu berÅcksichtigen, was an diesen christlichen Auffassungen denn nicht lediglich antikheidnisch,<br />

sondern spezifisch christlich, genauer: was davon nicht lÇngst in ‘der Orphik’<br />

und verwandten Traditionen virulent war, in antiker klassischer oder hellenistischer Philosophie<br />

bspw. in Athener philosophischen Schulen, z.T. jedoch schon bei Pythagoreern incl.<br />

Empedokles oder auch Sophisten, spÇter bei Stoikern bis zu Seneca und Epiktet etwa entwickelt<br />

oder bei Eklektikern wie Cicero Åberliefert und christlicherseits dann lediglich rezipiert<br />

und allenfalls partiell modifiziert worden ist; und was davon Nietzsche ab wann<br />

selbst auch gekannt bzw. gewuÉt hat. Wie auch sonst findet man fÅr unterschiedliche<br />

Sichtweisen jeweils Belege, Zitate usw. Nietzsches. So gilt es also nicht nur zu gewichten<br />

und zu eruieren, warum Nietzsche zuweilen etwas gelobt hat, was er – mÄglicherweise nahezu<br />

zeitgleich, kurz zuvor oder spÇter – auch massiv kritisiert oder abgewertet 389 hat; sondern<br />

es gilt auch, die eigenen Perspektiven zu weiten.<br />

b. Die Absetzbewegung(en) des portenser SchÅlers Nietzsche vom Christentum lÇÉt (bzw.<br />

lassen) sich in seinen Texten zwar genauestens verfolgen und sind auch lÇngst skizziert,<br />

doch selbst noch in DlJ spielt derlei kaum eine Rolle. Verfolgen lassen sie sich freilich vor<br />

allem in Texten, die nicht als vermeintliche Selbstzeugnisse in zu benotenden SchulaufsÇtzen<br />

formuliert wurden oder gar BehÄrden einzureichen waren – also gerade nicht in einigen<br />

der Texte, die in DlJ Ausgangspunkte der Nietzsches religionskritischer Entwicklung<br />

geltenden Analysen bilden -, sondern (1) in eher privat gebliebenen TextentwÅrfen wie<br />

bspw. im Prometheus-Projekt (FrÅhj. 1859), den Philotas-EntwÅrfen (Herbst 1859) und in<br />

den Ermanarich-DramenentwÅrfen (Herbst 1862); (2) in VortrÇgen vor den beiden Naum-<br />

in bestimmter Hinsicht sehr subtil und in anderer Åberraschend generell ausgedrÅckt hat: „Obwohl N.<br />

sich in Schulpforta rasch [!!] dem [!!] Christentum entfremdete und es als persÄnliche Lebensgrundlage<br />

spÇtestens [!!] nach seiner Konfirmation (1861) verwarf“.<br />

386<br />

Vgl. dazu Hermann Josef Schmidt: Letztes Refugium?, 2011, S. 225-244.<br />

387<br />

Vgl. schon Hermann Josef Schmidt, Friedrich Nietzsche: Philosophie als Tragádie, 1983, S. 216-<br />

239, sowie in extenso zumal in NaJ II, 1994.<br />

388<br />

Vgl. JÄrg Salaquarda in seinem ersten Artikel Christentum in: Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche-<br />

Handbuch, 2000, S. 207.<br />

389<br />

So hat Vf. bspw. schon in seiner ersten Monographie Nietzsche und Sokrates. Meisenheim, 1969, S.<br />

206, gezeigt, daÉ von Nietzsche selbst noch die vergleichsweise naive und hochmoralische Sokratesdarstellung<br />

in Xenophons Memorabilien bspw. in Der Wanderer und sein Schatten Nr. 86, 1880, positiv<br />

hervorgehoben zu werden vermag, wenn es wieder einmal darum geht, Christentum dadurch abzuwerten,<br />

daÉ sogar noch die Memorabilien gegen die Bibel und der einfache Mittler-Weise Sokrates<br />

gegen Jesus positiv abgehoben werden. So produziert also erst die mittels Niveauvergleich intendierte<br />

Abwertung eine konstrasterzielte Aufwertung selbst noch der meist belÇchelten Memorabilien. DafÅr,<br />

daÉ aus einer anderen Perspektive der Sokrates der Memorabilien fÅr Nietzsche von positiver Bedeutung<br />

war, argumentiert HÄdl in Nietzsche, Jesus und der Vater, 2003, S. 78ff.<br />

244


urger Kinderfreunden in der „Germania“, wobei ebenso wie bei EntwÅrfen zugunsten<br />

gemeinsamer TheaterauffÅhrungen freilich zu berÅcksichtigen ist, daÉ der raffinierte Psychologe<br />

Nietzsche in diesen Texten auch die Interessen seiner Freunde, mit denen er in<br />

Kontakt bleiben und in ihn selbst in besonderer Weise interessierenden Fragen 390 ins GesprÇch<br />

kommen wollte, zu berÅcksichtigen bzw. jede bes. ‘kritische’ These entsprechend<br />

auszubalancieren hatte – ein Gesichtspunkt, der irritierenderweise in der DlJ-Interpretation<br />

der „Germania“-VortrÇge Nietzsches 1861/1862 ebensowenig wie m.W. bei anderen Autoren<br />

eine Rolle spielt (und deren in DlJ gezogene ‘SchlÅsse’ m.E. schon allein deshalb<br />

hochproblematisch sind 391 ); (3) schlieÉlich z.T. auch in Nebenthemen in SchulaufsÇtzen<br />

usw. wie bspw. dem sog. HÄlderlinaufsatz (aus dem Herbst 1861) und z.T. in den umfangreichsten<br />

Arbeiten aus Nietzsches portenser SchÅlerzeit, den beiden groÉen Primanerarbeiten<br />

zu Sophokles, Kánig ädipus (Mai/Juni 1864) sowie zu Theognis von Megara (Sommer<br />

1864), alles in NaJ I & II z.T. sogar in extenso aufgezeigt.<br />

Nun kann man zwar Texte zum Schwerpunkt eigener Analyse wÇhlen, die nicht auf dieser<br />

Linie liegen (und in NaJ eher als randstÇndig angesehen wurden), oder die in den noch unverÄffentlichten<br />

NachlaÉ Nietzsches gehÄrig, nur dem Autor von DlJ oder in diese Edition<br />

Eingebundenen bekannt waren oder z.T. noch sind, sollte sich aber der Folgelast von AusweichmanÄvern<br />

bezÅglich von Themen und Texten, die fÅr eigene, Nietzsches frÅhen kulturvergleichenden<br />

Intentionen dankenswerterweise geltenden äberlegungen hochrelevant<br />

sind, bewuÉt bleiben.<br />

Es sei freilich konzediert: Eine (wenngleich vielleicht nicht: diese) Absetzbewegung des<br />

portenser SchÅlers von der heimischen Religion hÇtte vermutlich auch dann erfolgen kánnen,<br />

wenn Nietzsche nicht bereits als Naumburger Kind vor allem 1855-1857 graecophil<br />

orientiert gewesen wÇre. „hÇtte“ und „wÇre“, doch wir wissen es leider nicht; kÄnnen<br />

Nietzsche nicht zurÅck ins FrÅhjahr 1853 schicken, ihn ohne Kenntnis graecophiler Zeitmoden<br />

und Ernst Ortlepps Naumburger Schulen besuchen und im Freundeskreis verkehren<br />

lassen, um anhand seiner dann formulierten Texte sehen zu kÄnnen – immer vorausgesetzt,<br />

auch diese wÅrden nicht in vergleichbarer Intention zuerst selektiert und spÇter christophil<br />

oder einer aktuelleren Zeitmode folgend fehlinterpretiert –, wie er sich entwickelt hÇtte.<br />

Nicht einmal Ernst Ortlepp kÄnnen wir aus Naumburg wegzaubern (obwohl mancher dafÅr<br />

wohl einiges bieten wÅrde), um ÅberprÅfen zu kÄnnen, wie groÉ sein EinfluÉ gewesen war.<br />

So empfiehlt sich eher, mit denjenigen Texten und allen Informationen vorlieb zu nehmen,<br />

die wir haben und noch entdecken kÄnnen, diese in jeglicher Hinsicht seriÄs 392 zu edieren<br />

und nicht minder seriÄs zu interpretieren; freilich zumal Letzteres mit dem unvermeidbaren<br />

Risiko der TÇuschung und des Fehlerhaften, dem menschliche BemÅhungen (und diejenigen<br />

des Vf.s. ohnedies) ausgesetzt sind, u.a. jedoch mit dem Effekt, auf Juxformulierungen<br />

wie Etikettierung von Behauptungen als „unleugbar“ und „zweifellos“ kÅnftighin doch<br />

eher verzichten zu wollen.<br />

390 Nietzsche konnte bekanntlich das Missionieren auch spÇter bei seinen ‘Freunden’ nicht lassen,<br />

suchte bspw. Paul Deussen und Erwin Rohde noch zu einem Zeitpunkt auf Schopenhauers Philosophie<br />

(und spÇter auf Richard Wagners KÅnste) zu fixieren, als er selbst schon dabei war, sich wieder aus<br />

beidem herauszudenken.<br />

391 Das empfinde ich als Çrgerlich, da ich auf diesen Problempunkt in NaJ II nicht nur mehrfach verwiesen,<br />

sondern ihn in den Interpretationen der entsprechenden „Germania“-Vortrags-Texte wie auch<br />

von Fatum und Geschichte jeweils diskutiert und angewendet habe. So kollabieren die DlJ-Interpretationen<br />

dieser Texte (S. 202ff. und 207ff.) m.E. bereits aus diesem Grunde; was wieder einmal die<br />

Frage nach dem Sinn wissenschaftlicher Arbeit in weltanschaulich vermintem GelÇnde aufwirft. Und<br />

meinen in manchen Passagen vielleicht deutlicher als frÅher spÅrbaren Widerwillen verstÇndlicher<br />

macht, Endlosschleifen usque ad infinitum argumentativ begegnen zu sollen.<br />

392 Wie das bspw. in der Abt. IX der KGW nun dank der Arbeit von Marie Louise Haase und anderer<br />

erfreulicherweise geleistet wird.<br />

245


c. Wenn in christlich orientierten <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en von „Gott“ gesprochen wird, kann<br />

sich Vf. nicht immer des Eindrucks erwehren, der betreffende Autor denke keineswegs<br />

ganz so undifferenziert, wie er den Begriff „Gott“ verwendet, sondern er nutze apologetisch<br />

den Sachverhalt, daÉ viele Leser nicht wenigstens sieben nicht unwesentliche Differenzen<br />

des Terminus „Gott“ bei Nietzsche trotz mancher äberschneidungen unterscheiden.<br />

„Gott“ kann bei aller unumgÇnglichen Binnendifferenzierung und mit z.T. immensem Bedeutungsspielraum<br />

bei Nietzsche u.a. bedeuten 1. noch ganz unspezifisch Gott irgendeiner<br />

Religion (Gott1); 2. Gott bzw. JAHWE in der ‘jÅdischen’ Religion (Gott2); 3. Gott in einer<br />

griechischen Religion (Gott3); 4. Gott in einer christlichen Religion (Gott4); 5. der ‘moralische<br />

Gott’ mancher Philosophen und vieler ggf. deistisch orientierter Christen, die sich<br />

weigern, Åber die gegebenen konstitutiven Differenzen nachzudenken (Gott5); und 6.<br />

schlieÉlich der metaphysische ‘Gott’ primÇr neuzeitlicher ‘Mainstream’-Philosophen<br />

(Gott6) und/oder der „Gott der [indoeuropÇischen] Grammatik“ (Gott7). So kommt es<br />

schon etwas genauer darauf an, wessen Tod bspw. der ‘tolle Mensch’ des DenkstÅcks 125<br />

aus Die Fráhliche Wissenschaft verkÅndet – und wessen Tod ggf. nicht; und nicht minder<br />

darauf, wessen Schatten denn noch zu besiegen ist, wenn „wir“ auch noch „seinen Schatten<br />

besiegen“ mÅssen (DenkstÅck 108) – und wessen Schatten ggf. nicht. Tricks bestÅnden also<br />

bspw. darin, daÉ aus Nietzsches VerkÅndigung des ‘Todes Gottes’ als Nietzsches Auffassung<br />

extrahiert wÅrde, er habe noch 1881 geglaubt, der christliche Gott habe irgendwann<br />

einmal – auÉer im Glauben einiger GlÇubiger – ‘gelebt’; oder wenn aus dem Programm,<br />

„wir mÅssen auch noch seinen Schatten besiegen“, abzuleiten gesucht wÅrde,<br />

Nietzsche meinte 1881 noch, der christliche Gott sei seiner Meinung nach noch lÇngst<br />

nicht besiegt worden. Derlei Einebnung relevanter Divergenzen wÅrde Vf. unter „apologetische<br />

Arrangements“ subsumieren.<br />

d. Was schlieÉlich den Aufweis der Entwicklung Nietzsches zum selbstattribuierten „letzten<br />

JÅnger“ des „Philosophen Dionysos“393 betrifft, so ist die nahezu vollstÇndige Ausklammerung<br />

oder zumindest recht marginale BerÅcksichtigung des graezistischen Hintergrunds<br />

der Entwicklung Nietzsches 394 nicht nur in den Argumentationen des Autors von DlJ, sondern<br />

in denjenigen nahezu aller mir bekannten prochristlichen Interpreten 395 eine Crux, die<br />

den Erkenntniswert der betreffenden VerÄffentlichungen auch dann in wohl nicht nur peripherer<br />

Weise minimiert, wenn jenen mein wiederholter Hinweis auf einen derartigen<br />

Sachverhalt beckmesserisch oder arrogant, jedenfalls aber wenig sympathisch erscheint<br />

oder dessen Berechtigung vielleicht sogar unzugÇnglich bleibt.<br />

e. Zuletzt noch ein vielbesprochener Aspekt von oben d.: Nietzsches unterschiedliche Unterschriften<br />

unter seine sog. ‘Wahnsinnszettel’. Auch hier verbietet sich jedes interpretative<br />

Klischee. 396<br />

393 Wenige Monate nachdem der Autor seine Habilitationsschrift einreichte, hielt der Vf. einen Vortrag,<br />

in welchem er (verstÇndlicherweise in Unkenntnis von HÄdls Projekt) in III „Von ‘der Åber AbgrÅnde<br />

(hinweg) zu tanzen verstÅnde’ zum ‘Philosophen Dionysos’“ skizzierte, wie das Thema aus<br />

genetischer Perspektive angegangen werden kÄnnte. Vgl. Hermann Josef Schmidt: „Ich wÄrde nur an<br />

einen Gott glauben, der“, 2002, S. 94-104. Ein Vergleich mit der ArgumentationsfÅhrung in DlJ<br />

kÄnnte verdeutlichen, wie unterschiedlich Autor und Vf. dabei ansetzen.<br />

394<br />

Auf diesen Sachverhalt weise ich seit Jahrzehnten fast gebetsmÅhlenhaft hin; zuletzt noch in Letztes<br />

Refugium?, 2011, S. 225-244.<br />

395<br />

DaÉ dies sogar noch fÅr einen so theologiekritischen neutestamentlichen Exegeten und Kirchengeschichtler<br />

wie Franz Overbeck zu gelten scheint, wenn er gegen Ende seines Lebens seine Erinnerungen<br />

an Friedrich Nietzsche, 1906, notierte, verwundert nicht wenig.<br />

396<br />

Vgl. dazu bspw. Hermann Josef Schmidt: „ich wÄrde nur an einen Gott glauben, der“, 2002, S.<br />

104.<br />

246


Den AbschluÉ bildet eine Skizze des Ertrags in Perspektiven <strong>Genetische</strong>r Nietzscheforschung<br />

und zumal -interpretation (in 4.). Die in zwei FÇllen (Anhang 1 und Anhang 4) Çlteren mit<br />

Ausnahme von Anhang 4, der noch nicht separat vorgelegt wurde, noch unverÄffentlichten<br />

AnhÜnge ergÇnzen einige der ggf. noch konkretisierungsbedÅrftig gebliebenen Punkte.<br />

247


4. Ertrag in Perspektive <strong>Genetische</strong>r Nietzscheforschung und zumal -interpretation<br />

Bei Nietzsche kommt man an kein Ende. Doch auch die AnfÇnge sind<br />

vertrackt. Schon deshalb lohnt sich kritische LektÅre wie selten sonst.<br />

Wenn in einer „<strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong>“ usw. betitelten Untersuchung (anders als<br />

etwa in der Streitschrift Wider weitere Entnietzschung Nietzsches, 2000) keine direkt titelbezogene<br />

systematische Abhandlung, sondern lediglich eine keineswegs unsystematische,<br />

durchaus aber informativ und argumentativ angereicherte Metakritik einer ihrerseits Kritik (an<br />

Nietzsche absconditus. Kindheit, 1991) exponierenden VerÄffentlichung (nÇmlich in Der letzte<br />

JÄnger des Dionysos, 2009) geboten wird, bedarf das wenn nicht einer Legitimation, so<br />

doch selbst dann einer titelrelevanten PrÇsentation des Ertrags, wenn der Gegenstand dieser<br />

Metakritik die differenzierteste und prinzipiellste Kritik an dem umfassendsten Werk darstellt,<br />

das Nietzsches Kindheit bisher gewidmet wurde; und wenn von ungewÄhnlicher Textkompetenz<br />

der an der Kontroverse Beteiligten ausgegangen werden sollte.<br />

Knapper formuliert: Nur der Rang einerseits des Gegenstands der Metakritik, eine ihrerseits<br />

Kritik exponierende, erfolgreiche Habilitationsschrift eines ausgewiesenen Kenners der<br />

frÅhen Texte Nietzsches (nÇmlich DlJ), und andererseits der Rang auch des Objektes der Kritik<br />

dieser Habilitationsschrift (nÇmlich NaK) legitimieren die mit der Formulierung „am Beispiel“<br />

im Untertitel bereits angezeigte Subsumtion der Metakritik unter den gewÇhlten Titel.<br />

Vorausgesetzt ist dabei, daÉ der Ertrag der Metakritik auch fÅr <strong>Genetische</strong> Nietzscheinterpetation<br />

insgesamt als hoch einzuschÇtzen ist. Doch ist er das? Und wer beurteilt das mit der<br />

nÄtigen Sachkompetenz? DarÅber zu befinden ist und bleibt Sache des Lesers mit all’ den<br />

Risiken, denen er sich dabei aussetzt. FÅr den Verfasser jedenfalls gilt, daÉ er diese Metakritik<br />

vorweg im Horizont seines VerstÇndnisses von <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong> 397 und<br />

zumal angesichts der Tatsache, daÉ bisher nicht nur nicht er selbst, sondern seines Wissens<br />

auch kein Dritter sich zuvor monothematisch oder gar in einer Monographie zu <strong>Genetische</strong>r<br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong> geÇuÉert hat, so ausformulierte, daÉ auch bei in Details gehenden einzelnen<br />

ErÄrterungen Åbergeordnete Gesichtspunkte <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong> und<br />

zuweilen auch -forschung teils angesprochen, teils nur angewandt, immer jedoch im Blick<br />

gehalten wurden. Da nun aber unter dem Stichwort „Ertrag“ nicht eine kommentierte Kurzfassung<br />

wesentlicher Argumentationen geboten werden soll, werden nur noch bes. relevante<br />

Stichworte u.a. in der Absicht aufgelistet, um, wenn schon nicht die Relevanz der langjÇhrigen<br />

Kontroverse des Autors von DlJ und des Verfassers, so doch wenigstens der vorgelegten<br />

Metakritik fÅr <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong> zu verdeutlichen.<br />

(a) Was Fragen der Textgrundlage und in diesem Zusammenhang editorische Entscheidungen<br />

usw. betrifft, so dÅrfte mittlerweile unstrittig sein, daÉ<br />

1. auch vom frÄhsten und frÄhen Nietzsche alles noch Vorhandene der Interpretation ohne<br />

weitere VerzÄgerungen, Alibis usw. endlich vollstÇndig bzw. ausnahmslos im Druck zugÜnglich<br />

zu machen ist. Genauer: alles die TextprÇsentation von KGW I 1-3 sowie KGB I<br />

1 äberschreitende bzw. aus Nietzsches Kindheit und restlicher SchÅlerzeit wie sog. Vorstufen,<br />

Fragmente, weitere Notizen aus Schulheften etc. noch Vorhandene ist endlich vorzulegen.<br />

Einerseits sind seit Ende der 6jÇhrigen aus Ästerreichischen Steuermitteln bezahlten<br />

TÇtigkeit (1.4.1988-31.3.1994) des spÇteren Autors von Der letzte JÄnger des Dionysos,<br />

2009 – der in DlJ Informationen verÄffentlichte, die im Nachbericht hÇtten vorgelegt<br />

werden mÅssen – zwecks Vorbereitung der Vorlage sÇmtlicher frÅher Nietzschetexte incl.<br />

kommentierten Nachberichts, eine TÇtigkeit, die auÉerdem spÇter noch zusÇtzlich aus dem<br />

50-Jahre-JubilÇumsfond der çsterreichischen Nationalbank gefÄrdert wurde, mittlerweile<br />

bereits knapp zwei weitere Jahrzehnte verstrichen. Und andererseits waren die Vorausset-<br />

397 Vgl. dazu oben das Vorwort und 1. Einleitung, insbes. Anm. 2.<br />

248


zungen, um hier zusammenzufassen, schlieÉlich optimal: Nietzsches gesamter NachlaÉ<br />

war lÇngst so grÅndlich geordnet, so daÉ mit den Arbeiten fÅr die KGW nicht mehr ab ovo<br />

begonnen werden muÉte398; und drittens waren ca. 2/3 der in KGW I 1-3 gebotenen Texte<br />

in mustergÅltiger Deskription sowie Åberlegter chronologisch orientierter Anordnung bereits<br />

in der HKGW 1-3, 1933-1935, vorgelegt worden.<br />

Nur fÅr den Fall, daÉ aus was fÅr GrÅnden auch immer eine kommentierte Vorlage des<br />

Nachberichts zur KGW I 1-3 durch den Autor von DlJ nicht (mehr) erreichbar ist, ist angesichts<br />

der Bedeutung einer sÇmtliche Aufzeichnungen zumal des frÅhsten Nietzsche berÅcksichtigenden<br />

<strong>Genetische</strong>n <strong>Nietzscheinterpretation</strong> eine (Vor-)VerÄffentlichung sÇmtlicher<br />

noch ausstehenden frÅhen Texte Nietzsches nicht mehr ein weiteres JahrfÅnft aufzuschieben,<br />

wenn die BefÅrchtung interpretationsstrukturierender TextzurÅckhaltung sich als<br />

gegenstandslos erweisen soll. HÇtte der Autor von DlJ seit 1993 weniger kongruent mit Intentionen<br />

eines eine interpretatio christiana Nitii Favorisierenden votiert, sich noch mit der<br />

Art hochspezifischer ArgumentationsfÅhrung seiner neuerlichen Na-Kritik in DlJ weniger<br />

eindeutig als prochristlicher Kontrahent399 positioniert, und wÇren insbes. spezifische editionslegitimierende<br />

Argumente weniger problematisch ausgefallen, hÇtte trotz des mittlerweile<br />

beeindruckenden Zeitabstands eine BefÅrchtung von TextzurÅckhaltung wohl kaum<br />

geÇuÉert werden kÄnnen. Deshalb sollten auch die seit 2000 erfolgten replikhaltigen Metakritiken<br />

des Vf.s nicht als Vorwand der ZurÅcknahme mehrfach bestÇtigter Verpflichtungen<br />

des Autors von DlJ, ein gediegenes Manuskript des kommentierten Nachberichts Johann<br />

Figl, den Herausgebern der KGW oder direkt dem Verlag vorzulegen, genutzt oder<br />

akzeptiert werden. Und daÉ<br />

2. im Rahmen des NochmÄglichen auch der ursprÅngliche Textzusammenhang beizubehalten<br />

bzw. wiederherzustellen ist. (Was auf einer CD auch im Blick auf die Moses-Verse mÄglich<br />

wÇre.) Ausgliederungen oder Umstellungen irgendwelcher Art nach Herausgebergesichtspunkten<br />

sollten tunlichst selbst dann unterlassen werden, wenn deren BegrÅndungen<br />

bei weitem substantieller ausfallen sollten als die in DlJ Angebotenen. Wie konsequenzenreich,<br />

ja weichenstellend scheinbar hochspezialistische EditionsÅberlegungen selbst fÅr<br />

vergleichsweise elementare Fragestellungen sind (wie bspw. nach Sinn und Funktion des<br />

sog. Moses-Vierzeilers und zumal des Lustspiels Der GeprÄfte sowie selbst noch die Diskussion<br />

Åber Details von Handschriften aus dem mittleren Drittel des vorletzten Jahrhunderts),<br />

mÅÉte mittlerweile deutlich geworden sein. SchlieÉlich mÅÉte<br />

3. ebenfalls deutlich geworden sein, daÉ ein in Editionsfragen usw. Entscheidender im Blick<br />

auf das jeweilige Wissen und die Interessen usw. Nietzsches niemals kompetent genug und<br />

daÉ er deshalb<br />

4. nicht bescheiden, zurÄckhaltend und vorsichtig genug sein kann, wenn es darum geht, Texte<br />

auch nur in deren Anordnung zu modifizieren.<br />

(b) Was darÅber hinausgehende inhaltliche Fragen und Gesichtspunkte betrifft, so sei hier<br />

nur das Wichtigste des ohnedies Relevanten prÇsentiert. Dazu gehÄrt:<br />

1. Schon das Kind Nietzsche verfÅgt (wie Aufzeichnungen seiner Mutter aus dem FrÅhjahr<br />

1849 Åber den VierjÇhrigen belegen) nicht nur Åber einen in hohem MaÉe frÅh eigenstÇndig<br />

reflektierenden, sondern, wie einige Texte belegen,<br />

398 Vgl. dazu Hans Joachim Mette: SACHLICHER VORBERICHT ZUR GESAMTAUSGABE DER<br />

WERKE FRIEDRICH NIETZSCHES. In: HKGW I, p. XXXI-CXXII.<br />

399 Nochmals: das sei dem Autor unbenommen, bildet in seinen Resultaten dann ggf. Objekt bspw.<br />

einer Metakritik des Vf.s. Doch fÅr Editoren und deren wiss. Mitarbeiter gelten andere Regeln. Hier<br />

muÉ quasi ‘vor der Klammer’ divergenter Interpretationen seriÄsest und maximal interpretationsneutral<br />

gearbeitet werden. Alles davon Abweichende wÇre als MiÉbrauch editorischer Macht zu klassifizieren.<br />

Und entsprechend negativ zu sanktionieren.<br />

249


2. auch SelbstbezÅgliches ‘durch’reflektierenden Kopf, ist dabei<br />

3. eine Art von ‘Strukturdenker’, zeigt nÇmlich bereits im Ansatz die FÇhigkeit des spÇteren<br />

Nietzsche, punktgenau SensibilitÇt fÅr exemplarische Strukturen zu entwickeln und spÇter<br />

auch umzusetzen.<br />

4. Das Kind neigt offenbar schon sehr frÅh (1849ff.) zu religiÄsen Zweifeln und Problemen 400<br />

– Ausgangspunkt wohl Theodizeeprobleme im Zusammenhang mit der Art der Erkrankung,<br />

des Leidens und Todes seines Vaters, deren Spuren wir in frÅhen Texten entdecken<br />

–, neigt<br />

5. auÉerdem dazu, eigene Probleme in einer ersten Phase weniger intersubjektiv als ‘intrasubjektiv’<br />

– „immer fÅr sich seine Betrachtungen“! – grÅndlich ‘zu bearbeiten’, wobei es<br />

6. bspw. Theodizeeproblemrelevantes nicht nur im religiÄsen Umfeld (z.B. die Moses-Verse),<br />

sondern bevorzugt 401 in griechischen Mythen aufspÅrt und<br />

7. in ‘griechischem’ Kontext poetisch gestaltet und/oder auf der BÅhne eigener Innerlichkeit<br />

ausagiert sowie ggf. in seiner graecophilen Kinderclique zu inszenieren sucht (z.B. Der<br />

GeprÄfte).<br />

8. Die Existenz einer Åber lÇngere Zeit bestehenden und offenbar von Fritz dominierten graecophilen<br />

Naumburger Kinderclique legt ebenso wie der erwÇhnte ‘bedeutenden religiÄsen<br />

AnstoÉ’ erweckende, das Entschwinden griechischer GÄtter etc. beklagende Vortrag von<br />

Schillers Jahrhundertgedicht Die Gátter Griechenlands durch ein kleines MÇdchen der<br />

Graecophilenclique – vermutlich war es Gretchen Pinder, die jÅngere Schwester von<br />

Nietzsches Freund Wilhelm – die Annahme nahe, daÉ um 1855/56 das Kind Nietzsche<br />

nicht lediglich ein sich beiseiteschleichender, zuhause Dichtungen oder Kompositionen<br />

ausarbeitender EinzelgÇnger gewesen sein kann; und daÉ das Bild, das Nietzsche im SpÇtsommer<br />

1858 von sich z.T. zeichnet, sehr stark gegenwartsbezogen und/oder drittleserberÅcksichtigend<br />

oder gar -orientiert ist.<br />

9. NÇhere Analyse des Lustspiels Der GeprÄfte des ElfjÇhrigen fÅhrt zu weitestreichenden<br />

Einsichten in die damalige EmotionalitÇt, IntellektualitÇt sowie kompositorische Intelligenz<br />

dieses elfjÇhrigen Kindes. So ist nicht nur verstÇndlich, sondern auch konsequent, daÉ<br />

einerseits dieses StÅck mehr als jeder andere frÅhe Text des Kindes bisher Gegenstand der<br />

Kontroverse 402 zwischen dem Autor von DlJ und dem Vf. ist; und daÉ andererseits Inter-<br />

400 Nochmals erinnert sei an die auf eigenen Archivrecherchen basierende anders als d. Vf. ansetzende<br />

Skizze der ReligiositÇt des Kindes Nietzsches von Johann Figl: Geburtstagsfeier und Totenkult, 1995,<br />

S. 21-34.<br />

401 Es mag freilich so sein, daÉ zumal aus diesem Themenfeld bes. viele frÅhste der auch fÅr Zweitleser<br />

verstÇndlichen Texte des Kindes nicht mehr zugÇnglich sind. Diese Vermutung erklÇrt zwar nicht,<br />

macht aber vielleicht den eigentÅmlichen Sachverhalt plausibler, daÉ sozusagen der heimischen Diktion<br />

nÇhere Theodizeeexpositionen m.W. fast ausschlieÉlich in den Geburtstagssammlungen zum<br />

2.2.1856-1858 erhalten blieben, ansonsten fehlen, in einem beeindruckenden %-Satz der quantitativ<br />

nun dominierenden restlichen ‘griechischen’ Sujets geltenden Gedichte, die fÅr die weibliche Nietzscheverwandtschaft<br />

unverstÇndlich blieben, jedoch identifizierbar sind.<br />

402 In der engeren ‘Nietzsche-Szene’ schien der Autor von DlJ jede der mit dem Vf. gefÅhrten Kontroversen<br />

unabhÇngig von der QualitÇt der Argumente – nach Ansicht des Vf.s sogar gegenlÇufig zu deren<br />

QualitÇt – wohl nicht zuletzt dank einiger bekannter und einfluÉreicher Kombattanten, der optimalen<br />

Platzierung seiner Texte, des hohen mainstreaminterpretationskompatiblen PlausibilitÇtsgrades<br />

seiner Alternativen, UnterstÅtzung aus der eigenen Alterskohorte, guter Vernetzung, hohen Beteiligungsgrades<br />

bei Konferenzen usw., auch insofern ‘gewonnen’ zu haben als Mainstream- ebenso wie<br />

‘Normalkind’-Interpretationen bei den meisten der leider nur wenigen genetisch nicht vÄllig Abstinenten<br />

unbefragte Regelinterpretationen zu sein schienen; und trotz mancher BemÅhungen nicht zuletzt<br />

des Vf.s vielleicht auch weiterhin zu sein scheinen. Ist die Zumutung der BerÅcksichtigung genetischer<br />

Perspektiven nicht lediglich auf Normalkind- und/oder Mainstreaminterpretationsniveau bei<br />

weitem ‘zu viel des Guten’?<br />

250


pretationen jÅngerer Texte Nietzsches, die in Konkurrenz zur Interpretation bspw. des Vf.s<br />

das bereits bei der Konzeption sowie Ausgestaltung von Der GeprÄfte demonstrierte Niveau<br />

des ElfjÇhrigen deutlich unterschreiten (so wenn sie z.B. aus christophiler Normalkindperspektive<br />

erfolgen), eher als auf den betreffenden Autor zurÅckverweisende ‘Ausdruckssprache’<br />

(im Sinne von Karl BÅhlers Sprachtheorie, 1934, entsprechend neuerer Arbeiten),<br />

denn als zutreffende Diagnosen frÅh(st)er nietzschescher Texte zu verstehen sein<br />

dÅrften.<br />

10. Auch noch 1856 bewegt sich Fritz poetisch auffallend hÇufig im Horizont ‘griechischer’<br />

Sujets und artikuliert<br />

11. in ihnen ebenso wie in mehreren seiner Mutter in den Geschenksammlungen zum<br />

2.2.1856 bis 2.2.1858 Åbereigneten Gedichten Theodizeerelevantes, dessen deutlichste Expositionen<br />

bezeichnenderweise in Begriffen und Bildern („Gewitter“, drohende Wolken,<br />

Blitz, Einschlag, Feuer, Tod und Vernichtung) erfolgen, die erstmals in einem autobiographischen<br />

Text, in Aus meinem Leben aus dem SpÇtsommer 1858, eindeutig im Zusammenhang<br />

mit familiÇren Krankheits- und TodesfÇllen ihre Rolle spielen und dort primÇr auf<br />

12. Erfahrungen und Ereignisse im Zusammenhang mit der Erkrankung und dem Tod von<br />

Nietzsches Vater in dem Geburtsort Nietzsches, dem DÄrfchen RÄcken bei LÅtzen im<br />

GroÉraum Leipzig, zurÅckverweisen, die als basale Erfahrungen und damit sogar<br />

13. als SchlÅssel zum VerstÇndnis von EigentÅmlichkeiten der Entwicklung Nietzsches vom<br />

Kind Nietzsche selbst noch fÅr uns kenntlich erstmals im SpÇtsommer 1858 festgehalten<br />

werden.<br />

14. Die Metakritik basaler Nak-Kritikpunkte des Autors von DlJ vermochte im gegebenen<br />

Rahmen leider nur anzudeuten, daÉ aus dem Zeitraum zwischen Der GeprÄfte, verfaÉt<br />

wohl zwischen Herbst und dem Jahresausgang 1855, und Aus meinem Leben, SpÇtsommer<br />

1858, eine ganze Reihe hochwertiger und z.T. auÉerordentlich aufschluÉreicher Texte<br />

Dazu mag jenseits sozialpsychologisch zu deutender ‘GrÅnde’ einerseits auch die äberlastung des<br />

Vf.s beigetragen haben, der nach anderthalb Jahrzehnten intensiver Arbeit an seinen Skripten ab Mitte<br />

der 1990er Jahre angesichts all’ des seitdem Liegengebliebenen schon physisch nicht mehr fÇhig war,<br />

Åber die Organisation der DNK noch hinausgehend auf die z.T. umfangreichen Briefe, zugesandten<br />

Manuskripte, ausfÅhrlichen und in Details gehenden Anfragen, freundlichen Einladungen usw., die<br />

seine Schriften, die Dortmunder Tagungen, anderweitige Tagungsteilnahmen, Kontakte usw. ausgelÄst<br />

hatten, angesichts der ja weiterlaufenden & anforderungsgesteigerten HochschullehrertÇtigkeit sei es<br />

angemessen sei es wie in nahezu allen FÇllen Åberhaupt noch zu reagieren. (Nachdem die gegen seinen<br />

erklÇrten Willen seitens der Hochschule eingerichtete elektronische Adresse nach wenigen Wochen<br />

bereits von einer 4stelligen Zahl zuweilen viele Seiten umfassender E-Mails aus aller Welt Åberflutet<br />

war – erstaunlich, wer z.T. mit faszinierender Dreistigkeit alles Manuskripte gelesen & beurteilt, FlÅge<br />

bezahlt und Stipendien organisiert haben wollte, um bspw. an einem DNK teilnehmen, in Dortmund<br />

promovieren oder gar sich habilitieren zu kÄnnen; sogar der DAD hatte sich erkundigt, ob ich ‘wirklich’<br />

bestimmte Einladungen ausgesprochen hÇtte... –, hatte Vf. davon Abstand genommen, dieses<br />

selbst nach Beginn seines Ruhestandes am 1.8.2004 nicht sofort abgeschaltete Medium zu nutzen: mit<br />

dem unvermeidbaren Risiko, daÉ ihn auch PersÄnliches auf diese Weise niemals erreichte, durchaus<br />

aber undefinierbare ‘atmosphÇrische TrÅbungen’ zu spÅren waren, weil meinerseits nicht erfolgte Reaktionen<br />

mÄglicherweise als Akt persÄnlicher Ablehnung empfunden worden sein kÄnnten. Doch ‘um<br />

zu Åberleben’ mÅssen zuweilen auch harte PrioritÇten gesetzt und durchgehalten werden.) Andererseits<br />

impliziert obige Auflistung, daÉ es – mittlerweile? – in einem wohl fast schon peinlich absurden AusmaÉ<br />

auf die QuantitÇt medialer und sonstiger Äffentlicher PrÇsenz anstatt auf die QualitÇt von Argumenten<br />

sowie Argumentationen anzukommen scheint. Quo vadis scientia? Drittens freilich der wohl<br />

noch immer entscheidende Grund: der mittlerweile erreichte – auch mit diesem Text belegte – KomplexitÇtsgrad<br />

des kontrovers Verhandelten, der wohl auch kÅnftig noch manchen ‘Kritiker’ zu nietzschetextflÅchtigen<br />

EiertÇnzen veranlassen kÄnnte, sowie viertens die nach meinem Eindruck nahezu<br />

inexistente MÄglichkeit, mit Themen konsequent <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong> an irgend einer<br />

Hochschule – auch nicht (mehr) in Dortmund! – hochrangige AbschlÅsse oder gar ‘Karriere’ machen<br />

zu kÄnnen.<br />

251


(meist Gedichte) aus der Hand des Kindes vorliegen, die zeigen, auf welche Art sich seine<br />

Theodizee- bzw. Christentumskritik radikalisiert und<br />

15. auf welchen Wegen das Kind versucht hat, seine durch die innerfamiliÇr offenbar nicht<br />

Åberzeugend kommunizierten RÄckener Inkonsistenzerfahrungen – erst in VerÄffentlichungen<br />

Nietzsches aus den 1880er Jahren finden wir Formulierungen wie vom „Verlust<br />

der Kindheit“ 403 – entstandenen psychischen Verletzungen ‘poetophilosophisch’ bzw. poetoautotherapeutisch<br />

zu heilen.<br />

16. Ebensowenig gab die Metakritik AnlaÉ, zu berÅcksichtigen, daÉ Aus meinem Leben vom<br />

SpÇtsommer 1858 eine Serie autobiographischer, z.T. als SchulaufsÇtze ausformulierter<br />

und bis zum Abitur Herbst 1864 fortgesetzter drittleseroffener oder gar -adressierter AufsÇtze,<br />

LebenslÇufe usw. erÄffnet, auf die sich DlJ z.T. bezieht, in denen der portenser Alumne<br />

in z.T. beeindruckender, tiefenscharfer Weise auf die Bedingungen seiner eigenen<br />

Genese reflektiert. Als Beispiel ein Auszug aus einem Versuch Nietzsches vom Oktober<br />

1862, seine Gedichte zu kommentieren:<br />

„Es ist [...] nothwendig, sich die Vergangenheit, die Jahre der Kindheit [!!] insbesondere,<br />

so treu wie mÄglich [!!] vor Augen zu stellen, da wir nie [!!] zu einem klaren [!!] Urtheil<br />

Åber uns selbst kommen kÄnnen, wenn wir nicht die VerhÇltnisse, in denen wir erzogen<br />

sind, genau betrachten [!!] und ihre EinflÅsse auf uns [!!] abmessen. Wie sehr auf mich das<br />

Leben meiner ersten Jahre [!!] in einem stillen Pfarrhaus [!! 404 ], der Wechsel groÉen<br />

GlÅcks mit groÉem UnglÅck [!!], das Verlassen des heimatlich[en] Dorfes [...] einwirkten,<br />

glaube ich noch tÇglich [!!] an mir wahrzunehmen.“ (II 119f. bzw. I 3, 24) 405<br />

Wer diese und vergleichbare Texte des frÅh(st)en Nietzsche kennt, bedarf keiner weiteren<br />

BegrÅndung der Relevanz frÅher <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong>. Doch wer kennt sie?<br />

Und wer bedenkt sie und nimmt sie als Nietzsches Texte und ggf. Sichtweise ernst (mit der<br />

er/sie sich ja nicht identifizieren muÉ)?<br />

17. Erstmals im vorliegenden Text genehmigte sich d. Vf., vier entscheidende ConsensusverstáÖe<br />

– es gibt noch eine Serie weiterer – der Nietzsches Kindheit geltenden BÇnde von<br />

Nietzsche absconditus zu exponieren und gegen die vom Autor von DlJ vorausgesetzten<br />

oder angewandten Interpretationsmuster deutlich abzuheben: (a) gegen ‘Normalkind’-<br />

Interpretationen, denn das Kind Nietzsche war belegtermaÉen kein ‘normales’ Kind (in<br />

3.3.2.2.); (b) gegen Mainstream-Interpretationen, denn auch solcherart resultieren ‘Entnietzschungen’<br />

(in 3.3.2.3.); (c) gegen die Annahme, das Kind Nietzsche sei ein glÇubiges,<br />

403 Nochmals sei erinnert an Mazzino Montinari: Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren<br />

1875 bis 1879, 1982, S. 21-37, und: Hermann Josef Schmidt: Von „Als Kind Gott im Glanze gesehn“<br />

zum „ChristenhaÖ“?, 2001, S. 95-118.<br />

404 Nahezu vÄllig ausgeklammert in DlJ blieb die fÅr Nietzsches Genese so wichtige und folgenreiche<br />

Pfarrhausherkunft. Allgemein zum Hintergrund Martin Greiffenhagen (Hg.): Das evangelische Pfarrhaus,<br />

1984; spezieller Reiner Bohley: Nietzsches christliche Erziehung, 1987; Martin Pernet: Das<br />

Christentum, 1989, Klaus Goch: Nietzsches Mutter, 1994, und: Nietzsches Vater, 2000. Zur Situation<br />

speziell im RÄckener Pfarrhaus hat sich auch der Vf. mehrfach geÇuÉert: in Nak, 1991, S. 822-832,<br />

und Friedrich Nietzsche aus Rácken, 1995, passim, sowie neuerdings mit zuvor nicht berÅcksichtigten<br />

äberlegungen nochmals in Wie Herkunft Zukunft bestimmt, 2010, S. 158-179 (und: www.fnietzsche.de/hjs_start.htm).<br />

405 Es gibt noch weitere die nÇmliche Sichtweise belegende Formulierungen Nietzsches aus seiner<br />

SchÅlerzeit. So bietet bereits der erste Aufsatz des frisch in Pforte Aufgenommenen: „wie man denn<br />

Åberhaupt findet, daÉ die ersten EindrÅcke, welche die Seele empfÇngt, unvergÇnglich sind.“ (Mein<br />

Leben, Okt. 1858; I 33 bzw. I 2, 3). Oder 2 1/2 Jahre spÇter: „Jetzt erst [!!??] erkenne ich, wie manche<br />

Ereignisse auf meine Entwicklung eingewirkt haben“ (Mein Lebenslauf. Mai 1861, I 279 bzw. I 2,<br />

258). VerschÇrft bzw. spezifiziert sich hier Nietzsches Einsicht? Oder beginnt er bereits seine vita zu<br />

retouchieren? Oder griff „puberale Amnesie“ (Ernest Borneman) auch hier?<br />

252


tradierten religiÄsen Vorgaben wohlangepaÉtes und nicht vielmehr ein schon frÅh christentumsskeptisches<br />

und zunehmend -kritisches Kind gewesen bzw. geworden (in 3.3.2.4.); (d)<br />

schlieÉlich als vielleicht provokantesten ConsensusverstoÉ bzw. „als Pfiff von NaK“ seiner<br />

Bedeutung entsprechend auch hier zitiert: „als eigentliche Leistung dieses Kindes, eine<br />

Leistung, die nirgendwo anders als in seinen frÄhen Texten eruiert werden kann [...] sind<br />

Nietzsches dokumentierte Versuche des ‘Gewinnens eigenen Landes’, der gráÖtenteils erfolgreichen<br />

‘poetophilosophischen’ Versuche des BewÜltigens (s)einer ‘christogenen Neurose’,<br />

einzuschÜtzen. [...] Und genau der Aufweis dieser Leistung des Kindes Nietzsche ist<br />

nach meinem Eindruck erst die eigentliche Provokation fÄr christophile Interpreten. DaÉ<br />

ein Kind sich in produktiver Nutzung seiner SelbstheilungskrÇfte aus seinem christlichen,<br />

mit ethischen und kognitiven Dissonanzen reich gesÇttigten ererbten Konglomerat hochgradig<br />

eigenstÇndig herauszudenken vermag, ja daÉ es selbst eine so nachhaltige christliche<br />

Erziehung, wie das Kind Nietzsche sie erfuhr, zu bewÇltigen, zu transformieren vermag,<br />

wie frÅhe Texte Nietzsches anzunehmen nahelegen, scheint fÅr manchen Leser und<br />

leider sogar Interpreten noch immer kaum ertrÇglich zu sein.“ (in 3.3.2.11.)<br />

18. Ebenfalls konnte in dieser Metakritik nur angedeutet werden, daÉ dieses Kind Nietzsche,<br />

anders als offenbar noch immer nahezu jeder Interpret, der sich zum frÅhen Nietzsche Çu-<br />

Éert, voraussetzt, am 5.10.1858 keineswegs als unbeschriftetes Blatt mit knapp 14 Jahren<br />

in die unweit Naumburgs gelegene Gelehrtenschule Schulpforta als von der Stadt Naumburg<br />

finanzierter Stipendiat bzw. Alumnus eintrat, um dort wie nahezu alle NeuzugÇnge,<br />

nun erstmals ‘neuhumanistisch beschriftet’ (R. Bohley) zu werden, sondern daÉ dieses<br />

Kind schon 1855/56 bei ‘den Griechen’ psychisch ‘Åberwinterte’ – sie waren damals sein<br />

Land der Hyperboreer –, sich ab 1856 zunehmend ‘aus den Griechen’ mit dem HÄhepunkt<br />

der Fragmente Untergang Trojas (I 415-420 bzw. I 232-238) von 1858, in denen sich bereits<br />

Pluto erdreistet, den 1856 fÅr das Kind noch so dominanten Zeus zu ermahnen: „Zeus,<br />

sei doch nur kein Kind.“ (I 419 bzw. I 237), ‘herausdichtete’ und seinen Weg, angemessenere<br />

Selbstbilder als griechische GÄtter und Heroen suchend, Åber Solon, den Weisen im<br />

Walde und (wie Ernst Ortlepp im Knabenberg zwischen Naumburg und Pforte) in einer<br />

HÄhle, bis Kolumbus, vor allem aber Åber naturale Metaphern (Nachtigall und Lerche,<br />

vielleicht spÇter auch Adler), aufgenommen hatte, unterbrochen und z.T. wohl auch abgebrochen<br />

freilich durch die Verpflanzung in das jede Minute anfangs kontrollierende,<br />

PersÄnlichkeitsentwicklung fast schon prinzipiell zugunsten der Erzielung preuÉischen Untertanengeists<br />

suspendierende – von freigeistigen Oberstufenlehrern dann freilich wieder<br />

konterkarierte – Internatssystem der alten Pforte...<br />

19. Fast zuletzt – wer hat es nicht erwartet? – das Stichwort Ernst Ortlepp. 406 DaÉ christophile<br />

und/oder mainstreamfixierte Interpreten diesem Problempunkt weitestgehend ausweichen<br />

oder ihn ggf. bestmÄglich entschÇrfen 407 , verwundert kaum weiter. Doch an Nietzsches<br />

406 F. Walther Ilges, BlÜtter aus dem Leben und Dichten eines Verschollenen. Zum 100. Geburtstage<br />

von Ernst Ortlepp. 1. August 1800 – 14. Juni 1864. MÅnchen, 1900; Reiner Bohley: Der alte Ortlepp<br />

ist Äbrigens todt, in: Wilfried Barner u.a. (Hg.), Literatur in der Demokratie. FÅr Walter Jens zum 60.<br />

Geburtstag, MÅnchen 1983, S. 322-331; Hermann Josef Schmidt: NaJ II, 1994, S. 694-741; ders:<br />

Friedrich Nietzsche und Ernst Ortlepp, 2000; sowie ders.: Der alte Ortlepp 2 , 2004, insbes. S. 149-320.<br />

Der Band enthÇlt S. 334-500 fÅr Nietzsches Entwicklung ggf. relevante Gedichte. Davon unabhÇngig<br />

bietet eine FÅlle von Gedichten Ortlepps, die das Kind Nietzsche gekannt haben mÅÉte, Ernst Ortlepp.<br />

KlÜnge aus dem Saalthal. Gedichte. Hgg. v. Roland Rittig und RÅdiger Ziemann. Halle 1999. Es existiert<br />

seit der Jahrtausendwende auch eine Ernst-Ortlepp-Gesellschaft (http://www.ernst-ortleppgesellschaft.de).<br />

Elementare Informationen zu Ernst Ortlepp hier im Anhang 1: Exorizismus gescheitert,<br />

I. Hintergrund.<br />

407 Kaum angemessen bewertbar erscheint, was RÅdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens.<br />

MÅnchen, 2000, S. 254f., einer fÅnfmal „Ortleb“ genannten Person widmete, mit der Nietzsche<br />

1863 in so engem Kontakt gestanden sei, daÉ er sogar Gedichte Ortlebs in sein Tagebuch abgeschrieben<br />

habe. All’ das ist neu, vom Vf. leider nicht trennscharf genug von einer Satyre zu unterscheiden.<br />

253


frÅher Genese und an den sein Leben & Denken (von Nietzsche selbst nur angedeutet oder<br />

m.W. spÇter niemals klar ausgesprochen) in hohem MaÉe beeinflussenden ‘Gestalten’<br />

ernsthaft Interessierte sollten an diesem theodizeeproblemthematisierenden, in den frÅhen<br />

1830er Jahren bekannten, zensur- und metternichverfolgten, in den spÇten 1850er Jahren<br />

und bis zu seinem rÇtselhaften 408 Tod am 14.6.1884, wenige Wochen vor Nietzsches Abitur,<br />

sich meistens im Bannkreis der alten, einstmals auch von ihm selbst besuchten alten<br />

Pforte herumtreibenden, von SchÅlern zuweilen mit Bekleidung ausgestatteten vermutlich<br />

ersten und eigentlichen ‘Dionysos’, dem Nietzsche begegnete, nicht ebenso vorÅberschleichen<br />

wie weiland ein Priester und ein Levit an einem von RÇubern äberfallenen, sondern<br />

ihn zumal dann in Recherchen oder wenigstens in äberlegungen einbeziehen, wenn Åber<br />

das VerhÇltnis Nietzsches zu dessen Vater und/oder Richard Wagner spekuliert wird, denn<br />

Ortlepp bildet hier die hochproblematische, konsequenzenreiche ‘BrÅcke’. Das dÅrfte sich<br />

nicht nur allemal lohnen, sondern hat sich schon lÇngst gelohnt.<br />

20. DaÉ der Autor Friedrich Nietzsche einer der sichersten, raffiniertesten, ja hintersinnigsten<br />

Stilisten und u.a. auch Aphoristiker der deutschen Sprache zwischen Georg Christoph<br />

Lichtenberg und Karl Kraus sowie Karlheinz Deschner ist, der mit deren Mehrdeutigkeiten<br />

und Valeurs auf kreativste Weise zu spielen vermag, steht wohl auÉer Diskussion. Umso<br />

abenteuerlicher, daÉ selbst im deutschen Sprachraum sogar im UniversitÇtsbereich VerÄffentlichungen<br />

von Autoren nicht nur als Anregung, sondern auch als Details erÄrternde<br />

Untersuchungen ernst genommen werden, die die deutsche Sprache nicht nur nicht aktiv,<br />

sondern nicht einmal passiv ‘beherrschen’, Nietzsches Texte also nicht im Original lesen<br />

kÄnnen, geschweige denn zwischen gegenwÇrtiger ‘Hochsprache’ und Nietzsches ‘Idiom’<br />

zu unterscheiden vermÄgen. Gegen derlei Scharlatanerie, lediglich Åber bzw. zu einen<br />

‘äbersetzungsnietzsche’ publizieren zu kÄnnen, hat sich d. Vf. in Nietzsche absconditus<br />

ebenso wie in Wider weitere Entnietzschung Nietzsches mit allem ihm nur mÄglichen<br />

Nachdruck409, freilich mit dem Åblichen Erfolg, gewandt. Eine VerÄffentlichung wissenschaftlichen<br />

Anspruchs Åber Platon seitens eines Autors, der seine Texte ausschlieÉlich in<br />

äbersetzungen lesen kann, wÅrde wohl noch immer GelÇchter oder vergnÅgtes Schmunzeln<br />

auslÄsen. Doch welche Kriterien gelten in einem <strong>Nietzscheinterpretation</strong>sbasar?<br />

Nun gilt das unabdingbare Erfordernis deutscher Sprachkenntnisse auch fÅr LektÅre und<br />

zumal Interpretation von Texten des frÅh(st)en Nietzsche schon deshalb, weil diese nicht<br />

als vÄllig abgehoben von seinen gelernten Pastoren(haus)- und ggf. damaligen Schulsprachen<br />

mit ihren spezifischen Valeurs usw. verstanden werden sollten.<br />

21. Vielleicht noch deutlicher mÅÉte geworden sein, daÉ die Zeit, Åber ‘Nietzsche’ und selbst<br />

Åber ‘den frÅh(st)en Nietzsche einfach ‘mal eben so’ verÄffentlichen zu kÄnnen, lÇngst<br />

vorbei ist. SpÇtestens seit Nietzsche absconditus ist, wenn man dieses Werk weder Åber-<br />

Oder sind die entsprechend Passagen telephonisch diktiert worden (und ein unter Termindruck stehender<br />

Autor versÇumte lediglich, sich selbst googelnd zu bemÅhen)? Konsequent wenigstens, daÉ Safranski<br />

davon nichts belegt (dazu genauer Hermann Josef Schmidt, Der alte Ortlepp 2 , 2004, S. 314-<br />

318).<br />

408 Vgl. dazu aus Perspektive eines ehemaligen Kriminalpolizisten Manfred Neuhaus: Tatsachen und<br />

MutmaÖungen Äber Ernst Ortlepp. Norderstedt, 2005, II. „Wer einmal gelebt habt, dessen Tod muÉ<br />

bewiesen werden“ [...]. Ein fiktiver Tatortfundbericht zum Tode von Ernst Ortlepp (1864), S. 139-156;<br />

partiell abweichend, doch etwas risanter Hermann Josef Schmidt Der alte Ortlepp 1 , 2001, und Der<br />

alte Ortlepp 2 , 2004.<br />

409 Zu seiner Freude fand Vf. in Keine Kant-Forschung ohne Deutsch. Dieter Schánecker Äber eine<br />

problematische Tendenz in der gegenwÜrtigen Philosophie. In: Information Philosophie 40, 2/2012, S.<br />

64-67, daÉ er auch in dieser Hinsicht nicht vÄllig allein steht: „Meine These lautet, daÉ es Bereiche in<br />

der Philosophiehistorie gibt, fÅr die Deutsch als Wissenschaftssprache absolut unverzichtbar ist.“ (S.<br />

64) Weniger bescheiden formuliert: „Mit ihrem Latein ist die Welt am Ende. Einmal wird sie es auch<br />

mit ihrem Englisch sein.“ Karlheinz Deschner: Márder machen Geschichte. Aphorismen. Basel, 2003,<br />

S. 65.<br />

254


geht noch lediglich auf SchwÇchen, sondern klugerweise auf seine StÇrken und seinen immensen<br />

Anregungs- und Informationsgehalt hin liest, deutlich, daÉ es nicht einmal genÅgt,<br />

alle frÅh(st)en Texte Nietzsches zu kennen, sondern daÉ unverzichtbar ist, auch einen wenigstens<br />

gediegenen äberblick Åber Fakten der Lebenssituation usw. usw. sich – leider! –<br />

selbst erarbeitet zu haben. DaÉ derlei lÇngst nicht nur ein FaÉ ohne Boden ist, muÉ dem<br />

Verfasser niemand sagen; doch Interpreten sollten wenigstens wissen, wo (um im Bilde zu<br />

bleiben) die wichtigsten FÇsser stehen, wie sie aussehen, wieviele es davon geben mag,<br />

womit sie jeweils gefÅllt sind, welche verschwunden sind oder absichtsvoll beseitigt worden<br />

sein dÅrften, wer sie vor ihnen vielleicht schon – mit welchen Ergebnissen? – inspizierte<br />

usw. usw.<br />

Nun dÅrfte der Gang dieser Metakritik bspw. schon in 2.3. und vor allem in 3.4. sowie im<br />

