Psychische Gewalt am Kind - Kinderrechte
Psychische Gewalt am Kind - Kinderrechte
Psychische Gewalt am Kind - Kinderrechte
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<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong><br />
Dokumentation der Enqueten<br />
„Wehe, wehe, wenn<br />
ich an das Ende sehe“, Nov. 1999<br />
„Es irrt der Mensch,<br />
solang’ er strebt“, Okt. 2000<br />
BUNDESMINISTERIUM<br />
FÜR SOZIALE SICHERHEIT UND GENERATIONEN
Impressum<br />
Wir danken allen Referentinnen und Referenten für die Durchsicht der redigierten Texte ihrer Referate.<br />
Redaktion: Barbara Urban, Medizinjournalistin, ORF, e-mail: barbara.urban@gmx.net<br />
Lithographie und Gestaltung: Druckerei BMSG<br />
Lektorat: Media Verlagsservice<br />
Druck: Druckerei BMSG<br />
Medieninhaber und Herausgeber: Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen<br />
1. Auflage<br />
Erhältlich in der Abteilung VI/2<br />
Tel.: 711 00-3244 oder e-mail: franz.macho@bmsg.gv.at
Werte Leserinnen und Leser!<br />
Die Broschüre, die Sie in Händen halten, stellt das zus<strong>am</strong>mengefasste Ergebnis<br />
zweier Enqueten zum Thema „<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern“ dar.<br />
Während körperliche <strong>Gewalt</strong> in den letzten Jahren in Fachgremien, in den<br />
Medien und der Öffentlichkeit verstärkt diskutiert wurde, war die leisere, unauffälligere<br />
und in ihrer Graus<strong>am</strong>keit und ihren Folgen scheinbar harmlosere Form<br />
der <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern, nämlich die psychische <strong>Gewalt</strong>, einfach viel zu wenig<br />
Thema.<br />
Der Grund dafür mag nicht nur in den zumeist weniger augenfälligen Auswirkungen dieser <strong>Gewalt</strong>form liegen,<br />
sondern auch darin, dass diese Form der <strong>Gewalt</strong> so schwer fassbar ist, so schwer einzugrenzen und zu definieren.<br />
Vielschichtigkeit und Schwierigkeit des Themas „psychische <strong>Gewalt</strong>“ werden beim Studium der vorliegenden<br />
Broschüre so richtig offenkundig. Während in der ersten Enquete der Schwerpunkt bei jenen Formen der psychischen<br />
<strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern lag, die in den F<strong>am</strong>ilien bzw. durch die F<strong>am</strong>ilien ausgeübt wird, befasste sich die<br />
zweite Enquete mit den Auswirkungen psychischer <strong>Gewalt</strong>, die aus Institutionen kommt, wie zum Beispiel der<br />
Schule oder Einrichtungen der Jugendwohlfahrt.<br />
Diese Broschüre soll als Nachschlagwerk dienen, als Nachlese die Erinnerung auffrischen und die Vertiefung<br />
mit dem Thema ermöglichen. Sie soll Gelegenheit bieten, sich mit diesem komplexen Thema auseinanderzusetzen.<br />
An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass es sich bei den Beiträgen der vorliegenden Dokumentation<br />
um keine wissenschaftliche Publikationen handelt. Deshalb wurde bewusst der Charakter des gesprochenen<br />
Wortes auch in der vorliegenden schriftlichen Form beibehalten.<br />
Die Beschäftigung mit diesem Thema kann keine rein akademische sein; das zeigten auch die Reaktionen unmittelbar<br />
während der Enqueten. Selbst Expertinnen und Experten mussten immer wieder mit tiefer Betroffenheit<br />
erkennen, dass auch sie selbst nicht gegen die Ausübung der einen oder anderen Form psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
gefeit sind. Die Erkenntnis, dass selbst das gut gemeinte „Handeln in bester Absicht“ mitunter psychische <strong>Gewalt</strong><br />
hervorrufen und somit das Gegenteil von „gut“ sein kann, ist erschreckend.<br />
Daher ersuche ich Sie, dem Thema „psychische <strong>Gewalt</strong>“ nicht nur in Ihrem Arbeitsumfeld, sondern auch in Ihrem<br />
privaten Leben vermehrt Aufmerks<strong>am</strong>keit zu schenken und Ihren höchstpersönlichen Beitrag dafür leisten zu<br />
wollen, dass <strong>Gewalt</strong> – in welcher Form auch immer – zurückgedrängt wird und dadurch ein höherer Grad der<br />
Bewusstmachung erreicht werden kann.<br />
Ihr<br />
Mag. Herbert Haupt<br />
F<strong>am</strong>ilienminister
Was ist psychische <strong>Gewalt</strong>?<br />
Versuch einer Definition<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist ...<br />
l wenn <strong>Kind</strong>ern mutwillig Angst gemacht wird.<br />
l wenn <strong>Kind</strong>er eingeschüchtert, ausgegrenzt, isoliert werden.<br />
l wenn <strong>Kind</strong>er verspottet werden oder der Verspottung Preis gegeben werden.<br />
l wenn <strong>Kind</strong>er missachtet und entwertet werden.<br />
l wenn <strong>Kind</strong>er klein gemacht, klein gehalten und abgewertet werden.<br />
l wenn <strong>Kind</strong>er gezielt entmutigt werden.<br />
l wenn <strong>Kind</strong>er mit Druck und Unterdrückung erzogen werden.<br />
l wenn <strong>Kind</strong>ern keine Grenzen gesetzt werden.<br />
l wenn Eltern ihren <strong>Kind</strong>ern Orientierung verweigern und sich ihrer Verantwortung gegenüber ihren <strong>Kind</strong>ern<br />
entziehen.<br />
l wenn Strafe zu einem Zeitpunkt vollzogen wird, wo das <strong>Kind</strong> gar nicht mehr weiß, was es getan hat, und<br />
die Strafe nicht als Konsequenz seiner Handlungen erkennen kann.<br />
l wenn <strong>Kind</strong>er das tun müssen, was ihre Eltern immer gerne getan hätten, wenn <strong>Kind</strong>ern sozusagen das<br />
Leben der Eltern auferlegt wird.<br />
l wenn Gefühle der Hilflosigkeit und schutzlosen Preisgabe ausgelöst werden und es zu einer Erschütterung<br />
des Selbst- und Weltverständnisses des <strong>Kind</strong>es kommt.<br />
l wenn <strong>Kind</strong>er als Spielball der Interessen des jeweiligen Elternteils z.B. im Zuge einer Scheidung missbraucht<br />
werden, wenn also das <strong>Kind</strong>eswohl vorsätzlich und bewusst vorgeschützt wird, um eigene Interessen durchzusetzen<br />
oder zu fördern.<br />
l wenn <strong>Kind</strong>er Loyalitätskonflikten zwischen den Eltern ausgesetzt werden.<br />
l wenn den Eltern das Verhalten des <strong>Kind</strong>es wichtiger als seine Person ist.<br />
l leise. Sie ist nicht laut. Sie ist nicht spektakulär, aber sie ist langhaltig, sie ist ausdauernd, und sie ist<br />
nachwirkend.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist weiters ...<br />
l immer dort, wo Angst als Erziehungsmittel eingesetzt wird.<br />
l nicht nur Vernachlässigung, es kann auch ein Übermaß an erstickender Liebe sein.<br />
l viel schwieriger zu erkennen als körperliche <strong>Gewalt</strong>, da sie <strong>am</strong> Körper keine sichtbaren Narben hinterlässt.<br />
l so schwer fassbar, da sie individuell erlebt wird und ihre Wirkung von außen oft nicht erkennbar und<br />
einschätzbar ist.<br />
l subjektiv zu verstehen und zu betrachten; das subjektive Erleben des <strong>Kind</strong>es, sein emotionales, existenzielles<br />
Empfinden steht im Vordergrund.<br />
l ein „unangenehmes“ Thema, da dieses Phänomen schwer fassbar ist, sich nicht genau definieren lassen<br />
„will“, sich wissenschaftlicher Analyse entzieht und uns zur Auseinandersetzung mit vielen Themen zwingt,<br />
auf die wir gar nicht so gerne hinschauen.
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ...<br />
l wird durch alle Handlungen und Unterlassungen von Eltern und Bezugspersonen hervorgerufen, die <strong>Kind</strong>er<br />
ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit übermitteln und sie in ihrer psychischen<br />
und/oder körperlichen Entwicklung beeinträchtigen können.<br />
l „passiert“ oftmals eigentlich ohne böse Absicht.<br />
l wird unterschiedlich aufgefasst; was dem einen noch Spaß macht, kann für den oder die andere schon<br />
Verletzung, Abwertung, Verwundung bedeuten.<br />
l kann dadurch entstehen, dass die Eltern den Druck, dem sie in der Gesellschaft, Arbeit etc. ausgesetzt sind,<br />
an ihre <strong>Kind</strong>er weitergeben.<br />
l kann auch durch gut gemeinte Hilfsangebote ausgeübt werden.<br />
l entsteht und besteht dort, wo <strong>Kind</strong>er und Jugendliche einer Dyn<strong>am</strong>ik von „zu viel“ oder „zu wenig“ ausgesetzt<br />
sind und die existenziellen Bedürfnisse der <strong>Kind</strong>er keinen Platz haben.<br />
l manifestiert sich dort, wo <strong>Kind</strong>er bei für sie schwierigen Erfahrungen/Erlebnissen keine Sprache bzw. keine<br />
Ausdrucksform finden können oder dürfen.<br />
l tritt nicht nur alleine auf, sondern zumeist auch als „stille Schwester“ aller anderen <strong>Gewalt</strong>formen.
1. Enquete<br />
WEHE, WEHE,<br />
WENN ICH AN<br />
DAS ENDE SEHE<br />
<strong>Psychische</strong><br />
<strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong><br />
Moderation:<br />
Dr. Barbara Rett, ORF<br />
25. November 1999, 9.30 Uhr<br />
Palais Palffy<br />
1010 Wien, Josefsplatz 6
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern<br />
wird bis heute zwar nicht gerichtlich geahndet, doch durch das seit 1989 in Österreich bestehende allgemeine<br />
Züchtigungsverbot gilt auch psychische <strong>Gewalt</strong> als nicht tolerierbares Erziehungsmittel; Erziehung muss<br />
gewaltfrei sein, also auch frei von psychischer <strong>Gewalt</strong>.<br />
Doch was bedeutet gewaltfreie Erziehung? Welche Erziehungsmittel ergreifen Eltern, bzw. welches<br />
Erziehungsmittel ersetzt die „g’sunde Watsch’n“?<br />
Starke mediale Präsenz und dr<strong>am</strong>atische Berichterstattungen über die in letzter Zeit auftretenden Fälle körperlicher<br />
und im Speziellen sexueller <strong>Gewalt</strong> haben zwar eine größere Sensibilisierung der Bevölkerung für<br />
diese zweifellos äußerst wichtige Thematik erreicht, das Interesse jedoch an der Diskussion über psychische<br />
<strong>Gewalt</strong> an den Rand gedrängt.<br />
Ziel der Enquete war es, der Problematik im Zuge der <strong>Gewalt</strong>diskussion ihren Stellenwert zu geben, aber auch<br />
klar zu machen, dass Prävention ein unverzichtbarer Bestandteil einer gewaltfreien Erziehung darstellt.<br />
Titel und Überschriften in Anlehnung an:<br />
Wilhelm Busch: Max und Moritz<br />
Dr. Heinrich Hoffmann: Der Struwwelpeter
Inhaltsverzeichnis Enquete 1<br />
„Vater ist in großer Not, und die Mutter blicket Seite 08<br />
stumm auf dem ganzen Tisch herum“<br />
„Was ist psychische <strong>Gewalt</strong>?“<br />
Dr. Werner Leixnering<br />
Ärztlicher Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie<br />
an der OÖ Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz<br />
„Paulinchen war allein zu Haus, Seite 12<br />
die Eltern waren beide aus“<br />
„Was ist psychische Vernachlässigung?“<br />
Dr. Eva Traindl<br />
Niedergelassene Fachärztin für <strong>Kind</strong>er- und Jugendheilkunde, Wien<br />
„Sei hübsch ordentlich und fromm, Seite 17<br />
bis nach Haus ich wieder komm“<br />
„Elternbildung – Wie wollen <strong>Kind</strong>er erzogen werden?“<br />
Dr. Luitgard Derschmidt<br />
Forum Beziehung, Ehe und F<strong>am</strong>ilie der Katholischen Aktion Österreich, Salzburg<br />
„Also sprach in ernstem Ton der Papa zu seinem Sohn“ Seite 23<br />
„Väter im Erziehungsalltag“<br />
Dr. Harald Werneck<br />
Institut für Entwicklungspsychologie, Universität Wien<br />
„Niemand hört ihn, wenn er schreit“ Seite 30<br />
„Stadt-Land-Problematik“<br />
Dr. Reinhard Neumayer<br />
Niederösterreichische Landesregierung, Abteilung Jugendwohlfahrt<br />
„Der Vater hat’s verboten!“ Seite 36<br />
„Ohnmacht der Helfer“<br />
Dr. Stefan Allgäuer<br />
Institut für Sozialdienste, Vorarlberg<br />
„Die Buben aber folgten nicht“ Seite 45<br />
„Sorgerechtsproblematik/Strafrechtsproblematik“<br />
Dr. Beate Matschnig<br />
Jugendgerichtshof Wien<br />
„Zu Hilf’, ihr Leut’, zu Hilf’, ihr Leut’!“ Seite 50<br />
„Extrembelastungen im <strong>Kind</strong>esalter“<br />
Dr. Gertrude Bogyi<br />
Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des <strong>Kind</strong>es- und Jugendalters, Wien
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />
ist ein „unangenehmes“<br />
Thema, da<br />
dieses Phänomen<br />
schwer fassbar ist,<br />
sich nicht genau definieren<br />
lassen<br />
„will“, sich wissenschaftlicher<br />
Analyse<br />
entzieht und uns zur<br />
Auseinandersetzung<br />
mit vielen Themen<br />
zwingt, auf die wir<br />
gar nicht so gerne<br />
hinschauen.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />
ist leise. <strong>Psychische</strong><br />
<strong>Gewalt</strong> ist nicht<br />
spektakulär. Aber sie<br />
ist langhaltig, sie ist<br />
ausdauernd, und sie<br />
ist nachwirkend.<br />
8<br />
„Vater ist in großer Not, und die Mutter<br />
blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“<br />
„Was ist psychische <strong>Gewalt</strong>?“<br />
Referent: Dr. Werner Leixnering<br />
Die Titel der Referate sind alle dem „Struwwelpeter“ entnommen. Und das hat mehrere<br />
Gründe: Der „Struwwelpeter“ hat, kinderpsychiatrisch gesehen, eine ganz doppelbödige<br />
Botschaft: Auf der einen Seite beschrieb er bereits vor 150 Jahren sehr genau seelische<br />
Bilder, und zwar so eindringlich, dass wir sie heute noch immer verstehen und als aktuell<br />
empfinden.<br />
Auf der anderen Seite bietet er Methoden des Umgangs d<strong>am</strong>it an, die uns heute befremden.<br />
Die Pädagogik, die in diesem Struwwelpeter angeboten wird, wird vielfach als „schwarze“<br />
Pädagogik bezeichnet. Tatsache ist, dass uns der Struwwelpeter auf jeder Buchseite mit<br />
<strong>Gewalt</strong> konfrontiert. Sei es, dass Situationen so dr<strong>am</strong>atisiert werden, dass sie eskalieren<br />
und <strong>Gewalt</strong> nach sich ziehen, sei es, dass <strong>Gewalt</strong> als pädagogische Konsequenz<br />
angedroht wird.<br />
Und wenn wir uns mit dem Thema psychische <strong>Gewalt</strong> beschäftigen, sind wir sehr schnell<br />
mit sehr heiklen Fragen des Erziehens und der Pädagogik konfrontiert.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist ein sehr vielschichtiges, sehr komplexes Thema, wo eine<br />
Schwarz-weiß-Sicht der Dinge keinesfalls angebracht ist.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist ein „unangenehmes“ Thema, da dieses Phänomen schwer fassbar<br />
ist, sich nicht genau definieren lassen „will“, sich wissenschaftlicher Analyse entzieht<br />
und uns zur Auseinandersetzung mit vielen Themen zwingt, auf die wir gar nicht so gerne<br />
hinschauen.<br />
Doch: <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist ein Thema, dem wir uns zu stellen haben.<br />
Denn: <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> kommt sehr häufig vor. Wahrscheinlich in einem wesentlich<br />
größerem Ausmaß, als wir alle, inklusive meiner Person, das vermuten.<br />
Und: <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> tritt nicht nur alleine auf, sie tritt zumeist auch als „stille<br />
Schwester“ aller anderen <strong>Gewalt</strong>formen auf.<br />
Auf der schwierigen Suche nach „Markern“<br />
„Vater ist in großer Not, und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum.“ Um<br />
der Frage „Was ist psychische <strong>Gewalt</strong>?“ nachzugehen, möchte ich zunächst den Begriff<br />
„stumm“ aus dem Untertitel meines Referates herausgreifen.<br />
Stumm. <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist leise. Sie ist nicht laut. Sie ist nicht spektakulär. Sie erzeugt<br />
auch nicht gleich lautes Schreien, aber sie ist langhaltig, sie ist ausdauernd, und<br />
sie ist nachwirkend.<br />
Und genau hier liegt auch das Problem, psychische <strong>Gewalt</strong> wissenschaftlich methodisch<br />
erfassen zu können. Wo ist die Grenze? Ab wann kann/muss man von psychischer<br />
<strong>Gewalt</strong> sprechen? Wo sind die „Marker“ für psychische <strong>Gewalt</strong>?<br />
Es ist tatsächlich so, dass die Grenzen zwischen Erziehungspraktiken, die sich des<br />
Prinzips der Strafe bedienen, und psychischer <strong>Gewalt</strong> oftmals fließend sind.<br />
Gerade weil die Grenzen oft so schwimmend sind, gerade weil psychische <strong>Gewalt</strong> oft so<br />
leise von statten geht, haben wir ein großes Problem, sie frühzeitig zu erfassen, sie<br />
präventiv zu erfassen.<br />
Trotz dieser Schwierigkeiten müssen wir uns dem Problem stellen!
Die Crux der Definition<br />
Wie kann man also tatsächliche psychische <strong>Gewalt</strong> bewerten, beurteilen?<br />
Nun, man muss einmal die beiden involvierten Pole betrachten: den Menschen, an dem<br />
psychische <strong>Gewalt</strong> ausgeübt wird, und denjenigen, der sie ausübt. Also gleichs<strong>am</strong> Opfer<br />
und Täter. Genauso wie bei körperlicher und sexueller <strong>Gewalt</strong>.<br />
Es geht also immer um zwei oder mehrere Personen, die miteinander interagieren.<br />
Worum geht es bei der Ausübung psychischer <strong>Gewalt</strong> denn de facto? Es geht – um das<br />
vielleicht phänomenologisch ein bisschen zu beschreiben – um die Bedrohung von<br />
<strong>Kind</strong>ern im Umgang mit ihnen. Es geht vor allem um die mutwillige Erzeugung von Angst<br />
– die Betonung liegt auf mutwillig. Es geht um Einschüchterung. Es geht um Zynismus<br />
in der Erziehung. Es geht um Ausgrenzung, um Isolation von <strong>Kind</strong>ern. Es geht – um es<br />
wienerisch zu formulieren – ums „ins Eck stellen“ von <strong>Kind</strong>ern, und das nicht nur wörtlich,<br />
sondern auch im übertragenen Sinn. Es geht um die Tatsache, dass man <strong>Kind</strong>er verspottet<br />
und der Verspottung preisgibt. Es geht zum Beispiel auch darum, was die moderne<br />
Psychologie unter dem Phänomen des „Bullying“ beschreibt. (ð Bullying – siehe<br />
auch Seite 59) Und da geht es nicht nur um Erwachsene, da geht es auch um ältere<br />
Jugendliche, die psychische <strong>Gewalt</strong> auf annähernd Gleichaltrige ausüben, nach dem<br />
Motto „Gib’s den Schwachen“. Es geht letztlich um Missachtung, es geht um Entwertung.<br />
Und als Individualpsychologe möchte ich hinzufügen, es geht um die gezielte<br />
Entmutigung von <strong>Kind</strong>ern. Das, so glaube ich, können wir beispielsweise unter psychischer<br />
<strong>Gewalt</strong> verstehen.<br />
Anzeichen psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
Im Gegensatz zu körperlicher <strong>Gewalt</strong> hinterlässt psychische keine offensichtlichen<br />
Spuren. Also woran können wir denn erkennen, dass psychische <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern ausgeübt<br />
wurde oder wird?<br />
An deren Rückzug zum Beispiel, an deren mehr oder weniger verdeckter oder verdrängter<br />
Aggressivität. Ich möchte ganz besonders darauf hinweisen, dass gerade<br />
Aggressivität auch Ausdruck von eigener Bedrohung ist. Zu oft wird Aggression nur als<br />
impulsives Element, das quasi aus dem Nichts kommt, gesehen.<br />
Weitere wichtige Anzeichen erlebter psychischer <strong>Gewalt</strong> können psychosomatische und<br />
kinderpsychiatrische Symptome wie Einkoten, Schlafstörungen und zwanghaftes<br />
Verhalten sein.<br />
Ich kann es auch anders ausdrücken: <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern äußert sich nicht<br />
selten in so genannten „introversiven“ Symptomen, also Symptomen, die sich nach innen<br />
wenden und die natürlich dann sehr oft auch autoaggressive Komponenten beinhalten.<br />
Man könnte sehr vereinfacht sagen: „Was kränkt, macht krank“; und bei psychischer<br />
<strong>Gewalt</strong> geht es vielfach um Kränkung.<br />
Entstehung von psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
Hier scheint es wichtig, drei Komponenten zu beobachten oder zu beachten:<br />
Der Täter<br />
Betrachten wir zum einen die Persönlichkeit und psychische Verfassung dessen, der die<br />
<strong>Gewalt</strong> ausübt. Es ist zu einfach zu sagen, Täter sind Menschen, die einfach so sind, die<br />
nicht anders können. Und wir können ihnen auch nicht helfen, und d<strong>am</strong>it ist die Sache<br />
erledigt. Nein. Ich glaube, gerade mit diesen Menschen müssen wir uns befassen. Wir<br />
müssen ihnen Angebote machen. Wir müssen sie zu verstehen versuchen, bei aller<br />
Emotion, die sich bei uns ihnen gegenüber zeigt.<br />
Bei psychischer<br />
<strong>Gewalt</strong> geht es um<br />
die mutwillige<br />
Erzeugung von<br />
Angst, um<br />
Einschüchterung,<br />
Zynismus,<br />
Ausgrenzung und<br />
Verspottung.<br />
Rückzug,<br />
Aggressivität und<br />
verschiedene psychosomatische<br />
und<br />
kinderpsychiatrische<br />
Symptome können<br />
Anzeichen dafür<br />
sein, dass das <strong>Kind</strong><br />
psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
ausgesetzt war/ist.<br />
9
Die Rahmenbedingungen<br />
dürfen niemals<br />
außer Acht gelassen<br />
werden. Um<br />
psychische <strong>Gewalt</strong><br />
besser zu verstehen,<br />
müssen wir uns die<br />
Rahmenbedingungen,<br />
unter denen Erziehende<br />
und <strong>Kind</strong>er<br />
miteinander leben,<br />
genau anschauen.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />
ist oftmals keinesfalls<br />
beabsichtigt.<br />
Sie etabliert sich oft<br />
schleichend in<br />
Situationen, und man<br />
merkt leider erst<br />
nachher, was da geschehen<br />
ist.<br />
10<br />
Das Opfer<br />
Wir müssen zweitens die Persönlichkeit des <strong>Kind</strong>es zu erfassen versuchen. Wir müssen<br />
versuchen zu verstehen: „Was war denn aus der Sicht des <strong>Kind</strong>es vielleicht die<br />
Voraussetzung dafür, dass es zur Anwendung psychischer <strong>Gewalt</strong> gekommen ist?“ – und<br />
das meine ich jetzt absolut nicht wertend!<br />
Das heißt, auch hier ist die differenzierte Befassung mit dem <strong>Kind</strong> und mit der Situation,<br />
in der das <strong>Kind</strong> lebt, notwendig.<br />
Die Interaktion<br />
Und drittens ist die Interaktion wesentlich.<br />
Wir verstehen oft Phänomene der psychischen <strong>Gewalt</strong> besser, wenn wir das Miteinander<br />
und die Rahmenbedingungen, unter denen Erziehende und <strong>Kind</strong>er miteinander leben<br />
oder miteinander auskommen müssen, besser erfassen können. Diese Rahmenbedingungen<br />
dürfen niemals außer Acht gelassen werden.<br />
Als wichtiger Hinweis für Interventionsansätze: Meist sind beide in irgendeiner Form in<br />
Not – das <strong>Kind</strong> und die Person, die psychische <strong>Gewalt</strong> verursacht. Nur können sehr oft<br />
die Nöte der beiden nicht mitgeteilt werden, und d<strong>am</strong>it kommt es zur Eskalation und zur<br />
Problematisierung. Natürlich ist das schwächere Glied in der Kette das <strong>Kind</strong>, und unsere<br />
Gesellschaft tut gut daran, zunächst einmal zu den Schwächeren hinzusehen und diese<br />
eben auch entsprechend zu schützen.<br />
Der Umgang mit psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
Zur Frage des Umgangs ein paar Worte zur Einleitung.<br />
Ich glaube, man müsste sich dabei drei Bereiche näher anschauen:<br />
Erziehungsalltag<br />
Erstens den Umgang mit psychischer <strong>Gewalt</strong> im Erziehungsalltag, denn sie kommt in irgendeiner<br />
Form sehr oft vor, mehr oder weniger intendiert – das ist ja das Problem.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist oftmals keinesfalls beabsichtigt, sie etabliert sich oft schleichend<br />
in Situationen, und man merkt leider erst nachher, was da geschehen ist, dass es sich<br />
um eine Form von psychischer <strong>Gewalt</strong> gehandelt hat.<br />
Wir alle begegnen tagtäglich <strong>Kind</strong>ern, ob es in der U-Bahn ist, in einer Schulsituation oder<br />
zu Hause. Wir begegnen <strong>Kind</strong>ern, und wir begegnen Situationen. Und wichtig ist, dass<br />
wir aus Situationen etwas machen. Das hat manchmal auch etwas mit Zivilcourage zu<br />
tun, das heißt nämlich, in Situationen Stellung zu beziehen. Ich glaube, dass das immer<br />
noch ein ganz entscheidender Punkt ist. Das gilt übrigens für alle Formen der <strong>Gewalt</strong>.<br />
Also zum Beispiel: Wenn Sie im Bus fahren und Zeuge werden, wie ein Jugendlicher auf<br />
ein kleineres <strong>Kind</strong> „hindrischt“, nur weil es ihm im Weg ist: Da gilt es einzugreifen, sich<br />
zu äußern – nicht wegzusehen!<br />
Gezielte Prävention<br />
Zweitens die gezielte Prävention. Hier geht es darum, von vornherein schwierige<br />
Erziehungssituationen aufzuzeigen. Es stellt eine große Problematik in der Präventionsarbeit<br />
dar, dass oft von der „heilen Welt“ ausgegangen wird, dass also „nicht sein kann,<br />
was nicht sein darf“ und dass die Existenz solcher schwierigen Situationen oft von vornherein<br />
geleugnet wird. Bei der Präventionsarbeit ist es deshalb sehr wichtig, genau darauf<br />
hinzuweisen, dass es in der Erziehung zum Auftreten von Problemen kommen wird<br />
und dass man mit diesen zu rechnen hat, aber auch dass es Lösungsmöglichkeiten für<br />
solche Probleme gibt!
