Die Kapazitätsorientierte Materialbewirtschaftung ... - BWI - ETH Zürich
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Logistik-Strategien für Mischfertiger -<br />
<strong>Die</strong> <strong>Kapazitätsorientierte</strong> <strong>Materialbewirtschaftung</strong> (Korma)<br />
Prof. Dr. Paul Schönsleben, Betriebswissenschaftliches Institut <strong>BWI</strong> der <strong>ETH</strong> <strong>Zürich</strong><br />
<strong>Zürich</strong>bergstrasse 18, CH-8028 <strong>Zürich</strong>, Schweiz<br />
Tel. +41 1 632 05 10, Fax +41 1 632 10 40, e-mail sch@bwi.bepr.ethz.ch<br />
Einleitung und Übersicht<br />
Mischfertiger produzieren Güter mit verschiedenen Marktstrategien und logistischen Zielen.<br />
Sie stellen zum Beispiel Serienprodukte her und vertreiben diese, wobei Lagerbestände auf<br />
verschiedenen Produktionsstufen bis hin zu Endprodukten gehalten werden. Hier möchte<br />
man eine möglichst hohe Auslastung der Kapazitäten. Parallel dazu stellen Mischfertiger<br />
Produkte auf Kundenauftrag her, oft in Einmalproduktion. Hier interessieren möglichst<br />
kurze Durchlaufzeiten.<br />
Rechtzeitiges Liefern ist das Hauptziel von Mischfertigern. Kundenproduktionsaufträge<br />
müssen mit grosser Priorität geliefert werden. Lagernachfüllaufträge müssen rechtzeitig<br />
fertiggestellt werden, das heisst, sobald das Lager aufgebraucht ist. Das Auftragsvolumen<br />
für beide Logistik-Charakteristiken ist dabei in der gleichen Grössenordnung.<br />
Für eine einfache Logistik wäre eine Segmentierung der Produktionsressourcen gefordert.<br />
Eine der Hauptstärken von manchen mittelgrossen Unternehmen ist jedoch gerade die Flexibilität<br />
in der Planung & Steuerung ihrer Ressourcen, die ihnen erlaubt, dieselbe Produktionsinfrastruktur<br />
zu nutzen. Sie stellen ein relativ breites Sortiment an Produkten her,<br />
mit einer Kompetenz auf einer relativ kleinen Anzahl an Produktionsprozessen.<br />
<strong>Die</strong> Produkte haben meistens kurze bis mittelgrosse Durchlaufzeiten, in der Grössenordnung<br />
von einigen Stunden bis Tagen Arbeitsgangdauer, also ohne die Arbeitsgangzwischenzeiten<br />
gerechnet. Sie sind von mittlerer Komplexität, mit wenigen Produktionsstufen,<br />
einigen Dutzend Stücklistenpositionen und einem Dutzend Arbeitsgänge pro Stufe.<br />
Planungsstrategie: Unternehmen mit gemischter Produktion spielen flexibel Ware in Arbeit<br />
gegen die verfügbare Kapazität und gegen kurze Durchlaufzeiten für Kundenproduktionsaufträge.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Kapazitätsorientierte</strong> <strong>Materialbewirtschaftung</strong> (Korma) ist ein operationelles<br />
Führungsprinzip für diese Schlüsselfähigkeit von Unternehmen (siehe auch [Schö95.1]).<br />
Im Prinzip werden die Lagernachfüllaufträge als "Füller"-Belastung betrachtet. Korma ist<br />
eine intelligente Nutzung von kurzfristig verfügbaren kritischen Kapazitäten, was in einer<br />
ausgeglicheneren Auslastung mündet. <strong>Die</strong>s hilft, Warteschlangenzeiten und dadurch<br />
Durchlaufzeiten zu senken. <strong>Die</strong> Auftragsfreigabe kann dabei periodisch, in "Paketen"<br />
erfolgen. Das erlaubt, optimale Reihenfolgen von Aufträgen zu bilden, was Rüstzeiten<br />
verkürzt. Zusammenfassend gesagt, folgt Korma einer natürlichen Logik des<br />
Produktionsmanagements, wie sie praktisch in manchen mittelgrossen Unternehmen<br />
implementiert ist.<br />
Um eine flexible Nutzung der Kapazität zu erreichen, muss also mit erhöhtem Bestand an<br />
Lager bezahlt werden. <strong>Die</strong> Gesamtkosten für Kapazität, Bestand an Ware in Arbeit und an<br />
Lager sollen dabei gegen ein Minimum tendieren.<br />