Anhang 1 wohl deutlichst gezeigt haben, daÉ ein mÄglichst enger, Recherchebequemlichkeit<br />

legitimierender Interpretationsansatz, der DlJ und andere Arbeiten des Autors zum<br />

frÅh(st)en Nietzsche trotz erstaunlicher RechercheengfÅhrungen und -pannen gerade bei<br />

den die NaK-Kritik basierenden Themen sowie bei allen interpretativen SchwÇchen dennoch<br />

bei weitem weniger charakterisiert als fast alles Åbrige, was mit Ausnahme einiger<br />

weniger Autoren wie insbes. Johann Figl und Renate G. MÅller zum frÅh(st)en Nietzsche<br />

vorgelegt wurde, bereits interpretativ, vor allem freilich, wenn man darÅber hinaus noch<br />

als Kritiker bspw. von NaK auftritt, fast schon suizidal wirkt. Da die entsprechenden Recherchen<br />

aber leider immens aufwendig sind, liegen AusweichmanÄver nahe. Dazu gehÄren<br />

wohl an erster Stelle Versuche, NebenkriegsschauplÇtze zu erÄffnen – von eigenen Defiziten<br />

also gezielt abzulenken – oder aber, in wohl Çhnlicher Intention, Anforderungskataloge<br />

zu offerieren, die ermÄglichen, eigene bislang gepflegte Hobbys auch unter dem<br />

Signum von „<strong>Nietzscheinterpretation</strong>“ ohne weiteren nennenswerten, lektÅre- oder gar recherchebedingten<br />

Zeitverlust pflegen zu kÄnnen. Derlei Untersuchungen zeichnen sich<br />

dann entweder durch einen methodologischen oder ihrerseits strittige Wissenschaftsergebnisse<br />

ellenlang referierenden äberhang aus – kommt der betreffende Autor dann endlich<br />

‘zu Nietzsche selbst’, wird denjenigen Lesern, die sich nicht abschrecken lieÉen, nicht selten<br />

ein interpretativ doch recht dÅnnes und zuweilen sogar abgestandnes, hÄchstens lauwarmes<br />

SÅppchen, quasi Nietzsche-ligth, prÇsentiert. Es gilt also, auf derlei ManÄver weniger<br />

hÇufig hereinzufallen.<br />

22. Auch im Blick auf MÄglichkeiten vielleicht nicht nur <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

ist ein ResÅmee auch dieser langjÇhrigen Kontroverse zu formulieren: Maximum des idealiter<br />

Erreichbaren ist eine máglichst nietzscheadÜquate Interpretation im Wissen, daÖ man<br />

‘bei Nietzsche selbst’ zwar ‘niemals ankommt’, weil vieles weiterhin rÜtselhaft bleibt, daÖ<br />

aber auch ohne ‘Beweise’, an denen dem Autor von DlJ so viel zu liegen scheint, wenn er<br />

Hypothesen Dritter negativ beurteilt, im riesigen Feld des Hypothetischen Qualifizierteres<br />

von Deplatziertem durchaus und mit sogar ‘guten GrÄnden’ zu unterscheiden ist. Nietzsches<br />

Texte sind so differenziert und zumal in ihrem Zusammenhang ‘ergiebig’, daÖ sich<br />

subtile – in Nietzsches Kompetenzen ebenso wie ‘Eigenheiten’ 410 freilich mÄglichst informierte<br />

– Interpretation vor allem dann durchaus lohnt, wenn der Interpret intrinsisch mo-<br />

410 Dazu gehÄrt bspw., daÉ schon das Kind Nietzsche eine ‘Privatsprache’ weniger des Vokabulars als<br />

des Inhalts ausgebildet hat; daÉ also nicht erst das Vokabular ‘des reifen Nietzsche’ keineswegs<br />

durchgÇngig dasjenige bedeutet, was ein normaler, aktuellen Wissenschaftssprachen kundiger gegenwÇrtiger<br />

Leser in Nietzsches Texte ‘hineinliest’, sondern daÉ schon bzw. gerade das Kind Nietzsche<br />

mancherlei AnlaÉ hatte, sein Denken in seinen Texten nicht nur ‘zu offenbaren’, sondern auch zu verbergen.<br />

Ein Leser, der nicht so recht versteht, was mit dem hier nur Angetippten gemeint ist, kÄnnte<br />

sich vom Vf. bspw. Mindestbedingungen nietzscheadÜquaterer <strong>Nietzscheinterpretation</strong> oder Versuch<br />

einer produktiven Provokation. In: Nietzsche-Studien XVIII (1989), S. 440-454 (bzw. NaK, S. 129-<br />

146) sowie Wie Herkunft Zukunft bestimmt, Teil 1, in: A&K 4/2010, S. 159-163 (bzw. www.fnietzsche.de/hjs_start.htm.),<br />

ansehen.<br />

255


tiviert ist, also primÜr erkenntnisorientiert intendiert, Nietzsches Gedanken und vielleicht<br />

auch der Person Nietzsche interpretativ máglichst ‘gerecht’ zu werden.<br />

SchlieÉlich, um fast zum AbschluÉ aus einer konkreten forschungs- und interpretationskonstellativen<br />

Perspektive noch zwei besonders relevante Punkte zu skizzieren, bevor ein Spezifikum<br />

dieser Metakritik und damit auch der vom Verfasser favorisierten Form <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

berÅcksichtigt wird...<br />

23. Weniger um den „Ertrag“ dieser Metakritik als die gegenwÜrtige Situation <strong>Genetische</strong>r<br />

Nietzscheforschung und -interpretation in ihrem Ist-Zustand ebenso wie in einigen ihrer<br />

Máglichkeiten abzuschÇtzen, lohnt sich vielleicht, zu skizzieren, was in vergangenen Jahrzehnten<br />

zum Positiven (im Sinne von Bedingungen von MÄglichkeiten) hin so sehr verÇndert<br />

werden konnte, daÉ von einem qualitativen Sprung gesprochen werden kann. Dennoch<br />

ist nur Weniges in grÄbsten ZÅgen hier aufzulisten.<br />

a. Die nach mannigfachen AnlÇufen erste noch heute zitierbare Edition, die auch zahlreiche<br />

frÅh(st)e Texte Nietzsches vorlegte, war Friedrich Nietzsche Werke und Briefe. Historisch-<br />

Kritische Gesamtausgabe. Werke. Bd. I-V, 1933-1940, Nietzsches handschriftlichen NachlaÉ<br />

1854 bis Sommer 1869 (mit Ausnahme der Briefe) in umfassender Auswahl bietend,<br />

und Briefe. Bd. I-IV, 1938-1942, Nietzsches Briefe in einer erstmals von Nietzsches<br />

Schwester unbeeinfluÉten Fassung bzw. in authentischem Wortlaut von 1850 bis zum 7.<br />

Mai 1877 vorlegend. Erst seitdem bestand die MÄglichkeit, auch Nietzsches frÅh(st)e Texte<br />

in umfangreichster Auswahl und verlÇÉlicher Form zu berÅcksichtigen. Doch das geschah<br />

bis in die spÇten 1970er Jahre aus was fÅr GrÅnden auch immer in keiner dem Vf.<br />

bekannten 411 Weise.<br />

411 Dieser mehrfach wiederholte Hinweis soll auf eine Entscheidung des Vf.s hindeuten: Angesichts (I)<br />

des ‘Interpretationsmegadilemmas’ der <strong>Nietzscheinterpretation</strong>, zwischen 1) sÇmtlichen PrimÇrtexten<br />

(hinzu kommen noch tausende Autographen aus nÇchster Verwandtschaft), 2) Nietzsches eigener LektÅre<br />

usw., 3) SekundÇrliteratur und 4) externen Perspektiven, Wissen usw. sowie angesichts (II) der<br />

Tatsache, daÉ man sich noch immer vorweg auf kaum jemanden und kaum etwas verlassen kann, und<br />

(III) des Zwangs, in BerÅcksichtigung eines ohnedies immer knapper werdender Zeitbudgets PrioritÇten<br />

zu setzen, entschied sich Vf. fÅr die PrioritÇtenreihenfolge 1), nochmals 1), 4), 2) und mit groÉen,<br />

groÉen Abstrichen 3). Der Grund: bei Nietzsche bin ich nirgendwo als im Bereich 1) ‘auf Grund’;<br />

ohne 4) jedoch sind kaum differenzierte kritische Fragen zu stellen; ohne 2) versteht man von Nietzsches<br />

Argumentationen viel zu wenig, und das Konvolut – genauer wohl: die Springflut – von 3) setzt<br />

voraus, daÉ von dessen Autoren 1), 4) und mÄglichst auch 2) sowie ebenfalls mit Abstrichen 3) ‘beherrscht’<br />

wÅrde, was einerseits eher die Ausnahme und andererseits ohne eigene wenigstens sehr gediegene<br />

Kenntnis von zumal 1), 4) und 2) nicht zu beurteilen ist. So fÅhren wieder einmal nicht alle<br />

Wege nach Rom – von Rom fÅhren sie eher weg –, sondern zu 1). Da es mit 1) aber bei wohl den<br />

meisten Autoren von 3) erheblich mangelt, ist die nicht seltene PrioritÇtensetzung bei 3) – „nur damit<br />

man ja keinen Kollegen (oder gar eine Kollegin!) Åbersieht oder sogar vergiÉt“? Oder damit man dann<br />

auch selbst wiederum eifrig zitiert wird, sodaÉ sich die apartesten Zitatgemeinschaften wenig Nietzschetextkompetenter<br />

herauszukristallisieren vermÄgen? – mÄglicherweise publicitytrÇchtig, doch wenig<br />

‘zielfÅhrend’, solange es um Nietzscheerkenntnis geht. HÇlt man sich freilich an meinen Vorschlag,<br />

auf den lÇngst vor dem Vf. jeder gekommen sein mÅÉte, wenn er nachgedacht hÇtte, dann erst,<br />

aber dann mit immensem Gewinn, kann man 3), SekundÇrliteratur also, nutzen, denn dann macht es<br />

VergnÅgen, die Schafe von den BÄcken zu scheiden. Da es diesmal aber um krÇftiges GehÄrn usw.<br />

und nicht um einvernehmliches BlÄken geht, plÇdiert Vf. fÅr Beachtung der potenten BÄcke und dafÅr,<br />

die Schafe nicht aus den Augen zu lassen, denn wenn sie von hinten en masse losstÅrmen, kÄnnen sie<br />

niedertrampeln. (Das ist evolutionÇr angezÅchtet, also Programm.) Zum Problem dieses fÅr Nietzscheinterpreten<br />

spezifischen Megadilemmas hatte ich MÅller-Lauter schon 1985 unter dem Vorwand einen<br />

Text fÅr die „Nietzsche-Studien“ eingereicht, damit ihn alle Hg. lasen, der aber u.a. die Errichtung<br />

einer Rubrik fÅr LektÅrefunde (Nietzsches zuweilen unbenannte Quellen usw.) zur Folge hatte. Eine<br />

erheblich modifizierte Fassung des damaligen Textes (Nietzscheforschung weitertreiben oder die Zeichen<br />

stehen auf Sturm!) nahm ich dann in NaJ I, S. 90-115, auf. Was den „Sturm“ betraf, hat er sich<br />

256


. Nach Richard Blunck, der zwar Nietzsches Kindertexte Åberging, in seiner epochemachenden<br />

Biographie Friedrich Nietzsche. Kindheit und Jugend. MÅnchen/Basel, 1953, jedoch<br />

einige Texte des portenser Alumnen in ihrer konsequenzentrÇchtigen Relevanz erkannte,<br />

begann das Eis des Desinteresses an Nietzsches Entwicklung wohl langsamst zu<br />

schmelzen. So wagte Curt Paul Janz, der Nietzsches musikalischen NachlaÉ zur Edition 412<br />

vorbereitete, nach Ermutigung und UnterstÅtzung durch Karl Schlechta auch die Erarbeitung<br />

einer umfangreichen dreibÇndigen Nietzschebiographie Friedrich Nietzsche. Biographie.<br />

MÅnchen, 1978f., in deren ersten Band er Bluncks Text aufnahm und erweiterte.<br />

Vermutlich war es Werner Ross, der erstmals Verse sogar des Kindes Nietzsche in seinem<br />

biographischen Bestseller Der Üngstliche Adler. Stuttgart, 1980, berÅcksichtigte. Wahrscheinlich<br />

jedoch hatte Karl Pestalozzi in Basel schon Ende der 1970er oder Anfang der<br />

1980er Jahre im Seminar Texte auch des frÅh(st)en Nietzsche behandelt (in diesen Zusammenhang<br />

gehÄrt die mehrfach erwÇhnte Lizenziatsarbeit von Julia Kroedel, 1982); unabhÇngig<br />

und in Unkenntnis davon begann auch d. Vf. im FrÅhjahr 1980 nach einem Hinweis<br />

von Josef Speck, der fÅr seine Grundprobleme groÖer Philosophen Åbernommene<br />

Nietzsche-Beitrag 413 mÅsse wg. des Erfolgs der Serie zeitlich vorgezogen werden, mit seiner<br />

noch konsequenter chronologisch angesetzten nochmaligen NietzschelektÅre und<br />

-analyse. Mittlerweile erschienen auch fast Jahr um Jahr Arbeiten zu Nietzsche, die zwar<br />

noch nicht bei den Texten des frÅhsten Nietzsche ansetzten, durchaus jedoch einige Texte<br />

aus Nietzsches meist spÇter SchÅlerzeit berÅcksichtigten.<br />

c. Erst Mitte der 1980er Jahre war die Diskussion Åber die Relevanz der Entwicklung<br />

Nietzsches bereits so weit vorangekommen oder eher -gebracht worden, daÉ 1988 die Herausgeber<br />

der Kritischen Gesamtausgabe Åberzeugt werden konnten, als Abteilung Werke I<br />

nicht mehr wie ursprÅnglich geplant die 5 BÇnde der HKGW schlicht nachzudrucken, sondern<br />

eine sÇmtliche Texte umfassende Edition erarbeiten zu lassen. GegenwÇrtig sind die 5<br />

BÇnde der HKGW als FrÄhe Schriften, 1994, preiswert zugÇnglich; und auch ohne die<br />

noch nicht erschienenen NachberichtbÇnde legten die BÇnde KGW I 1-5, 1995-2006, bereits<br />

mehr Texte insbes. aus Nietzsches Kinder- und restlichen SchÅlerjahren (einschlieÉlich<br />

nahezu aller Zeichnungen des Kindes) vor. Das LeistungsvermÄgen dieser neuen, nun<br />

erstmals als vollstÇndige geplanten Edition alles von Nietzsche wenigstens bis Ende seiner<br />

SchÅlerzeit noch Vorhandenen wird freilich erst in vollem Umfang beurteilbar, wenn der<br />

Nachbericht im Druck samt der restlichen Texte – und auch sÇmtlicher Kompositionen? –<br />

wenigstens auf CD endlich vorliegt.<br />

d. Der Fall der innerdeutschen Mauer verÇnderte glÅcklicherweise auch in unserem speziellen<br />

Fall sehr vieles zum Positiven: Einerseits wurden die fÅr <strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung<br />

zentralen beiden Archive, das Goethe-Schiller-Archiv (GSA) der spÇteren Stiftung<br />

Weimarer Klassik (wechselnden Namens) und das Archiv der Landesschule Pforta, nun<br />

problemlos auch fÅr ‘Westdeutsche’ zugÇnglich. Das bedeutete eine entscheidende Verbesserung,<br />

da nun von Interessierten gezielt recherchiert werden konnte; andererseits jedoch<br />

bestand die Hoffnung, daÉ nun eine grÄÉere Palette weniger weltanschaulich gebundener<br />

Interpretationen aus divergenten Blickwinkeln incl. denjenigen genetischer <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

ein hÄheres MaÉ an Beachtung finden kÄnnten als in der alten interpretativ ziem-<br />

schon gegen NaJ I voll ausgetobt. (Doch vom Drachenfliegenlassen aus unseren Kinderjahren weiÉ<br />

wohl noch jeder: wenn der Drachen gut gebaut ist, die Hand fest und die Schnur stabil, dann kann und<br />

soll ‘es tÅchtig blasen’, denn dann erst kann der Drachen ‘so richtig schÄn’ steigen; und nicht etwa bei<br />

sÇuselndem LÅftchen. Vielleicht gilt das zuweilen auch im Wissenschaftsbetrieb.)<br />

412 Friedrich Nietzsche: Der musikalische NachlaÖ. Hgg. im Auftrag der Schweiz. Musikforschenden<br />

Gesellschaft von Curt Paul Janz. Basel und Kassel, 1976.<br />

413 Hermann Josef Schmidt: Friedrich Nietzsche: Philosophie als Tragádie, 1983. In: Josef Speck<br />

(Hg.), Grundprobleme groÉer Philosophen. Philosophie der Neuzeit III, 1983, S. 198-241.<br />

257


lich verkrusteten BRD. Diese Hoffnung 414 wurde gestÅtzt durch die GrÅndung einer ‘gesamtdeutschen’<br />

Nietzschevereinigung, die seit einer Reihe von Jahren den Namen Nietzsche-Gesellschaft<br />

trÇgt, in der Regel in Naumburg/Saale wenigstens einmal jÇhrlich Nietzsche-Kongresse<br />

sowie weitere Veranstaltungen, in Nietzsches Geburts- und Beerdigungsort<br />

RÄcken VortrÇge usw. veranstaltet, seit 1992 jÇhrlich eine Nietzsche-Werkstatt-<br />

Schulpforte organisiert, an zahlreichen AktivitÇten sei es stimulierend sei es organisierend<br />

mitwirkt usw. Das Feld ist lÇngst bestellt; man muÉ es nur hegen, pflegen und nicht der<br />

Versuchung der Dominanz des Quantitativen, ReprÇsentativen oder einer Monokulturenpflege<br />

unterliegen.<br />

e. Was schlieÉlich die Literatursituation betrifft, so bieten die beiden NietzscheforschungsjahrbÅcher<br />

Nietzsche-Studien, seit 1972, und die Nietzscheforschung, seit 1994 (vgl. dazu<br />

Anhang 2), ein Nietzsche-Handbuch und ein Nietzsche-Lexikon 415 sowie eine Reihe auslÇndischer<br />

Organe und ohnedies das Internet eine FÅlle (hier z.T. in den Anm. angefÅhrter)<br />

kleinerer Arbeiten auch zu Fragen <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong>. Doch auch an separaten<br />

VerÄffentlichungen teils in diversen Nietzsche-Buchreihen sowie separat im Druck<br />

und zunehmend im Internet aus z.T. gegensÇtzlichen Perspektiven besteht, wie auch diese<br />

Untersuchung belegt, mittlerweile kaum Mangel.<br />

f. VerstÇndlicherweise wÇre noch eine Desiderataliste primÇr fÅr <strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung<br />

und -interpretation anzufÅgen, abgehoben gegen eine konkrete Bilanz von bisher<br />

Erreichtem. Das wÅrde wieder einmal jeden Rahmen sprengen, muÉ also (noch) unterbleiben.<br />

So kann resÅmiert werden, daÉ zumal seit den 1990er Jahren mannigfache Voraussetzungen<br />

verbessert oder sogar erst geschaffen werden konnten (vgl. dazu Anhang 2), um endlich<br />

auch Probleme <strong>Genetische</strong>r Nietzscheforschung und -interpretation auf bereits hohem<br />

Niveau diskutieren und klÇren zu kÄnnen, wenn daran Interesse bestehen sollte; und daÉ<br />

seit Mitte der 1990er Jahre jedoch die Zahl der VerÄffentlichungen ‘zu Nietzsche’ in einem<br />

solch’ explosiven AusmaÉ zugenommen hat, daÉ noch weniger als zuvor davon ausgegangen<br />

werden kann, die qualitativ hÄchststehenden Untersuchungen kÄnnten im Wust des<br />

‘auf den Markt Geworfenen’ ohne erheblichen Aufwand noch identifiziert werden. Auf-<br />

414 DaÉ diese Hoffnung sich nicht nur nicht erfÅllte, sondern sich unter gegebenen UmstÇnden auch<br />

nicht erfÅllen konnte, mag viele GrÅnde haben. Die durch den Zusammenbruch der DDR aufgenÄtigte<br />

Umlenkung des Interesses des faktisch fast vollstÇndig ‘abgewickelten’, nahezu gesamten ‘intellektuellen<br />

äberbaus’ nach Nivellierung selbst basaler Binnendifferenzierungen, ein nach dem Empfinden<br />

des Vf.s paenerekonquistatorischer auch wertvollste Strukturen zerschlagender und kulturniveaureduzierender,<br />

z.T. Konjunkturrittertum fÄrdernder Kahlschlag sondergleichen, fÅhrte Åber mehr als ein<br />

Jahrzehnt zur Umpolung der Aufmerksamkeit auf pures äberlebenkÄnnen. Und auf die Entstehung<br />

zahlreicher RÅcksichtsnahmen mit dem Effekt perpetuierter, demÅtigender Dankbarkeitsverpflichtungen.<br />

Von wem anders als von einigen von bestimmten BRD-Beurteilern akzeptierten Personen sollten<br />

denn diejenigen Gutachten kommen, die vor dem Schicksal des Verlusts der eigenen Hochschullehrerposition<br />

bewahren konnten? Ein dem Vf. bes. auffÇlliger weiterer Grund dÅrfte in der antrainierten<br />

FÇhigkeit mitteldeutscher Akademiker bestanden haben, von persÄnlichkeitsdiagnostischen AttitÅden<br />

angesichts eigener Hierarchen tunlichst abzusehen, d.h. aber auf Motivreflexionen, ‘Psychologie’ und<br />

vieles dessen ausdrÅcklich und mÄglichst sogar so, daÉ man diese schmerzliche Ausblendung selbst<br />

mÄglichst wenig bemerkt, zu verzichten; damit aber auf Perspektiven, die bei einer Interpretation,<br />

wenn nicht bereits bei einfacher LektÅre dieses Auch-Psychologen Nietzsche nur um den Preis hochgradig<br />

vereinseitigter LektÅre auÉeracht gelassen werden kÄnnen. Deshalb waren/sind die interpretations-<br />

und weltanschauungskritischen Argumentationen des Vf.s auch in den neuen BundeslÇndern trotz<br />

freundlichen ZuhÄrens bei VortrÇgen usw. weitestgehend Sondervoten geblieben, als Sondervoten<br />

m.W. aber respektiert und nicht diffamiert worden. Anders als anderswo.<br />

415 Zu dem von Henning Ottmann herausgegebenen Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.<br />

Stuttgart; Weimar, 2000 (nachgedruckt 2011), sowie dem Christian Niemeyer herausgegebenen Nietzsche-Lexikon.<br />

Darmstadt, 2009 (erw. Neuausgabe schon 2011), vgl. obige Anm. 4.<br />

258


schluÉreich dÅrfte sein, ob einer „GanztextlektÅre“ zum Ausnahmefall erklÇrenden, hochgradig<br />

selektiven, mittlerweile suchprogrammerleichterten mehr stichwort- als gedankenorientierten<br />

Reprisenproduktion wenigstens im Bereich der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> noch<br />

Einhalt geboten werden kann.<br />

24. Fast zuletzt noch einige wohl unumgÇngliche stichwortartige Bemerkungen zur Kriterienfrage,<br />

nÇmlich zur Frage von Kriterien der<br />

a) NietzschelektÅre,<br />

b) einer VerÄffentlichung ‘zu Nietzsche’,<br />

c) einer Publikation zu Nietzsche mit wissenschaftlichem Anspruch, zu<br />

d) einer kritischen Stellungnahme zu ‘Nietzsche’ sowie schlieÉlich<br />

e) zu einer kritischen Stellungsnahme zu einer VerÄffentlichung Åber Nietzsche sei es e1)<br />

in einer Rezension sei es e2) in einer Abhandlung (Vortrag, Beitrag, Aufsatz, Monographie<br />

usw. usw.)<br />

schon deshalb, weil dabei eine ansteigende Skala von Anforderungen nicht nur anzuerkennen,<br />

sondern selbst auch zu erfÄllen eine Frage elementarster wissenschaftlicher Ethik und<br />

wohl auch des SelbstverstÜndnisses jedes mit wissenschaftlichem Anspruch sich ãuÖernden<br />

ist.<br />

Zu a) NietzschelektÄre. So steht wohl auÉer Frage, daÉ jede(r) das Recht und manche(r)<br />

auch diverse Formen emotionalen und/oder intellektuellen Gewinns usw. hat, ‘Nietzsche’<br />

zu lesen, je nachdem aber, wer er bzw. sie ist, dabei auch gewisse Risiken eingeht. NietzschelektÅre<br />

versetzt Leser in ein geistiges Kraftfeld sondergleichen, kann Naivere aber<br />

auch zu massivsten Abwehrreaktionen ebenso wie zu absurden Identifikationen („Ikone<br />

Nietzsche“), Fehlhaltungen, kuriosen GenieattitÅden und Çhnlich Deplatziertem und sogar<br />

zu noch RuinÄserem verfÅhren. Hier ‘greift’ die Eigenverantwortlichkeit des Lesers oder<br />

der Leserin mit allen Gewinnen und Risiken, die im Falle eines noch immer so brisanten<br />

Autors wie Friedrich Nietzsche anfallen mÄgen. 416<br />

Zu b) einer Veráffentlichung ‘zu Nietzsche’ ohne wissenschaftlichen Anspruch, die bspw.<br />

auch in Romanform oder als ErzÇhlung erfolgen kann, gelten vergleichbare Freiheiten.<br />

Zwar spricht viel dafÅr, daÉ ein(e) Autor(in) nicht nur den Namen „Nietzsche“ okkupiert,<br />

um ein hÄheres MaÉ an Aufmerksamkeit zu finden, sondern Åber mÄglichst ‘gediegenes<br />

Sachwissen’ verfÅgt, um ggf. Auffassungen, ‘Spekulationen’ artikulieren zu kÄnnen, denen<br />

der Autor zwar intuitiv und ggf. auch ‘von der Systematik her’ groÉen Kredit gibt, die aber<br />

noch nicht als belegt und ggf. wg. ihrer Brisanz auch nicht als je belegbar gelten kÄnnen.<br />

So artikulieren sich zuweilen m.E. brillante Nietzschekenner auf eher literarische Weise, 417<br />

vielleicht, um manchem Streit, mancher gerade im ‘<strong>Nietzscheinterpretation</strong>ssandkasten’<br />

mÄglicherweise in bes. Weise verbreiteten HÇme, interpretativen HeimtÅcke usw. eleganter<br />

aus dem Wege gehen zu kÄnnen. Ob mit dem erhofften Erfolg, lÇÉt Vf. offen.<br />

Zu c) einer Publikation zu Nietzsche mit philosophischem Anspruch. Wie kaum anders zu<br />

erwarten, setzt hoffentlich nicht nur d. Vf. zwischen b) und c) eine ‘erhebliche Abstandsmarke’.<br />

Soviel an Freiheiten ggf. fÅr b), so unverzichtbar ein Ensemble klarer Kriterien,<br />

Vorgaben usw. fÅr c). Dazu gehÄren wenigstens gediegene Deutschkenntnisse zwecks<br />

grÅndlicher und subtiler PrimÇrtextkenntnisse, wozu wenigstens sÇmtliche (vom Autor<br />

selbst noch veranlassten) VerÄffentlichungen Nietzsches gehÄren; dazu zwecks BlickschÇrfung<br />

auch eine wenigstens kursorische LektÅre von Briefen Nietzsches und, auch wenn das<br />

den meisten Interpreten noch immer ‘Åberhaupt nicht ins eigene Konzept paÉt’, grÅndliche<br />

416 Vgl. bspw. Hermann Josef Schmidt: Warum es sich lohnt, Nietzsche zu lesen... In: AufklÇrung und<br />

Kritik 2/2007, S. 106-121 (und www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm).<br />

417 Vgl. etwa Volker Ebersbach: Nietzsche in Turin. Winsen und Weimar, 1994; Irvin D. Yalom: Und<br />

Nietzsche weinte (1992). Hamburg, 1994; Joachim KÄhler: Nietzsches letzter Traum. Roman. MÅnchen,<br />

2000, und nun Ludger LÅdtkehaus: Die Heimholung. Nietzsches Jahre im Wahn. Eine ErzÜhlung.<br />

Basel, 2011.<br />

259


LektÅre wenigstens der in der Metteedition vorgelegten Texte des Kindes und SchÅlers<br />

Nietzsche – bei denjenigen der Studentenjahre kann selektiver gelesen werden –, denn<br />

sonst versteht man von Nietzsches Entwicklung zu wenig, merkt kaum einmal, wann ‘der<br />

spÇtere Nietzsche’ Fragen, Probleme des FrÅheren wieder aufnimmt – dilettiert also in<br />

primÇren Rezeptionsfragen –, nun vielleicht erstmals auf spezifische Weise akzentuiert oder<br />

gar Informationen mehr oder weniger verschlÅsselt ‘bietet’, die zwar ‘passen’, jedoch<br />

zuvor von Nietzsche selbst noch nicht gegeben worden waren. Klarst formuliert: Bei Interpretationen<br />

mit wissenschaftlichem Anspruch kann lediglich ‘eine untere Latte’ fixiert<br />

werden, die unabdingbar zu Åberspringen ist, wÇhrend ‘nach oben’ alles offen bleibt (und<br />

bleiben muÉ). Zu dem unter ‘nach oben’ Verstandenen wÅrden bspw. chronologische Perspektiven<br />

– wilde Textmixturen ohne Zeitbezug gelten mittlerweile glÅcklicherweise als<br />

wenig seriÄs – oder Kenntnisse von Nietzsches (zumal frÅhen) LektÅren gehÄren, Lutherbibel,<br />

Literatur Åber die griechische und rÄmische Antike usw. und zumal aus dem genannten<br />

Zeitraum. 418<br />

Zu d) einer kritischen Stellungnahme zu ‘Nietzsche’. Das sei jedem bzw. jeder zwar unbenommen,<br />

sich auf seine bzw. ihre Weise zu ‘Nietzsche’ zu ÇuÉern – manchmal resultiert<br />

freilich kaum Relevanteres als der mittlerweile dank abnehmenden Bildungsniveaus zunehmend<br />

sich abschwÇchende sog. Nietzschereflex 419 –, doch da es dabei nicht unerheblich<br />

auf Wissen ankommt, prÇsentiert der bzw. die sich zu ‘Nietzsche’ Artikulierende auch seine<br />

bzw. ihre eigene psychische, intellektuelle sowie bildungsspezifische Visitenkarte mit<br />

all’ den dabei anfallenden Risiken. Doch das gilt ja auch sonst.<br />

SchlieÉlich zu e) einer kritischen Stellungsnahme zu einer Veráffentlichung Äber Nietzsche.<br />

Damit erst bewegen wir uns nun ‘im engeren Feld’ der hier exemplifizierten Metakritik an<br />

einem seinerseits Kritik Åbenden Text hÄchsten akademischen Anspruchs (und schon insofern<br />

einem ‘geradezu idealen Objekt’ entsprechender Argumentationen). Bedarf es noch<br />

einer Diskussion, daÉ hier, anders als in a) bis d), nun die anspruchsvollsten MaÉstÇbe/Kriterien<br />

sowohl ‘ins Spiel zu bringen’ als auch anzuwenden sind? Das bedeutet nicht<br />

nur RÅckgriff auf das bisher exponierte ja nur partielle Ensemble von Interpretationskriterien,<br />

sondern nunmehr auch ein mÄglichst anspruchsvolles Ensemble sowohl mÄglichst<br />

‘nietzschespezifischer’ 420 als auch ‘gegenstandsspezifischer’ Kritierien. Was im Blick auf<br />

e1) und e2) nun gesondert zu skizzieren ist.<br />

Zu e1) Rezension einer VerÄffentlichung Åber eine <strong>Nietzscheinterpretation</strong> mit wissenschaftlichem<br />

Anspruch. DaÉ hier zu den unabdingbaren Kriterien gehÄrt, daÉ der mÄglichst<br />

kritische Rezensent sich nicht lediglich ‘in Nietzsche’ bereits grÅndlich auskennt,<br />

sondern auch die zu rezensierende Untersuchung grÅndlich gelesen, geistig prÇsent und in<br />

seiner Rezension wenigstens in deren GrundzÅgen dem zu informierenden Leser auch bekannt<br />

zu machen gewillt sowie fÇhig ist, bevor er mit eigenen Wertungen, Urteilen usw.<br />

sich ÇuÉert, dÅrfte zum Proseminarwissen gehÄren; vorausgesetzt, man hat das nicht an einem<br />

guten Gymnasium lÇngst in der Oberstufe gelernt. Ist also auch bei <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en<br />

thematisierenden Rezensionen vorauszusetzen.<br />

Da Vf. sich in seiner neuerlichen Sondervotenpublikation, 421 nÇmlich dieser hier, aus<br />

mehrfach erwÇhnten Grund vorsichtshalber nur zu eigenen Erfahrungen ÇuÉert – kritische-<br />

418 Dazu genauer Hermann Josef Schmidt u.a. in Wider weitere Entnietzschung Nietzsches, 2000.<br />

419 Dazu Hermann Josef Schmidt: „Du gehst zu Frauen?“ Zarathustras Peitsche – ein SchlÄssel zu<br />

Nietzsche oder einhundert Jahre lang LÜrm um nichts? In: Nietzscheforschung, Bd. 1, 1994, S. 111-<br />

134.<br />

420 Dazu wieder Hermann Josef Schmidt: Entnietzschung, 2000, passim.<br />

421 Deshalb nochmals: dieser ‘Sondervoten’-Status der VerÄffentlichungen des Vf.s bzw. deren inhaltliche<br />

wie formale ‘Alleinstellungsmerkmale’ haben Vf. immer wieder vor die Wahl gestellt, bei PrÇsentation<br />

fÅr substantiell gehaltener Informationen (schon vorsichtshalber bzw. aus in Anm. 22 erschlieÉbaren<br />

GrÅnden) als Quelle nicht auf Dritte zu verweisen, sondern auf eigene Erfahrungen zu<br />

260


e Leser aber bittet, sie mit den Ihren vergleichen zu wollen; und ihnen herzlich gratuliert,<br />

sollten diese fair und problemangemessen ausgefallen sein –, kann er auf eine bunte Mischung<br />

in der Regel jedoch oft erfreulich zustimmend ausgefallenen Rezensionen verweisen:<br />

mit auffÇllig deutlich abnehmender Frequenz freilich bei den jÅngeren, noch provokanteren<br />

Arbeiten ab 1992, auf die es eigentlich ankÇme. C’est la vie. Doch auÉerdem<br />

kommt es auch auf deren Erscheinungsort an. Deshalb nur ein Hinweis auf jeweils eine<br />

einzige Rezensionserfahrung mÄglichst reprÇsentativen Orts bezÅglich der ersten und der<br />

letzten monographisch exklusiven NietzscheverÄffentlichung.<br />

Die erste Nietzschemonographie des Verfassers war Nietzsche und Sokrates, 1969, seine<br />

Freiburger, dort seit Sommer 1967 Åber 6 Professorenschreibtische (des Erst- und Zweitkorrektors<br />

Wolfgang Struve sowie Eugen Fink, des Platonspezialisten Hermann Gundert,<br />

dem ich fÅr seine BleistiftlektÅre des umfangreichen Manuskripts zu danken habe, des Hegel-<br />

und Marxspezialisten sowie Psychologen Robert HeiÉ, eines dt. Literaturwissenschaftlers<br />

und schlieÉlich eines weiteren Philosophieprofessors Bernhard Lakebrink, des Konkordatlers,<br />

quasi als Gegenstimme) gewanderte Dissertation Åber Nietzsches Sokratesbild<br />

vom 12.7.1968. U.a. wurde sie 1972 vorgestellt im ErÄffnungsband der „Nietzsche-<br />

Studien“, 1972, 422 seitens des sich spÇter mehrfach m.E. anerkennenswert substantiell zu<br />

Fragestellungen der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> ÇuÉernden katholischen Theologen Peter<br />

KÄster in 3 eng bedruckten Seiten. KÄster hat sich grÅndlich eingearbeitet, referiert gediegen<br />

(allerdings bereits sehr aus Perspektive des zu thematisierenden Bandes, so daÉ die<br />

Differenz zu Vorherigem schwÇcher ausfÇllt) den Stand der Forschung, schlieÉt sich erfreulicherweise<br />

dem kritischen Urteil des Vf.s an der eigentÅmlich sokratisch-christlichen<br />

Mixtur von Ernst Sandvoss in Sokrates und Nietzsche, Leiden – sic! Manchmal leidet auch<br />

‘Nietzsche’? –, 1966, an, um dann das spezifische LeistungsvermÄgen der zu besprechenden<br />

Untersuchung dagegen abzuheben. DaÉ dabei der Rezensent auf einem hohen RoÉ<br />

sitzt, gehÄrt wohl zur Konstellation. DaÉ er nicht zu Unrecht moniert, daÉ nicht jede Stelle<br />

so grÅndlich interpretiert wurde, wie das in einem umfangreicheren Band mÄglich gewesen<br />

wÇre, liegt in der Sache. DaÉ er selbst Nietzsche anders sieht, versteht sich. DaÉ er<br />

Schlechthinniges schÇtzt(e) und glaubt(e), man kÄnne eine Textstelle bei Nietzsche vollstÇndig<br />

verstehen, strÇubt des Metakritikers Haare. Doch daÉ er den – aus meiner heutigen<br />

Sicht – entscheidenden Schwachpunkt schon klar erkannte: konsequent textimmanente Interpretation<br />

bei Ausblendung aller biographischen BezÅge, spricht sehr fÅr ihn. So betont<br />

er „zwei VorzÅge“, stimmt auch dem Ansatz zu („richtige SchlÅsse“), doch ‘der Pfiff’ der<br />

Untersuchung, worum es wirklich ging, daÉ ‘Sokrates’ in Nietzsches Entwicklung nÇmlich<br />

ganz spezifische Problemkonstellationen aus dem Erkenntnis- und Moralbereich ‘verkÄr-<br />

rekurrieren. Mit dem Nebeneffekt leider, daÉ sich dieser Text stellenweise wenigstens dann ungewÄhnlich<br />

persÄnlich liest, wenn Entwicklungen ‘der Szene’ der letzten Jahrzehnte nicht ausgeklammert<br />

werden sollen (vgl. z.B. Anhang 2). Doch das Eine – substantielle Informationen Åber HintergrÅnde,<br />

die vielleicht auch manche Aversion gegenÅber einer genetischen Perspektive verstÇndlicher<br />

machen kÄnnten – kann man leider nicht ohne das Andere haben: Artikulationen von Erfahrungen des<br />

Verfassers, die JÅngere aber auch unter der Fragestellung lesen kÄnnten, auf was sie sich einlassen<br />

bzw. ‘womit sie wenigstens lÇngerfristig rechnen’ kÄnnen oder gar mÅssen, wenn sie sich wie Vf.<br />

erdreisten sollten, wider manchen Stachel zu lÄken oder gar ggf. in direktem Zugriff auf vielleicht<br />

kaum widerlegbare Argumente, tradierte Reviergrenzen auf zuweilen provokative Weise zu verletzen<br />

(weil sonst weiterhin stillschweigend ‘gedeckelt’ wird) sowie wenigstens einige von deren berufenen<br />

Verteidigern zu PhalanxbemÅhungen zu veranlassen. Andererseits: Was taugt Wissenschaft und zumal<br />

Philosophie, wenn sie nicht einmal das wagt? Deshalb: AufklÇrung & Kritik! Und nochmals: AufklÇrung<br />

& Kritik!<br />

422 Peter KÄster in: Nietzsche-Studien I, 19872, S. 441-443. Weitere z.T. sehr zustimmende Rez. in<br />

Philosophischer Literaturanz XXIV (1971), S. 116-18 (Volker Niebergall) / Zeitschrift fÄr philosophische<br />

Forschung XXVII (1983), S. 467-72 (Fritz Rau) / Philosophische Rundschau XXII (1975), S. 294-<br />

97 (Hedwig Wingler, die ehemalige Schlechta-Assistentin).<br />

261


perte’, daÉ sich mit Nietzsches ‘Wandel’ bzw. aus Perspektive des jeweiligen prinzipiellen<br />

Ansatzes auch seine Sokrateszeichnungen verÇnderten, daÉ in dieser Konstellation also ein<br />

SchlÅssel liegt, um diverse VerÇnderungen erst einmal ‘orten’ zu kÄnnen, kommt nicht so<br />

recht heraus. DaÉ in einer Freiburger Dissertation ‘am Heideggerlehrstuhl I’ eine Formulierung<br />

wie „maÉgebliche Interpretationen“, worÅber sich KÄster ziemlich ausfÅhrlich kritisch<br />

ÇuÉert, ironisch verstanden wurde, wenn etwa in heideggernahen Formulierungen das<br />

Gegenteil des heideggerschen Ansatzes durchexerziert wird, hat er wohl nicht fÅr mÄglich<br />

oder fÅr wichtig gehalten. Und auch nicht, daÉ Vf. keineswegs von einem vorweg bestehenden<br />

VerstÇndnis ausging, sondern schon damals ‘Nietzsche die Chance lassen wollte’,<br />

gegenÅber dominanten interpretativen Gewaltsamkeiten sorgsam gelesen zu werden, ‘sah’<br />

er wohl ebenfalls nicht. Und wie Nietzsches Sokratesbewertung mit seiner Christentumsabwertung<br />

quasi invers zusammenhÇngt, ebenfalls nicht. Doch immerhin: ein sachkompetenter<br />

Rezensent und katholischer Theologe. Es hÇtte also bei weitem schlimmer kommen<br />

kÄnnen (und ist so ja auch gekommen) fÅr einen jungen Autor, der unter damaligen Freiburger<br />

VerhÇltnissen einigen bestÇtigten AnlaÉ zur Annahme hatte, eine recht innovative<br />

Untersuchung vorgelegt zu haben.<br />

Zur zweiten kÅrzer. Zu Wider weitere Entnietzschung Nietzsches, meiner Streitschrift zum<br />

25.8.2000, erschien wiederum in den Nietzsche-Studien zwar keine Rezension, doch Åbergangen<br />

wurde die Streitschrift nicht (vÄllig). So hat sich in der Sammelrezension NEUE<br />

DEUTSCHSPRACHIGE GESAMTINTERPRETATIONEN DER PHILOSOPHIE<br />

NIETZSCHES Mirko Wischke den Band auf knapp zwei kleingedruckten Seiten etwas nÇher<br />

vorgenommen. 423 Doch wÅrden diese beiden Seiten als Informationsquelle genutzt:<br />

Was findet ein Leser dort? Findet er, daÉ mit „Entnietzschung“ ein Ensemble recht charakteristischer<br />

Formen von Entspezifizierung vorgestellt ist? Findet er, daÉ und zumal warum<br />

eine sich bereits seit 1894/95 mit den beiden auf ihre Art hochsubstantiellen ‘Nietzsche’-<br />

BÇnden von Lou Andreas-Salomå und Nietzsches Schwester 424 , die erst zusammen (!) diejenigen<br />

Informationen bieten, die tiefenschÇrfere <strong>Nietzscheinterpretation</strong> ermÄglichen<br />

wÅrden – aber seitens einer akademischen <strong>Nietzscheinterpretation</strong> mit seltenen Ausnahmen<br />

nicht ernst genommen (Lou Andreas-Salomå) oder trivial paraphrasiert (Elisabeth FÄrster-<br />

Nietzsche) wurden? Und was das bedeutet? DaÉ ein 25 Punkte umfassender interpretativer<br />

Lasterkatolog vorgelegt wurde? Nichts davon. Hingegen findet man viel von und zu Mirko<br />

Wischkes eigener keineswegs uninteressanter Nietzschesicht. Die Zitate aus des Vf.s Band<br />

sind nicht sonderlich spezifisch. Frage an den mÄglichst kritischen Leser: Was bedeutet eine<br />

derartige Vorstellung einer Monographie eines Verfassers im nÇmlichen Organ, in dem<br />

in eher geringem zeitlichen Abstand zwei kaum weniger spezifische ‘Darstellungen und<br />

Diskussionen’ von Forschungsergebnissen des Vf.s 425 ebenfalls weltweit prÇsentiert wurden,<br />

als Ensemble von PrÇsentationen eines spezifischen zumal nietzscheinterpretationskritischen<br />

Ansatzes? Freundliche EntschÇrfung, d.h. in concreto eine BestÇtigung des Monierten<br />

nun auch auf Rezensionsebene, wenn nicht glÅcklicherweise auch Gegenbeispiele<br />

426 aufgelistet werden kÄnnten? Sollte meine Skizze anregen, grÅndliche Rezensionskritik<br />

zu stimulieren, dann viel Erfolg & GlÅck!<br />

423 Mirko Wischke: NEUE DEUTSCHSPRACHIGE GESAMTINTERPRETATIONEN DER PHILO-<br />

SOPHIE NIETZSCHES. In: Nietzsche-Studien 32, 2002, S. 333-349, zur Entnietzschung, S. 348f.<br />

424 Lou Andreas-Salomå: Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894). Frankfurt am Main, 5 1983;<br />

Elisabeth FÄrster-Nietzsche: Das Leben Friedrich Nietzsches I. Leipzig, 1895.<br />

425 Erinnert sei an Hans Gerald HÄdl: Dichtung oder Wahrheit? Einige vorbereitende Anmerkungen zu<br />

Nietzsches erster Autobiographie und ihrer Analyse von H.J. Schmidt In: Nietzsche-Studien, Bd. XXI-<br />

II, Berlin, New York 1994, S. 285-306; und: Der alte Ortlepp war es Äbrigens nicht... Philologie fÄr<br />

Spurenleser. In: Ebenda XXVII (1998), [Herbst] 1999, S. 440-445.<br />

426 Vgl. dazu Hermann Josef Schmidt: AufklÜrungsideal gegen VerdÜchtigungsstrategie? Notizen drei<br />

Jahre nach AbschluÉ meiner Streitschrift Wider weitere Entnietzschung Nietzsches. Aschaffenburg,<br />

262


Zu e2) bzw. einer kritischen Analyse einer Nietzscheuntersuchung, geboten nicht in einer<br />

Rezension, sondern sei es separat wie bspw. in einer Miszelle, einem Vortrag, Beitrag,<br />

Aufsatz, einer Monographie usw. oder integriert in eine umfassender angesetzte Abhandlung<br />

wie bspw. DlJ. Hier kann Vf. auf die im vorausgehenden Text z.T. im Detail (insbes.<br />

in 2.4., 3.6. und 3.8.) aufgelisteten Punkte sowie auf den im Anhang 1 zum AbschluÉ gebotenen<br />

Dekalog elementarer interpretativer Redlichkeit aus dem SpÇtjahr 1999 verweisen<br />

und lediglich noch anmerken, daÉ wohl bei keiner <strong>Nietzscheinterpretation</strong> ein sehr enger<br />

‘kritischer’ Ansatz des Beurteilers auch nur tolerabel ist, weil Nietzsche ein Integrationsgenie<br />

ist, und weil gerade bei ihm syn- und diachron Gedanken in hohem MaÉe vernetzt<br />

sind bzw. ‘perpetuieren’. Leider setzt VerstÇndnis fÅr diese Perspektive eine lÇngere BeschÇftigung<br />

mit Nietzsche voraus, vielleicht auch, weil das Gehirn des Interpreten sich an<br />

derartige, ‘hÇppchenphilologische’ oder eindimensionale AnsÇtze suspendierende Perspektiven<br />

erst einmal gewÄhnen muÉ. (Und leider auch an sorgfÇltige LektÅre differenzierterer<br />

SÇtze?) Auch Interpreten sollten nicht vergessen, daÉ Nietzsche trotz der Tatsache, daÉ er<br />

bereits in einem Alter von der geistigen BÅhne abtrat, in dem manche Autoren erst so allmÇhlich<br />

beginnen, substantiellere VerÄffentlichungen vorzulegen, wenigstens dreieinhalb<br />

Jahrzehnte lang (wohl etwa ab 1854/55) primÇr fÅr sein Denken gelebt hat. Sesam Äffnet<br />

sich nicht bei erstem Anklopfen. Und mit Suchmaschinen, Indices usw. schon gar nicht.<br />

ãuÉert man sich dann auch noch Åber Fragen, die breite und eigenstÇndige Recherchen<br />

voraussetzen, wenn nicht dritterseits meist unerkannt dilettiert oder schlicht geblufft werden<br />

soll, minimiert sich die Zahl potentieller qualifizierter Beurteiler vor allem im Blick<br />

auf frÅhe genetische <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en gegenwÇrtig noch leider wohl fast in Richtung<br />

Nullklasse.<br />

Sollten Leser und Interpreten hier endlich kritischer werden, hÇtte sich wenigstens diese<br />

Arbeit des Vf.s vielleicht doch noch gelohnt.<br />

25. Zu guter Letzt noch ein Hinweis auf ein Spezifikum nicht nur dieser Metakritik und derjenigen<br />

Version <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong>, fÅr die der Vf. gegenwÇrtig ‘steht’,<br />

sondern auch seiner VerÄffentlichungen zu Nietzsche zumal seit NaK, 5.12.1990: die zuweilen<br />

auf erhebliche Ablehnung, manchmal auch auf massiven Protest stoÉende nietzscheinterpretations-<br />

sowie sogar generell weltanschauungs-, d.h. insbes. philosophie-, religions-<br />

und zumal christentumskritische Komponente seiner Publikationen.<br />

So lesen sich zuweilen Anmerkungen in NaJ wie ein fast Punkt fÅr Punkt abhandelnder<br />

christentumskritischer Katechismus. Das ist manchem aufgefallen und hat zu prinzipieller<br />

Ablehnung des Interpretationsansatzes des Vf.s gefÅhrt. Doch einerseits fungieren diese<br />

Anmerkungen als Kommentare von Formulierungen Nietzsches; andererseits als Gegenfragen:<br />

Warum lesen derlei Kritiker dann noch Nietzsche? Was suchen sie ausgerechnet<br />

bei ihm? Nietzsche war schon von Kindesbeinen an wohl nicht erst an zweiter Stelle<br />

durchgÇngig wenigstens Christentumsskeptiker, schon frÅh auch -kritiker, wurde wie erinnerlich<br />

dieses Thema aber niemals – genauer: vor eingetretener massiver Gehirninsuffizienz<br />

anfangs der 1890er Jahre – ‘los’. Und genau dafÄr gibt es gute und leider auch sehr<br />

viel mehr weniger gute GrÅnde. Diese wie Åblich in Interpretationen konsequent auszuklammern,<br />

so zu tun, als verstÅnde man ‘Nietzsche’ oder auch nur die jeweils Thematisierten<br />

seiner Texte, wenn man ihn bspw. mit Kant oder Hegel vergleicht, obwohl man von<br />

Nietzsche nur so wenig weiÉ, daÉ nicht einmal aufgefallen ist, daÉ Nietzsche anders zu lesen<br />

ist als bspw. Kant und Hegel, mag ggf. zwar positivst bewertete Habilitationsschriften<br />

und auch Professuren garantieren, doch noch lÇngst keine ‘Einsichten’ in Nietzsche. Nur<br />

um diese aber geht es dem Vf. schon von Beginn an, auch wenn er anfangs manchen AnlaÉ<br />

hatte, sich nicht allzudeutlich zu artikulieren; und sich seiner eigenen IrrtumsfÇhigkeit nur<br />

25.8.2000, zumal zur Rezension von Prof. Dr. Volker Caysa, in: Nietzscheforschung 9, 2002, S. 397-<br />

402; seit Dez. 2009 in: www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

263


allzu bewuÉt war und ist. Nochmals: Nietzsche war Philosophie-, Religions- und Weltanschauungskritiker,<br />

geht in diesen zwar basalen und wohl sein gesamtes Denken und Argumentieren<br />

‘durchstimmenden’ Intentionen jedoch nicht ‘auf’, wird aber in hohem MaÉe<br />

tendenziÄs entspezifiziert, ‘interpretativ entkernt’ bzw. ‘entnietzscht’, wenn diese fÅr ihn<br />

so basale Komponente mehroderweniger deutlich ausgeklammert wird. Wie leider wohl in<br />

den meisten ‘Nietzsche’-Interpretationen des ersten Jahrhunderts nach Nietzsches Tod.<br />

Vorausgesetzt, diese Diagnose des Vf.s ist nicht unberechtigt, erÅbrigt sich beinahe, noch<br />

zu begrÅnden, warum dessen Interpretationen ihrerseits nicht nur philosophie-, religionsund<br />

weltanschauungskritische ‘Einsprengsel’ haben, sondern konsequent philosophie-, religions-<br />

und weltanschauungskritisch ‘angesetzt’ und damit auch nietzscheinterpretationskritisch<br />

sind. Und warum das Thema apologetischer Arrangements wenigstens in einer<br />

Metakritik des Vf.s nicht ausgeklammert werden konnte; und auch ansonsten berÅcksichtigt<br />

werden sollte. Und warum es wenigstens so lange in einer mÄglichst nietzschenahen<br />

<strong>Genetische</strong>n <strong>Nietzscheinterpretation</strong> zu beachten ist, so lange es noch eine Rolle spielt<br />

bzw. in entsprechenden Interpretationen wie bspw. selbst in DlJ wenn nicht nachgewiesen<br />

so doch als verstÇndniserleichternde Deutungsperspektive ansonsten kaum nachvollziehbarer,<br />

unter apologetischer Perspektive jedoch ‘logischer’ Recherche- und Interpretationspannen<br />

so plausibel ist, daÉ damit konkurrierende Schlagwortebenen verlassende Hypothesen<br />

wenigstens den Vf. durchaus interessieren. Das gilt insbesondere dann, wenn Vf. mit<br />

seiner Nietzschesichtweise nicht vÄllig im Unrecht sein sollte: fÅr mich steht Friedrich<br />

Nietzsche als an Åblicher Dummheit, Feigheit oder Borniertheit zuweilen fast verzweifelnder<br />

AufklÇrer in der „Tradition des Kampfes gegen die ‘Verlogenheit von Jahrtausenden’...<br />

in vorderster Front: und das vor allem macht zwar unausgesprochen doch fÅr jeden Einsichtigen<br />

nachprÅfbar <strong>Nietzscheinterpretation</strong> zentral fÅr AufklÇrer und zum Kampfplatz<br />

fÅr DunkelmÇnner aller Art.“ 427<br />

Kurz: Das in 25. Skizzierte gehÄrt nach des Vf.s seit Jahrzehnten vertretener 428 wohlbegrÅndeter<br />

Auffassung in <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en auch dann ‘schlicht zusammen’, wenn<br />

bereits ein derartiger Ansatz den Sonderstatus der entsprechenden VerÄffentlichungen des<br />

Vf.s garantiert. Doch manchmal ist die Verwendung eines Terminus wie „Sonderstatus“<br />

auch ein Urteil...<br />

427 Hermann Josef Schmidt: Wider weitere Entnietzschung Nietzsches, 2000, S. 189.<br />

428 Das belegt die in „Schwierigkeiten des Zugangs: Nietzsche und die neuzeitliche Philosophie“ aufgenommene<br />

Passage: „Nietzsche ist enragierter Gegner des Christentums (und einer christlichen Philosophie)<br />

spÇtestens seit seiner SchÅlerzeit in Pforta; er versucht es aus unterschiedlichsten Perspektiven<br />

zu destruieren und erblickt in ihm noch 1888 (GÄtzen-DÇmmerung; Antichrist; Ecce homo) die<br />

weltgeschichtliche Katastrophe ersten Ranges, wÇhrend es in der noch heute weitgehend vom protestantischen<br />

Pfarrhaus geprÇgten deutschen Philosophie Tradition war (und noch immer ist), sich, wenn<br />

man schon Philosophie nicht offen und erklÇrt als ‘christliche Philosophie’ betrieb, vorsichtig und<br />

mÄglichst unauffÇllig vom Christentum zu entfernen oder es umzuinterpretieren bzw. im Sinne Hegels<br />

„aufzuheben“.<br />

FÅr Nietzsche ist die gesamte deutsche Philosophie von Leibniz Åber Kant, Schelling, Hegel bis Feuerbach<br />

und StrauÉ verkappte, hinterlistige Theologie: „alles Schleiermacher“ (Antichrist 10; VII 2,<br />

150, 260, 267; VII 2, 333 usw.).<br />

Die fast aufdringlich antichristliche AttitÅde Nietzsches wird (dem restaurativen geistigen Klima dieses<br />

Jahrhunderts entsprechend) selbst von unvoreingenommeneren Interpreten hÇufig heruntergespielt<br />

oder von Nietzsches ‘eigentlicher Philosophie’ isoliert: sie ist aber von seinen philosophischen Intentionen<br />

und Resultaten nicht ablÄsbar, ohne wesentliche ZusammenhÇnge zu zerstÄren, und aus der Perspektive<br />

seiner (in ihrer Ausbildung eindeutig antichristlich motivierten) ‘griechischen’ Selbsterfahrung<br />

und Selbstdeutung schlicht konsequent.“ Hermann Josef Schmidt: NaK, 1991, S. 122f., sowie<br />

etwas knapper bereits Friedrich Nietzsche: Philosophie als Tragádie, 1983, S. 205.<br />

264


Noch vieles wÇre an- und einzufÅgen. Doch es ist Zeit – „äberzeit“? – abzubrechen. Deutlich<br />

dÅrfte sein, <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong>, in mancherlei Hinsicht eine Wasserscheide<br />

nietzscheadÇquaterer Interpretation, hat viel zu bieten. Thematische, motivationale usw. BezÅge<br />

zum spÇten und spÇtesten Nietzsche sind offenkundig und wurden auch vom Vf. lÇngst<br />

belegt. 429 Doch nach dessen subjektivem Eindruck liegen die von ihm seit Jahrzehnten vorgestellten<br />