Therapie<br />
Bei der Therapie müssen wir sicherstellen, dass nicht nur den <strong>Kind</strong>ern, sondern dort, wo<br />
erforderlich – und das wird in den meisten Fällen so sein – auch den Erwachsenen zumindest<br />
Therapieangebote gemacht werden.<br />
Der Schlüssel zur Verhinderung psychischer <strong>Gewalt</strong>.<br />
Ich möchte mit ein paar Thesen schließen.<br />
Erstens: Haltung statt Technik<br />
Ich glaube, dass der Schlüssel zur Verhinderung psychischer <strong>Gewalt</strong> nicht nur in<br />
Erziehungstechniken liegt, die wir Erwachsenen vermitteln, sondern in Haltungen, in<br />
Einstellungen zu <strong>Kind</strong>ern. Wir sind in unserer Zeit durch die Vorstellung geleitet, dass wir<br />
alles mit bestimmten Techniken, Methoden, Trainings oder ähnlichem lösen können.<br />
Doch das ersetzt nicht Haltungen. Und die sind gefragt.<br />
Gefährlich wird psychische <strong>Gewalt</strong> im Übrigen besonders dann, wenn sie aus einer<br />
völlig falsch verstandenen „vorbeugenden Haltung“ („D<strong>am</strong>it du nicht auf dumme Ideen<br />
kommst ...“) heraus eingesetzt wird.<br />
Zweitens: Not produziert <strong>Gewalt</strong><br />
Einfühls<strong>am</strong>es Verstehen psychischer <strong>Gewalt</strong>phänomene orientiert sich an Nöten von<br />
<strong>Kind</strong>ern und Erwachsenen und nicht an einer verkürzten Täter-Opfer-Ideologie.<br />
Drittens: „Was kränkt, macht krankt“<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> kann, psychiatrisch betrachtet, nicht nur zur Erlebnisreaktionen, also<br />
zu einfachen Reaktionen, sondern auch zu schweren neurotischen und psychosomatischen<br />
Störungen bis hin zur chronischen Deformation kindlicher Persönlichkeiten führen,<br />
also zu schweren psychischen Störungen. Das soll hier nicht unerwähnt bleiben.<br />
Viertens: Reflexionsmöglichkeit für Täter<br />
Erwachsene, die psychische <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern anwenden, sollten die Möglichkeit bekommen,<br />
ihre Verhaltensweisen zu reflektieren. Prävention ist nur möglich, wenn so etwas<br />
wie ein Nachvollziehen oder ein Einsehen zumindest angestrebt wird. Auch wenn<br />
dies nicht immer erreichbar sein wird.<br />
11
<strong>Psychische</strong><br />
Vernachlässigung ist<br />
von außen nur<br />
schwer zu erkennen.<br />
„Unverdächtige“<br />
Symptome wie<br />
Bauchschmerzen,<br />
Appetitlosigkeit,<br />
Erbrechen und<br />
Schlafstörungen<br />
können Zeichen<br />
dafür sein.<br />
12<br />
„Paulinchen war allein zu Haus, die Eltern<br />
waren beide aus“<br />
„Was ist psychische Vernachlässigung?“<br />
Referentin: Dr. Eva Traindl<br />
„Die Pflege des minderjährigen <strong>Kind</strong>es umfasst besonders die Wahrung des körperlichen<br />
Wohles und der Gesundheit sowie die unmittelbare Aufsicht, die Erziehung, die<br />
Entfaltung der körperlichen, geistigen, seelischen und sittlichen Kräfte ... .“<br />
(§ 146 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch)<br />
Ich glaube, dass diejenigen, die für diesen Paragrafen verantwortlich zeichnen, ganz<br />
Recht gehabt haben, wenn sie körperliche, geistige, seelische und sittliche Kräfte zus<strong>am</strong>mengenommen<br />
haben. Man kann gerade im <strong>Kind</strong>esalter „körperliche, seelische<br />
Gesundheit, Wahrung der sittlichen Kräfte“ nicht voneinander trennen. In keinem anderen<br />
Lebensabschnitt besteht ein so enger Zus<strong>am</strong>menhang zwischen körperlicher, seelischer<br />
und geistiger Entwicklung wie im <strong>Kind</strong>es- und Jugendalter. In keinem anderen<br />
Lebensabschnitt können Versäumnisse so negative Auswirkungen haben.<br />
Ein Bild, das <strong>Kind</strong>erärzte in der Praxis häufig sehen, ist die körperliche Vernachlässigung,<br />
die leicht zu erkennen ist, weil die Zeichen der Verwahrlosung sichtbar sind.<br />
Viel schwieriger zu erkennen sind <strong>Kind</strong>er, die seelisch vernachlässigt sind, bei denen<br />
äußerlich keine Verwahrlosungszeichen zu erkennen sind, wo „außen sozusagen alles<br />
in Ordnung ist“.<br />
Die Symptomatik ist zumeist ganz unspezifisch. Symptome, die jedes <strong>Kind</strong> einmal<br />
hat, können Anzeichen für psychische Vernachlässigung sein. Zum Beispiel:<br />
Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Erbrechen und Schlafstörungen. Das kann aber auch<br />
bis hin zu schweren psychosomatischen Krankheitsbildern gehen: von bestimmten<br />
Asthmaformen über Einnässen und Einkoten bis hin zu Suchterkrankungen bei<br />
Jugendlichen.<br />
Wir beobachten ein Zunehmen von Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Ess-Brech-<br />
Sucht) sowie zunehmende Abhängigkeit von Suchtmitteln schon bei sehr jungen<br />
<strong>Kind</strong>ern. Das muss man immer wieder sehen und mitverfolgen – leider manchmal auch<br />
ohne dass man den <strong>Kind</strong>ern wirklich helfen kann.<br />
Drei Fallbeispiele<br />
Viele <strong>Kind</strong>er drücken sich über ihren Körper aus, weil sie keine andere Möglichkeit haben.<br />
Sie sind zu klein, um auszusprechen, was sie bedrückt, es wurde ihnen verboten,<br />
auszusprechen, was sie bedrückt, oder sie werden nicht gehört.<br />
Ich möchte Ihnen jetzt drei Fallbeispiele vorstellen, und ich habe das Symptom der<br />
Enuresis (Einnässen; Enuresis nocturna, nächtliches Einnässen) herausgegriffen, das<br />
in der Psychosomatik auch als „das Weinen mit der Blase“ bezeichnet wird.<br />
Fallbeispiel 1: „Paulinchen war allein zu Haus, die Eltern waren<br />
beide aus.“ (Struwwelpeter)<br />
Das <strong>Kind</strong> heißt nicht Paulinchen, es heißt Sefkie. Es ist ein türkisches Mädchen.<br />
Die Eltern haben die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen. Sefkie ist hier<br />
geboren. Sie ist 9 Jahre alt, als ich die F<strong>am</strong>ilie kennen lerne. Sie hat zwei jüngere Brüder.<br />
Eigentlich sind die es, die hauptsächlich zu mir in die Ordination kommen. Die<br />
F<strong>am</strong>iliensituation ist nach außen hin „ordentlich und gut“. Der Vater geht einer geregel-
ten Arbeit nach, die Mutter ist Hausfrau. Sefkie ist eine sehr gute Schülerin. Die Eltern<br />
sind sehr stolz auf sie. Sie wird ins Gymnasium kommen. Bei dieser Gelegenheit, bei<br />
dieser Erstan<strong>am</strong>nese, erzählt mir die Mutter nicht, dass das Mädchen noch einnässt und<br />
mit ihren 9 Jahren in der Nacht noch eine Windel braucht. Tagsüber ist sie seit ihrem dritten<br />
Lebensjahr sauber.<br />
Ich sehe Sefkie in meiner Ordination dann zwei Jahre lang nur in Begleitung ihrer Brüder.<br />
Doch eines Tages k<strong>am</strong> die Mutter mit ihr allein zu mir in die Ordination. Sefkie hat<br />
Probleme. Sie will nicht mehr in die Schule gehen. Ihre Schulleistungen werden schlecht.<br />
Sie war im Vorjahr doch eine der Klassenbesten.<br />
Daraufhin biete ich den Eltern einen Termin für ein ausführliches Gespräch an.<br />
Es kommt nur die Mutter. Sie erzählt mir, dass von der Schule aus in einigen Monaten<br />
eine Exkursion geplant ist. Da muss das Mädchen natürlich einige Tage außer Haus übernachten.<br />
Bis jetzt weiß niemand, dass sie in der Nacht einnässt, aber dann werden alle<br />
anderen <strong>Kind</strong>er von ihrem Problem wissen. Sie werden wissen, dass sie in der Nacht<br />
eine Windel braucht. Sie wird dort mit niemandem in einem Zimmer schlafen können.<br />
Die Mutter bittet mich, doch eine Krankschreibung auszustellen, d<strong>am</strong>it Sefkie nicht auf<br />
diese Exkursion mitfahren muss.<br />
Sie hat schon mit der Lehrerin gesprochen und gesagt, dass Sefkie nicht mitfahren<br />
möchte. Aber die Schule hat darauf bestanden, dass alle <strong>Kind</strong>er mitfahren, auch die türkischen<br />
Mädchen.<br />
Bei diesem Gespräch zwischen Lehrerin und Mutter dürfte herausgekommen sein, dass<br />
die Eltern einfach nicht wollen, dass das <strong>Kind</strong> das elterliche Zuhause verlässt und einige<br />
Tage auswärts übernachtet.<br />
Da die Lehrerin nun aber nichts von Sefkies zusätzlichem Problem gewusst hat, hat sie<br />
darauf bestanden, dass sie mitfährt.<br />
Das hat das Mädchen in einen so großen Konflikt gebracht, dass es einfach nicht mehr<br />
in die Schule gehen wollte und dass ihre Schulleistungen nach und nach schlechter geworden<br />
sind.<br />
Bei meinem Gespräch mit der Mutter ist herausgekommen, dass sie für das Problem ihrer<br />
Tochter nur wenig Verständnis hat.<br />
Das <strong>Kind</strong> ist einmal durchuntersucht worden, doch die urologische Durchuntersuchung<br />
wurde abgebrochen. Die Eltern haben einer weiteren Untersuchung im Urogenitalbereich<br />
nicht zugestimmt.<br />
Für die Nichtmediziner unter Ihnen: Es gibt manchmal über ein gewisses Alter hinaus<br />
ein nächtliches Einnässen. Das ist durch eine Problematik im hormonellen System bedingt.<br />
Sefkies Eltern litten beide bis hin zur Pubertät an dieser Form der Enuresis. Daher<br />
haben sie dem Einnässen ihrer Tochter auch keinen Krankheitswert beigemessen. Und<br />
außerdem – und da sehe ich die eigentliche seelische Vernachlässigung – haben die<br />
Eltern dieses Problem des Mädchens benutzt, um sie „im Haus zu halten“, um ihr<br />
Selbstständigkeit zu verwehren. Sie haben ihrer Tochter noch zusätzlich gedroht: „Wenn<br />
du wirklich hinfahren willst, dann werden alle davon erfahren, und es wird eine Schande<br />
sein für die ganze F<strong>am</strong>ilie.“<br />
Nur der Leistungsabfall in der Schule und dass sie zweimal versucht hat, Schule zu<br />
schwänzen, hat die Mutter zu mir gebracht.<br />
Wir konnten dann in einem Gespräch doch noch einen Kompromiss finden. Ich habe der<br />
Mutter einen Brief an die Lehrerin mitgegeben, in dem ich das Problem genau beschrieben<br />
habe. Die Mutter hat mir versprochen, mit der Lehrerin Kontakt aufzunehmen,<br />
ihr den Brief zu geben und das Problem mit ihr zu besprechen.<br />
Im Endeffekt konnte das Mädchen dann auf diese Schulexkursion mitfahren.<br />
Dieser Fall ist noch relativ „gut ausgegangen“ – vielleicht auch deshalb, weil die Eltern<br />
doch nicht mehr allzu weit davon entfernt waren, selbst Maßnahmen zu setzen.<br />
Im nächsten Fall ist es so, dass die Eltern zwar wollen, aber nicht mehr können. Denn<br />
auch Eltern können ein Burn-out-Syndrom bekommen, also ausbrennen. Und mit ihnen<br />
die <strong>Kind</strong>er – unter gewissen Voraussetzungen.<br />
Für die Eltern hatte<br />
das Einnässen keinen<br />
Krankheitswert.<br />
Außerdem gab ihnen<br />
dieses Problem ihrer<br />
Tochter die<br />
Möglichkeit, sie<br />
„im Haus zu halten“<br />
und ihr so<br />
Selbstständigkeit<br />
zu verwehren.<br />
13
Bernhards kleiner<br />
Bruder bek<strong>am</strong> eine<br />
schwere akute<br />
Erkrankung und<br />
musste ins<br />
Krankenhaus.<br />
Bernhard wurde<br />
während dieser Zeit<br />
zu einer älteren<br />
Verwandten gegeben,<br />
die sehr rigide<br />
Erziehungsvorstellun<br />
gen gehabt haben<br />
dürfte. Bernhard begann<br />
wieder einzunässen.<br />
14<br />
Fallbeispiel 2: „Es brennt die Haut, es brennt das Haar, es brennt<br />
das ganze <strong>Kind</strong> sogar.“ (Struwwelpeter)<br />
Bernhard ist 10 Jahre alt. Er ist von Geburt an ein leicht behindertes <strong>Kind</strong>. Er besucht die<br />
Sonderschule. Seine Mutter ist ebenfalls behindert, aber nur motorisch. Sie hat eine<br />
Gangstörung. Der Vater kümmert sich sehr liebevoll um beide. Er verbringt viel Zeit mit<br />
der F<strong>am</strong>ilie.<br />
Als Bernhard 9 Jahre alt ist, kommt ein Nachzügler. Bernhard bekommt einen kleinen<br />
Bruder. Er reagiert sehr eifersüchtig auf das Baby. Er will wieder aus der Flasche trinken<br />
und Windeln tragen. Er spricht das auch einmal in der Ordination aus und sagt: „Ich will<br />
wieder eine Windelhose anziehen.“ Er beginnt nachts vermehrt einzunässen.<br />
Die Eltern haben vorbildlich reagiert. Sie haben das von sich aus als Eifersuchtsreaktion<br />
gedeutet. Sie waren mit ihm in der Ordination, haben von den Problemen mit ihm erzählt<br />
und haben gefragt, ob sie etwas machen sollen, und was geschehen soll.<br />
Ich war auch der Ansicht, dass es sich um eine Eifersuchtsreaktion handelt. Wir haben<br />
uns daher geeinigt, einmal abzuwarten.<br />
Der Vater hat sich vermehrt Bernhard zugewendet, hat mit ihm viele Ausflüge gemacht,<br />
hat mit ihm viel gemeins<strong>am</strong> unternommen, und nach ein paar Wochen ist das Symptom<br />
„Einnässen“ wieder verschwunden.<br />
Der Vater hat überhaupt sehr viel in dieser und für diese F<strong>am</strong>ilie gemacht und war immer<br />
für die F<strong>am</strong>ilie da.<br />
Ein Jahr später hat Bernhards kleiner Bruder eine schwere akute Erkrankung bekommen.<br />
Er musste sofort ins Krankenhaus, war einige Tage sogar auf der Intensivstation,<br />
und man hat <strong>am</strong> Anfang überhaupt nicht gewusst, ob er überleben wird. In dieser<br />
Situation wurde die Mutter mit dem <strong>Kind</strong> gemeins<strong>am</strong> im Krankenhaus aufgenommen.<br />
Auch der Vater war sehr oft im Krankenhaus beim kleinen Bruder und bei der Mutter.<br />
Bernhard wurde unter diesen Umständen auf unbestimmte Zeit zu einer älteren<br />
Verwandten gegeben.<br />
Diese Frau dürfte sehr rigide Erziehungsvorstellungen gehabt haben. Und Bernhard begann<br />
wieder einzunässen. Die Verwandte hat ihn daraufhin in der Nacht aufgeweckt. Sie<br />
hat ihn das Bett abziehen lassen. Sie hat ihn in die Ecke gestellt. Aber das haben wir erst<br />
nachher erfahren.<br />
Als Bernhard dann wieder zu Hause war und sich die Situation mit dem Bruder weitgehend<br />
beruhigt hat, hat Bernhard aber nicht nur eingenässt, sondern auch begonnen einzukoten.<br />
Und er hat seine schmutzigen Unterhosen in den Schultaschen der anderen<br />
<strong>Kind</strong>er versteckt.<br />
Die Mutter ist zu mir gekommen und hat gesagt „Bitte, helfen Sie uns. Wir halten das<br />
nicht mehr aus. Das <strong>Kind</strong> muss ins Krankenhaus. Was sollen wir denn nur tun?“<br />
Es wurde ein Gespräch zwischen Lehrerin, Schulpsychologen und den Eltern geplant.<br />
Der Schulpsychologe hat diese von den Eltern geschilderte Situation als Problem der<br />
ganzen F<strong>am</strong>ilie wahrgenommen. Er war auch Psychotherapeut. Er hat mit Bernhard in<br />
der Schule – sodass die Eltern nicht noch zusätzlich zeitlich belastet waren – eine<br />
Spieltherapie begonnen, und nach einem halben Jahr waren das Einkoten und<br />
Einnässen wieder verschwunden.<br />
Ich habe Ihnen das als Beispiel dafür gebracht, dass auch bei einer F<strong>am</strong>ilie, die für ihre<br />
<strong>Kind</strong>er sehr viel tut und auch Symptome richtig erkennen und deuten kann, durch äußere<br />
Umstände eine Situation entstehen kann, in der ein <strong>Kind</strong> so völlig in den Schatten gestellt<br />
wird, so „vernachlässigt“ wird, dass es das nicht verkraftet.