Prinzip der Methode: Korma besteht aus drei Teilen, nämlich<br />
1. einem Kriterium zur Auftragsfreigabe, um Lagernachfüllaufträge früher als<br />
notwendig auszulösen, also etwa bevor der Lagerbestand unter den Bestellbestand
2 Logistik-Strategien für Mischfertiger - <strong>Die</strong> <strong>Kapazitätsorientierte</strong> <strong>Materialbewirtschaftung</strong> (Korma)<br />
zu liegen kommt. Eine vorzeitige Freigabe wird in Betracht gezogen, sobald bei gut<br />
ausgelasteten Kapazitätsplätzen verfügbare Kapazität vorliegt.<br />
2. einer Terminierungsmethode zur Bereichssteuerung, das für vorzeitig ausgelöste Lagernachfüllaufträge<br />
anstelle zu verfrühtem Lagerbestand nur zu Ware in Arbeit<br />
führt, wobei deren rechtzeitige Fertigstellung garantiert bleibt. Gleichzeitig können<br />
Kundenproduktionsaufträge in kürzester Durchlaufzeit geliefert werden. Der<br />
Schlüssel ist hier das dauernde Nachführen eines geeigneten Masses für die<br />
Dringlichkeit.<br />
3. einem Mechanismus, der die Bereichssteuerung mit der Materialwirtschaft koppelt,<br />
indem ein Lagernachfüllauftrag regelmässig gemäss der aktuellen Situation<br />
aufgrund des Verbrauchs neu terminiert wird. Dazu wird der aktuelle Lagerbestand<br />
in einen geeigneten spätesten Endtermin für den offenen Nachfüllauftrag umgesetzt.<br />
Korma dient somit nicht nur zur Auftragsfreigabe, sondern zur gesamten kurzfristigen Planung<br />
und Steuerung, von der Auftragsfreigabe bis hin zum Lagereingang oder zur Spedition<br />
an den Kunden. <strong>Die</strong> langfristige Planung der Güter und der Kapazitäten geschieht unabhängig<br />
davon. Sie kann auf traditionellen Vorhersagemethoden beruhen, zum Beispiel<br />
vergangenheitsbasiert für die Serienproduktion und zukunftsbasiert für die<br />
Einmalproduktion.<br />
Verfahren: <strong>Die</strong> drei Teile von Korma werden nun im Detail beschrieben.<br />
Korma, 1.Teil: Kriterium zur vorzeitigen Auftragsfreigabe<br />
Man prüft regelmässig die Nutzung der im allgemeinen gut ausgelasteten Kapazitäten. Sobald<br />
man kurzfristig nicht genutzte Kapazitäten festgestellt, prüft man die Verfügbarkeit<br />
der Produkte, die mit diesen Kapazitäten hergestellt werden. Es ist, wie wenn die Kapazität<br />
nach einem Auftrag Ausschau halten würde. Daher stammt auch der Name<br />
“<strong>Kapazitätsorientierte</strong> <strong>Materialbewirtschaftung</strong>”. Ein Kapazitätsplatzverwendungsnachweis<br />
kann die für diesen ersten Schritt notwendige Information liefern. Wenn man jeder<br />
Kapazität einen Agenten zuordnet, hat man hier auch ein Anwendungsgebiet für<br />
agentenbasierte Systeme (siehe z.B. [Kass96]).<br />
In der Praxis stellt man oft fest, dass eine bestimmte Produktfamilie auf einer Gruppe von<br />
wenigen Kapazitätsplätzen hergestellt wird. Wenn eine Kapazität dieser Gruppe nicht ausgelastet<br />
ist, so sind es die anderen oft auch nicht. Wenn dann ein Auftrag vorzeitig freigegeben<br />
wird, können möglicherweise gleich einige Arbeitsgänge vorzeitig ausgeführt werden.<br />
Welches sind aus den so bestimmten Produkten die Kandidaten für eine vorzeitige<br />
Auftragsfreigabe? Für jeden Kandidaten wird die Vorgriffszeit berechnet.<br />
<strong>Die</strong> Vorgriffszeit für einen Artikel ist die Zeit, die wahrscheinlich verstreichen wird, bis ein<br />
Produktions- bzw. ein Beschaffungsauftrag für den Artikel ausgelöst werden muss.<br />
<strong>Die</strong> Abb. 1 zeigt eine Formel zur Bestimmung der Vorgriffszeit für den deterministischen<br />
Fall. Sie berücksichtigt alle bekannten Transaktionen in der nahen Zukunft. <strong>Die</strong> Vorgriffszeit<br />
ist dann der minimale Vorgriffshorizont, für welchen die Ungleichung gilt.