Informationen und vorgelegten äberlegungen, Interpretationen, Einsichten und Kritiken<br />

zum derzeit äblichen sowie meistenteils Anerkannten so quer, daÉ er sie weiterhin lediglich<br />

als Sondervoten zur <strong>Nietzscheinterpretation</strong> versteht (was erklÇrtermaÉen also auch fÅr<br />

diese Abhandlung gilt); was sie jedoch von bei weitem Relevanteren leider kaum unterscheidet.<br />

So sind auch kÄnftig Versuche von Kritik zu begrÄÖen, wenn sie mit dem vorhandenen Textbestand<br />

und den inzwischen breit rekonstruierten Fakten sachkompetent und ergebnisoffen, also<br />

seriositÜtsbemÄht verfahren. Vorausgesetzt allerdings, daÉ ‘Positionen’ und Argumentationen<br />

Åberhaupt verstanden und, sollte dies zutreffen, nicht trivialisiert oder anderweitig verzeichnet<br />

werden. Auch unter den Vorzeichen von Sachkompetenz und Ergebnisoffenheit kánnte – und<br />

mÅÉte wohl auch – die Bandbreite legitimer Interpretationen von Texten des frÄhen Nietzsche<br />

zwar bei weitem gráÖer sein als die in NaK und in meinen seitherigen Untersuchungen Entwickelte<br />

bzw. Angebotene. Doch das wÇre mÄglichst konkret 430 zu zeigen, nicht lediglich zu<br />

behaupten. Schon deshalb sind alternative, einer gráÖeren Zahl von Texten des Kindes Nietzsche<br />

gewidmete Interpretationen – freilich in grÅndlicher Kenntnis auch der Åbrigen Texte 431<br />

des betreffenden Zeitraums – ebenso weiterhin Desiderate genetisch orientierter <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

wie weitere Recherchen in Nietzsches insbes. frÄhsten sozialem Umfeld Desiderate<br />

konsequent <strong>Genetische</strong>r Nietzscheforschung darstellen.<br />

429 Hermann Josef Schmidt: „Du gehst zu Frauen?“, 1994, S. 111-134); „Jeder tiefe Geist braucht die<br />

Maske“, 1994, S. 137-60; Von „Als Kind Gott im Glanze gesehn“, 2001, S. 95-118; „ich wÄrde nur<br />

an einen Gott glauben, der“, 2002, S. 83-104; FÄr „das Heidenthum seinem Grundcharakter nach<br />

eingenommen“?, 2005, S. 126-145; Nietzsches Testament, 2006, S. 201-222; Wie Herkunft Zukunft<br />

bestimmt, 2010, S. 158-179, und: www.f-nietzsche.de/hjs_start.htm.<br />

430 AnsÇtze dazu bei Christian Niemeyer: Nietzsches andere Vernunft, 1998, der in Teil I Nietzsches<br />

HintergrÅnde: Philosophie als „Biographie einer Seele“, S. 1-218, einen interessanten und keineswegs<br />

unproblematischen Versuch wagt, aus der Perspektiven von Nietzsches „Muttersuche“, „Schwestersuche“<br />

und „Vatersuche“ sein Thema anzugehen.<br />

431 Ebenfalls nochmals: Nach dem Eindruck des Vf.s gilt es der Versuchung nachdrÅcklich zu widerstehen,<br />

hochabstrakt in engstem Konnex mit jeweils fÅr bes. interessant eingeschÇtzten zeitgenÄssischen<br />

Metatheoremen auf nicht nur minimaler Text-, sondern leider auch minimaler Textkenntnisbasis<br />

munter Åber Nietzsches (auch frÅhe) Texte zu theoretisieren (zuweilen wohl auch zu schwadronieren);<br />

vorausgesetzt, weitestverbreitetes genetisches Desinteresse wÅrde geschwÇcht, und im neunten Jahrzehnt<br />

nach Vorlage von HKGW I, 1933, sowie im dritten nach NaK, 1991, wÅrde sogar der frÅh(st)e<br />

Nietzsche ‘entdeckt’; und es bestÅnde EinverstÇndnis, daÉ auch noch so attraktiv brummende Eintagsfliegen<br />

in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> nichts zu suchen haben, denn: <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en sollte<br />

man auch noch nach Jahrzehnten mit Gewinn lesen kÄnnen.<br />

265


Nachbemerkungen & Dank<br />

Treffsichere Diagnose, Trost oder Selbstbetrug: „Je mehr Feinde ein Schriftsteller hat,<br />

desto notwendiger ist er gewÄhnlich.“? Karlheinz Deschner: ãrgernisse, 1994, S. 14.<br />

Um meine Argumentationen kostenfrei und dritterseits untangiert all’ denjenigen weltweit<br />

zur VerfÅgung zu stellen, die bereit sind, auch einen zuweilen etwas differenzierter formulierten<br />

und argumentierenden Text in Nietzsches Vater- & Muttersprache lesen zu wollen, aufgelockert<br />

durch einige polemischere Passagen und Einblicke in nicht vÄllig forschungs- und/<br />

oder interpretationsirrelevante ‘Sand’- und ‘NÇhkÇstchen’, erfolgt die PrÇsentation dieser bei<br />

weitem umfangreicher gewordenen als geplanten Analysen exklusiv im Internet, wofÅr ich<br />

Helmut Walther herzlichst – mit Betonung auf dem Superlativ – hoffentlich auch im Namen<br />

einiger Leser danke. Die InternetverÄffentlichung hat freilich zur Folge, daÉ angesichts der<br />

bekannten, hochgradig selektiven Lesegewohnheiten vieler Nutzer in den eher der Grundinformation<br />

und äbersicht dienenden Teilen (wie bspw. in 4.) Hinweise integriert sind, die dem<br />

grÅndlichen, bereits informierten Leser hÄchst ÅberflÅssig und redundant erscheinen, was Vf.<br />

mehr als nur gut verstehen kann; und sie ermÄglicht, Fehler oder gar Fehlurteile, die bei einem<br />

so umfangreichen Text leider fast unvermeidlich sind, angemessen und zeitnah zu korrigieren.<br />

Ein nÇchster Dank des Verfassers erfolgt aus Metakritikperspektive. So dankt d. Vf. Hans<br />

Gerald HÄdl, dem Autor nicht nur von DlJ, insofern, als ohne dessen ernstgenommene und als<br />

Nietzsche-absconditus-HÇrtetests genutzte, in den zwei wohl entscheidenden FÇllen – Ortlepp-Miszelle,<br />

1998/99, sowie nun in DlJ, 2009 –, einer umfassenden Metakritik unterworfenen<br />

und wohl auch grÅndlich zersausten Interventionen diejenige Version <strong>Genetische</strong>r Nietzscheforschung<br />

und -interpretation, der der Verfasser momentan den hÄchsten Kredit gibt,<br />

nicht zu einer Reihe von Ergebnissen 432 und in deren Aufarbeitung vielleicht sogar zu Einsichten<br />

gelangt wÇre. Ohne die Kritiken des Autors nÇmlich wÇren die z.T. aufwendigen neuerlichen<br />

Archivrecherchen bspw. im Blick auf das Ernst-Ortlepp-Problem, 1999f., ebenso wie<br />

auf das Lustspiel Der GeprÄfte des ElfjÇhrigen sowie weitere frÅhe Texte Nietzsches, 2010,<br />

schon deshalb kaum erfolgt, weil andere, mittlerweile als leider kaum mehr bewÇltigbare ‘Altlasten’<br />

bewertete Themen nicht nur der Nietzscheforschung und zumal -interpretation auf der<br />

Agenda des Vf.s vornean standen.<br />

Wie in nahezu jeder meiner Nietzsche- und nun auch OrtleppverÄffentlichungen ist einerseits<br />

den Åber die Jahre wechselnden hilfreichen Archivarinnen im GSA Weimar sowie ihren<br />

Vorgesetzten und insbesondere Frau Petra DorfmÅller, Leiterin des Archivs und der Bibliothek<br />

der Landesschule Pforta sei es fÅr konkrete Hilfen, sei es fÅr die ZurverfÅgungstellung<br />

qualifizierter ArbeitsplÇtze fÅr Ursula Schmidt-Losch und d. Vf. sowie fÅr manches noch au-<br />

Éerdem zu danken.<br />

432 Dazu rechnet der Vf. vor allem 1) die bei weitem grÅndlichere Auseinandersetzung mit der Problematik<br />

der EntschÇrfung, Trivialisierung und oftmals wohl auch unfreiwilligen Verzeichnung Nietzsches<br />

oder nietzschescher Gedanken, die u.a. zur Streitschrift Wider weitere Entnietzschung Nietzsches,<br />

2000, in der Genese ein Abspaltprodukt des Ortleppbandes, fÅhrte; 2) die zeitlich vorgezogene<br />

Diskussion der Ernst-Ortlepp-Thematik, mit dem Ergebnis des Ortlepp-Nietzsche-Vortrags auf dem<br />

Naumburger Nietzsche-Kongress am 25.8.2000, sowie Der alte Ortlepp, 2000, Der alte Ortlepp 1 ,<br />

2001, bzw. Der alte Ortlepp 2 , 2004, und schlieÉlich 3) die neuerliche BeschÇftigung mit HÄdls sowie<br />

meinen eigenen NaK-Interpretation und einigen Texten des frÅhsten Nietzsche mit <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

und kleineren DlJ-kritischen Texten usw. als Resultat. Vielleicht kann wenigstens<br />

das Ensemble dieser neuerlichen Sondervoten mÄglichst dogmenfreier Nietzscheforschung und tiefenschÇrferer<br />

-interpretation dienen.<br />

266


Nicht mein erst fÅnfter, sondern mein ‘Dauerdank’ gilt Ursula Schmidt-Losch, meiner u.a.<br />

Autographenexpertin, die mir auch bei dieser neuerlichen ‘HÄdlei’ nicht nur in mancherlei<br />

Hinsicht weitgehend ‘den RÅcken freigehalten’ hat, sondern ein unkonventionell-eigendenkerischer,<br />

produktiver und kritischer Diskussionspartner war und ist.<br />

267


Anhang 1<br />

Exorzismus gescheitert: Der alte Ortlepp war’s wohl doch.<br />

Metakritik einer „Philologie fÄr Spurenleser“<br />

als Exempel eines Spuren- und Metaspurenlesens bei Nietzsche<br />

Replik auf die Miszelle von Hans Gerald HÄdl,<br />

Der alte Ortlepp war es Åbrigens nicht... Philologie fÅr Spurenleser.<br />

In: Nietzsche-Studien XXVII (1998), Berlin, New York, 1999, 440-445<br />

[Konzept von Mitte Dezember 1999].<br />

Geht es um die Frage der Bedeutung zentraler Anregungen fÅr die Entwicklung Nietzsches,<br />

so liegt als Reaktion nahe, es als langweilig, hyperspezialistisch oder als mÅÉiges Spiel zu<br />

empfinden, sich Åber Differenzen in der Deutung von Handschriften von Personen des nÇheren<br />

sozialen Umfelds des frÅhen Nietzsche sowie insbesondere Åber handschriftliche Details<br />

der betreffenden Autographen im einzelnen zu ÇuÉern. Resultieren aus interpretativen Differenzen<br />

jedoch erhebliche Konsequenzen fÅr die <strong>Nietzscheinterpretation</strong>, so lohnt es sich<br />

durchaus, in Niederungen philologischer Spurenlese herabzusteigen und den exponierten Fragen<br />

diejenige Aufmerksamkeit zuzuwenden, die ansonsten zentraleren Themen der <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

gelten sollte.<br />

Um in meiner Replik [433] die Relevanz der zwischen Hans Gerald HÄdl und mir strittigen<br />

Fragen zu belegen, skizziere ich ihren Hintergrund (in I.), ÅberprÅfe die wohl wichtigsten<br />

Behauptungen HÄdls in ihrem argumentativen Ansatz sowie in einigen charakteristischen<br />

Details (in II.) und ergÇnze, um dem Disput auch jenseits methodologischer und hochspezifischer<br />

Fragestellungen mehr Gewicht zu geben, meine Ortlepp-Nietzscheskizze von 1994 nun<br />

(in III.) durch neue Perspektiven erÄffnende erste Hypothesen zu Nietzsches PfÄrtner Primanerjahren<br />

in der Absicht, daÉ in diesen nunmehr an exponierter Stelle skizzierten Problemkomplex<br />

des riesigen Kon- und Subtexts der alten Schulpforte seitens der Nietzscheforschung<br />

endlich ein hÄheres MaÉ an Aufmerksamkeit, qualifizierten Forschungsinteresses sowie mÄg-<br />

433 [Zusatz 2012: Den Herausgebern der Nietzsche-Studien danke ich, daÉ sie ermÄglichten, noch in<br />

den ‘bereits stehenden Nachfolgeband’ meine direkte Replik aufzunehmen: Der alte Ortlepp war’s<br />

wohl doch. Metakritik einer „Philologie fÄr Spurenleser“. (Replik [...].) In: Nietzsche-Studien XXVIII<br />

(1999), 2000, S. 257-260. So war der vorliegende Text bis spÇtestens Jahresende 1999 fÅr den Druck<br />

auf die 4 noch freigemachten Druckseiten herunterzuschleifen; in der Sache bildete er eine nur bescheidene<br />

Vorstufe der bei weitem grÅndlicheren Auseinandersetzung mit der Ortlepp-Miszelle Hans<br />

Gerald HÄdls, bestimmten Tendenzen der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> (mit dem Ergebnis einer Streitschrift<br />

Wider weitere Entnietzschung Nietzsches. Aschaffenburg, 7.2000) und insbes. mit der Nietzsche-<br />

Ortlepp-Problematik im Horizont einer unerwartet ‘ortlepplastigen’ Subkultur der alten Pforte der<br />

frÅhen 1860er Jahre, wie sie dann in der Monographie Der alte Ortlepp war’s wohl doch oder FÄr<br />

mehr Mut, Kompetenz und Redlichkeit in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong>. [...] Aschaffenburg, 2.2001<br />

(Abk.: Der alte Ortlepp 1 ), 440 S. (davon als direkte Auseinandersetzung mit der Argumentation des<br />

Autors, S. 23-206), bzw. in der teils gekÅrzten und teils deutlich erweiterten Neuausgabe 8.2004<br />

(Abk.: Der alte Ortlepp 2 ), 558 S. (davon als direkte Auseinandersetzung mit der Argumentation des<br />

Autors, S. 25-148), vorgelegt wurde. Auch die weiteren HinzufÅgungen in eckiger Klammer stammen<br />

von 2012. Um den Text und zumal die Anmerkungen in der ursprÅnglichen Form belassen zu kÄnnen,<br />

bitte ich den Leser, sowohl einige äberschneidungen mit obiger <strong>Genetische</strong>r <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

als auch Unterschiede tolerieren zu wollen; schlieÉlich trennt die Ausformulierung der Replik von<br />

Mitte Dezember 1999 und diese Metakritik wenigstens ein volles Jahrzehnt. FÅr alle Details sei auf<br />

Der alte Ortlepp 1 , 2001, bzw. Der alte Ortlepp 2 , 2004, verwiesen, deren Inhaltsverzeichnis usw. auf<br />

nÇmlicher Webseite zu finden ist.]<br />

268


lichst breit gefÇcherter Kompetenzen 434 eingebracht wird. Als AbschluÉ ein ResÅmee sowie<br />

ein Dekalog elementarer interpretativer Redlichkeit (in IV.).<br />

I. Hintergund<br />

Meine in Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche 435 unternommene zugestandenermaÉen<br />

provokante Visitation nahezu aller bis Ende der 1980er Jahre bekannten 436 Texte<br />

des frÅh(st)en Nietzsche bzw. seiner beiden ersten Lebensjahrzehnte, ergÇnzt durch einige<br />

Archivfunde der frÅhen 1990er Jahre, war ein Versuch, Friedrich Nietzsche selbst, sein Denken<br />

und seine (frÅhen) Texte nach einem Jahrhundert eher eklektischer LektÅre und fast<br />

durchgÇngig entwicklungsabstinenter, nicht selten projektiver oder isolationistischer Interpretation<br />

in ihrem genuinen Zusammenhang sowie im Blick auf Nietzsches (aus Nietzsches eigener<br />

Sicht) zentrale, Nietzsches Leben, Denken und Werk beeinflussende Probleme und ProblembewÇltigungsstrategien<br />

vor dem Hintergrund seiner in Fragmenten durchaus erschlieÉbaren<br />

(ver)heimlich(t)en SelbstgesprÇche mÄglichst subtil zu untersuchen 437 und sorgsam zu<br />

rekonstruieren, „Nietzsche“ also nicht einmal mehr nur „zu interpretieren, sondern [...] ihn<br />

endlich zu verstehen“ 438 , ihn hinter seinen Fassaden sowie in seinen Maskenspielen aufzuspÅren<br />

und dabei Nietzsches immense ProblemkontinuitÇt bis 1888/89 vielfÇltig zu belegen. Den<br />

zweiten Teilband der Jugend und damit das Projekt Nietzsche absconditus insgesamt hatte ich<br />

1994 mit einem Teil IV. Perspektiven und Fragezeichen vorlÇufig so abgeschlossen, daÉ ei-<br />

434 Sich Åber Schulpforte zur Zeit Nietzsches oder gar Åber Nietzsche betreffende Fragen der PfÄrtner<br />

Jahre zu ÇuÉern, ohne bspw. Åber ein erhebliches MaÉ altertumswissenschaftlicher Kenntnisse zu verfÅgen,<br />

perpetuiert leider ein nietzscheinterpretationsÅbliches Desaster einsichtlosen äberlesens selbst<br />

elementarster Andeutungen Nietzsches oder ahnungslosen äbersehens bspw. subversiver Arrangements<br />

‘erweckter’ oder orthodoxer schulrÇtlicher Kontrolle ausgesetzter Altphilologen der alten Pforte.<br />

[Das wird bspw. deutlich, wenn man die verdienstvolle Lizentiatsarbeit von Reiner Bohley: Die<br />

Christlichkeit einer Schule, 1974, nun gut erreichbar Jena; Quedlinburg, 2007, S. 9-239, mit den entsprechenden<br />

AusfÅhrungen in NaJ I, 1993, S. 131-257, vergleicht.]<br />

435 [Hermann Josef Schmidt:] Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. (I.) Kindheit. An<br />

der Quelle: In der Pastorenfamilie, Naumburg 1854-1858 oder Wie ein Kind erschreckt entdeckt, wer<br />

es geworden ist, seine ‘christliche Erziehung’ unterminiert und in heimlicher poetophilosophischer<br />

Autotherapie erstes ‘eigenes Land’ gewinnt. Berlin-Aschaffenburg, (1991) 2 1991 (Abk.: Nak); II. Jugend.<br />

Interniert in der Gelehrtenschule: Pforta 1858 bis 1864 oder Wie man entwickelt, was man<br />

kann, lÜngst war und weiterhin gilt, wie man ausweicht und doch neue Wege erprobt. 1. Teilband<br />

1858-1861. Ebenda, 1993 (Abk.: NaJ I); 2. Teilband 1862-1864. Ebenda, 1994 (Abk.: NaJ II).<br />

436 Die Historisch-kritische Gesamtausgabe (HKG) Werke I-III, MÅnchen, 1933-1935, und Briefe I,<br />

MÅnchen, 1938 – ich zitiere nach Band und Seitenzahl (z.B. I 444 bzw. B I 236) –, legte aus Nietzsches<br />

Kindheit und den 6 PfÄrtner Alumnenjahren 1858-1864 bereits 1200 Druckseiten Texte z.T. im<br />

Kleinstdruck und in den jedoch sehr knappen Nachberichten auch eine FÅlle wichtiger Informationen<br />

vor; dennoch werden die [seit 2006 vorliegenden] BÇnde 1-3 der ersten Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe.<br />

Werke, hgg. v. Johann Figl, Berlin/New York, 1995ff., wichtige weitere Texte, vor allem<br />

aus Nietzsches Pfortajahren, [fast] alle Zeichnungen [nur des Kindes], in EinzelfÇllen von der<br />

HKG abweichende Lesarten und Datierungen, wichtige Vorstufen sowie im Nachbericht eine FÅlle<br />

bisher unbekannter Informationen vorlegen. Nietzsches Briefwechsel ist in der TextprÇsentation der<br />

KG B schon seit 1984 abgeschlossen – ich zitiere nach Band, Abteilung und Seitenzahl (z.B. I 1, 257,<br />

bzw. B I 1, 114); seit 1993 liegt der Nachbericht zur ersten Abteilung Briefe 1849-1869 vor (B I 4),<br />

der wichtigste Informationen bietet.<br />

437 Vgl. Mindestbedingungen nietzscheadÜquaterer <strong>Nietzscheinterpretation</strong> oder Versuch einer produktiven<br />

Provokation. In: Nietzsche-Studien XVIII. Berlin / New York, 1989, 440-54; als Voraussetzungen<br />

nietzscheadÜquaterer <strong>Nietzscheinterpretation</strong> erweitert in NaK, S. 129-146.<br />

438 NaK, S. 7, und NaJ I, S. 8.<br />

269


nerseits eine Pfártner Gewinn- und Verlustbilanz 439 skizziert und andererseits mit Ein rÜtselhafter<br />

Archivfund: Friedrich Nietzsches (ver)heimlich(t)er Kindheits- und Jugendvertrauter<br />

440 , das ggf. immens konsequenzenreiche VerhÇltnis von Nietzsche und Ernst Ortlepp angesprochen<br />

wurde.<br />

Ernst Ortlepp (1.8.1800-14.6.1864) war von Herbst 1853 bis zu dem ggf. erst auf PfÄrtner<br />

GelÇnde erfolgten selbsttÄtungsverdÇchtigen Tod ein wÇhrend Nietzsches Kindheit und PfÄrtner<br />

Jugendjahren in Naumburg sowie im nÇchsten (Altenburg bzw. Almrich) oder nÇheren<br />

Umkreis (Camburg, dem Heimatort SchkÄlen, Zeitz) lebender und zumal in den frÅhen<br />

1860er Jahren meist in und bei Pforte sich im Freien oder in von PforteschÅlern aufgesuchten<br />

GaststÇtten sich aufhaltender ehemaliger Portenser. In den 1830er und 1840er Jahren war Ortlepp<br />

ein im deutschen Sprachraum bekannter politischer Leipziger und Stuttgarter Dichter,<br />

Schriftsteller, Herausgeber, äbersetzer usw., gegen dessen Fieschi [441] sich der Ästerreichische<br />

Staats-usw.-Kanzler Metternich noch vor dem BundesratsbeschluÉ des 10. Dezember 1835<br />

bereits am 31. Oktober 1835 in einem ErlaÉ und in Briefen u.a. an die sÇchsische Regierung<br />

wandte 442 , mit zahlreichen z.T. pseudonymen VerÄffentlichungen, dessen noch Jahrzehnte<br />

nachwirkender EinfluÉ auf zumindest einen PfÄrtner Alumnen sogar aus der Semestergruppe<br />

Nietzsches seit sechs Jahrzehnten belegt 443 ist. Seit einem knappen Jahrhundert ist die Bekanntschaft<br />

Nietzsches mit Ortlepp zumindest fÅr Nietzsches Primanerjahr 1864 444 gesichert.<br />

Einige Gedichte zumal aus Nietzsches Pfortejahren legen den Eindruck eines GesprÇchs mit<br />

Ortlepp nahe; andere Texte wirken als Reaktion auf oder Verarbeitung von Erfahrungen mit<br />

Ortlepp. MÄglicherweise hat Ortlepp jedoch schon in Nietzsches Kindheit eine entscheidende<br />

439 Vgl. NaJ II, S. 673-93; eine knappere Fassung in Nietzscheforschung I, Berlin, 1994, S. 291-311.<br />

440 Vgl. NaJ II, S. 694-741. NÇheres zur Biographie, Bibliographie usw. Ernst Ortlepps ebenda, nun<br />

vor allem bei RÅdiger Ziemann: Vom Lied kann nur der Tod mich scheiden. Zu „Ortlepp aus Schkálen“.<br />

In: Sachsen-Anhalt. Journal fÅr Natur- und Heimatfreunde VIII, 1998/4, S. 14-19; ders.: Dichter<br />

in tiefer Nacht. Zu Ernst Ortlepps Gedichten. In: Ernst Ortlepp. KlÇnge aus dem Saalthal. Gedichte.<br />

Hgg. v. Roland Rittig und RÅdiger Ziemann. Halle, 1999, S. 107-129, und: Ein Logis im Saalthale.<br />

MutmaÖungen Äber den Dichter Ernst Ortlepp. In: Nietzscheforschung V/VI, Berlin, 1999, und als<br />

‘Klassiker’ bei F. Walther Ilges: BlÜtter aus dem Leben und Dichten eines Verschollenen. Zum 100.<br />

Geburtstage von Ernst Ortlepp. 1. August 1800 – 14. Juni 1864. Teilweise nach unveráffentlichten<br />

Handschriften und seltenen Drucken. MÅnchen, 1900, sowie Reiner Bohley: Der alte Ortlepp ist Äbrigens<br />

todt. In: Wilfried Barner u.a. (Hg.): Literatur in der Demokratie. FÅr Walter Jens zum 60. Geburtstag.<br />

MÅnchen, 1983, 322-331.<br />

Um die Anmerkungen nun nicht weit in den dreistelligen Bereich zu treiben, verzichte ich im Blick<br />

auf Ortlepp in der Regel darauf, jede einzelne Information eigens zu belegen, da sich die Nachweise in<br />

der Regel insbes. bei Ilges, 1900, S. 154ff., Bohley, 1983, S. 322-31, NaJ II, oder in den angefÅhrten<br />

Arbeiten RÅdiger Ziemanns, vor allem in: Dichter in tiefer Nacht, s.o., [sowie meiner Ortleppmonographie<br />

von 2001 und insbes. von 2004, die S. 152-248 in „Ernst Ortlepp im Schatten der Pforte,<br />

eine Skizze“ Ortlepps Jahre 1853-1864 einer KlÇrung zuzufÅhren sucht, bevor S. 249-309 „Ernst Ortlepp<br />

und einige Folgen“ zumal im Blick auf Nietzsches Entwicklung skizziert wurden usw.] finden.<br />

441 [Ernst Ortlepp: Fieschi. Ein poetisches NachtstÄck. Leipzig, 1835. Wegen der Bedeutsamkeit dieses<br />

Textes hatte ich den Text sowohl in Der alte Ortlepp 1 , 2001, S. 368-380, wie Der alte Ortlepp 2 , 2004,<br />

S. 349-359, aufgenommen. Eine kritisch durchgesehene, neu herausgegebene und mit Nachbemerkungen<br />

von Roland Rittig und RÅdiger Ziemann versehene bibliophile Edition mit Zeichnungen von Dieter<br />

Goltzsche erschien in Halle/Saale, 2001.]<br />

442 Ludwig Geiger: Ernst Ortlepp und die Zensur. In: Euphorion, 1906, S. 805-807; vgl. Ziemann:<br />

Dichter in tiefer Nacht, 1999, S. 118-20. [Dazu nun sehr viel genauer Manfred Neuhaus: Tatsachen<br />

und MutmaÖungen Äber Ernst Ortlepp. Norderstedt, 2005, I. „Freiheit! FÅr die Presse Freiheit!“ I.II In<br />

den FÇngen der preuÉischen und sÇchsischen Zensur (1831-1833), S. 93-135, sowie eher en passant<br />

vom Vf. Der alte Ortlepp 1 und Der alte Ortlepp 2 .]<br />

443 Vgl. Friedrich Nietzsche B I, MÅnchen, 1938, S. 403.<br />

444 Vgl. Friedrich Nietzsche Brief an Wilhelm Pinder vom 5.7.1864. In: Friedrich Nietzsche. Gesam-<br />

melte Briefe. I. Band, 3 1903, 65f.<br />

270


Rolle gespielt. All das ist zwar genetisch orientierten Nietzscheforschern und -interpreten<br />

nicht vÄllig unbekannt, wurde in der dominanten primÇr christophilen 445 oder genetisch abstinenten<br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong> des nun zuende gehenden Jahrhunderts jedoch gezielt verdrÇngt:<br />

WÅrde ein nÇherer Bezug Ortlepps und Friedrich Nietzsches doch nahelegen, manchen<br />

Text Nietzsches anders zu lesen und die Thesen zu Nietzsches Denkentwicklung ab ovo<br />

zu ÅberprÅfen.<br />

Was nun die BerÅcksichtigung eines Nietzsche-Ortleppbezugs in den zentralen biographischen<br />

VerÄffentlichungen zu Nietzsche betrifft, so verwundert es kaum, daÉ Nietzsches<br />

Schwester in ihren beiden Biographien des frÅh(st)en Nietzsche 446 diesen ja wenig respektablen<br />

Bezug ebenso wie andere Informationen, die an der GenialitÇt oder auch angepaÉten<br />

Bravheit ihres Bruders Abstriche zu machen nahelegen kÄnnten, konsequent ausklammert.<br />

Anders erst 1938 Wilhelm Hoppe und Karl Schlechta als Herausgeber des ersten Briefbandes<br />

der Historisch-kritischen Gesamtausgabe 447 und 1942 Ernst WÅrzbach 448 . Richard Blunck 449<br />

und damit leider auch Curt Paul Janz 450 haben sich dem Problem Ortlepp ebensowenig wie<br />

Ronald Hayman 451 oder Horst Althaus 452 gestellt, doch Werner Ross 453 Åbersprang es wenigstens<br />

nicht vÄllig und Reiner Bohley 454 hat auch in Sachen Ortlepp nicht nur wiederum eigenstÇndig<br />

recherchiert, sondern sich auch deutlich geÇuÉert. Werner Ross ist dabei jedoch nicht<br />

sonderlich ins Detail und Reiner Bohley scheinbar noch nicht allzusehr in die Tiefe gegangen:<br />

Werner Ross nicht, weil er in seinem 800-Seiten-Band allzuviel unterzubringen hatte, Reiner<br />

Bohley nicht, weil er sich lange mehr fÅr Nietzsches sozialen Hintergrund als fÅr Nietzsches<br />

aus Nietzsches eigenen Texten rekonstruierbare Entwicklung zu interessieren 455 schien. Doch<br />

wahrscheinlich gilt das fÅr Reiner Bohley nur bis etwa 1981. In seinem Ortleppbeitrag skizziert<br />

er nÇmlich eine sehr heiÉe Spur, deren Entdeckung ihn vielleicht erst zur Anerkennung<br />

dessen fÅhrte, was er in meiner kleinen Arbeit zu des frÅhsten Nietzsche Privatsprache des<br />

Inhalts 456 usw. las, so daÉ er seine epochale Untersuchung Åber Nietzsches christliche Erzie-<br />

445<br />

Vgl. Hermann Josef Schmidt: Friedrich Nietzsche: Philosophie als Tragádie, 1983, S. 205.<br />

446<br />

Elisabeth FÄrster-Nietzsche: Das Leben Friedrich Nietzsche’s. I. Band. Leipzig, 1895, S. 1-195,<br />

und: Der junge Nietzsche. Leipzig, 1912 u.Ä., S. 1-137.<br />

447<br />

Vgl. Friedrich Nietzsche B I, MÅnchen, 1938, 403.<br />

448<br />

Der Fall Ortlepp. In: Ernst WÅrzbach, Nietzsche. Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten<br />

(1942). MÅnchen, o.J., S. 39ff.<br />

449<br />

Richard Blunck: Friedrich Nietzsche. Kindheit und Jugend. MÅnchen/Basel, 1953.<br />

450<br />

Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie I. MÅnchen, 1978.<br />

451<br />

Ronald Hayman: Friedrich Nietzsche. Der miÖbrauchte Philosoph (1980). MÅnchen, 1985.<br />

452<br />

Horst Althaus: Friedrich Nietzsche. Eine bÄrgerliche Tragádie. MÅnchen, 1985.<br />

453<br />

Werner Ross: Der Üngstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben. Stuttgart, 1980, S. 73f.<br />

454<br />

Exkurs: Ernst Ortlepp. In: Reiner Bohley, Die Christlichkeit einer Schule. Schulpforte zur Schulzeit<br />

Nietzsche’s. Wissenschaftliche Abhandlung zur QualifikationsprÅfung. Naumburg, o.J. (1974); Skript,<br />

171f. [im Druck 1997, S. 188-190], und: ders., Der alte Ortlepp ist Äbrigens todt, 1983, S. 322-331,<br />

bzw. 1997, S. 299-307.<br />

455<br />

Desinteresse an Nietzsches frÅh(st)en poetischen Texten zeichnete nahezu jede Biographie aus: Als<br />

ob Nietzsches Entwicklung aus Nietzsches Briefen authentisch zu rekonstruieren wÇre...<br />

456<br />

Vgl. vom Verfasser: Nietzsche ex/in nuce. FrÄheste SchÄlerphilosophie in ihrer grundlegenden<br />

Bedeutung fÄr die <strong>Nietzscheinterpretation</strong>. In: ZDPh VI (1984), Heft 3: Nietzsche, S. 138-147. äbrigens<br />

war es JÄrg Salaquarda, der 1986 als erster darauf verwies, ich hÇtte „in meinen neuesten VerÄffentlichungen<br />

mit guten GrÅnden herausgearbeitet, daÉ sich Nietzsche schon als Knabe gegen (den<br />

christlichen) Gott gewandt habe und daÉ diese Auseinandersetzung untergrÅndig oder manifest sein<br />

ganzes Werk bestimme“ (Nietzsche-Studien XV, 1986, S. 432.) Warum JÄrg Salaquarda [weniger als<br />

Autor denn ansonsten] von seiner 1986 verÄffentlichten Auffassung umsomehr abzurÅcken schien je<br />

differenzierter ich diese Sichtweise auf Nietzsche begrÅndete, gehÄrt fÅr mich zu den RÇtseln der vergangenen<br />

Jahre.<br />

271


hung 457 nicht zuletzt als Antwort dazu erarbeitete und, wie ich vermute, bei Nietzsche spÇtestens<br />

seitdem ‘einiges sah’. Es ist faszinierend, zu verfolgen, wie sich Bohley Schritt um<br />

Schritt 458 zu seiner bahnbrechenden Einsicht durcharbeitet:<br />

„Ortlepp, der vermeintlich ‘letzte AuslÇufer einer Generation’, blieb nicht wirkungslos. Von ihm<br />

beeindruckt, fand einer seinen Weg, der spÇteren Generationen zu denken gab.“ 459<br />

So deutlich sich Bohley auch artikulierte, so wenig wurden seine Anregungen m. W. vor 1994<br />

aufgenommen. Nachdem Bohley freilich erfuhr, daÉ ich die These vertrete, bereits fÅr Nietzsches<br />

Kindheit seien zumindest massive Theodizeeprobleme Nietzsches belegbar und sogar<br />

eine Absetzbewegung von der Religion seines sozialen Umfeldes nicht unwahrscheinlich,<br />

interessierte ihn ungemein, was ich von seiner Ortlepp-Nietzscheskizze hielt; wer wenn nicht<br />

Pastor Reiner Bohley 460 konnte 1988 ermessen, was ein frÅher substantieller Ortleppkontakt<br />

wegen der in Ortlepps Schriften manifestierten (und Bohley bekannten) massiven Theodizeeprobleme<br />

ihres Autors gerade fÅr den frÅh(st)en Nietzsche und dessen Graecophilie als<br />

Christophobie bedeuten kÄnnte, wÅrde, ja muÉte?<br />

In diesen Problemzusammenhang nun gehÄrt meine weitere Radikalisierung der Nietzsche-<br />

Ortlepp-Fragestellung dank eines im Weimarer Goethe-Schiller-Archiv erhalten gebliebenen<br />

Albums bzw. Stammbuchs Nietzsches 461 , in das wÇhrend Nietzsches PfÄrtner SchÅlerzeit Eintragungen<br />

unterschiedlichen Niveaus durch verschiedene Personen – zumeist waren es Klassenkameraden<br />

– erfolgten. Nun befindet sich auf sechs Seiten dieses Albums eine Sammlung<br />

auch pÇderastisch getÄnter Liebesgedichte, die ich nach lÇngerem ZÄgern als an den frÅhen<br />

457 Vgl. Reiner Bohley: Nietzsches christliche Erziehung. In: Nietzsche-Studien XVI (1987), 164-96<br />

und 171, Anm. 38; Fortsetzung und AbschluÉ als Nietzsches christliche Erziehung II. In: Nietzsche-<br />

Studien XVIII (1989), S. 377-396.<br />

458 Ortlepp habe Nietzsche „stark beschÇftigt, ohne daÉ er sich – oder den anderen – eingesteht, wie<br />

beeindruckt er davon ist“. Reiner Bohley: Der alte Ortlepp ist Äbrigens todt, 1983, S. 322; „auch wenn<br />

er zugleich spÅren lÇÉt, daÉ er bei Ortlepp etwas gefunden hat, das ihn anrÅhrte, beschÇftigte Und<br />

doch konnte Ortlepp fÅr den ab 1861 seine eigenen Wege suchenden Nietzsche von besonderer Bedeutung<br />

sein.“ (S. 323) „Nietzsche hat sich nie auf Ortlepp berufen. Man kann sich gut vorstellen, daÉ er<br />

sich selbst nicht eingestehen wollte, wie tief er von diesem verkommenen Genie beeindruckt war <br />

Noch mehr als Ortlepps Schicksal beeindruckte aber Nietzsche Ortlepps Gedankenwelt: Ortlepps<br />

Themen, die Art seiner Auseinandersetzung mit dem Christentum, seine grausen Lieder, seine Vorbilder:<br />

HÄlderlin, Byron, Jean Paul, L. Sterne, Shakespeare, Montaigne werden fÅr Nietzsche bestimmend.“<br />

(S. 329f.)<br />

Bohley glaubt, spÇtestens im August 1861, nach dem Tod des Tutors Robert Buddensieg, beginne<br />

„Nietzsche seinen eigenen, nicht durch den PfÄrtner Neuhumanismus bestimmten Weg zu suchen“,<br />

den Bohley dann auf eine Weise skizziert, daÉ ich jedoch nur mit erheblichen Modifikationen zuzustimmen<br />

vermag: „Dieser Weg wird gegangen, gleichzeitig ein anderer, der mit jenem nichts zu tun zu<br />

haben scheint, der bestimmt ist durch die AufsÇtze und Ausarbeitungen, die in Schulpforta verlangt<br />

werden. Eine Zeitlang geht Nietzsche beide Wege. Bestimmend wird schlieÉlich aber der, den die<br />

Pforte nicht gewiesen hatte.“ (S. 330). Nun besteht in WeiterfÅhrung der äberlegungen Bohleys ein<br />

Ergebnis meines Spurenlesens in Nietzsches Naumburger und PfÄrtner Texten ja genau darin, nicht<br />

nur zu argumentieren, daÉ Nietzsche Ortlepp schon in seiner spÇten Naumburger Kindheit gekannt<br />

haben mÅÉte, sondern auch zu zeigen, daÉ es Nietzsche selbst in seinen Schultexten (und insbes. in<br />

denen der Prima) geschafft hat, zumindest im Sinne einer Gegenstimme auch dort ‘seinen’ Weg nicht<br />

nur zu gehen, sondern sogar seine eigenen Themen konsequent weiterzuverfolgen.<br />

459 Ebenda, S. 330.<br />

460 FÅr die damals noch sehr schwierige AnknÅpfung der Verbindung in die DDR zu Reiner Bohley<br />

danke ich Wolfgang MÅller-Lauter und JÄrg Salaquarda. Bohleys frÅher Tod am 31.12.1988 stellt<br />

einen bis heute auch nicht annÇhernd kompensierten Verlust fÅr kritische Nietzscheforschung sowie<br />

<strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong> dar.<br />

461 Vgl. GSA 71/374a.<br />

272


Nietzsche selbst gerichtete Gedichte sowie als Skizze einer hintergrÅndigen Beziehungsgeschichte<br />

interpretierte. Aus einer Reihe inhaltlicher GrÅnde schloÉ ich auch in BerÅcksichtigung<br />

einiger Details des Inhalts und der Schreibweise des altgriechischen Mottos auf einen<br />

pÇderastie- und in hohem MaÉe antikekundigen Çlteren, im Leben und zumal in Liebesdingen<br />

sich als gescheitert erfahrenden Autor und glaubte, ebenso wie Ursula Schmidt-Losch, die<br />

sich seit Anfang der 1990erjahre in Handschriften des nÇchsten sozialen Umfeldes insbesondere<br />

des frÅh(st)en Nietzsche einlas und mit mir Archivarbeiten durchfÅhrt, in der Schrift der<br />

betreffenden Seiten die Handschrift und im Text ebenso wie im Arrangement den Geist Ortlepps<br />

zu erkennen. Deshalb hatte ich als AbschluÉ und damit auch wieder als Neueinsatz der<br />

Absconditissimus-Problematik beim frÅh(st)en Nietzsche skizziert, was man von Ortlepp wissen<br />

kann; und auch, was ein im Sinne der Eintragungen in Nietzsches Album gelebter nÇherer<br />

Kontakt mit Ortlepp fÅr den frÅh(st)en Nietzsche angesichts dessen nahezu lebenslanger Vatersuche<br />

bedeutet haben kÄnnte.<br />

NatÅrlich sind und bleiben derartige äberlegungen in hohem MaÉe hypothetisch. Je relevanter<br />

fÅr Nietzsche, desto hypothetischer in der Regel. Doch ein stringenter, spezifischer<br />

Einwand gegen sie ist diese Einsicht wohl kaum. Im Grunde hatte ich mit der Vorlage meines<br />

Nietzsche-Ortlepp-Hypothesengeflechts ja auch ein forschungsstimulierendes Fragezeichen<br />

hinter meine eigenen – davon unabhÇngigen – Interpretationen schon deshalb gesetzt, weil der<br />

Nachweis eines nÇheren Ortleppkontakts zu einer weiteren Radikalisierung meiner Thesen der<br />

frÅh(st)en Denkentwicklung Nietzsches fÅhren kÄnnte, ja mÅÉte. Vor allem Nietzsches frÅhe<br />

Graecophilie sowie damit verbundene Christentumskritik – Graecophilie als Christophobie?<br />

462 –, in der traditionellen <strong>Nietzscheinterpretation</strong> noch kaum eine Rolle spielend – genauer:<br />

in der Regel konsequent totgeschwiegen, entschÇrft oder doch zumindest groÉzÅgig ‘Åberlesen’<br />

–, wÇre dadurch sowie durch einige weitere seitherige Archivfunde 463 plausibler.<br />

Eine derartige brisante Konstellation provoziert verstÇndlicherweise Widerlegungsversuche<br />

der PrÇmissen ebenso wie der Relevanz meiner Nietzsche-Ortlepphypothese, wozu ich ja<br />

ausdrÅcklich aufgefordert hatte 464 . Der differenzierteste, prinzipiellste und an exponiertester<br />

Stelle plazierte Falsifikationsversuch einer meiner Hypothesen, der mir bislang [!! d.h. bis<br />

1999, Zus. d.Vf.] zugÇnglich wurde, ist nun derjenige von Hans Gerald HÄdl 465 , des langjÇhrigen<br />

Mitarbeiters an der Edition der Kinder- und Jugendschriften Nietzsches in der Kriti-<br />

462 Vgl. vom Verfasser Na passim; eine Zusammenfassung gibt nun: Von „Als Kind Gott im Glanze<br />

gesehn“ zum „ChristenhaÖ“? Nietzsches frÄh(st)e weltanschauliche Entwicklung (1844-1864), eine<br />

Skizze. In: Nietzscheforschung 7, 2000 [genauer: 8, 2001, S. 95-118].<br />

463 Vgl. insbes. vom Verfasser: Friedrich Nietzsche aus Rácken. Gedenkrede am 15.10.1994, Nietzsches<br />

150. Geburtstag, in RÄcken. In: Nietzscheforschung II, 1995, S. 35-60.<br />

464 NaJ II, S. 702.<br />

465 Insbesondere meine christentumsskeptische Nietzschesicht scheint den Widerspruchsgeist des jungen<br />

Theologen zu kitzeln. So trug HÄdl in einer beachtlichen Mutprobe wÇhrend des III. Dortmunder<br />

Nietzsche-Kolloquiums am 20.7.1993 einen (von mir in der Diskussion allerdings zurÅckgewiesenen)<br />

bisher unverÄffentlichten Destruktionsversuch meiner Interpretation eines Theaterfragments des<br />

11jÇhrigen Nietzsche vor: Der GeprÄfte / Die Gátter vom Olymp – Graecomanie als Autotherapie?<br />

Kritisches zu H. J. Schmidts Deutung von Nietzsches frÄhem „Gátterdrama“; und so wetzte er seine<br />

Messer der Kritik, die ich in NaJ II, 757f., milde entschÇrfte, auch in Dichtung oder Wahrheit? Einige<br />

vorbereitende Anmerkungen zu Nietzsches erster Autobiographie und ihrer Analyse von H.J. Schmidt,<br />

Nietzsche-Studien XXIII, 1994, S. 285-306.<br />

So ist diese Miszelle nun der dritte prÇmissenorientierte Kritikversuch HÄdls, der nun erstmals eine<br />

Metakritik erhÇlt. Dabei geht es mir keineswegs darum, den Eindruck zu erwecken, ich ginge davon<br />

aus, eine so innovative und provokante Untersuchung wie Nietzsche absconditus kÄnnte zumal als<br />

wohl umfangreichste deutschsprachige <strong>Nietzscheinterpretation</strong> des zuendegehenden Jahrhunderts fehlerlos<br />

sein. (In NaJ II, S. 757-60, ist bereits eine Errata- und ErgÇnzungsliste aufgenommen). Doch fÅr<br />

eine eher punktuell ansetzende Kritik gelten wohl schÇrfere Bedingungen: sie mÅÉte zumindest auf<br />

Voraussetzungen basieren, die weitestgehend unstrittig sind.<br />

273


schen Gesamtausgabe, Werke 466 , und Habilitanden in Christlicher Philosophie mit einer Untersuchung<br />

der Religionsphilosophie Nietzsches [467] , auf deren LektÅre ich mich freue, an der<br />

Katholischen theologischen FakultÇt der UniversitÇt Wien.<br />

Da sich HÄdls Falsifikationsversuch – genauer: die von HÄdl als erfolgreich abgeschlossen<br />

behauptete Falsifikation (vgl. 444, Z. 4f. v. u.) – dank seines Informationsniveaus in Sachen<br />

frÅh(st)er Nietzsche und zumal im Licht seiner eigenen Voraussetzungen als Åberaus Åberzeugend,<br />

ja geradezu vernichtend liest, genÅgt es nicht, lediglich einige basale Gegenthesen<br />

zu formulieren, sondern erweist es sich als unumgÇnglich, nun Punkt fÅr Punkt sowohl die<br />

PrÇmissen als auch einzelne Behauptungen HÄdls nicht zuletzt dadurch zu ÅberprÅfen, daÉ sie<br />

in einen umfassenderen Kontext integriert werden.<br />

So fungiert meine Metakritik HÄdlscher „Philologie fÅr Spurenleser“ nicht zuletzt auch als<br />

Exempel eines Spuren- und Metaspurenlesens im sozialen Nahfeld Nietzsches.<br />

II. Metakritik<br />

Wie am 9.7.1999 wÇhrend des VI. Dortmunder Nietzsche-Kolloquiums (DNK) – „als Kind<br />

Gott im Glanze gesehn“? Der frÅhe Nietzsche (1844-1864) in seinem VerhÇltnis zu Antike<br />

und Christentum – angekÅndigt, beansprucht HÄdl, in seiner Miszelle den Beweis gefÅhrt zu<br />

haben, die Schrift der von mir hypothetisch Ernst Ortlepp zugewiesenen Texte in Nietzsches<br />

„Album“ sei nicht die Handschrift Ortlepps, sondern vielmehr diejenige von Nietzsches MitschÅler<br />

Georg Stoeckert. Deshalb seien auch meine Hypothesen zu Nietzsches spezifischem<br />

Ortleppbezug nicht (mehr) seriÄs.<br />

Meine Metakritik erfolgt in lediglich drei Schritten: in II.A. untersuche ich HÄdls Falsifikation<br />

meiner Ortlepphypothese, in II.B. HÄdls Verifikation seiner Stoeckertthese und in II.C.<br />

die QualitÇt einiger argumentativer Nebenlinien und Belege der Miszelle HÄdls.<br />

II. A. Falsifikation meiner Ortlepphypothese?<br />

Zumindest auf den ersten Blick hat Hans Gerald HÄdl in seiner Miszelle eine hochplausible<br />

Argumentation vorgetragen, denn gerade Freunde und MitschÅler lieÉ man sich in der spÇten<br />

Mitte des 19ten Jahrhunderts gerne in ein Poesiealbum eintragen, wenn man dergleichen fÅhrte<br />

und schÇtzte. Vor allem freilich gehÄrte Georg Stoeckert zeitweise zum nÇchsten Bekanntenkreis<br />

des Alumnus portensis Nietzsche, war mit Raimund Granier und Guido Meyer etwa<br />

1862 wohl wichtigster Aussprechpartner Nietzsches. In dieser Hinsicht gehen HÄdl und ich<br />

konform. HÄdl hat die entsprechenden Belege berÅcksichtigt, seinerseits äberlegungen sogar<br />

zu „einer vermuteten äbernahme von Thesen Stoeckerts in ‘Fatum und Geschichte’“ (442,<br />

Anm. 25) verÄffentlicht, mit seiner äberprÅfung also zentral eingesetzt.<br />

Wer hingegen geht schon davon aus, daÉ sich ein Jahrzehnte zuvor renommierter Dichter<br />

und Schriftsteller, dessen Name heute kaum noch ein [westdeutscher, in Mitteldeutschland<br />

war es wenigstens bis 1989 anders!] Literaturwissenschaftler kennt, ein in seinen letzten Le-<br />

466 Vgl. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Aufzeichnungen. Anfang 1852 – Sommer 1858. Bearb. v.<br />

J. Figl. Unt. Mitarb. v. H.G. HÄdl. In: ders., Kritische Gesamtausgabe. Werke I 1. Berlin/New York,<br />

1995; Nachgelassene Aufzeichnungen. Herbst 1858 – Herbst 1862. Herausgegeben von Johann Figl.<br />

Bearbeitet von Hans Gerald HÄdl. Unter Mitarbeit von Ingo Rath. In: Ebenda, Werke I 2, Ebenda,<br />

1999, und (voraussichtlich) Nachgelassene Aufzeichnungen. Herbst 1862 – Herbst 1864. Herausgegeben<br />

von Johann Figl. Bearbeitet von Hans Gerald HÄdl. Unter Mitarbeit von Ingo Rath. In: ders., Ebenda,<br />

Werke I 3, Ebenda, 2000 [2006].<br />

467 [Zusatz 2012: das war damals mein Informationsstand. Die Habilitation erfolgte dann aber nicht in<br />

Wien, sondern mit Der letzte JÄnger des Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches<br />

Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik. Berlin; New York, 2009, an der Humboldt<br />

UniversitÇt zu Berlin.]<br />

274


ensjahren hingegen – nicht nur aus der Perspektive einer Naumburger Tugend – nahezu verwahrloster,<br />

zeitweise obdachloser 468 , bettelnder Branntweintrinker, in das Album eines<br />

scheinbar noch auf geistliche Karriere Eingeschworenen einzutragen vermochte?<br />

Und selbst wenn ein Leser sich nicht damit begnÅgen wÅrde, HÄdls plausible Interpretation<br />

schlicht zu glauben – „Einer glaubt dem Andern nach“ 469 –, denn Schriftproben bietet die<br />

Miszelle ja nicht, er sich vielmehr Kopien der betreffenden Texte in Nietzsches Album aus<br />

dem Goethe-Schiller-Archiv (GSA) der „Stiftung Weimarer Klassik“ und bspw. des Lebenslaufs<br />

in der Valediktion Stoeckerts aus dem Archiv der Landesschule Pforta besorgt oder sich<br />

gar selbst in diese Archive begibt, dann ist er wahrscheinlich noch immer so verblÅfft Åber<br />

einige ãhnlichkeiten in den Schriftbildern Stoeckerts sowie des Albumeintrags, daÉ er –<br />

glÅcklich, im warmen SchoÉ der communis opinio wieder beheimatet und damit der fÅr<br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong> ansonsten brisanten Ortleppthematik entronnen zu sein? – HÄdls AusfÅhrungen<br />

erleichtert zustimmt; und vielleicht sogar in einem Anflug von Mitleid den Autor<br />

von Nietzsche absconditus leise bedauert, eine so schÄne ‘Ortlepphypothese’ auf so leichten<br />

Flugsand gesetzt zu haben?<br />

Und doch: Nicht nur kritische Rationalisten wissen, daÉ man auf Sand sehr gut bauen<br />

kann; und daÉ mancher scheinbar fÅr die Ewigkeit gebaute Betonbunker mit winzigen Fensterchen<br />

schon kurz nach seiner Fertigstellung [wegen erheblicher BaumÇngel] gesprengt werden<br />

muÉ. So rÅckt nun wenige Tage nach Erscheinen der Miszelle das von Hans Gerald HÄdl<br />

angeforderte Untersuchungsteam an, das jedoch Åber den Destruktionsakt eines Sprengkommandos<br />

hinaus sich bemÅht, das ramponierte ProblemgelÇnde zu sanieren und durch erste<br />

Neuanpflanzungen aufzuwerten.<br />

Vorausgesetzt, ich habe sie richtig verstanden und rekonstruiert, so beansprucht die Miszelle<br />

als Dokument HÄdlscher Philologie fÅr Spurenleser in ihrer argumentativen Hauptlinie<br />

ja nichts geringeres als zumindest viererlei geleistet zu haben: meine Ortlepphypothese nicht<br />

lediglich dadurch falsifiziert zu haben, daÉ nunmehr bewiesen sei,<br />

1. die Schrift dieser Texte sei nicht die Handschrift Ernst Ortlepps, und<br />

2. Ernst Ortlepp sei nicht Autor der infrage stehenden Texte, denn: „Der alte Ortlepp 470 war es<br />

Åbrigens nicht“,<br />

sondern, noch Åber diese Falsifikation hinausgehend, wird beansprucht,<br />

3. den Schreiber dieser Texte in Nietzsches zeitweiligem PfÄrtner Klassenkameraden Georg<br />

Stoeckert und<br />

4. auch den Autor dieser in Nietzsches Album eingetragenen Texte identifiziert zu haben:<br />

wiederum Nietzsches zeitweiligen PfÄrtner Klassenkameraden Georg Stoeckert.<br />

Sollten diese Thesen zutreffen, so hÇtten wir es mit einer nicht nur besonders ‘starken Argumentation’<br />

zu tun, die eine strikte Falsifikation (HÄdlthese 1) sowie eine stringente Verifikation<br />

(HÄdlthese 3) mit zwei konsequenzenreichen SchlÅssen der nÇmlichen Struktur (HÄdlthesen<br />

2 und 4) verbinden wÅrde, sondern angesichts der Schwierigkeiten in der Sache – schlieÉlich<br />

geht es primÇr um eine fÅr Schriftanalysen schon aus quantitativen GrÅnden vielleicht<br />

nicht ausreichende Menge von Handschriften aus den Jahren 1858-1864 – fast mit einem Geniestreich,<br />

der hohen Respekt verdient und der Anerkennung jedes Erkenntnisorientierten<br />

sicher sein sollte.<br />

468 Ortlepp wurde zeitweise im Spritzenhaus der Feuerwehr von Altenburg/Almrich untergebracht,<br />

dem zwischen Pforta und Naumburg gelegenen Dorf.<br />

469 „Auf der Thorheit breiter Gasse / Schiebt sich fort die trÇge Masse; / Jeder spricht, wie Einer<br />

sprach, / Einer glaubt dem Andern nach.“ Ernst Ortlepp, Das Papsthum oder Rom auf dem Sterbebette,<br />

in: Gesammelte Werke. I. Band. Winterthur, 1845, S. 155; vgl. NaJ II, S. 718f. [Ortlepps Gedicht<br />

enthÇlt ungekÅrzt meine Ortleppmonographie in beiden Auflagen.]<br />

470 Die Formulierung stammt von Friedrich Nietzsche, vgl. Brief an Wilhelm Pinder vom 5. 7. 1864.<br />

In: Friedrich Nietzsche. Gesammelte Briefe. I. Band, hgg. v. Elisabeth FÄrster-Nietzsche und Peter<br />

Gast, Leipzig, 3 1903, 65, HKG B I 250 bzw. KG B I 1, 288.<br />

275


Um mein Analyseergebnis der Gesamtargumentation HÄdls vorwegzunehmen: Hádls Falsifikationsversuch<br />

mit dem Ergebnis der These 1 halte ich aus nicht nur einem Grund fÄr gescheitert;<br />

und auch um Hádls Verifikationsversuch mit dem Ergebnis der These 3 steht es in<br />

meinen Augen aus weiteren GrÄnden nicht besser. Schon damit jedoch fallen auch jenseits<br />

aller spezifischen EinwÇnde gegen die Art 471 der Argumentation, welche die obigen Thesen 2<br />

und 4 erst ermÄglicht, diese Thesen ebenso wie die Thesen 1 und 3 in den Orkus des in dieser<br />

Miszelle nicht hinreichend Belegten [geschweige denn Bedachten].<br />

Doch selbst damit nicht genug: die insgesamt demonstrierte „Philologie fÄr Spurenleser“<br />

bzw. Gesamtargumentation erscheint mir trotz zahlreicher zutreffender inhaltlicher Einzelaussagen<br />

aus methodologischer ebenso wie aus inhaltlicher Perspektive als so desastrás, daÉ ich<br />

zwar noch nachzuvollziehen vermag, daÉ HÄdl in verstÇndlicher Entdeckerfreude seine argumentative<br />