Fallbeispiel 3: „Ein Häuflein Asche bleibt allein und beide Schuh’,<br />
so hübsch und fein.“ (Struwwelpeter)<br />
Das Thema hier heißt: Wohlstandsverwahrlosung.<br />
Im Gegensatz zu Verwahrlosung, wo alle Ressourcen fehlen, sind bei Wohlstandsverwahrlosung<br />
fast alle Ressourcen vorhanden – außer einer: nämlich jener, dass die<br />
Probleme des <strong>Kind</strong>es richtig erkannt und richtig gedeutet werden.<br />
Das Mädchen Sandrina hat gleich nach ihrer Geburt Harnwegsinfekte gehabt. Es wurde<br />
eine schwere Nierenmissbildung festgestellt. Das <strong>Kind</strong> ist im Säuglingsalter zweimal operiert<br />
worden. Sie bekommt eine Dauertherapie mit Antibiotika.<br />
Die Eltern wohnen mit der Großmutter in einem Haushalt. Es kann immer jemand auf<br />
Sandrina aufpassen. „Es ist immer jemand für Sandrina da.“<br />
Es fällt aber auf, dass in bestimmten Situationen, die von den Erwachsenen als belastend<br />
empfunden werden, das <strong>Kind</strong> offensichtlich keine oder eine inadäquate Betreuung und<br />
Unterstützung erhält.<br />
So ist es zum Beispiel gewesen, als Sandrina mit 16 Monaten für 10 Tage im<br />
Krankenhaus aufgenommen werden musste. Während dieser Zeit wurde sie von den<br />
Eltern und der Großmutter nur zweimal besucht. Der Vater k<strong>am</strong> nicht öfter, weil er die<br />
Krankenhausatmosphäre nicht aushält, die Mutter, weil sie verzweifelt ist, wenn das <strong>Kind</strong><br />
weint. Wenn sie kommt und wenn sie geht, weint das <strong>Kind</strong>. Die Großmutter kommt deshalb<br />
nicht, weil sie zu dieser Zeit keine Zeit hat und eigentlich auch nicht so gerne ins<br />
Krankenhaus geht. „Das <strong>Kind</strong> leidet nur, wenn wir kommen“, so sagten sie mir.<br />
Ich habe versucht, die Eltern aufzuklären, dass das Verhalten des Mädchens verständlich<br />
ist und Sandrina gerade unter diesen Umständen ihre Bezugspersonen dringend in<br />
ihrer Nähe braucht. Es ist mir nicht gelungen.<br />
Mir ist dann weiters aufgefallen, dass die Eltern sich bei Impfungen geweigert haben,<br />
beim <strong>Kind</strong> zu bleiben. Normalerweise ist es so, dass die Eltern das <strong>Kind</strong> während der<br />
Impfung im Arm halten wollen. Diese Eltern wollten den Ordinationsraum verlassen.<br />
Die Großmutter hat das dann übernommen. Sie hielt das <strong>Kind</strong> im Arm, aber auch sie hat<br />
sich beim Einstich weggedreht. Die Situation war dann oft so, dass sie gesagt hat: „Es<br />
tut überhaupt nicht weh. Du bist das schönste Mäderl von der ganzen Welt. Da kann dir<br />
gar nichts passieren. Wenn du nicht weinst, kauft dir die Oma, was du willst. Oder: Wenn<br />
du weinst, kauft dir die Oma, was du willst. Jetzt hast du so viel geweint, und die Frau<br />
Doktor hat dir so viel wehgetan, da kannst du dir aussuchen, was du willst.“<br />
Auf die Frage, „wie es dem <strong>Kind</strong> geht“, haben die Eltern immer geantwortet: „Es geht ihr<br />
gut, sie bekommt ja alles, was sie will.“<br />
Mit drei Jahren hat Sandrina Trotzanfälle bekommen – in diesem Alter ein entwicklungsbedingter<br />
Vorgang. Ihre Trotzanfälle wurden anfänglich „mit Geschenken abgewürgt“.<br />
Trotzdem wurden sie immer häufiger und heftiger, sodass die Eltern dem<br />
Verhalten ihrer Tochter hilflos gegenüber gestanden sind.<br />
Die f<strong>am</strong>iliäre Situation war so, dass die Großmutter ganz andere Erziehungsmaßnahmen<br />
gesetzt hat als jeweils Mutter und Vater.<br />
Eines Tages sagte der Vater: „Ich will jetzt, dass das <strong>Kind</strong> in den <strong>Kind</strong>ergarten kommt,<br />
d<strong>am</strong>it zu Hause endlich Ruhe ist.“ Und „eh nur in den besten Privatkindergarten“. Das<br />
<strong>Kind</strong> ist dann in den <strong>Kind</strong>ergarten gekommen, obwohl die Großmutter dagegen war („Ein<br />
<strong>Kind</strong> gehört nach Hause, dort geht es ihm <strong>am</strong> besten!“).<br />
Und im <strong>Kind</strong>ergarten hat Sandrina wieder begonnen einzunässen.<br />
Zum Einnässen ist zu sagen: Ich habe die Eltern mehrmals darauf hingewiesen, dass<br />
bei einem <strong>Kind</strong> mit einer schweren Nierenschädigung die Sauberkeitserziehung nicht zu<br />
früh beginnen soll, dass sie Geduld haben sollen.<br />
Sandrina war bei ihrem 2. Geburtstag Tag und Nacht sauber!<br />
Die Oma sagte zu mir: „Meine Tochter war schon mit einem Jahr sauber, und auf so was<br />
muss man Wert legen!“<br />
Die f<strong>am</strong>iliäre<br />
Situation war so,<br />
dass die Großmutter<br />
ganz andere Erziehungsmaßnahmen<br />
setzte als Mutter und<br />
Vater. Die Hinweise,<br />
dass möglicherweise<br />
diese unterschiedlichen<br />
Ansichten und<br />
Anforderungen ihrer<br />
15
Bezugspersonen<br />
für Sandrinas<br />
Symptome verantwortlich<br />
sein könnten,<br />
wurden ignoriert.<br />
16<br />
Da Sandrina im <strong>Kind</strong>ergarten also wieder mit dem Einnässen begann, hat die Oma das<br />
<strong>Kind</strong> zu mir gebracht und gesagt, ich solle doch jetzt endlich den Eltern mitteilen, dass<br />
der <strong>Kind</strong>ergarten das <strong>Kind</strong> krank macht. Sie würde ja wieder einnässen.<br />
Meine Hinweise, dass möglicherweise die unterschiedlichen Ansichten und<br />
Anforderungen ihrer Bezugspersonen Sandrinas Symptome beeinflusst haben könnten,<br />
wurden ignoriert.<br />
Es wurde dann ein anderer <strong>Kind</strong>ergarten ausgesucht, und nachdem auch dort die<br />
Enuresis aufgetreten ist, habe ich mit den Eltern ein Gespräch geführt und ihnen zu einer<br />
F<strong>am</strong>ilientherapie geraten. In die F<strong>am</strong>ilientherapie sind sie nicht gegangen, obwohl<br />
jedes einzelne F<strong>am</strong>ilienmitglied gesagt hat, wie schwierig die f<strong>am</strong>iliäre Situation zu<br />
Hause wäre. Mit Sandrinas Problem „hat das aber nichts zu tun, denn sie hat ja alles,<br />
was sich ein <strong>Kind</strong> nur wünschen kann“.<br />
In Fällen, wo <strong>Kind</strong>er auf diese Weise vernachlässigt werden, ist es sehr schwierig einzugreifen,<br />
auch wenn man als <strong>Kind</strong>erarzt in der Praxis an erster Stelle für eine Prävention<br />
steht, da diese Eltern meist sehr „symptomorientiert“ sind.<br />
Eine Hilfe von außen kann jedoch von den Bezugspersonen nicht angenommen werden,<br />
da sie nicht erkennen, was dem <strong>Kind</strong> „wirklich fehlt“.<br />
„Es hat ja alles! Es ist ja alles da! Es ist das schönste Mädchen von der ganzen Welt, es<br />
wird ihm alles gegeben! Es hat alles, was es will!“<br />
„Ein Häuflein Asche bleibt allein und beide Schuh’, so hübsch und fein.“
„Sei hübsch ordentlich und fromm, bis nach<br />
Haus ich wieder komm“<br />
„Elternbildung – wie wollen <strong>Kind</strong>er erzogen werden?“<br />
Referentin: Dr. Luitgard Derschmidt<br />
Ich bin in der Elternbildung tätig, ich bin aber auch Mutter dreier erwachsener <strong>Kind</strong>er und<br />
habe auch als Mutter so meine Erfahrungen mit psychischer <strong>Gewalt</strong>.<br />
Mein heutiges Thema ist die „normale“, die alltägliche psychische <strong>Gewalt</strong>, die auch heute<br />
noch in der Erziehung immer wieder vorkommt.<br />
Der Begriff „psychische <strong>Gewalt</strong>“ ist sehr schwer zu definieren.<br />
Bei physischer <strong>Gewalt</strong> sieht man Wunden, bei psychischer <strong>Gewalt</strong> sind die Verletzungen<br />
nicht sichtbar. <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> kommt im ganz normalen Erziehungsalltag oft vor, wobei<br />
sie vielfach nicht bewusst, meist auch nicht absichtlich angewendet wird.<br />
Was ist psychische <strong>Gewalt</strong>?<br />
Ich möchte die Liste dessen, was psychische <strong>Gewalt</strong> ist, noch ergänzen.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist Vernachlässigung, es kann aber auch ein Übermaß an erstickender<br />
Liebe sein.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist auch das Wechselbad zwischen das <strong>Kind</strong> einmal an sich ziehen<br />
und übermäßig lieben und es dann wieder zurückweisen.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> kommt auch im Zus<strong>am</strong>menhang mit der Problematik der Strafe<br />
vor. Wenn Strafe zu einem Zeitpunkt vollzogen wird, wo das <strong>Kind</strong> gar nicht mehr weiß,<br />
was es getan hat, kann das <strong>Kind</strong> die Strafe nicht als Konsequenz seiner Handlungen<br />
erkennen.<br />
Wenn keine Grenzen gesetzt werden, leiden <strong>Kind</strong>er genau so, wie wenn sie zu sehr eingeengt<br />
werden.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist auch, wenn Eltern ihren <strong>Kind</strong>ern Orientierung verweigern und sich<br />
ihrer Verantwortung gegenüber ihren <strong>Kind</strong>ern entziehen.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> kann auch sein, wenn <strong>Kind</strong>er das tun müssen, was die Eltern immer<br />
gerne selbst tun wollten. Wenn sie das werden sollen, lernen sollen, das bekommen sollen,<br />
was eigentlich die Eltern haben wollten, wenn sozusagen das Leben der Eltern den<br />
<strong>Kind</strong>ern auferlegt wird.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist immer dort, wo Angst als Erziehungsmittel eingesetzt wird, wenn<br />
mit Druck, mit Unterdrückung erzogen wird, wenn <strong>Kind</strong>er klein gemacht, klein gehalten<br />
und abgewertet werden. Sie alle kennen Aussagen, die dafür typisch sind. Ich möchte<br />
nur ein paar erwähnen – Sie können die Liste ja dann beliebig ergänzen: „Ich werd’ dir<br />
schon zeigen, wer der Stärkere ist“, „In meinem Haus wird gemacht, was ich sage“, „So<br />
lange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, tust Du, was ich will.“<br />
Aber auch: „Ich habe um deinetwillen so viel aufgegeben, die vielen Nächte, die Liebe,<br />
meinen Beruf, mein Leben ...“, „Ich hab’ ja nur dich“, „Ich weiß <strong>am</strong> besten, was für dich<br />
gut ist.“<br />
Auch in der religiösen Erziehung, das sage ich ganz bewusst als kirchliche Mitarbeiterin,<br />
ist sehr viel mit psychischer <strong>Gewalt</strong> gearbeitet worden. Leider. „Der Himmelvater ist böse,<br />
wenn Du ...“ – ich glaub’, Sie können diese Liste ergänzen.<br />
Wenn keine Grenzen<br />
gesetzt werden, leiden<br />
<strong>Kind</strong>er genau so,<br />
wie wenn sie zu sehr<br />
eingeengt werden.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />
ist auch, wenn Eltern<br />
ihren <strong>Kind</strong>ern<br />
Orientierung verweigern<br />
und sich ihrer<br />
Verantwortung gegenüber<br />
ihren<br />
<strong>Kind</strong>ern entziehen.<br />
17
Eltern lieben ihre<br />
<strong>Kind</strong>er und wollen<br />
sie gut erziehen.<br />
Manche Eltern meinen,<br />
ihre <strong>Kind</strong>er<br />
würden <strong>am</strong> besten<br />
lernen, wenn mit<br />
besonderem<br />
Nachdruck vorgegangen<br />
wird – das<br />
Wort spricht wohl<br />
für sich ...<br />
18<br />
Warum wird geliebten <strong>Kind</strong>ern von liebenden Eltern<br />
<strong>Gewalt</strong> angetan?<br />
Warum verhalten sich Eltern so? Warum setzen Eltern psychische <strong>Gewalt</strong> bei der<br />
Erziehung ein?<br />
Ich behaupte einmal, Eltern lieben ihre <strong>Kind</strong>er und wollen sie gut erziehen.<br />
Ich möchte diese These so in den Raum stellen. Ich behaupte, dass die meisten Eltern<br />
ihre <strong>Kind</strong>er grundsätzlich lieben und ihnen nichts Böses wollen.<br />
Und etwas Zweites: Ich glaube, dass Eltern elterliche Kompetenzen haben, auch wenn<br />
sie mit diesen oft sehr schlecht umgehen.<br />
Wenn wir, wie gesagt, davon ausgehen, dass Eltern ihre <strong>Kind</strong>er lieben und das Beste für<br />
sie wollen, dann müssen wir uns schon fragen: Warum wird geliebten <strong>Kind</strong>ern von liebenden<br />
Eltern <strong>Gewalt</strong> angetan?<br />
Ich möchte da dreierlei besonders zu bedenken geben:<br />
Weil Eltern selbst mit psychischer <strong>Gewalt</strong> erzogen wurden<br />
Eltern üben psychische <strong>Gewalt</strong> meist unbewusst und unwillentlich aus, und sie erkennen<br />
sie oft nicht einmal als solche, weil sie selbst mit psychischer <strong>Gewalt</strong> erzogen worden<br />
sind. Sie haben ihre eigenen Verletzungen vergessen oder verdrängt und übernehmen<br />
einfach die Verhaltensweisen ihrer Eltern.<br />
Oder: auch wenn sie sich der psychischen <strong>Gewalt</strong> in der eigenen Erziehung bewusst sind<br />
und ihren <strong>Kind</strong>ern auf keinen Fall das antun wollen, worunter sie selber gelitten haben,<br />
fallen sie oft automatisch in diese Verhaltensweisen zurück. Es gibt auch so etwas wie<br />
eine Fixierung: Genau das, was ich absolut vermeiden will, mach ich dann gerade selbst.<br />
Aus meiner eigenen Erfahrung als Mutter kann ich, ja muss ich das leider auch bestätigen.<br />
Einengen, Angst machen, Willen brechen, d<strong>am</strong>it etwas Neues,<br />
Gutes wachsen kann<br />
Manche Eltern jedoch setzen psychische <strong>Gewalt</strong> bewusst als Erziehungsmittel ein, weil<br />
sie der Meinung sind, man müsse so erziehen. Auch sie wollen für ihre <strong>Kind</strong>er das Beste,<br />
und sie sind eben der Meinung, dass ihre <strong>Kind</strong>er so <strong>am</strong> besten lernen würden und es<br />
sich so auch <strong>am</strong> besten merken würden, wenn mit besonderem Nachdruck – das Wort<br />
spricht schon für sich – vorgegangen wird.<br />
Hier geht es natürlich um Erziehungsstile, um verschiedene Erziehungstheorien oder<br />
grundsätzliche Überzeugungen.<br />
Im puritanischen England des 17. Jahrhundert, zur Zeit Cromwells, wurde die grundsätzliche<br />
Überzeugung vertreten, dass <strong>Kind</strong>er von Natur aus schlecht sind. Ihr Wille müsse<br />
gebrochen werden, d<strong>am</strong>it sie zu guten und sozialen Menschen gemacht werden können.<br />
Bei „David Copperfield“ oder im „Struwwelpeter“ ist das zu spüren. Diese Überzeugung<br />
muss natürlich ein bestimmtes Erziehungsverhalten bewirken, gerade wenn man seine<br />
<strong>Kind</strong>er liebt. Einengen, Angst machen, Willen brechen, d<strong>am</strong>it etwas neues Gutes wachsen<br />
kann.<br />
Wenn man nun aber der Meinung ist, dass <strong>Kind</strong>er von Natur aus gut sind und Erziehung<br />
eigentlich bedeutet, für <strong>Kind</strong>er Bedingungen zu schaffen, in denen sie sich gut entfalten<br />
und entwickeln können, so muss das natürlich zu einem völlig anderen Erziehungsverhalten<br />
führen.<br />
Auch überholte Erziehungstheorien wirken sehr viel länger nach, wenn auch nicht<br />
bewusst in den Köpfen der Menschen, so doch oft unterschwellig in spontanen<br />
Verhaltensweisen in Situationen von Unsicherheit und Überforderung – und nicht, weil<br />
Eltern es so wollen.
Druck erzeugt Druck – Eltern in schwierigen Situationen<br />
Es gibt Situationen, in denen Eltern unter Stress, außergewöhnlichen Belastungen und<br />
besonderem Druck stehen. Und dann geben sie diesen Druck weiter.<br />
Als Beispiel könnte ich hier die Situation im Supermarkt anbieten, die jede Mutter eines<br />
kleinen <strong>Kind</strong>es sehr gut kennt: Das <strong>Kind</strong> schreit, str<strong>am</strong>pelt, will etwas Bestimmtes haben.<br />
Alle, Kunden, Verkäufer und Verkäuferinnen etc. schauen her. Sie alle – so schießt<br />
es der Mutter durch den Kopf – haben natürlich viel bravere <strong>Kind</strong>er und wissen auch viel<br />
besser, was man jetzt tun sollte. Nur man selbst wird mit dieser Situation nicht fertig.<br />
Als Mutter denkt man in Panik nur das Eine: So schnell wie möglich „das Geschrei“ abstellen.<br />
Stress, Hektik und Schwierigkeiten, in denen Eltern stecken, werden oft an den <strong>Kind</strong>ern<br />
ausgelassen. Das reicht von materiellen bis zu beruflichen Schwierigkeiten, z.B.<br />
Arbeitslosigkeit. Das gilt aber auch für persönliche Schwierigkeiten und besonders für<br />
die Situation der Scheidung der Eltern. In solchen überfordernden Situationen verhalten<br />
sich Eltern ihren <strong>Kind</strong>ern gegenüber oft völlig atypisch. Auf Grund ihrer eigenen<br />
Schwierigkeiten, ihrer eigenen Verletzungen und Schmerzen fügen sie ihren <strong>Kind</strong>ern<br />
Verletzungen zu.<br />
<strong>Kind</strong>er haben mit der Scheidung ihrer Eltern Probleme. Wie sie diese Probleme in ihrem<br />
Leben bewältigen können, hängt sehr davon ab, wie ihre Eltern sich ihnen gegenüber in<br />
dieser Phase verhalten.<br />
Wenn Eltern hier Bescheid wüssten, wäre ihnen das in dieser Problemsituation hilfreich,<br />
denn schaden, so behaupte ich noch einmal, wollen Eltern ihren <strong>Kind</strong>ern nicht.<br />
Vieles geschieht unabsichtlich, unbewusst, wenn Eltern in Situationen stecken, wo sie<br />
einfach reagieren und nicht kontrolliert handeln.<br />
Wir müssen uns bewusst machen:<br />
Elterliche Erziehung findet bewusst durch beabsichtigtes Handeln und unbewusst durch<br />
das Zus<strong>am</strong>menleben von Eltern und <strong>Kind</strong>ern statt.<br />
Die Bedeutung der Elternbildung<br />
Ich glaube, genau in diesem Punkt muss/kann Elternbildung ansetzen. Also zum Beispiel<br />
im Bewusst-Machen der Folgen der verschiedenen Verhaltensweisen. Hier kann<br />
Elternbildung hilfreich sein, besonders in der Prävention, weil Eltern dann mit ihren eigenen<br />
Handlungen bewusster umgehen können.<br />
Beratung und Therapie und auch Mediation haben ihren eigenen Stellenwert, sind wichtig<br />
und notwendig.<br />
Doch Bildung setzt meiner Meinung nach niederschwelliger und präventiv an.<br />
Verunsicherung der Eltern<br />
Bildung als Prävention ist gerade heute wichtiger denn je, weil es auf Grund der starken<br />
und schnellen Veränderungen unserer Gesellschaft für Eltern ungemein schwierig ist,<br />
sich zurechtzufinden.<br />
Man muss sich nur vergegenwärtigen, wie sehr Erziehungsbücher boomen.<br />
Offensichtlich, weil die Not und die Verunsicherung der Eltern in diesen Fragen sehr groß<br />
sind.<br />
Überkommene Traditionen und die Art, wie man selbst erzogen worden ist, sind heute<br />
nicht mehr immer „passend“ und müssen hinterfragt werden.<br />
Bei Bildungsveranstaltungen, vor allem <strong>am</strong> Land, höre ich sehr oft:<br />
„Ich möcht’ meine <strong>Kind</strong>er nicht so erziehen, wie ich selbst erzogen worden bin. Aber wie<br />
soll ich’s dann machen? Einiges war ja ganz gut, aber manches war für mich eher katastrophal.“<br />
Auf Grund dieser Verunsicherung ziehen sich manche Eltern aus ihrer<br />
Erziehungsverantwortung zurück.<br />
Stresssituation:<br />
schreiendes <strong>Kind</strong> in<br />
der Öffentlichkeit<br />
Wir können unsere<br />
<strong>Kind</strong>er noch so gut<br />
erziehen – sie machen<br />
uns doch alles<br />
nach.<br />
Verunsicherte Eltern<br />
ziehen sich aus ihrer<br />
Erziehungsverantwortung<br />
zurück.<br />
19
20<br />
Elternbildung soll<br />
den Eltern ihre<br />
Stärken und<br />
Kompetenzen bewusst<br />
machen.<br />
Eltern werden auch verunsichert, weil die <strong>Kind</strong>er heute sehr oft viel mehr wissen als ihre<br />
Eltern gelernt haben. Das erlebt man in den Dörfern <strong>am</strong> Land immer wieder: „Der weiß<br />
ja schon alles, was soll ich ihm noch sagen?“ Und so verweigern die Eltern ihren <strong>Kind</strong>er<br />
das Lebenswissen, das sie ihnen doch schuldig sind.<br />
Dafür reagieren die Eltern aber dann in Situationen, wo sie das Gefühl haben, „Jetzt muss<br />
ich was tun“, zu heftig und meist falsch. Sie erkennen dann selbst, dass sie da falsch<br />
reagiert haben. Dies verunsichert sie nun noch mehr, und sie ziehen sich weiter zurück.<br />
Das ist ein Teufelskreis, in den Eltern manchmal geraten.<br />
Hier kann Elternbildung auf vielfältige Weise helfen. Die grundsätzliche Aufgabe der<br />
Elternbildung ist, den Eltern bewusst zu machen, dass sie Stärken haben und dass sie<br />
auch kompetent sind.<br />
Zusätzlich muss Elternbildung aber auch Information geben. Denn vieles wissen Eltern<br />
einfach nicht, ob es nun auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie oder in einem anderen<br />
Bereich ist.<br />
Wichtig ist die Weitergabe von fachlich richtiger, also auf dem neuesten Stand wissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse basierender Information.<br />
Bewusstsein durch Wissen<br />
Aber um mehr Bewusstsein zu erreichen, muss Wissen vermittelt werden. Information<br />
ist nicht schon Wissen. Wissen ist angeeignete, persönliche Information, die mit dem eigenen<br />
Leben, mit der eigenen persönlichen Situation, mit der eigenen Wirklichkeit in<br />
Beziehung gebracht werden muss. D<strong>am</strong>it die Information, die man bekommt, auch verarbeitet<br />
werden kann, braucht es sinnvolle methodische Angebote, um die Inhalte in das<br />
eigene Bewusstsein aufnehmen zu können.<br />
Auch da gibt es klare wissenschaftliche Erkenntnisse, unter welchen Umständen<br />
Erwachsene <strong>am</strong> besten lernen, welche Sinneskanäle angesprochen werden müssen,<br />
welche Vermittlungstechniken <strong>am</strong> zielführendsten sind und so weiter. Gute<br />
Bildungsangebote müssen auf diesen Erkenntnissen basieren, d<strong>am</strong>it Eltern das, was sie<br />
in den Elternbildungskursen hören, auch wirklich verarbeiten, in ihr Bewusstsein aufnehmen<br />
und später umsetzen können.<br />
Ein weiterer wichtiger Bereich guter Angebote ist der Austausch zwischen den Eltern.<br />
Eltern sind Betroffene, wie man heute so schön sagt, das heißt, sie sind auch Fachleute<br />
für ihre eigene Situation. Und der Austausch zwischen Fachleuten bringt sehr viel an<br />
Entlastung, an Wissenszuwachs und Erkenntnissen.<br />
Ein weiterer notwendiger Schritt wäre dann, dass die auf Grund der erworbenen<br />
Kenntnisse zu verändernden Verhaltensweisen ein Stück weit auch eingeübt werden<br />
können, d<strong>am</strong>it sie dann in schwierigen Situationen spontan zur Verfügung stehen.<br />
Elternbildung ist:<br />
ð Information – Wissen<br />
ððInteraktion – Methoden – Austausch<br />
ðððEinüben neuer, veränderter Verhaltensweisen – Training<br />
<strong>Kind</strong>er sind keine Knetmasse<br />
Sie sehen schon, das sind anspruchsvolle und auf eine gewisse Weise aufwändige<br />
Bildungsangebote, die hier verlangt sind.<br />
Eltern brauchen die Stärkung ihrer Kompetenzen und dürfen nicht durch falsch verstandene<br />
Angebote noch weiter verunsichert werden.<br />
Rezepte aber, so wie manche es wünschen, die gibt es nicht und kann es nicht geben,<br />
weil unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen verschieden reagieren<br />
und einfach auch Verschiedenes brauchen.