Lagerbestand + Σ offene Eingänge<br />
- Σ{Reservationen während Vorgriffshorizont} < Bestellbestand<br />
Korma, 1.Teil: Kriterium zur vorzeitigen Auftragsfreigabe 3<br />
Abb. 1 <strong>Die</strong> Bestimmung der Vorgriffszeit im deterministischen Fall<br />
Für den stochastischen Fall drückt die Abb. 2 die Vorgriffszeit grafisch aus. Es ist die<br />
wahrscheinliche Zeit, bis der Bestand an Lager unter den Bestellbestand fällt, unter<br />
Annahme eines durchschnittlichen Verbrauchs in der nahen Zukunft. <strong>Die</strong> Abb. 3 zeigt die<br />
Formel zum Berechnen der Vorgriffszeit.<br />
Bestellbestand<br />
Sicherheitsbestand<br />
Lagerbestand<br />
+ Σ' offene Eingänge<br />
Vorgriffszeit<br />
Verbrauch während Statistikperiode<br />
Beschaffungsfrist<br />
Abb. 2 <strong>Die</strong> Vorgriffszeit im stochastischen Fall<br />
Lagerbestand + ∑<br />
offene Eingänge - Bestellbestand<br />
Vorgriffszeit =<br />
Verbrauch während Statistikperiode<br />
Abb. 3 <strong>Die</strong> Berechnung der Vorgriffszeit im stochastischen Fall<br />
Gibt es nun mehr als einen Kandidaten zur vorzeitigen Freigabe, so wird die Priorität einfach<br />
demjenigen Produkt gegeben, für das die Vorgriffszeit kürzer ist als für ein anderes.<br />
t
4 Logistik-Strategien für Mischfertiger - <strong>Die</strong> <strong>Kapazitätsorientierte</strong> <strong>Materialbewirtschaftung</strong> (Korma)<br />
Korma, 2.Teil: Terminierungsmethode zur Bereichssteuerung<br />
Neue Kundenaufträge verändern laufend die Belastung. Sie “behindern” auch den Fortschritt<br />
der Lagernachfüllaufträge, und umgekehrt. Alle Aufträge in Arbeit werden deshalb<br />
laufend neu terminiert, und zwar mit der sogenannten “Wahrscheinliche Terminierung”.<br />
<strong>Die</strong>s verändert ihren Dringlichkeitsfaktor und beschleunigt oder bremst damit die betreffenden<br />
Aufträge.<br />
Bei Rückwärtsterminierung oder Vorwärtsterminierung von Produktionsaufträgen entsteht<br />
im allgemeinen eine Abweichung zwischen dem spätesten Starttermin und dem frühesten<br />
Starttermin, respektive zwischen dem frühesten Endtermin und dem spätesten Endtermin.<br />
<strong>Die</strong> Wahrscheinliche Terminierung berücksichtigt die “Schlupfzeit”, d.h. die Abweichung<br />
zwischen spätestem und frühestem Start- bzw. Endtermin zur Verlängerung bzw. Verkürzung<br />
der Durchlaufzeit.<br />
<strong>Die</strong>se Schlupfzeit ist ein Mass für die Flexibilität zur Planung. Eine positive Schlupfzeit erlaubt<br />
ein Verlängern der Durchlaufzeit, während eine negative Schlupfzeit ein Verkürzen<br />
verlangt. <strong>Die</strong> Abb. 4 zeigt das Prinzip der Wahrscheinlichen Terminierung anhand eines<br />
Beispiels von drei Arbeitsgängen (“Ag”) und einer positiven Schlupfzeit. Im Vergleich zur<br />
Vorwärts- und Rückwärtsterminierung sind die Arbeitsgänge gleichmässig zwischen dem<br />
frühestem Starttermin und dem spätestem Endtermin verteilt.<br />
"vorwärts"<br />
"wahrscheinlich"<br />
"rückwärts"<br />
frühester<br />
Starttermin<br />
Ag 10 Ag 20 Ag 30<br />
Ag 10<br />
Ag 20 Ag 30<br />
Ag 10 Ag 20 Ag 30<br />