Schieflage Åbersah. Erhebliche Schwierigkeiten macht mir hingegen, zu verstehen,<br />

warum selbst einem Interpreten vom Range JÄrg Salaquardas, der neben seiner [damaligen!]<br />

Funktion als verantwortlicher Herausgeber der Nietzsche-Studien schlieÉlich auch eine nicht<br />

unwichtige Funktion im Herausgeberkreis der Kritischen Gesamtausgabe Nietzsches eingenommen<br />

hat, am Nachbericht von Also sprach Zarathustra zeitweise beteiligt 472 war und nach<br />

Aussage HÄdls der vorgelegten Analyse ausdrÅcklich zustimmte, entgangen sein kann, daÉ<br />

die der BeweisfÅhrung zugrundegelegte Argumentation sowohl in einzelnen Argumentationslinien<br />

als auch in ihrem Zusammenhang so brÅchig ausfiel, daÉ unter dem Gesichtspunkt des<br />

Schutzes der Interessen eines jÅngeren Autors die Aufnahme dieser Miszelle, deren problematischer<br />

Ansatz samt ihrer z.T. pseudoargumentativen Feinstruktur von den Åbrigen Herausgebern<br />

dank vÄllig anders gelagerter Kompetenzen kaum beurteilt werden konnte, in die Nietzsche-Studien<br />

schwerlich zu verantworten war.<br />

Um die monierte Schieflage des argumentativen Skeletts dieser Miszelle nun zu belegen<br />

und auch, um zu zutreffenderen äberprÅfungsversuchen zu provozieren, einige Schritte in die<br />

Macchia methodologischer und ‘empirischer’ Details eines Spuren- und Metaspurenlesens bei<br />

Nietzsche 473 !<br />

Hans Gerald HÄdl beansprucht, meine Ortlepphypothese insofern widerlegt zu haben, als<br />

er belegt zu haben behauptet, die von mir Ortlepp zugewiesenen EintrÇge in Nietzsches Album<br />

wÅrden (ja: kÄnnten) nicht von Ortlepp stammen.<br />

Das Vorgehen: HÄdl bezieht sich<br />

1. auf die betreffende Handschrift in Nietzsches Album, deren Schriftmerkmale er auf spezifische<br />

Eigenheiten hin untersucht, die er<br />

2. mit spezifischen, ebenfalls vom normalen Schriftbild abweichenden EigentÅmlichkeiten<br />

einiger Seiten Schrift aus zwei weiteren Handschriften vergleicht, wobei er aufzuweisen<br />

sucht, daÉ<br />

3. spezifische EigentÅmlichkeiten bzw. Eigenheiten der Schrift in Nietzsches Album mit spezifischen<br />

EigentÅmlichkeiten oder Eigenheiten der Schriften anderer Autographen, die je-<br />

471 SchlieÉt HÄdl aus seiner berechtigten Annahme, daÉ es sich bei zwei unter ein Distichon bzw. eine<br />

Gedichtsammlung gesetzten Buchstaben um „keine Unterschrift“ handeln „muÉ“ (S. 400, Anm. 8),<br />

darauf, daÉ die betreffenden Eintragungen „unsigniert“ seien (S. 400)?<br />

472 Marie-Luise Haase und Mazzino Montinari: Nachbericht zum ersten Band der sechsten Abteilung:<br />

Also sprach Zarathustra. (KG W VI 4.) Berlin / New York, 1991, VIII.<br />

473 In aller Bescheidenheit erinnere ich daran, in NaK zwar eine Information „FÅr Spurenleser und<br />

Indianer“ (1991, 53-56), „FÅr heterodoxe Metaspurenleser und andere Hintersinnige“ (S. 97-99) sowie<br />

eine „Einleitung fÅr Metaspurenleser“ (S. 577-602) aufgenommen zu haben, nicht jedoch explizit einen<br />

Grundkurs in Wissenschaftsmethodologie – ich dachte, meine Widmung auch an K.R. Popper, E.<br />

Topitsch und H. Albert wÅrde als Hinweis genÅgen – oder auch in Spurenlesen anbietet, weil ich davon<br />

ausging, Spurenlesen beherrsche ohnedies jeder, der sich als Autor in das verminte Terrain <strong>Genetische</strong>r<br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong> wagt. War ich 1990 allzu optimistisch?<br />

276


doch nachweislich nicht von Ernst Ortlepp stammen, in so hohem MaÉe Åbereinstimmen,<br />

daÉ aus dieser äbereinstimmung<br />

4. abgeleitet werden kann, die Person, die Schreiber der von HÄdl herangezogenen Autographen<br />

ist, sei identisch mit derjenigen Person, die die EintrÇge der betreffenden Seiten in<br />

Nietzsches Album vorgenommen hat. Damit gilt<br />

5. als bewiesen, daÉ die diskutierten Texte in Nietzsches Album nicht von Ernst Ortlepp eingetragen<br />

wurden, und daÉ infolgedessen<br />

6. Ernst Ortlepp auch nicht Autor der betreffenden Texte sei(n kann).<br />

7. Damit ist meine Ortlepphypothese durch (genauer: fÅr) Hans Gerald HÄdl falsifiziert.<br />

Bei einem derartigen Ansatz sowie Vorgehen erscheint mir jedoch nahezu alles falsifikatorisch<br />

primÇr Relevante teils Åbergangen – dazu unter 1. und 2. – teils nicht ausreichend genug<br />

belegt [geschweige denn bedacht]; dazu dann unter II.B.<br />

1.: Selbst nÇmlich vorausgesetzt, HÄdl wÇre mit II.A.3.-5. im Recht, so wÇre seine primÇr<br />

auf einem von Handschriftenvergleich basierende Falsifikation meiner Ortleppthese noch<br />

lÇngst nicht nach allen Seiten argumentativ hinreichend abgesichert. So ist ohne Hinzuziehung<br />

weiterer Argumente ja bspw. nicht vorweg auszuschlieÉen, daÉ, selbst wenn die strittige<br />

Schrift in Nietzsches Album tatsÇchlich die Handschrift eines zeitweise eng befreundeten<br />

MitschÅlers von Nietzsche wÇre, der betreffende Text vor allem dann von Ortlepp stammen<br />

kÄnnte, wenn die als Schreiber aufgewiesene Person und Ortlepp als einander nicht unbekannt<br />

mit zumindest hohem PlausibilitÇtsgrad aufgewiesen werden kÄnnten. Genau das nun ist der<br />

Fall: schon durch die Art des belegten Kontakts 474 des Oberprimaners Nietzsche mit Ortlepp.<br />

So kÄnnte Ortlepp den Text ja auch diktiert oder dem Schreiber eine Textvorlage zum Eintragen<br />

in Nietzsches Album Åbermittelt haben. DaÉ hingegen Ortlepp Gedichte Stoeckerts, der<br />

zum Eintragen selbst keine Zeit oder auch keine Lust gehabt hÇtte, eintrug, ist zwar nicht vÄllig<br />

ausgeschlossen, doch eher unwahrscheinlich.<br />

Schon aus diesen wenigen Hinweisen wird wohl deutlich, daÉ ein Schriftvergleich allein<br />

selbst dann, wenn er in jeder nur denkbaren Hinsicht stichhaltig wÇre, bestenfalls den Rang<br />

eines notwendigen, niemals jedoch eines hinreichend belegten Arguments zugunsten der von<br />

HÄdl inserierten Ergebnisse beanspruchen kann; doch genau den Anspruch eines hinreichend<br />

belegten Arguments mÅÉte ein Schriftvergleich erfÅllen, wenn in Ausklammerung oder Unterbelichtung<br />

inhaltlicher Argumente auf der Basis eines Vergleichs von Schriftmerkmalen<br />

von Autographen Åber Autorschaft entschieden werden soll.<br />

2.: Doch wie stÅnde es um die schon im Titel der Miszelle angekÅndigte Falsifikation meiner<br />

Ortlepphypothese, wenn nicht nur der Schriftvergleich selbst als wohl zentrale Beweislinie<br />

versagen wÅrde (dazu genauer unter II.B.), sondern wenn die Stichhaltigkeit der Falsifikation<br />

schon dank des von HÄdl gewÇhlten spezifischen Analyseansatzes keineswegs unproblematisch<br />

wÇre? Letzteres ist der Fall, weil meine Hypothese, Ortlepp hÇtte sich in Nietzsches<br />

Album mit Gedichten usw. eigenhÇndig eingetragen, per Schriftvergleich an erster Stelle dann<br />

falsifiziert wÇre, wenn dank eines Vergleichs der betreffenden Schrift in Nietzsches Album<br />

mit diversen Handschriften Ortlepps zumal aus dem nÇmlichen Zeitraum nicht nur behauptet,<br />

sondern idealiter auch abbildungsmÇÉig belegt worden wÇre, daÉ die Schrift im Album sich in<br />

charakteristischer Hinsicht von handschriftlichen Zeugnissen Ortlepps unterscheidet, wenn<br />

also einerseits (a) verschiedene Schriften Ortlepps durchgÇngig bspw. Åber spezifische von<br />

der damaligen Normalschriftweise charakteristisch abweichende Gemeinsamkeiten –<br />

Schreibweise bestimmter Buchstaben, Verbindung dieser Buchstaben mit anderen, Ausrich-<br />

474 „Wir sprachen ihn am Todestag“, „Wir wollen ihm einen kleinen Denkstein setzen; wir haben gesammelt“.<br />

Friedrich Nietzsche, Brief an Wilhelm Pinder vom 5.7.1864 (B I 250 bzw. KG B I 1, 288).<br />

Da Nietzsche in seinen frÅhen Briefen noch keinen Pluralis majestatis kultiviert, verweist dieses<br />

betonte „wir“ auf normale Kontakte Ortlepps mit PfÄrtner Primanern; Kontakte, die nicht erst nach<br />

Georg Stoeckerts Abgang im MÇrz 1864 aufgenommen worden sein dÅrften.<br />

277


tung der Schrift usw. – verfÅgten, die jedoch in der Schrift der betreffenden Texte des Albums<br />

keineswegs aufweisbar sind, und wenn andererseits (b) auch die Schrift der betreffenden Seiten<br />

des Albums wiederum Åber konstante, von der damaligen Normalschriftweise charakteristisch<br />

abweichende EigentÅmlichkeiten verfÅgen wÅrde, die in den herangezogenen Handschriften<br />

Ortlepps hingegen nicht aufweisbar sind.<br />

Doch selbst derlei elementare methodologische äberlegungen erscheinen als mÅÉig, denn<br />

ich vermisse jeden Hinweis darauf, HÄdl habe Handschriften Ortlepps herangezogen. Sollte es<br />

der Legitimation eines äberspringens einer Analyse von Ortlepphandschriften dienen, wenn<br />

HÄdl moniert, ich hÇtte darauf verzichtet, anzugeben, auf welche Handschrift(en) Ortlepps<br />

sich mein Urteil bezieht (dazu genauer in II.C.1.)?<br />

So halte ich als Zwischenergebnis fest: Die Argumentation der Miszelle erweckt den Eindruck,<br />

nicht nur die Stufe prinzipieller Reflexion der LeistungsfÇhigkeit jedweden Schriftvergleichs<br />

fÅr eine auf Falsifikation hinzielende Argumentation (siehe oben 1.) zu Åberspringen,<br />

da eine IdentitÇt von Skribent und Autor vorausgesetzt ist, sondern vor allem auch die kaum<br />

minder relevante Stufe eines Vergleichs der SchrifteigentÅmlichkeiten des betreffenden Eintrags<br />

des Albums mit den EigentÅmlichkeiten der im Blick auf eine Falsifikation meiner Ortlepphypothese<br />

an erster Stelle relevanten Handschriften Åbersprungen zu haben: von Handschriften<br />

Ernst Ortlepps 475 nÇmlich, die mÄglichst aus dem Zeitraum 1861-1864 stammen<br />

sollten.<br />

Im Sinne der Aufrechterhaltung eines Falsifikationsanspruchs bleibt als Strategie noch vor<br />

allem offen, in einer anderen Person als Ortlepp den Schreiber des betreffenden Eintrags zu<br />

identifizieren (dazu dann unter II.B.).<br />

LieÉe sich dieser Beweis jedoch nicht so einwandfrei fÅhren wie die Miszelle das geleistet<br />

zu haben beansprucht 476 , so entfiele damit jeder Anspruch, meine Ortlepphypothese falsifiziert<br />

zu haben. Das LeistungsvermÄgen der Miszelle reduzierte sich dann einerseits auf (1)<br />

einen eher verdeckten (in den Nietzsche-Studien, m.W. erstmals exponierten) Hinweis auf die<br />

mÄglicherweise hohe Relevanz eines Nietzsche-Ortleppbezugs, andererseits auf (2) einen<br />

Apell, in einem zweiten Anlauf ggf. von dritter Seite die von HÄdl intendierte Falsifikation<br />

der Ortlepphypothese doch noch vorzunehmen, wozu ich wiederum ausdrÅcklich auffordere<br />

477 , drittens schlieÉlich auf (3) die Provokation zur Ausformulierung dieser Åber eine knappe<br />

Replik hinausgreifenden Skizze.<br />

II. B. Verifikation der Stoeckertthese?<br />

Es kommt nun also alles auf die QualitÇt des per Schriftvergleich zu erzielenden Verifikationsversuchs<br />

der HÄdlschen Stoeckertthese an, die ich nun ebenfalls einer äberprÅfung unterziehe.<br />

So nehme ich die als II.A.1.-7. rekonstruierte Argumentationslinie nochmals auf und ergÇnze<br />

sie dahingehend, daÉ sich lt. HÄdl Merkmale der Schrift der betreffenden Seiten des<br />

Nietzscheschen Albums dank zahlreicher äbereinstimmungen mit den Merkmalen einiger<br />

von HÄdl herangezogener Seiten der Schrift Georg Stoeckerts 478 so weitgehend decken, daÉ<br />

von der IdentitÇt des Schreibers beider Handschriften, d.h.<br />

475 Einem seit nahezu einem Jahrzehnt in Sachen frÅh(st)er Nietzsche in diversen Archiven Recherchierenden<br />

mÅÉte die EinlÄsung einer derartigen elementaren Anforderung doch mÄglich gewesen<br />

sein.<br />

476 Das geht so weit, daÉ HÄdl, selbst wenn er meine Position referiert, „Ortlepp“ durch „Stoeckert“<br />

ersetzt: „scheint mir die von Schmidt konstatierte ãhnlichkeit der Verse Stoeckerts mit denen Nietzsches<br />

33 “ (444 unten)! Die Anm. 33: „A.a.O., 698“!<br />

477 Vgl. vom Verf. NaJ II, 1994, S. 702.<br />

478 Das Pfártner Stammbuch 1543-1893 zur 350jÜhrigen Stiftungsfeier der Kániglichen Landesschule<br />

Pfortas, hgg. v. Max Hoffmann, Berlin, 1893, informiert Åber Georg Stoeckert, Alumnus portensis Nr.<br />

10562, dahingehend, daÉ er in Jessen am 23.5.1843 geboren und Sohn<br />

278


(1.) von Stoeckert als dem Schreiber auch der betreffenden EintrÇge in Nietzsches Album<br />

auszugehen und daÉ<br />

(2.) Stoeckert darÅber hinaus auch als Autor der in Nietzsches Album von mir irrtÅmlich<br />

Ortlepp zugewiesenen Texte anzusehen ist.<br />

Wir haben es hier mit dem HerzstÅck der Argumentation HÄdls zu tun, da er sich vor allem<br />

auf den Vergleich von Merkmalen der Schrift der betreffenden Texte des Albums Nietzsches<br />

und der Schrift Stoeckerts mit dem Ergebnis konzentriert, daÉ EigentÅmlichkeiten der Handschrift<br />

Stoeckerts und der betreffenden Texte des Albums so weitgehend Åbereinstimmten,<br />

daÉ deshalb die Annahme der IdentitÇt der Schreiber dieser Autographen gesichert sei.<br />

Eine ‘starke These’ zweifelsohne, denn sie setzt voraus, daÉ gerade konstant durchgehaltene<br />

EigentÅmlichkeiten der Schrift der betreffenden Texte des Nietzscheschen Albums, welche<br />

von der damaligen deutschen Normalschrift abweichen, auch in der Handschrift Stoeckerts<br />

wenn nicht durchgÇngig so doch hÇufig aufweisbar sein mÅÉten; und daÉ umgekehrt konstant<br />

beibehaltene EigentÅmlichkeiten der Handschrift der Autographen Stoeckerts, sofern sie von<br />

der damaligen deutschen Normalschrift nicht minder abweichen, sich auch in der Handschrift<br />

der betreffenden Texte des Albums Nietzsches ebenfalls durchgÇngig oder zumindest hÇufig<br />

wiederfinden lassen mÅÉten. Somit ist impliziert, daÉ die Handschriften der betreffenden Texte<br />

im Nietzsches Album ebenso wie die Seiten der herangezogenen Autographen von Stoeckert<br />

sowohl auf charakteristische Gemeinsamkeiten als auch auf nicht minder charakteristische<br />

Unterschiede hin minutiÄs analysiert worden wÇren. Dabei wÇre ein BerÅcksichtigen<br />

konstant [!!] durchgehaltener Unterschiede besonders effektiv, da es genÅgen wÅrde, lediglich<br />

2 oder 3 GroÉbuchstaben bspw. zu finden, die in den Schriften Stoeckerts durchgÇngig gleich<br />

oder zumindest sehr Çhnlich, in der Schrift des Albums jedoch konstant nicht nur irgendwie<br />

variabel, sondern idealiter auf geradezu stereotype Weise deutlich abweichend zur Handschrift<br />

Stoeckers ausfielen. [479]<br />

So ist die Argumentation HÄdls vor allem auf vier Fragestellungen hin zu ÅberprÅfen:<br />

1. äber welche Textbasis bei Stoeckert verfÅgt HÄdl?<br />

2. Welche âbereinstimmungen zwischen der Schrift von Stoeckert und der betreffenden<br />

sechs Seiten in Nietzsches Album belegt HÄdl?<br />

3. Gibt es auch Unterschiede zwischen den Handschriften? Wenn ja, wie geht HÄdl mit<br />

diesem Sachverhalt um?<br />

4. Gibt es ggf. wenigstens eine weitere konsequenzenreiche Argumentations- oder AnalyselÄcke?<br />

eines Pastors in Kalbe an der Saale ist, am 29.4.1859 in Pforte in die Klasse IIIa eingeschult wurde –<br />

also nicht wie Nietzsche die beiden rangtiefsten Semester der Klasse IIIb durchzustehen hatte – und<br />

die Schule am 2.3.1864 als Abiturient verlieÉ, also durchgÇngig ein Semester hÄher als Nietzsche eingruppiert<br />

blieb und damit [nur] jedes zweite Semester auch Klassenkamerad Nietzsches war. Anfang<br />

der 1890er Jahre war Stoeckert Dr. phil. und Oberlehrer am PÇdagogium in ZÅllichau (S. 444). [Da der<br />

Ort stark zerstÄrt worden war, konnte keine Handschrift Stoeckerts, der offenbar jahrelang Stadtratsvorsitzender<br />

war, gefunden werden.]<br />

479 [Ein derartiger Argumentationsstil, fÅr einen fallibilistisch orientierten Wissenschaftler selbstverstÇndlich<br />

und bei betreffenden Hochschullehrern Proseminargegenstand, wÇre wohl nicht nur fÅr katholische<br />

Theologen und Çhnlich Denkende in hohem MaÉe kontraindiziert, da dann auch eigene<br />

Glaubensinhalte bzw. deren argumentative PrÇsentation dem Skalpell kritizistisch ‘angesetzter’ Reflexion<br />

nur noch schwerlich entziehbar wÇren. Selbstschutz in allen Ehren. Doch was bedeuten Anwendung<br />

sowie Akzeptanz falsifikatorische Reflexion negierender Strategeme in Disziplinen konsequent<br />

wissenschaftlichen Anspruchs?]<br />

279


Zuerst zu 1.: Hádls Textbasis.<br />

Mehrfach habe ich HÄdls Miszelle ÅberprÅft, weil ich befÅrchtete, ich hÇtte etwas Åberlesen,<br />

denn meinen Befund wollte ich nicht so recht glauben: Ist aus der Dankesliste der Anm. 1<br />

(440) und zwei SÇtzen der Seiten 442f. doch zu entnehmen, daÉ lediglich die drei ersten Seiten<br />

des (9 Seiten umfassenden) Lebenslaufes von Stoeckert, der (wie die strittigen Texte in<br />

Nietzsches Album) in deutscher Schrift geschrieben ist, fÅr HÄdl genÅgten, „um vollkommen<br />

davon Åberzeugt“ zu sein, „daÉ es sich bei der Eintragung in Nietzsches ‘Album’ tatsÇchlich<br />

um die Handschrift von Georg Hermann Stoeckert handelt.“ (443) Ja, Sie haben richtig gelesen:<br />

HÄdls auf einen Schriftvergleich bezogene so weitreichende (schlieÉlich auch seine eigene<br />

wissenschaftliche Reputation ebenso wie die des Autors von Nietzsche absconditus tangierende)<br />

Argumentation basiert auf diesen drei Seiten deutscher Schrift Stoeckerts, die er mit<br />

den sechs Seiten des strittigen Eintrags in Nietzsches Album vergleicht. GlÅcklicherweise hat<br />

HÄdls vollkommene äberzeugung eine partiell seriositÇtserhÄhende Vorgeschichte: HÄdl besaÉ<br />

bereits Einblick in einen zweiten Text aus der Hand Stoeckerts, in einen einschlieÉlich<br />

äberschrift 27 Zeilen umfassenden Text in lateinischer Schrift 480 , der in einem Manuskript<br />

Nietzsches erhalten ist (442f., Anm. 26; II 455). Da mÅssen die Gemeinsamkeiten zwischen<br />

den 27 Zeilen lateinischer Schrift Stoeckerts und dem Albumeintrag in deutscher Schrift ja<br />

exorbitant, Differenzen hingegen nahezu inexistent oder vernachlÇssigenswert minimal gewesen<br />

sein, wenn drei Seiten deutscher Schrift mit incl. äberschrift 59 Zeilen als Nagelprobe zu<br />

HÄdls Urteil genÅgten?<br />

Zu 2.: âbereinstimmungen zwischen der Schrift Stoeckerts und der Schrift in Nietzsches Album.<br />

HÄdl beginnt seinen Sechserkatalog „der signifikanten Eigenheiten der Handschrift“, die er<br />

„beim genaueren Vergleich untersucht“ habe, in 1., dessen Argumentation nun exemplarisch<br />

untersucht sein soll, mit dem groÉen S, von dem er zwei Varianten beschreibt (443). Im Album<br />

finden wir 23 S, im dt. Text Stoeckerts sind es 15 und im lateinischen Text 3, so daÉ wir<br />

eine 23-18-Relation haben. Beginnen wir bei Stoeckert: Wir finden 6 (und im lat. Text 2 weitere)<br />

S ohne jeden SchnÄrkel – ein klassisches S schlichtester Linie: nichts mehr ist einzusparen,<br />

wenn der Buchstabe noch als S erkannt werden soll (= S 1 ) –, 9 S mit SchnÄrkel so, daÉ<br />

das im unteren und mittleren Drittel nÇmliche S wie S 1 nun aber am oberen Ende nach rechts<br />

einen nicht ganz geschlossenen Kringel bildet (= S 2 ); schlieÉlich finden wir im lateinischen<br />

Text Stoeckerts noch ein drittes S, das bei nÇmlicher LinienfÅhrung oben rechts (im Gegensatz<br />

zu S 2 ) nicht nur einen winzigen Kreis bildet, sondern dessen Linie die Hauptlinie kreuzt<br />

und sich links von ihr nochmals leise in einer Kurve nach oben biegt (= S 3 ). Die Verteilung:<br />

S 1 = 44,44%, S 2 = 50,00%, S 3 = 5,55%, so daÉ sich bei HÄdls Stoeckert(text) eine Relation<br />

der schlichten S 1 zu den mit Kringeln versehenen S 2 und S 3 von 44,44 zu 55,55% ergibt. Und<br />

im Album? Nun, alle 23 S [!!] gehÄren mit minimalen internen Abweichungen in die Gruppe<br />

481 S1 bzw. auch nicht ein einziges S gehÄrt in die Gruppe S 2 oder gar S 3 . Besser lÇÉt sich<br />

eine These wohl selten widerlegen. Doch fÅr HÄdl bildet dieses Ergebnis einen stringenten<br />

Beweis fÅr IdentitÇt? „Philologie fÅr Spurenleser“? Wem ist aufgefallen, daÉ HÄdls Beschrei-<br />

480 Es geht dabei um eine spannende Oberprimanerkontroverse zwischen Stoeckert und Nietzsche im<br />

Blick auf Tacitus, Annalen II, 371. Der lat. Text der Kontrahenten W II 354 (Stoeckert) und 351<br />

(Nietzsche); äbersetzung und Kommentar bei Renate G. MÅller, Antikes Denken und seine Verarbeitung<br />

in Texten des SchÅlers Nietzsche. Diss. U. Dortmund, 1993, S. 297f. (bzw. optisch komprimiert<br />

S. 162f,) und S. 185-187 (bzw. S. 97f.).<br />

481 „Gruppe“ meint die konstante Form; die Abweichung ergibt sich in der StrichlÇnge. So wird teils<br />

der folgende Kleinbuchstabe am unteren Bogen abgesetzt geschrieben; teils geht der untere Bogen so<br />

tief nach unten, daÉ der nÇchste Buchstabe an der Mitte der unteren StrichhÇlfte abgesetzt geschrieben<br />

wurde. Und durchgÇngig kommen keine SchnÄrkel vor.<br />

280


ung nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern selbst noch im Blick auf S 3 so vage ist, daÉ<br />

sogar die Differenz von S 2 und S 3 entfÇllt?<br />

Zu 3.: Differenzen zwischen der Schrift Stoeckerts und der Schrift in Nietzsches Album.<br />

Damit wechsele ich zum wissenschafts(methodo)logisch ohnedies Relevanteren: zu Gegenproben.<br />

Denn: Wenn die positive BeweisfÅhrung der Miszelle – als Verifikation inseriert!<br />

– bereits Differenzen obigen Kalibers ausklammert, dann ist fÅr UnerwÇhntes noch Brisanteres<br />

als ein Gegenprobeerfolg von immerhin 55,55% nicht vorweg auszuschlieÉen. Nun, Gegenproben<br />

potenzieren das Desaster dieser Verifikationsstrategie, denn ich fand in der Schrift<br />

der betreffenden Texte des Albums sowohl einige eher generelle (vgl. 3a.) als auch eine grÄ-<br />

Éere Zahl eher spezieller Unterschiede (vgl. 3b.) zur Schrift Stoeckerts.<br />

Zu 3a: Eher generelle Unterschiede sehe ich bspw. darin, daÉ (1) die Schrift der betreffenden<br />

Texte des Albums abstrakter, ruhiger und klarer wirkt als die Schrift der ersten 3 Seiten<br />

des Lebenslaufs Stoeckerts aus dem FrÅhjahr 1864, die dynamisch vorwÇrts drÇngt und<br />

durchgÇngig Åber viele SchnÄrkel an Stellen von Buchstaben verfÅgt, die nicht minder durchgÇngig<br />

in der Schrift des Albums an den betreffenden Stellen eingespart sind. Die Handschrift<br />

des Albums macht den Eindruck, abgeschliffen, schneller zu sein. Bei einem jahrzehntelangen<br />

Vielschreiber wie Ortlepp wÇre das nicht verwunderlich. Die Handschrift Stoeckerts hingegen<br />

wirkt als eher junge, unreife, jedoch energische Schrift; sie verrÇt aber wenig Zeitdruck, kann<br />

sich viele SchnÄrkel leisten. (2) Die Schrift im Album wirkt auch etwas steiler als die Schrift<br />

von Stoeckert; hingegen wirkt (3) diese unruhiger.<br />

Zu 3b: äber derlei Gesamtcharakterisierungen lÇÉt sich vielleicht noch streiten, doch beim<br />

Vergleich einzelner Buchstaben wird alles sehr konkret: daÉ es neben ãhnlichkeiten durchgÇngig<br />

auch erhebliche Unterschiede gibt wie bspw. bei der Schreibung der GroÉbuchstaben<br />

(1) L, (2) I, (3) J, (4) F, (5) A, (6) einiger GroÉbuchstaben U: im Album gibt es 3 Arten von<br />

U, in Stoeckerts Schrift nur eine, und den GroÉbuchstaben (7) P sowohl in lateinischer als<br />

auch (8) in deutscher Schrift, finde ich nicht berÅcksichtigt. Doch auch damit noch nicht genug,<br />

denn hinzu kommen charakteristische Unterschiede der Schreibweise mehrerer Kleinbuchstaben<br />

sowie als weitere EigentÅmlichkeiten<br />

(3c.) Arten der Verbindung einzelner Buchstaben zu Worten, von Worten zu SÇtzen.<br />

All dies hier im Detail nun auszufÅhren, ginge wohl zu weit. Auch HÄdl konzediert: „Es<br />

erÅbrigt sich, hier alle Buchstaben systematisch zu vergleichen“ (443, Anm. 27). Wenigstens<br />

bei seinen sechs Beispielen sowie bei allen GroÉbuchstaben hÇtte er es aber auch in BerÅcksichtigung<br />

der Differenzen tun mÅssen, denn meine obige Liste der Differenzen lÇÉt sich erweitern.<br />

Und es erÅbrigt sich noch weniger, die von HÄdl angefÅhrten 6 nicht unproblematischen<br />

Beispiele (443f.) fÅr die Annahme der IdentitÇt der Handschrift Stoeckerts mit derjenigen<br />

der strittigen Passagen des Albums und insbesondere mit der Handschrift Ortlepps zu<br />

vergleichen (vgl. oben II.A. Zu 2.).<br />

Um mich nicht dem Vorwurf auszusetzen, unbelegte Behauptungen aufzustellen, sei auch<br />

Åber dem Strich im Sinne einer Gegenprobe zu HÄdls Punkten 2.-6. zumindest angefÅgt:<br />

Zu Hádls Punkt 2, kleines dt. s (443): im Gegensatz zum Stoeckert-Text lassen sich in den<br />

Gedichttexten des Albums reichliche Variationen des kleinen s finden. Ich vermisse einen<br />

entsprechenden Hinweis. DafÅr findet sich konform mit HÄdls Beschreibung das kleine dt. s<br />

in den Zeilen 13 und 19 bereits auf der S. 1 von Ortlepps Aufsatz Welche Bedingungen mÄssen<br />

der Entwicklung einer nationalen, epischen Poesie bei einem Volke vorausgehen, und zu<br />

welchen Zeiten pflegt dieselbe einzutreten? von 1819 (Archiv der Landesschule Pforta).<br />

Zu Hádls Punkt 3, das groÉe M in lat. und dt. Schrift (ebenda): Nicht nur die Handschriften<br />

Ortlepps, des Albums, sondern auch andere Handschriften, die ich angesehen habe, fallen<br />

hÇufig unter diesen Punkt. Was soll daran nur spezifisch sein? Allerdings ist gerade bei Stoeckert<br />

(S. 3, letzte Zeile) ein deutsches M zu finden, wo der zweite Buckel eben nicht abfÇllt,<br />

sondern hÄher liegt als der erste! Das lat. M wie in der Valediktion und im Album findet sich<br />

281


auch bei Ortlepp in den Erinnerungen an Schulpforte bspw. bei „Manteufel (Archiv der Landesschule<br />

Pforta), doch auch das ist wenig spezifisch.<br />

Zu Hádls Punkt 4, das groÉe I in dt. Schrift (444): Lediglich zwei groÉe I auf den drei<br />

Textseiten von Stoeckert sind zu finden. Was ist mit „insbesondere“ gemeint? Doch wohl<br />

nicht die ganz andere Schreibweise als im Album? Eine äbereinstimmung bezieht sich nur<br />

auf den Strich, welcher den nÇchsten Kleinbuchstaben mit dem I verbindet. Ist dies aber spezifisch?<br />

Und ‘insbesondere’ stimmen nahezu alle Åbrigen Merkmale der I’s des Albums mit<br />

den Stoeckertschen I’s eben gerade nicht Åberein.<br />

Zu Hádls Punkt 5, die Schreibweise von st in deutscher Schrift (ebenda): auch nicht spezifisch<br />

genug. Man findet dieses st bspw. auch in dem seiner Valediktion beigefÅgten Lebenslauf<br />

von Nietzsches Klassenkameraden Heinrich Wendt (Archiv der Landesschule Pforta) und<br />

auch S. 1, Zeile 27. in Ortlepps Aufsatz Welche Bedingungen usw. von 1819 (ebenfalls Archiv<br />

Pforta).<br />

SchlieÉlich zu Hádls Punkt 6, das kleine k (ebenda): es gibt ãhnlichkeiten, doch sie sind<br />

weder spezifisch noch finden sie sich durchgÇngig (vgl. Album S. 2, II. Gedicht, Vers 10).<br />

usw.<br />

Zu 4.: Gibt es wenigstens eine weitere konsequenzenreiche Argumentations- oder AnalyselÄcke?<br />

AuÉer der bereits monierten ‘StrukturlÅcke’ – NichtberÅcksichtigung der Handschrift Ernst<br />

Ortlepps (vgl. oben II.A. Zu 2.) – Åberrascht ein zweites strukturelles Defizit Çhnlicher Dimension:<br />

das stillschweigende äbergehen des den Eintrag in Nietzsches Album erÄffnenden<br />

griechischen Prosatextes von Plato.<br />

Der Eintrag in Nietzsches Album beginnt als „Motto“ mit 4 1/6 Zeilen griechischen Textes<br />

ohne nÇhere Angabe, unterschrieben schlicht mit „Plato“. Es handelt sich um die Passage<br />

72AB des Dialogs Phaidon, also um des ‘Sokrates’ Versuch, den ersten Einwand des Kebes,<br />

daÉ mit dem Tod auch die Seele sterbe, zu widerlegen 482 . Vom Schwierigkeitsgrad der Argumentation<br />

her gesehen kÄnnte zumindest die erste HÇlfte des Dialogs durchaus im Griechischunterricht<br />

der Oberprima gelesen worden sein: Der dem Einladungsprogramm zu der<br />

jeweils um den 21. Mai stattfindenden Schul- bzw. Stiftungsfeier der KÄniglichen Landesschule<br />

Pforta beigefÅgte Jahresbericht informiert in „I. Lehrverfassung. A. Unterricht in Sprachen<br />

und Wissenschaften“ auch Åber Lehrer und LehrplÇne. Nun finden wir fÅr das WS<br />

482 Die aus ihrem Zusammenhang gerissene Platonpassage verweist auf eine alles Werden transzendierende<br />

kosmische Einheitsvision. In ihrer Funktion ist sie hier weniger eindeutig. Bedeutet auch sie –<br />

wie spÇter so vieles bei Nietzsche – nicht ganz genau das oder nur das, was sie auf den ersten Blick<br />

nahelegt? In BerÅcksichtigung des Epilogs, welchen der Autor des Eintrags als einen den Hintersinn<br />

seiner Motto-Wahl dechiffrierenden Kommentar offeriert, hat das Platonzitat mehrere Funktionen im<br />

Sinne unterschiedlicher, wenngleich keineswegs unabhÇngiger Dimensionen, die der sich im Mai/Juni<br />

1863 mit der äbersetzung zumal der ‘eindeutigsten’ erotischen Passagen frÅhgriechischer Lyriker (II<br />

204-11) liebevoll befassende Alumnus portensis 10.549 lÇngst zu entschlÅsseln weiÉ. Drei Komponenten<br />

heben sich wohl deutlich ab: die einer alles umfassenden Einheitsvision, vom PfÄrtner Nietzsche<br />

am auffÇlligsten zu Ende seines Fatum-und-Geschichte-Vortrags (Osterferien 1862) skizziert; die<br />

des Spielcharakters auf der LebensbÅhne einsichtige (dionysisch-tragische) Bejahung des Lebens(schicksals)<br />

in allen seinen Aspekten (Nietzsches spÇterer „amor fati“); schlieÉlich auch eine eher<br />

spezifische Art ewiger Wiederkehr nÇmlicher Strukturen und Ereignisse im Sinne eines letzt(lich)en<br />

Sich-Treffens selbst des Gegenstrebigen und sich Fliehenden (à la Heraklit), so daÉ das „uns gesehen“<br />

und „uns lieben gelernt“ Åber alle zeitliche Entfernung siegen wird: eine Elemente der platonischen<br />

Aristophanesrede rezipierende trÄstende Hoffnung vieler Gescheiterter, die „nimmer verstehen“ wollen?<br />

„Das Alles“: ‘Ortlepps’ BeziehungstragÄdie mit Fritz – „Du Vielgelebter“! –, seine gescheiterte<br />

Existenz als Poet, seine hilf- und hoffnungslose Flucht vor der ErbÇrmlichkeit der Zeit in die Welt des<br />

Branntweins und das hinter allem dennoch lauernde Wissen als Folge nicht nur eines Blicks in den<br />

Abgrund gesammelter KulturlÅgen?<br />

282


1857/58 und fÅr das SS 1858 – Nietzsche wurde erst am 5.10.1858 A.p. – tatsÇchlich „Plato’s<br />

PhÇdon“, Lehrer „Prof. Dr. Steinhart“; nach einer langen Pause finden wir „Plat. Phaed.“<br />

erstmals wieder im Jahresbericht fÅr das SS 1864, Lehrer wieder Prof. Dr. Steinhart. Hatte<br />

Steinhart mit der LektÅre dieses Textes solange gewartet 483 , bis Nietzsche und Paul Deussen<br />

Oberprimaner der ersten Ordnung waren?<br />

Um nicht zu ausfÅhrlich zu werden: Der unter 4. skizzierte Sachverhalt wirft fÅr HÄdls<br />

BeweisfÅhrung zugunsten seiner Stoeckerthese zumindest folgende Fragen auf: (1.) Warum<br />

wurde kein Schriftvergleich der griechischen Schrift Stoeckerts sowie des Eintrags vorgenommen?<br />

(2.) Was bedeutet das Motto inhaltlich im Blick auf die Datierung der Sammlung?<br />

Sollte mit dem Eintrag bereits 1858 oder wenige Jahre spÇter (genauer: bis 1862 einschlieÉlich)<br />

begonnen worden sein, so kann schon wegen des Charakters dieses Mottos kein Klassenkamerad<br />

Nietzsches einschlieÉlich Georg Stoeckerts Autor dieser Sammlung sein. Damit<br />

verwiese die Sammlung auf eine Çltere und entsprechend vorgebildete Person (wie bspw.<br />

Ernst Ortlepp). Sollte die Sammlung jedoch erst im ersten Halbjahr 1863 eingetragen worden<br />

sein, so ist zu berÅcksichtigen, daÉ sogar ein 484 Friedrich Nietzsche fÅr die Zeit „nach den<br />

Hundstagsferien“ lediglich plante, die drei frÅhen platonischen ‘Dialoge’ Apologie, Kriton<br />

und Euthyphron zu lesen 485 . Der ausgezeichnete Graezist und nach Meinung seines frÅheren<br />

Latein- und nunmehrigen Griechischlehrers Steinhart ein Jahr spÇter in Platons Philosophie<br />

bereits ziemlich eingeweihte Nietzsche war also noch im Sommer 1863 bzw. als Unterprimaner<br />

der I. Ordnung nicht einmal bei der LektÅre dieser im Vergleich mit dem Phaidon und<br />

dem Symposion doch recht einfachen frÅhen Platontexte angekommen. Hingegen Stoeckert?<br />

Im Griechischunterricht kann er Platon nicht kennengelernt haben, denn Platon wurde wÇhrend<br />

seiner Primanerjahre nicht gelesen. Sieht man sich im JB 1864 die Rangliste der Abiturienten<br />

des FrÅhjahrs 1864 an, so findet man Georg Stoeckert nicht einmal unter ihnen, sondern<br />

„Hermann Stoeckert“, Georg Stoeckert also unter seinem zweiten Vornamen als Ultimus<br />

auf dem letzten Platz der 14 Abiturienten. Ein guter GrÇzist kann 486 dieser Georg Stoeckert,<br />

der ja auch keine ein altertumswissenschaftliches Thema abhandelnde Valediktion eingereicht<br />

hat, nicht gewesen sein, denn sonst wÇre dieser Rangplatz undenkbar. (3.) Was bedeutet<br />

schlieÉlich das die Sammlung erÄffnende Motto in temporÇrer Perspektive fÅr die Datierung<br />

der Sammlung und die Person ihres Autors? Stoeckert verlieÉ die Pforte am 2. 3. 1864 deutlich<br />

vor Beginn der Osterferien, die nicht vor dem 5.4. begannen. Das SS 1864 begann nach<br />

den Osterferien. Stoeckert mÅÉte also den Phaidon in Eigeninitiative spÇtestens in den ersten<br />

Wochen seiner Oberprimanerzeit der II. Ordnung gelesen haben, um diesen Eintrag in Nietzsches<br />

Album wenigstens einige Wochen vor dem 21. Juni 1863[ 487 ] vornehmen zu kÄnnen.<br />

483 Wer diese Frage fÅr abwegig hÇlt, vgl. das Empfehlungsschreiben Steinharts vom 7. 9. 1864 fÅr<br />

Deussen und Nietzsche an den Platonspezialisten und ehem. Portenser Karl Schaarschmidt in Bonn (B<br />

I 409 bzw. NaJ II, S. 668ff.).<br />

484 Ich spiele damit nochmals auf das Empfehlungsschreiben Steinharts vom 7.9.1864 an, in welchem<br />

Nietzsche als „eine tiefe, sinnige Natur, schwÇrmerisch der Philosophie, namentlich der platonischen,<br />

zugetan, in die er schon ziemlich eingeweiht ist. Er schwankt noch zwischen Theologie und Philologie,<br />

doch wird die letztere wohl siegen, besonders aber wird er unter Ihrer Leitung sich freudig der<br />

Philosophie zuwenden, zu der ihn doch sein innerster Trieb hinfÅhrt.“ (B I 409.)<br />

485 Vgl. II 223 bzw. NaJ II, S. 362.<br />

486 Wenn Nietzsche, der wegen seiner [erst!!] in der Oberprima abgefallenen Mathematikleistungen<br />

fast durch das Abitur gefallen wÇre (vgl. NaJ II, 651-54), dank seiner Bestnoten in Latein, Deutsch<br />

und Religion sowie seiner Symposion-Interpretation in Griechisch dennoch den Platz 4 unter den 9<br />

Abiturienten – Raimund Granier war Ultimus – zu erreichen vermochte, ist deutlich, daÉ hocheingeschÇtztes<br />

altsprachliches Niveau eine Ultimusposition allemal zu verhindern vermochte.<br />

487 [Diese Argumentation basiert auf einem Denkfehler des damaligen Vf.s, dem es offenbar noch<br />

nicht hinreichend gelungen war, sich in die ‘abweichende Argumentationstechnik’ dieses Miszellanten<br />

vÄllig einzudenken. Wenn die Sammlung in einem Zuge eingetragen und in ihr auf ein Ereignis hingewiesen<br />

ist, das auf den 21.6.1863 zu datieren ist, muÖ bereits das auf diesen Eintrag anspielende<br />

283


Schon das ist sehr unwahrscheinlich; die Unwahrscheinlichkeit steigt bis nahezu 100 % umsomehr<br />

an, je frÅher wir den Termin des ersten Eintrags in Nietzsches Album ansetzen.<br />

Um abzubrechen: FÅr meine Metakritik ist neben den in II.A. skizzierten methodologischen<br />

EinwÇnden von zentraler Bedeutung, daÉ diese zahlreichen fÅr jedwede Verifikationsstrategie<br />

(im Sinne K.R. Poppers 488 ) ‘tÄdlichen’ Unterschiede zwischen der Schrift der EintrÇge<br />

in Nietzsches Album und derjenigen Stoeckerts ebensowenig berÅcksichtigt worden sein<br />

kÄnnen wie die nun unter „Zu 4.“ skizzierte Problemkonstellation, da ich Hans Gerald HÄdl<br />

ausdrÅcklich nicht unterstelle, er hÇtte seine Argumentation in entscheidenden Punkten ‘getÅrkt’.<br />

[Aus grÄÉerer zeitlicher Distanz bin ich mir dessen leider nicht mehr ganz so sicher,<br />

denn das Ensemble aufgewiesener Argumentations- sowie RechercheeigentÅmlichkeiten ist<br />

insgesamt hochirritierend. Es sei denn:] So wirkt die vorgelegte BeweisfÅhrung auf mich, als<br />

ob er, fasziniert von seiner Stoeckertthese, dieser gegenÅber unkritisch geblieben wÇre, sie<br />

also nicht seinerseits bereits einem Falsifikationsversuch aussetzte, bevor er sie als Ergebnis<br />

seiner Untersuchung in einem so zentralen Organ wie den Nietzsche-Studien an die fachwissenschaftliche<br />

çffentlichkeit brachte. HÇtte nicht bereits ein einziger in den untersuchten<br />

Handschriften Stoeckerts auf die gleiche Weise oder sehr Çhnlich geschriebener GroÉbuchstabe<br />

bspw., wenn er in dem betreffenden Eintrag in Nietzsches Album konstant oder zumindest<br />

deutlich abweichend geschrieben worden wÇre, den Anspruch, eine Verifikation der Stoeckertthese<br />

geleistet zu haben, suspendiert? Nun lÇÉt sich aber (s.o.) eine ganze Reihe nahezu<br />

durchgÜngiger Abweichungen aufweisen, und auf Abweichungen kommt es im Konfliktfalle<br />

mehr an als auf äbereinstimmungen des Schriftbildes verschiedener Autographen ggf. unterschiedlicher<br />

Schreiber, weil äbereinstimmungen in nicht geringem AusmaÉ Folge normalen<br />

Schriftverhaltens, standardisierter und lebenslang prÇgender SchÄnschreibeanforderungen 489 ,<br />

selbst noch in Pforte darstellen kÄnnten. Abweichungen hingegen sind individuell; erweisen<br />

sie sich in einem lÇngeren Text als hÇufig, ja konstant, und entspricht ihnen im Vergleichstext<br />

selbst im Ansatz nichts, so stellt vor allem eine AnhÇufung konstanter oder nahezu konstanter<br />

Abweichungen ein so schwerwiegendes Argument gegen die Annahme einer IdentitÇt des<br />

Schreibers zweier so unterschiedlicher Schriftbilder des nÇmlichen Zeitraums dar, daÉ der<br />

Verfechter einer dennoch aufrecht erhaltenen IdentitÇtsthese – in diesem Falle also der Stoeckertthese<br />

– die Beweislast hat und gefordert ist, eine Serie zusÇtzlicher wohlbelegter oder<br />

zumindest hochplausibler Argumente einzufÅhren, wenn sein Verifikationsversuch der von<br />

ihm selbst eingefÅhrten Stoeckertthese nicht als desastrÄs gescheitert anzusehen ist. Unter den<br />

diskutierten Voraussetzungen und Sachverhalten kommt man wohl nicht umhin, vom mehrfachen<br />

Scheitern der Stoeckertthese auszugehen.<br />

Damit aber kollabiert als direkte Folge des Scheiterns der Verifikation der Stoeckertthese<br />

auch HÄdls die Verifikation der Stoeckertthese voraussetzender Falsifikationsversuch meiner<br />

Ortlepphypothese. Dennoch bliebe noch manch’ forschungsstimulierender Ausweg offen:<br />

KÄnnte HÄdl bspw. nachweisen, Stoeckert habe Veranlassung gehabt, seine Handschrift zu<br />

Gedicht deutlich jÅnger sein. AuÉerdem folgen noch andere Gedichte. So wÇre es ungemein hilfreich,<br />

wenn geklÇrt werden kÄnnte, wann der letzte der betreffenden EintrÇge erfolgte. Kaum auszudenken,<br />

es wÇre erst am Vortag von Ortlepps rÇtselhaftem Tod am 14.6.1864 gewesen, da ein direkter Kontakt<br />

mit Nietzsche von Nietzsche selbst belegt ist.]<br />

488 Sir Karl Raimund Popper: Logik der Forschung (1934). TÅbingen, 3 1969, S. 47ff.<br />

489 Bei der Beurteilung Çlterer Handschriften ist auch zu berÅcksichtigen, daÉ in Schulen Åber viele<br />

Jahre hin noch bis tief in unser [letztes!] Jahrhundert und z.T. unter erheblicher Gewaltanwendung das<br />

SchÄnschreiben (sei es in deutscher Normalschrift oder auch in der lateinischen Schrift) noch mehr als<br />

selbst die Rechtschreibung gebimst wurde. Im handschriftlichen NachlaÉ Nietzsches (GSA Weimar)<br />

sind zahlreiche BlÇtter mit SchreibÅbungen des Naumburger SchÅlers Nietzsche erhalten geblieben<br />

(wie bspw. eine kalligraphisch beeindruckende Seite Zeile fÅr Zeile ausschlieÉlich gefÅllt mit „Dankbarkeit,<br />

Dorfpfarrer“)!<br />

284


verstellen, als er in Nietzsches Album die entsprechenden Passagen eintrug und im Gegensatz<br />

zu den Åbrigen sich Eintragenden auch nicht mit seinem Namen unterzeichnete, dann kÄnnte<br />

er seine Stoeckertthese vielleicht retten, wenn er beim Vergleich der fÅr Stoeckert zweifelsfrei<br />

belegten Schrift und der Schrift Ortlepps nachweisen wÅrde, daÉ Stoeckerts Schrift der Schrift<br />

des Eintrags vielfach nÇher ist als die Schrift Ortlepps. Doch auch fÅr diese These hÇtte HÄdl<br />

die Beweislast.<br />

Um nicht miÉverstanden zu werden: Das bisher AusgefÅhrte belegt keineswegs, daÉ nun<br />

via negationis meine doppelte Ortlepphypothese – Ortlepp als Schreiber und auch als Autor –<br />

bewiesen wÇre: Sie ist es ja schon deshalb nicht, weil wir im Falle Ortlepps m.W. noch Åber<br />

keine Handschrift bspw. des Zeitraums 1862-64 verfÅgen; und verfÅgten wir Åber sie, dann<br />

wÇre es wichtig, den Zeitpunkt und die nÇheren UmstÇnde zu kennen, zu dem bzw. unter denen<br />

die betreffende Niederschrift erfolgte. Gerade bei Ortlepp kÄnnten sie sehr belastet gewesen<br />

sein.<br />

So erscheint die Ortlepphypothese gegenwÇrtig lediglich deshalb als plausibler und argumentativ<br />

besser gestÅtzt, weil sie schon 1994 im Rahmen meiner umfangreichen Monographie<br />

Åber Nietzsches PfÄrtner Jugendjahre in einen differenzierten Kontext integriert wurde;<br />

und weil die Verifikation der ersten zu ihr als Alternative offerierten These vorerst scheiterte.<br />

„vorerst scheiterte“, weil HÄdls SchluÉsatz des vorletzten Absatzes (445) nicht unplausibel<br />

ist. Doch auch hier bedÅrfte es einer nÇheren Argumentation. So hat sich die Ortlepphypothese<br />

in meinen Augen also lediglich „vorlÇufig bewÇhrt“.<br />

II. C. Argumentative Nebenlinien der Miszelle<br />

HÇtte ich meine Metakritik mit II.B. abgeschlossen, wÇre HÄdls Miszelle nur partiell berÅcksichtigt,<br />

da ich ja lediglich der zentralen Argumentationslinie gefolgt bin, die jedoch in dem<br />

kompakten, faktengesÇttigten und wohlformulierten Text selbst nicht immer an der OberflÇche<br />

liegt: Allzuviel wÅrde ich so Åbergehen, was ich fÅr richtig halte – nicht zuletzt deshalb,<br />

weil ich es seit Jahren vertrete –, das in einer Replik freilich nicht eigens hervorzuheben ist,<br />

aber auch manches, was noch einer dringlichen Richtigstellung bedarf.<br />

Korrektur 1: NachdrÅcklich verwahre ich mich gegen die Unterstellung, ich hÇtte darauf<br />

verzichtet, anzugeben, auf welche Autographen Ortlepps sich mein Urteil bezieht. Nun hatte<br />

ich (im Gegensatz zu HÄdl) auf die Darstellung autographenphilologischer Fragen weitestgehend<br />

verzichtet, sie auf sein Ersuchen hier aber nachgeholt: Nietzsche absconditus ist kein<br />

Handbuch fÅr Archivare oder Schriftkundler, denn wann fÅhren Analysen von Handschriften<br />

zu Ergebnissen, die auch von konkurrierenden Interpreten(schulen) gleichermaÉen akzeptiert<br />

werden? Werden nicht allzuleicht NebenkriegsschauplÇtze erÄffnet, wenn man so gerne widersprechen<br />

mÄchte, in der Sache selbst argumentativ aber nicht allzuviel beizusteuern weiÉ?<br />

So billige ich auch Ergebnissen unbefangener Handschriftenanalyse schon deshalb allenfalls<br />

eine zweitrangige Bedeutung zu, weil Schreiber und Autor ja nicht identisch sein mÅssen.<br />

Zentraler erscheinen mir da schon inhaltliche Argumente, deren Nachteil selbst (oder gerade)<br />

dann, wenn sie hochkarÇtig sind, leider darin besteht, daÉ auch der Kritiker wohlinformiert<br />

sein mÅÉte, nicht lediglich sein Steckenpferd reitet oder parteiisch ist. Dennoch hatte ich keineswegs<br />

unterlassen, eine Ortlepphandschrift anzufÅhren. Ist in NaJ II, 731, denn nicht zu<br />

lesen:<br />

„am Ende freilich hat Ortlepp wieder einmal ‘ErfÅllung nicht’ gefunden. So wenig offenbar<br />

in all den Jahrzehnten seit Beendigung der eigenen PfÄrtner Alumnenzeit, daÉ die eigentÅmliche<br />

Schreibweise des Wortes ‘ErfÅllung’ in einem PfÄrtner Aufsatz 61 Ortlepps der<br />

Gestalt dieses Worts in Nietzsches Album in [heute wÅrde ich ergÇnzen: nahezu] jedem<br />

wahrnehmbaren Detail gleicht...“?<br />

285


Und ist in der dazugehÄrigen Anm. 61:<br />

„Welche Bedingungen mÅssen der Entwicklung einer nationalen, epischen Poesie bei einem<br />

Volke vorausgehen, und zu welchen Zeiten pflegt dieselbe einzutreten? Das Wort ‘ErfÅllung’<br />

auf Seite 1, Absatz 1, Zeile 13; das Original befindet sich im Archiv der Landesschule<br />

Pforta.“<br />

nicht auch die Fundstelle benannt? HÇtte HÄdl die von mir vielfach erwÇhnte, mehrfach zitierte<br />

und als bekannt vorausgesetzte Ortleppbiographie von F. Walther Ilges auch nur durchgeblÇttert,<br />

so hÇtte er zwei weitere Schriftproben Ortlepps finden kÄnnen: einen Brief an den<br />

Verleger Wigand in Leipzig aus dem Jahre 1833 (190) und ein leider undatiertes nicht minder<br />

kalligraphisch imponierendes Fragment eines Gelegenheitsgedichts an FrÇulein Christiane<br />

Schenk (191).<br />

Lediglich im Sinne einer Gegenprobe hierzu erinnere ich an die Textbasis unseres auf Korrektheit<br />

insistierenden Kritikers. Drei Seiten [kopierte!] deutscher Schrift, dazu noch 27 Zeilen<br />

lateinischer Schrift Stoeckerts! Nicht einmal fÅr die 9 Seiten des kompletten Lebenslaufs<br />

seines GewÇhrsmanns hat sich der Autor der Miszelle interessiert? Doch noch besser: Da sitzt<br />

Hans Gerald HÄdl im Lesesaal des GSA Weimar, analysiert die IntensitÇt der Tintenverteilung<br />

des betreffenden Eintrags in Nietzsches Album 490 – und wenige Meter entfernt von ihm<br />

steht im wohlzugÇnglichen Regal in der langen Findbuchreihe ein Findbuch, aus welchem zu<br />

entnehmen ist, daÉ das GSA Weimar auch Åber ein Autograph von Ernst Ortlepp verfÅgt. Ja,<br />

wenn man sich seiner Sache auch dann so sicher ist, wenn man Åber Skepsis bei Nietzsche<br />

durchaus zu referieren vermag...<br />

Korrektur 2: Diskret moniert HÄdl, ich hÇtte „besser daran getan, etwas aufmerksamer die<br />

von“ mir „gemachte Beobachtung, daÉ die Autoren der anderen Eintragungen“ zumeist Klassenkameraden<br />

Nietzsches gewesen seien, „ins KalkÅl einzubeziehen“ (441). Woher weiÉ<br />

HÄdl denn, daÉ ich das [im Gegensatz wieder einmal zu ihm selbst] nicht getan und daÉ ich in<br />

Schulpforta nicht bspw. auch Valediktionsarbeiten durchgesehen habe? Dominierend aber<br />

blieb fÅr mich der Eindruck der abgeschliffenen Schrift, der schon zu einem frÅhen Zeitpunkt<br />

entdeckten weitreichenden ãhnlichkeit der Schrift des Albums mit derjenigen Ortlepps und<br />

vor allem ein Ensemble inhaltlicher GrÅnde; doch fÅr diese scheint sich HÄdl ebensowenig<br />

wie fÅr die Schrift Ortlepps zu interessieren, mÅÉte er sich dann doch ins [sehr arbeitsintensive]<br />

Ortleppproblemterrain begeben. So nutzt er den argumentativen Vorteil, daÉ auÉer den<br />