„Es gibt keine Sicherheit, aber ungemein viel Angst, sie zu verlieren.“ (Phil Bosmann)<br />
„Rezepte“ können in der Elternbildung nicht gegeben werden. Es kann keine Rezepte<br />
geben, weil <strong>Kind</strong>er keine Knetmasse sind, die man nach Anleitung formen kann. Würde<br />
man das versuchen, würde man ihnen <strong>Gewalt</strong> antun, psychische, aber auch physische,<br />
weil sie in ihrem Menschsein nicht ernst genommen und übergangen werden.<br />
Das Gelingen der Erziehung hängt auch vom guten Willen der <strong>Kind</strong>er ab. Und ich glaube,<br />
das muss man sich, vor allem als Elternteil, immer wieder vor Augen halten.<br />
In der Elternbildung geht es um mehr Verständnis, um mehr Klarheit, um mehr „Echtheit“<br />
(Erik H. Erikson). Die Eltern in ihrer elterlichen Kompetenz zu stärken, die eigenen<br />
Fähigkeiten und Stärken den Eltern bewusst zu machen und sie zu unterstützen ist nötig.<br />
Was soll in der Elternbildung noch vermittelt werden: wertschätzendes Verhalten, die<br />
Achtung vor der Person des <strong>Kind</strong>es, der sensible, behuts<strong>am</strong>e Umgang mit<br />
Schwierigkeiten, aber auch das sinnvolle Setzen von hilfreichen Grenzen.<br />
Wie Eltern-<strong>Kind</strong>-Gespräche gelingen können, wie Auseinandersetzungen, die immer<br />
wieder notwendig sind, konstruktiv ausgetragen werden können, soll in Elternbildungsseminaren<br />
erarbeitet und – das ist, glaub’ ich, ganz besonders wichtig – erlebt<br />
werden können, denn das ist es, was Eltern im Umgang mit ihren <strong>Kind</strong>ern brauchen, um<br />
psychische <strong>Gewalt</strong> zu vermeiden.<br />
Eltern sind heute in einer schwierigen Situation<br />
Natürlich muss Elternbildung bei der Situation und Befindlichkeit der Eltern ansetzen.<br />
Eltern müssen in ihrer Situation ernst genommen werden.<br />
„Alles Lernen beginnt bei mir und mit mir“, sagt Xaver Fiederle, Professor für<br />
Erwachsenbildung in Freiburg.<br />
Und: „Ich weiß nur, was ich wissen will.“ (Jean Piaget)<br />
Eltern müssen in ihrer Situation ernst genommen, in ihrer Sprache informiert werden, und<br />
sie müssen die sanfte Pädagogik, die notwendig ist, um psychische <strong>Gewalt</strong> zu vermeiden,<br />
selbst erleben und erfahren, d<strong>am</strong>it sie diese im Umgang mit ihren <strong>Kind</strong>ern anwenden<br />
können.<br />
Genauso wie mit <strong>Kind</strong>ern umgegangen werden soll, muss in der Elternbildung auch mit<br />
den Eltern umgegangen werden. Denn nur durch das Vor- und Erleben können Eltern<br />
den richtigen „Umgang“ lernen und verstehen.<br />
„<strong>Kind</strong>er können nur so glücklich oder unglücklich werden wie es die Erwachsenen sind,<br />
in deren Welt sie aufwachsen müssen.“ (Johanna Romberg)<br />
Und in diesem Zus<strong>am</strong>menhang müssen wir uns aber auch bewusst machen, dass die<br />
Situation der Eltern heute wirklich eine schwierige ist.<br />
Im Beruf, in der Gesellschaft, in der Öffentlichkeit ist teilweise ein völlig anderes Verhalten<br />
gefragt als in der F<strong>am</strong>ilie. F<strong>am</strong>ilien- und Berufsverhalten klaffen auseinander. In einer<br />
zunehmend kälter werdenden Gesellschaft herrscht Leistungsdruck, Konkurrenzk<strong>am</strong>pf,<br />
gibt es Ängste, gibt es Ausgrenzung, gibt es Mobbing. In dieser Welt sind auch<br />
Erwachsene, Eltern, jeder Menge psychischer <strong>Gewalt</strong> ausgesetzt. Solidarität geht verloren,<br />
wir leben in einer gewalttätigen Gesellschaft. In diesem Zus<strong>am</strong>menhang ist<br />
Elternbildung wichtig, weil sie Raum geben kann, diese Erfahrungen aus der persönlichen<br />
Betroffenheit zur Sprache zu bringen und andere Verhaltensweisen anzusprechen<br />
und auszuprobieren.<br />
Und genau diese sanfte Art ist es auch, wie Referenten und Referentinnen mit ihren<br />
Teilnehmern und Teilnehmerinnen umgehen müssen. Sie müssen darauf achten, dass<br />
auch diese so miteinander umgehen, denn Eltern sind in Bildungsveranstaltungen nicht<br />
Publikum. Eltern sind Teilnehmer und Teilnehmerinnen, sie sind Lernpartner und<br />
Lernpartnerinnen.<br />
Eltern brauchen die<br />
Stärkung ihrer<br />
Kompetenzen und<br />
dürfen nicht durch<br />
falsch verstandene<br />
Angebote noch<br />
weiter verunsichert<br />
werden.<br />
„Ich weiß nur,<br />
was ich wissen will.“<br />
Jean Piaget.<br />
<strong>Kind</strong>er können nur<br />
so glücklich oder<br />
unglücklich werden<br />
wie es die Erwachsenen<br />
sind, in deren<br />
Welt sie aufwachsen<br />
müssen.<br />
(Johanna Romberg)<br />
21
Elternbildung soll<br />
helfen, Schwächen<br />
nicht gewalttätig<br />
auszumerzen, sondern<br />
Stärken zu verstärken<br />
und dadurch<br />
die Schwächen abzubauen.<br />
<strong>Kind</strong>er wollen bedingungslos<br />
geliebt<br />
werden. <strong>Kind</strong>er wollen,<br />
dass verantwortlich<br />
mit ihnen umgegangen<br />
wird, d<strong>am</strong>it<br />
sie lernen können,<br />
selbst Verantwortung<br />
zu übernehmen.<br />
<strong>Kind</strong>er wollen hilfreich<br />
begleitet werden,<br />
d<strong>am</strong>it sie später<br />
selbstständig ein<br />
glückliches Leben<br />
führen können.<br />
22<br />
Für diese Elternbildung braucht es aber speziell ausgebildete Ausbildner und<br />
Ausbildnerinnen und Angebote guter Aus- und Weiterbildungen. Es braucht Referenten<br />
und Referentinnen, die gelernt haben, die einzelnen Wissensgebiete zus<strong>am</strong>menzuführen<br />
und zu vernetzen, gemeins<strong>am</strong> zu betrachten und anzubieten. Nur so ist die<br />
Elternbildung für Eltern hilfreich und kann auch in ihre Alltagsrealität einfließen.<br />
Es braucht Referenten und Referentinnen, die Übersetzungsarbeit leisten können, die<br />
die wissenschaftlichen oder fachspezifischen Formulierungen so „übersetzen“, dass die<br />
Menschen die Botschaft auch verstehen und mit ihrem eigenen Leben in Berührung bringen<br />
können.<br />
Es braucht Referenten und Referentinnen, die gelernt haben, nicht Schwächen gewalttätig<br />
auszumerzen, sondern Stärken zu verstärken und dadurch die Schwächen abzubauen.<br />
Nur so können Eltern erfahren, wie sie dann daheim mit ihren <strong>Kind</strong>ern umgehen<br />
sollen. Elternbildung soll helfen, Schwächen nicht gewalttätig auszumerzen, sondern<br />
Stärken zu verstärken und dadurch die Schwächen abzubauen.<br />
Zum Abschluss: Wie wollen <strong>Kind</strong>er denn erzogen werden?<br />
Sie wollen zuallererst geliebt werden, so wie sie eben sind. Und diese Zuneigung darf<br />
nicht an Bedingungen geknüpft werden. <strong>Kind</strong>er wollen frei agieren können, wollen lieben<br />
lernen, d<strong>am</strong>it sie auch später selbst in Beziehung treten können. Sie wollen wertschätzend<br />
behandelt werden, in der Würde ihrer eigenen Person geachtet und ernst genommen<br />
werden, d<strong>am</strong>it sie ihren eigenen Wert erkennen und ihren Selbstwert aufbauen können.<br />
<strong>Kind</strong>er wollen Orientierung und Halt finden, hilfreiche Grenzen erfahren, d<strong>am</strong>it sie<br />
auch später erkennen und entscheiden können, was für ihr Leben Sinn macht und was<br />
keinen Sinn macht.<br />
Und: <strong>Kind</strong>er wollen, dass man verantwortlich mit ihnen umgeht, d<strong>am</strong>it sie auch fähig werden,<br />
Verantwortung zu übernehmen, für sich selbst, für die Menschen, mit denen sie zu<br />
tun haben, für die Gesellschaft und die Umwelt. Sie wollen einfach, dass Eltern, Erzieher<br />
und Erzieherinnen oder Lehrer und Lehrerinnen sie hilfreich begleiten, sodass sie später<br />
selbstständig ein glückliches Leben führen können.
„Also sprach in ernstem Ton<br />
der Papa zu seinem Sohn“<br />
„Väter im Erziehungsalltag“<br />
Referent: Dr. Harald Werneck<br />
Ich möchte speziell auf die Rolle der Väter als Urheber der psychischen <strong>Gewalt</strong> an den<br />
<strong>Kind</strong>ern eingehen.<br />
Im Zuge dessen möchte ich auch (nochmals) auf die verschiedenen Formen der psychischen<br />
<strong>Gewalt</strong> im Erziehungsalltag eingehen und auf die Frage, wo die Grenze liegt<br />
zwischen sinnvollen und notwendigen Erziehungsmaßnahmen einerseits und<br />
Maßnahmen, die bereits – mehr oder weniger – als psychische <strong>Gewalt</strong> zu klassifizieren<br />
sind, andererseits.<br />
Schließlich sollen auch Anregungen für einen gewaltfreieren Erziehungsalltag gegeben<br />
werden.<br />
Was ist psychische <strong>Gewalt</strong>?<br />
Um sich zum Themenbereich psychische <strong>Gewalt</strong> systematisch Gedanken zu machen,<br />
scheint es mir aber vorerst angemessen, in Ergänzung zu den bereits vorangegangenen<br />
Definitionen zu deklarieren, auf welchem Verständnis von psychischer <strong>Gewalt</strong> meine<br />
Ausführungen beruhen. Der Misshandlungsbegriff kann ja (wie bereits gehört) insbesondere<br />
im Bereich der psychischen <strong>Gewalt</strong> enger und weiter gefasst werden. Im<br />
Gegensatz zu strafrechtlichen Entscheidungskontexten etwa scheint es im Zus<strong>am</strong>menhang<br />
mit präventiven Überlegungen sinnvoll, sich an breiten <strong>Gewalt</strong>definitionen zu orientieren.<br />
Ich lege meinen Ausführungen zuerst einmal eine Definition in Anlehnung an das<br />
Konzept von Garbarino, Guttmann und Seeley (1986) zu Grunde, wo unter psychischer<br />
<strong>Gewalt</strong> alle Handlungen und Unterlassungen von Eltern und Bezugspersonen verstanden<br />
werden, die <strong>Kind</strong>er ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl der eigenen<br />
Wertlosigkeit übermitteln und sie in ihrer psychischen und/oder körperlichen Entwicklung<br />
beeinträchtigen können.<br />
Dazu zählen grundsätzlich nicht nur die extremen Formen seelischer Graus<strong>am</strong>keit, sondern<br />
auch auf den ersten Blick vielleicht harmlosere Varianten elterlichen Verhaltens, wie<br />
zum Beispiel ständiges Schimpfen oder das demonstrative Bevorzugen eines<br />
Geschwisterkindes; auf diese Formen möchte ich dann später noch eingehen.<br />
Aus dieser breiten Definition wird aber zugleich deutlich, wie schwierig es ist, eine<br />
Grenze zwischen üblichen, weitgehend tolerierten Erziehungspraktiken und psychisch<br />
schädigendem Elternverhalten zu ziehen.<br />
Hier geht es also vor allem um die Frage des geeigneten Erziehungsstils.<br />
Erziehung – eine Frage des Stils?<br />
Schon in den 30er-Jahren wurden die verschiedenen Erziehungsstile einer Dreiteilung<br />
unterworfen, die sich mit leichten Modifikationen im Wesentlichen bis heute bewährt hat.<br />
Diese drei „Grund-Erziehungsstile“ sind der autoritäre, der demokratische und der<br />
Laissez-faire-Stil. Zumindest die N<strong>am</strong>en dieser Erziehungsstile haben mittlerweile auch<br />
den Einzug ins Allgemeinwissen geschafft.<br />
Sie unterscheiden sich vor allem hinsichtlich des Grades der Lenkung einerseits und des<br />
Grades der emotionalen Wertschätzung durch die Erziehungspersonen andererseits.<br />
Diese mehr oder weniger bewusst gewählten Stile, die den Erziehungsalltag wesentlich<br />
Alle Handlungen<br />
und Unterlassungen<br />
von Eltern und<br />
Bezugspersonen, die<br />
<strong>Kind</strong>er ängstigen,<br />
überfordern, ihnen<br />
das Gefühl der eigenen<br />
Wertlosigkeit<br />
vermitteln und sie in<br />
ihrer psychischen<br />
und/oder körperlichen<br />
Entwicklung<br />
beeinträchtigen, können<br />
als psychische<br />
<strong>Gewalt</strong> verstanden<br />
werden.<br />
23
Der autoritäre<br />
Erziehungsstil führt<br />
auf der einen Seite<br />
zwar kurzfristig oft<br />
zum erwünschten<br />
Resultat, längerfristig<br />
aber zu einer<br />
Verschlechterung der<br />
Beziehung der<br />
<strong>Kind</strong>er zu den<br />
Erziehenden.<br />
Laissez faire führt<br />
zwar kurzfristig zu<br />
einer verbesserten<br />
Beziehung zu den<br />
Erziehenden, langfristig<br />
jedoch zu<br />
Desorganisation und<br />
Unangepasstheit.<br />
24<br />
prägen, variieren in ihrer Anwendungshäufigkeit sehr stark – in Abhängigkeit von der<br />
Kultur, von individuellen Einstellungen, von Überzeugungen, vom gesellschaftlichen<br />
Kontext und nicht zuletzt auch von der Zeit.<br />
Der autoritäre Erziehungsstil<br />
Bezeichnend ist, dass 1845 im „Zappelphilipp“, daraus st<strong>am</strong>mt das Zitat meines<br />
Referattitels, der Vater seinen Sohn in ernstem Ton ermahnt.<br />
Dies ist bezeichnend einerseits für die Rollenaufteilung d<strong>am</strong>als, aber auch bezeichnend<br />
für den früher wohl vorherrschenden Erziehungsstil, nämlich den autoritären.<br />
Dieser Erziehungsstil kann allgemein gekennzeichnet werden durch erhöhte<br />
Unfreundlichkeit, häufigeres Befehlen in der Erziehung, durch Pessimismus, Erregung,<br />
vermehrte Strafandrohungen und natürlich auch vermehrte Straferteilungen.<br />
Das führt auf der einen Seite bei den <strong>Kind</strong>ern zwar kurzfristig oft zum erwünschten<br />
Resultat, andererseits aber längerfristig doch eher zu einer Verschlechterung der<br />
Beziehung zu den Erziehenden.<br />
Der autoritäre Stil provoziert in der Regel vermehrt ablehnende Reaktionen der <strong>Kind</strong>er,<br />
verstärkte Unfreiheit im Handeln, unmittelbare Angepasstheit – interessanterweise gepaart<br />
mit späterer Unangepasstheit – und natürlich eine Behinderung der seelischen<br />
Reifung allgemein.<br />
Dieser Umgang zwischen Erziehenden und <strong>Kind</strong>ern wird in seiner Reinkultur als<br />
„schwarze Pädagogik“ bezeichnet. Diese Erziehungsform wird zwar von der<br />
Gesellschaft, vom „common sense“ mittlerweile nur mehr sehr bedingt akzeptiert, ist aber<br />
trotzdem zumindest immer noch eine potenzielle Quelle psychischer <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong>.<br />
Dieser Erziehungsstil ist noch immer zumindest in den Hinterköpfen vieler verankert und<br />
somit häufiger im Erziehungsalltag präsent, als uns lieb ist.<br />
Der Laissez-faire-Stil<br />
Abgelöst als weit verbreitetes Erziehungsideal wurde dieser autoritäre Stil in den späten<br />
60er- und 70er-Jahren – Stichwort „antiautoritäre Erziehung“ – immer mehr durch das<br />
Ideal des „Laissez faire“. Hier legen die Erziehenden grundsätzlich Wert auf Ruhe,<br />
Verständnis und Höflichkeit im Erziehungsalltag, ansonsten vertrauen sie aber im<br />
Wesentlichen auf Selbstregulationsmechanismen der <strong>Kind</strong>er.<br />
Bei den so erzogenen <strong>Kind</strong>ern führt dies zwar vermehrt zu Freiheit im Handeln, einer zumindest<br />
kurzfristig (oft nur vordergründig) verbesserten Beziehung zu den Erziehenden,<br />
zu positiveren Gefühlen den Erziehenden gegenüber, andererseits aber natürlich vor<br />
allem zu Desorganisation, im Endeffekt dann auch zu schlechteren Erziehungsergebnissen<br />
sowie zu einer unmittelbaren und auch späteren Unangepasstheit.<br />
Der demokratische Erziehungsstil<br />
Dieser Erziehungsstil wird oft auch als „sozialintegrativer Stil“ bezeichnet und sollte zumindest<br />
theoretisch im Wesentlichen die Vorteile der beiden vorher Genannten integrieren:<br />
nämlich das weit gehende Erreichen des Erziehungszieles (vom autoritären<br />
Erziehungsstil) und die relativ gute emotionale Beziehung zwischen Eltern und <strong>Kind</strong> (vom<br />
Laissez-faire-Stil).<br />
Von der grauen Theorie zur Praxis<br />
Wie lässt sich das nun – zumindest annähernd – im Alltag umsetzen? Was gibt es für<br />
Ansätze, das tatsächlich auch im Alltag umzusetzen, wo ja vieles anders ist als in der<br />
grauen Theorie? Wie kann also ein <strong>Kind</strong> ohne Anwendung körperlicher und auch psychischer<br />
<strong>Gewalt</strong> dazu gebracht werden, entsprechend dem Willen der Erziehungsperson<br />
etwas zu tun, was es spontan nicht tun würde, oder etwas zu unterlassen, was es im
Moment zwar gerne tun würde, aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht tun sollte?<br />
Wichtig dabei erscheint mir aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie vor allen<br />
Dingen, den Entwicklungsstand des jeweiligen <strong>Kind</strong>es verstärkt zu beachten.<br />
Aus der Forschung über die Entwicklung des moralischen Urteilvermögens wissen wir,<br />
dass sich Kleinkinder bei ihrer Einschätzung von Handlungen als gut oder böse, richtig<br />
oder falsch im Wesentlichen daran orientieren, ob sie von den Erwachsenen für diese<br />
Handlungen belohnt oder bestraft werden. Dementsprechend schwierig und aussichtslos<br />
wird es daher in den meisten Fällen sein, etwa einem 2-Jährigen den tieferen Sinn<br />
der verschiedenen Erziehungsinterventionen darzulegen, in der Hoffnung auf Einsicht<br />
und Vernunft. Ein <strong>Kind</strong> dieses Alters richtet sein Verhalten einfach noch nahezu ausschließlich<br />
nach den Konsequenzen beziehungsweise den Reaktionen der Eltern aus.<br />
Selbst noch so gut gemeinte Erklärungen werden auf Grund der einfach unrealistischen<br />
Erwartungshaltung kontraproduktiv wirken, nämlich dann, wenn die elterlichen<br />
Forderungen im Endeffekt doch, dann allerdings gegen den bewusst gemachten Willen<br />
der <strong>Kind</strong>er durchgesetzt werden. Sinnvoller und effizienter wäre in solchen Fällen, von<br />
vornherein in ruhigem Ton klare Anweisungen zu geben beziehungsweise Grenzen zu<br />
setzen, die vom <strong>Kind</strong> in dieser Situation möglicherweise noch nicht verstanden, aber<br />
doch akzeptiert werden können. Auf diese Weise kann ein ruhiges, aber bestimmtes<br />
„Nein“ in vielen Situationen nicht nur klärend, sondern auch psychisch entlastend wirken<br />
– für das betroffene <strong>Kind</strong> und auch für den das „Nein“ aussprechenden Elternteil.<br />
Je älter die <strong>Kind</strong>er dann sind, desto sinnvoller ist es, Erziehungsmaßnahmen doch zu<br />
erklären und, statt starre Grenzen zu setzen, zunehmend flexiblere Verhaltensregeln zu<br />
erklären und zu vereinbaren.<br />
Vor allem Väter begehen oft den Fehler, dass sie lange Zeit das Verhalten ihres<br />
Sprösslings tolerieren, ohne ein Wort zu sagen, bis ihnen dann sozusagen der<br />
Geduldfaden reißt. Dann „explodieren“ sie, was für das <strong>Kind</strong> völlig unnachvollziehbar ist.<br />
Für das <strong>Kind</strong> reagiert der Vater unverhältnismäßig stark, da zumeist dann gleich sanktionierend.<br />
Erst relativ spät, interessanterweise erst nach dem Volksschulalter, sind <strong>Kind</strong>er dann<br />
wirklich in der Lage zu begreifen, dass man von Regeln auch Ausnahmen machen kann,<br />
ohne dabei die Regel selbst grundsätzlich in Frage zu stellen.<br />
Ich denke, das ist auch in der alltäglichen Erziehung wichtig zu berücksichtigen.<br />
Dennoch ist eine klare und konsequente Erziehungslinie bei <strong>Kind</strong>ern beziehungsweise<br />
Jugendlichen unheimlich wichtig. Die <strong>Kind</strong>er müssen einmal wissen, worauf sie sich einstellen<br />
und worauf sie sich verlassen können. Das setzt natürlich auch voraus, dass sich<br />
die Eltern beziehungsweise die Erziehungspersonen selbst über diese Erziehungsziele<br />
und auch die Erziehungsstile im Klaren sind.<br />
Väter im Aufbruch<br />
Speziell die Väter sind heute mehr denn je über die an sie gestellten Erwartungen und<br />
Anforderungen als Erzieher verunsichert. Schwankend so etwa irgendwo zwischen dem<br />
Bild des <strong>am</strong> Abend nach Hause kommenden und die <strong>Kind</strong>er für die Sünden des Tages<br />
bestrafenden Vaters einerseits und dem alles tolerierenden Spielk<strong>am</strong>eraden, mit dem<br />
man alles machen kann, andererseits.<br />
Grundsätzlich geht speziell auch bei den Vätern der Trend in Richtung einer deutlichen<br />
Abnahme autoritärer Aspekte in der Erziehung, wie in einer Generationen vergleichenden<br />
Studie von Eitler (1984) gezeigt wurde, in der Erziehungsstile und Erziehungspraktiken<br />
der jetzigen Vätergeneration mit jenen der Großväter verglichen wurden.<br />
Auch in einem eigenen Forschungsprojekt zur F<strong>am</strong>ilienentwicklung im Lebenslauf gaben<br />