Abb. 4 Vorwärts-, Rückwärts- und Wahrscheinliche Terminierung<br />
spätester<br />
Endtermin<br />
Da die Dauer der Arbeitsgänge und die technischen Arbeitsgangzwischenzeiten durch das<br />
technische Verfahren gegeben sind, muss die Schlupfzeit durch Verlängern bzw. Verkürzen<br />
der nichttechnischen Arbeitsgangzwischenzeiten oder administrativen Zeiten realisiert<br />
werden. Alle diese Zeitelemente sind Attribute der Stammdaten eines Produktes, seines<br />
Arbeitsplanes und der Kapazitätsplätze. Ihre Werte sind Durchschnitte, durch Messung<br />
oder Schätzung bestimmt.<br />
Der Dringlichkeitsfaktor ist ein Faktor, mit dem die nichttechnischen Arbeitsgangzwischenzeiten<br />
und die administrativen Zeiten multipliziert werden.<br />
Zeit
Korma, 2.Teil: Terminierungsmethode zur Bereichssteuerung 5<br />
<strong>Die</strong> Wahl des Dringlichkeitsfaktors hat folgende Effekte auf den<br />
Terminierungsalgorithmus:<br />
• Ein Faktor grösser als 1 ergibt eine verlängerte Durchlaufzeit.<br />
• Ein Faktor gleich 1 ergibt die “normale”, d.h. die durchschnittliche Durchlaufzeit.<br />
• Ein Faktor zwischen 0 und 1 ergibt eine verkürzte Durchlaufzeit.<br />
• Ein Faktor gleich 0 ergibt eine minimale Durchlaufzeit, indem nur die Arbeitsgangdauern<br />
und technischen Arbeitsgangzwischenzeiten aneinandergereiht werden.<br />
• Mit einem Faktor kleiner als 0 werden die Arbeitsgänge überlappt.<br />
<strong>Die</strong> Wahrscheinliche Terminierung nimmt nun den spätesten Endtermin und den<br />
frühesten Starttermin als gegeben, und berechnet den Dringlichkeitsfaktor. Eine solche<br />
Ausgangslage liegt zum Beispiel in den folgenden Fällen vor:<br />
• Kundenproduktionsaufträge mit einem fixen Liefertermin. <strong>Die</strong>ser ist der späteste<br />
Endtermin für die Terminierung. Oft sind nun die Liefertermine so kurzfristig, dass<br />
der früheste Starttermin de facto “heute” ist. Der Terminierungsalgorithmus sollte<br />
dann den Dringlichkeitsfaktor (kleiner als 1) berechnen, der zur Verkürzung der<br />
Arbeitsgangzwischenzeiten nötig ist, damit der Auftrag zwischen “heute” und dem<br />
Liefertermin beendet werden kann. In diesem Fall zeigt der Dringlichkeitsfaktor die<br />
Machbarkeit im Auftragsdurchlauf an, immer genügende Kapazitäten vorausgesetzt.<br />
• Aufträge in Arbeit: Der früheste Starttermin für die restlichen Arbeitsgänge ist “heute”.<br />
Der späteste Endtermin ist meistens das Datum, das während der Auftragsfreigabe<br />
bestimmt wurde. Eine erneute Terminierung berechnet den zum zeitlich rechtzeitigen<br />
Beenden des Auftrages nötigen Dringlichkeitsfaktor. <strong>Die</strong>s ist sehr hilfreich,<br />
wenn sich z.B. ein Auftrag nach der Auftragsfreigabe verspätet. Ein kleinerer Dringlichkeitsfaktor<br />
gibt diesem Auftrag sofort Priorität.<br />
• Vorzeitig freigegebene Aufträge: Der früheste Starttermin ist durch das Freigabedatum<br />
gegeben, der späteste Endtermin durch das Datum, zu welchem der Bestand<br />
an Lager wahrscheinlich unter den Sicherheitsbestand fällt. Wieder berechnet die<br />
Wahrscheinliche Terminierung den zum rechtzeitigen Beenden des Auftrages notwendigen<br />