Lesern von Nietzsche absconditus (NaJ II, 685-98) wohl niemand die fraglichen Texte aus<br />

Nietzsches Album und kaum jemand Ortlepp oder meine Interpretation einiger Texte Nietzsches,<br />

die auf Ortlepp verweisen dÅrften, kennt. Wie soll dann der Sinn meiner nicht auf Formalia<br />

abhebenden Interpretation fÅr den Leser der Miszelle erschlieÉbar sein? Doch weshalb<br />

soll ich verheimlichen, daÉ ich auÉer Valediktionen noch andere Handschriften nachprÅfte, da<br />

ich davon ausging, es mÅsse sich bei diesem Text um den Eintrag einer Çlteren und altphilologisch<br />

so gebildeten Person handeln, daÉ sie eine Passage aus Platons Phaidon auswendig<br />

annÇhernd korrekt zu zitieren weiÉ. Doch die Handschrift meiner Kandidaten wich allzusehr<br />

ab; auÉer der von Ortlepp, dessen etwa vier Jahrzehnte zurÅckliegende Handschrift der Selecta<br />

erhebliche äbereinstimmungen mit der Schrift des betreffenden Eintrags bei nicht unerheblichen<br />

Differenzen aufweist.<br />

Doch nehmen wir HÄdls Vorschlag ernst: das „Album“ bzw. „Stammbuch“, aus dem einige<br />

Seiten entfernt 491 worden sein dÅrften, enthÇlt auÉer den hier strittigen 6 Seiten noch Ein-<br />

490 Fehlt nur noch, daÉ sich herausstellt, der Skribent der Texte in Nietzsches Album habe seine Feder<br />

bevorzugt dann ins TintenfaÉ getunkt, wenn er mit einem weiteren Eintrag begann. (Die GedichtanfÇnge<br />

mÅÉten dann ‘bevorzugt’ sein.)<br />

491 AnsÇtze eines farblich abweichenden Trennblattes finden sich bei insgesamt 170 Seiten nach den<br />

Seiten 18, 38, 58, 78, 94, 114, 124, 134, 154; so dÅrften wohl 8 Doppelseiten entfernt worden sein.<br />

286


trÇge von Guido Meyer (3.3.1863), Carl von Gersdorff (5.9.1864), Raimund Granier (undatiert),<br />

Max Sohr (6.2.1864), „Freund Geest“ (undatiert), Alexis Braune (10.9.1861) und Viktor<br />

Kuttig (6.9.1864). Grainers Eintrag dÅrfte 1862/63 erfolgt sein, denn spÇter war das VerhÇltnis<br />

Nietzsches mit dem Abiturskameraden angeknackst 492 ; Richard Geest verlieÉ Pforte bereits<br />

am 29.3.1862 493 . So liegt der zeitliche Schwerpunkt der EintrÇge 1862-1864; und vor<br />

allem ein auf 1858 datierter Text fiele aus dem Rahmen. (Dazu weiter unten.)<br />

BerÅcksichtigen wir, daÉ aus Nietzsches Skeptikerclique der Jahre 1862/63 Guido Meyer<br />

mit einem sehr blassen Text, Raimund Granier hingegen mit fÅnf Liebesgedichten, die an<br />

Nietzsche gerichtet sein und eine Beziehungsentwicklung spiegeln kÄnnten 494 , enthalten ist,<br />

so ist die Annahme HÄdls plausibel, auch Stoeckert mÅÉte in Nietzsches Album vertreten<br />

sein. Doch wieder vermisse ich eine Gegenprobe, denn im Album fehlen einige Personen, mit<br />

deren Eintrag ebenfalls zu rechnen wÇre. Wo bleibt Nietzsches erster Tutor Oskar KrÇmer, der<br />

auch noch nach seinem Abitur in Pforte und sogar bei Nietzsches Mutter im Weingarten auftauchte?<br />

Wo bleiben vor allem Rudolf Buddensieg, Richard Bodenstein, Siegfried Bormann<br />

und selbst noch Paul Deussen? Nach welchen Kriterien hat Nietzsche eintragen lassen? Wir<br />

wissen es noch nicht genau genug. Fazit: FÇnden wir einen Eintrag Stoeckerts, so wÅrden wir<br />

uns darÅber nicht wundern; doch ein Eintrag in der von HÄdl herangezogenen Stoeckertschrift<br />

der ersten Seiten des Lebenslaufs der Valediktion fehlt leider ebenso wie ein Eintrag Rudolf<br />

Buddensiegs oder Paul Deussens [, mit dem Nietzsche 1863/64 wohl den intensivsten Kontakt<br />

hatte]. Wir kÄnnen vorerst nur registrieren, daÉ wir nicht zu entscheiden vermÄgen, ob weitere<br />

EintrÇge erfolgten und von wem auch immer beseitigt wurden oder nicht.<br />

Korrektur 3: Nun zum Albumeintrag „1858“. Wie geht HÄdl mit diesem falsifikatorisch<br />

vielleicht nicht irrelevanten Faktum um? Er argumentiert 1., dieser Text wÇre nachtrÇglich<br />

eingetragen worden. Das ist nicht auszuschlieÉen. Nun hat der Eintrag, den HÄdl als Eintrag<br />

Stoeckerts wertet, im Blick auf die Stoeckertthese jedoch ein weiteres winziges HÇkchen, fÇllt<br />

also nicht nur zeitlich aus dem ansonsten durch Datierungen belegten Rahmen. 2. erscheint<br />

zumindest als erklÇrenswert, wenn (mit vielleicht ortleppnah verstellter Handschrift) Georg<br />

Stoeckert, geb. am 23. 5. 1843 495 , lt. HÄdl als eigenes Erleben des Jahres 1858 im Austausch<br />

von Erfahrungen mit Nietzsche die Reihe Gedichte erÄffnet mit:<br />

I.<br />

1.) 2.)<br />

Ein altes Lied von tiefem Leid Mein armes Herz, es brach entzwei;<br />

Von neuem hat geklungen; Entzwei so recht mitinnen.<br />

Und wie ein Herz, dem Treu man brach, Du MÇdchen, Du bist schuld daran<br />

Du armes Herz! zersprungen. Und Dein treulos Beginnen!<br />

Und immer noch, fast jeden Tag Ach niemand da mehr helfen kann –<br />

Mag Liebe Herzen brechen, Nun ich nicht Dich mehr habe,<br />

Drum kann ich auch von sprechen. So geh ich bald zu Grabe<br />

1858.<br />

[Der etwa fÅnfzehnjÇhrige Stoeckert soll dieses Gedicht geschrieben haben?] Erschwerend<br />

kommt 3. hinzu, daÉ im Gegensatz zu Georg Stoeckert, der erst Ende April 1859 nach Pfor-<br />

492<br />

Vgl. Nietzsches Brief an Raimund Granier aus der ersten SeptemberhÇlfte 1865 (B II 6 bzw. I 2,<br />

82f.).<br />

493<br />

Vgl. Pfártner Stammbuch 1543-1893, hgg. v. Max Hoffmann, Berlin, 1893, S. 443.<br />

494<br />

Abgedruckt und diskutiert in NaJ II, S. 144-167. Raimund Granier ist Åbrigens der Adressat der<br />

berÅchtigten „Euphorion“-Novelle Nietzsches aus dem Sommer 1862, eines aufschluÉreichen Briefes<br />

und zweier nicht minder aufschluÉreicher Gedichte...<br />

495<br />

Vgl. Pfártner Stammbuch 1543-1893, S. 444.<br />

287


te 496 kam, Ernst Ortlepp sich seit Herbst 1853 hÇufiger im Naumburger Raum aufhielt und auf<br />

PfÄrtner Bergfesten, die Fritz Nietzsche mit Freund Gustav Krug schon 1855 497 – 3 Jahre vor<br />

seinem Eintritt in Pforte! – besuchte, auf einem Stuhl stehend eigene Gedichte deklamierte.<br />

So war und blieb Ernst Ortlepp der einzige renommierte Dichter, den das Kind Nietzsche, das<br />

sich in seiner Autobiographie des Sommers 1858 ja deutlich genug nicht als kleiner Pastor,<br />

496 HÄdl widmet der fÅr seinen Ansatz nicht unwichtigen Frage, wann Stoeckert nach Pforta kam, seine<br />

Anm. 20 (S. 442), entdeckt Differenzen zwischen den Angaben der Schulnachrichten 1859 (Bekanntmachungen<br />

Ostern 1858 bis Ostern 1859 betreffend) sowie dem PfÄrtner Nachruf auf Stoeckert<br />

und entscheidet sich statt fÅr die Angabe des Nachrufs, Stoeckert sei „Ostern 1859“ aufgenommen<br />

worden, fÅr seine fehlerhafte Interpretation – so macht das „1858“ unter dem ersten Gedicht der strittigen<br />

Sammlung weniger Interpretationsprobleme –: „Ostern (oder Michaelis) 1958 in Schulpforta in<br />

die Obertertia aufgenommen“ (S. 442)! „Obertertia“ stimmt wenigstens halb, denn es kommt auch auf<br />

das Semester an, doch der Aufnahmetermin war Ostern 1859. HÇtte HÄdl, um die vermeintliche Differenz<br />

zu klÇren, nachgeprÅft, welchen Semesterrang bspw. Nietzsche in den Schulnachrichten jeweils<br />

einnahm, hÇtte er das Anordnungsprinzip des Verzeichnisses der Alumnen und Extraneer der PfÄrtner<br />

Schulnachrichten vielleicht erkannt. Deshalb genauer: Die Semesterlisten der PfÄrtner Schulnachrichten<br />

geben eine zweifache Information: Sie bieten (a) die Namensliste der Teilnehmer des jeweils nach<br />

Ostern beginnenden Sommersemesters in (b) der Rangfolge des abgeschlossenen Wintersemesters. So<br />

findet man die Namen derjenigen SchÅler, die Ostern ihr Semesterziel zwar nicht erreichten, jedoch an<br />

der Schule verbleiben konnten, ebenso bereits in der Rangliste ihres neuen Sommersemesterverbands,<br />

in den sie zurÅckgestuft wurden, wie man auch die Namen derer in diesen Ranglisten findet, die nach<br />

NichtbewÇltigung der SommersemesterabschluÉprÅfung des Vorjahres dann bereits zu Michaelis ein<br />

Semester zurÅckgestuft worden waren. Deshalb wird Nietzsche, der Herbst 1858 in der untersten bzw.<br />

II. Ordnung der Untertertia eingeschult (und seinen Naumburger Freunden gegenÅber ein Semester<br />

zurÅckgesetzt) wurde, in den von HÄdl erwÇhnten Schulnachrichten bereits als Nr. 3 der I. Ordnung<br />

der Unter-Tertia gefÅhrt (XV; und eben nicht mehr der zweiten). Unter „IV. Die ZÄglinge der Anstalt“<br />

findet man dann in drei Rubriken jeweils eine „Uebersicht Åber die Frequenz der Anstalt“, die Liste<br />

der Michaelis des Vorjahres und an Ostern mit dem Zeugnis der Reife zur UniversitÇt Abgegangenen<br />

und schlieÉlich: „AuÉerdem sind abgegangen“ diejenigen, die ihre SemesterverbÇnde und die Pforte<br />

zu Semesterende verlieÉen. Zuletzt dann das ArmesÅndergrÅpplein derjenigen, „deren Abgang von<br />

dem Lehrercollegium durch einen desshalb an ihre VÇter oder deren Stellvertreter ertheilten Rath veranlaÉt<br />

worden ist.“ (XII/XIII).<br />

SchlieÉlich: In seinem der Valediktionsarbeit vorangestellten Lebenslauf (Mein Leben) klÇrt Stoeckert<br />

selbst das Problem: „kaum war ich Ostern 1859 nach Pforte gekommen“ (S. 9 bzw. 13 des Gesamtskripts).<br />

Auch das Pfártner Stammbuch, 1893, 444, informiert korrekt.<br />

Wie rigoros das manchenorts gepriesene PfÄrtner Rangsystem war, ist daran zu ermessen, daÉ dieses<br />

Verzeichnis der Alumnen, beginnend mit den Alumnen der I. Ordnung der Oberprima, auch die<br />

AlumnatsrangplÇtze 1 bis in der Regel 180 so belegt, daÉ die Primaner der I. Ordnung die PlÇtze 1 bis<br />

bspw. 13, die Primaner der zweiten Ordnung dann bspw. die PlÇtze 14-28, usw. besetzten, wobei diese<br />

Ordnung auf die Sitzordnung bei Tisch so Åbertragen wurde, daÉ den ranghÄchsten Platz der 15 wiederum<br />

in der Rangordnung 1-15 stehenden Tischgruppen jeweils ein Oberprimaner der I. Ordnung<br />

einnahm, den zweithÄchsten Rangplatz (16-30) dann die restlichen weniger ranghohen Oberprimaner<br />

der I. Ordnung, gefolgt von den ranghÄchsten Oberprimanern der II. Ordnung usw. usw., so daÉ dann<br />

Åber die Sekundaner der I. und II. Ordnung bis hinunter zum Ultimus, dem rangniedersten Untertertianer<br />

der II. Ordnung das System ‘stimmte’; und, vermutlich auch im Betsaal, vor dem man sich in den<br />

entsprechenden Ranggruppen (ebenso wie vor dem Speisesaal) zum ZÇhlappell aufzustellen hatte,<br />

wieder bankweise angewandt, mehrfach an jedem Tag jedem Alumnen demonstriert wurde, wo er<br />

‘stand’, wer er ‘war’... So konnte jeder Alumne den aktuellen Rang jedes einzelnen erkennen; ‘aktuell’<br />

deshalb, weil Alumnen auch wÇhrend des Semesters selbst nicht nur wegen absinkender Schulleistungen,<br />

sondern auch in Folge rein internatsbezogenen Fehlverhaltens um einige RangplÇtze nach unten<br />

versetzt werden konnten. Das betraf ja auch Nietzsche, der Anfang 1863 als Primus fÄrmlich abgesetzt<br />

wurde (vgl. zu alledem NaJ I, Teil II: Pforta, S. 131-262, und NaJ II: der ‘Novemberskandal’ und<br />

seine Folgen, S. 295-303, sowie: ein ‘BierexzeÉ’ und seine poetophilosophischen Folgen, S. 329-348).<br />

497 B I 4, 38.<br />

288


sondern als Dichter und Musiker 498 vorstellte, persÄnlich anstaunen konnte: einen Dichter, der<br />

1856 in Naumburg seine letzte umfangreiche Gedichtsammlung KlÜnge aus dem Saalthal 499<br />

vorlegte, die er nicht nur auf PfÄrtner Bergfesten verkaufte, dessen Riesengedichte zu kirchlichen<br />

und staatlichen Feiertagen das Naumburger Kreisblatt erÄffneten, das auch von Tante<br />

Rosalie und Nietzsches Mutter gelesen worden sein dÅrfte, denn der Sohn des Probsts aus<br />

dem nahen SchkÄlen dÅrfte in der Nietzschesippe kein Unbekannter 500 gewesen sein. Nun ist<br />

von Ortlepp auÉerdem Åberliefert, daÉ er sich bemÅhte, mit Naumburger Kindern in nÇheren<br />

Kontakt zu kommen; ihnen am liebsten sein Geld 501 schenkte. Doch sein immenses Wissen,<br />

wertvoller als kleine MÅnzen, dieses Wissen soll er sich nicht ebenfalls oder noch weit mehr<br />

bemÅht haben zu verschenken? Auch nicht an einen kleinen graecophilen Fritz, der am liebsten<br />

alleine oder mit einem der beiden geistig kaum minder interessierten Kinderfreunde im<br />

Naumburger Umland wanderte? Wo er ebenso wie bei Veranstaltungen Ortlepp zuweilen begegnet<br />

sein dÅrfte? Vor allem dann begegnet sein kÄnnte, wenn er aus KrankheitsgrÅnden<br />

bereits vom Besuch des Naumburger Domgymnasiums freigestellt war? Sicherlich, hier gilt<br />

es noch manches aufzuspÅren... [Doch was nutzt das in einer Konstellation, in der es nur bei<br />

den Wenigsten auf Sachwissen und qualifizierte Argumentationen anzukommen scheint, zumal<br />

wenn zuvor entsprechende ‘Eigenarbeit’ geleistet werden mÅÉte?]<br />

Korrektur 4: SchlieÉlich die SchluÉpassage und zumal die Unterschrift der Sammlung in<br />

Nietzsches Album:<br />

„DaÉ ich noch einmal wÅrde lieben<br />

Ich hÇtt es nimmermehr gedacht!“<br />

Eo.<br />

ãuÉert sich so ein PfÄrtner Abiturient vom Niveau Stoeckerts oder ein JÅngerer? Bildet das<br />

Distichon von Heinrich Heine, Heimkehr 59, Verse 7f., aus dem Buch der Lieder, nicht einen<br />

konsequenten AbschluÉ der in den voranstehenden 11 Gedichten sowie dem Epilog geschilderten<br />

Beziehungsgeschichte – vermutlich von Ortlepp und dem frÅh(st)en Nietzsche – nebst<br />

einem Dank an das „du“ der Gedichte? Warum soll der Schreiber nicht Heine zitiert haben?<br />

Auch Ortlepp paraphrasierte Heine, Schiller usw. Äfters.<br />

Wenn HÄdl zurecht vermutet, die Sammlung sei in einem Zuge niedergeschrieben, dann<br />

wÇren bspw. die folgenden EinwÇnde zu klÇren. (1) Der Schreiber oder Autor hÇtte ziemlich<br />

unkonzentriert sein mÅssen, weil ihm nicht aufgefallen zu sein scheint, daÉ er sich verzÇhlt<br />

hat: 10 Gedichte nur erhalten die Zahl I. bis X. vor dem Epilog sowie dem abschlieÉenden<br />

498 Schon Reiner Bohley, 1983, war aufgefallen, daÉ Nietzsches literarische PrÇferenzen 1861ff. nicht<br />

dem Lehrangebot der Pforte, sondern Ortlepps Interessen entsprachen; das gilt Åbrigens auch fÅr<br />

Nietzsches musikalische PrÇferenzen solange, bis Freund Gustav Krug ihn zu Wagner bekehrt hatte;<br />

und galt fÅr die musikalischen ebenso wie fÅr die literarischen Interessen Nietzsches bereits fÅr die<br />

spÇte Naumburger Kindheit!<br />

499 Eine Gedichtsammlung, die das Kind Nietzsche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit<br />

kannte. Die Neuausgabe von Gedichten von Ernst Ortlepp: KlÜnge aus dem Saalthal. Gedichte. Hgg.<br />

v. Roland Rittig und RÅdiger Ziemann. Halle, 1999, die auch deshalb den Titel der letzten Sammlung<br />

trÇgt, weil Ortlepps Gedichte in den jeweils letzten der durch die autorisierten Ausgaben vorgelegten<br />

Fassungen erscheinen, „wodurch der Eindruck nicht zu vermeiden war, der letzte Band werde bevorzugt“<br />

(S. 130), bietet S. 63-106 eine reprÇsentative Auswahl des 1856 erschienenen Bandes.<br />

500 Im NachlaÉ von Rosalie Nietzsche fand Ursula Schmidt-Losch eine Abschrift von Ortlepps Neujahrsgedicht<br />

an die deutsche Nation von 1838 (GSA 100/1036).<br />

501 Ilges zitiert einen Bekannten Ortlepps: „Wer gesehen, wie er den Rest seines Geldes an arme Kinder<br />

verteilte, und gehÄrt, wie er in trauernder Resignation es beklagt, nicht alle Menschen, die ihm<br />

wohl gewollt, beglÅcken zu kÄnnen, wie er mÄchte, der wird gewiÉ den Stein nicht erheben wollen<br />

gegen einen Armen“ (S. 181).<br />

289


Distichon, doch hinter dem Gedicht IV. von 1861 – „Des Feldes Blumen 502 mÄcht ich winden<br />

/ Zu einem bunten Kranz fÅr Dich“ – und vor dem Gedicht „V. Herbst.“ befindet sich ein<br />

zwar auf den 31.3.1862 datiertes nochmals mit V. nummeriertes Gedicht „Schweigend ging<br />

ich Dir zur Seite“. Sicher, es fÇllt aus dem Rahmen. Sollte das betont werden? (2) Das Album<br />

enthÇlt so viel mehr Leerseiten als beschriebene Seiten, daÉ es fÅr Nietzsche kein Problem<br />

bedeutet hÇtte, fÅr jeden der sich Eintragenden mehrere Seiten fÅr Fortsetzungen freizuhalten.<br />

(3) Deutlich unterscheidbare Schreibweisen bestimmter Buchstaben verschiedener Gedichte<br />

schlieÉlich machen es mir nicht leicht, HÄdls These zu akzeptieren. Das schlieÉt nicht aus,<br />

einige der Çlteren Gedichte seien im RÅckblick eingetragen worden. Es kommt aber auch auf<br />

den Inhalt sowie dessen Kontext 503 an; doch in der Miszelle HÄdls findet man dazu kaum etwas.<br />

Insbesondere Ernst Ortlepp bleibt fÅr HÄdl offenbar eine Nullperson.<br />

Nun zur Unterschrift. DaÉ sie, wie oben eingefÅgt, „Eo.“ lautet, kann gegenwÇrtig nicht<br />

bewiesen werden, denn unglÅcklicherweise ist die untere HÇlfte oder zumindest das untere<br />

Drittel des ersten Buchstabens der Unterschrift – es ist ein GroÉbuchtabe – dem unteren Seitenende<br />

des Albums zum Opfer gefallen. Der zweite Buchstabe jedenfalls ist unstrittig ein<br />

kleines „o“. Der erste kÄnnte – mÅÉte? – der mittlere sowie der obere Teil eines groÉen „E“<br />

sein: genau so, wie es am Anfang des ersten Wortes des VI. Gedichts zu finden ist (s. unten).<br />

Doch ein Beweis ist das nicht. HÄdls Deutung des ersten Buchstabens hingegen als „L“ oder<br />

„B“ (440, Anm. 8) erscheint mir als abwegig, denn sowohl ein groÉes „B“ (11 x im Text) als<br />

auch ein groÉes „L“ (15 x im Text) sehen in diesen 6 Seiten Eintrag deutlich anders aus.<br />

Ziehen wir auch inhaltliche Gesichtspunkte heran, so wÇre<br />

(1.) daran zu erinnern, daÉ Ortlepp im Naumburger Kreisblatt seine Gedichte zuweilen mit<br />

„E.O.“ 504 oder nur mit „O.“ 505 unterzeichnet hat, was Åbrigens schon dem Kind Nietzsche<br />

kaum unbekannt gewesen sein dÅrfte. Wurde von Ortlepp in Pforte als „EO“ oder „O“ gesprochen?<br />

(2.) Ein weiterer Gesichtspunkt: Die Gedichtsammlung prÇsentiert zumindest fÅr altertumswissenschaftlich<br />

nicht vÄllig Ahnungslose Texte, die die Grenze zur Andeutung einer<br />

spÇtestens 1858 gescheiterten intensiven pÇderastischen Beziehung zumindest berÅhren. So<br />

ÇuÉert Gedicht IV. (1861) den Wunsch einer BekrÇnzung – einer EphebenbekrÇnzung? – des<br />

im Liede Besungenen ausdrÅcklich im Namen eines Dichters – „und mein u. aller Dichter<br />

Lieder“ – nach vertrauter antiker Manier (Horaz 506 usw.), und andere Gedichte der Sammlung<br />

ergÇnzen. DaÉ jedoch auch nur die leiseste Andeutung eines derartigen Sachverhalts selbst<br />

noch zur Zeit von Nietzsches Abitur jeden derartige Gedichte namentlich Unterzeichnenden<br />

stigmatisieren und angesichts damaliger Strafgesetzgebung schlicht ruinieren kÄnnte, bedarf<br />

zwar kaum der ErwÇhnung, durchaus aber einer BerÅcksichtigung. Liest man nicht isoliert,<br />

502 äbrigens eine Ernst Ortlepp nicht fernliegende Geste, denn Ilges berichtet, daÉ ihm ein langjÇhriger<br />

Bekannter Ortlepps (aus SchkÄlen und spÇter aus Naumburg) erzÇhlte, „daÉ Ortlepp auch in dieser<br />

letzten Zeit seines Lebens im Sommer gewÄhnlich einen groÉen StrauÉ selbstgepflÅckter Feldblumen<br />

trug“ (S. 182).<br />

503 So fÇllt bspw. auf, daÉ die konventionelle Rahmen sprengenden beiden brisanten Sammlungen von<br />

‘Ortlepp’ und Granier inmitten des 170 Seiten umfassenden Albums eng benachbart sind: die ‘Ortlepp’-Texte<br />

S. 61-66, Graniers Gedichte S. S. 69-73. Haben die ‘Ortlepp’-Texte Raimund Granier erst<br />

zum Eintrag seiner Gedichte provoziert, ermutigt?<br />

504 Vgl. Naumburger Kreisblatt, 15.10.1853 und 4.1.1854, jeweils S. 1. [Alle Ortlepptexte des Kreisblatts<br />

vom 15.10.1853-Ostern 1864 sind nun vollstÇndig in Der alte Ortlepp 2 , 2004, aufgenommen.]<br />

505 Vgl. Ebenda, 15.10.1856, S. 1.<br />

506 So liegen von Nietzsche aus dem Herbst 1862 unter dem Titel Erstes Buch der Lieder von Horaz.<br />

Anmerkungen (II 135-38) Interpretationen zu einigen dieser Lieder vor, die bezeichnenderweise bei<br />

der Deutung des XXVI. Liedes abbrechen (vgl. NaJ II, S. 237ff.). Vgl. dazu auch Renate G. MÅller,<br />

Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des SchÄlers Nietzsche, 1993, S. 131-41 (bzw. S. 69-<br />

74).<br />

290


sondern im Blick auf die gesamte Gedichtssequenz, so deuten die Gedichte II. (1859) und<br />

zumal VI. (September 1862) wohl Tieferes an:<br />

Erwachst du wieder, todtes Bild?<br />

Soll ich denn wieder weinen?<br />

Du schliefst ja schon, so lang, so mild<br />

In meines Herzens Todtenschreinen.<br />

Es geht eine alte MÇhr<br />

Von abgeschiedenen Seelen,<br />

Um GrÇber flatternd hin u. her,<br />

Sie mochten einst wohl sinnlich fehlen. –<br />

Nun kÄnnte eingewandt werden, derartige Andeutungen seien schlieÉlich auch ohne Unterschrift<br />

in einem in Pforte zugÇnglichen Album allzu riskant. Doch das wÅrde (a) fÅr Stoeckert<br />

wegen des geringen Altersunterschiedes deutlich weniger gelten als fÅr Ortlepp und (b) auch<br />

nicht generell der Fall sein, denn in der alten Pforte der Alumnatszeit Nietzsches gab es nicht<br />

nur die sichtbare Klostermauer, deren äberklettern zum sofortigen AusschluÉ fÅhr(en<br />

konn)te, wenn der betroffene Alumne sich unbeliebt gemacht hatte, sondern auch zumindest<br />

zwei unsichtbare Klostermauern diskretesten Schweigens einerseits Åber Formen praktizierter<br />

auÉerchristlicher hellenistischer ReligiositÇt oder ‘SpiritualitÇt’ und andererseits Åber ungewÄhnliche<br />

SchÅler-SchÅlerbeziehungen, die zum normalen Internatsalltag gehÄrten, ja diesen<br />

wÅrzten, und wohl auch hochgeschÅtzte SchÅler-Lehrerkontakte. Man muÉte nur zu den Eingeweihten<br />

gehÄren; und zumindest Nietzsche 507 gehÄrte belegtermaÉen zu ihnen.<br />

(3.) So hoch etwa Nietzsche als Kind und zumindest noch zeitweise auch als Alumnus portensis<br />

den Dichter Ortlepp eingeschÇtzt haben mag, so problematisch dÅrfte dessen Status<br />

spÇtestens 1859 in Nietzsches Naumburger Umfeld insbesondere bei Nietzsches auf bÅrgerliche<br />

Akzeptanz schon wegen der Dompredigerrente angewiesenen Mutter oder bei Tante Rosalie,<br />

der Aktivistin der Familie in geistlichen Dingen, gewesen sein. Selbst Ortlepps ‘Hausblatt’,<br />

in dem er seit Herbst 1853 die groÉen Festgedichte verÄffentlichte, das Naumburger<br />

Kreisblatt, bringt am 22.10.1860 die folgende Notiz:<br />

Naumburg, 21. Dec. Der, besonders der StraÉenjugend unserer Stadt und in den benachbarten<br />

Ortschaften bekannt gewordene Dichter Ortlepp aus SchkÄlen, welcher bekanntlich in den<br />

letzten Monaten Tag fÅr Tag die Gassen wankend und lÇrmend durchzog, ist kÅrzlich vom<br />

hiesigen Kreisgerichte wegen StraÉen=Skandals und Vagabondierens zu 14 Tage GefÇngnis<br />

verurtheilt und nach VerbÅÉung dieser Strafe zum zweiten Male nach der Correktions=Anstalt<br />

Zeitz abgefÅhrt worden, von wo er, nach lÇnger als einjÇhrigem Aufenthalte erst<br />

in der Mitte dieses Sommers unverÇndert zurÅckgekehrt war. (Nr. 102, S. 812)<br />

HÇtte sich Ernst Ortlepp nach diesen ihn nicht nur vor einer ‘Naumburger Tugend’ vÄllig diskreditierenden<br />

Ereignissen noch mit vollem Namen in Nietzsches „Album“ eintragen kÄnnen?<br />

SchlieÉlich und vor allem (4.): Wenn Ortlepp bei aller „Insichselbstzerrissenheit“ 508 dennoch<br />

Åber IdentitÇt verfÅgte, dann die des Dichters, Poeten; und wenn er, der in allen schrift-<br />

507 Vgl. NaJ I, S. 170-204. äbrigens hatte ich in In NaJ II, S. 679, damals nicht riskiert, „sinnlich“ in<br />

dem betreffenden Gedicht einzufÅgen, sondern „ziemlich“ eingesetzt, da ich seit Jahrzehnten Åber<br />

Erfahrungen mit Mitgliedern der werten Interpretenzunft verfÅge... Hans Gerald Hádl [– erst so wurde<br />

HÄdl auf das Schriftbild dieses Textes aufmerksam –] und Ralf Eichberg, die ich im FrÅhjahr 1997 um<br />

ihr Urteil bat, danke ich fÅr die BestÇtigung der ursprÅnglichen Vermutung.<br />

508 Ilges, S. 50, und Heinrich Hubert Houben: Ernst Ortlepp, ein verschollener Dichter. In: Wissenschaftliche<br />

Beilage der Leipziger Zeitung, 1901, Nr. 106, 5. 9. 1901, S. 422.<br />

291


stellerischen Ausdrucksformen (vom Epos Åber das Drama bis zum Roman, Essay und Zeitungsartikel)<br />

sich Åbte und verÄffentlicht hatte, einen dichterischen Schwerpunkt hatte, dann<br />

war es sein Lied: Sein Lied war sein Leben, seine Welt. „Das Lied“, das Germania. Eine<br />

Dichtung dem deutschen Parlament gewidmet. Frankfurt am Main, 1848, 104-106, abschloÉ<br />

und in KlÜnge aus dem Neckarthal, 1852, 133-135, ebenso wie in KlÜnge aus dem Saalthal,<br />

1856, 125-128, aufgenommen wurde, gibt in den Strophen 8-10 Ernst Ortlepps Selbstbild:<br />

Das Lied, es ist mein Schacht voll Goldes;<br />

Das Lied, es ist mein Lieb, mein Holdes,<br />

Es ist mein Haus, mein Thron, mein Zelt,<br />

Es ist mein Edelstein, mein Segen,<br />

Mein Schmuck, mein Sonnenschein und Regen,<br />

Es ist mein Leben, meine Welt.<br />

Vom Lied kann nur der Tod mich scheiden,<br />

Und muÉt’ ich um das Lied auch leiden,<br />

So lieb’ ich’s drum nur doppelt heiÉ.<br />

Da nun der flÅcht’ge Sohn des Schalles,<br />

Das Lied, mir in sich selbst ist Alles,<br />

Verlang’ ich kaum noch ÇuÉern Preis.<br />

Ob man mich auch nicht anerkennet,<br />

Und kaum noch meinen Namen nennet,<br />

So sing’ ich doch mit hellem Ton;<br />

Geh’ ich im deutschen Musenhaine<br />

Auch unbeachtet und alleine:<br />

Das Lied trÇgt in sich selbst den Lohn. 509<br />

WÇre es hingegen von Georg Stoeckert, den in seinem Lebenslauf zum 2.3.1864 ein durchaus<br />

selbstkritisches Urteils auszeichnet, nicht vor allem in BerÅcksichtigung der von Stoeckert<br />

Jahr um Jahr gelesenen antiken Dichtungen sowie der Bekanntschaft mit Ortlepp allzu hochgestapelt,<br />

sich selbst als Dichter zu bezeichnen? äbrigens spricht Stoeckert durchaus von<br />

dichterischen Ambitionen: nicht jedoch als Poet, sondern als Romanschreiber. UnglÅcklicherweise<br />

paÉt Stoeckerts Zeitangabe nicht zu „1858“, denn die Romanschriftstellertendenzen<br />

Stoeckerts liegen um 1856; vor allem freilich: Um 1858 will Stoeckert ein ekstatisches Wiederaufleben<br />

eigener ReligiositÇt erlebt und „in unserm, dem conservativen Predigerhause“ 510<br />

zur Zeit seiner Confirmation „im Herbst 1858“ sogar erwogen haben, „katholisch“ zu „werden“<br />

511 ! So paÖt umsomehr bei Stoeckert nicht nur deshalb nicht, je genauer man seine Handschrift<br />

analysiert, sondern auch je mehr man Äber ihn 512 und Ernst Ortlepp weiÖ.<br />

FÅr den Ausfall einer von uns – nicht von Nietzsche – eindeutig dechiffrierbaren Signierung<br />

mag es GrÅnde gegeben haben. Einige davon kÄnnten in deutlich verminderter Wahrscheinlichkeit<br />

auch fÅr Georg Stoeckert gelten. Also die Ortlepphypothese wieder einmal nur<br />

die plausiblere Deutung?<br />

509<br />

Nun unschwer erreichbar in ders., KlÜnge aus dem Saalthal, 1999, S. 101f. –, ein Gedicht, das<br />

Nietzsche selbst dann bekannt sein muÉte, wenn er nur wenige Gedichte Ortlepps gekannt haben sollte.<br />

510<br />

Georg Stoeckert, Lebenslauf zum 2.3.1864, S. 3; Archiv der Landesschule Pforta.<br />

511<br />

Ebenda, S. 8.<br />

512<br />

Ebenda, S. 3. Archiv der Landesschule Pforta. Das bedeutet wiederum nicht, daÉ Stoeckert nicht<br />

ein ausgezeichneter Kopf gewesen sein kÄnnte, dessen primÇre Interessen jedoch nicht bei den ‘alten<br />

Griechen’ lagen (s. Lebenslauf).<br />

292


DaÉ ich Hans Gerald HÄdl ungeachtet meiner skizzierten Metakritik fÅr einen soliden<br />

Kenner insbesondere der Texte des frÅh(st)en Nietzsche halte und daÉ ich von ihm erwarte,<br />

seine von den çsterreichischen Wissenschaftsfonds (çFF) vom 1.4.1988 an auf 6 Jahre und<br />

nun auch von der Nationalbank finanzierte 513 Arbeit an der KG W I nun umgehend mit einem<br />

hochinformativen Nachbericht abzuschlieÉen, mÄchte ich gerade im Zusammenhang dieser<br />

Replik ausdrÅcklich klarstellen. Ob Hans Gerald HÄdl jedoch nicht zuletzt in BerÅcksichtigung<br />

seines primÇren beruflichen Standorts gut beraten ist, die ihm als VertrauensvorschuÉ<br />

zugebilligte ObjektivitÇt eines zentralen Mitarbeiters einer kritischen Edition eines auch weltanschaulich<br />

noch immer so kontrovers diskutierten Autors wie Friedrich Nietzsche zuweilen<br />

(wie bspw. wÇhrend des VI. DNK am 9.7.1999) mit der Rolle eines in weltanschaulicher Perspektive<br />

eindeutig und engagiert christlich argumentierenden [sowie massivste reputationsschÇdigende<br />

VorwÅrfe erhebenden] Kontrahenten primÇr weltanschauungskritisch angesetzter<br />

<strong>Nietzscheinterpretation</strong>en zu vertauschen, wÅrde zumindest dann zu einem Problem, wenn die<br />

dabei vorgetragenen Argumente oder BeweisfÅhrungen mangels Stichhaltigkeit entfielen,<br />

‘gegnerischen Auffassungen’ [auch] nicht [im Ansatz] gerecht wÅrden, damit unter Weltanschauungsverdacht<br />

gerieten oder eines Diffamierungseffekts kaum entbehrten. So kÄnnte die<br />

ja nicht ausschlieÉlich von HÄdl, sondern vor allem auch von Johann Figl geleistete editorische<br />

Arbeit insgesamt in ungÅnstiges Licht gerÅckt und damit das Prestige der betreffenden<br />

Edition generell beeintrÇchtigt werden, da nach Jahrzehnten Weimarer Editionspraktiken, die<br />

erst 1933 mit der Vorlage des ersten Bandes der HKG W endeten, auch weiterhin im Bereich<br />

einer Edition von Manuskripten des frÅh(st)en Nietzsche, fÅr deren Inhalt sich bis in die<br />

1980er Jahre kaum jemand ernsthaft zu interessieren schien, unschwer dahingehend manipuliert<br />

werden kann, daÉ bestimmte Interpretationslinien bspw. durch Vorlage aller fÅr sie relevanten<br />

Texte usw. gefÄrdert werden; oder gar, daÉ weniger sympathische Interpretationslinien,<br />

die argumentativ vielleicht nicht zu widerlegen sind, dadurch geschwÇcht werden oder<br />

ihre Rezeption fÅr ein Jahrzehnt (und mÄglicherweise Åber die Lebenszeit ihrer Protagonisten<br />

hinaus) dadurch erschwert oder verzÄgert wird, daÉ fÅr sie relevante Texte Nietzsches nicht in<br />

den TextbÇnden selbst erscheinen, sondern fÅr einen weit spÇter (oder vielleicht niemals) erscheinenden<br />

Nachbericht zurÅckgestellt, in heterogene Segmente zerschnitten, nur in divergenten<br />

ZusammenhÇngen prÇsentiert oder bspw. als vermeintlich irrelevante Vorstufe in der<br />

Edition nicht einmal erwÇhnt wÅrden; daÉ Entdeckungen nicht mit den Namen derer verbunden<br />

werden, die sie gemacht haben, sondern mit den Namen flinker Absahner, denen man ja<br />

allenthalben begegnet, daÉ wichtige TertiÇrinformationen unterdrÅckt wÅrden usw. usw. Der<br />

Kreis intensiv arbeitender und eigenstÇndig denkender PrimÇrnutzer einer Edition ist in der<br />

Regel leider so begrenzt bzw. Åberschaubar, daÉ auch ein langjÇhriger Mitarbeiter einer Edition<br />

[selbst ohne seinen bestinformierten GesprÇchspartner] bestens abzuschÇtzen vermag, welche<br />

Interpretationslinie er mit welcher editorischen Entscheidung zu fÄrdern vermag; und<br />

welche eben nicht. Editionen bleiben nicht nur im Blick auf Datierungen immer auch ermes-<br />

513 Dem JubilÜumsfond der ästerreichischen Nationalbank dankt HÄdl bereits im ersten Satz seiner<br />

ersten Anmerkung (440, Anm. 1) ausdrÅcklich „fÅr die Teilfinanzierung des Forschungsprojektes<br />

‘Kommentierung der Jugendschriften Nietzsches’, innerhalb dessen diese Arbeit entstanden ist“. Eine<br />

besonders liebenswÅrdiges Wiener Schmankerl, da Vf. mit Gutachten fÅr die genannte Institution sowie<br />

die çsterreichischen Fonds zur Fárderung der wissenschaftlichen Forschung (çFF) nun auch zu<br />

diesem betrÇchtlichen Erfolg fÅr die Nietzscheforschung ebenso ursÇchlich beitrug wie zur Finanzierung<br />

einer angemesseneren Einrichtung der Bibliographischen Nietzsche-Informationsstelle JÄrg Salaquardas<br />

am Lehrstuhl fÅr Systematische Theologie an der Evangelischen theologischen FakultÇt der<br />

UniversitÇt Wien, an der durch Kurt Dite der Index der ersten 20 BÜnde der Nietzsche-Studien 1972-<br />

1991 erstellt wurde? (So kann ich gegenwÇrtig nur meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, daÉ Hans<br />

Gerald HÄdl sich bis zum AbschluÉ des Nachberichts der KG W I 1-3 im Blick auf Nietzsches Kinderund<br />

Alumnatsjahre diejenigen Kenntnisse erarbeitet, deren Besitz unabdingbar ist, um zwischen kontroversen<br />

Auffassungen kompetent entscheiden zu kÄnnen.)<br />

293


sensabhÇngig, sind, wie die Geschichte der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> nicht nur im Blick auf die<br />

zweifache NachlaÉkompilation Der Wille zur Macht zeigt, in fÅr Editoren oft unvorhersehbarer<br />

Weise zuweilen ÇuÉerst konsequenzentrÇchtig. [Nachdenklichere Leser kÄnnten diesen<br />

Absatz aus dem Dezember 1999 mittlerweile zu deuten wissen.]<br />

III. Zum Kon- und Subtext der alten Pforte<br />

Aus der SphÇre der Metakritik zurÅckkehrend wende ich mich lediglich noch zwei Fragekomplexen<br />

des Kon- und vielleicht Subtexts der alten Pforte der frÅhen 1860erjahre zu: in<br />

III.A. Fragen, die aus einer nÇheren Inspektion der von HÄdl partiell berÅcksichtigten Handschrift<br />

resultieren, und in III.B. dem von HÄdl ausgesparten Vergleich des strittigen Nietzscheschen<br />

Albumeintrags mit Handschriften Ernst Ortlepps.<br />

III. A. Georg Stoeckerts Handschrift und Ernst Ortlepp<br />

Nun vielleicht erst wird die Sachlage komplexer und wenigstens nicht hinreichend aufklÇrbar.<br />

Den Ausgangspunkt der Stoeckertthese HÄdls bildeten ja EigentÅmlichkeiten der Handschrift<br />

Ernst Stoeckerts, wie sie auf den drei ersten Seiten eines Teils eines Manuskripts aus dem<br />

Valediktionsskript Stoeckerts, seines in deutscher Schrift vorgelegten Lebenslaufes, aufweisbar<br />

sind (bzw. von HÄdl als aufweisbar behauptet werden).<br />

Sehen wir uns das Valediktionsmanuskript Stoeckerts, das sehr viel mehr umfaÉt als die<br />

pure Valediktionsarbeit selbst, aus dem FrÅhjahr 1864 genauer an, so fÇllt auf, daÉ wir in ihm<br />

unterschiedliche Schriften finden: Stoeckerts 35 Seiten umfassendes Manuskript enthÇlt nach<br />

dem<br />

1. Deckblatt in deutscher Schrift (S. 1)<br />

2. einige Seiten Widmungen in lateinischer Schrift (S. 2-4):<br />

Dir der alten Mutter Pforte (S. 2),<br />

Ihnen meinen hochverehrten Herren Lehrer (S. 3),<br />

Auch an Euch meine herzlichgeliebten MitschÄler (S. 4),<br />

3. einen Lebenslauf (Mein Leben, S. 5-13 des Gesamtskripts bzw. 9 S.) in deutscher<br />

Schrift<br />

jedoch mit<br />

4. die Valediktionsarbeit selbst (Der EinfluÖ des siebenjÜhrigen Krieges auf die Entwicklung<br />

der deutschen Nationalliteratur, mit besonderer RÄcksicht auf Minna von<br />

Barnhelm, S. 14-35 des Gesamtskripts bzw. 22 S.) wiederum in deutscher Schrift,<br />

einen Text, der bemerkenswerte EigentÅmlichkeiten in inhaltlicher ebenso wie in formaler<br />

Hinsicht aufweist. Die äberschrift bzw. der Titel der Valediktionsarbeit erfolgt zwar noch in<br />

der Handschrift Stoeckerts – genauer: in der Schrift des Lebenslaufs (S. 1 bzw. S. 14 des Gesamtskripts,<br />

nun bezeichnet als Schriftart Stoeckert 1 ) –, doch dann wechselt die Schrift bis zur<br />

Seite 16 oben der Valediktionsarbeit (bzw. S. 29 des Gesamtskripts, nun bezeichnet als<br />

Schriftart Stoeckert 2 ), wo mitten im Satz wieder die Handschrift des Titels bzw. der äberschrift<br />

bzw. des Lebenslaufs erscheint, also Stoeckert 1 .<br />

Um die Differenz der beiden Schriftarten Stoeckert 1 und Stoeckert 2 zu belegen: In den<br />

mehr als 15 Seiten bzw. des ersten und mittleren Drittels der Valediktionsarbeit selbst (bzw.<br />

in Stoeckert 2 ) finden wir [, um HÄdls Referenzbuchstaben zu wÇhlen,] das S als GroÉbuchstaben<br />

immer nur in deutscher Schrift – wie gesagt, Åber mehr als 15 Seiten! –, in den restlichen<br />

mehr als 6 Seiten der Schriftart Stoeckert 1 hingegen finden wir dieses deutsche S nirgendwo!!<br />

Eine wohl klassische Falsifikation der These, der nÇmliche Skribent hÇtte das unter Stoeckerts<br />

Namen eingereichte Manuskript der Valediktionsarbeit angefertigt, wenn nicht sehr gewichtige<br />

GegengrÅnde vorgetragen wÅrden? Also wissen wir nicht, welche dieser beiden Schriften<br />

diejenige Georg Stoeckerts ist. So wissen wir also auch nicht, mit wessen Schrift HÄdl die<br />

294


fraglichen 6 Seiten in Nietzsches Album verglichen hat. Ein weiterer argumentativer Blattschuss?<br />

Nun finden wir in der Schrift Stoeckert 1 jedoch nicht ebenfalls eine, sondern sogar drei (!!)<br />

verschiedene Versionen eines ‘nichtdeutschen’ groÉen S, vorausgesetzt, man will keine weiteren<br />

Binnendifferenzierungen einfÅhren. Es sind genau diejenigen drei Formen, die wir bereits<br />

aus der GroÉ-S-Analyse des freilich gescheiterten 514 Stoeckert-Albumvergleichs HÄdls (hier<br />

in II.B. skizziert) als S 1 , S 2 und S 3 kennen.<br />

So kÄnnen wir gegenwÇrtig nur auf zwei Zwischenergebnisse hinweisen:<br />

1. HÄdls Schriftbeweis ist miÉlungen, die Schrift der fraglichen 6 Seiten in Nietzsches Album<br />

Georg Stoeckert zuzuweisen, weil die Pro-Argumente nicht stichhaltig und die Gegenargumente<br />

falsifikatorischen Effekts waren und sind;<br />

2. selbst noch die ‘Basis’ dieses Schriftvergleichs erscheint als ungesichert, weil nicht klar<br />

genug ist, welche dieser Schriftarten Stoeckert 1 oder Stoeckert 2 Georg Stoeckert ggf. zugeordnet<br />

werden kann.<br />

Doch noch immer nicht genug der RÇtsel, denn es ist gegenwÇrtig nicht einmal vÄllig auszuschlieÉen,<br />

daÉ eine dieser beiden Handschriften die Handschrift Ernst Ortlepps ist, von dem<br />

bekannt ist, daÉ er in seinen letzten Jahren Schreibarbeiten fÅr Dritte verrichtete; sollte das<br />

auch zugunsten von PfÄrtner SchÅlern, Alumnen wie Extraneern [eine These, fÅr die in EO 1<br />

und EO 2 differenzierter argumentiert wird], erfolgt sein, wÇre Ortlepp gezwungen gewesen,<br />

seine eigene Schrift zu verstellen bzw. an die jeweilige des betreffenden Klienten anzupassen.<br />

In BerÅcksichtigung der Rahmenbedingungen 515 der spÇten PfÄrtner Schuljahre Nietzsches<br />

liegt zumindest eine Hypothese nahe: Seit 1900 516 ist belegt, daÉ und auch warum sich Ortlepp<br />

in seinen letzten Lebensjahren mÄglichst hÇufig in der NÇhe seiner ehemaligen Schule<br />

trotz des Verbots des Betretens des engeren Bereichs innerhalb der Klostermauern 517 aufhielt:<br />

Alumnen und wohl auch finanziell weit potentere Extraneer[ 518 ], insbesondere kritische SchÅler<br />

und vor allem Åber freieren Ausgang verfÅgende Primaner, waren Ortlepps Adressaten,<br />

Kleiderausstatter, Finanziers und Lebenssinnstifter gleichermaÉen. Nur sie waren einigerma-<br />

Éen frei vom damals zumal in PreuÉen als Folge der ‘48er Revolution’ erzielten DuckmÇusertum,<br />

sabotierten mit einigen freigeistigen Lehrern wie Koberstein, Steinhardt, Corssen, Keil<br />

und Jakoby II, Åbrigens angefÅhrt vom Geistlichen Inspektor Niese, die permanenten und<br />

penetranten Rechristianierungsversuche der alten Pforte durch erweckte oder orthodoxe Ber-<br />

514 2<br />

[„gescheitert“, weil HÄdl nicht mit der Schrift Stoeckert , sondern mit der davon deutlich abweichenden<br />

Schrift Stoeckert 1 der kopierten Seiten 1-3 des Lebenslaufs verglichen hatte. Die Schrift<br />

Stoeckert 2 war dem so sorgfÇltige Recherchen Dritter Einfordernden wie fast alles Åbrige von Relevanz<br />

einschlieÉlich sogar der meisten Seiten des Lebenslaufs von Stoeckert offensichtlich schlicht<br />

unbekannt.]<br />

515<br />

PrimÇr den Rahmenbedingungen der PfÄrtner Existenz Nietzsches gilt Teil II Pforta in NaJ I, S.<br />

131-257.<br />

516<br />

Ilges, BlÜtter, 1900, 154-83, insbes. S. 165.<br />

517<br />

Vgl. zuletzt Reiner Bohley, 1983, S. 322; leider fand ich nirgendwo einen Hinweis darauf, wann<br />

die Lehrersynode oder der erweckte Rektor dieses Verbot aussprach; und auf welche Weise VerstÄÉe<br />

Ortlepps sanktioniert wurden (oder worden wÇren).<br />

518<br />

[Neben den ca. 180 Alumnen im Internat gab es bis zu 20 sog. Extraneer, d.h. meist spÇtergeborene<br />

SÄhne von Adeligen oder SÄhne reicher BÅrgerlicher, die bei Lehrern in Privatpension wohnten, an<br />

deren Tisch aÉen und, sollten sie in der Schulkonkurrenz ausnahmsweise einmal mitspielen wollen –<br />

wie Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der am Tisch des erweckten Rektors aÉ und so manches<br />

hÄrte, natÅrlich auch von an positiven Beurteilungen des Rektors interessierten jÅngeren Lehrern entsprechend<br />

hofiert wurde –, Chancen hatten, von denen Alumnen nur trÇumen konnten. So waren die<br />

Pfortejahre zugleich eine wertvolle EinfÅhrung in Strukturmomente gesellschaftlicher VerhÇltnisse.<br />

Vgl. zu alledem usw. NaJ I.]<br />

295


liner SchulbehÄrden einschlieÉlich des Kulturministers 519 . (Nietzsche verwendet in einem<br />

Brief vom 11. 10. 1866 an seinen Freund Carl von Gersdorff sogar die Formulierung „PfÄrtner<br />

LÅgensystem“ 520 .) So lernten Alumnen und Extraneer Åber Ortlepp, den verhinderten 521<br />

Lehrer und Erzieher, der sich in seinen letzten Lebensjahren nun in den Pinten des Saaletals<br />

und in den WÇldern um Pforte, an der Klopstockquelle und in einer von Pforte schnell erreichbaren<br />

Grotte des Knabenbergs selbst bei Wind und Wetter einen Anflug einer eigenen<br />

Akademie geschaffen hatte, Byron kennen, Shakespeare sowie Beethoven lieben und verstehen,<br />

erfuhren insbesondere in altertumswissenschaftlicher Hinsicht manches, was PfÄrtner<br />

Lehrer nicht mehr im Åberwachten Unterricht, sondern allenfalls in privaten Lesezirkeln (wie<br />

Koberstein oder Steinhardt) anzudeuten wagten..., erlebten in den Pinten im Umkreis der<br />

Pforte einen Ortlepp, der nach einigen GlÇsern Branntwein seine im nÅchternen Zustand in<br />

Naumburg gepflegte Pastorenpose 522 aufgab und am Piano in grausen, dÇmonischen Liedern<br />

Erfahrungen ÇuÉerte, die nicht lediglich die Seinen waren; und blieben. Vielleicht auch deshalb<br />

wurde Ortlepp in stillem EinverstÇndnis im Schatten der ÇuÉeren Kostermauern der Pforte<br />

weitestgehend toleriert. Er stand bis zum Besuchsverbot selbst unter Fenstern der SchulrÇume,<br />

um mit einem Homerexemplar in der Hand dem Unterricht zuzuhÄren, und wartete<br />

offenbar vor allem in seinen letzten Lebensjahren auf seine PfÄrtner in Almrich bzw. Altenburg,<br />

dem in wenigen Minuten von Pforte aus erreichbaren DÄrfchen, und bei gutem Wetter<br />

auch im Bereich des Knabenberges direkt hinter der sÅdlichen Klostermauer. Und: Ortlepp<br />

versuchte auf seine Art nicht nur zu lehren und zu erziehen, sondern muÉte in ErgÇnzung seiner<br />

winzigen vom preuÉischen KÄnig dank einer Ortslepps frÅhere dichterische Auffassungen<br />

geradezu prostitutiv 523 aufhebenden ‘VerÄffentlichungen’ erhaltenen Pension, von der nach<br />

Begleichung von Schulden 2 1/2 Silbergroschen tÇglich anfielen, auf nahezu alle Weise Geld<br />

verdienen: auch durch Privatunterricht, Auftragsdichtungen 524 , durch Abdruck riesiger Gedichte<br />

zu fast allen wichtigen Festtagen im Naumburger Kreisblatt, ja,<br />

„Ortlepp gab sich jetzt zu allem her, wodurch er sich ein paar Groschen verschaffen konnte; so<br />

schrieb er fÅr arme alte Leute, die des Schreibens unkundig waren, Äfters die Briefe, eine Arbeit,<br />

die gewÄhnlich mit einem bis zwei Silbergroschen bezahlt wurde: Daneben war er freilich zum<br />

wirklichen Bettler geworden“ 525 usw.<br />

519 äber Fakten informiert ausfÅhrlich Reiner Bohley, Die Christlichkeit einer Schule. Schulpforte zur<br />

Schulzeit Nietzsche’s. Naumburg, o.J. (1974); doch in der Interpretation kann ich dieser frÅhen Arbeit<br />

Bohleys leider nur selten zustimmen (vgl. NaJ I, S. 73-79 und insbes. S. 156-197).<br />

520 B II 97 bzw. B I 2, 173.<br />

521 Noch etwa 1856 hatte Ortlepp in Halle das philologische Staatsexamen fÅr den hÄheren Schuldienst<br />

abgelegt in der Hoffnung, irgendwo endlich zu einem gesicherten Einkommen zu gelangen und eine<br />

Anstellung als Lehrer zu erhalten; doch auch dieser Selbstrettungsversuch schlug fehl: „Damit war<br />

sein Untergang besiegelt.“ (Ilges, S. 154).<br />

522 Ortlepp kleidete sich „stets dunkel“, machte „den Eindruck eines anstÇndigen, den besseren StÇnden<br />

angehÄrenden alten Herrn. Jemand, der ihn nicht kannte, wÇre geneigt gewesen, ihn wegen seiner<br />

gemessenen Haltung, wegen seines ernsten Gesichtsausdrucks, besonders aber, wenn er ihn hÇtte sprechen<br />

hÄren, fÅr einen Landgeistlichen zu halten.“ (Ilges, S. 159).<br />

523 Vgl. auch Ilges: „seine Muse zu diesen Diensten prostituierte“ (S. 130). Doch sonst wÇre er vielleicht<br />

verhungert. SpÇtestens seit 1844 gibt es Bettelgedichte, doch vielleicht erst Neue preuÖische<br />

Soldatenlieder. Stuttgart, 1855 (Ilges, S. 155, zitiert daraus), brachte nach diversen ‘Ehrengeschenken’<br />

die winzige Pension von Friedrich Wilhelm IV.<br />

524 Vgl. Ilges, S. 160f.<br />

525 Ilges, S. 178.<br />

296


Doch das Skizzierte bleibt eben nur die eine, die fÅr konservative Naumburger der Pastorenund<br />

Justizszene 526 sichtbare Seite, die noch fÅr unten folgende Beobachtungen konzensequenzenreich<br />

genug sein mag; doch es gab ja vor allem noch Pforte! W. Walther Ilges informiert<br />

zwar:<br />

„Die Alumnen vergátterten ihn auch geradezu und statteten ihn, wenn er ganz abgerissen war, wieder<br />

mit Kleidern aus“ 527 ,<br />

zieht hieraus aber keinerlei Konsequenzen fÅr seine äberlegungen im Blick auf Ortlepps Beitrag<br />

zu einer portenser Subkultur der frÅhen 1860er Jahre. Das dÅrfte nicht zuletzt aus dem<br />

nicht zu Åbergehenden Sachverhalt resultieren, daÉ weder Ilges noch ein anderer der Çlteren<br />

sich biographisch zu Ortlepp ãuÉernden (BrÅmmer, M. Geiger, H.H. Houben, P. Mitzschke)<br />