uns 58 Prozent der jungen Väter an, ihre <strong>Kind</strong>er milder zu erziehen als sie selbst erzogen<br />
wurden (z.B. Werneck, 1998). Nicht einmal 1 Prozent der Väter erziehen ihre<br />
<strong>Kind</strong>er strenger, als sie selber erzogen wurden. Besonders interessant erscheint auch,<br />
dass Väter, die selbst sehr streng erzogen worden sind, sich in der Regel zumindest vornehmen,<br />
mit ihren eigenen <strong>Kind</strong>ern besonders mild umzugehen.<br />
Wichtig ist, den<br />
jeweiligen Entwicklungsstand<br />
des<br />
<strong>Kind</strong>es zu beachten.<br />
Je älter die <strong>Kind</strong>er<br />
sind, desto sinnvoller<br />
wird es, Erziehungsmaßnahmen<br />
zu<br />
erklären und, statt<br />
starre Grenzen zu<br />
setzen, zunehmend<br />
flexiblere Verhaltensregeln<br />
zu<br />
erklären und zu<br />
vereinbaren.<br />
Dennoch ist eine<br />
klare und konsequenteErziehungslinie<br />
ausgesprochen<br />
wichtig.<br />
Väter erziehen heute<br />
milder als ihre<br />
eigenen Väter.<br />
25
„Neue Väter“<br />
zeichnen sich durch<br />
geringe <strong>Gewalt</strong>bereitschaft,<br />
hohe<br />
Befürwortung der<br />
Emanzipation der<br />
Frau, starke<br />
Gefühlsbetontheit<br />
und hohes Engagement<br />
in der <strong>Kind</strong>ererziehung<br />
aus.<br />
Während Väter zu<br />
ihren Töchtern oft<br />
bessere emotionale<br />
Beziehungen als zu<br />
ihren Söhnen haben,<br />
stimulieren sie ihre<br />
Söhne intellektuell<br />
mehr als ihre<br />
Töchter. Diese geschlechtsspezifischen<br />
Unterlassungen können<br />
auch als Form<br />
psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
betrachtet werden,<br />
da sie zu Entwicklungsbeeinträchtigungen<br />
führen<br />
können.<br />
26<br />
Die „neuen“ Väter<br />
Das deckt sich auch mit Resultaten einer kürzlich durchgeführten deutschen<br />
Untersuchung von Zulehner und Volz (1999) mit Daten aus Deutschland. Danach ist die<br />
<strong>Gewalt</strong>bereitschaft bei den so genannten „neuen Vätern“, die sich vor allem durch hohe<br />
Befürwortung der Emanzipation der Frauen, starke Gefühlsbetontheit und hohes<br />
Engagement in der <strong>Kind</strong>ererziehung auszeichnen, generell gering: 91 Prozent dieser<br />
neuen Männer lehnen männliche <strong>Gewalt</strong> grundsätzlich stark ab. Das passt auch gut zu<br />
den Wünschen und Ansprüchen an den idealen Vater, der einer eigenen Umfrage unter<br />
Studentinnen und Studenten zur Folge vor allem verständnisvoll, liebevoll, fürsorglich,<br />
gesprächsbereit und verantwortungsvoll sein sollte.<br />
Erziehungsalltag der Väter<br />
Wie sieht nun der konkrete Erziehungsalltag für Väter in der Regel aus?<br />
Die Zeit, die Väter mit ihren <strong>Kind</strong>ern verbringen, wird vor allem dem gemeins<strong>am</strong>en Spiel<br />
gewidmet. Versorgende Tätigkeiten spielen, natürlich abhängig vom Lebensalter des<br />
<strong>Kind</strong>es, grundsätzlich eine untergeordnete Rolle.<br />
Die alltägliche Erziehungsarbeit aber wird, wie wir aus verschiedenen Studien wissen,<br />
im Wesentlichen noch immer von den Müttern geleistet.<br />
Was die angegebene Strenge in der Erziehung betrifft, so gibt es etwa in unserer<br />
Längsschnittstudie, aber auch anderen Erhebungen zur Folge keine bedeutenden<br />
Unterschiede zwischen Vätern und Müttern, statistisch gesehen – was für den Einzelfall<br />
nicht unbedingt gültig ist.<br />
Die Qualität insbesondere der Vater-<strong>Kind</strong>-Beziehung und, d<strong>am</strong>it zus<strong>am</strong>menhängend, die<br />
Neigung zur Anwendung diverser Formen psychischer <strong>Gewalt</strong> im Erziehungsalltag hängt<br />
aber auch stark von der Qualität der Beziehung zwischen den Eltern ab. Auch das wird<br />
interessanterweise erst seit ein paar Jahren übereinstimmend in mehreren Studien immer<br />
wieder betont.<br />
Der kleine Unterschied<br />
Abgesehen von der negativen Vorbildwirkung sich streitender Eltern, die, glaube ich, relativ<br />
evident ist, fand etwa das Forscherehepaar Cowan und Cowan Anfang der 90er-<br />
Jahre (1994) in einer groß angelegten <strong>am</strong>erikanischen Studie, dass Väter bei Partnerschaftsproblemen<br />
vor allem die Töchter schlechter behandeln.<br />
Das weist einmal mehr auf Unterschiede im Erziehungsverhalten je nach Geschlecht des<br />
<strong>Kind</strong>es hin.<br />
Auch hiezu gibt es eine Fülle von Untersuchungsergebnissen, die einander allerdings<br />
teilweise widersprechen. Man könnte sie dahingehend zus<strong>am</strong>menfassen, dass seitens<br />
der Väter die emotionale Beziehung zu den Töchtern oft besser ist als zu den Söhnen,<br />
dass die Söhne dafür aber intellektuell mehr stimuliert werden.<br />
Betrachtet man jetzt die Befunde sozusagen von hintenherum, hinsichtlich der Frage,<br />
was bei den Töchtern beziehungsweise den Söhnen zu wenig gefördert wird, so ließen<br />
sich im Sinne der eingangs erwähnten breiten Definition zu präventiven Zwecken die<br />
geschlechtsspezifischen Unterlassungen durchaus als Form der psychischen <strong>Gewalt</strong><br />
klassifizieren, die dann natürlich in weiterer Folge auch den Keim für spätere Entwicklungsbeeinträchtigungen<br />
in sich bergen.<br />
Vernachlässigung der väterlichen Pflichten<br />
D<strong>am</strong>it wäre ich auch schon bei einer Kernthese meines Vortrages:<br />
Die häufigste Form psychischer <strong>Gewalt</strong>, die zurzeit von Vätern in Österreich praktiziert<br />
wird (im Sinn der eingangs angeführten breiten Definition), besteht wohl weniger in den
verschiedensten Varianten aktiver <strong>Gewalt</strong>anwendung, sondern eher in der<br />
Vernachlässigung ihrer väterlichen Pflichten, im Unterlassen einer optimalen und maximalen<br />
Entwicklungsförderung der <strong>Kind</strong>er, die ja sozusagen Kraft ihrer Existenz eigentlich<br />
ein Anrecht auch auf väterliche Unterstützung hätten.<br />
Die Abwesenheit beziehungsweise die – selbst bei Anwesenheit – oft nicht vorhandene<br />
emotionale Verfügbarkeit, aus welchen Gründen auch immer, wird mehrfach als einer der<br />
Hauptgründe für das bedenkliche Ansteigen diversester Verhaltensstörungen angeführt.<br />
Es geht hier in erster Linie um Störungen im Sozialverhalten, um aggressive<br />
Verhaltenstörungen – vor allem Buben werden immer aggressiver. Ein Hauptgrund hierfür<br />
wird wohl in der eben beschriebenen „Unterväterung“ zu finden sein.<br />
Viele dieser Buben und Mädchen würden sich vielleicht wünschen, dass der „Papa“ ab<br />
und zu einmal, wenn auch „in ernstem Ton“, aber doch zu ihnen spricht. Pointiert formuliert:<br />
Besser in ernstem Ton als gar nicht!<br />
In zu vielen Fällen fehlt der Vater entweder ganz oder weitgehend in der Erziehung. Vor<br />
allem aus der Perspektive der <strong>Kind</strong>er fehlt er als Ansprechpartner. Er fehlt als positives<br />
Identifikationsmodell, als eine die Mutter ergänzende Erziehungsinstanz oder einfach –<br />
scheinbar banal – als interessanter Freizeitpartner; wobei die Gründe, warum sich die<br />
Väter nicht eingehender mit ihren <strong>Kind</strong>ern befassen, in vielen Fällen weniger in der<br />
grundsätzlich fehlenden oder mangelnden Bereitschaft oder sogar fehlenden Fähigkeit,<br />
sich mit den <strong>Kind</strong>ern zu beschäftigen, zu suchen sind, als vielmehr in externen Ursachen,<br />
die mit der Vater-<strong>Kind</strong>-Beziehung an sich nicht unmittelbar direkt zus<strong>am</strong>menhängen.<br />
Dazu gehören typischerweise eine Trennung der Eltern oder natürlich auch der hohe berufliche<br />
Zeitaufwand. Oder beides zus<strong>am</strong>men: Trennung und Beruf.<br />
Diese mittelbaren Formen psychischer <strong>Gewalt</strong> wären der Vollständigkeit halber noch zu<br />
ergänzen durch Formen struktureller, ja ges<strong>am</strong>tgesellschaftlich bedingter <strong>Gewalt</strong>: etwa<br />
mangelnde Einräumung von kindgerechten Spielmöglichkeiten, von Bewegungsmöglichkeiten<br />
und ähnlichem.<br />
Neben diesen strukturellen Komponenten ist aber nicht zu vergessen, dass es nach wie<br />
vor Formen der unmittelbaren, aktiven psychischen <strong>Gewalt</strong> gibt, die im Erziehungsalltag<br />
mehr oder weniger deutlich zu beobachten sind.<br />
Art und Ausmaß dieser <strong>Gewalt</strong>formen haben sich bei Vätern und Müttern in den letzten<br />
Jahrzehnten in Summe einander angenähert und lassen sich im Durchschnitt nicht mehr<br />
wesentlich voneinander unterscheiden.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong>: fällt weniger auf,<br />
ist gesellschaftlich eher akzeptiert als physische <strong>Gewalt</strong><br />
Obwohl eine umfassende, objektive, methodisch korrekte Erfassung psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
letztendlich nahezu unmöglich ist – das ist ja das Dilemma! – und somit die harten Daten<br />
fehlen, stelle ich jetzt eine weitere Hypothese auf: Parallel zum Rückgang der physischen<br />
<strong>Gewalt</strong>, der natürlich sehr zu begrüßen ist, hat die psychische <strong>Gewalt</strong> in der Erziehung<br />
als Mittel zur Konfliktaustragung und als alltägliches Erziehungsmittel eher zugenommen.<br />
Die physische <strong>Gewalt</strong> wird gesellschaftlich immer mehr geächtet, während die psychische<br />
eher gerechtfertigt wird.<br />
Gemessen an den zu erwartenden Spätfolgen, die im Extremfall bis zu Suizidversuchen<br />
gehen können, wird die psychische <strong>Gewalt</strong> im Vergleich zur physischen <strong>Gewalt</strong> in der<br />
Regel unterbewertet.<br />
Die Gründe dafür: Einerseits ist das gewalts<strong>am</strong>e Verhalten als solches schwer identifizierbar,<br />
andererseits sind die Konsequenzen, die psychischer Missbrauch nach sich ziehen<br />
kann, häufig unklar und unabsehbar.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist eher Ausdruck einer Grundhaltung, Ausdruck einer Einstellung,<br />
die den Erziehungsalltag aber wirklich maßgebend und auch nachhaltig prägt (und<br />
wahrscheinlich nachhaltiger prägt als der fallweise Einsatz physischer Bestrafung).<br />
Unterlassungen –<br />
die häufigste Form<br />
väterlicher <strong>Gewalt</strong><br />
Gemessen an den<br />
zu erwartenden<br />
Spätfolgen, die im<br />
Extremfall bis zu<br />
Suizidversuchen<br />
gehen können, wird<br />
die psychische<br />
<strong>Gewalt</strong> im Vergleich<br />
zur physischen<br />
<strong>Gewalt</strong> in der Regel<br />
unterbewertet.<br />
27
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />
ist auch Ausdruck<br />
einer Grundhaltung,<br />
einer Einstellung, die<br />
den Erziehungsalltag<br />
maßgebend und<br />
wahrscheinlich<br />
nachhaltiger prägt<br />
als fallweise physische<br />
Bestrafung.<br />
Vätern fällt es zumeist<br />
schwer, <strong>am</strong><br />
Feierabend oder zum<br />
Wochenende in eine<br />
kindgerechte Sprache<br />
zu wechseln.<br />
Männlich-väterliche<br />
Sprache hat mehr<br />
28<br />
Eine permanente psychische <strong>Gewalt</strong> als Ausdruck einer Erziehungseinstellung ist wahrscheinlich<br />
mittel- und längerfristig noch schädlicher als physische <strong>Gewalt</strong>.<br />
Zu den klassischen Varianten psychischer <strong>Gewalt</strong> zählen etwa: das <strong>Kind</strong> einschüchtern,<br />
isolieren, es übermäßig kontrollieren, mit lang anhaltendem Liebesentzug bestrafen,<br />
emotional erpressen, ablehnen, auslachen, bl<strong>am</strong>ieren, grundlos misstrauen, ständig<br />
über- oder auch unterfordern oder das speziell unter Vätern weit verbreitete Spektrum<br />
verbaler <strong>Gewalt</strong>formen, wie zum Beispiel beleidigen, erniedrigen, sich lustig machen,<br />
hänseln, abwerten, ständig Kritik üben, Sarkasmus, Zynismus etc. Diese Liste ließe sich<br />
wohl noch lange fortsetzen.<br />
Vielleicht sollte sich jede/r als ersten Schritt, im Sinne einer Bewusstmachung und in weiterer<br />
Folge zur Vermeidung dieser aggressiven Kommunikationsformen für sich selbst<br />
einmal so eine Liste überlegen, um sich zu verdeutlichen, welche Erziehungsmaßnahmen<br />
aus subjektiver Perspektive des <strong>Kind</strong>es eigentlich eine Integritätsverletzung<br />
bedeuten müssen.<br />
Was die Prävention gerade von psychischer <strong>Gewalt</strong> so erschwert, ist ja unter anderem,<br />
dass psychische <strong>Gewalt</strong> in vielen Fällen von den Ausübenden gar nicht und auch von<br />
den Opfern häufig nur diffus oder gar nicht als solche erkannt wird.<br />
Was können wir tun?<br />
Bewusstseinsarbeit, Sensibilisierung auf konkreter individueller, aber auch auf gesellschaftliche<br />
Makroebene, etwa in Form dieser heutigen Enquete, bilden die Basis, auf<br />
welcher dann Strategien überlegt werden müssen und können, um <strong>Gewalt</strong>aspekte im<br />
Erziehungsalltag möglichst zu reduzieren.<br />
Auf soziologischer, gesellschaftlicher Ebene sollten die Bemühungen zur Vermeidung<br />
psychischer <strong>Gewalt</strong> grundsätzlich in Richtung einer umfassenderen Entlastung der<br />
F<strong>am</strong>ilien gehen, vor allem in krisengeförderten Übergangsphasen, also zum Beispiel in<br />
der Phase des Übergangs zur Elternschaft oder in der Phase der Pubertät, wo die<br />
F<strong>am</strong>ilien mehr Unterstützung bräuchten.<br />
F<strong>am</strong>ilien- und gesellschaftspolitische Maßnahmen, im Sinne einer Stärkung, eines<br />
„Empowerments“ des Einzelnen und der F<strong>am</strong>ilien als Ganzes, beeinflussen in letzter<br />
Konsequenz auch den innerf<strong>am</strong>iliären Kommunikationsstil positiv, die „Interaktionskultur“.<br />
Sie sind im Rahmen einer umfassenderen Strategie – und einer solchen bedarf<br />
es – daher wohl unverzichtbar.<br />
Parallel zu dieser übergeordneten Ebene obliegt es aber auch vielleicht noch zu einem<br />
viel größeren Anteil der Verantwortung des Einzelnen – und den kann man nicht aus<br />
dieser Verantwortung entlassen –, sich unmittelbar um eine gewaltfreie Erziehung zu<br />
bemühen.<br />
Das setzt, wie gesagt, zuerst einmal das Bemühen um die Herstellung beziehungsweise<br />
Intensivierung einer tragfähigen, auf gegenseitigem Vertrauen basierenden<br />
Gesprächsbasis zwischen <strong>Kind</strong> und Vater voraus, so dass auch das <strong>Kind</strong> die subjektive<br />
Sicherheit hat, sich mit allen Anliegen an den Vater wenden zu können und d<strong>am</strong>it auch<br />
ernst genommen zu werden. Denn wer sich von vornherein ein zynisches Statement<br />
erwartet, wird kaum das Gespräch suchen.<br />
Sie sprechen oft ein andere Sprache ...<br />
Speziell Vätern fällt es – mitbedingt durch die geringe mit den <strong>Kind</strong>ern verbrachte Zeit –<br />
wahrscheinlich auch oft schwerer, all die Sorgen und Nöte der <strong>Kind</strong>er in der ganzen<br />
Tragweite, die es für das <strong>Kind</strong> bedeutet, nachzuvollziehen. Es fällt ihnen schwer, adäquat<br />
darauf einzugehen und darauf zu reagieren. Dazu kommt, dass es in der Regel gerade<br />
Vätern nach dem Berufsalltag, also wenn sie <strong>am</strong> Abend nach Hause kommen, oder<br />
zum Wochenende, schwerer fällt, sich von der Erwachsenensprache auf die altersgemäße<br />
Sprache der <strong>Kind</strong>er umzustellen, sowohl vom Stil her als auch von den Inhalten.
Väter wissen oft nicht, welche Gesprächsthemen gerade für die <strong>Kind</strong>er relevant sind und<br />
was diese gerade wirklich beschäftigt.<br />
Ich denke, das hängt auch d<strong>am</strong>it zus<strong>am</strong>men, dass die männlich-väterliche Gesprächskultur<br />
im Durchschnitt betrachtet vielleicht grundsätzlich mehr Barrieren auf dem Weg zu<br />
einer kindgerechten Sprache zu überwinden hat als jene der Mütter.<br />
Konklusio<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> im Erziehungsalltag zu vermeiden setzt also vor allem bei Vätern voraus,<br />
sich grundsätzlich bereitwillig auf das <strong>Kind</strong> einzulassen, sich mehr an den kindlichen<br />
Bedürfnissen zu orientieren, diese auch ernst zu nehmen, dabei aber gegebenenfalls<br />
auch Richtungen vorzugeben und das <strong>Kind</strong> in liebevoller und zielführender Weise anzuleiten<br />
und zu begleiten.<br />
Bedingung dafür wäre in erster Linie aber wiederum eines: mehr Zeit der Väter für ihre<br />
<strong>Kind</strong>er.<br />
Barrieren auf dem<br />
Weg zu einer kindgerechten<br />
Sprache<br />
zu überwinden als<br />
die „Muttersprache“.<br />
29
Idyllische<br />
Dorfstrukturen gibt<br />
es nur mehr im<br />
Fremdenverkehrsprospekt.<br />
30<br />
„Niemand hört ihn, wenn er schreit“<br />
„Stadt-Land-Problematik“<br />
Referent: Dr. Reinhard Neumayer<br />
Ich habe zwei Einleitungen für Sie vorbereitet. Die erste ist ein wenig naiv. Während der<br />
zweiten können Sie sich davon erholen.<br />
Erste Einleitung<br />
Es treffen sich zwei Idealisten aus dem psychosozialen Feld und besprechen ihre<br />
Situation. Der eine arbeitet in der Stadt, der andere auf dem Land. Der vom Land sagt<br />
zu seinem Kollegen: „Ja ihr in der Stadt, ihr habt es gut! Das gibt es so viele Angebote.<br />
Alles ist leichter erreichbar. Und diese herrliche Anonymität! Wenn man in eine<br />
Beratungsstelle geht, ist es unwahrscheinlich, dass der Nachbar im gleichen Wartezimmer<br />
sitzt. Da kann man doch wirklich gut und profund arbeiten, und die Klienten nehmen<br />
diese Arbeit sicher gerne an.“<br />
Der Kollege aus der Stadt schluckt die spontane Antwort hinunter und sagt: „Aber bei<br />
euch <strong>am</strong> Land, wo noch die F<strong>am</strong>ilienbande funktionieren, wo die Großf<strong>am</strong>ilien tragfähig<br />
sind, wo Krisen innerhalb des Clans ausgetragen werden, wo die dörfliche Gemeinschaft<br />
alles trägt, da braucht man wahrscheinlich gar nicht so viele Beratungsstellen.“<br />
Und dann schluckt der vom Land, und beide haben plötzlich den Eindruck, dass der<br />
jeweils andere von einem anderen Kontinent kommt.<br />
Jeder von Ihnen arbeitet entweder in der Stadt oder auf dem Land oder – bei besonderem<br />
Pech – in einem Bereich einer Bezirkshauptmannschaft, wo es städtische und ländliche<br />
Umgebung gibt. Oder Sie arbeiten vielleicht in einer Kleinstadt, die gar nicht weiß,<br />
ob sie noch ein Dorf oder schon eine Stadt ist.<br />
Die Strukturen sind alle nicht mehr so, wie wir geglaubt haben oder wie es uns Fremdenverkehrsprospekte<br />
suggerieren.<br />
Das war die naive Einleitung, jetzt kommt die andere.<br />
Zweite Einleitung<br />
Es war einmal ein Klient, der hat noch gar nicht gewusst, dass er einer ist.<br />
Er ist eine „Sie“, eine Lehrerin, die das Gefühl hat, dass mit einem ihrer Schüler etwas<br />
nicht in Ordnung ist. Der Bursche ist recht zurückgezogen, ängstlich, wirkt, als sei er unter<br />
Druck. Es gibt viel zu wenig Hinweise auf ein stabiles Selbstwertgefühl, und er weicht<br />
aus, wann immer es Gelegenheit für ein persönlicheres Gespräch gibt – und so oft gibt<br />
es die ja gar nicht.<br />
Bei einigen der Leser und Leserinnen beginnt vielleicht jetzt schon die Hypothesenbildung:<br />
Was könnte denn mit diesem Schüler wirklich los sein?<br />
Andere wiederum erinnern sich jetzt, dass ich mit der Situation einer Lehrerin begonnen<br />
habe. Sie fragen sich jetzt also: „Wieso soll die Lehrerin der Klient sein?“<br />
Und wieder andere beschäftigt vielleicht die Idee, dass das Referat etwas mit Stadt und<br />
Land zu tun haben sollte. Warten Sie ab!<br />
Dank ganz beharrlicher und vielfältiger Versuche von vernetzungsfreudigen Anbietern<br />
aus der psychosozialen Szene ist der Lehrerin ja klar: Dieser Schüler braucht Hilfe! Und<br />
es gibt auch eine ganze Palette von Angeboten. Die Auswahl zu treffen ist nicht leicht,<br />
aber es lohnt sich in den Fall einzusteigen. (Hinweis: Die Lehrerin wird deshalb zur<br />
Klientin, weil sie sich zunächst Rat für die geeignete eigene Vorgangsweise sucht. Also<br />
zuerst einmal ist sie die Klientin und nicht das <strong>Kind</strong>, nicht die F<strong>am</strong>ilie.)