Dringlichkeitsfaktor. <strong>Die</strong>ser kann dann direkt als eine Prioritätsregel für<br />
Warteschlangen vor Kapazitäten verwendet werden.<br />
Wie wird der Dringlichkeitsfaktor berechnet? Durch eine iterative Vorwärts- oder Rückwärtsterminierung<br />
der folgende Art:<br />
0 Wähle einen Dringlichkeitsfaktor, zum Beispiel 1 (willkürlich) oder der zuletzt<br />
gültige (z.B. aus einer früheren Terminierung).<br />
1 Vorwärts- bzw. Rückwärtsterminierung mit dem gegebenen Dringlichkeitsfaktor.<br />
Gleichzeitig ist mit dem Dringlichkeitsfaktor 0 der früheste Endtermin bzw. der<br />
späteste Starttermin zu berechnen, und damit die notwendige Durchlaufzeit für<br />
Arbeitsgangdauer und technische Arbeitsgangzwischenzeiten.<br />
2 Ist die Differenz zwischen Wahrscheinlichem Endtermin und spätestem Endtermin<br />
bei Vorwärtsterminierung bzw. frühestem Starttermin und Wahrscheinlichem Starttermin<br />
bei Rückwärtsterminierung ungefähr Null, dann ist der gesuchte Dringlichkeitsfaktor<br />
gefunden und das Verfahren endet.<br />
3 Ist diese Differenz nicht ungefähr Null, so wird ein neuer Dringlichkeitsfaktor gemäss<br />
Abb. 6 bestimmt. Dann wird erneut mit dem Schritt 1 fortgesetzt.<br />
<strong>Die</strong> Abb. 5 zeigt die resultierende Situation im Schritt 3 nach jeder Iteration bei Rückwärtsterminierung<br />
1<br />
.<br />
1<br />
<strong>Die</strong> Abkürzungen: FST steht für den frühesten Starttermin, SST für den spätesten Starttermin und<br />
SET für den spätesten Endtermin. WST steht für den Wahrscheinlichen Starttermin.
6 Logistik-Strategien für Mischfertiger - <strong>Die</strong> <strong>Kapazitätsorientierte</strong> <strong>Materialbewirtschaftung</strong> (Korma)<br />
FST WST<br />
SST SET Zeit<br />
(nichttechnische Arbeits-<br />
gangzwischenzeiten<br />
+ Administrationszeiten)<br />
* (alter Dringlichkeitsfaktor)<br />
(nichttechnische Arbeitsgangzwischenzeiten +<br />
Administrationszeiten) * (neuer Dringlichkeitsfaktor)<br />
Dauer der Arbeitsgänge<br />
+ technische Arbeitsgangzwischenzeiten<br />
Abb. 5 <strong>Die</strong> Rolle des Dringlichkeitsfaktors für die Wahrscheinliche Terminierung<br />
Eine beliebige Iteration des Terminierungsalgorithmus berechnet den Wahrscheinlichen<br />
Starttermin unter Hinzuziehen des aktuell gültigen Dringlichkeitsfaktors. <strong>Die</strong>selbe<br />
Iteration des Algorithmus berechnet mit dem Dringlichkeitsfaktor 0 den spätesten<br />
Starttermin und damit die minimal nötige Durchlaufzeit, ohne Arbeitsgänge zu<br />
überlappen. <strong>Die</strong> Abb. 5 zeigt nun das Ziel jeder Neurechnung des Dringlichkeitsfaktors,<br />
nämlich die Differenz, d.h. die Schlupfzeit zwischen dem frühesten Starttermin und dem<br />
Wahrscheinlichen Starttermin aufzufüllen. Da es sich dabei um einen Multiplikationsfaktor<br />
handelt, ist der naheliegende Ansatz eine proportionale Beziehung, wie sie in der<br />
Abb. 6 gezeigt ist 2 .<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Abb. 6 Proportionalität für die Neurechnung des Dringlichkeitsfaktors<br />