Portenser ist, daÉ sie also nicht nur nicht Åber keine portenser, sondern [im Gegensatz zum<br />

Vf.] mÄglicherweise sogar Åber keinerlei Internatserfahrungen verfÅgen, internatsspezifische<br />

‘Geheimwelten’ also weder kennen noch ahnen, Hinweise in Ortlepps Texten oder auch in<br />

Berichten Åber ihn, Åber die insbes. Ilges noch in reichhaltigem MaÉe zu verfÅgen schien,<br />

[schon deshalb] also keineswegs adÇquat aufzuschlÅsseln vermochten. So wirkt die Biographie<br />

von Ilges – vorausgesetzt, es handelt sich dabei nicht um eine klare Tendenz – etwas<br />

naiv, affirmativ und vielleicht allzu kÇuferorientiert 528 . Andererseits begibt sich ein in internatsspezifischer<br />

Perspektive erfahrenerer und weniger affirmativ orientierter Interpret leicht<br />

ins Abseits ihm seitens Unkundiger unterstellter ‘Spekulationen’. So enthalten die Informationen<br />

Åber Ortlepp durch Ilges u.a. weit mehr an Gehalt als Ilges u.a. auszufÅhren willens oder<br />

in der Lage sind.<br />

Setzen wir bei dem obigen Zitat von Ilges ein. Wenn „die Alumnen“ Ortlepp „vergÄtterten“,<br />

ja ihn, „wenn er ganz abgerissen war, wieder mit Kleidern“ ausstatteten, dann genÅgt<br />

bescheidenstes Nachdenken, um daraus zu schlieÉen, daÉ es nicht die Untertertianer gewesen<br />

sein kÄnnen, die Ortlepp – offenbar mehrfach; also Åber einen lÇngeren Zeitraum hinweg –<br />

wieder mit Kleidern ausstatteten, sondern entweder ausgewachsene Alumen, die Ortlepp von<br />

ihrer eigenen Bekleidung abgeben (und deshalb von ihren Eltern modischere KleidungsstÅcke<br />

einfordern konnten) oder aber Geld geben konnten, was fÅr Alumnen der unteren Semestergruppen<br />

unmÄglich war. Das bedeutet wiederum, daÉ Ortlepp mit den Alumnen der oberen<br />

Semester und insbesondere mit den Primanern, denn nur diese hatten groÉzÅgigere AusgehmÄglichkeiten,<br />

in engerem Kontakt stand (wie ja auch aus Nietzsches Brief vom 5.7.1864<br />

deutlich ist). Und das bedeutet wiederum, daÉ Ortlepp mit den intelligentesten und in altertumswissenschaftlicher<br />

Hinsicht gebildetsten jungen Menschen, die dank ihres Fachwissens<br />

fast schon Doktorandennivau erreichten, in Kontakt stand. (Nur deshalb konnte Nietzsche, der<br />

es in Griechisch in Pforte niemals zur Bestnote gebracht hatte, fast als Anfangssemester in der<br />

damals renommiertesten altphilologischen Fachzeitschrift, dem Rheinische Museum fÄr Philologie<br />

seines Lehrers Ritschel, bereits eine Untersuchung verÄffentlichen.) So kÄnnen wir bei<br />

„vergÄttert“ sogar Abstriche machen, um dennoch davon auszugehen, daÉ der Kontakt beiderseits<br />

ergiebig und auch fÅr Ortlepp attraktiv genug war. Eine wachere Klientel als die geistig<br />

eigenstÇndigeren Primaner der alten Pforte der frÅhen 1860er Jahre konnte ein Ernst Ortlepp<br />

wohl nirgendwo finden. Hier war er ohnedies geistig immer zuhause geblieben.<br />

526 Auf die bescheidene UnterstÅtzung dieser Szene konnte Ortlepp, selbst wenn es nur um einen Teller<br />

heiÉe Suppe ging, jedoch nur solange rechnen, solange er in Sachen Religion oder Politik sich nicht<br />

allzusehr abweichend artikulierte. Vgl. die Erinnerungen an Ernst Ortlepp von P. Mitzschke, Sohn das<br />

damaligen Naumburger Dompredigers, in: ThÅringer MonatsblÇtter XIX, 1912, S. 137-141.<br />

527 Ilges, S. 165.<br />

528 Bezeichnenderweise sind Artikel, die Ilges in Ernst Ortlepp. BlÜtter aus dem Leben und Dichten<br />

eines verbummelten Poeten, Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Jahrgang 1900 vorlegte, in einigen<br />

Details prÇziser.<br />

297


Doch dann konnte Ortlepp auch nicht nur ein Trinker sein. Und damit brechen wieder KartenhÇuser<br />

zusammen, denn dann kÄnnen die vom Naumburger Dompredigersohn Mitzschke<br />

erzÇhlten Geschichten vom so dauerbetrunkenen Almricher ObsthÅter Ortlepp entweder nicht<br />

stimmen, oder sie besitzen einen Hintergrund, Åber den sich Mitzschke aus Diskretion nicht<br />

ÇuÉerte – vorausgesetzt, er durchschaute ihn –, denn: Gegen wen muÉ man zwischen der<br />

Kleinstadt Naumburg, in der ohnedies fast jeder seinen eigenen Obstgarten hatte, und dem<br />

Dorf KÄsen, fÅr das dieser Sachverhalt in noch hÄherem MaÉe galt, Obst vor Dieben schÅtzen?<br />

Nun, nÇher als Naumburg und KÄsen lag den Obstparadiesen Almrichs die alte Pforte:<br />

mit vielen, vielen stets hungrigen Alumnen vor allem der unteren Semester, denn die jeweils<br />

an der oberen TischhÇlfte des Speisesaals prÇsidierenden Primaner hatten die Zuteilgewalt,<br />

waren Profiteure, Kontrolleure, Richter, unersetzliche FunktionÇre des PfÄrtners Systems, mit<br />

denen sich vor allem alle sensibleren Lehrer gutzustellen hatten, wenn sie nicht in ihrer Hebdomariatswoche<br />

[529] erbÇrmlichst scheitern wollten. Wer wenn nicht Ernst Ortlepp kannte das<br />

PfÄrtner System? War er deshalb WohltÇter, da er wuÉte, was Hunger bedeutet [– schlieÉlich<br />

war er in den Krisenjahren 1812-1819 Portenser und, da als ZwÄlfjÇhriger zwecks Orgelspielens<br />

schon aufgenommen, jahrelang kÄrperlich so unterlegen, daÉ er sich am untersten Platz<br />

kaum wachstumserforderliche Essensportionen erkÇmpfen konnte –], und lieÉ er die Alumnen<br />

sich groÉzÅgig eindecken? Legte er sich, da er ohnedies als Trinker verschrieen war, mit seiner<br />

Freundin Schnapsflasche in die Sonne? Vor allem mittags, wenn die jÅngeren Alumnen<br />

ihren knapp bemessenen Ausgang hatten? So mag Ortlepp nicht nur wegen seiner poetischen<br />

und musikalischen FÇhigkeiten, denn er spielte ja hinreiÉend Klavier und Harmonium, sondern<br />

auch wegen seiner Gutherzigkeit, die ja auch unabhÇngig von meinen äberlegungen belegt<br />

ist, „vergÄttert“ worden sein. Wie einfach zuweilen klÇren sich ZusammenhÇnge auf,<br />

wenn man nicht eindimensional-punktuell denkt [und sich um die erforderlichen Informationen<br />

bemÅht, bevor man sich Äffentlich ÇuÉert]?<br />

Doch was kann ein Ernst Ortlepp PfÄrtner Primanern vom Niveau Nietzsches, Stoeckerts,<br />

Graniers, Wendts usw. bedeutet, was kann er ihnen noch ‘gegeben’ haben? Ist es abwegig<br />

oder hochplausibel, anzunehmen, daÉ der erst wenige Jahre zuvor als Lehrer positiv examinierte<br />

Altphilologe, Literaturkenner und Herausgeber meist selbstgeschriebener Literatur- und<br />

Musikalmanache, der leidenschaftliche Vielschreiber Ortlepp, fÅr Primaner und Sekundaner<br />

nicht nur Nachhilfe 530 gab, sondern auch Arbeiten vor allem dann gerne Åbernahm, wenn er<br />

abschÇtzen konnte, auf welche Weise der korrigierende Lehrer – bspw. sein GÄnner Karl Keil<br />

bei lateinischen Epigrammen! – reagieren wÅrde oder wenn bekannt war, daÉ diese Arbeiten<br />

nicht mehr korrigiert wurden, was vor allem fÅr die letzten Deutscharbeiten eines Semesters<br />

bei Koberstein galt; oder wenn es Arbeiten waren, die erst eingereicht wurden, als das Abitur<br />

schon bewÇltigt war und die Noten feststanden? GehÄrte man (wie der primÇr historisch interessierte<br />

Georg Stoeckert offenbar) nicht zu den vor allem altphilologisch orientierten SpitzenschÅlern,<br />

die (wie Nietzsche und Paul Deussen) miteinander und mit SpitzenschÅlern der<br />

vorangehenden und folgenden Semester konkurrierten – Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff<br />

konkurrierte ja selbst noch mit Nietzsche, der 3 Jahre vor ihm mit der letzten I in<br />

529 [Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Rektor Peter, Niese, Koberstein) muÉte jeder Lehrer im<br />

Wechsel eine Woche lang tÇglich 24 Stunden im Internat selbst verbringen bzw. dort Oberaufsicht<br />

fÅhren. Unbeliebte Lehrer hatten allen AnlaÉ, sich vor dieser Woche zu fÅrchten: Die Erfindungsgabe<br />

hochbegabter, wÅtender und rachelÅsterner 17- und 18jÇhriger war auch damals nicht zu unterschÇtzen.<br />

So gab es die erstaunlichsten BÅndnisse, Querkoalitionen, Konflikte usw.]<br />

530 Schon in der Leipziger und Stuttgarter Zeit dÅrfte Ortlepp „Privatunterricht an SchÅler hÄherer<br />

Lehranstalten“ gegeben haben; so las er „mit Primanern Sophokles, Pindar und Demosthenes“ (Ilges,<br />

S. 123). Es war in Pforte fast normal, daÉ SpitzenschÅler unter den Alumnen sich mit Nachhilfe insbes.<br />

bei vermÄgenden Extraneern Geld verdienten. Da Extraneer nicht der rigorosen Zeitplanung der<br />

Alumnen unterworfen waren, dÅrfte es fÅr Interessierte leicht gewesen sein, Ortlepp als Privatlehrer zu<br />

gewinnen.<br />

298


Deutsch abging –, war man aber doch ehrgeizig genug, (s)eine Valediktion samt eigenem Lebenslauf<br />

in Pforte fÅr eine kleine Ewigkeit zu hinterlegen, dann war niemand anders im nÇheren<br />

Umkreis so sehr der Mann, eine derartige Arbeit anstelle eines Alumnen oder Extraneers<br />

zu schreiben wie Ortlepp: vor allem dann freilich, wenn der betreffende Primaner nicht erst<br />

im Herbst abging und deshalb die Hundstagsferien fÅr seine Valediktion nutzen konnte, sondern<br />

wie Georg Stoeckert im FrÅhjahr, wo die wenigen Tage Weihnachtsferien noch der Vorbereitung<br />

des Abiturs dienten, und anschlieÉend schlicht die Zeit fehlte, nach AbschluÉ des<br />

Abiturs und vor Verlassen der Schule noch eine seriÄse Valediktion zu erarbeiten; schlieÉlich<br />

wollte man endlich „ex lex“ genieÉen und feiern 531 .<br />

Inhaltliche GrÅnde im engeren Sinne stÇrken diese zweite Ortlepp-Hypothese: Die von<br />

Georg Stoeckert vorgelegte Valediktionsarbeit ist nÇmlich keine typische Literaturanalyse,<br />

sondern prÇsentiert eine politische Rede („Hochgeehrte Versammlung“, S. 14), die unter dem<br />

Vorwand einer literarischen Untersuchung passagenweise massivste politische und weltanschauliche<br />

Kritik ÇuÉert: eine Kritik, wie sie Schriften Ortlepps in den 1830er und 1840er<br />

Jahren auszeichnete, und einerseits den Eindruck einer zwar spÇten doch schwungvollen Legitimation<br />

eines gescheiterten politischen Dichters erweckt, andererseits auf Inhalte sÇchsischer<br />

Politik rekurriert, die Ortlepp dank seiner Herkunft aus dem sÇchsischen DroyÉig noch bestens<br />

kannte, die drittens schlieÉlich Stimmungen der Freiheitskriege artikuliert, die nicht Georg<br />

Stoeckert, durchaus aber Ernst Ortlepp als Alumnus portensis (1812-1819) erlebte; und<br />

verschiedentlich schildert. Auch einige altertÅmliche Eigenarten der Schreibweise (wie z.B.<br />

„aecht“ oder gar „Çcht“) fallen auf. Hat Georg Stoeckert, der in seinem der Valediktion vorangestellten<br />

Lebenslauf betont, welch’ intensives Mitleid er mit zu Unrecht Gescheiterten<br />

habe, Ortlepp, dem gescheiterten politischen Dichter, der nach seinem vielleicht nicht unfreiwilligen<br />

Tod am 14.6.1864 – ein Vierteljahr nach Stoeckerts Abitur und wenige Wochen vor<br />

Nietzsches [und Wendts!] endgÅltigem Abgang aus Pforte und Weggang aus Naumburg! –<br />

auf dem PfÄrtner Friedhof wie ein SelbstmÄrder beerdigt wurde, die Gelegenheit zugespielt,<br />

eine Art selbstlegitimierenden aktualisierten Testaments im HerzstÅck der alten Pforte, in der<br />

Bibliothek nÇmlich, zu hinterlegen; einer Bibliothek Åbrigens, in der Ortlepp Jahre zuvor – es<br />

dÅrfte in den mittleren 50er Jahren gewesen sein – seine mit griechischen Versen gespickten<br />

Erinnerungen an Schulpforte von einem alten Portenser deponierte?<br />

So zog Ernst Ortlepp zumal in seinen letzten Lebensjahren seine Kreise immer enger um<br />

Pforte, erzwang er sich dort schlieÉlich sein immerwÇhrendes „Logis im Saalthale“, fÅr dessen<br />

Grabstein offenbar die ranghÄchsten PfÄrtner, die Oberprimaner der I. Ordnung – der finanziell<br />

stets klamme Nietzsche berichtet darÅber – einen fÅr damalige VerhÇltnisse erstaunlichen<br />

Beitrag von „an 40 Thl.“ (Thaler) bereits gesammelt hatten, was immerhin dem an Ortlepp<br />

ausbezahlten Pensionsanteil von 480 Tagen entsprechen wÅrde. Stand Ortlepp insbesondere<br />

mit Primanern in engstem Kontakt – „Wir sprachen ihm am Todestag in Almrich“ 532 –,<br />

mit Primanern wie Friedrich Nietzsche, Georg Stoeckert oder Heinrich Wendt, dem von Ortlepp<br />

zutiefst BeeinfluÉten? äbrigens trug Ortlepps Grabstein 533 neben den Lebensdaten von<br />

„ERNESTO ORTLEPP POETAE“ lediglich die Unterschrift „FRATRES ET AMICI“:<br />

„FRATRES“ galt fÅr Ortlepps geistliche BrÅder, „AMICI“ hingegen fÅr Ortlepps Freunde, an<br />

erster Stelle also fÅr die fÅr diesen Grabstein sammelnden Primaner Friedrich Nietzsche und<br />

vermutlich auch Heinrich Wendt. Georg Stoeckert hatte ja ein Vierteljahr zuvor als Abiturient<br />

Schule und Internat verlassen.<br />

Die zwischen Hans Gerald HÄdl und mir strittigen EintrÇge in Nietzsches Album stellen<br />

also nur ein winziges [und grÄÉtenteils noch ungeklÇrtes] Teilmoment eines riesigen noch<br />

kaum erforschten Kon- und vielleicht Subtexts der alten Pforte dar, zu dem sowohl der wie<br />

531 Vgl. NaJ II, S. 615-18.<br />

532 Vgl. B I 250 bzw. B I/1, 288.<br />

533 Abbildung des nicht mehr auffindbaren Grabsteines Ilges, S. 183.<br />

299


ein altvÇterlicher Pastor gekleidete Ortlepp, der im Naumburger Kreisblatt fromme oder vaterlÇndische<br />

Gedichte plazierte, auf Bestellung Geschenkgedichte zu allen AnlÇssen produzierte<br />

und wunderbar fromm Harmonium spielten konnte, konstitutiv gehÄrte wie der Ortlepp<br />

des Vaterunser des neunzehnten Jahrhunderts 534 , der sarkastischer Gesellschafter sein konnte<br />

und auf den SaalehÇusern bei Pforta am Klavier dÇmonische Lieder spielte und sang des Inhalts:<br />

„mein Herr Jesus hat viel gelitten, aber ich leide mehr.“ 535 Sollte Ortlepp zahlreichen<br />

SchÅlern bei schriftlichen Arbeiten geholfen und sich auch auf diese Weise Anerkennung und<br />

Geld verdient haben – sei es, daÉ er fÅr sie in leichter äbernahme einiger EigentÅmlichkeiten<br />

ihrer Handschrift diese Arbeiten in einer geheizten GaststÇtte oder doch zumindest das Konzept<br />

schrieb und so zeitweise dem Frost entkam, sei es, daÉ er sie SchÅlern eilig diktierte –, so<br />

wÇre es wenig verwunderlich, wenn er zwar flexibel genug gewesen wÇre, in seiner Handschrift<br />

EigentÅmlichkeiten der Schrift seiner Auftragsgeber zu imitieren, andererseits jedoch<br />

eingeschrieben genug, einige EigentÅmlichkeiten seiner eigenen Schreibweise (wie bspw. auf<br />

charakteristische Weise nach links drÇngende Schleifen im unteren Bereich einiger GroÉbuchstaben)<br />

dennoch zumindest zuweilen und im Zustande zunehmender ErmÅdung verrÇterisch<br />

beizubehalten. BerÅcksichtigen wir auch den kÄrperlichen Verfall, dem Ortlepp in seinen<br />

letzten Lebensjahren ausgesetzt sein muÉte, und den Sachverhalt, daÉ Ortlepp sich bevorzugt<br />

im Freien aufgehalten habe, so kÄnnte sich ein Steiferwerden seiner Hand auch auf seine<br />

Schrift ausgewirkt haben.<br />

So ergeben sich Fragen um Fragen...<br />

III. B. Vergleich des strittigen Nietzscheschen Albumeintrags mit Handschriften Ernst<br />

Ortlepps<br />

... und potenzieren sich im Falle Ortlepps die RÇtsel, denn der strittige Eintrag in Nietzsches<br />

Album Çhnelt bestimmten Eigenarten der erwÇhnten Schriften Ortlepps in mancherlei Hinsicht:<br />

Einige Buchstaben scheinen sich in den etwa vier bis viereinhalb Jahrzehnten seit Ortlepps<br />

erfolgreichem Abgang (1819) nicht verÇndert zu haben, andere erscheinen als konsequente,<br />

etwas abstraktere Weiterentwicklung auf der Basis der aus Ortlepps frÅhster Schrift<br />

vertrauten EigentÅmlichkeiten, wieder andere wirken so, als ob Ortlepp fÅr seine Schrift lediglich<br />

charakteristische Bogenschleifen unterlassen wollte, die ihm zuweilen aber dann doch<br />

wieder in die Feder rutschen... Da die mir bisher zugÇnglichen Schriften Ortlepps zwar verschiedenen<br />

Status haben – ein PfÄrtner Selectaaufsatz von 1819, ein Brief an einen Verleger<br />

von 1833, ein undatiertes Geschenkgedicht (vermutlich gegen Bezahlung) aus der Zeit nach<br />

1853, die in der Bibliothek von Ortlepps geistigem Lebenszentrum deponierten Erinnerungen<br />

an Schulpforte von Mitte der 1850er Jahre sowie einige mir von Thomas Schneider zur VerfÅgung<br />

gestellte Kopien von Briefen Ortlepps –, durchgÇngig aber Imponiertexte sind, die wie<br />

der Selectaaufsatz und mit Abstrichen die Erinnerungen noch voller Hoffnung geschrieben<br />

wurden, fehlt bisher eine ‘Kontrollschriftprobe’ Ortlepps aus den 1860er Jahren, in denen die<br />

meisten EintrÇge der strittigen Handschrift in Nietzsches Album erfolgten, um Buchstabe fÅr<br />

Buchstabe usw. vergleichen zu kÄnnen. F. Walther Ilges muÉ zu Beginn des nun endenden<br />

Jahrhunderts noch Åber viele Handschriften Ortlepps verfÅgt haben; doch gegenwÇrtig weiÉ<br />

ich lediglich [536] noch von einem weiteren SchriftstÅck Ortlepps, einem im GSA, Weimar,<br />

lagernden zeitlich weit zurÅckliegenden Brief Ortlepps an einen Verleger...<br />

534 Gut erreichbar nun in: Ernst Ortlepp, KlÜnge aus dem Saalthal. Gedichte, 1999, S. 17-24, oder bereits<br />

in NaJ II, S. 711-15, 720f. [Die ungekÅrzte Fassung in Der alte Ortlepp 1 , 2001 und Der alte Ortlepp<br />

2 , 2004.]<br />

535 B I, S. 403.<br />

536 [Das hatte sich schon wenige Monate spÇter geÇndert, denn Roland Rittig / RÅdiger Ziemann: Ernst<br />

Ortlepp. Dokumente seines Lebens und seines Werkes in den BestÜnden des Museums Schloss Moritzburg<br />

Zeitz. Zeitz, 2000, bieten (auch d. Vf. Åberraschend) auf den Seiten 9, 11, 13, 15, 17 und 19 eine<br />

zwar nicht unterzeichnete, aller Wahrscheinlichkeit nach aber von Ernst Ortlepp – leider wieder in<br />

300


Nun aber gerieten rÇtselhafte Texte ins Blickfeld der Forschung: 1993 der diskutierte Eintrag<br />

in Nietzsches Album und in äberprÅfung von HÄdls Miszelle nun die ‘fremde’ Handschrift<br />

in Stoeckerts Valediktionsarbeit aus dem FrÅhjahr 1864. Hat man diese Arbeiten sowie<br />

die erwÇhnten Autographen bzw. deren Kopien vor sich liegen, so sind auf den ersten Blick<br />

durchaus Gemeinsamkeiten der Schrift des Eintrags im Album mit ‘Stoeckerts’ SchriftzÅgen<br />

erkennbar. Bei nÇherem Hinsehen verstÇrkt sich jedoch der Zweifel, da sich auch erstaunliche<br />

äbereinstimmungen genau in denjenigen EigentÅmlichkeiten aufweisen lassen, die in der<br />

‘fremden’ Schrift der S. 1-16 der Valediktion und in den Texten Ortlepps auffallen und auch<br />

im Eintrag in das Album belegbar sind. Dennoch wirken diese beiden Texte, die S. 1-16 der<br />

Valediktion von ‘Stoeckert’ bzw. Stoeckert 2 ebenso wie der Eintrag in Nietzsches Album, im<br />

Vergleich mit Ortlepp eindeutig zuweisbaren Schriften, die sich jedoch selbst wieder weitreichend<br />

unterscheiden – was aus einer methodologisch nicht vÄllig naiven Analyse nicht auszuklammern<br />

ist – als abweichend. Das lÇÉt sich im einzelnen analysieren, doch eine eindeutige<br />

Diagnose ist aus derartigen Analysen zumindest derzeit noch nicht zu gewinnen, da wichtige<br />

Kontextinformationen (noch) fehlen.<br />

Doch vielleicht hilft wieder einmal schlichtes Nachdenken und etwas Sachwissen bei der<br />

Beurteilung des Status auch dieser beiden rÇtselhaften Texte einige Schritte weiter. So erinnere<br />

ich an meine Rekonstruktion potentieller Motive Ortlepps, sich in Nietzsches Album einerseits<br />

nicht mit vollem Namen einzutragen, andererseits freilich nicht auf einen Eintrag zu verzichten;<br />

vorausgesetzt, meine Ortlepphypothese ist nicht abwegig.<br />

Vielleicht gibt es sogar plausible Motive fÅr Ortlepps [mÄglicherweise z.T. auch mit bestimmten<br />

Absichten demonstrierte] Trunkenheit? Hat er nach dem Scheitern der letzten Rettungsperspektive<br />

– Lehrerberuf nach dem erfolgreichen philologischen Staatsexamen oder<br />

Anstellung in der lÇngst preuÉisch Pforte, aus der mittlerweile ja selbst die liberalen alten<br />

Lehrer wie Steinhardt, Koberstein, Niese, Jakoby II, Keil und Corssen verdrÇngt werden sollten<br />

– sich zweimal die „Correktions=Anstalt Zeitz“ als [gewÇrmtes 537 ] Winterquartier verordnen<br />

lassen? „Als Heimatloser, ohne Mittel, „aufgegriffen und nach der Moritzburg in<br />

Zeitz gebracht“, konnte Ortlepp „als Insasse des Arbeitshauses“ durchaus der Tochter des<br />

SchloÉaufsehers Privatstunden erteilen und „Schreibarbeiten im BÅro“ verrichten 538 . Doch<br />

hÇtte sich Ortlepp seitdem noch als Ernst Ortlepp in Nietzsches – zeitweise in Naumburg deponiertes?<br />

– Album eintragen kÄnnen? So konnte sich Ortlepp, wenn Åberhaupt, in Nietzsches<br />

Album allenfalls pseudonym, mit abgekÅrztem Namen und wohl auch nur mit zumindest partiell<br />

verÇnderter Handschrift eintragen. Dazu kommen die erwÇhnten Implikationen von<br />

„sinnlich fehlen“. Wenn wir auÉerdem noch den deprimierenden Inhalt der 11 Gedichte berÅcksichtigen<br />

wÅrden, verwundert es kaum mehr, daÉ die Schrift dieser traurigen Verse<br />

Schwung vermissen lÇÉt: So gleicht sie der Schrift Ortlepps zwar in vielen seit dessen Selectazeit<br />

sich durchhaltenden Einzelheiten; und in anderer Hinsicht weicht sie ab. Bemerkenswerterweise<br />

liegt die zweite und fremde Schrift in Stoeckerts Valediktion [also Stoeckert<br />

2 ] in ihrer Art zwischen dem Eintrag in Nietzsches Album und Ortlepps Erinnerungen an<br />

Schulpforte. Sie wirkt zwar schwungvoller als der Eintrag – es sind ja Ortleppthemen, die<br />

verhandelt werden –, aber weniger orientiert, fahriger, wenngleich mit zahlreichen lÇngst bekannten<br />

charakteristischen Eigenheiten der Schriften Ortlepps, Eigenheiten, die in Stoeckerts<br />

Schrift [genauer: in Stoeckert 1 ] dieser Valediktion nicht aufzufinden sind.<br />

Doch wieder hÇtten wir es, selbst wenn die hier exponierte erweiterte Ortlepphypothese zutreffen<br />

sollte, mit einem Text zu tun, der ‘eigentlich’ nicht von Ortlepp stammen darf (ob-<br />

Imponierschrift – geschriebene Autobiographie Ernst Ortlepp, die aus dem Zeitraum zwischen FrÅhjahr<br />

und SpÇtherbst 1848 stammen dÅrfte.]<br />

537<br />

[Diesen äberlegungen war d. Vf. in „Dichterschicksals Wolke“? Ernst Ortlepps Weg nach Zeitz.<br />

Halle/Saale, 2001, nachgegangen.]<br />

538<br />

Kurt WÄhe: Ernst Ortlepp. Ein unverdient vergessener Dichter aus unserer Heimat (IX.). In: Mitteldeutsche<br />

Nationalzeitung. Dez. 1937 oder Jan. 1938.<br />

301


wohl gerade er von ihm mit Herzblut geschrieben ist; oder geschrieben worden wÇre). Hat<br />

sich Ortlepp in diesen beiden Texten maskiert? Welcher Art war das VerhÇltnis von Georg<br />

Stoeckert und Ortlepp? Finden wir in anderen Autographen noch Spuren von Ortlepp? Stehen<br />

wir nicht zuletzt dank der Provokation durch diese Miszelle HÄdls mÄglicherweise vor<br />

einer Serie weiterer Entdeckungen des Wirkens und damit wohl auch Einflusses von Ortlepp,<br />

dessen 200. Geburtstag bereits am 1.8.2000 ansteht, mit dem Effekt, daÉ wieder einmal<br />

‘Gott auf krummen Zeilen gerade schreiben’ wÅrde? Eine Formulierung, bei der HÄdl<br />

und der Verfasser kaum an den nÇmlichen ‘Gott’ denken dÅrften.<br />

302


IV. ResÄmee nebst 10 Geboten interpretativer Redlichkeit<br />

So weitreichend, forschungsstimulierend und offen die insbesondere in III. aufgeworfenen<br />

Fragen auch sein oder gegenwÇrtig bleiben mÄgen: Gegenstand der Argumentation der Miszelle<br />

HÄdls war und ist primÇr ein Schriftvergleich, der auf drei Seiten deutscher nebst 27<br />

Zeilen lateinischer Handschrift Georg Stoeckerts basierend, die in Nietzsche absconditus entwickelte<br />

Ortlepphypothese nicht nur als destruiert, sondern sogar als durch eine HÄdlsche<br />

Stoeckertthese – nicht: Hypothese – ersetzt zu haben beansprucht, sich nun aber als desastrÄs<br />

gescheitert erweist.<br />

Um zusammenzufassen: HÄdls BeweisfÅhrung basiert auf folgenden erstaunlichen PrÇmissen:<br />

1. die ‘Ortlepphypothese’ Schmidts ist so wenig berÅcksichtigenswert, daÉ es sich erÅbrigt,<br />

a. auch nur eine Zeile einer Handschrift Ortlepps als Autograph in Augenschein zu nehmen<br />

(geschweige denn diverse Handschriften Ortlepps eingehend zu analysieren) und<br />

b. Schmidts Argumentation im einzelnen zu ÅberprÅfen;<br />

2. die Person, die einen Text in ein Album eintrÇgt, ist mit dem Autor des Textes auch dann<br />

gleichzusetzen, wenn der Inhalt dieses Textes weitestreichende Fragen aufwirft;<br />

3. Es genÅgt, die Falsifikation der ‘Ortlepphypothese’ durch Verifikation einer ‘Stoeckertthese’<br />

a. per Schriftvergleich vorzunehmen, dabei<br />

b. die sechs teils deutsch teils lateinisch teils griechisch geschriebenen Seiten des Eintrags<br />

in Nietzsches Album mit zwei Handschriften Stoeckerts zu vergleichen, die drei Seiten<br />

bzw. 59 Zeilen in deutscher Schrift und zwei Seiten bzw. 27 Zeilen in lateinischer Schrift<br />

umfassen,<br />

c. die griechische Schrift des Eintrags unberÅcksichtigt zu lassen, sich dabei<br />

d. ausschlieÉlich auf den Aufweis von ãhnlichkeiten der Handschriften zu beschrÇnken,<br />

e. diese ãhnlichkeiten groÉzÅgig zu selektieren und<br />

f. nicht minder groÉzÅgig zu interpretieren.<br />

4. An Details ist von besonderer Bedeutung:<br />

a. Stoeckerts Einschulung in Pforte ist auf Michaelis 1858 oder Ostern 1858 datiert; Stoeckert<br />

wurde jedoch erst Ostern 1859 aufgenommen;<br />

b. der durch das untere Seitenende der Handschrift um etwa ein Drittel verkÅrzte Anfangsbuchstabe<br />

der Unterschrift wird trotz zahlreicher Gegenbelege in doppelter Weise fehlinterpretiert:<br />

als B oder L anstatt als E, denn jedes der 11 groÉen B als auch jedes der 15 gro-<br />

Éen L in diesen 6 Seiten Eintrag sieht deutlich anders aus.<br />

c. es wird moniert, Schmidt sei die Angabe der Quellen seiner Kenntnis der Schrift Ortlepps<br />

schuldig geblieben; eine entsprechende Angabe Schmidts einschlieÉlich der Fundstelle<br />

der betreffenden Handschrift Ortlepps wurde nicht berÅcksichtigt 539 .<br />

HÄdls in meinen Augen desastrÄs gescheiterter Falsifikationsversuch meiner ‘Ortlepphypothese’<br />

primÇr per Schriftvergleich klammert also nicht nur eine Untersuchung der Handschrift<br />

Ortlepps, sondern selbst weitestreichende Unterschiede der als identisch behaupteten<br />

Schrift Stoeckerts und des Eintrags in Nietzsches Album durchgÇngig aus, sucht eine intuitiv<br />

zwar einleuchtende und von der Sache her nicht unplausible These riskant und offenbar distanzlos<br />

zu verifizieren (anstatt sie vor jeder Äffentlichen Verlautbarung einer Metakritik in<br />

Form eines Unterschiede der untersuchten Schriften einschlieÉlich der Schrift Ortlepps herausarbeitenden<br />

Falsifikationsversuchs auszusetzen und sich der Risiken jedweder Verifikationsstrategie<br />

bewuÉt zu sein).<br />

539 Vgl. HÄdl S. 444, Anm. 31, mit Schmidt, NaJ II, S. 731 und Anm. 61. [Wie grÅndlich hat HÄdl<br />

diese 48 Seiten mit ihren 76 Anmerkungen gelesen? Wie fixiert auf die eigene Sichtweise oder wie<br />

sicher muÉ man sich seiner einfluÉreichen Kombattanten sein, um derlei Belege Åbersehen und nahezu<br />

alle Recherchen unterlassen zu kÄnnen, auf die es doch angekommen wÇre?]<br />

303


Fazit:<br />

1. DaÉ die SchriftzÅge der zwischen Hans Gerald HÄdl und mir strittigen Texte in Nietzsches<br />

Album SchriftzÅge Ernst Ortlepps sind, wird man mit letzter Sicherheit vielleicht selbst<br />

dann nicht beweisen kÄnnen, wenn Aufzeichnungen Ernst Ortlepps aus den frÅhen 1860er<br />

Jahren identifiziert und in die Analyse einbezogen werden kÄnnten.<br />

2. Die BeweisfÅhrung dieser Miszelle hingegen, daÉ die SchriftzÅge der strittigen Texte in<br />

Nietzsches Album a) nicht SchriftzÅge Ortlepps sind, es b) nicht sein kÄnnen, daÉ c) Ortlepp<br />

auch nicht Autor der betreffenden Texte ist noch d) es sein kann, ist in wohl jederlei<br />

Hinsicht desastrÄs gescheitert; immer vorausgesetzt, wissenschafts(methodo)logische Basiskriterien<br />

werden zugunsten dieses a)-d)-Katalogs nicht ad hoc in ihr Gegenteil verkehrt.<br />

3. Bisherige Schriftvergleiche jedenfalls, denen ich im Gegensatz zu HÄdl allerdings nur eine<br />

untergeordnete Bedeutung zubillige, und auch HÄdls weitere Argumente haben in meinen<br />

Augen die Ortlepphypothese nicht nur nicht zu erschÅttern, sondern eher zu stÇrken vermocht.<br />

Ziehen wir auch inhaltliche Gesichtspunkte heran und klammern wir die Lebensbedingungen<br />

der alten Pforte der frÅhen 1860er Jahre nicht à la HÄdl vorweg aus, so erscheint<br />

die Ortlepphypothese schon recht valide 540 .<br />

Freilich hÇngt hier wie auch sonst bei der Beurteilung der Entwicklung Nietzsches nahezu<br />

alles vom Kenntnisstand, der weltanschaulichen Offenheit und leider auch der positionalen<br />

UnabhÇngigkeit, nicht zuletzt freilich vom Mut der Beteiligten ab, nicht vorweg im Sinne<br />

einer meist deplaziert unangemessenen communis opinio ad hoc sowie in Ausklammerung<br />

relevantester Gegeninstanzen ansonsten zuweilen durchaus hochkarÇtig zu argumentieren.<br />

So erweist sich <strong>Nietzscheinterpretation</strong> seit ihrem Beginn auch als geistige Wasserscheide.<br />

Nicht alle jeweils Beteiligten scheinen sich dessen durchgÇngig bewuÉt zu sein oder sich zu<br />

fragen, auf welcher Seite sie stehen (wollen).<br />

Deshalb abschlieÉend als Wendung ins Positive ein Dekalog bzw. 10 Gebote elementarer<br />

interpretativer Redlichkeit.<br />

Der Dekalog selbst skizziert lediglich Mindestbedingungen problemadÇquaterer Argumentation,<br />

soweit es innerhalb einer auch empirische Fragen nicht ausklammernden <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

darum geht, eine Hypothese zu falsifizieren oder eine alternative Hypothese zu<br />

verifizieren, keineswegs jedoch beinhaltet er bereits ein Ensemble von Anforderungen, dessen<br />

ErfÅlltsein selbst in toto als hinreichende Bedingung der GÅltigkeit einer Falsifikation oder<br />

gar Verifikation anzusehen wÇre:<br />

1. Gebot: Du solltest Texte, die du interpretierst, vollstÇndig und sorgfÇltig lesen.<br />

2. Gebot: Du solltest Hypothesen, die du zu destruieren trachtest, [auch in ihren Details] kennen,<br />

ÅberprÅfen und mit breit gefÇcherter Kompetenz zu beurteilen vermÄgen.<br />

3. Gebot: Du solltest, wenn du selbst elementarste Vorarbeiten der Recherche Åberspringen<br />

willst, weil Du eine kritisierte Hypothese nicht ernst nimmst bzw. dir der Richtigkeit deiner<br />

eigenen These subjektiv sicher bist, dich wenigstens nicht aufkosten des Autors der kritisierten<br />

Hypothese(n) herauszureden suchen.<br />

4. Gebot: Du solltest Sachverhalte selbst dann mÄglichst Åberzeugend belegen und sie nicht<br />

einfachhin nur als belegt behaupten, wenn Du aus TraditionszusammenhÇngen stammst, in<br />

denen bspw. Entscheidungen ex cathedra, eines Generalsuperintendenten oder auch eines<br />

ZK Åblich waren oder sind.<br />

5. Gebot: Du solltest Fakten nicht im Sinne deiner Hypothesen arrangieren und du solltest sie<br />

auch nicht im Lichte deiner Theorie hochgradig selektiv interpretieren.<br />

540 Sollte eine Duplik des Autors der Miszelle erfolgen, auf die ich im nÇmlichen Band der Nietzsche-<br />

Studien nicht mehr zu antworten vermag, so kÅndige ich schon vorweg eine Metakritik auch dieser<br />

Duplik an, die ggf. im Internet unschwer auffindbar sein wird. [Aufpassen: diese Anm. ist von Mitte<br />

Dez. 1999!]<br />

304


6. Gebot: Du solltest Ergebnissen deiner Analyse einer Handschrift und zumal deiner Schriftvergleiche<br />

vor allem dann nicht trauen, wenn deine Textbasis sehr schmal ist und/oder<br />

wenn du an einem ganz bestimmten Ergebnis interessiert bist.<br />

7. Gebot: Du solltest Skribent und Autor eines Textes nicht vorweg gleichsetzen.<br />

8. Gebot: Du solltest dir der Richtigkeit eigener Falsifikationsversuche ebenso wie eigener<br />

Verifikationsversuche schon aus wissenschafts(methodo)logischen GrÅnden niemals vollkommen<br />

sicher sein: errare humanum est.<br />

9. Gebot: Du solltest deine Falsifikationsversuche ebenso wie deine Verifikationsversuche<br />

einer mÄglichst radikalen, subtilen und raffinierten – idealiter auch einer intersubjektiven –<br />

Metakritik aussetzen, bevor du mit den Ergebnissen deiner Untersuchungen an die çffentlichkeit<br />

trittst, denn aliquid semper haeret, und: auch du erwartest argumentative SeriositÇt,<br />

wenn andere glauben, deine Hypothesen destruieren zu kÄnnen.<br />

10. Gebot: Du solltest niemals davon ausgehen, mit konsequenzenreichen Erkenntnissen Anerkennung<br />

zu finden, denn je weiterreichend deine Einsichten, desto betroffener sind nicht<br />

wenige derjenigen, die diese Einsichten schon lÇngst hÇtten gewinnen mÅssen, nun aber<br />

Åber die Macht verfÅgen, ihr Versagen dir dank deiner UnbotmÇÉigkeit heimzuzahlen.<br />

[Dennoch solltest Du nicht aufgeben.] Doch auch SchaumschlÇgerei lohnt sich nicht immer,<br />

denn dann kÄnnen andere noch leichter ihren Mut an dir kÅhlen. 541<br />

541 FÅr groÉzÅgige UnterstÅtzung unserer 1991 aufgenommenen Archivarbeiten haben wir im Goethe-<br />

Schiller-Archiv (GSA), Weimar, vor allem Frau Dr. Roswitha Wollkopf und zahlreichen liebenswÄrdigen<br />

Damen, die wir bisher im GSA als kompetente Archivarinnen kennengelernt haben, zu danken, in<br />

der Landesschule Pforta hingegen vor allem der Leiterin der Bibliothek und des Archivs, Frau Petra<br />

DorfmÄller, dem frÅheren Leiter der Bibliothek und des Archivs, der manch’ wertvolles Skript Åber<br />

schwere Zeiten zu bringen verstand, Herrn Rudolf Konetzny, sowie dem rector portensis Karl BÄchsenschÄtz,<br />

der 1993 darauf bestand, anlÇÉlich der 450jahresfeier des Bestehens der Schule die II.<br />

Nietzsche-Werkstatt Schulpforta der „Nietzsche-Gesellschaft“ Åber Nietzsche in Pforta 1858-1864<br />

unter Leitung des Vf.s durchzufÅhren, der an Fragen der Nietzscheforschung und -interpretation ebenso<br />

wie seine beiden Bibliotheksspezialisten regsten Anteil nimmt, dem ‘Nietzschemobil’ einen Dauerparkplatz<br />

zusicherte und in erheblichem MaÉe nicht nur dazu beitrÇgt, die Landesschule Pforte zu<br />

einer der wichtigen deutschen Internatsschulen zu entwickeln, sondern auch die grandiose Bausubstanz<br />

zu retten.<br />

Ohne die wertvolle Hilfe der Archive in Pforta und Weimar hÇtte ich meine Nietzsche-absconditus-<br />

Argumentation nicht weit Åber die in der HKG vorgelegten Texte Nietzsches hinaustreiben kÄnnen.<br />

Kritische und unkonventionelle <strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung (vor allem freilich Spuren- und Metaspurenlesen<br />

bei Nietzsche) wÜre ohne RÄckgriff auf die Portenser BibliotheksbestÜnde und Weimarer<br />

sowie Portenser Archivalien niemals denkbar gewesen; und sie wird weiterhin ohne Portenser und<br />

Weimarer GroÖzÄgigkeit nicht denkbar sein. [Kursivierungen des letzten Satzes 2012.]<br />

305


Anhang 2<br />

Ein ‘heiÖes’, fÄr <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

besonders konsequenzenreiches Jahr 1994?<br />

Das bereits im Schatten von Nietzsches 150. Geburtstag am 15.10.1994, der, grÅndlich vorbereitet,<br />

den ersten NietzschekongreÉ in Nietzsches alter Heimat ‘sehen’ sollte, liegende Jahr<br />

1994 war gleichermaÉen durch weichenstellende Fortschritte insbes. zugunsten <strong>Genetische</strong>r<br />

Nietzscheforschung und -interpretation gekennzeichnet wie auch leider durch einige Wirrnisse<br />

und Verwerfungen belastet.<br />

Um mit Letzteren zu beginnen: damals hatte der von Erlangen als Nachfolger Volker Gerhardts<br />

an die UniversitÇt Halle/Saale gewechselte bekannte Hegelinterpretet und neuerdings<br />

‘Zeitkehrer’ 542 Manfred Riedel, Vorsitzender der Martin-Heidegger-Gesellschaft, der so gerne<br />

auch noch Vorsitzender der Nietzsche-Gesellschaft (damals noch unter dem Namen „FÄrderund<br />

Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche“ bzw. FFG) geworden wÇre – und, dazu<br />

dritterseits wohl auch ermuntert, das auch erreicht hÇtte, wenn er sich nicht vor, wÇhrend und<br />

nach seinem Abendvortrag 543 auf der II. Jahrestagung im Dez. 1991 auf eine Weise in Szene<br />

gesetzt hÇtte, daÉ ein solcherart sich Verhaltender zumal mitteldeutschen Aktiven als Vorsitzender<br />

nicht zuzumuten war und von einem ansonsten sehr zurÅckhaltenden westdeutschen<br />

Kollegen empÄrt als „Dunkelmann“ bezeichnet wurde –, zumal mit nachdrÅcklicher FÄrderung<br />

durch die damals noch CDU-gefÅhrte Landesregierung von Sachsen-Anhalt versucht,<br />

der FFG den fÅr die Tage um den 15.10.1994 mit langem Vorlauf geplanten ‘groÉen’ Naumburger<br />

KongreÉ, der erstmals die Arbeit der Gesellschaft in grÄÉerem Rahmen in der çffentlichkeit<br />

vorstellen sollte, zu entziehen, um ihn seiner Martin-Heidegger-Gesellschaft als Veranstalter<br />

zu Åbertragen. In Parallelaktion wurde der Vorsitzende der FFG (und spÇter der<br />

Nietzsche-Gesellschaft), Hans-Martin Gerlach, als ‘gewendeter’ ostdeutscher Nietzschefeind<br />

in diversen Medien (Rundfunk, div. Zeitungen) wenig kollegial auf Schlammschlachtniveau<br />

sei es durch Manfred Riedel selbst sei es durch Kombattanten, von denen einige sich vielleicht<br />

geehrt gefÅhlt haben mÄgen, von einem einfluÉreichen Kollegen um eine kleine GefÇlligkeit<br />

gebeten worden zu sein, auf vielfÇltige Weise zu diskreditieren gesucht, was leider nur<br />

in AusnahmefÇllen zurÅckgewiesen werden konnte, teils weil sich nicht sÇmtliche Beiratsmitglieder<br />

zeitnah beteiligten, teils weil bspw. Zeitungen, die nach des Vf.s Empfinden hanebÅchene<br />

Diffamierungen z.T. ‘groÉ aufgemacht’ abgedruckt hatten, sich nun unter dem Vorwand<br />

mangelnder AktualitÇt weigerten, Entgegnungen oder Kritiken aufzunehmen; mit wenigstens<br />

einer 544 rÅhmlichen Ausnahme freilich. Endergebnis dieses Åber Monate sich hinzie-<br />

542 Manfred Riedel: Zeitkehre in Deutschland. Wege in das vergessene Land. Berlin, 1991.<br />

543 Manfred Riedel: Die Perspektive Europas – Nietzsche in unserer Zeit. In: Jahresschrift der FÄrderund<br />

Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e. V. (Hg.): Band II: 1991/1992. Halle, 1992, S. 31-<br />

46.<br />

544 So war bspw. dem Vf. nur in einem einzigen Fall gelungen, wenigstens mit erheblicher VerspÇtung<br />

eine seiner ‘Gerlachverteidigungen’ an die çffentlichkeit zu bringen. Im Feuilleton der Frankfurter<br />

Rundschau war am Samstag, den 19. November 1994, Nr. 269, S. 10, folgender Text zu finden, der als<br />

vielleicht aufschluÉreiches Zeitdokument mit Auslassung eines nicht vom Vf. stammenden Satzes,<br />

einer Fehlerkorrektur und HinzufÅgungen in eckigen Klammern auch dann unverÇndert aufgenommen<br />

sei, wenn dabei nicht jeder Akzent vom Verfasser stammt:<br />

„Zumindest der Neid auf die „Menge Geld“ der so teuer gekauften RÇckener Referenten ist unberechtigt.<br />

Eher eine Fuhre faulender GrabkrÇnze fÅr argumentative Redlichkeit denn einen „Grabkranz fÄr<br />

Nietzsche“ prÇsentiert Reinhardt Knodt in seiner so feinsinnig formulierten Glosse in der FR 20. 10.<br />

1994. Sie stellt nach den Interventionen des Tagesspiegel“ (13.10.) und der WELT am SONNTAG“<br />

(16.10.) das dritte, angesichts des Renommees der FR Çrgerlichste und in der Art ihrer PrÇsentation<br />

306


henden Tauziehens und unwÅrdigen, selbst noch nach dem 15.10.1994 weitergetriebenen<br />

Spiels war dann die vom Naumburger OberbÅrgermeister Dr. Curt Becker, dem Hausherrn<br />

des KongreÉzentrums, ultimativ durchgesetzte weise Entscheidung, daÉ 1. der in Zusammenarbeit<br />

mit dem Naumburger Kulturamt organisierte und von Manfred Riedel geleitete Naumburger<br />

Nietzsche-KongreÉ der Martin-Heidegger-Gesellschaft, an dem auch der Verfasser als<br />

Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der FFG teilnahm, um ggf. im Plenum deren Interessen<br />

zu vertreten, am Samstag, den 15.10., weder mit einer Diskussion Åber Schriften Wolfgang<br />

MÅller-Lauters, dessen Teilnahme Riedel angedeutet hatte – eine lÇngst erfolgte Zusage<br />

zu einem Vortrag in RÄcken hatte MÅller-Lauter leider mit Hinweis auf Gesundheitsprobleme<br />

bisher heimtÅckischste Glied einer neuerlichen Diffamierungskampagne der „FÄrder- und Forschungsgemeinschaft<br />

Friedrich Nietzsche e.V.“ (FFG) dar.<br />

In der Sache ist Knodts Glosse freilich eine Meisterleistung an Desinformation. Kein Çlterer Professor<br />

legte an Nietzsches 150. Geburtstag einen Kranz aufs Grab, sondern der am Abend zuvor einstimmig<br />

wiedergewÇhlte Vorsitzende der FFG erÄffnete, der jugendlich wirkende rot-grÅne sÇchsischanhaltinische<br />

MinisterprÇsident HÄppner, der Naumburger CDU-OberbÅrgermeister Becker, der<br />

PfÄrtner Rektor BÅchsenschÅtz, die FFG und andere lieÉen KrÇnze auf Nietzsches Grab legen. Wichtiger<br />

freilich als KrÇnze und Blumen war wohl das, was am Grabe Nietzsches und wÇhrend der ganztÇgigen<br />

Gedenkveranstaltung „Wie man wird, was man ist“ gesprochen wurde.<br />

Doch wir erfahren anderes: da hat „sogar“ der MinisterprÇsident Sachsen-Anhalts den Kranz der FFG<br />

bezahlt; und so Åberweist „die Regierung“ eine solche „Menge Geld“, daÉ der „ML-Professor“, anstatt<br />

an einem westdeutschen VorgÇnger des MinisterprÇsidenten oder dessen Kabinettskollegen MaÉ zu<br />

nehmen, nÇmlich an sich selbst zu denken, in beschÇmend unbelehrbar sozialistischer Manier alles<br />

verpulvert, nÇmlich nicht nur „einen groÉen Kranz“, sondern auch noch Musik und Referenten<br />

„kauft“. Da haben wir’s: der spendable MinisterprÇsident, ein mit vollen HÇnden Geld ausgebender<br />

ML-Professor, die gekauften Referenten – paÉt das zu den „anerkannt soliden Westprofessoren des<br />

nÇmlichen Absatzes? – und Musiker tummeln sich in der NÇhe von Nietzsches Grab, „das bisher nÅtzliche<br />

alte Westkuratorium“ hingegen „mit Gadamer an der Spitze“ – genauer: die Heideggergesellschaft<br />

unter der FÅhrung Manfred Riedels – hÇlt „einen echt wissenschaftlichen KongreÉ“ in Naumburg<br />

[- wer diesen KongreÉ incl. Raummiete etc. etc. wohl bezahlt hat? -], an welchem auch Reinhardt<br />

Knodt als Referent mitwirkte, dessen „Grabkranz fÅr Nietzsche“ solideste Wissenschaftlichkeit und<br />

hohe [RecherchequalitÇt] belegt.<br />

Und doch! Zumindest Reinhardt Knodts Neid auf die „Menge Geld“ der so teuer gekauften RÄckener<br />

Referenten ist unberechtigt: weder die Kollegen Johann Figl (U.Wien), Peter-Andrå Bloch<br />

(U.Mulhouse/Stiftung Nietzsche-Haus Sils-Maria) oder Klaus Goch (LÅbbecke), der aus seiner Biographie<br />

der Mutter Nietzsches las, noch ich selbst haben [m.W.] Honorar, äbernachtungs- oder Reisekosten<br />

gefordert, erbeten oder erhalten. Ist das so schwer nachvollziehbar?<br />

ãrgerlicher freilich als Knodts konkrete Verzeichnungen sind rufmordartige Spekulationen zur Entstehung<br />

der FFG und zumal zur Person Hans-Martin Gerlachs, dessen Nietzschearbeiten aus DDR-<br />

Zeiten ich kenne. Gerlach war Åbrigens niemals Professor fÅr Marxismus-Leninismus, gehÄrte auch<br />

niemals der Harich- oder Hagerfraktion an, sondern hat in Strapazierung des Rahmens des ZulÇssigen<br />

versucht, in seinen VerÄffentlichungen (einschlieÉlich Raubdrucken westlicher Autoren) sowie in<br />

seinen Veranstaltungen in Halle und als Gastprofessor in Jena westliche Philosophie auf eine Weise zu<br />

prÇsentieren, daÉ zumindest klÅgere HÄrer erschlieÉen konnten, was Gerlach von kommunistischen<br />

Zitationsritualen, die selbstverstÇndlich auch er praktizieren muÉte, und manchem parteioffiziellen<br />

Argument hielt. Das haben mir auf meinen zahlreichen Vortrags- und Archivreisen in Nietzsches<br />

Heimatregion mehrere Personen unaufgefordert erzÇhlt.<br />

Wenn ich nÇmlich hÄrte, daÉ jemand in Halle oder Jena Philosophie studierte, fragte ich nach den<br />

Namen derjenigen Dozenten, bei denen man etwas lernen konnte. Dabei stieÉ ich an erster Stelle auf<br />

den Namen Hans-Martin Gerlach. Deshalb empfinde ich das hier von Reinhardt Knodt Inszenierte als<br />

forcierte FortfÅhrung einer seit Jahren betriebenen Rufmordkampagne, um Gerlachs nach zweimaliger<br />

positiver Evaluierung noch immer ausstehende Wiedereinstellung in Halle, die mancher der Neuberufenen<br />

dort fÅrchtet, oder einen Neuanfang an einer anderen Hochschule zu verunmÄglichen. Und um<br />

die FFG zu diffamieren, sie mÄglichst zu zerschlagen, um in der Pose eines zeitwendenden Ehrenmannes<br />

die Nietzschethematik zu besetzen. Prof. Dr. Hermann Josef Schmidt, Dortmund.“<br />

307


wieder zurÅckgezogen –, noch mit einer zuletzt angesetzten DomfÅhrung (sic!) endete, sondern<br />

bereits am Abend des 14.10. abgeschlossen wurde, so daÉ 2. die Nietzsche-Gesellschaft<br />

die von ihr verantwortete Gedenkfeier am 15.10. in Nietzsches Geburtsort RÄcken ohne TerminÅberschneidung<br />

mit dem Naumburger KongreÉ durchfÅhren konnte, und daÉ 3. Teilnehmer<br />

des durch die Anwesenheit Hans-Georg Gadamers aufgewerteten Naumburger Kongresses<br />

– so wurde wenigstens an einem ganz bestimmten Tag fÅr einige Stunden der Veranstaltungsraum<br />

fast bis auf den letzten Platz gefÅllt – mit von der Stadt Naumburg gecharterten<br />

Bussen nach RÄcken gebracht wurden, um dort an der durch den neugewÇhlten MinisterprÇsidenten<br />

von Sachsen-Anhalt, Reinhard HÄppner, mit einem GruÉwort erÄffneten Gedenkveranstaltung<br />

(u.a. mit zwei VortrÇgen 545 ) in der RÄckener Dorfkirche, in der Nietzsche getauft<br />

und an deren Mauer er beerdigt worden war, teilnehmen zu kÄnnen.<br />

In den zeitlichen Kontext dieses fÅr weniger mainstreamorientierte sowie fÅr genetische<br />

Perspektiven eher offene Nietzscheinterpreten konsequenzenreichen Jahres 1994 gehÄrten<br />

1. das wenigstens mich vÄllig Åberraschende Erscheinen des vollstÇndigen photomechanischen<br />

Nachdrucks der fÅnf WerkbÇnde der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe<br />

(HKGW), 1933-1940, nun als FrÄhe Schriften, MÅnchen 1994, Åbrigens nicht nur in einer<br />

gebundenen, sondern sogar in einer preiswerten dtv-Taschenbuchausgabe in GroÉoktav<br />

und auf krÇftigem Papier, im FrÅhsommer 1994, so daÉ Nietzsches SchÅler- und Studentenjahre<br />

mit 2.300 Druckseiten der wohl wichtigsten frÅhen Texte in der insges. 2.700 Seiten<br />

umfassenden Edition endlich wieder prÇsent waren. Von der Kritischen Gesamtausgabe<br />

hingegen war der erste Werkband, 546 der den Texten und als besondere AttraktivitÇt sogar<br />

545 In der mit einigem zeitlichen Vorlauf ausgegebenen Information waren fÅr den Vormittag angekÅndigt<br />

die VortrÇge von Johann Figl: Geburtstagsfeier und Totenkult. Zur ReligiositÜt des Kindes<br />