Sie tut viel. Sie holt telefonisch unter Zuhilfenahme einer reichhaltigen Broschürens<strong>am</strong>mlung<br />
Auskünfte über Arbeitsschwerpunkte, Öffnungszeiten und Erreichbarkeit von<br />
verschiedenen Beratungseinrichtungen mit oder ohne therapeutisches Zusatzangebot<br />
ein. Außerdem erkundet sie – nicht unwesentliche – Zugangskriterien wie: Wer darf denn<br />
welche Beratungsstelle überhaupt aufsuchen? Und sie informiert sich natürlich über<br />
mögliche Kosten.<br />
Aber bevor sie wirklich etwas tun kann, bedarf es – das ist der mittlerweile erschöpften<br />
Lehrerin inzwischen klar geworden – der Zustimmung der Eltern.<br />
Und, was vielleicht noch viel schwieriger ist, auch der Mitwirkung der Eltern.<br />
Das bedeutet Motivationsarbeit, Überzeugungsarbeit und so weiter – jedenfalls Arbeit.<br />
Die Eltern – entgegen aller statistischen Wahrscheinlichkeit sogar beide Eltern – kommen<br />
der „Einladung“ der Lehrerin in die Sprechstunde nach.<br />
Sie kommen also und hören sich zunächst einmal geduldig und dann immer verständnisloser<br />
an, worum es geht.<br />
Offenbar geht es nicht um schlechte Leistungen, nicht um tadelnswertes Benehmen,<br />
nicht um überraschend aufgedecktes Schulschwänzen.<br />
Was will diese Lehrerin eigentlich?<br />
Auszüge aus den (vermuteten) Gedankengängen der Eltern und wie sie versuchen, es<br />
selber darzustellen:<br />
„Wir haben uns doch so bemüht – nie hat es auch nur eine Ohrfeige gebraucht. Er hat<br />
auch so recht bald verstanden, der Bub, was sich gehört. Eigentlich braucht man nur einmal<br />
hinschauen, und er gehorcht. Und Zurückreden, das gibt es sowieso nicht, weil erst<br />
muss man einmal was leisten, und dann hat man was zu reden.“<br />
Vielleicht hat man aber dann auch nichts mehr zu sagen ...<br />
„Ja doch, früher, da war einmal so eine Zeit, da wollte er so auf trotzig machen.<br />
Aber da weiß man ja, wenn man sich da nicht durchsetzt, dann wachsen einem diese<br />
<strong>Kind</strong>er gleich über den Kopf.<br />
Aber es geht alles ohne Schlagen.<br />
Obwohl manchmal, da hätte es einen schon gejuckt. Aber heute, da steht das ja überall,<br />
dass das nicht mehr geht mit dem Hinhauen.<br />
Nein, wir haben das feiner gemacht.<br />
Aufheben – Badezimmer – einmal das Gesicht mit dem Waschlappen abputzen und dann<br />
ab ins <strong>Kind</strong>erzimmer. Dort muss er bleiben, bis er vernünftig ist und bittet – bittet, dass<br />
er wieder herauskommen darf. Aber es muss das Bitte schon ernst meinen. Einfach nur<br />
„Bitte“ sagen und dann schon heraussausen, und alles ist vergessen – na so geht das<br />
natürlich nicht! Das muss schon ehrlich kommen, das muss man spüren, dass das<br />
echt ist.<br />
Und jetzt soll er Hilfe brauchen? – Was? Wir alle? ... (?) Wieso? Was ist denn nicht in<br />
Ordnung?“<br />
Die Realität<br />
Steigen wir jetzt aus dieser Szene aus, und fassen wir zus<strong>am</strong>men:<br />
Es gibt ein auffälliges <strong>Kind</strong>. Das <strong>Kind</strong> ist jemandem – in diesem Beispiel einer Lehrerin<br />
– aufgefallen.<br />
Dann hat dieser Jemand – diese Lehrerin – auch noch den Versuch gemacht, einen<br />
Hilfeprozess in Gang zu bringen.<br />
Aber das war eben nur eine Einleitung. Die Realität sieht zumeist anders aus.<br />
Es gibt viele <strong>Kind</strong>er, an deren Verhalten etwas Auffälliges zu bemerken wäre, würde nur<br />
jemand mit geschultem Blick hinschauen.<br />
Es gibt <strong>Kind</strong>er, die haben aufgegeben. Sie resignieren, sie versuchen nicht mehr auf sich<br />
und auf ihre Not aufmerks<strong>am</strong> zu machen.<br />
„Wir haben uns doch<br />
so bemüht! Ja, es hat<br />
Zeiten gegeben, da<br />
wollte er trotzig sein.<br />
Wenn man sich da<br />
nicht durchsetzt,<br />
dann wachsen einem<br />
die <strong>Kind</strong>er gleich<br />
über den Kopf. Aber<br />
schlagen mussten<br />
wir ihn nie! Hie und<br />
da ein wenig einsperren<br />
ins<br />
<strong>Kind</strong>erzimmer –<br />
wem schadet das?<br />
Und jetzt soll er, sollen<br />
wir alle Hilfe<br />
brauchen?“<br />
31
Viel zu oft bleiben<br />
die „Schreie“, die<br />
verschiedenen<br />
Versuche, sich bemerkbar<br />
zu machen,<br />
auf seine Not aufmerks<strong>am</strong><br />
zu machen,<br />
unbemerkt.<br />
Erziehung sollte<br />
dahin führen, die<br />
Fähigkeit zu erlangen,<br />
sich in einem<br />
sozialen Kontext so<br />
zu bewegen, dass<br />
jeder seine Entwicklungschancen<br />
wahrt,<br />
ohne die des anderen<br />
zu beschädigen.<br />
Elternbildung muss<br />
zielgruppenorientiert<br />
sein.<br />
32<br />
Und es gibt <strong>Kind</strong>er, die immer noch schreien. Doch – ganz im Sinne des Referattitels:<br />
„Niemand hört ihn, wenn er schreit“.<br />
Die verschiedenen Versuche, sich bemerkbar zu machen, auf seine Not aufmerks<strong>am</strong> zu<br />
machen, bleiben unbemerkt.<br />
Wenn ich von geschultem Blick spreche, dann setze ich den Level nicht hoch an. Ich<br />
meine d<strong>am</strong>it keine Untersuchungen durch ein mobiles „Psycho-Notfalls-Te<strong>am</strong>“. Ich meine<br />
Sensibilisierung der Menschen, ich meine Aus- und Fortbildung möglicher Ersthelfer.<br />
Zielgruppenorientierte Information<br />
Diese Veranstaltung versucht einen Impuls zur Meinungsbildung zum Thema<br />
„<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong>“ zu setzen.<br />
Aber es hat keinen Sinn, nur Hinweise darauf zu geben, was alles verboten ist. Das wissen<br />
inzwischen ohnehin schon viele Leute. Es gehört vielmehr auch gesagt, was in der<br />
Entwicklung der <strong>Kind</strong>er hilfreich ist. Und vielleicht sollte man auch eine Zielrichtung dazu<br />
sagen. Also: Wohin soll die Entwicklung zielen?<br />
Nützlich ist es, die Fähigkeit zu erlangen, sich in einem sozialen Kontext so zu bewegen,<br />
dass jeder seine Entwicklungschancen wahrt, ohne die des anderen zu beschädigen.<br />
Für mich geht es in die Richtung „Seelische Gesundheit jetzt und in der Zukunft“. Es geht<br />
um Elternbildung.<br />
Ich habe viele Jahre lang als Referent in der Elternbildung gewirkt und habe es häufig<br />
mit Paaren zu tun gehabt, die ihr erstes <strong>Kind</strong> erwartet haben und in völliger Euphorie alle<br />
Angebote zum „Thema: <strong>Kind</strong>“ wahrgenommen haben.<br />
So k<strong>am</strong>en diese werdenden Eltern auch zu einem Informations- und Diskussionsabend,<br />
an dem man mit einem Psychologen über <strong>Kind</strong>erentwicklung reden konnte. Das Thema<br />
waren die ersten drei Lebensjahre. Die, die auf ihr erstes <strong>Kind</strong> gewartet haben, haben<br />
die Hoffnung gehabt, dort ein Angebot an Sicherheitsmaßnahmen gegen mögliche<br />
Fehler zu bekommen. Und wenn sie das dann alles gut befolgen, dann wird das <strong>Kind</strong> genau<br />
das, was sie für den perfekten F<strong>am</strong>ilienergänzungsteil auf ihrer Wunschliste haben,<br />
der aus irgendeinem biologischen Grund bis jetzt gefehlt hat.<br />
Viel spannender war es für mich, wenn Eltern dabei waren, die schon auf ihr zweites <strong>Kind</strong><br />
gewartet haben. Also genau genommen waren es in diesem Fall fast ausschließlich<br />
Mütter. Nur bei denen, die aufs erste <strong>Kind</strong> warten, kommen meist noch Paare. Also diese<br />
paar noch immer neugierigen Mütter, die dann gekommen sind, haben sich die ersten<br />
Themen mit diesem gewissen abgeklärten Lächeln angehört und auf die Themen gewartet,<br />
die für sie wirklich spannend sind. Sie wussten ja schon, wie das ist mit „Dann<br />
wird das <strong>Kind</strong> gehen lernen“ und „Wo wird es überall dagegen stoßen?“, „Welche<br />
Gefahren gibt es überhaupt?“<br />
Diese haben dann erst gefragt: „Wie ist das denn eigentlich mit der Geschwistereifersucht?“<br />
Da haben sich dann die, die noch aufs erste <strong>Kind</strong> gewartet haben, gelangweilt<br />
zurückgelehnt und sich offensichtlich gedacht: „Bis das bei uns soweit ist, da<br />
haben wir ja noch ewig Zeit!“<br />
Ich will d<strong>am</strong>it nur verdeutlichen, dass Elternbildung zielgruppenorientiert sein muss.<br />
Wir müssen uns in der Vorbereitung einiges überlegen. Wir müssen uns darauf vorbereiten,<br />
auch über die unangenehmen Themen zu reden. Wir müssen uns überlegen, was<br />
wir uns trauen und was die Zuhörer aushalten.<br />
Das mit der Geschwistereifersucht ist ja so populär, dass die Laien mehr darüber wissen<br />
als die Fachleute. Diesen Teil habe ich genossen. Das war wirklich spannend, weil da<br />
hat jeder so seine eigenen Erfahrungen eingebracht.
Elternbildung in Stadt und Land<br />
Sie werden sich jetzt wieder fragen: „Was hat das mit Stadt-Land zu tun?“<br />
Ich habe Elternbildungsveranstaltungen in einem kleinstädtischen Kurort in der<br />
Thermenregion südlich von Wien, aber auch im hügeligen karstigen Land an der nördlichen<br />
Grenze von Niederösterreich gehalten.<br />
Wissen Sie, was da immer die allererste Frage an mich war? „Haben Sie selber <strong>Kind</strong>er?“<br />
Der Kompetenznachweis war (und ist) gefragt – biologisch und erzieherisch. Diese<br />
Frage wurde mir übrigens <strong>am</strong> Land – vor allem im nördlichen Waldviertel – sehr oft gestellt.<br />
Ich habe mit den Elternbildungsveranstaltungen als <strong>Kind</strong>er- und Jugendpsychologe, der<br />
ich bin, zu einer Zeit angefangen, in der ich diesen geforderten biologischen Nachweis<br />
noch nicht erbringen konnte. Aber ich habe das als Auftrag aufgefasst und habe mittlerweile<br />
zwei gar nicht mehr so junge <strong>Kind</strong>er.<br />
Und erst als die beiden herangewachsen sind, habe ich verstanden, warum mich die<br />
Eltern das d<strong>am</strong>als gefragt haben. Sie haben das nicht so formuliert, aber sie haben eigentlich<br />
herausfinden wollen, ob ich das alles ernst meine, was ich ihnen erzähle, und<br />
wie <strong>Kind</strong>er auf solche „psychologischen Tipps“ reagieren.<br />
Ich glaube, dass der Unterschied zwischen Stadt und Land in diesem Bereich nicht so<br />
groß ist, wie manche von Ihnen vermuten. Die Fragen und Sorgen der (werdenden)<br />
Eltern gleichen sich sehr stark.<br />
„Waffenlose“ Eltern<br />
Viele Eltern fragen sich: „Was mache ich denn, wenn mein <strong>Kind</strong> mir nicht folgt?“<br />
Da geht es nicht darum zu sagen „Das kann Ihnen nicht passieren, Sie als perfekter<br />
Elternteil werden das schon schaffen“, sondern sich d<strong>am</strong>it auseinander zu setzen.<br />
Es geht also um die grundsätzliche Hilflosigkeit der Anfrager.<br />
Es sind uns die „Waffen der Erziehung“, wie Rohrstaberln und ähnliches, ja aus der Hand<br />
genommen worden. Sie gelten als überholt – allerdings weniger wegen der Vernunft und<br />
Einsicht der Eltern. Vielmehr sind sie wie das über Generation praktizierte „Scheitelknien“<br />
nur durch den technischen Fortschritt aus der Mode gekommen. Wer heizt heute noch<br />
mit Holzscheiteln? Auf der Zentralheizung knien ist, na ja, schwieriger.<br />
Aber denken Sie auch an andere Erziehungsmethoden: Früher hat es wirklich geheißen:<br />
„Schlimme <strong>Kind</strong>er in den Keller!“. Sie wurde also an einen Ort verbannt, wo noch dazu<br />
vorher jahrelang darauf hingewiesen wurde, dass genau dort der „schwarze Mann“<br />
haust. Der Keller war ja nicht nur Lebensmittelvorratsk<strong>am</strong>mer, oft auch Aufbewahrungsort<br />
für Alkohol. So gesehen war es für manche in der F<strong>am</strong>ilie dann vielleicht sogar<br />
angenehm, in den Keller zu gehen, aber sicher nicht für die <strong>Kind</strong>er!<br />
Was ich zeigen möchte, ist diese Hilflosigkeit der Eltern mit dem Gefühl: „Das <strong>Kind</strong> stellt<br />
mich bloß, und ich weiß einfach nicht, was ich dagegen tun soll.“<br />
Eltern verlieren nicht gerne das Gesicht<br />
Eltern, die quasi in Not geraten sind, reagieren eben oft mit psychischer <strong>Gewalt</strong>.<br />
Nehmen Sie das Beispiel von der Supermarktkassa, wenn ein <strong>Kind</strong> etwas von den<br />
Lockangeboten haben möchte: im Blick der Öffentlichkeit, im Blick der F<strong>am</strong>ilie, im Blick<br />
der Partnerin, der Schwiegermutter, der anderen <strong>Kind</strong>er – wenn ich dem einen das durchgehen<br />
lasse, was machen dann die anderen mit mir?<br />
Wie oft reagieren hier Eltern auf quengelnde oder fordernde <strong>Kind</strong>er mit übermäßiger psychischer<br />
<strong>Gewalt</strong> bis zu der Androhung: „Wenn du nicht gleich Ruhe gibst, aufhörst usw.,<br />
dann gehe ich ohne dich nach Hause!“<br />
Eltern, die in Not geraten<br />
sind, reagieren<br />
oft mit psychischer<br />
<strong>Gewalt</strong><br />
33
„Wir haben es nicht<br />
leicht gehabt, und<br />
darum sollen die<br />
Jungen erst einmal<br />
zeigen, ob sie unserer<br />
Nachfolge würdig<br />
und wert sind.“<br />
Sinnvolle Angebote<br />
müssen die<br />
Besonderheiten von<br />
Stadt und Land,<br />
wie z.B. regionale<br />
Erreichbarkeit,<br />
berücksichtigen.<br />
34<br />
Bei diesem Szenario fühlen sich sicher auch die hauptberuflichen Pädagogen angesprochen,<br />
die sich statt dem Supermarkt eine Gruppensituation vorstellen im<br />
<strong>Kind</strong>ergarten, in der Schule, bei Nachmittagsbetreuungsformen.<br />
Das <strong>Kind</strong> stellt mich bloß!<br />
Vielen Eltern ist, als sie selbst noch <strong>Kind</strong>er waren, eingehämmert worden, dass sie nie<br />
respektlos mit den Eltern umgehen dürfen.<br />
Dahinter verbarg sich ein Versprechen, nämlich: „Wenn ihr euch als <strong>Kind</strong>er euren Eltern<br />
unterworfen habt, dann wird euch das dadurch vergolten, dass ihr dann, wenn ihr endlich<br />
selber Eltern seid, genauso mit euren <strong>Kind</strong>ern umgehen könnt.“<br />
Dieses Versprechen kann jedoch heute – ich sage Gott-sei-Dank – nicht mehr zwangsläufig<br />
eingelöst werden.<br />
Aber machen wir uns bitte in einem Fachleutegremium nicht vor, dass sich dieser<br />
Gesinnungswandel schon überall durchgesetzt hat. In vielen sitzt tief innerlich noch die<br />
Hoffnung, dass das Versprechen von anno dazumal doch noch eingelöst wird, und so<br />
wird es de facto von den <strong>Kind</strong>ern eingefordert.<br />
Ich habe – basierend auf den zahlreichen Gesprächen und Erfahrungen in meiner Arbeit<br />
– so den Eindruck und Verdacht, dass es in der öffentlichen Meinung und in der veröffentlichten<br />
Meinung eine Art unausgesprochenen Konsens unter den Erwachsenen gibt,<br />
der in etwa so lauten könnte: „Ja, ja, besser gehen soll es den Jungen schon als uns.<br />
Aber wir haben es nicht leicht gehabt, und darum sollen die Jungen erst einmal zeigen,<br />
ob sie unserer Nachfolge würdig und wert sind.“<br />
Aber wie soll man denn diesen Respekt bekommen, wenn nicht mit den überkommenen<br />
erprobten Mitteln?<br />
Notwendige Unterschiede des Angebots in Stadt und Land<br />
Wir können viel über Prophylaxe reden, aber es geht auch um „Reparaturen“.<br />
Wir benötigen also eine notwendige Dichte von qualifizierten Hilfsangeboten, die den regionalen<br />
Gegebenheiten adäquat gestaltet sind.<br />
Sie werden verstehen, dass sich die Situation ändert, je nachdem, ob ich eine zentrale<br />
Stelle in einem Ballungsraum habe oder ob ich eine Fläche versorgen muss.<br />
Im städtischen Bereich mag es sinnvoll sein, wenn mehrere spezialisierte und trotzdem<br />
leicht erreichbare Angebote parallel und auch an verschiedenen Adressen zur Verfügung<br />
stehen. Hier ist es sinnvoll, Öffnungszeiten bis in den Abend hineinzuziehen oder die<br />
Frequenzen bei den Beratungs- und Behandlungsformen so zu setzen, dass die Klienten<br />
möglichst häufig wiederkommen. Das Stichwort heißt hier: Straßenbahn.<br />
Wenn die Erreichbarkeit innerhalb von einer Viertel- oder halben Stunde liegt –<br />
Straßenbahn im Großraum ist ein Beispiel, dichte Frequenz, dichtes Netz – dann kann<br />
man so etwas anbieten.<br />
Am Land schaut es anders aus. Da ist eine große Fläche zu versorgen, und ich meine<br />
jetzt wirklich Fläche. Das hat nichts mit Steilheit des Geländes, mit Schneekettenpflicht<br />
und dergleichen zu tun, aber Anreisezeiten und Kosten für das Transportmittel kosten<br />
eben Geld. Es hat noch nicht jeder ein Auto, und die Buslinie hält nicht vor der Türe.<br />
Mir hat eine Waldviertler Bäuerin einmal gesagt: „Das ist sehr gut, was Sie da vorschlagen,<br />
und wir hören eh zu. Ja, aber da muss ich mir jedes Mal ein Auto aufnehmen für<br />
jede Fahrt“, und dann relativieren sich bestimmte Angebotsformen durch Nichterreichbarkeit.<br />
Da wird es eher multifunktionale Angebote geben müssen im Vorfeld, also Stellen, die<br />
für sehr viele Erstanfragen kompetent sind, aber dann auch in der Lage sind, eine qualifizierte<br />
Weiterverweisung von den komplexen und hochkomplizierten Fällen zu leisten.<br />
Klienten mit an sich schon strapazierter Motivation nehmen nämlich nicht viele „Anläufe“.<br />
Wenn sie sich beim ersten Mal fehlgeleitet fühlen, geben sie einfach auf.