Im Falle eines Produktionsauftrags mit einer einfachen Menge von seriell ablaufenden<br />
Arbeitsgängen liefert die Wahrscheinliche Termininierung mit der Neurechenformel in Abb.<br />
6 meistens die exakte Lösung nach nur einem Iterationsschritt nach dem Initialschritt. Bei<br />
einer Netzwerkstruktur kann es aber in jedem Ast des Netzwerks eine unterschiedliche<br />
Anzahl von Arbeitsgängen mit unterschiedlichen Arbeitsgangzwischenzeiten geben. In<br />
jedem Fall gibt es Situationen, wo eine direkte und exakte Lösung mit einer Schlupfzeit<br />
vernünftig nahe bei Null nicht immer mit einer Iteration erzielt werden kann. Folgendes<br />
sind Gründe und Möglichkeiten zu ihrer Behandlung:<br />
• <strong>Die</strong> Rechnung war zu grob. Eine weitere Iteration des Verfahrens wird eine genaueres<br />
Resultat liefern, das heisst eine Schlupfzeit genügend nahe bei Null.<br />
• Es liegt eine Rechenungenauigkeit vor, die zum Beispiel dadurch entfernt werden<br />
kann, dass auf eine feinere Einheit genau gerechnet wird, zum Beispiel auf Zehnteltage<br />
genau anstatt “nur” auf Halbtage.<br />
2<br />
<strong>Die</strong> Abkürzungen: DRIFAK steht für den Dringlichkeitsfaktor, FET für den frühesten Endtermin<br />
und WET für den Wahrscheinlichen Endtermin
Korma, 3.Teil: Mechanismus, der die Bereichssteuerung mit der Materialwirtschaft koppelt 7<br />
• Aufgrund des neuen Dringlichkeitsfaktors wurde ein anderer Weg im Netzwerk der<br />
Arbeitsgänge zeitkritisch, das heisst zum längsten Weg. Eine weitere Iteration des<br />
beschriebenen Verfahrens wird genaue Ergebnisse liefern, sofern der kritische Pfad<br />
derselbe bleibt.<br />
• Ein negativer Dringlichkeitsfaktor liegt vor und der Terminierungsalgorithmus<br />
kann die Arbeitsgänge nicht sinnvoll zwischen den frühesten Starttermin und den<br />
spätesten Endtermin legen. Einer der Arbeitsgänge allein kann sogar länger sein als<br />
die Differenz zwischen diesen beiden Eckterminen. In beiden Fällen kann die Situation<br />
nicht gehandhabt werden, ohne diese Differenz zu erhöhen.<br />
Korma, 3.Teil: Mechanismus, der die Bereichssteuerung mit der<br />
Materialwirtschaft koppelt<br />
Man überträgt die aktuelle Situation des Lagerbestands auf den spätesten Endtermin des<br />
Nachfüllauftrags, der sich damit verändert. Der Bestand an Lager wird laufend geprüft und<br />
der wahrscheinliche Zeitpunkt berechnet, wann der Bestand unter den Sicherheitsbestand<br />
fallen wird, unter Annahme des durchschnittlichen Verbrauchs.<br />
• Im stochastischen Fall dividiert man dafür den (Lagerbestand minus Sicherheitsbestand)<br />
durch den durchschnittlichen Verbrauch pro Zeitperiode.<br />
• Besteht im deterministischen Fall eine minimale Lieferzeit für Kundenaufträge<br />
ab Lager, so subtrahiert man die Reservationen in dieser Zeit vom Lagerbestand<br />
(siehe Abb. 1). Nachher geht man vor wie im stochastischen Fall.<br />
<strong>Die</strong> so berechnete und zu "heute" addierte Zeit ergibt das wahrscheinliche Datum, zu welchem<br />
der Nachfüllauftrag am Lager ankommen sollte. <strong>Die</strong>ses Datum wird als spätester<br />