Nietzsche. In: Nietzscheforschung, Bd. 2. Berlin, 1995, S. 21-34, und direkt im AnschluÉ Hermann<br />

Josef Schmidt: „Friedrich Nietzsche aus Rácken“, In: Ebenda, S. 35-60, sowie fÅr den Abend mit<br />

Franziska Nietzsche – biographische Szenen. eine Lesung von Klaus Goch, dessen Biographie von<br />

Nietzsches Mutter (Franziska Nietzsche. Ein biographisches Portrait. Frankfurt am Main, 1994) im<br />

Oktober erscheinen sollte. Den Vf. Åberraschend referierte nach einer kleinen Pause noch vor der Mittagspause<br />

Peter Andrå Bloch Åber Nietzsches frÅhe Autobiographie aus dem SpÇtsommer 1858. Im<br />

Druck wurden vorgelegt von Peter Andrå Bloch: „Aus meinem Leben“. Der Selbstportraitcharakter<br />

von Nietzsches Lebensbeschreibungen: Selbstdialog als Selbstbefragung, Ebenda, S. 61-94, und von<br />

Klaus Goch: Franziska Nietzsche in Rácken. Ein Blick auf die deutsch-protestantische Pfarrhauskultur,<br />

Ebenda, S. 107-140. Goch hatte zum Abdruck einen entsprechend modifizierten Text eingereicht,<br />

vermutlich, um äberschneidungen mit seiner Biographie zu verhindern.<br />

546 Die in <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong> diskutierten, nachtrÇglichen Modifikationen des gutachterlich<br />

beurteilten Skripts des Nietzsches Kindertexten gewidmeten ErÄffnungsbandes von KGW I 1,<br />

1995, werfen manche Fragen auf. Dazu nun zwar nicht eine jener VerschwÄrungstheorien, die unglÅcklicherweise<br />

nicht selten bei weitem bessere Argumente fÅr sich haben, was jedoch nur wenige<br />

‘Insider’ abzuschÇtzen vermÄgen (von denen wiederum dazu wohl nur eine MinorÇt bereit ist, sich<br />

entsprechend zu artikulieren), als ihre Kritiker dagegen vorbringen kÄnnen, doch ein Hypothesenensemble,<br />

das Dritte intellektuell nicht unterschÇtzt. Vf. hÇlt nÇmlich fÅr nicht ganz unwahrscheinlich,<br />

daÉ in einer anderen AtmosphÇre als der leider ziemlich aufgeheizten des Sommers 1994 die NÇhe des<br />

Nietzsches Kindertexte bietenden Bands KGW I 1, 1995, zu dem Skript, das dem Vf. vom çFF zur<br />

Begutachtung ca. Mai 1994 zuvor zugestellt worden war, eine wohl deutlich grÄÉere geblieben wÇre.<br />

Und er fragte sich, ob der Herausgeber des Bandes, der sich Åber Jahre erfolgreich bemÅht hatte, die<br />

Balance zwischen vermeintlich verschiedenen ‘Fraktionen’ – genauer, zwischen denen, die befÅrchteten,<br />

Vf. kÄnne mit diversen Initiativen und seinem interpretativen Ansatz ohnedies allzuviel an Eingespieltem<br />

‘durcheinanderbringen’, und bspw. dem Vf. – zugunsten weiteren Erkenntnisfortschritts zu<br />

wahren und deshalb auch die Einladung zu einem Vortrag am 15.10. in RÄcken angenommen hatte<br />

(s.o.), durch die ihm aufgenÄtigten Modifikationen ‘abgestraft’ werden sollte. SchlieÉlich war nicht<br />

davon auszugehen, daÉ d. Vf., dessen Engagement zugunsten einer mÄglichst manuskriptnahen, stim-<br />

308


den zahlreichen Zeichnungen aus Nietzsches Kindheit gelten sollte, leider noch immer<br />

nicht erschienen.<br />

2. das erst gegen manche WiderstÇnde durchgesetzte Erscheinen eines zweiten der Nietzscheforschung<br />

gewidmeten deutschsprachigen Jahrbuchs, der Nietzscheforschung. Eine Jahresschrift,<br />

die seitdem im Berliner Akademie-Verlag erschien. Die Jahresschrift, spÇter „Jahrbuch<br />

der Nietzschegesellschaft“, mittlerweile von Renate Reschke herausgegeben, die<br />

schon seit Band 2, 1995, verdienstvolle Mitherausgeberin war, lag 2011 in bereits 18 stattlichen<br />

BÇnden vor und hat sich auch als ‘Marke’ lÇngst durchgesetzt. ErklÇrte und unerklÇrte<br />

Kooperation mit den Nietzsche-Studien findet erfreulicherweise zwar lÇngst statt,<br />

doch 1993/1994 sah es danach noch nicht aus.<br />

Zur Genese: da einerseits gerÅchteweise zu hÄren war, daÉ verschiedenenorts Åberlegt<br />

wurde, den sehr teueren und brisanteren Themen der Nietzscheforschung und -<br />

interpretation wohl auch deshalb eher ausweichenden Nietzsche-Studien, 1972ff., weil sie<br />

zu einem Zeitpunkt initiiert worden waren, als es noch darum ging, einerseits fÅr ‘Nietzsche’<br />

als ernstzunehmenden Autor und Philosophen akademische Reputation zu gewinnen,<br />

und weil andererseits damals keiner der drei Herausgeber – Mazzino Montinari, Heinz<br />

Wenzel und Wolfgang MÅller-Lauter – in der deutschsprachigen Philosophieszene ‘einen<br />

besonderen Namen hatte’ 547 , ein bei weitem preiswerteres, bescheidener aufgemachtes und<br />

‘aktuelleres’ zweites Jahrbuch an die Seite zu stellen, da aber andererseits sehr schnell<br />

nach çffnung der innerdeutschen Grenzen schmale, primÇr die VortrÇge der Jahrestagungen<br />

bietende Jahresschrift[en] der Fárder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche<br />

e. V. mit Band I: 1990/1991, Bd. II: 1991/1992 und Bd. III: 1992/1993, Halle an der<br />

Saale, 1991, 1992 und 1993 vorgelegt werden konnte[n], setzte sich Vf. mit Nachdruck<br />

und erfreulichem Erfolg dafÅr ein, die bestens vorbereitete Chance zu nutzen, diese Jahres-<br />

migen Nietzscheedition ebenso wie dessen Gutachterfunktion solcherart z.T. unterlaufen wurde sowie<br />

dessen NaK-Interpretationen ebenfalls tangiert waren, diese nachgutachterlichen Modifikationen (s.<br />

oben 3.4.3.1., 3.4.4.2. und 3.6.2.) kommentarlos auf sich beruhen lieÉe; so daÉ das bisherige einvernehmliche<br />

Zusammenspiel zwischen Hg. und Vf. bei wechselseitiger Respektierung der jeweiligen<br />

Sichtweisen unter den nun gegebenen Bedingungen kaum fortgesetzt werden kÄnnte. DaÉ Vf. hingegen<br />

in Ruhe abwartete, bis jemand aus der Åberschaubaren Gruppe derer, die d. Vf. fÅr die Initiatoren<br />

der Modifikationen oder wenigstens deren engste Kombattanten hÇlt, sich irgendwann dann doch ‘interpretativ<br />

aus dem Busch wagt’, war vielleicht so irritierend, daÉ der Versuchung, eine bestimmte<br />

Miszelle prophylaktisch zuerst in engerem Kollegenkreis und spÇter auch im eigenen Hausorgan im<br />

Druck in Verkehr zu bringen, nicht zu widerstehen war.<br />

547 Mazzino Montinari war trotz der Tatsache, daÉ ab 1967 mit der Abteilung IV der KGW die ersten<br />

BÇnde erschienen waren, 1972 noch weitestgehend unbekannt, galt bei den Wenigen, die mit seinem<br />

Namen eine Vorstellung verbinden konnten, als SchÅler des ebenfalls kommunistischen kaum bekannteren<br />

italienischen Philosophiedozenten Giorgio Colli. Heinz Wenzel war der Cheflektor der geisteswissenschaftlichen<br />

Abteilung von de Gruyter. Und Wolfgang MÅller-Lauter, der verantwortliche<br />

Mithg., war langjÇhriger Rektor und Prof. der Philosophie an der Kirchlichen Evangelischen Hochschule<br />

Berlin, dessen Assistent JÄrg Salaquarda von Beginn an die redaktionellen Arbeiten Åbernommen<br />

und die verschiedenen ‘Kontaktlinien’ aufgebaut hatte. Alles in allem damals noch eine recht<br />

heterogene Gruppe nahezu Unbekannter, die sich zu einem im Falle des Gelingens attraktiven, aber<br />

mit minimalen VorschuÉlorbeeren beurteilten und Åberaus kritisch beÇugten Unternehmen zusammengeschlossen<br />

hatten. So gelang es auch nicht, einen bekannteren deutschen Philosophiedozenten als<br />

Mitherausgeber zu gewinnen, und so verwundert auch kaum der starke ‘theologische bzw. theologienahe<br />

äberhang’ der Autoren der ersten BÇnde. Und die Åberaus vorsichtige ‘Politik’ des Jahrbuchs,<br />

die um keinen Preis auch nur den geringsten AnstoÉ erwecken wollte – von Anfang an mit dem Risiko<br />

eines Wattebausch- bzw. ‘rundgelutschten’ Nietzsche (H.-M.Gerlach). Dabei ist es auch in den Erfolgsjahren<br />

ab Mitte der 1980er Jahre bis in die jÅngere Vergangenheit noch weitestgehend geblieben.<br />

Und so hat der Sonderstatus von NaK und NaJ auch damit zu tun, daÉ sich deren Vf. fast schon zum<br />

Entsetzen geschÇtzter Interpreten nicht an sÇmtliche EinschrÇnkungen hielt.<br />

309


schrift zu einem zweiten, alternativen Jahrbuch schon deshalb auszubauen, weil im Falle<br />

des Gelingens solcherart 1. die Nietzsche-Gesellschaft selbst durch mehrfache AttraktivitÇtserhÄhung<br />

gestÇrkt werden sollte, weil 2. auf diese Weise nicht irgendeine Nietzsche-<br />

Sekte, sondern unterschiedliche AnsÇtze seriÄser <strong>Nietzscheinterpretation</strong>, deren Protagonisten<br />

im 1992 gegrÅndeten wissenschaftlichen Beirat ohnedies vertreten waren, das Jahrbuch<br />

bestimmten, und weil 3. das Jahrbuch solcherart auch fÅr bei den Nietzsche-Studien<br />

Engagierte und Publizierende offen blieb, weshalb die Hoffnung bestand, wenigstens mittelfristig<br />

‘zugunsten der Sache’ auch kooperieren zu kÄnnen.<br />

Nach einigen VorgesprÇchen usw. entschied 1992 die Jahresversammlung der Nietzsche-<br />

Gesellschaft nach einer lÇngeren und engagierten Diskussion insbes. zwischen dem kÅnftigen<br />

verantwortlichen Mitherausgeber der Nietzsche-Studien, JÄrg Salaquarda sowie Frederico<br />

Gerratana auf der einen und insbes. Hans-JÅrgen Koch und Vf. auf der anderen Seite<br />

sich mit ÅberwÇltigender Mehrheit zugunsten des Projekts eines eigenen wissenschaftlichen<br />

Jahrbuchs mit dem Titel Nietzscheforschung und beauftragte den Vorstand mit dessen<br />

Verwirklichung.<br />

3. Ebenfalls leider nicht ausschlieÉlich Freude machte und Freunde gewann das 1991 gestartete<br />

Dortmunder-Nietzsche Kolloquium (DNK), das von 1991-1993 jÇhrlich, danach im<br />

Zweijahresrhythmus 1995, 1997, 1999, 2001 und 2003 bis zum Eintreten des Ruhestands<br />

des Vf.s, 1.8.2004, in der Regel 3tÇgig durchgefÅhrt werden konnte und als Schwerpunkte,<br />

wie kaum anders zu erwarten, <strong>Genetische</strong> Nietzscheforschung und -interpretation (I.-III.,<br />

V. und VI. DNK) sowie den ‘kritischen Nietzsche’ (IV, VII. und VIII. DNK) wÇhlte. Entstanden<br />

war es eher zufÇllig – Kollegen wie Joergen Kjaer wollten mit dem Vf. Åber seine<br />

Provokationen in Nietzsche absconditus diskutieren, und dieser schlug vor, Dortmunder<br />

Studierende sollten auch etwas davon haben, nÇmlich erleben, wie aus unterschiedlichen<br />

Perspektiven engagiert und dennoch Åber z.T. brisante Fragen fair argumentiert und diskutiert<br />

werden kann (was von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen dann auch gelungen war)<br />

–, doch der fast ÅberwÇltigende Erfolg schon der ersten nur 1tÇgigen Veranstaltung fÅhrte<br />

schnell zur Entscheidung, in Zusammenarbeit mit der Nietzsche-Gesellschaft fÅr einige<br />

Jahre ein stabileres Diskussionsforum in der westdeutschen Nietzsche-Diaspora so zu installieren,<br />

daÉ im Nebeneffekt fÅr die Startphase der Nietzscheforschung mit einer kontinuierlichen<br />

Serie hochwertiger und themenbenachbarter spezifischer BeitrÇge auch dann zu<br />

rechnen war, wenn die Jahresschrift wenigstens kurzfristig auf einigen Widerstand bspw.<br />

in rezensionsverweigernden wichtigen Åberregionalen Medien stoÉen sollte. So startete das<br />

III. DNK vom 20. bis 22. Juli 1993 mit der Thematik: Von welcher Bedeutung ist Nietzsches<br />

Kindheit (nicht nur) fÄr die <strong>Nietzscheinterpretation</strong>? 548 mit 11 VortrÇgen.<br />

Das Bisherige als ‘NÇhkÇstchen’-Vorspann, um verstÇndlich zu machen, warum die neue<br />

Jahresschrift neben ihrer puren Existenz noch als weitere Provokation empfunden werden<br />

konnte. Auch diese hat ihre Vorgeschichte. Deshalb ein Blick in ein weiteres ‘NÇh-‘ oder<br />

diesmal auch ‘SandkÇstchen’. Da leider die meisten der fÅr den Hauptteil „I. Das Thema:<br />

Nietzsche – Wozu heute?“ des ErÄffnungsbands der Nietzscheforschung fest zugesagten<br />

BeitrÇge nicht eintrafen, die Åbrigen Projekte (nach I., dem Hauptteil, II. die VortrÇge der<br />

jeweiligen Vorjahrestagung, III. die besten BeitrÇge der seit 1992 jÇhrlichen Nietzsche-<br />

Werkstatt Schulpforte sowie IV. Kontroversen, Berichte, Kritiken, Besprechungen usw.)<br />

jedoch noch keinen stattlichen Band ergeben hÇtten, wurde ein erst fÅr den Nachfolgeband<br />

geplanter Themenblock vorgezogen: die vorsorglich lÇngst ‘eingetriebenen’ BeitrÇge des<br />

548 Es erÅbrigt sich fast anzumerken, daÉ dieses III. DNK die m.W. weltweit erste wissenschaftliche<br />

Tagung war, die Nietzsches Kindheit galt. Getestet wurde das Interesse der Teilnehmer und zumal der<br />

Referenten des II. DNK an der Kindheitsthematik bereits 1992 mit dem Vortrag des Vf.s „so anders ...<br />

als alle anderen“. Nietzsches Kindheit(stexte) als SchlÄssel zu Nietzsche? (als BroschÅre: Dortmund,<br />

1992), so daÉ das Thema des III. DNK einvernehmlich festgelegt werden konnte.<br />

310


III. DNK. Ansonsten wÇre – womit dritterseits bereits ‘gerechnet’ wurde – der ErÄffnungsband<br />

nicht rechtzeitig vorzulegen gewesen.<br />

Der freilich Åberraschende Effekt: der ErÄffnungsband dieser Jahresschrift ist der weltweit<br />

erste Band eines wissenschaftlichen Periodikums, das dem bisher weitestgehend unbeachteten<br />

frÄhsten und frÄhen Nietzsche mit sogar knapp 2/3 des Umfangs gewidmet ist, nÇmlich<br />

„Nietzsches Kindheit“ [1844-1858] 549 , S. 135-287, und „Nietzsche in Pforta 1858-<br />

1864“550, S. 289-393.<br />

In diesen Kontext gehÄrt, daÉ<br />

4. in Naumburg wenige Tage vor dem 15.10. das ehemalige Wohnhaus von Nietzsches Mutter<br />

(Weingarten 18), in welchem Nietzsches Mutter 1897 starb, nachdem sie ihren Sohn seit<br />

1890 hingebungsvoll betreut hatte,551 als Nietzsche-Museum und daÉ<br />

549 In Band I, 1994, sind es die BeitrÇge von Johann Figl: Edition des frÄh(est)en Nachlasses Nietzsches<br />

– grundsÜtzliche Perspektiven, S. 161-168; Renate G. MÅller: „Wanderer, wenn du im Griechenland<br />

wanderst“. Reflexionen zur Bedeutsamkeit von „Antike“ fÄr den jungen Friedrich Nietzsche,<br />

169-179; RÅdiger Ziemann: Abschiede – Zu zwei Jugendgedichten Nietzsches, S. 181-189; Rainer<br />

Otte: Die kleinen Gesetzgeber. Was Nietzsche und Freud mit Moses verbindet, S. 191-206; Joergen<br />

Kjaer: Die Bedeutung der BerÄcksichtigung von Nietzsches Kindheit und Jugend beim Interpretieren<br />

seiner Philosophie. Einige typische Beispiele verkÄrzter Nietzsche-Deutungen, S. 207-244; Klaus<br />

Goch: Franziska Nietzsche – VorlÜufige âberlegungen zu einer Biographie, S. 245-259; Rowitha<br />

Wollkopf: Elisabeth Nietzsche – Nora wider Willen? Ein bisher unbekanntes Dokument, S. 261-266;<br />

Ursula Losch und Hermann Josef Schmidt: „Werde suchen mir ein Schwans Wo das Zipfelchen noch<br />

ganz“. Spurenlesen im Spannungsfeld von Text, Zeichnung, Phantasie und RealitÜt beim etwa zehnjÜhrigen<br />

Nietzsche. Eine Anfrage an das Publikum, S. 267-287, und Hermann Josef Schmidt: „Jeder<br />

tiefe Geist braucht die Maske“. Nietzsches Kindheit als SchlÄssel zum RÜtsel Nietzsche, S. 137-160.<br />

Der Vortrag von Pia Daniela Volz: Vom „Alchemisten-KunststÄck. aus Koth Gold zu machen“. Vignette<br />

zum Schreibmetaphorik Nietzsches erschien in Band II, 1995, S. 303-315; der Vortrag von Hans<br />

Gerald HÄdl: Der GeprÄfte / Die Gátter vom Olymp – Graecomanie als Autotherapie? Kritisches zu<br />

H. J. Schmidts Deutung von Nietzsches frÄhem „Gátterdrama“ wurde nicht zum Druck eingereicht.<br />

550 Wiederum erÅbrigt sich fast anzumerken, daÉ auch die II. Nietzsche-Werkstatt Schulpforte (NWS)<br />

die m.W. weltweit erste wissenschaftliche Tagung war, die Nietzsches sechs SchÄlerjahren in Pforta<br />

gewidmet wurde.<br />

DaÉ das bereits mit der II. NWS ermÄglicht wurde, ist dem rector portensis Karl BÄchsenschÄtz,<br />

Gastgeber der NWS, zu verdanken, der 1993 darauf bestand, anlÇÉlich der 450jahresfeier des Bestehens<br />

der Schule die II. NWS der „Nietzsche-Gesellschaft“ Åber Nietzsche in Pforta 1858-1864 unter<br />

Leitung des Vf.s durchzufÅhren, der sich dieser Bitte nicht entziehen wollte, glÅcklicherweise jedoch<br />

den Hallenser Germanisten RÅdiger Ziemann als Co-Piloten gewinnen konnte. SchlieÉlich hatte Vf.<br />

zum Termin dieser Feier am 21.5.1993 pÅnktlich den ersten Band seiner Analyse der Texte und Entwicklung<br />

des portenser Nietzsche mit Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. II. Jugend.<br />

1. Teilband 1858-1861. Berlin-Aschaffenburg, 1993, vorgelegt und ohnedies eine Dankespflicht<br />

abzuleisten. An VortrÇgen konnten aufgenommen werden: Thomas Ahrend, Martin Albrecht, Jan<br />

Hemming, Bernd Kuwalik: Nietzsches Jugendkompositionen der Pfortenser Zeit, S. 313-334; RÅdiger<br />

Ziemann: Das liebe ewige Leben – Zur Brentano-LektÄre des jungen Nietzsche, S. 335-350; Renate G.<br />

MÅller: „De rebus gestis Mithridatis regis.“ – Ein lateinischer Schulaufsatz Nietzsches im Spannungsfeld<br />

zwischen Quellenstudium und Selbstdarstellung, S. 351-363; Hans Gerald HÄdl: Nietzsches GerviniuslektÄre<br />

1862 im Kontext seiner geschichtsphilosophischen Reflexionen in „Fatum und Geschichte“,<br />

S. 365-382; Mirko Wischke: Friedrich Nietzsches Bekanntschaft mit der Romantik in Pforta und<br />

ihr widersprÄchlicher EinfluÖ auf sein ethisches Denken, S. 383-393, und Hermann Josef Schmidt:<br />

Naumburg oder Pforta? Eine Pfártner Verlust- und Gewinnbilanz, S. 291-311, eine Kurzfassung von<br />

NaJ II, S. 673-693.<br />

551 Dazu Klaus Goch: Franziska Nietzsche. Ein biographisches Portrait. Frankfurt am Main, [Oktober]<br />

1994; und Ursula Schmidt-Losch: „ein verfehltes Leben“? Nietzsches Mutter Franziska. Mit ei-<br />

311


5. ebenfalls zum 15.10. in RÄcken die Nietzsche-GedenkstÜtte im alten Pfarrhof erÄffnet werden<br />

konnten, schlieÉlich<br />

6., daÉ in sÇmtlichen VortrÇgen der RÄckener Gedenkveranstaltung am 15.10.1994 wie erinnerlich<br />

das Kind Nietzsche oder dessen nÇchstes Umfeld mit dem Effekt im Mittelpunkt<br />

stand, daÉ in Band II der Nietzscheforschung, 1995, nochmals 120 Seiten, genauer S. 21-<br />

140, dem frÅhsten bzw. dem Kind Nietzsche gewidmet worden waren.<br />

Alles in allem ein wohl beeindruckender Start einer bereits ziemlich ‘breit aufgestellten’ <strong>Genetische</strong>n<br />

Nietzscheforschung und -interpretation?<br />

VerstÇndlicherweise hatte auch d. Vf. zeitnah zu Nietzsche 150. Geburtstag etwas beigesteuert:<br />

7. bereits zum 23. Mai, Karlheinz Deschners 70. Geburtstag, den zweiten Teilband 1862-1864<br />

von Nietzsche absconditus u.a. mit Destruktion prochristlicher Interpretationen des (nach<br />

Aussagen Dortmunder Studierender) sogar in GebetbÅcher gewanderten Gedichts des Oberprimaners<br />

„Noch einmal eh ich weiter ziehe“, PrÇsentation noch unverÄffentlichter<br />

und/oder weithin unbekannter Gedichte usw. usw.<br />

Damit lag rechtzeitig zum 15.10.1994 die erste und sogleich eine umfassende Interpretation<br />

der wohl wesentlichen Texte des Kindes und portenser SchÅlers bzw. aus den ersten<br />

knapp 20 Lebensjahren Nietzsches auf eine Weise vor, daÉ das riesige und bis dahin kaum<br />

visitierte Terrain auf eine Weise erarbeitet worden war, daÉ <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

ihre kaum genutzten Kinderschuhe bereits wieder abgelegt haben dÅrfte, Dritte also<br />

nicht mehr fast am Nullpunkt an- und einsetzen mÅssen; und seitdem etwas haben, woran<br />

sie ‘sich reiben’ kÄnnen? Dazu noch spÇter.<br />

Doch auch dabei blieb es noch nicht, denn auch die wesentlichen Orte, an denen sich das<br />

Kind, der SchÅler und der Student Nietzsche aufhielten, sollten wieder erinnert bzw. vorgestellt<br />

werden. So entstand<br />

8. in Zusammenarbeit mit den beiden erfahrenen Weimarer BÅchermachern Roland Dressler,<br />

dem Photographen, und Rainer Wagner, dem Organisator, ein groÉformatiger Bildband 552<br />

zu Nietzsches frÅhen Lebensstationen mit einigen zuvor unbekannten aufschluÉreichen<br />

Texten sowie einem manches zurechtrÅckenden Nachwort.<br />

Um im Sinne einer Ringkomposition mit einem offenbar erhebliche Irritationen auslÄsenden,<br />

selbst in einer <strong>Nietzscheinterpretation</strong>sszene mit wissenschaftlichen AnsprÅchen ungeplant<br />

zur VerschÇrfung der Situation beitragenden Vorkommnis abzuschlieÉen: Wohl einen<br />

Rubikon hatte d. Vf. spÇtestens mit einer seinerseits eine prachtvolle, medial inszenierte ‘Hinrichtung’<br />

jedoch unterlaufenden spontanen ‘Karlheinz-Deschnerverteidigung’ bereits im<br />

FrÅhjahr 1994 Åberschritten, so daÉ ein mit mancherlei guten WÅnschen, zumal in vereinsinternen<br />

Postillen bejubelt, hoffnungsvoll gestarteter und auch in Åberregionale Medien lancier-<br />

ner Dokumentation und einem Nachwort zur religiásen Sprache im Hause Nietzsche 1844-1850. Aschaffenburg,<br />

2001.<br />

552 Roland Dressler, Hermann Josef Schmidt und Rainer Wagner: Spurensuche 1844-1869. Friedrich<br />

Nietzsches Lebensstationen. Erfurt, 1994. Aus einer Reihe von GrÅnden wie bspw. einer vereinbarungswidrigen<br />

deutlichen Hochstufung des Verkaufspreises von DM 98 auf 128 konnte das Projekt<br />

nicht mehr fortgesetzt werden.<br />

312


ter HeiÉluftballon fast wie von einer Granate getroffen, abstÅrzte. Seitdem ‘rechnete’ d. Vf.<br />

mit entsprechenden Antworten bzw. Gegenreaktionen...<br />

Hintergrund: im SS 1993 erzÇhlten Studierende, wÇhrend meines Forschungssemesters<br />

bzw. im Wintersemester 1992/93 habe an der benachbarten Katholischen Akademie in<br />

Schwerte ein Scherbengericht von ca. 20 katholischen Professoren Åber die drei der Antike<br />

geltenden BÇnde der Kriminalgeschichte des Christentums 553 Karlheinz Deschners 554 stattgefunden,<br />

dessen Ergebnisse im Herbst erscheinen wÅrden. Sie selbst hÇtten an der Tagung teilgenommen<br />

und alle behandelten Kapitel der Kriminalgeschichte seien ebenso wie Deschners<br />

WissenschaftsverstÇndnis, Methoden usw. als unseriÄs in Grund & Boden kritisiert worden.<br />

Es bedurfte keines massiveren Hinweises, daÉ gerade meine wachsten Studierenden erwarteten,<br />

daÉ ‘ihr Prof’ auch in diesem Falle ‘nicht kneift’, sondern sich ein klares Urteil bildet und<br />

dieses auch nicht fÅr sich behÇlt. Da ich Deschners BÇnde kannte, war ich gespannt, was katholischerseits<br />

an Substantiellem dagegen einzuwenden wÇre, zwang mich zu grÅndlicher<br />

LektÅre durch AnkÅndigung einer Rezension, besorgte mir die entsprechende Publikation 555<br />

und nahm sie mir in der Weihnachtspause 1993/94 quasi zur Erholung von meinen NaJ-II-<br />

Korrekturen dann vor. Nachdem ich anfangs wieder einmal nicht so recht glauben wollte, was<br />

ich da schwarz auf weiÉ las, notierte ich mir EinwÇnde, um, von der LektÅre gepackt, meine<br />

Endkorrektur dann doch kurzzeitig beiseitezuschieben. So ergab sich als Ehrenpflicht – zuvor<br />

hatte ich mich noch niemals Åber einen Text Karlheinz Deschners separat geÇuÉert, dessen<br />

Streitschrift Kitsch, Konvention und Kunst (MÅnchen, 1957ff.) fÅr mich als SchÅler 1958/59<br />

ebenso das literaturrelevante „Aha“-Erlebnis darstellte wie 1962 dann Deschners Abermals<br />

krÜhte der Hahn. Eine kritische Kirchengeschichte von den AnfÜngen bis zu Pius XII. (Stuttgart,<br />

1962ff.) das Kirchengeschichtskritische – aus meinen Notizen eine Art argumentativer<br />

SeriositÇtsÅberprÅfung 556 , weil mich schon als SchÅler absichtsvoll schiefe Argumentationen<br />

553 Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums. Band I: Die FrÄhzeit: Von den UrsprÄngen<br />

im Alten Testament bis zum Tod des hl. Augustinus (430). Reinbek, 1986; Band II: Die SpÜtantike.<br />

Von den katholischen Kinderkaisern bis zur Ausrottung der arianischen Wandalen und Ostgoten<br />

unter Justinian I. (527-565), 1988; Band III: Die Alte Kirche. FÜlschung, Verdummung, Ausbeutung,<br />

Vernichtung, 1990; auch als TaschenbÅcher bei rororo.<br />

554 Neben Karlheinz Deschner hatte ich Nak und NaJ „In Dankbarkeit“ meistenteils leider nur noch<br />

dem GedÇchtnis Verstorbener, dreier meiner geistlichen Deutschlehrer, dreier Freiburger Philosophieprofessoren<br />

sowie eines Medizinprofessors, aber auch Karl Raimund Popper, Hans Albert sowie Ernst<br />

Topitsch und vier Nietzscheforschern gewidmet, darunter bei ab 1992 zunehmender Bedenken auch<br />

Wolfgang MÅller-Lauter, der trotz mancherlei BemÅhungen wohl nie verstand, daÉ Vf. ‘sein Erbe’<br />

nicht gefÇhrden, sondern dazu beitragen wollte, auch es in ‘breiter aufgestellter’ Forschungs- und Interpretationskonstellation,<br />

als seinerzeit seitens der Nietzsche-Studien mÄglich und angeboten, weiterzufÅhren<br />

und solcherart zu ‘sichern’.<br />

555 Hans Reinhard Seeliger (Hg.): Kriminalisierung des Christentums? Karlheinz Deschners Kirchengeschichte<br />

auf dem PrÄfstand, Freiburg im Breisgau, 1993.<br />

556 Hermann Josef Schmidt: Das „einhellige“ oder scheinheilige „Urteil der Wissenschaft“? Nachdenkliches<br />

zur SeriositÜt katholischer âberprÄfungsversuche der „Kriminalgeschichte des Christentums“<br />

Karlheinz Deschners. In: Materialien und Informationen zur Zeit (MIZ) XXIII, 1/94, S. 17-24,<br />

und 2/94, S. 35-55; geringfÅgig Åberarbeitet: Das „einhellige“ oder scheinheilige „Urteil der Wissenschaft“?<br />

Nachdenkliches zur katholischen Kritik an Karlheinz Deschners „Kriminalgeschichte des<br />

Christentums“. In: Clara und Paul Reinsdorf: Drahtzieher Gottes. Die Kirchen auf dem Marsch ins 21.<br />

Jahrhundert. Aschaffenburg – Berlin, 1995, S. 140-172.<br />

Nach LektÅre der Kriminalisierung des Christentums hatte sich Vf. entschlossen, als demonstrative<br />

Geste des Respekts als Erscheinungstermin von NaJ II den 70. Geburtstag Karlheinz Deschners zu<br />

nennen; und, wenn er gefragt werden und alles bis dahin gut gehen sollte, 10 Jahre spÇter die Laudatio<br />

zu Karlheinz Deschners 80. Geburtstag am 23.5.2004 zu Åbernehmen (Hermann Josef Schmidt: Transformierte<br />

Jagdleidenschaft: Christentumskritischer AufklÜrer als Mutmacher. In: AufklÇrung und<br />

Kritik. Sonderheft Karlheinz Deschner 9/2004, S. 6-21; sowie in: Hermann Gieselbusch und Michael<br />

313


(bzw. als entsprechend bewertete) empÄrten und ich seitdem mein Scherflein dazu beizutragen<br />

bemÅht bin, derlei in denjenigen Bereichen, in denen ich vielleicht nicht vÄllig unberechtigt<br />

vermute, mich angemessen artikulieren zu kÄnnen, bestmÄglich zu minimieren. U.a. mit<br />

dem nicht zuletzt buschfunkerzielten Kollateralschaden freilich, daÉ in keinem Nietzscheorgan<br />

eine in Details gehende Besprechung von NaJ I oder auch NaJ II erschien. Und eines dem<br />

Vernehmen nach selbst in der engeren Nietzscheszene vielleicht schon seit 1994, spÇtestens<br />

jedoch seit 1998 bzw. je nach Informationsgrad ab 1999 ‘toten’ Verfassers? 557<br />

Soweit auch zu „Rubikon“ und der wohl fÅr alle Beteiligten nicht ganz einfachen Konstellation<br />

des in mancherlei Hinsicht heiÉen und fÅr <strong>Genetische</strong> <strong>Nietzscheinterpretation</strong> in besonderem<br />

MaÉe konsequenzenreichen, da Åberaus erfolgreichen Jahres 1994.<br />

Der Erfolg dieses einen gewissen AbschluÉ z.T. weit zurÅckliegender BemÅhungen darstellenden<br />

Jahres 1994, um nun zusammenzufassen, besteht zum einen wohl darin, daÉ seit<br />

dem FrÅhsommer 1994 erstmals seit vielen Jahrzehnten wieder die in bis dahin bester Edition<br />

vorgelegten Texte des frÅhen Nietzsche der HKGW 1-5, 1933-1940, nun als FrÄhe Schriften<br />

zu sogar beeindruckend gÅnstigem Preis erhÇltlich sind.<br />

Hinzukommt, daÉ, beginnend mit dem Folgejahr, die bisher vollstÇndigste Neuedition der<br />

frÅhen Texte Nietzsches – der Briefwechsel liegt seit 1975 vor – in der Kritischen Gesamtausgabe<br />

Werke mit Band 1 bzw. Nietzsches Texten aus den Naumburger Kinderjahren erschien,<br />

gefolgt von den beiden den portenser Texten der restlichen SchÅlerjahre Nietzsches<br />

bis SpÇtsommer 1864 gewidmeten BÇnden KGW I 2-3, in den Jahren 1999 und 2006. 558 Der<br />

den AbschluÉ der Edition dieser umfassendsten VerÄffentlichung von Nietzsches Texten aus<br />

seiner SchÅlerzeit bildende Nachbericht steht allerdings noch immer aus. Da er eine FÅlle<br />

weiterer Texte (ggf. auf CD) und Informationen enthÇlt bzw. enthalten muÉ, wird nicht nur<br />

Schmidt-Salomon (Hg.): „AufklÇrung ist ãrgernis...“. Aschaffenburg, 2006, S. 112-127, sowie Internet).<br />

557 Vgl. dazu die obige Anmerkung 22. Aus etwas Distanz gesehen eine schon recht bemerkenswerte<br />

Konstellation. Da haben wir 1. mit Friedrich Nietzsche einen deutschsprachigen Philosophen des<br />

19ten Jahrhunderts, der, wie Arthur Schopenhauer, Ludwig Feuerbach und viele andere wohl wÇhrend<br />

seiner gesamten denkerischen Entwicklung konsequenter Christentumskritiker, seit mehr als einem<br />

Jahrhundert Gegenstand einer Flut unterschiedlichster Interpretationen bis hin zu Bestsellern ist. Und<br />

wir haben 2. einen auch deshalb primÇr als Nietzscheinterpreten verÄffentlichenden, aufklÇrungsorientierten<br />

und weltanschaungskritisch interessierten Verfasser, weil in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> wohl<br />

noch hÇufiger desastrÄs ‘argumentiert’ wird als anderenorts, der sich 3. nach Jahrhunderten massivster<br />

Kritik christlicher Autoren an Wie-auch-immer-Abweichenden erlaubt, eine argumentative SeriositÇtsÅberprÅfung<br />

einer VerÄffentlichung von ca. 20 UniversitÇtsprofessoren durchzufÅhren, die an einer<br />

Katholischen Akademie drei BÇnde einer Monographie eines bekannten, sich vielfach auf Nietzsche<br />

berufenden Kirchenkritikers in Äffentlichen VortrÇgen als unseriÄs aufzuweisen bemÅht waren und<br />

ihre Referate in ggf. Åberarbeiteter Form nun im Druck vorlegten. U.a. mit dem Effekt, daÉ d. Vf. sich<br />

zwar nicht erinnert, in dieser Angelegenheit jemals mit einem Gegenargument konfrontiert worden zu<br />

sein, durchaus aber mit einigen in der Regel spontanen ãuÉerungen wie der in Anm. 22 Zitierten. Was<br />

besagt derlei jedoch Åber Grade der ‘NietzschenÇhe’ dominanter interpretativer Richtungen? Gibt es<br />

neben wenigen einige KritikansÇtze Nietzsches eher partiell bestÇtigenden Interpretationen auch viele,<br />

die KritikansÇtze Nietzsches eher in demjenigen Sinne unfreiwillig insofern bestÇtigen, als sie in deren<br />

Objektbereich fallen?<br />

558 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Aufzeichnungen. Anfang 1852 – Sommer 1858. Bearb. v. J.<br />

Figl. Unt. Mitarb. v. H. G. HÄdl. In: ders., Kritische Gesamtausgabe. Werke I 1. Berlin/New York,<br />

1995; Nachgelassene Aufzeichnungen. Herbst 1858 – Herbst 1862. Herausgegeben von Johann Figl.<br />

Bearbeitet von Hans Gerald HÄdl. Unter Mitarbeit von Ingo Rath. In: Ebenda, Werke I 2, Ebenda,<br />

1999, und Nachgelassene Aufzeichnungen. Herbst 1862 – Sommer 1864. Herausgegeben von Johann<br />

Figl und Hans Gerald HÄdl. Bearbeitet von Hans Gerald HÄdl und Ingo Rath. In: ders., Ebenda, Werke<br />

I 3, Ebenda, 2006.<br />

314


der Wert der KGW I 1-3 erst dann in vollem MaÉe beurteilbar sein, wenn er endlich vorliegt,<br />

sondern auch mancher Interpretation, wenn dazu die damit erstmals vollstÇndig vorgelegten<br />

noch erhaltenen – es ist viel verschwunden und/oder auch beseitigt worden – Texte Nietzsches<br />

sei es nicht mehr passen sei es Åberraschend bestÇtigend sei es neue Perspektiven erÄffnend<br />

ausfallen sollten.<br />

Zum anderen bot wohl erst die GrÅndung und Durchsetzung des zweiten der Nietzscheforschung<br />

dienenden gleichnamigen Jahrbuchs eine gewisse ‘Grundsicherung’ eines unverzichtbaren<br />

MaÉes an interpretativer auch weltanschauungskritisch offener PluralitÇt bei gleichermaÉen<br />

gesicherter QualitÇt. Eine leise, freundschaftlich ausgetragene quasi innerfamiliÇre<br />

Konkurrenz dieser beiden Forschungsorgane, der Nietzsche-Studien, 1972ff., und der Nietzscheforschung,<br />

1994ff., kann der Nietzscheforschung sowie -interpretation zumindest solange<br />

fÄrderlich sein, so lange keine ‘Interpretationsschule’ in beiden ‘Organen’ zu dominieren oder<br />

Åbergewichtig EinfluÉ auszuÅben vermag.<br />

Wird dann noch berÅcksichtigt, daÉ einige Buchreihen der Publikation von Ergebnissen<br />

der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> ebenso Nietzscheforschung und -interpretation zu dienen suchen<br />

wie EinzelverÄffentlichungen oder VerÄffentlichungen kleinerer Arbeiten bspw. in diversen<br />

Festschriften, SammelbÇnden oder Zeitschriften – von thematisch engeren Fachzeitschriften<br />

bis zu AufklÜrung und Kritik, ebenfalls 1994 gegrÅndet, als Zeitschrift der Gesellschaft fÅr<br />

kritische Philosophie –, dann bestÇtigt sich der Eindruck, daÉ spÇtestens seit 1994 das ‘Feld’<br />

groÉzÅgig bestellt wurde, das gezielte Weiterarbeit auch im Bereich <strong>Genetische</strong>r Nietzscheforschung<br />

und -interpreation ermÄglichen und erleichtern wÅrde, wenn daran ernstliches und<br />

qualifziertes Interesse bestÅnde.<br />

Ob und inwiefern sich diese Hoffnung in den mittlerweile knapp 20 Jahren erfÅllt hat, mÄgen<br />

Dritte beurteilen. DaÉ der Verfasser auch hierzu seine eigenen Ansichten und äberlegungen<br />

leider wieder fast in Sondervotenstatus hat, dÅrfte kaum Åberraschen.<br />

315


Anhang 3<br />

Ein generell forschungs- und interpretationskritisches Problem<br />

oder Wie umgehen mit Bluff?<br />

„Am hÇufigsten wird das Publikum von literarischen Platzpatronen getroffen – und oft<br />

mitten ins Herz.“ Karlheinz Deschner, 1994. 559<br />

Einverstanden. Doch kÇme es in Philosophie und Wissenschaft nicht eher auf’s Hirn an?<br />

„Es kÄnnte sein – ich will nicht sagen, daÉ es so ist –, daÉ die Unkorrektheit, daÉ Tricks<br />

und die Notwendigkeit, sich grÄÉer zu machen, als man ist, zum gegenwÇrtigen System<br />

Wissenschaft gehÄren. Falls das so ist, wÇre es hilfreicher, offen darÅber und nicht von<br />

fehlender Ethik wie von einer Krankheit zu reden, sonst kuriert man bestenfalls die Symptome.“<br />

Maike van der Velde, 1998. 560<br />

Also reden wir „offen darÅber“: wenn „Unkorrektheit [...] Tricks und die Notwendigkeit,<br />

sich grÄÉer zu machen, als man ist, zum gegenwÇrtigen System Wissenschaft gehÄren“<br />

sollten, darf sich das fÅr die betreffenden Wissenschaft(lichkeit)ssimulanten nur solange<br />

‘rechnen’, solange wir ein derartiges „System Wissenschaft“ akzeptieren und unsererseits<br />

fÄrdern. Ansonsten verbleibe derlei Stil in ‘Disziplinen’, die ihn tolerieren.<br />

Bereits in evolutionsgeschichtlicher Perspektive ein weit zurÅckreichendes PhÇnomen, kÄnnen<br />

bei spielenden Wirbeltierbabys von VÄgeln bis zu Wildschweinen, geschweige denn bei<br />

Primaten, raffiniert wirkende Finten, Bluffstrategeme usw. ebenso beobachtet werden wie bei<br />

menschlichen Kindern, die oft bereits in differenzierten Rangfestlegungs- bzw. Hackordnungsprozeduren<br />

ihre ‘PositionskÇmpfe ausfechten’. Doch bei unseren Kindern bleibt es dabei<br />

bekanntlich nicht. Ganze ‘Disziplinen’ bzw. deren Personal ‘leben’ von der Inszenierung<br />

derartiger Prozeduren und der solcherart ausgelÄsten Showeffekte prÇchtig. Solange den Beteiligten<br />

selbst sowie Dritten jeweils klar ist, worum es sich handelt, und spielerische Elemente<br />

kultiviert sowie genossen werden kÄnnen, dÅrften hier nur moralisch Bornierte schwerer<br />

wiegende EinwÇnde erheben.<br />

Doch zum expliziten SelbstverstÇndnis hoffentlich aller Wissenschaften gehÄrt seit Jahrzehnten,<br />

daÉ „Wissenschaft“ u.a. dadurch definiert ist, daÉ Bluffstrategeme zwar zu ihrem<br />

Objektbereich gehÄren kÄnnen und wohl auch sollten, niemals jedoch zu ihrem legitim eingesetzten<br />

Methodenarsenal. IrrtÅmer, fehlerhaftes Verhalten etc. gehÄren zwar zur conditio humana<br />

(die selbstverstÇndlich auch fÅr den Vf. gilt), sollten im intersubjektiven und auf rigoroseste<br />

Selbst- wie Fremdkontrolle verpflichteten Wissenschaftsspiel nicht nur ‘um fast jeden<br />

Preis’, sondern tatsÇchlich ‘um jeden Preis’ vermieden werden. Entsprechende Methodologien<br />

sind lÇngst entwickelt und auf jeweils fachspezifische Besonderheiten hin optimiert worden.<br />

Auch deshalb wirkt unterstellter Wissenschaftsbetrug selbst dann in der Regel noch ‘tÄdlich’,<br />

wenn der Beschuldigte mit der in solchen FÇllen unabdingbaren VerspÇtung nachzuweisen<br />

vermag, daÉ die mehr oder weniger deutlich formulierte Betrugsdiagnose unberechtigt erstellt,<br />

verÄffentlicht, nicht selten verkÅndet oder ausposaunt wurde. Auch deshalb sind sublim<br />

formulierte BetrugsvorwÅrfe lÇngst keine Seltenheit mehr, werden auch im vermeintlich so<br />

erkenntnisfixierten Wissenschaftsspiel als hocheffektive und leider vergleichbar gering risikobehaftete<br />

Infektionswaffe eingesetzt, weil damit Klimata nachhaltig belastet, wenn nicht<br />

559 Karlheinz Deschner: ãrgernisse. Aphorismen. Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 14<br />

560 Etwas frische Luft wird nicht schaden. Eine Clearingstelle fÄr die europÜische Wissenschaft. Die<br />

europÜische Wissenschaftsbeauftragte [Maaike van der Velde] im GesprÜch mit Hazel Rosenstrauch.<br />

In: Gegenworte. 2/1998: Lug und Trug in den Wissenschaften. 13 AnnÇherungen. Berlin, 1998, S. 38;<br />

ein Heft, dessen LektÅre sich auch noch aus der Distanz eines vollen Jahrzehnts lohnt.<br />

316


vergiftet – und ggf. ganze Wissenschaftsfelder als wenig seriÄs ‘bearbeitet’ behauptet und<br />

damit als fÅr JÅngere wenig attraktiv diskreditiert – werden kÄnnen. Und da wohl jeder Wissenschaftsorientierte<br />

und auch nur einigermaÉen -betriebsinformierte lÇngst weiÉ, wie gefÇhrlich<br />

es ist, an bestimmte Tabus zu rÅhren, welche Schlammschlachten dann ausgelÄst und<br />

bereits vorweg nominierbare ‘Spezialtruppen’, die auf derlei Gelegenheiten zu warten scheinen,<br />

‘in Einsatz gebracht’ werden kÄnnen und – fast bewettbar – dÅrften, macht ‘man’ in der<br />

Regel um derlei unerfreuliche Themen vorsichtshalber ‘einen ganz, ganz weiten Bogen’. Ist<br />

es nicht so?<br />

Und nun sogar schon in der äberschrift die Frage an werte Leser: „Wie umgehen mit Bluff“?<br />

Die damit angesprochene Problemkonstellation, ein Ensemble leider allzuselten analysierter,<br />

weil einerseits als zwar ubiquitÇr empfundener doch schwer bestimmbarer PhÇnome, andererseits<br />

freilich den derlei Thematisierenden einem kaum vermeidbaren Bombardement von<br />

VorwÅrfen wie Verleumdung usw. aussetzend, kÄnnte 561 mit vermutlich weit hÄherem Recht<br />

im Anhang einer anderen – sei es einer Nietzsche- oder sonstigen Interpretation eines anderen<br />

Autors geltenden – Metakritik bspw. des Verfassers oder Dritter platziert werden. Damit soll<br />

angedeutet sein, daÉ es sich es sich selbst im Falle eines eindeutigen – „unleugbar“? – stichhaltigen<br />

Aufweises vielleicht sogar mehrfachen Bluffs bspw. in Der alte Ortlepp war es Äbrigens<br />

nicht, 1998f., und/oder Der letzte JÄnger des Dionysos, 2009 – worum sich Vf. jedoch<br />

ausdrÅcklich nicht bemÅhte, da er sich darauf beschrÇnkte, argumentative Inkonsistenzen,<br />

Defizite der Recherche und sogar Denkfehler nachzuweisen sowie ggf. eher irritiert zu kommentieren<br />

–, keineswegs um ein fÅr diese Abhandlungen spezifisches oder gar charakteristisches<br />

auch nur nietzscheinterpretationstypisches Problem handeln wÅrde, sondern leider um<br />

eine Problematik, mit der es sachorientierte Kritiker, die ausdrÅcklich von denen unterschieden<br />

sein sollen, die selbst Kritik noch instrumentalisieren, primÇr um ihre eigene Person inszenieren<br />

zu kÄnnen oder ‘bestimmten Herren zu dienen’, anstatt den jeweils besseren Argumenten<br />

qualifiziert ‘beizuspringen’, wohl umso hÇufiger zu tun haben dÅrften, je mehr die<br />

Zahl derer zunimmt, die eine wissenschaftliche ‘Laufbahn’ anstreben und damit angesichts<br />

der zunehmend exzessiven – internetangeheizten und google-usw.-gefÄrderten – Publikationsflut<br />

gezwungen zu sein scheinen, auf der jeweils aktuellen, fÅr ‘aktuell’ gehaltenen oder in<br />

bestimmten Enklaven auch ‘angesagten’ Wellen nicht nur mitzuschwimmen, sondern wenigstens<br />

kurzzeitig so ‘obenauf’ zu sein, daÉ ‘man’ sich ‘den Namen’ fÅr ein Weilchen sogar<br />

‘merkt’.<br />

Nun ist wohl nicht nur dem Verfasser seit Jahrzehnten bspw. in <strong>Nietzscheinterpretation</strong>en<br />

aufgefallen, daÉ neben (1) verdecktem und Erkenntnisse umetikettierendem Paraphrasieren,<br />

das trotz mancher Produktpiraterie dem Erkenntnisfortschritt noch nicht schaden muÉ, wenn<br />

paraphrasierte Informationen weder spezifisch selektiert noch trivialisiert werden, (2) zumal<br />

sprachliche meist rhetorisch stimulierte Innovationen dem Erkenntnisfortschritt fast uneinholbar<br />

so vorauszueilen scheinen, daÉ, wenn man gelernt hat, modernistischen oder sonstigen<br />

561 „kÄnnte“ zwar, doch „kann“ nur bedingt. So wie d. Vf. einiges bspw. an Dank, beginnend mit der<br />

langen Liste schon zu Beginn, bereits in Nietzsche absconditus. Kindheit hineinpackte, was dort in<br />

dieser Form niemals aufgenommen worden wÇre, wenn nach einem gesundheitlichen Zusammenbruch<br />

1985ff. die Prognosen anfangs besser gewesen wÇren, noch ein hÄheres Alter zu erreichen, so stellt<br />

sich in spÇteren Jahrzehnten auch ihm immer deutlicher die Frage, wie lange es noch mÄglich sowie<br />

sinnvoll ist, die Thematisierung bestimmter Probleme in der Hoffnung auf erfolgreichere Weiterbearbeitung<br />

zeitlich hinauszuschieben. ãlterwerden verlangt eine komplizierte Balance zwischen vielen<br />

kleinen Toden (wie bspw. auch einem Abschied von jahrezehntelang erwogenen, z.T. sogar ‘schon<br />

erheblich vorangetriebenen’ Projekten) und andererseits manchen stillen Freuden. Und irgendwann<br />

gewinnt nahezu jeder noch ausformulierte Text – vielleicht sogar zur Verwunderung seines Verfassers<br />

– u.a. auch den Charakter eines unerklÇrten Testaments.<br />

317


konfusionistischen Sprachaufputz sorgsam zu entfernen und auf mÄglichst klare Informationen<br />

zu achten, der Eindruck kaum mehr abzuweisen ist, die Kunst eloquenter (sowie ggf.<br />

kleptomaner) Paraphrase sowie ‘sprachlicher AufrÅstung’ wÅrde die QualitÇt substantieller<br />

Aussagen leider bei weitem Åbertreffen. So begegnet man auch im ‘Einzugsbereich’ von<br />

Nietzscheforschung und -interpretation ‘auf der Informationsebene’ leider weit Äfter teils enthusiastischen<br />

teils eher verschÇmten AnhÇngern der Nymphe Echo, die bspw. daran zu erkennen<br />

sind, daÉ Aussagen und Wertungen von Nietzsches Schwester in ihren Nietzschebiographien<br />

von 1895 und/oder 1912 vorgestellt, in der Regel zwar nur aus dritter oder vierter<br />

Hand doch von Interpretengeneration zu Interpretengeneration quasi als fama perennis weitergereicht,<br />

in je aktueller Diktion verpackt – in Na erlaubte sich Vf. die Formulierung „Legionen<br />

der NachschwÇtzer“ – und/oder argumentativ unerreichbar paraphrasiert werden, als<br />

Autoren, die selbsterarbeitetes Detailwissen mit tiefenschÇrferen Interpretationen sowie geistig<br />

freieren, positional weniger gebundenen Sichtweisen sowie Perspektiven nicht nur zu verbinden<br />

‘wissen’, sondern das dann auch belegbar tun.<br />

äber die Genese und den zuweilen erstaunlichen Erfolg derartiger ‘Phlyarêa’-<br />

Produktionen 562 mag man sich unterschiedliche Gedanken machen. Deutlich dÅrfte jedoch<br />

sein, daÉ in Weltanschauungen, Ideologien und insbes. in Åber z.T. jahrtausendealte apologetische<br />

Traditionen verfÅgenden monotheistischen Religionen der Zwang zu mÄglichst artifiziellen<br />

apologetischen BemÅhungen umso stÇrker auszufallen scheint, je rigoroser in der Sache<br />

ohnedies unhaltbare WahrheitsansprÅche aufrecht erhalten werden sollen; und je hochrangiger<br />

Argumentationen ‘der Gegenseite’ sind. Ein wohl kaum Åberbietbares und vielleicht<br />

nicht ganz so provokatives Lehrbeispiel bietet hier zumal im griechischen Kulturraum v.u.Z.<br />

die in Åberschaubaren Jahrzehnten geleistete erfolgreiche Auseinandersetzung kritischer Philosophie<br />

mit antiken Religionen 563 bis zur bereits in der sog. ‘Sophistik’ (2. HÇlfte des 5. Jh.s<br />

v.u.Z.) diskutierten Frage der Genese spezifischer religiÄser Auffassungen sowie die sich anschlieÉende<br />

mythische und sich spÇter wieder in den Vordergrund drÇngende massive religiÄse<br />

‘Reinfektion’ von Philosophie – beginnend spÇtestens bei Pythagoreern, Åber Empedokles,<br />

Platon bis zum Neuplatonismus zunehmende Dominanz gewinnend, vorbereitet und z.T. gestÅtzt<br />

u.a. durch die Entwicklung ‘hermeneutischer’ Interpretationskunst zahlreicher OrakelstÇtten<br />

beiderseits der ãgÇis, deren Prosperieren angesichts starker Konkurrenz vom Erfolg<br />

interpretativer, suggestiver und sonstiger ‘Techniken’ abhing. Nun lÇÉt sich zumal an spÇtantiken<br />

Texten wohl deutlich erkennen, daÉ und inwiefern es ‘religiÄser Deutungskunst’ zunehmend<br />

zu gelingen schien, alle Bereiche nicht nur von Philosophie, sondern auch von Wissenschaften<br />

so zu imprÇgnieren, daÉ Åber Jahrhunderte im Bereich der sieben und aller weiteren<br />

KÅnste nicht nur die Dominanz von feuer- und schwertgestÅtzter sowie -geschÅtzter jeweiliger<br />

Theologie unstrittig war und blieb, sondern spezifisch ‘theologische Argumentationsmuster’<br />

auch dann consensualen Status gewannen, wenn basale Kritik ebenfalls von Theologen<br />

– anderweitig Gebildete gab es innerhalb des westlichen christlichen Abendlandes jahrhundertelang<br />

offenbar nicht; hÇtten sie sich artikuliert, wÇren wohl auch sie ad maiorem dei<br />

gloriam ausgemerzt worden – entwickelt worden war. Alles in allem mit dem Effekt, daÉ<br />

nach Eindruck des Vf.s noch gegenwÇrtig auch dann von einer quasitheologischen,<br />

mainstreamkonformen und leider kaum erkannten interpretativen Komponente (wenn nicht<br />

562 Vor Jahren plante Vf. unter dem Titel Phlyaråa, altgr. „unnÅtzes GeschwÇtz, dummes Zeug“, sich<br />

ganz bestimmte ‘Theorien’ usw. vorzunehmen. Kann er nun auch dieses Staffelholz an einen jÅngeren<br />

AufklÇrungsorientierten weitergeben? Es muÉ ja kein Nietzscheinterpret sein.<br />

563 Vgl. schon Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens<br />

von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. Stuttgart, 2 1942; der Zeitraum der gesamten Antike<br />

ist thematisiert in: Griechische Geistesgeschichte von Homer bis Lukian in ihrer Entfaltung vom<br />

mythischen zum rationalen Denken dargestellt von Wilhelm Nestle. Stuttgart, 1944 bzw. 2 1956, ein<br />

noch immer faszinierendes Werk, hierzulande in vergleichbarer Klarheit bisher leider ohne mir bekannt<br />

gewordenen auch nur annÇhernd gleichwertigen Nachfolger.<br />

318


sogar Dominanz) in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> auszugehen sein dÅrfte, wenn dieser Sachverhalt<br />

wohl nur wenigen Interpreten klar bewuÉt ist, von denen sich dann freilich nahezu jeder<br />

hÅten dÅrfte, seine Einsichten auch nur andeutungsweise erkennen zu lassen.<br />