Sie sagen: „Hilft eh nix“. Und wir dürfen dann nicht überrascht sein, wenn sich in dieser<br />
F<strong>am</strong>ilie eine Dr<strong>am</strong>atik entwickelt, wo wir dann überhaupt nicht mehr helfen können – weder<br />
mit Angeboten vor Ort noch mit spezialisierten Angeboten, weil der Kontakt nicht<br />
mehr hergestellt werden kann.<br />
Flächendeckung versus Mindeststandard<br />
Ich bin in dieser Situation in Niederösterreich für die sozialen Dienste freier Träger in der<br />
Jugendwohlfahrt zuständig.<br />
Da gibt es das mehr oder weniger schöne Wort von „flächendeckenden Angeboten“. Das<br />
ist ein Wort, das mich sehr beunruhigt, weil wenn irgendein neues Angebot kommt, sagen<br />
wir mal Mediation, sagen wir einmal Scheidungsberatung, sagen wir einmal<br />
Besuchsbegleitungsformen, kommt es zum gleiche Ablauf:<br />
Es geht dann nicht um die Einrichtung des Angebots an einer Zentralstelle, sondern wir<br />
haben 21 Bezirke und 4 Städte mit eigenen Jugendabteilungen, also mindestens 25<br />
Stellen (die übrigens alle nicht mit der Straßenbahn erreichbar sind). Das Installieren<br />
(etwa durch freie Träger), aber auch die notwendige finanzielle Bedeckung dauert dann<br />
relativ lange und blockiert möglicherweise andere, ebenfalls notwendige neue Angebote.<br />
Das, was wir in diesem Zus<strong>am</strong>menhang versuchen, ist – ganz neu seit 2000 – eine groß<br />
angelegte Jugendwohlfahrtsplanung, die den Mindeststandard an Versorgung gewährleisten<br />
soll. Es wird also für Niederösterreich vorgegeben werden, was an Versorgungsangebot<br />
<strong>am</strong> psychosozialen Sektor vorhanden sein muss. „Muss“ im Sinne von „darauf<br />
sollen sich die Klienten verlassen können“.<br />
Was wir dadurch erreichen wollen ist, dass die <strong>Kind</strong>er, die im Sinne des Referattitels<br />
„schreien“, aber auch Rat suchende Erwachsene, die wissen wollen, wohin sie sich wenden<br />
sollen, auch wirklich eine qualifizierte, erreichbare Beratungs- oder Hilfestellungsmöglichkeit<br />
vorfinden.<br />
Dann braucht es eigentlich nur mehr Ohren – Ohren allerdings mit Menschen dran –<br />
Ohren, die hören.<br />
35
Da das Erlebte von<br />
den Betroffenen sehr<br />
unterschiedlich empfunden<br />
und beurteilt<br />
werden kann, müssen<br />
wir uns mit der<br />
„Diagnose psychische<br />
<strong>Gewalt</strong>“ nach<br />
dem subjektiven<br />
Befinden der betroffenen<br />
Person richten.<br />
36<br />
„Der Vater hat’s verboten“<br />
„Ohnmacht der Helfer“<br />
Referent: Dr. Stefan Allgäuer<br />
Ich bin selber ein „Helfer“.<br />
Ich bin Psychologe und Therapeut. Jetzt arbeite ich als Geschäftsführer im Management<br />
und in der Organisation von sozialen Diensten.<br />
Meine Perspektive zum Thema „<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong>“ ist diejenige aus Sicht der<br />
Helfer, der Helfersysteme und der Intervention der Helfer. Deshalb habe ich den Untertitel<br />
„Ohnmacht der Helfer“ gewählt.<br />
Ich habe mir die Frage gestellt: Worauf kommt es an, dass wir in einer Situation gut und<br />
effektiv reagieren können? Was bräuchte es, d<strong>am</strong>it wir noch besser reagieren könnten?<br />
Beim Beschäftigen mit dem Thema „psychische <strong>Gewalt</strong>“ ist mir etwas immer deutlicher<br />
geworden: Entweder lernen wir, d<strong>am</strong>it zu arbeiten, dass (fast) alles, womit wir uns in der<br />
JWF (Jugendwohlfahrt) zu beschäftigen haben, auch psychische <strong>Gewalt</strong> beinhaltet.<br />
Oder aber wir versuchen, psychische <strong>Gewalt</strong> auf ein klares, diagnostizierbares Symptom<br />
zu beschränken, das beschreibbar/abgrenzbar/identifizierbar ist und von dem dann auch<br />
entsprechende Handlungsstrategien ableitbar sind.<br />
Ich habe versucht, diesen Bogen zu spannen; im Wissen, dass natürlich in vielen<br />
Alltagssituationen und in fast allen krisen- und konflikthaften pädagogischen Situationen<br />
psychische Wirkungen zu beobachten sind, die – subjektiv – als <strong>Gewalt</strong> des jeweils anderen<br />
erlebt werden.<br />
Ich habe meine Überlegungen in Thesen gefasst – es sind deren sieben –, mit der<br />
Hoffnung und Aufforderung, diese und mit diesen das Thema weiter zu diskutieren.<br />
Ich habe diesen Thesen vier – zus<strong>am</strong>menfassende – Aussagen zum Verständnis von<br />
psychischer <strong>Gewalt</strong> vorangestellt. Sie dienen der Eingrenzung des Themas. Die sieben<br />
Thesen skizzieren dann Konsequenzen für die Helfer.<br />
Und hier sei gleich angemerkt: Unter Helfer verstehe ich in diesem Fall alle, also auch<br />
die Eltern und alle anderen an der Erziehung, an der Begleitung eines <strong>Kind</strong>es oder<br />
Jugendlichen Beteiligten.<br />
1) <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist subjektiv zu verstehen und zu betrachten.<br />
Das subjektive Erleben des <strong>Kind</strong>es, sein emotionales, existenzielles<br />
Empfinden steht im Vordergrund.<br />
Wenn wir uns mit dem Thema psychische <strong>Gewalt</strong> auseinandersetzen, muss uns klar<br />
sein, dass hierbei das subjektive Empfinden des <strong>Kind</strong>es/des Jugendlichen im<br />
Vordergrund stehen muss.<br />
Nicht wir sind diejenigen, die quasi die Diagnose stellen und sagen, das ist psychische<br />
<strong>Gewalt</strong>. Da das Erlebte von den Betroffenen sehr unterschiedlich empfunden und beurteilt<br />
wird, müssen wir uns danach richten.<br />
Wir müssen die jeweilige Situation in ihrer Wirkung auf <strong>Kind</strong>er betrachten (durchaus im<br />
Gegensatz zur körperlichen <strong>Gewalt</strong>, sexuellen <strong>Gewalt</strong>, wo der Maßstab eindeutig ist und<br />
es eine beschreibbare, messbare Grenze gibt).<br />
Verschiedene <strong>Kind</strong>er werden ein und dieselbe Situation unterschiedlich empfinden und<br />
bewerten. Und ein und dieselbe Situation kann sogar bei ein und demselben <strong>Kind</strong> in unterschiedlichen<br />
Momenten völlig unterschiedlich wirken.<br />
In Ergänzung zu dem, was wir im Umgang mit körperlicher und sexualisierter <strong>Gewalt</strong> gelernt<br />
haben, ist offensichtlich:
l Nicht allein der strafrechtlich relevante Tatbestand steht im Vordergrund.<br />
l Nicht die Intention des „Täters“ ist das Primäre,<br />
l sondern eben die erlebte subjektive Welt des <strong>Kind</strong>es.<br />
2) <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> muss in ihrem Kontext gesehen und<br />
verstanden werden.<br />
Subjektivität hat zur Konsequenz, dass wir jede Situation differenziert betrachten<br />
müssen.<br />
Aussagen wie: „<strong>Gewalt</strong> gehört gestoppt“, „<strong>Kind</strong>er sind zu schützen“, „<strong>Gewalt</strong> gehört geahndet“,<br />
und Arbeitsaufträge wie Meldepflicht, Beweissicherung usw. – all das ist möglicherweise<br />
nicht das genügend geeignete Konzept zum Umgang mit psychischer<br />
<strong>Gewalt</strong>, vor allem dann, wenn wir im Kontinuum weg von den eindeutigen, massiven und<br />
existenzbedrohenden <strong>Gewalt</strong>-Erfahrungen kommen.<br />
3) <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> entsteht und besteht dort, wo <strong>Kind</strong>er und<br />
Jugendliche einer Dyn<strong>am</strong>ik von „zu viel“ oder „zu wenig“<br />
ausgesetzt sind und die existenziellen Bedürfnisse der <strong>Kind</strong>er<br />
keinen Platz haben.<br />
Ursachen von psychischer <strong>Gewalt</strong> sind auf den Polen von „zu wenig und/oder zu viel“<br />
zu finden. Im folgenden Diagr<strong>am</strong>m sind beispielhaft einige Bereiche dieser Polarität<br />
angeführt.<br />
Zu viel zu wenig<br />
Nähe<br />
Distanz<br />
Emotion<br />
Forderung<br />
Schutz und Sicherheit<br />
(neue) Erfahrungen/Reize<br />
Annahme<br />
etc.<br />
Eine Dyn<strong>am</strong>ik des Eine Dyn<strong>am</strong>ik des<br />
„Zuviel“ braucht: „Zuwenig“ braucht:<br />
Entlastung Förderung<br />
Wurzeln Reifung<br />
Schutz Wachstum<br />
etc. etc.<br />
4) <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> manifestiert sich dort, wo <strong>Kind</strong>er bei für sie<br />
schwierigen Erfahrungen/Erlebnissen keine Sprache bzw. keine<br />
Ausdrucksform finden können oder dürfen.<br />
Wenn <strong>Kind</strong>er etwas erleben, für das sie keine Sprache, keine Ausdrucksform finden (dürfen<br />
oder können), wenn sie so also quasi ein Opfer der Situation werden, dann – würde<br />
ich sagen – ist psychische <strong>Gewalt</strong> vorhanden.<br />
Um ein Beispiel zu bringen: Wenn Eltern ihrem <strong>Kind</strong> eine „heile Welt“ vorspielen, das <strong>Kind</strong><br />
aber ganz genau spürt, dass es zwischen seinen Eltern „nicht mehr stimmt“, dann ist das<br />
psychische <strong>Gewalt</strong>.<br />
37
Phänomen der Spiegelung<br />
und Übertragung:<br />
Könnte es<br />
sein, dass sich die<br />
Sprachlosigkeit als<br />
Phänomen der psychischen<br />
<strong>Gewalt</strong><br />
auch bei uns auf der<br />
Helferebene fortsetzt?<br />
Etwa dadurch,<br />
dass psychische<br />
<strong>Gewalt</strong> bisher zu wenig<br />
Thema war?<br />
38<br />
Wie Sie alle wissen, neigen <strong>Kind</strong>er hier zu Ambivalenzen. Sie neigen dazu,<br />
Widersprüchliches in ihrer Umwelt so zu interpretieren, dass sie sich selbst die „Schuld“<br />
dafür geben. So halten sie sich auch dafür verantwortlich, wenn die Eltern trotz<br />
Schwierigkeiten beis<strong>am</strong>men bleiben.<br />
Soweit zu vier Aspekten der psychischen <strong>Gewalt</strong>.<br />
In den folgenden sieben Thesen möchte ich dieses Verständnis von psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
nun auf die Situation der Helfer und der möglichen Hilfestellungen umsetzen.<br />
Anna, 10 Jahre alt, hört böse Stimmen im Kopf. Diese Stimmen, eine männliche und<br />
eine weibliche, tyrannisieren sie aufs Äußerste. Beim Zeichnen spricht Anna von „Gift“<br />
in ihr drin.<br />
Die Stimmen und Schreie in ihrem Kopf symbolisieren die verinnerlichten<br />
Spannungszustände in der F<strong>am</strong>ilie. Die Eltern konstruieren eine doppelte Wirklichkeit:<br />
Auf der einen Seite herrschen eisiges Schweigen und f<strong>am</strong>iliärer Stillstand, kalter Krieg.<br />
Es regiert eine herbe Verbitterung über alle möglichen Enttäuschungen, über die aber<br />
nicht gesprochen wird.<br />
Auf der anderen Seite entladen sich diese Spannungen in kurzen, heftigen Ausbrüchen.<br />
Es kommt – in Abwesenheit von Anna – zu Schreiduellen, Vorwürfen und gegenseitigen<br />
Abwertungen.<br />
Die Eltern sind sehr bemüht, nicht vor Anna zu streiten. In bester pädagogischer Absicht<br />
geht es ihnen darum, ihre Tochter aus allem herauszuhalten. Sie haben vereinbart, vor<br />
Anna gute Eltern zu sein und Frieden zu bewahren. Die Ereignisse eskalieren. Herr N.<br />
schlägt seine Frau, Anna bekommt das nicht mit, sie schläft. Anna sieht aber <strong>am</strong> nächsten<br />
Morgen eine durch und durch geknickte Mutter, die „irgendwie anders ist als sonst“.<br />
Sie traut sich nicht zu fragen, sie versteht die Welt nicht mehr.<br />
Färbt die Sprachlosigkeit auf die Helfer ab?<br />
In der Dyn<strong>am</strong>ik der Helferstrukturen kann man folgendes Phänomen beobachten: Oft<br />
wiederholen sich die Symptome der Klienten und Patienten in den Helfersystemen.<br />
Sie kennen das vielleicht aus der Supervision: Da entdeckt man gelegentlich, dass man<br />
die Symptomatik und Dyn<strong>am</strong>ik der Klienten in die eigene Arbeit oder ins eigene Te<strong>am</strong><br />
übernommen hat. Es passiert also immer wieder, dass man das System, mit dem man<br />
arbeitet, widerspiegelt.<br />
So möchte ich folgende erste These formulieren.<br />
These I<br />
Sprachlosigkeit als Phänomen psychischer <strong>Gewalt</strong> setzt sich auch auf der<br />
Helferebene fort. Das (unbewusste) Credo scheint zu sein: „<strong>Psychische</strong><br />
<strong>Gewalt</strong> ist kein Thema.“ Es ist ja auch leichter, andere Diagnosen bzw.<br />
Symptome zu beschreiben, zu behandeln.<br />
Es fällt uns leichter, von „sichtbaren“ Symptomen wie Bettnässen, Aggressivität,<br />
Verwahrlosung usw. zu reden als von diesen schwer sichtbaren und abgrenzbaren<br />
Phänomenen.<br />
Man könnte diese Tatsache aber auch von einer anderen Seite betrachten: Könnte es<br />
sein, dass sich das Symptom der „psychischen <strong>Gewalt</strong>“ auch in unseren Arbeitssystemen,<br />
in der Art und Weise, wie wir zus<strong>am</strong>men arbeiten, wiederholt?<br />
Manchmal bekommt man fast diesen Eindruck, wenn man die Selbstzerfleischung<br />
innerhalb von Te<strong>am</strong>s, die Überarbeitung oder auch die klassisch hierarchischen<br />
Organisationskonzepte betrachtet, welche – als subjektive Tatsache – die Erfahrung von<br />
<strong>Gewalt</strong> mit verursachen könnten.
Das Hinschauen, wie etwas auf uns abfärbt und was es bei uns Helfern auslöst, wenn<br />
wir uns mit dem Thema psychische <strong>Gewalt</strong> beschäftigen, könnte ein ganz wichtiger<br />
Hinweis zum Verständnis eben dieses Bereichs psychischer <strong>Gewalt</strong> für unsere<br />
Hilfsangebote sein.<br />
Erklärungskontexte suchen und anbieten<br />
Wenn <strong>Kind</strong>er zu verstehen beginnen, „was läuft“, dann können sie mit der Situation besser<br />
umgehen. Wie schon vorher erwähnt, neigen <strong>Kind</strong>er dazu, immer dann, wenn sie<br />
nicht wissen, „was los ist“, es auf sich zu beziehen und zu sagen „Ich selber bin nicht o.k.<br />
Bei mir ist was los. Wenn ich nur anders wäre, dann ginge es meinen Eltern besser, dann<br />
würden sie sich mehr lieben, würden mich mehr lieben usw.“<br />
Primäre Aufgabe von Eltern und Helfer/-innen im Kontext psychischer <strong>Gewalt</strong> ist es, dem<br />
betroffenen <strong>Kind</strong>/Jugendlichen in seiner Situation behilflich zu sein, sein Erleben zuzulassen,<br />
ihm Ausdruck zu geben und sein Erleben zur Sprache zu bringen.<br />
Nicht der Schutz vor, nicht das Ahnden von, nicht die Wertung (richtig/falsch) usw. ist<br />
primäres Ziel, sondern die Hilfestellung, Sprache zu finden und das <strong>Kind</strong> als Subjekt zu<br />
stärken.<br />
Das können Eltern und Bezugspersonen vielfach und idealerweise selbst tun (etwa wenn<br />
sie ganz unbewusst im Alltag eine Deutung anbieten, die für das <strong>Kind</strong>/die Situation<br />
stimmt).<br />
Dazu bedarf es zuweilen der behuts<strong>am</strong>en Information, Beratung und Begleitung von<br />
Eltern, d<strong>am</strong>it diese lernen, nicht nur ihre Erwartungen und Aufträge an die <strong>Kind</strong>er zu formulieren,<br />
sondern auch einen entsprechenden Kontext der Erklärung dafür anzubieten.<br />
Das ist – immer noch – ein großes Feld für die Elternbildung. Je mehr im Gespräch in<br />
F<strong>am</strong>ilien versucht wird, einen Erklärungskontext herzustellen, umso weniger psychische<br />
<strong>Gewalt</strong> wird ausgeübt.<br />
Eine gute Auflösung solcher Situationen ist immer noch die „gute alte Gordonsche Ich-<br />
Botschaft“ (vgl. dazu Thomas Gordon: „F<strong>am</strong>ilienkonferenz“).<br />
Dazu bedarf es in manchen Fällen auch der psychologischen und/oder kinderpsychiatrischen<br />
Abklärung und Behandlung, nämlich überall dort, wo die Sprachlosigkeit sich<br />
schon in Symptomen verfestigt hat oder sich zu verfestigen droht.<br />
Eltern sollten dort miteinbezogen werden, wo dies möglich ist, z.B. in Settings wie dem<br />
der F<strong>am</strong>ilientherapie.<br />
These II<br />
Primäre Hilfe für <strong>Kind</strong>er und Jugendliche – „Erste Hilfe“ aus dem Blickwinkel<br />
der psychischen <strong>Gewalt</strong> – ist es, einen Erklärungskontext herzustellen.<br />
Ein kleines Beispiel hiefür:<br />
Der Vater geht mit seinem <strong>Kind</strong> immer wieder in der Stadt spazieren. Und da kommen<br />
sie auf ihrem Weg regelmäßig bei einem Nachtklub vorbei. Der vierjährige Bub sieht die<br />
roten L<strong>am</strong>pen. Der Vater erklärt das mit „das ist ein Geschäft“, oder „das ist ein Gasthaus“<br />
– nichts weiter.<br />
Das <strong>Kind</strong> ist mit dieser Erklärung zufrieden.<br />
Das <strong>Kind</strong> wird sieben, beginnt zu lesen und fragt den Vater „Du Papa, was ist das, ein<br />
Nachtklub?“ Der Vater antwortet dem <strong>Kind</strong>: „Das ist nix für dich.“<br />
Noch gibt sich das <strong>Kind</strong> mit dieser Interpretation zufrieden.<br />
Zwei Jahre später fragt das <strong>Kind</strong> immer wieder und wieder, und dann sagt der Vater „Du,<br />
da darfst aber wirklich nie hineingehen, da siehst du Dinge, die du besser nicht sehen<br />
sollst.“<br />
39
Wir müssen lernen,<br />
zielgerichtete<br />
Öffentlichkeitsarbeit<br />
und Bewusstseinsbildung<br />
über Medien<br />
zu leisten.<br />
40<br />
Der Neunjährige ist nicht zufrieden mit der Interpretation, fragt dann noch etwas weiter,<br />
bekommt vom Vater aber keine angemessene Erklärung.<br />
Eines Tages, als die Gelegenheit günstig ist, schummelt er sich in den Nachtklub. Am<br />
nächsten Tag erzählt er seinen Freunden davon, und die fragen ganz aufgeregt: „Und<br />
hast du gesehen, was du nicht sehen solltest?“ Er antwortete „Ja. Ich habe meinen Vater<br />
gesehen.“<br />
Wir können unseren <strong>Kind</strong>ern keine heile Welt vormachen, wir können ihnen aber helfen,<br />
solange sie es annehmen von uns. Wir können ihnen einen entsprechenden<br />
Erklärungskontext anzubieten, der ihnen hilft, Situationen nicht als psychische <strong>Gewalt</strong>,<br />
sondern als Realität, als Konflikt, als Schwierigkeit, als mehr oder weniger gut zu sehen<br />
und dann ein Stück weiter zu verarbeiten.<br />
Nicht nur „gegen <strong>Gewalt</strong>“, sondern für starke <strong>Kind</strong>er<br />
Die Ohnmacht der Helfer/innen – nicht wir können entscheiden, was ein hilfreicher<br />
Erklärungskontext ist – kann nicht über mehr Macht (z.B. Ordnungsmacht, Bestrafung,<br />
Verfolgung der Täter usw.) erfolgen, sondern nur darüber, dem <strong>Kind</strong> mehr Macht<br />
(zur Interpretation, zur Subjektivität, zum Ausdruck) zu vermitteln. Das Ziel ist das<br />
Empowerment der <strong>Kind</strong>er.<br />
In diesem Sinne sind alle jene Ansätze sehr wichtig, die präventiv schon dort beginnen,<br />
bevor <strong>Gewalt</strong>situationen entstehen.<br />
Das beste Mittel gegen psychische <strong>Gewalt</strong> sind starke gesunde <strong>Kind</strong>er und starke gesunde<br />
Eltern.<br />
Die Maßnahmen der Gesundheitsförderung und der Öffentlichkeitsarbeit in diesem<br />
Bereich sind hier anzusetzen und gefragt. Wir haben bei uns in Vorarlberg seit drei<br />
Jahren eine sehr intensive K<strong>am</strong>pagne zum Thema „<strong>Kind</strong>er stark machen“ laufen, mit sehr<br />
viel medialer Präsenz und mit sehr viel Aktivität und Aktionen.<br />
Ich glaube, wir im psychosozialen Feld müssen noch lernen, dass die Bewusstseinsbildung<br />
auch über mediale Formen von enormer Bedeutung ist. Wir sollten die<br />
Medien nicht nur verteufeln, sondern uns ihrer auch bedienen.<br />
Ziel ist es, Vertrauen aufzubauen und zu stärken. Wie ist das bei uns Helfern, wenn<br />
<strong>Kind</strong>er NEIN sagen usw. und ihre Stärke zeigen?<br />
These III<br />
Das beste Mittel gegen psychische <strong>Gewalt</strong> sind starke <strong>Kind</strong>er. Gesundheitsförderungsprogr<strong>am</strong>me<br />
sind angesagt.<br />
Schließlich stellt sich auch die Frage, auf welche Welt wir, die Pädagogen usw., unsere<br />
<strong>Kind</strong>er vorbereiten: auf eine idealisierte, gewaltfreie Welt (wie wir sie uns alle wünschen)?<br />
Dann sagen wir aber gleichzeitig: <strong>Gewalt</strong> ist ein Betriebsunfall.<br />
Oder bereiten wir sie auf eine Welt vor, in der <strong>Gewalt</strong> ein Teil der Realität ist genau so,<br />
wie das Sich-Wehren.<br />
Niederschwellige Soziale Dienste als Anlaufstellen<br />
Wo psychische <strong>Gewalt</strong> als solche gesehen und verstanden wird und bereits gehandelt<br />
wird, hat der Verarbeitungsprozess schon begonnen.<br />
Wo versucht wird, psychische <strong>Gewalt</strong> subjektiv zu verarbeiten (in der Projektion auf sich<br />
selbst), wo Symptome sich verhärten – dort sollten die Angebote der Jugendwohlfahrt<br />
verstärkt einsetzen.<br />
Das bedeutet: Die im JWG (Jugendwohlfahrtsgesetz) vorgesehenen Sozialen Dienste<br />
möglichst niederschwellig anlegen, die Akzeptanz steigern und den Zugang erleichtern.