Endtermin auf den Nachfüllauftrag übertragen. Folgende Situationen können entstehen:<br />
• Der späteste Endtermin wird vorverschoben, sobald der Lagerbestand stärker<br />
sinkt als der statistische Durchschnitt des Verbrauchs zum Zeitpunkt der Freigabe.<br />
Eine Neuterminierung berechnet dann einen kleineren Dringlichkeitsfaktor,<br />
was höhere Priorität ergibt: der Auftrag wird beschleunigt.<br />
• Der späteste Endtermin wird nach hinten verschoben, sobald der Lagerbestand<br />
langsamer sinkt als der statistische Durchschnitt des Verbrauchs zum Zeitpunkt<br />
der Freigabe. Eine Neuterminierung berechnet dann einen grösseren Dringlichkeitsfaktor,<br />
was kleinere Priorität ergibt: der Auftrag wird gebremst.<br />
Zum Veranschaulichen der Wirkung von Korma sei ein Lagernachfüllauftrag mit drei Arbeitsgängen<br />
angenommen. <strong>Die</strong> Abb. 7 zeigt die möglichen Ergebnisse.
8 Logistik-Strategien für Mischfertiger - <strong>Die</strong> <strong>Kapazitätsorientierte</strong> <strong>Materialbewirtschaftung</strong> (Korma)<br />
Bestellbestand<br />
Sicherheitsbestand<br />
1. Fall<br />
2. Fall<br />
3. Fall<br />
4. Fall<br />
Bestand an Lager<br />
+ Σ' offene Bestellungen<br />
WST<br />
WST<br />
WST<br />
Vorgriffszeit<br />
"normale"<br />
Beschaffungsfrist<br />
SST SET<br />
WET<br />
WET<br />
Legende:<br />
xST: . . . Starttermin<br />
xET: . . . Endtermin<br />
Sxx: Spätester . . .<br />
Wxx: Wahrscheinlicher . . .<br />
Abb. 7 Neuterminieren der Aufträge in Arbeit gemäss der aktuellen Situation in der<br />
Materialwirtschaft<br />
Durch die vorzeitige Freigabe wird ein Dringlichkeitsfaktor grösser als 1 berechnet. <strong>Die</strong><br />
drei Arbeitsgänge werden gleichmässig verteilt wie im 1. Fall in der Abb. 7. Alle drei Arbeitsgänge<br />
sind freigegeben, aber ohne Dringlichkeit. Somit werden sie ausgeführt, sobald<br />
keine dringenderen Arbeitsgänge am entsprechenden Kapazitätsplatz warten. Wenn der<br />
erste Arbeitsgang vorzeitig ausgeführt wird, so wird eine Neuterminierung womöglich einen<br />
noch grösseren Dringlichkeitsfaktor als zu Beginn berechnen, wodurch der Auftrag an<br />
Priorität verliert und dadurch gebremst wird.<br />
Nimmt der Mischfertiger nun einen ungeplanten Kundenproduktionsauftrag mit kleinerem<br />
Dringlichkeitsfaktor an, so wartet der Lagernachfüllauftrag. Im 2. Fall der Abb. 7 wird<br />
nicht einmal der erste Arbeitsgang ausgeführt. Eine laufende Neuterminierung “entdeckt”<br />
einen Auftrag, der zu lange wartet: der wahrscheinliche Starttermin, nämlich "heute", wird<br />
näher und näher zum spätesten Endtermin geschoben. <strong>Die</strong> Neuterminierung berechnet<br />
dann einen kleineren Dringlichkeitsfaktor, wodurch der Auftrag mehr Priorität erhält.<br />
Der 3. und 4. Fall in Abb. 7 zeigt den wichtigsten Aspekt des dritten Teils von Korma:<br />
• Im 3. Fall sinkt der Lagerbestand schneller als vorhergesagt. Der späteste Endtermin<br />
wird vorverschoben. Eine Neuterminierung berechnet einen kleineren Dringlichkeitsfaktor:<br />
der Auftrag wird beschleunigt.<br />
• Im 4. Fall sinkt der Lagerbestand schneller als vorhergesagt. Der späteste Endtermin<br />