Ob etwas und was das bisher Skizzierte mit Bluff zu tun haben mag? Apologetische Strategeme<br />

waren und sind in der Regel zumal dann in unterschiedlichem Grade ‘bluffgesÇttigt’,<br />

wenn sie intellektuell nicht allzu hochrangig ausfallen. Zwar ist das EinÅben apologetischer<br />

Techniken und Arrangements mit BluffÅbungen nicht identisch, davon aber auch nicht in jederlei<br />

Hinsicht unabhÇngig. SchlieÉlich lernt wohl jedweder VerkÇufer ebenso wie wohl jeder<br />

Prediger schon im Grundkurs, daÉ Eindruckmachen 564 (auch zwecks Karriereselektion) unverzichtbar<br />

ist: rhetorisch aufgeladene Kunst fast frei kreierbarer ‘Argumente’ dÅrfte nirgendwo<br />

vergleichbar subtil entwickelt worden sein als in diversen zumal theologiegeprÇgten<br />

‘Hochreligionen’. 565 Nietzsche hat auch diese Art von ‘Denke’, die ihre Kanzel der RechtglÇubigkeit,<br />

von deren HÄhen aus sie jeweils deklamiert, stÇndig mit sich schleppt, von Kindesbeinen<br />

an gelernt, ‘studiert’, hat nicht nur seinen Vater dabei beobachtet, seine Gemeinde<br />

von der Kanzel aus bis zu wechselseitiger ErschÄpfung stundenlang ‘zu Åberzeugen’, war von<br />

ihr infiziert, versuchte, von ihr frÅhzeitig loskommen, wurde einer ihrer schÇrfsten Kritiker<br />

(und blieb in vielfacher Hinsicht eines ihrer renommiertesten und bevorzugten Opfer). Diese<br />

wohl oft eher intuitiv wahrgenommene Konstellation provozierte zu Auseinandersetzungen<br />

zumal Betroffener auf unterschiedlichsten Niveaus und mit unterschiedlichsten Argumentationen.<br />

So ist weder verwunderlich, bei Nietzsche selbst bluffartigen Strategemen zu begegnen<br />

– spÇtestens beim portenser Alumnen –, als auch bei Interpreten, die zuweilen ziemlich ambivalent<br />

einerseits Nietzsches Texte als eigene Emanzipationshilfe durchaus schÇtzen und zu<br />

nÅtzen wissen, andererseits freilich die Brisanz nietzscheschen Fragens und Destruierens, das<br />

bei weitem origineller und profunder sein dÅrfte als seine oft allzu zeitgemÇÉen und zuweilen<br />

plakativen Antworten, gerne in der Tendenz so abzudÇmpfen suchen, daÉ Nietzsches Fragen<br />

und Destruktionen ‘die Spitze genommen’ und daÉ ihm bspw. nur zugestanden wird, bestenfalls<br />

nach seiner Konfirmation am 10.3.1861 christentumskritischer geworden zu sein. Zumindest<br />

fÅr einen bspw. fallibilistisch orientierten Kritiker, der derlei Denkrestriktionen nicht<br />

(mehr) unterworfen ist, sie nicht mehr ‘nÄtig’ hat, erscheint deshalb so manches, was im Horizont<br />

des hier Skizzierten mÄglicherweise sogar ‘gut gemeint’ ist, vor allem dann von Bluff<br />

nicht mehr trennscharf unterscheidbar, wenn die betreffende Pseudoargumentation 566 auf hohem<br />

Rosse einhertrabend semantisch hochambitioniert prÇsentiert wird... DaÉ gerade bei ei-<br />

564 Eines der Risiken von Autoren, in deren frÅher Sozialisation das Erlernen (und zumal der rasche<br />

Erfolg) von ‘Eindruckmachen’ und ggf. von Bluff quasi zum Grundstudium gehÄrte, besteht wohl<br />

darin, allzugut verinnerlicht zu haben, wie leicht die wohl meisten Personen ‘hinter fast jedwedes<br />

Licht zu fÅhren’ sind, wenn man auch nur einigermaÉen versteht, entsprechend aufzutreten. Sollten<br />

derlei FrÅhgeprÇgte spÇter im Wissenschaftsbereich mitspielen, dÅrften sie nicht selten der Versuchung<br />

erliegen, mehr auf PlausibilitÇt als auf argumentative QualitÇt zu setzen – im fast sicheren und<br />

leider allzuoft bestÇtigten Wissen, sich damit besser ‘durchsetzen’ zu kÄnnen als bspw. mit Argumentationen,<br />

deren Verfasser ihre äberlegungen in vielleicht allzu faktengesÇttigter oder auch anspruchsvoller<br />

grammatischer Form vorlegen, weil sie die mit den Åblichen AnderthalbzeilensÇtzen verbundenen<br />

hÇufigen Trivialisierungen ebenso ablehnen wie die damit implizierte Zumutung an den Leser, den<br />

exponierten Gedankenzusammenhang aus eine FÅlle parataktisch angeordneter SÇtzchen jeweils erst<br />

selbst (‘ins differenziert Vertikale’) rekonstruieren zu mÅssen.<br />

565 Anregungen, etwas klarer zu sehen, bietet bspw. Hans Kilian: Die Logik der Nicht-Logik. Wie Wissenschaft<br />

das PhÜnomen Religion heute biologisch definieren kann. Aschaffenburg, 2010.<br />

566 Wahrscheinlich gelingt nicht nur dem seit Jahrzehnten Moderhythmen zunehmend desillusioniert<br />

beobachtenden Vf. zuweilen nicht mehr durchgÇngig, die Frage zu unterdrÅcken, wie hoch der Bluffoder<br />

aber Ritualanteil an jeweils dominanten hÄchst ernsthaft und oft verbissen gefÅhrten sozialund/oder<br />

geisteswissenschaftlichen ‘Diskussionen’ einzuschÇtzen ist.<br />

319


nem so vielstimmig, multimotiviert 567 und abweichend wie Nietzsche Denkenden Interpretationsfehler<br />

zumal dann naheliegen, wenn man wie bspw. d. Vf. mehreren Problemspuren parallel<br />

zu folgen sucht, dabei aber einen vielleicht relevanteren Gesichtspunkt oder eine Information<br />

Åbersieht, vergiÉt oder falsch einschÇtzt, bedarf kaum einer ErwÇhnung. So lÇÉt keineswegs<br />

jeder identifizierte Fehler bereits auf eine Bluffintention des betreffenden Autors<br />

schlieÉen; durchaus aber...<br />

VerstÇndlicherweise gibt es viele Formen von Bluff, die auch nur aufzulisten und knapp zu<br />

diskutieren wieder einmal jeden Rahmen sprengen wÅrde. SchlieÉlich kann auf fast jede Weise,<br />

in fast jeder IntensitÇt und in fast jedem denkbaren Zusammenhang geblufft werden. Selbst<br />

nur diejenigen Versionen, die Vf. im Laufe einiger Jahrzehnte zu beobachten das VergnÅgen<br />

hatte, zu berÅcksichtigen, wÅrde eine separate Publikation erzwingen.<br />

Doch ein Problem wenigstens bzw. ein Trick, „sich grÄÉer zu machen, als man ist“ 568 , ist<br />

anzusprechen, das bzw. der hier direkt in den Zusammenhang gehÄrt und nicht nur ‘paÉt’,<br />

weil es dem Vf. so hÇufig begegnete, daÉ wohl von einem Regelfall auszugehen ist: mangelnde<br />

AuthentizitÇt im Druck vorgelegter KongreÉreferate, Vortragstexte usw., insoweit diese<br />

zuweilen nicht einmal mehr annÇhernd demjenigen Skript 569 entsprechen, das dem Vortrag,<br />

Referat usw. zugrundelag, sondern Resultat erst nachtrÇglicher, zuweilen Thesen anderer Referenten<br />

ihrerseits nun berÅcksichtigender – sei es sie in die eigene Diktion zuweilen kaum<br />

mehr kenntlich einschleusender oder transformierender (bzw. als eigene Kreation exponierender),<br />

sei es sie in stillschweigend integrierender sei es eigene äberlegungen entsprechend modifizierender<br />

sei es sie in bereits kritisch diskutierender – Umarbeitung in einem ggf. fast vÄllig<br />

neuen Text jedoch mit dem Effekt darstellen, daÉ fÅr an der betreffenden Veranstaltung<br />

nicht teilgenommen habende Leser nicht mehr in jedem Fall erkennbar ist, welcher der Referenten<br />

eine ggf. neue, weiterfÅhrende äberlegung exponiert oder zuvor unbekannte Fakten<br />

vorgelegt hat. 570 Mit dem Effekt leider, daÉ in entsprechenden Veranstaltungen auch von denjenigen,<br />

die WeiterfÅhrendes zu bieten haben, verstÇndlicherweise nur noch selten nicht bereits<br />

anderenorts verÄffentlichte Innovationen vorgestellt werden. Was bedauerlicherweise zur<br />

567 Dazu genauer Lou Andreas-Salomå: LebensrÄckblick. GrundriÖ einiger Lebenserinnerungen. Aus<br />

dem NachlaÉ hgg. v. Ernst Pfeiffer. Neu durchges. und mit einem Nachwort des Herausgebers. Frankfurt<br />

am Main, 14 1998, S. 246.<br />

568 Etwas frische Luft wird nicht schaden, 1998, S. 38.<br />

569 Damit soll nicht ausgeschlossen werden, daÉ ein Referent, der bemerkte, wie stark im Niveau seine<br />

eigenen AusfÅhrungen gegenÅber denjenigen wenigstens eines Kollegen abfielen, sich erst nach der<br />

betreffenden Tagung usw. veranlaÉt sieht, denjenigen Text auzuarbeiten, der zuvor hÇtte vorgetragen<br />

werden sollen. DaÉ dabei dann erhaltene Anregungen ggf. so ‘verarbeitet’ werden, als wÇren sie lÇngst<br />

zuvor ‘schon auf eigenem Mist gewachsen’: gehÄrt das zu derartigen KollateralschÇden? Wie ist dagegen<br />

der Erkenntnisfortschritt, der solcherart erzielt zu werden vermag, abzuwÇgen? Vielleicht sollte<br />

der Betreffende dann die SouverÇnitÇt haben, nicht stillschweigend Ideenklau – heute heiÉt das eher<br />

„Produktpiraterie“ – zu betreiben, sondern auf entsprechende ‘Vorgaben’ seiner Mitreferenten hinzuweisen.<br />

Seit wann ‘tÄtet’ oder beschÇdigt Dank den Dankenden?<br />

570 Deshalb legt Vf. Wert auf die Aussage, daÉ die unter seinem Namen meist in Nietzscheforschung<br />

oder in AufklÜrung und Kritik verÄffentlichten Vortragstexte incl. desjenigen vom 15.10.1994 meinem<br />

Skript entsprechen, allenfalls stilistisch oder schreibfehlerbereinigt und um einige der ins Verborgene<br />

formatierten Passagen, deren Vortrag dem vorgegebenen Zeitrahmen zum Opfer fiel, ggf. erweitert<br />

wurden; wÇhrend andere ebenfalls ins Verborgene formatierte meist kritischere Passagen der Druckdatei<br />

vorsichtshalber entnommen wurden (nachdem einiges ebenfalls ‘ins Verborgene Formatierte’ 1990<br />

in Folge von Schrift- und Programmwechseln in einige Kapitel von NaK gerutscht war. So erlaubte ich<br />

mir Mitte der 1980erjahre zeitweise die Ablenkung, bspw. bes. brav-betuliche Gedichte des Kindes<br />

Nietzsche parodistisch fortzusetzen). In den Anmerkungen hingegen wurden ggf. Åbersehene Bibliographica<br />

usw. ‘nachgerÅstet’.<br />

320


Redundanz des vielfach Vorgetragenen und zur Langweile fachlich ernsthaft Interessierter<br />

fÅhrt.<br />

Dennoch: Die obigen knappen Passagen sind noch sehr ins Unreine formuliert, haben lediglich<br />

die Funktion einer Problemanzeige, nicht einer Problemlásung, denn verstÇndlicherweise<br />

wÅrde jeder Versuch, nun Unterschiede zwischen Regeln seriÄser Argumentation, ‘Methoden’<br />

bereits grenzwertiger Rhetorik, diversen ‘argumentationsunterstÅtzenden’ und ggf.<br />

-substituierenden Bluffstrategemen usw., ‘Strukturen’ apologetischer Arrangements und<br />

selbst massivsten argumentativen Betrugs zu diskutieren und gegen Formen interpretativer<br />

Leichtfertigkeit oder Nonchalance usw. abzuheben, den gesetzten Rahmen wiederum proportionenverschiebend<br />

erweitern. UnberÅcksichtigt oder vÄllig unbeachtet lassen sollte man derlei<br />

Probleme freilich nicht. Nun existiert zwischen noch eher spielerischen mit leichtem Augenzwinkern<br />

inszenierten Formen von Bluff und ‘knallhartem Wissenschaftsbetrug’ ein sehr<br />

weites Feld oftmals eher nebulÄser äbergÇnge. So gilt auch dann mÄglichst sorgsam zu unterscheiden,<br />

wenn das in vielen EinzelfÇllen wenigstens auf Anhieb kaum gelingen mag. Noch<br />

schwieriger freilich, die im einzelnen kaum fixierbare Palette unterschiedlichster BewuÉtheits/UnbewuÉheitsgrade<br />

usw. ‘zu fassen’, die in Grauzonen zwischen als hÄchstÇrgerlich<br />

empfundenen und deshalb ehrlich abgelehnten eigenen Fehlern, Formen mehr oder weniger<br />

tolerierter SelbsttÇuschung, mehr oder weniger bewuÉten Bluffs usw. usw. und klar intendierten<br />

TÇuschungsakten existiert. So artikuliert „Bluff“ meistens wohl eher den Verdacht,<br />

jemand neige dazu, zuweilen auch ‘argumentativ alle FÅnfe gerade sein’ zu lassen, nehme<br />

bspw. wissenschaftliche Normen nicht allzu ernst, als eine klare Diagnose bewuÉter TÇuschung...<br />

Damit resultiert nun sogar ein doppeltes Problem: nicht nur: „Wie umgehen mit Bluff?“,<br />

sondern schon zuvor: „Was benennen bzw. bestimmen als Bluff?“<br />

Im Sinne kritischer Gegenprobe ist allerdings auch darauf zu achten, daÉ die MÄglichkeit<br />

zuweilen liebevoll errichteter und beeindruckend ausgestatteter Spielwiesen interpretativ<br />

‘engbrÅstiger’ Vorgaben, von Kriterienensemble à la Prokrustes usw. dabei nicht aus den Augen<br />

gelassen werden sollte, denn auch solcherart kann man sich zuweilen wenig bemerkt vor<br />

tiefenschÇrferen Interpretationen ‘drÅcken’. Der AusweichmanÄver sind bekanntlich kaum<br />

Grenzen gesetzt; man muÉ also stets mit ihnen rechnen.<br />

So ist auch bei diesem heiklen Problemensemble der werte Leser wieder einmal bei sich<br />

selbst und bei seinen eigenen Erfahrungen angekommen bzw. auf sie zurÅckverwiesen, zumal<br />

da er bei ihnen sowohl als Leser wie als Interpret ohnedies fast immer geblieben ist?<br />

321


Anhang 4<br />

Vorschlag zur Bildung eines stillen Netzwerks in der Absicht,<br />

Philosophie, Wissenschaft und Interpretation nicht weiterhin korrumpieren zu lassen<br />

(2001, 2004) [571]<br />

„Alles moderne Philosophiren ist [...] durch: [...] Kirchen Akademien<br />

Sitten Moden Feigheiten der Menschen auf den gelehrten Anschein<br />

beschrÇnkt: es bleibt beim Seufzer „wenn doch“ oder bei der Erkenntnis<br />

„es war einmal“. Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter<br />

der Griechen (1873-74), Kap. 2.<br />

Mein Vorschlag erweckt auf den ersten Blick vielleicht den Eindruck, er gehÄre als anachronistisch<br />

weder in unsere sich als allzu aufgeklÇrt gerierende Zeit und zumal nicht in diese<br />

Schrift, beziehe er sich doch nicht ausdrÅcklich auf Ortlepp, Nietzsche oder auf Fragen der<br />

Nietzscheforschung und -interpretation.<br />

Doch schon bescheidenes Nachdenken belegt, er tut es in dem Sinne doch, als er einerseits<br />

Voraussetzungen berÅcksichtigt, die zu einem Teil der Probleme auch – wenngleich: leider<br />

nicht nur – innerhalb der <strong>Nietzscheinterpretation</strong> gefÅhrt haben und weiterhin fÅhren kÄnnten,<br />

und andererseits Themen skizziert, deren Aufarbeitung Friedrich Nietzsche, wÅrde man ihn<br />

fragen kÄnnen, erleichtert oder gar begeistert begrÅÉen wÅrde, wenn er auch nur annÇhernd<br />

derjenige gewesen sein sollte, als den ich ihn nach Jahrzehnten LektÅre, Nachdenken und<br />

NachspÅren, denn das gehÄrt auch dazu, einzuschÇtzen gelernt habe: als einen zuweilen verzweifelten,<br />

nicht selten scheiternden, sich zuweilen zornig verrennenden und keineswegs<br />

durchgÇngig aufgeklÇrten AufklÇrer, der dank frÅher autodestruktiver GeprÇgtheit 572 und<br />

mangels produktiver zwischenmenschlicher Erfahrungen zeitweise jederlei Boden verlor, sich<br />

aber auch in GedankenzusammenhÇnge wagte oder von seinem ihn dominierenden rigorosen<br />

Erkenntnisstreben und Denken, seiner Sphinx, als çdipus [573] weiter immer weiter getrieben<br />

571 [Zusatz 2012: Da ich mehrfach gefragt wurde, wie man auf einfachem Wege an diesen „Vorschlag“<br />

kommen kann, der Text im Internet m.W. aber nicht zugÇnglich ist, wird hier nun der an Stelle eines<br />

Nachworts in beide Ausgaben der Ernst-Ortlepp-Monographie von Hermann Josef Schmidt: Der alte<br />

Ortlepp war’s wohl doch oder FÄr mehr Mut, Kompetenz und Redlichkeit in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong>.<br />

Aschaffenburg, Jahresanfang 2001, S. 345-353, geringfÅgig modifiziert in Der alte Ortlepp war’s<br />

wohl doch oder FÄr Ernst Ortlepp und mehr Mut sowie genetische Kompetenz in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong>.<br />

Ebenda, 2004, S. 321-330, eingefÅgte Text als Anhang 4 in der Version von 2004 aufgenommen.<br />

Manches hat sich inzwischen zwar erÅbrigt, anderes an AktualitÇt eher irritierend gewonnen,<br />

doch der im Titel formulierte prinzipielle Vorschlag, auf den es ja ankommt, gilt unverÇndert. ZusÇtze<br />

von 2012 sind – wie hier – in eckiger Klammer hinzugefÅgt. („Stilles Netzwerk“ bedeutet nach Auffassung<br />

des Vf.s ausdrÅcklich nicht, einen Verein zu grÅnden, miteinander zu korrespondieren usw.,<br />

sondern seinen eigenen Beitrag ohne ZÄgern bestmÄglich zu leisten. Wenn dann zuweilen Åber meine<br />

alte Hochschule ein entsprechender Text eintrudelt, freut sich Vf., guckt ihn sich genauer an und<br />

bringt ihn ggf. in einer seiner Anmerkungen unter, damit auch Dritte davon erfahren und profitieren<br />

kÄnnen. Unter UmstÇnden gibt’s sogar eine Rezension.]<br />

572 In Schmidt: Wider weitere Entnietzschung Nietzsches[. Eine Streitschrift. Aschaffenburg], 2000,<br />

argumentiere ich in IV., daÉ Nietzsche entnietzschende Erziehungspraktiken seiner Verwandten (skizziert<br />

in III.) durchaus als autodestruktive Programme verinnerlicht und leider nur zum Teil aufzuarbeiten<br />

vermocht hatte.<br />

573 [Diese Formulierung verlangt wenigstens hier den Hinweis, daÉ Vf. schon 1983 und speziell in NaJ<br />

II fast bis zum ExzeÉ ausfÅhrte, daÉ der jugendliche Nietzsche und zumal der Primaner sein ‘tragisches<br />

ErkenntnisbewuÉtsein’ zumal in Auseinandersetzung mit den beiden çdipus-StÅcken des Sophokles<br />

– unausgesprochen freilich auch mit anderen TragÄdien – entwickelt hat. SpÇter, zumal nach<br />

1877, gibt Nietzsche nur noch wenige entsprechende Andeutungen, doch sie sind gewichtig.]<br />

322


wurde: mit Thesen, die es zuerst einmal zu verstehen, dann zu ÅberprÅfen und nicht vorweg<br />

zu diffamieren gilt. Und zuweilen mit Einsichten, die ernst zu nehmen uns gut anstÅnde.<br />

So gehe ich noch immer davon aus, auch Nietzscheforschung kÄnnte QualitÇtssprÅnge machen,<br />

wenn es um die Redlichkeit und AufklÇrungsorientiertheit geisteswissenschaftlichen<br />

Arbeitens besser, um Selbstinszenierung, Cliquenbildung, MachtkÇmpfe usw. hingegen<br />

schlechter stÅnde. Doch noch immer laufen diejenigen, die erkenntnisorientiert sind, wohl<br />

nicht nur gegen WÇnde; zum VergnÅgen und Profit derer, die davon seit Menschengedenken<br />

in irgendeiner Form leben.<br />

Doch was kann ein Einzelner, ein Hochschullehrer, Wissenschaftler, Schullehrer, Arzt,<br />

geistig einigermaÉen eigenstÇndiger Kopf schon tun gegen die äbermacht der skrupellosen<br />

Geldraffer, der Bornierten und derer, die jedem Herren ehrgeizig dienen, Hauptsache, sie<br />

werden gebraucht, sind weiterhin dabei? Er – sie ist immer mitgedacht – kann versuchen, zuerst<br />

einmal sich selbst aufzuklÇren, AufklÇrungen auch emotional genieÉen zu lernen und seinem<br />

Leben dadurch Sinn zu verleihen, daÉ er oder sie sich in den Strom europÇischer AufklÇrung<br />

574 , spÇtestens beginnend mit den Silloi des Xenophanes von Kolophon (6./5. Jahrhundert<br />

v.u.Z.), nach Nietzsche ein Hauptkerl, eingliedert. Wer weiÉ nicht, was im Leben und damit<br />

auch geistig zÇhlt? Produktive geistige Arbeit, die nicht auf Profit schaut und auch nicht mit<br />

der Zustimmung derer rechnet, die sich an Meistzahlende prostituieren. WÇre es anders, gÇbe<br />

es nur wenige der BÅcher, deren LektÅre lohnt; und der Menschen, die wertvoll sind.<br />

Sich am Strom europÇischer AufklÇrung, in den Friedrich Nietzsche trotz mancher Invektive<br />

gehÄrt, zu beteiligen, sich lustvoll an ihm zu beteiligen, bedeutet dann, wenn man wie der<br />

Verfasser zu den ãlteren gehÄrt, die sich nicht mehr beruflich qualifizieren und sichern mÅssen,<br />

seine oder ihre lÇngst erarbeiteten Kompetenzen wirklich produktiv zu machen. Manchmal<br />

denke ich, es fehlt an einsichtigen Therapeuten, die beispielsweise Emeritierten Lebensmut<br />

machen und mit ihnen Programme erarbeiten, deren ErfÅllung aufklÇrungsrelevant sein<br />

kÄnnte fÅr Generationen.<br />

Wenn wir berÅcksichtigen wÅrden, was ein Friedrich Nietzsche in den nur knapp zweieinhalb<br />

Jahrzehnten geleistet hat, die ihm nach seinem Abitur noch fÅr seine Weiterentwicklung<br />

und die WeiterfÅhrung lÇngst konzipierter Perspektiven blieben, dann dÅrfte es fÅr wohl jeden<br />

von uns ermutigend sein, in bescheidenerer Weise den BemÅhungen Nietzsches und anderer<br />

in der Tendenz parallele AufklÇrungsbemÅhen beizufÅgen. Wozu ja nicht zuletzt auch gehÄrt,<br />

Friedrich Nietzsche und die <strong>Nietzscheinterpretation</strong> nicht denen zu Åberlassen, gegen die er<br />

sich ebenso wie Tausende anderer lebenslang zu wehren suchte, ohne sich jedoch so wehren<br />

zu kÄnnen, wie wir es heute kÄnnten, wenn wir es endlich konsequent tÇten.<br />

So schlage ich nun einige Themen zur Aufarbeitung in der Hoffnung vor, daÉ Interessenten<br />

an einer aufklÇrungsorientierten <strong>Nietzscheinterpretation</strong>, von denen es ja so wenige gar nicht<br />

gibt, mitdenken, welche Themen ihrer Auffassung nach aufklÇrungsfÄrdernd wÇren, wenn sie<br />

kompetent bearbeitet oder aufgearbeitet wÅrden; und in der Hoffnung, einige meiner äberlegungen<br />

kÄnnten fÅr so sinnvoll gehalten werden, daÉ nun andere im Rahmen ihrer MÄglichkeiten<br />

dazu beitragen, daÉ einiges von dem vorankommt, was hierzulande zumindest seit Generationen<br />

fehlt. 575<br />

574 Vgl. Schmidt: Erinnerung: AufklÜrung und Religionskritik als philosophia perennis, 2002, S. 167-<br />

69. [In: Thomas Spitzley und Ralf Stoecker (Hg.): Philosophie à la carte. Paderborn, 2002, S. 167-69.<br />

Bei weitem ausfÅhrlicher in: Hermann Josef Schmidt: Wollen Sie unter der Herrschaft von Ajatollahs<br />

oder der Taliban, von Rabbinern oder des „Opus dei“ leben? Erinnerung: AufklÜrung und Kritik als<br />

‘philosophia perennis’ (bzw. immerwÜhrende Philosophie). Dortmunder Abtrittsvorlesung, 29. Juli<br />

2004. In: AufklÇrung und Kritik 1/2005, S. 6-28 (und Internet: http://www.gkpn.de).]<br />

575 Dabei bitte ich um VerstÇndnis, daÉ ich nun nicht Themen der Nietzscheforschung und -interpretation<br />

zur Bearbeitung vorschlage, da ich das in Nietzsche absconditus, 1991-1994, und nun in Wider<br />

weitere Entnietzschung Nietzsches, 2000, bereits in extenso getan habe – auch dann getan habe, wenn<br />

323


Wenn mich mein Eindruck nach Jahrzehnten LektÅre und BeschÇftigung mit europÇischer<br />

Denk- und Kulturgeschichte nicht vÄllig trÅgt, so gab es seit Beginn der ionischen AufklÇrung<br />

nicht allzuviele Jahrzehnte europÇischer Denkentwicklung, in denen es fÅr eigenstÇndige[re]<br />

KÄpfe nicht lebensgefÇhrlich war, prinzipielle und kritische Gedanken zu ÇuÉern. MÄglicherweise<br />

haben die ãlteren von uns wÇhrend eines respektablen Teils dieser kostbaren Jahrzehnte<br />

gelebt. Wie haben wir sie genutzt? Was hÇtte ein Aristoteliker des 13. Jahrhunderts beispielsweise<br />

aus der Pariser ArtistenfakultÇt, was hÇtten Giordano Bruno, Cartesius, Spinoza,<br />

Voltaire, D’Holbach, Hume, Kant, Feuerbach und selbst ein Ernst Ortlepp des Vaterunser des<br />

neunzehnten Jahrhunderts, um nur wenige zu nennen, dafÅr gegeben, ihre äberlegungen so<br />

gut nachvollziehbar zu Papier bringen und drucken lassen zu kÄnnen, wie jeder von uns es<br />

konnte und kÄnnte, solange er oder sie nicht darauf versessen war oder ist, in ganz bestimmten<br />

Verlagen zu erscheinen oder ihre bzw. seine BÅcher mÄglichst noch in jeder Stadtbibliothek<br />

oder Hochschule und selbst in LÇndern, in denen die Evolutionstheorie in den Schulen<br />

nicht gelehrt werden darf und etwas so Harmloses wie Atheismus ein Verbrechen ist, zu finden?<br />

Wem von den GroÉen, deren Schriften wir mit dem grÄÉten Gewinn studieren, ging es<br />

um derartige Eitelkeiten?<br />

Also AufklÇrung, denn sie ist die europÇische philosophia perennis, nicht pseudophilosophische<br />

Adaptionen an Heilslehren aus dem Ästlichen Mittelmeerraum, die dasjenige MaÉ an<br />

HumanitÇt und Einsicht, das sie zeitweilig und zumal in ihren wertvollsten Vertretern auszeichnet(e),<br />

meistenteils hellenischem und spÇter rÄmischem Geist entnehmen muÉten?<br />

Damit beginne ich mit einer bunten Liste [576] von VorschlÇgen und äberlegungen als Beispielen:<br />

– Was ist zwischen dem 8. Jahrhundert, als in den sog. homerischen Dichtungen das Welt-,<br />

Leib- und SelbstverhÇltnis der Helden noch bejahend und das Leben unter der Sonne das<br />

Leben war, und dem Platonischen Dialog Phaidon im 4. Jahrhundert v.u.Z. im griechischen<br />

Kulturraum eigentlich passiert? Wer wagt [– im deutschen Sprachraum und in<br />

deutsch! –] in die Tiefe gehende und Einsichten terminologisch nicht sogleich wieder zukleisternde<br />

Strukturanalysen?<br />

– Was bedeutet es, daÉ schon knapp 300 Jahre vor unserer Zeitrechnung selbst in Jerusalem<br />

die Gebildeten griechisch zu sprechen lernten, fÅr die Schriften des sog. AT und NT sowie<br />

diverse Apokryphen einschlieÉlich der sog. Essenischen Texte?<br />

– Welche attischen TragÄdien beispielsweise wurden damals noch in Alexandrien aufgefÅhrt?<br />

Welche direkten Linien gibt es von ihnen zu den Evangelien?<br />

– Begegnet man nicht in wichtigen, vielzitierten Gleichnissen des NT vom Weizenkorn bis ...<br />

einer Palette der Grundvorstellungen griechischer Mythologie, griechischer Mysterienkulte?<br />

– Im deutschen Sprachraum fehlt eine (weder à la Martin Buber preisende noch à la christliche<br />

Kirchen von deren Auffassungen beeinfluÉte und jeweils dem Zeitgeist aktuell angepaÉte)<br />

philologisch saubere ebenso wie religions- und vor allem kulturhistorisch informative<br />

äbersetzung der sog. Septuaginta, der in Alexandrien in den Jahrhunderten um unsere<br />

Zeitrechnung in Adaption hellenisch-hellenistischen Geistes entstandenen Bibeläbersetzung<br />

des sog. Alten Testaments [577] , ohne ungeheuren Apparat, doch vor allem<br />

ich nicht in jedem Falle betonte, daÉ dies nun ein Thema ist –, mich also nicht wiederholen mÄchte,<br />

sondern eher Themen aufklÇrungsorientierter Grundlagenforschung skizziere.<br />

576 [Bedarf es eigener Argumentation oder gar der BegrÅndung, daÉ der „Vorschlag“ unabhÇngig von<br />

der AktualitÇt, QualitÇt und AkzeptabilitÇt usw. dieser Liste ist?]<br />

577 [Nach meinem Eindruck ist noch immer sehr wertvoll: Die Heilige Schrift des Alten Testaments in<br />

Verbindung mit Prof. Budde in Marburg u.a. Åbers. v. E. Kautzsch. 4., umgearb. Aufl. in Verb. mit<br />

324


mit detaillierten Entlehnungsverweisen: Mich interessiert beispielsweise, welches Bild,<br />

welcher Text stammt aus griechischer Dichtung (wie selbst das Hohelied in wesentlichen<br />

Passagen aus der hellenistischen erotischen Poesie), griechischem Spruchgut, griechischen<br />

Religionsvorstellungen incl. der Mysterienkulte, griechischer Philosophie – nicht<br />

nur der Platonischen oder Stoischen – usw.;<br />

– in entsprechender Abwandlung mÅÉte dies natÅrlich auch fÅr das sog. Neue Testament erfolgen.<br />

Wie passen die christlichen Briefe, beginnend mit den Paulus-Briefen, zu den<br />

Briefen zeitlich vorausgehender antiker Autoren, beginnend mit Platon und Epikur? Wie<br />

sind [– vor allem! –] die sprachlichen Niveaus usw. usw.?<br />

– Wann werden auch im deutschen Sprachraum die griechischen und rÄmischen AufklÇrer<br />

rehabilitiert?<br />

– Vor allem freilich: Wie sieht es mit weltanschaulich unabhÇngiger Aufarbeitung der SpÇtantike<br />

[578] aus? Sind hierzulande nicht seit vielen Jahrzehnten nahezu alle relevanten LehrstÅhle<br />

unter Kontrolle von christlichen Religionsgemeinschaften? Wenn ja: was bedeutet<br />

das fÅr die Beurteilung dieser Zeitphase, in der sich die abendlÇndische IdentitÇt auszubilden<br />

begann?<br />

– Wie lange fehlt es noch auch im deutschen Sprachraum an klaren und prÇzise kommentierten<br />

äbersetzungen der antiken Christentumskritik [579] ? Wann erscheint eine Porphyriosrekonstruktion<br />

und -Åbersetzung? [580] Wie steht es um Kaiser Julians Text? [581] Wie steht<br />

es um unabhÇngige [!!] Kelsos- oder auch Apollonios-von-Tyana-Erforschung?<br />

– Sollte die Absconditusperspektive 582 nicht vÄllig abwegig sein: Was bedeutet das fÅr die<br />

Geschichte der Philosophie, der Literatur von der Antike bis in unsere Gegenwart? Was<br />

mÅÉte dann nicht umgeschrieben, was mÅÉte nicht neu Åberdacht werden?<br />

– Es gibt zahlreiche kritische Texte, die noch nicht Åbersetzt wurden. Wer kann damit beginnen?<br />

Wer kann diese Arbeiten fÅr einzelne Zeitphasen koordinieren?<br />

den frÅheren Mitarbeitern und Prof. EiÉfeld in Berlin hgg. v. A. Bertholet. I. Band 1 Mose bis Ezechiel.<br />

TÅbingen, 1922; II. Band Hosea bis Chronik. TÅbingen, 1923. Doch einerseits sind die Kommentare<br />

lÇngst ergÇnzungsbedÅrftig; und andererseits fehlen die meinerseits als Defizite anoncierten<br />

Desiderata. Es steht freilich zu befÅrchten, daÉ ohne altphilologische Patenschaften nicht allzuviel<br />

Tiefgang zu erwarten ist.]<br />

578 [Auch in dieser Hinsicht beginnen sich zunehmend kritischere Geister, wenngleich wohl nur selten<br />

an Hochschulen installierte, zu artikulieren. Erfreulich in diesem Zusammenhang etwa die beiden Monographien<br />

von Rolf Bergmeier: Kaiser Konstantin und die wilden Jahre des Christentums. Die Legende<br />

vom ersten christlichen Kaiser. Aschaffenburg, 2010; und: Schatten Äber Europa. Der Untergang<br />

der antiken Kultur. Aschaffenburg, 2012.]<br />

579 [Auch in dieser Hinsicht hat sich erfreulicherweise etwas getan. Grundinformationen in dt. Sprache<br />

bietet Armin Pfahl-Traughber: Antike Philosophen als Kritiker des Christentums. Eine Fallstudie zu<br />

Celsus, Porphyrios und Julian. In: AufklÇrung und Kritik 17, 4/2010, S. 133-146; eine Analyse der<br />

wohl zentralen christentumskritischen Argumente der bekanntesten drei antiken Kritiker bietet Winfried<br />

SchrÄder: Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit.<br />

Stuttgart, 2011 (dazu Hermann Josef Schmidt: Antike und Christentum – keine seriÄs belegbare<br />

Synthese. Zu Winfried SchrÄder, Athen und Jerusalem. Stuttgart, 2011. In: A&K 1/2012, S. 52-61 und<br />

www.f-nietzsche.de).]<br />

580 [Gibt es mittlerweile wieder, nÇmlich: Porphyrios: Gegen die Christen. AuszÄge aus Makarios<br />

Magnes’ Apokritikos. äbers. v. A. Harnack, bearb. und neu hgg. v. Detlef Weigt. Leipzig, 2004.]<br />

581 [Gibt es mittlerweile ebenfalls wieder, nÇmlich: Julian Apostata. Stieropfer gegen das Christentum.<br />

AusgewÜhlte philosophische Werke. Hgg. u. bearb. v. Detlef Weight. Berlin, 2 2009. Ein Nachdruck<br />

von: Kaiser Julians Philosophische Werke. äbers. u. erkl. v. Rudolf Asmus. Leipzig, 1908, und: Kaiser<br />

Julians BÅcher Gegen die Christen. Nach ihrer Wiederherstellung Åbers. v. Karl Johannes Neumann.<br />

Leipzig, 1880. ]<br />

582 Vgl. insbes. Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. (I.) Kindheit, 1991, S. 577ff., II.<br />

Jugend 1, 1993, S. 115ff., und nun Wider weitere Entnietzschung Nietzsches, 2000, S. 126ff.<br />

325


– In der DDR wurden zahlreiche Texte zumal franzÄsischer AufklÇrer Åbersetzt und teilweise<br />

in preiswerten Ausgaben vorgelegt, die lÇngst nicht mehr zugÇnglich sind und in der<br />

Bundesrepublik nicht zugÇnglich waren. Manches wurde nachgedruckt; doch wenn sich<br />

hohe Auflagen nicht lohnen, kÄnnen derartige Titel nur dann nachgedruckt werden, wenn<br />

dies gefÄrdert wird.<br />

– Wer hÇlt es auch deshalb fÅr sinnvoll, eine Stiftung AufklÜrung [583] ins Leben zu rufen, damit<br />

im deutschen Sprachraum endlich die wichtigsten AufklÇrertexte von der Antike bis<br />

in unser Jahrhundert vorgelegt, vorrÇtig gehalten und auch von privaten Interessenten einschlieÉlich<br />

SchÅlern und Studenten bezahlt werden kÄnnen? Damit<br />

– Nachdrucke wichtiger Çlterer Arbeiten wieder zugÇnglich werden? Damit<br />

– diese BemÅhungen koordiniert werden, da es nicht darum gehen kann, durch VerlagsneugrÅndungen<br />

diejenigen Verlage, die lÇngst zugunsten von AufklÇrung mit hohem Risiko<br />

arbeiten, zu beeintrÇchtigen: anstatt sie zu fÄrdern. Damit<br />

– Personen unterstÅtzt werden kÄnnen, die in Folge ihres Engagements ihre berufliche Position<br />

und damit ggfs. jegliches Einkommen verloren haben? Damit auch<br />

– Personen oder Verlage unterstÅtzt werden kÄnnen, die in Folge ihres Engagements gezielt<br />

zu-Tode-prozessiert werden (sollen)? Damit<br />

– weitere äbersetzungen zentraler Texte in Auftrag gegeben,<br />

– Erbschaften eingeworben und angenommen werden kÄnnen, die ggfs. gezielt erfolgen: beispielsweise<br />

fÅr den Nachdruck und das jahrzehntelange Auf-Lager-Halten eines Lieblingsbuches<br />

usw. usw.?<br />

– Was bedeutet die äbernahme und Ausweitung der von Hitler [und seitdem] abgeschlossenen<br />

StaatsvertrÇge mit den beiden christlichen GroÉkirchen und die aus Äffentlichen Mitteln<br />

finanzierte Sicherung von deren EinfluÉ [584] durch eigene Hochschulen, FakultÇten<br />

und weitere LehrstÅhle fÅr die SeriositÇt deutscher Wissenschaft? Wie hat sich seit den<br />

ersten StaatsvertrÇgen mit den Kirchen beispielsweise das Niveau der Religionswissenschaft<br />

[585] verÇndert?<br />

– Was bedeutet es bspw., daÉ an kaum einer deutschen Hochschule ein Lehrstuhl fÅr mittelalterliche<br />

Philosophie ohne kirchliche Zustimmung besetzt zu werden vermag? DaÉ Erforschung<br />

der Philosophie des Mittelalters noch immer kaum unabhÇngig von entsprechenden<br />

Beeinflussungen zu erfolgen vermag? Was bedeutet eine derartige Konstellation im<br />

Blick bspw. auf Beruf(ungs)chancen von geistig unabhÇngigen Philosophiehistorikern des<br />

Mittelalters?<br />

– Was bedeutet Drittmittelforschung und -finanzierung fÅr die UnabhÇngigkeit ganzer FakultÇten<br />

und Fachbereiche?<br />

– Haben sich Formen von Korruption von Wissenschaftlichkeit in unseren Hochschulen stillschweigend<br />

durchgesetzt?<br />

Was kÄnnen schlieÉlich Einzelne sogar im Alleingang leisten?<br />

583 [Seit 2004 gibt es immerhin die Giordano Bruno Stiftung (gbs), die zugunsten konkreter AufklÇrung<br />

seitdem einiges in Bewegung gebracht hat. Dazu Hermann Josef Schmidt: AufklÜrungsarbeit in<br />

Deutschland am Beispiel der Giordano-bruno-Stiftung (gbs). Debatte 2012 zur Ausgabe von AufklÇrung<br />

und Kritik 4/2012, S. 48-59. www.gkpn.de.]<br />

584 [Hier geben vor allem die Untersuchungen von Carsten Frerk aufschluÉreiche und hochinformative<br />

Einblicke: Finanzen und Vermágen der Kirchen in Deutschland. Aschaffenburg, 2002; Caritas und<br />

Diakonie in Deutschland. Mit einem Vorwort von Johannes Neumann. Aschaffenburg, 2005; und zuletzt:<br />

Violettbuch Kirchenfinanzen. Wie der Staat die Kirchen finanziert. Aschaffenburg, 2010.]<br />

585 [Zu einigen Aspekten hatte sich Vf. artikuliert in Hermann Josef Schmidt: Religionswissenschaft<br />

und Religionskritik – eine Perspektive „von auÖen“. In: Johann Figl (Hg.): Religionswissenschaft –<br />

InterdisziplinaritÇt und InterreligiositÇt. Wien, 2007, S. 99-121.]<br />

326


– Man kÄnnte sich vornehmen, eine fÅr besonders wertvoll und wichtig gehaltene Person,<br />

Figur oder Thematik oder einen entsprechenden Text, so sie bzw. er von den Siegern der<br />

Geschichte ausgeklammert und aus zuweilen begreiflichsten GrÅnden in die Vergessenheit<br />

gedrÇngt zu werden vermochte, stÇrker ins BewuÉtsein zurÅckzubringen: wie beispielsweise<br />

Ernst Ortlepp in die Literaturgeschichte; und auch einen Friedrich Nietzsche<br />

als verzweifelten AufklÇrer ins allgemeinere BewuÉtsein.<br />

– Man kÄnnte sich vornehmen, pro Jahr zumindest eine kritische, in der Regel verschwiegene<br />

Schrift, primÇr im Blick auf ihre aufklÇrungsrelevante Leistung hin [bspw. in AufklÜrung<br />

und Kritik und/oder im humanistischen pressedienst – hpd] zu besprechen.<br />

– Wann erscheinen Prostitutions- und Korruptionsanalysen beispielsweise im Bereich der<br />

Philosophie- und Literaturgeschichte? Wie wurde gegen welche Schriften usw. gearbeitet?<br />

– Warum wagen nur so wenige, wenigstens nach ihrem Tode dasjenige verÄffentlichen zu<br />

lassen, was zu Lebzeiten nicht zu riskieren, in der Sache endlich aufzudecken aber wichtig<br />

ist (wie beispielsweise vielleicht jahrzehntelange Diffamierung wichtiger Forscher<br />

[oder wissenschaftlicher Theorien usw. usw.] im Banne der Schweigepflicht einfluÉreichster<br />

Gremien)?<br />

– Wann erscheinen die ersten Kriminalgeschichten weltanschaulich usw. infizierter Wissenschaft?<br />

SchlieÉlich das vielleicht irritierendste Kapitel: unsere UniversitÇten. Universitas litterarum<br />

oder Verfachhochschulung ohne Ende (und mit wenig Einsicht)?<br />

Nimmt man die VerÇnderungen zumal seit çffnung der innerdeutschen Grenze ernst, so<br />

kÄnnen sie wohl nur mit Entsetzen erfÅllen. Eine fÅhrende Industrienation, im Blick auf BodenschÇtze<br />

nicht eben bevorzugt, bis tief in das vergangene Jahrhundert im internationalen<br />

Vergleich der Bildungssysteme auf angemessenem Rang, erscheint entschlossen, als wichtigstes<br />

Zukunftspotential das Bildungs-, Ausbildungs- und Gesundheitsniveau der nachrÅckenden<br />

Generationen zugunsten privater Bereicherung bedenkenlos zu opfern?<br />

Bluten unsere Hochschulen nicht aus, werden sie bei zunehmend Åberaltertem Lehrpersonal<br />

und einer 60-Stundenwoche, Åber die kaum jemand spricht, weil sie fÅr geistig engagierte<br />

Wissenschaftler selbstverstÇndlich ist, mit fast von Semester zu Semester steigenden Anforderungen<br />

personell nicht in ruinÄser Weise ausgedÅnnt? Binden MÇngelumverteilung und Ressourcenjagd<br />

innerhalb der Hochschulen nicht wertvollste Energien? Schaffen sie nicht kaum<br />

lÄsbare Konflikte? Welche destruktiven Energien entladen sich hier?<br />

Warum beispielsweise leisten wir uns einen Karrierezirkus sich wechselseitig Protegierender<br />

zwecks AbschÄpfung von SpitzengehÇltern und Tests auf den eigenen Marktwert, die<br />

nach Belieben alle paar Jahre von Bundesland zu Bundesland, von Hochschullehrerstelle zu<br />

Hochschullehrerstelle hÅpfen (kÄnnen) und innerhalb eines Bundeslandes nicht einmal drei<br />

Jahre Zeitspanne fÅr den nÇchsten Karrieresprung benÄtigen? Nicht selten in In-Stich-Lassung<br />

ihrer Studierenden, jeweils auf ihren nÇchsten Karrieresprung fixiert? Doch immer in BeschÇftigung<br />

zumindest eines Dutzends ohnedies Åberlasteter Kollegen an jeder der beteiligten<br />

Hochschulen unter Verlust von insgesamt 1000 oder mehr Arbeitsstunden aller Beteiligten,<br />

wenn man zusammenrechnen wÅrde? Welche sinnvoller in qualifizierte Hochschulveranstaltungen,<br />

Studienberatung, LektÅre und kreative Forschung zu investieren wÇren? Und all die<br />

Pokerspiele angesichts zahlreicher arbeitsloser Habilitierter des betreffenden Faches?<br />

Oder warum werden GroÉverdiener, deren Nebeneinkommen das Vielfache ihres Hochschullehrergehalts<br />

ausmacht, nicht auf gehaltsfreien Titularprofessuren mit minimaler Lehrverpflichtung,<br />

deren Umfang den RealverhÇltnissen entsprechen dÅrfte, gefÅhrt? KÄnnten<br />

nicht tausende neuer Hochschullehrerstellen [bzw. in technischen und medizinischen FakultÇten]<br />

geschaffen, problemlos besetzt und ohne Zusatzausgaben aus den frei gewordenen Landesmitteln<br />

finanziert werden? Ein Innovations- und KreativitÇtsschub sondergleichen kÄnnte<br />

327


solcherart unseren UniversitÇten spendiert werden, Nachwuchswissenschaftler hÇtten endlich<br />

Perspektiven, kÄnnten sich auf die Erarbeitung eines breiten Wissensfundus und nicht lediglich<br />

auf detailliertestes Spezialistenwissen sowie auf Stellensuche konzentrieren, und Studierende<br />

hÇtten differenziertere Betreuung...: wenn die Politik nicht auch hier vor Gruppeninteressen<br />

kapitulierte?<br />

Vor allem freilich: mÅssen wir an unseren Hochschulen jeden Unsinn 586 einschlieÉlich absurdester<br />

StudiengÇnge [– und Bewertungen mÄglichst bis zur dritten Stelle hinter dem<br />

Komma? – 587 ] bspw. aus den USA kopieren? Mit Ausnahme freilich der unvergleichbar besseren<br />

finanziellen Ausstattung und zum Teil Arbeitsbedingungen dieser Hochschulen? Warum<br />

besetzen wir nicht mit Lokalredakteuren UniversitÇtsprofessuren, wenn die QuantitÇt von<br />

VerÄffentlichungen oder erwiesene Harmlosigkeit zÇhlt?<br />

All das klingt dramatisch: und das ist es schlieÉlich auch. Das, was in der <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

oder bei Ernst Ortlepp aufgewiesen werden konnte, ist ja nur ein winziges Exempel:<br />

pars pro toto? Ein erschreckendes, finde ich.<br />

586 Vgl. des Verfassers paradoxe Intervention Wie sind UniversitÜten ihres kritischen Potentials so zu<br />

entkernen, daÖ das kaum jemand bemerkt? [In: W. GrÅnzweig, M. Kleiner, W. Weber (Hg.), BÅrokratie<br />

und Subversion. Die UniversitÇt in der permanenten Reform auf dem Weg zu sich selbst. Eine<br />

Streitschrift zum 65. Geburtstag von Dieter Groh. MÅnster – Hamburg – London,] 2002, S. 43-52.<br />

587 [Als ob niemand in einer Hochschule die QualitÇt der PrÇzision sowie die Risiken von PrÅfungsbe-<br />

wertungen zu beurteilen vermag.]<br />

328


Anhang 5<br />

Bescheidenes Lob des Komparativs<br />

HÇtte ich dahingehend einen Wunsch frei, was sich in Interpretationen ebenso wie in AlltagsgesprÇchen<br />

Çndern soll, so wÅrde ich vorschlagen, von den fast jede Konstellation verzeichnenden<br />

Primitivmustern eines Schwarz-WeiÉdenkens bzw. dem sich seit Jahren abzeichnenden<br />

rasanten Abbau selbst elementarster sprachlicher Differenzierungen ‘endlich wieder herunterzukommen’<br />

und zwischen „ja“ und „nein“ wenigstens ein „vielleicht“, ein „mehr“ oder<br />

„weniger“, kurz: bei weitem mehr Komparative bzw. das mit ihnen Intendierte ‘umzusetzen’,<br />

zu verwenden usw., um mÄglichst oft zu signalisieren, bei weitem differenziertere Perspektiven<br />

seien zu erÄffnen.<br />

Da man mittlerweile selbst in renommierteren Zeitungen seitenlang lesen kann, bis man<br />

auf die erste komparativische Formulierung stÄÉt – was vielleicht mehr als vieles andere den<br />

geradezu virusinfektionsartigen ‘Fortschritt’ sprachlicher zweiwertiger Primitivierungen und<br />

damit entsprechender ‘Argumentationen’ belegt –, skizziere ich (im Sinne eines bescheidenen<br />

Lobs des Komparativs) an lediglich einem Beispiel, wie sinnvoll entsprechende Formulierungen<br />

sich auswirken dÅrften, wenn sie ...<br />

Wenn wir davon ausgehen wÅrden, daÉ Selbstakzeptanz, genauer: die Eigendiagnose, sowohl<br />

in BerÅcksichtigung eines produktiven Selbstbildes als in EinschÇtzung Dritter ‘ein nicht<br />

wertloser Mensch’ zu sein, von groÉer Bedeutung dafÅr ist, wie sich jemand verhÇlt, fÅhlt<br />

usw., dann kÄnnen wir ‘setzen’, daÉ es entscheidend darauf ankommt, wie jemand eigene<br />

Verhaltensweisen einschÇtzt, ob er/sie sich als ‘Versager’ oder ‘KÄnner’ deutet, ob und wie<br />

einzelne Handlungen als ‘gelungen’ oder ‘miÉlungen’ beurteilt werden usw. In der Regel<br />

dÅrfte es so sein, daÉ jede dieser beiden Bewertungen Åblichen Verhaltens unangemessen ist:<br />

wirklich ‘gelungen’ sind Handlungen selten, denn nur Bornierten sind keine relevanten EinwÇnde<br />

prÇsent; doch wirklich ‘miÉlungen’ sind sie meist Çhnlich selten, denn wer sich nicht in<br />

frÅhkindlich erlernten Selbstabwertungsprozeduren suhlt, wird an seiner Einsicht kaum vorbeikommen<br />

kÄnnen, daÉ auch ‘miÉlungene’ Handlungen usw. je nach Perspektive meist<br />

durchaus auch ‘positive’, wenigstens jedoch ‘positivere Seiten’ haben kÄnnen als man zumal<br />

anfangs vermutet. Man muÉ sie nur entdecken, genauer wohl: sich erlauben, sie entdecken zu<br />

dÅrfen, sie notfalls ggf. sogar kreieren, und das weniger destruktive Ergebnis dann sprachlich<br />

angemessen erfassen. Pauschaletikettierungen stimulieren zu äberheblichkeit oder zu brutalen<br />

Selbstabwertungen. Zwar steht auÉer Frage, daÉ Personen mit starker Selbstabwertungstendenz,<br />

die freilich allzuoft mit demonstrativer äberheblichkeit kompensiert wird, ihr Potential<br />

selten ‘ausfahren’. Doch warum ist das so? Sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil sie in ihren<br />

lautlosen SelbstgesprÇchen, denen sie ja ebensowenig wie jemand anders ‘entgehen’ kÄnnen,<br />

unangemessene Etikettierungen wie ‘gut’ oder ‘schlecht’ usw. verwenden, die verunmÄglichen,<br />

kleine Fortschritte, auf die es ebensosehr ankommt wie auf deren ‘Feststellung’, nachdem<br />

sie erfolgt sind, sprachlich so zu (er)fassen, daÉ sie ‘eine Art produktiver SelbstlÇufertendenz’<br />

in Gang zu bringen vermÄgen. Hier helfen Komparative. Man muÉ Karl Raimund<br />

Poppers StÅckwerkstechnologie nicht unbedingt schÇtzen, um jedoch zu erkennen, daÉ sie<br />

eine basale Einsicht beinhaltet: Fortschritte ‘ergeben sich nicht von selbst’, sind selten Folge<br />

utopischer Projekte; vielmehr muÉ man dazu selbst einiges konkret in oft nur kleinen Schritten<br />

tun: Doch dazu sollte man sich ermutigen und auch den kleinsten Erfolg bereits sprachlich<br />

(wenigstens fÅr sich selbst) abbilden. Selbstentmutigung ist zu einem wohl erheblichen MaÉe<br />

Produkt derjenigen Art, wie wir mit uns selbst sprechen – und hier spielen Pauschalurteile<br />

eine groÉe Rolle. Diese gilt es mit quasi ziselierten Komparativen auch dann einzuschrÇnken,<br />

wenn deren sprachliche ‘BewÇltigung’ zuerst einmal ungewohnt ist. Selbst ‘die’ <strong>Nietzscheinterpretation</strong><br />

kÄnnte ‘SprÅnge’ machen, wenn wenigstens Komparative zu selbstverstÇndlicher<br />

‘Denke’ und entsprechenden Sprachmustern gehÄren wÅrden.<br />

329


Ein renommierter, externer Beleg gefÇllig? Wer kennt nicht Erich KÇstners: „Es gibt nichts<br />

Gutes, auÉer man tut es.“ 588 Doch wer tut es? Fast niemand. Vielleicht auch deshalb, weil<br />

„nichts“ abwegig, „Gutes“ zu vage, zu ‘entfernt’, „man“ bei weitem zu unpersÄnlich und „es“<br />

vÄllig offen ist? Fast ein Ensemble klassischer Leerformeln? 589 So daÉ nicht klar ist, was unter<br />

„Gutes“ verstanden werden soll, wenn „man“ es tun soll? Und deshalb fÅhlt sich kaum<br />

jemand angesprochen, geschweige denn betroffen? Wird vielleicht genau deshalb diese Phrase<br />

so oft, weil so prachtvoll unverbindlich, zitiert? Sehr viel konkreter und bei weitem weniger<br />

unsinnig, doch leider weit holpriger klingt (noch): „Es gÇbe mehr Gutes, wenn selber man<br />

tÇt’ es.“ Dann nÇmlich wÅrde „Gutes“ bei weitem situativer verstanden und solcherart wenigstens<br />

fÅr viele auch attraktiver. AuÉerdem kommt es auf das „mehr“ und das „weniger“ an.<br />

Fast Åberall und in fast jederlei Hinsicht.<br />

Und gewiÉ nicht nur in <strong>Genetische</strong>r Nietzscheforschung und -interpretation, womit einmal<br />

mehr ein Kreis geschlossen worden wÇre.<br />

588 Erich KÇstner: Moral. In: Kurz und bÅndig. Bspw. in: Erich KÇstner, Gesammelte Schriften fÅr<br />

Erwachsene. Band I. Gedichte. MÅnchen, 1969, S. 324.<br />

589 Dazu als klassischer Einstieg: Ernst Topitsch: âber Leerformeln. Zur Pragmatik des Sprachgebrauchs<br />

in Philosophie und politischer Theorie. In: ders., Hg., Probleme der Wissenschaftstheorie.<br />

Wien, 1960, S. 233-264; Gerd Degenkolbe: âber logische Strukturen und gesellschaftliche Funktionen<br />

von Leerformeln. In: KÄlner Zeitschrift fÅr Soziologie und Sozialpsychologie XVII, 1965, S. 327-<br />

338; Michael Schmid: Leerformeln und Ideologiekritik. TÅbingen, 1972.<br />

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