wird nach hinten verschoben. Eine Neuterminierung berechnet einen grösseren<br />
Dringlichkeitsfaktor: der Auftrag wird gebremst.<br />
Übrigens kann auch eine Änderung des Lieferdatums eines Kundenauftrages eine Neuterminierung<br />
nach sich ziehen, mit ähnlichen Konsequenzen.<br />
WET<br />
t
Literaturhinweise 9<br />
Beurteilung des Verfahrens und organisatorische Aspekte: Für den Einsatz der Korma müssen<br />
die folgenden Voraussetzungen gegeben sein:<br />
• Vermehrte Ware in Arbeit aufgrund der vorzeitigen Freigabe von Lagernachfüllaufträgen<br />
muss finanziell und im Volumen verkraftbar sein. Es entsteht aber kein vorzeitiger<br />
Bestand an Lager.<br />
• Es bestehen genügend Möglichkeiten, Aufträge vorzeitig freizugeben, d.h. Lagernachfüllaufträge<br />
oder Kundenproduktionsaufträge, die vor dem spätesten<br />
Starttermin bereits vorliegen.<br />
Es ergeben sich die folgenden Einschränkungen:<br />
• Im Vordergrund muss eine gleichmässigere Auslastung der Kapazitäten stehen,<br />
nicht eine maximale. Schwankungen in der Auslastung werden bleiben.<br />
• Disponenten “vor Ort” müssen mit sich laufend verändernden Auftragsbeständen<br />
umgehen können. Sie müssen die Vorschläge aus der Korma zu nutzen verstehen<br />
und z.B. situativ die vorgeschlagene Reihenfolge der Abarbeitung aufgrund<br />
zusätzlich vorhandener Informationen ändern können.<br />
Damit bieten sich die folgenden Einsatzgebiete an:<br />
• Nebst der gemischten Produktion überall dort, wo Endtermine eingehalten werden<br />
müssen und trotzdem Robustheit gegen Fehler in den Planungsdaten oder Veränderungen<br />
im Auftragsbestand gefordert sind.<br />
• Unter der Annahme einer genügend genauen Fortschrittsdatenerfassung ergibt die<br />
Korma einen Vorschlag zur selbstregulierenden Bereichssteuerung für<br />
Mischfertiger. Da sie von dauernder Änderung des Auftragsbestandes ausgeht, ist<br />
sie robust auch im Falle von - durchaus gewünschter - situativer Planung “vor Ort”.<br />
• Wegen der laufenden Kopplung mit der Materialwirtschaft kann ein Auftrag<br />
mehrere Male seinen spätesten Endtermin ändern, ein Lagernachfüllauftrag solange,<br />
bis der Bestand an Lager unter den Sicherheitsbestand fällt. Ab diesem Moment<br />
ist der Nachfüllauftrag direkt den laufend eingehenden Kundenaufträgen zuzuordnen,<br />
da diese durch ihn gedeckt werden. Weil Kundenaufträge definitive Lieferdaten<br />
bestätigt erhalten, die nicht mehr ändern sollten, muss der Nachfüllauftrag jetzt<br />
einen “festen”, d.h. definitiven spätesten Endtermin erhalten. Damit wird Korma<br />
auch zu einem selbstregulierenden System für die kurzfristige<br />
<strong>Materialbewirtschaftung</strong>.<br />
Literaturhinweise<br />
Schö95.1 Schönsleben, P.<br />
"Corma: Capacity Oriented Materials Management"<br />
Proceedings of the APICS World Symposium in Auckland,<br />
Australasian Production and Inventory Control Society, 1995<br />
Kass96 Kassel, S.<br />
"Multiagentensysteme als Ansatz zur Produktionsplanung<br />
und -steuerung "<br />
Information Management 11:1, 1996, S.46-50