Ganz entgegen den Bestrebungen heute: Sparen durch Erschweren der Zugänge und<br />
Erhöhung der Schwellen.<br />
In Vorarlberg versuchen wir durch das Angebot privater Träger (höhere Akzeptanz bei<br />
persönlichen Problemen), durch eine dezentrale, regionale Streuung, durch kurze Wege<br />
und niedere Schwellen (in öffentlich zugänglichen Gebäuden) usw. diesen Weg zu schaffen.<br />
Ein wichtiger Punkt ist hier auch PR und Werbung!<br />
Diese Angebote an Hilfen müssen auch für Eltern/Erwachsene zugänglich sein.<br />
These IV<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> erfordert präventive, niederschwellige soziale Dienste mit<br />
hoher Akzeptanz.<br />
Es gehört zu meiner Arbeit als Geschäftsführer, unseren Geldgebern jedes Jahr genau<br />
auseinander zu setzen, was das, was wir machen, kostet.<br />
Das Institut für Sozialdienste ist eine private soziale Organisation, die in sehr vielen<br />
unterschiedlichen Bereichen tätig ist.<br />
Wenn ich mit einem potenziellen Sponsor spreche, da schildere ich immer die drastischen<br />
Situationen, erzähle von den schlimmsten Dingen und massivsten Problemen.<br />
Und ich merke, wie schwer es mir fällt, zu erklären, wie wichtig es ist, auch soziale<br />
Dienste für <strong>Kind</strong>er und Jugendliche anzubieten, die vielleicht noch gar kein massives,<br />
kein sichtbares ausgeprägtes Problem haben.<br />
Aber es braucht eine präventive, niederschwelllige, soziale Angebotspalette mit hoher<br />
Akzeptanz.<br />
Das „niederschwellig“ geht in Richtung Stadt-Land, in Richtung gute Erreichbarkeit,<br />
Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel, in Richtung Kunden- und Klientenfreundlichkeit<br />
und all dessen, was es in diesem Bereich gibt.<br />
Wir haben pro Jahr allein im Institut für Sozialdienste etwa 18.000 Klientinnen und<br />
Klienten. Das ist mehr als 5 Prozent der Bevölkerung von Vorarlberg.<br />
Davon sind etwas mehr als die Hälfte direkte Beziehungs-, F<strong>am</strong>ilienerziehungsprobleme<br />
und alles, was hier dazugehört.<br />
Man könnte sagen, dass es ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft ist, dass so viele<br />
Menschen unser Angebot in Anspruch nehmen müssen.<br />
Man könnte aber auch sagen, es ist ein Kompliment, dass so viele Menschen hier leben,<br />
denen ihre Beziehungen zu ihren <strong>Kind</strong>ern, ihren F<strong>am</strong>ilien so wichtig sind, dass sie unsere<br />
Hilfe zu einem Zeitpunkt in Anspruch nehmen, wo noch nicht alles zus<strong>am</strong>mengebrochen<br />
ist, oder um Veränderungen und Übergänge nicht-destruktiv zu gestalten.<br />
Sensible Kooperation der Helfer<br />
These V<br />
Hilfe oder Handeln der Helfer muss, um nicht ebenfalls in den Kontext von<br />
psychischer <strong>Gewalt</strong> zu geraten, koordiniert und im Lebenskontext des <strong>Kind</strong>es<br />
kalkulierbar, verstehbar und kritisierbar sein.<br />
Wir müssen hier ganz sensibel vorgehen. Sie alle wissen, dass wir als Helfer nicht einfach<br />
irgendwelche Dinge inszenieren und dann sagen können „Ich weiß schon, was für<br />
dich gut ist“. Das muss koordiniert und dem Lebenskontext des <strong>Kind</strong> angepasst, verstehbar<br />
und gestaltbar sein. Und ein wichtiger Par<strong>am</strong>eter ist hier eben auch das Alter<br />
des <strong>Kind</strong>es.<br />
Ist es ein Armutszeugnis,<br />
dass so<br />
viele Menschen<br />
unsere Angebote in<br />
Anspruch nehmen?<br />
41
42<br />
Wenn die Helfer dasselbe tun, was z.B. im Elternsystem passiert, nämlich neben- oder<br />
gegeneinander zu agieren, dann passiert auf der nächsten Ebene dem <strong>Kind</strong> nochmals<br />
dasselbe.<br />
Etwa: Wenn jemand nach dem Prinzip „<strong>Gewalt</strong> gehört geahndet“ zu agieren beginnt, jemand<br />
anderer mit dem <strong>Kind</strong> zu arbeiten bzw. klären beginnt, was es erlebt und wieder<br />
jemand anderer den Eltern bestätigt, dass die erzieherische Klarheit (Wer ist auf der<br />
Elternebene? Wer bestimmt? usw.) für das <strong>Kind</strong> ganz wichtig ist. Das kann man ja alles<br />
nebeneinander haben, und noch viel mehr (Schlagwort: Die eine Hand weiß nicht, was<br />
die andere tut).<br />
Dazu wieder eine Geschichte.<br />
Hüte dich vor den Buben!<br />
Ein Vater wollte seine Tochter vor den Gefahren des Lebens bewahren. Als die Zeit gekommen<br />
war und seine Tochter zu einer wahren Schönheit erblüht war, nahm er sie zur<br />
Seite und klärte sie über die Gemeinheit und Hinterhältigkeit der Welt auf.<br />
Er sagte: „Liebe Tochter, denk an das, was ich dir sage. Alle Männer wollen nur das eine.<br />
Die Männer sind raffiniert und stellen Fallen, wo sie nur können. Du merkst gar nicht, wie<br />
du immer tiefer in den Sumpf ihrer Begierden versinkst. Ich will dir den Weg des Unglücks<br />
zeigen. Erst schwärmt der Mann von deinen Vorzügen und bewundert dich. Dann lädt er<br />
dich ein, um mit ihm auszugehen. Dann kommt ihr an seinem Haus vorbei, und er sagt<br />
dir, dass er nur schnell seinen Mantel holen wolle. Er fragt dich, ob du ihn nicht in seine<br />
Wohnung begleiten möchtest. Oben lädt er dich zum Sitzen ein, bietet dir Tee an, ihr hört<br />
gemeins<strong>am</strong> Musik, und wenn die Stunde dann gekommen ist, wirft er sich plötzlich auf<br />
dich. D<strong>am</strong>it bist du geschändet, wir sind geschändet, deine Mutter und ich, unsere<br />
F<strong>am</strong>ilie ist geschändet. Unser Ansehen ist dahin.“<br />
Die Tochter nahm sich die Worte des Vaters zu Herzen. Einige Zeit später k<strong>am</strong> sie stolz<br />
lächelnd auf ihren Vater zu und sagte „Vati, bist du ein Prophet? Woher hast du bloß gewusst,<br />
dass sich alles so abspielt? Es war genauso, wie du es beschrieben hast. Erst<br />
hat er meine Schönheit bewundert, dann hat mich eingeladen. Wie durch Zufall k<strong>am</strong>en<br />
wir bei seinem Haus vorbei und da merkte der Ärmste, dass er seinen Mantel vergessen<br />
hatte. Um mich nicht allein zu lassen, bat er mich, ihn in seine Wohnung zu begleiten.<br />
Wie es der Anstand befiehlt, machte er mir Tee, verschönte mir die Zeit mit herrlicher<br />
Musik.<br />
Nun dachte ich an deine Worte und ich wusste daher genau, was auf mich zukommen<br />
sollte. Aber du wirst sehen, ich bin würdig, deine Tochter zu sein. Als ich den Augenblick<br />
nahen fühlte, warf ich mich auf ihn und schändete ihn, seine Eltern, seine F<strong>am</strong>ilie, sein<br />
Ansehen und seinen Ruf.“<br />
Ich denke, was wir können, ist <strong>Kind</strong>ern/Jugendlichen einen Erklärungskontext anbieten.<br />
Wie sie ihn dann verwenden, liegt in ihrer Macht. Mehrere solcher Erklärungskontexte,<br />
vielleicht auch verschiedene, sind oft Realität. Sie sind dann gefährlich, wenn das <strong>Kind</strong><br />
diese nicht integrieren kann.<br />
Mehrperspektivität statt Reduktion<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist ein interdisziplinäres Phänomen – es kann nicht eindeutig einer<br />
Berufsgruppe zugeordnet werden. Sei es der/die Sozialarbeiter/in des Jugend<strong>am</strong>tes,<br />
der/die Psycholog/in, der/die Lehrer/in, der Arzt, die Ärztin, seien es die Eltern,<br />
Angehörige oder wer auch immer – jeder, der die Sprachlosigkeit sieht und/oder spürt,<br />
ist aufgerufen, im System des <strong>Kind</strong>es mitzuhelfen, die Erfahrungen zur Sprache zu bringen<br />
l durch Gespräche<br />
l durch kreative Medien
l durch pädagogische Situationen<br />
l durch Ermutigung zum Ausdruck und zum Fühlen<br />
l durch das Vor-Leben<br />
l usw.<br />
Erklärungen von psychischer <strong>Gewalt</strong> sind vielseitig und fordern interdisziplinäres<br />
Arbeiten. Nicht die Reduktion darauf, wem das Thema „gehört“, ist sinnvoll, sondern die<br />
Mehrperspektivität. Vernetztes Handeln ist hilfreich, gerade für die <strong>Kind</strong>er, die hier Hilfe<br />
brauchen.<br />
Wenn Sie sich vergegenwärtigen, wie viele unterschiedliche Akteure unter Umständen<br />
in einer einzigen Situation integriert sind und handeln (Hinweis: Siehe Referat Dr.<br />
Neumayer, S 82), einschreiten und helfen, dann ist das ganz typisch für das Thema.<br />
These VI<br />
(Er-)Klärungen von psychischer <strong>Gewalt</strong> sind vielseitig und legen interdisziplinäres<br />
Arbeiten nahe. Nicht Reduktion, sondern Mehrperspektivität<br />
ist hilfreich.<br />
Der Vater hat’s verboten<br />
... der Übertitel meines Referates entst<strong>am</strong>mt natürlich auch dem Struwwelpeter, und zwar<br />
aus der „gar traurigen Geschichte mit dem Feuerzug“. Ein <strong>Kind</strong> spielt mit dem Feuerzug<br />
und verbrennt dann. Am Anfang dieser Geschichte gibt es zwei Katzen. Und als die Eltern<br />
ausgegangen sind, „... heben die Katzen ihre Tatzen ...“ und sagen der daheim gebliebenen,<br />
zündelnden Tochter immer wieder: „Das darfst du nicht.“ Sie drohen mit den<br />
Pfoten, „der Vater hat’s verboten! Miau, Mio, Miau, Mio, lass stehn, sonst brennst du<br />
lichterloh“.<br />
Die zwei Katzen sind die Symbole für die Helfer/innen.<br />
Ich glaube, das ist gar kein so schlechtes Symbol. Wir können schnurren, wir können<br />
herumstreichen, wir können mit den Pfoten kratzen, wir können ihnen – unseren <strong>Kind</strong>ern<br />
– verschiedene Dinge raten, erlauben oder verbieten.<br />
Das <strong>Kind</strong> hier hat die Botschaft der Katzen nicht verstanden, hat einen anderen Weg eingeschlagen.<br />
Wir können – zumindest längerfristig gesehen – nicht mehr tun, als verschiedene Dinge<br />
anzubieten.<br />
Eben darum denke ich, dass die unterschiedlichen Zugänge und interdisziplinäre<br />
Ansätze sehr hilfreich sind, denn möglicherweise kommt ein Helfer/eine Helferin von einem<br />
anderen Feld besser an das <strong>Kind</strong> heran.<br />
Ein 10-jähriger Bub, dessen Eltern sich unter ganz dr<strong>am</strong>atischen Umständen scheiden<br />
ließen, hat in der Erziehungsberatung in der <strong>Kind</strong>ertherapie mit Puppen gespielt. Da lässt<br />
er die eine Puppe die andere fragen: „Du was ist denn das – Scheidung?“ Sagt die andere<br />
Puppe: „Scheidung, das ist wie der Untergang der Titanic. Die beiden brechen auseinander,<br />
nur dass sie nicht ertrinken.“<br />
Ich weiß nicht, ob es gescheit ist, dass 7-jährige <strong>Kind</strong>er den Film „Titanic“ sehen, aber<br />
wenn der Bub das verstanden hat und das Bild ihm eine Hilfe gibt, dann war es trotzdem<br />
sinnvoll.<br />
Und es war eine Erklärung, auf die ich nie gekommen wäre.<br />
Interdisziplinäre<br />
Ansätze, unterschiedliche<br />
Zugänge<br />
und die Kooperation<br />
der verschiedenen<br />
Berufsgruppen sind<br />
in der Prävention<br />
und Aufarbeitung<br />
psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
unumgänglich.<br />
43
44<br />
<strong>Gewalt</strong>, was sonst?<br />
Ich frage mich bei der Beschäftigung mit solchen Themen immer: Was ist das Gegenteil<br />
von psychischer <strong>Gewalt</strong>?<br />
Ich denke, wir sollten als Helfer/innen darauf achten, dass wir nicht immer nur dagegen<br />
rennen, um zu verhindern, was es zu verhindern gilt, sondern den Blick darauf werfen,<br />
was wir denn eigentlich aufbauen und stärken wollen.<br />
These VII<br />
Reduktion von psychischer <strong>Gewalt</strong> setzt voraus, dass wir lernen, lebendige<br />
Vielfältigkeit gegenseitig auszuhalten.<br />
Ich denke, zwischen dem Pol psychische <strong>Gewalt</strong> und dem, was das Gegenteil davon<br />
ist – vielleicht können Sie diese Frage einmal für sich selber anschauen und beantworten<br />
–, kann man kann nur subjektive Antworten finden.<br />
Ich glaube nicht, dass <strong>Gewalt</strong>losigkeit der Gegenpol ist.<br />
Ich würde heute sagen: Der Gegenpol von psychischer <strong>Gewalt</strong> ist das Aushalten von<br />
Vielfältigkeit und Lebendigkeit, von Unterschiedlichkeit, von Vielfältigkeit.<br />
Das gilt für die F<strong>am</strong>ilien, für die <strong>Kind</strong>er, für die Beziehungen mit und in denen wir arbeiten.<br />
Wenn es gelingt, ein bisschen etwas davon entstehen zu lassen, dass Menschen,<br />
die miteinander leben und aufwachsen, ein bisschen mehr an Vielfältigkeit, Lebendigkeit,<br />
Unterschiedlichkeit gegenseitig aushalten – was ja nicht immer so lustig ist –, dann<br />
haben wir viel erreicht.<br />
Und ich glaube, das ist auch ein gutes Bild für uns als Helfer/innen. Wenn es uns gelingt,<br />
uns in unseren Unterschiedlichkeiten auszuhalten und uns in unseren Unterschiedlichkeiten<br />
leben zu lassen, dann können wir einen Beitrag dazu leisten, dass wir <strong>Kind</strong>ern helfen,<br />
sich in solchen Situationen besser zurechtzufinden.<br />
Züngelnde Helfer<br />
Zum Schluss noch eine ganz kleine Geschichte, um die Vielfältigkeit noch in ein Bild zu<br />
packen.<br />
Da gibt es in einem Dorf eine Schlange, die beißt ständig die Einwohner. Und eines Tages<br />
gehen die Menschen – wie es in den Geschichten so ist – zu einem heiligen Meister und<br />
sagen zu ihm: „Du bist so heilig und so weise. Könntest du nicht die Schlange zähmen,<br />
sodass sie uns nicht ständig beißt?“ Der Meister willigt ein und tut, wie ihm geheißen.<br />
Die Schlange beißt also nicht mehr. Die Dorfbewohner merken bald, dass die Schlange<br />
harmlos geworden ist. Bald beginnen sie Steine nach ihr zu werfen, sie <strong>am</strong> Schwanz hinter<br />
sich herzuziehen und sie ständig zu belästigen.<br />
Eines Nachts hält die Schlage das nicht mehr aus und kriecht übel zugerichtet in des<br />
Meisters Haus, um sich zu beschweren. Der Meister sagte: „Mein Freund, du jagst den<br />
Menschen keine Angst mehr ein, das ist schlecht“. „Aber du hast mich doch gelehrt, gewaltlos<br />
zu sein“ antwortete die Schlange. Sagte der Meister: „Ich habe dir gesagt, du<br />
sollst aufhören zu beißen, nicht aber zu züngeln und zu zischen.“<br />
Ich denke, auch wir müssen in unserem Beruf manchmal züngeln und zischen. Auch<br />
<strong>Kind</strong>er und Eltern dürfen züngeln und zischen. Das ist was anderes als <strong>Gewalt</strong>, auch als<br />
psychische <strong>Gewalt</strong> auszuüben, und diesen Unterschied herauszufinden, dazu wünsche<br />
ich uns allen sehr viel Erfolg!
„Die Buben aber folgten nicht“<br />
„Sorgerechtsproblematik/Strafrechtsproblematik!“<br />
Referentin: Dr. Beate Matschnig:<br />
Ich arbeite <strong>am</strong> Jugendgericht in Wien. Wir sind zuständig für sämtliche Straftaten<br />
Jugendlicher bis zum 19. Lebensjahr, die im Bereich Wien verübt werden.<br />
Außerdem sind wir Pflegschaftsgericht für sämtliche Erziehungsnotstände von ganz<br />
Wien, unabhängig vom Bezirk.<br />
Wie reagiert die Justiz auf <strong>Gewalt</strong>?<br />
Primär sind wir immer spät dran.<br />
Das ist nicht die Schuld der Justiz allein, sondern das ergibt sich aus der Situation. Denn<br />
in dem Moment, wo ein Fall bei uns anhängig ist, ist ja bereits etwas passiert.<br />
Wir arbeiten nicht in der Prävention, sondern wir werden mit Tatsachen konfrontiert. Wir<br />
können dann nur noch im Nachhinein versuchen, den Schaden möglichst gering zu halten,<br />
regulierend oder ordnend einzugreifen.<br />
Was passiert, wenn es sich um kleine <strong>Kind</strong>er handelt?<br />
Wir haben sämtliche Fälle des sexuellen Missbrauchs bei uns, der <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern,<br />
der groben Vernachlässigung, die ja genauso auch ein <strong>Gewalt</strong>faktum darstellen.<br />
Ich beginne mit dem einfachsten und gelindesten Eingreifen unsererseits: das ist die<br />
Unterstützung zur Erziehung. Dieser Fall ist allerdings auch der seltenste bei uns und<br />
deckt maximal knapp 10 Prozent meiner Arbeit ab.<br />
Unterstützung zur Erziehung<br />
... kann dann angewandt werden, wenn die Eltern zumindest noch ein bisschen kooperationsbereit<br />
sind, wenn z.B. das Jugend<strong>am</strong>t sagt: „Mit uns arbeiten sie zwar nicht zus<strong>am</strong>men,<br />
aber wenn sie einen Gerichtsbeschluss in der Hand haben, dann könnte man<br />
ihnen vielleicht gewisse Auflagen auftragen.“<br />
Diese Auflagen können mannigfaltig sein: Das kann eine intensivere Zus<strong>am</strong>menarbeit<br />
mit dem Jugend<strong>am</strong>t sein oder eine Kontrolle durch das Jugend<strong>am</strong>t.<br />
Sehr häufig ist es eine <strong>Kind</strong>ergartenunterbringung oder Hortunterbringung, d<strong>am</strong>it eine<br />
gewisse kontinuierliche Beobachtung der <strong>Kind</strong>er gewährleistet ist.<br />
Weiters: Kontrolltermine bei Ärzt/innen, logopädische Behandlungen, F<strong>am</strong>ilienintensivbetreuungen<br />
– Sie sehen schon, der Bogen ist weit gespannt.<br />
In der Praxis sieht das so aus, dass ich mich in so einem Fall mit den Eltern zus<strong>am</strong>mensetze<br />
und die möglichen Maßnahmen mit ihnen durchspreche.<br />
Im Idealfall können sie die Auflage akzeptieren, da sie einsehen, dass etwas passieren<br />
muss, weil das <strong>Kind</strong> sonst aus der F<strong>am</strong>ilie genommen wird.<br />
Doch wie gesagt, das sind die seltensten Fälle bei uns.<br />
Denn entweder arbeiten die Eltern so und so schon mit dem Jugend<strong>am</strong>t zus<strong>am</strong>men oder<br />
sie lehnen alles strikt ab. Dann hilft auch unser Einschreiten kaum, denn wenn ich einen<br />
Antrag bekomme, und ich muss ja die Eltern zu jedem Antrag des Jugend<strong>am</strong>tes laden,<br />
und die Eltern kommen schon nicht einmal zu mir, dann ist ein Beschluss mit Unterstützung<br />
auf Erziehungshilfe völlig sinnlos.<br />
Ich kann Eltern im Pflegschaftsverfahren nicht zwangsweise bei mir vorführen lassen.<br />
Das heißt, wenn sie den Kontakt ablehnen, ist diese Maßnahme auch nicht durchführbar.<br />
Unterstützung zur<br />
Erziehung bedeutet<br />
zum Beispiel<br />
Kontrollen durch<br />
das Jugend<strong>am</strong>t,<br />
<strong>Kind</strong>ergartenunterbringung<br />
oder<br />
Hortunterbringung,<br />
d<strong>am</strong>it eine gewisse<br />
kontinuierliche<br />
Beobachtung der<br />
<strong>Kind</strong>er gewährleistet<br />
ist, sowie Kontrolltermine<br />
bei Ärzt/innen,<br />
logopädische<br />
Behandlungen oder<br />
F<strong>am</strong>ilienintensivbetreuungen.<br />
45
Wir sind uns sehr<br />
wohl bewusst,<br />
dass auch eine<br />
Herausnahme der<br />
<strong>Kind</strong>er aus ihrer<br />
F<strong>am</strong>ilie <strong>Gewalt</strong> an<br />
den <strong>Kind</strong>ern ist. Nur<br />
ist in den meisten<br />
Fällen keine andere<br />
Lösung denkbar.<br />
Über 80 Prozent<br />
unserer straffällig<br />
gewordenen<br />
Jugendlichen kommen<br />
aus „belasteten“<br />
F<strong>am</strong>ilien. Es wurde<br />
ihnen in ihrer<br />
F<strong>am</strong>ilie <strong>Gewalt</strong> angetan,<br />
sie wurden<br />
misshandelt oder<br />
vernachlässigt.<br />
46<br />
Entzug der Obsorge<br />
In den meisten Fällen, die bei uns anhängig sind, kommt es zu einer Abnahme des<br />
<strong>Kind</strong>es, zu einem Entzug der Obsorge der Eltern.<br />
Wobei Obsorge teilbar ist. Es gibt die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung – das<br />
wird in 90 Prozent aller Fälle entzogen.<br />
Das heißt, sie dürfen das <strong>Kind</strong> nicht mehr bei sich haben, sie sind nicht mehr zuständig<br />
für Pflege und Erziehung. Man belässt ihnen aber noch die gesetzliche Vertretung und<br />
Vermögensverwaltung. Das wird in 90 Prozent aller Fälle bei den Eltern belassen.<br />
Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass auch eine Herausnahme der <strong>Kind</strong>er aus ihrer<br />
F<strong>am</strong>ilie <strong>Gewalt</strong> an den <strong>Kind</strong>ern ist.<br />
Auch wir erleben das zum Teil sehr dr<strong>am</strong>atisch. Wenn die Eltern die <strong>Kind</strong>er nicht „herausgeben“<br />
und dann Polizei, Feuerwehr, Vollzugsbe<strong>am</strong>ter und Jugend<strong>am</strong>t auftreten, um<br />
die <strong>Kind</strong>er quasi gewalts<strong>am</strong> aus der F<strong>am</strong>ilie zu reißen, dann ist das pure <strong>Gewalt</strong>, die bei<br />
den <strong>Kind</strong>ern einen Schock verursacht.<br />
Nur ist in den meisten Fällen keine andere Lösung denkbar.<br />
Es ist nicht so, dass das Jugend<strong>am</strong>t leichtfertig einen Antrag bei uns stellt oder dass irgendeiner<br />
von uns eine solche Maßnahme leichtfertig genehmigt.<br />
Es wird von uns intensivst recherchiert, bevor wir uns zu so einem Schritt entschließen.<br />
Wir haben die Jugendgerichtshilfe im Haus, mit Psychologen und Sozialarbeitern, die<br />
zusätzlich zum Jugend<strong>am</strong>t nochmals sämtliche Erhebungen im Umfeld durchführen, die<br />
mit Nachbarn, in den Schulen, <strong>Kind</strong>ergärten und mit den Ärzten und Ärztinnen sprechen.<br />
Die Jugendgerichtshilfe nimmt uns Richtern diese Erhebungen ab, denn das würde<br />
unser Zeitbudget bei weitem überschreiten.<br />
Nach diesen Recherchen folgen Gespräche von uns mit den Eltern. Daraufhin wird meistens<br />
auch noch ein Sachverständigengutachten über die Erziehungsfähigkeit der Eltern<br />
und die Möglichkeit, das <strong>Kind</strong> aus der F<strong>am</strong>ilie herauszunehmen, eingeholt, und erst dann<br />
wird der Beschluss getroffen, dass das <strong>Kind</strong> der F<strong>am</strong>ilie abgenommen wird.<br />
Für das <strong>Kind</strong> ist die Sache d<strong>am</strong>it aber noch keineswegs durchgestanden, und das macht<br />
die Sache auch immer so schwierig.<br />
Denn dann kommen die Besuchsregelungen. Die Eltern können oder wollen diese<br />
Regelung zumeist nicht akzeptieren. Dass dadurch auch das <strong>Kind</strong> immer wieder involviert<br />
wird, dessen muss man sich bewusst sein.<br />
Das <strong>Kind</strong> hat keine Ruhe mit der Abnahme, nur haben wir bisher noch keine bessere<br />
Lösung gefunden.<br />
„Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“<br />
Was passiert a la longe mit dem <strong>Kind</strong>ern?<br />
Da kommen wir nun zum Titel dieser Tagung „Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“.<br />
Verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, ich möchte nicht sagen, dass jeder, der eine gewalts<strong>am</strong>e<br />
<strong>Kind</strong>heit durchgemacht hat, kriminell wird. Das stimmt sicher nicht. Aber es gibt<br />
einen Umkehrschluss.<br />
Jeder einzelne Fall, jeder einzelne Strafakt wird von uns an die Jugendgerichtshilfe weitergeleitet,<br />
die umfangreiche Erhebungen über das ganze Umfeld, über die F<strong>am</strong>ilie, die<br />
Schule des Betroffenen usw. im Zuge des Pflegschaftsverfahrens macht. Und von dort<br />
her gibt es eine grobe Statistik, die besagt, dass über 80 Prozent unserer straffällig gewordenen<br />
Jugendlichen aus „belasteten“ F<strong>am</strong>ilien kommen, sei es, dass ihnen dort<br />
<strong>Gewalt</strong> angetan wurde, dass sie misshandelt oder vernachlässigt wurden.<br />
Und etliche von unseren Straftätern haben auch einen Pflegschaftsakt bei uns anhängig.<br />
Das sind dann die 14-, 15-, 16-Jährigen, bei denen wir uns zwar auch bemühen, noch<br />
irgendwelche hilfreichen Maßnahmen zu setzen, wo es aber natürlich immer schwieriger<br />
wird.
Jeder wird für ein 2-, 3-, 4-, 5-jähriges <strong>Kind</strong> Verständnis haben, dem <strong>Gewalt</strong> angetan<br />
wurde. Jeder sagt „Dieses arme <strong>Kind</strong>“ und „Was ist nur mit diesem <strong>Kind</strong> passiert? Das<br />
ist ja furchtbar.“ Jeder hat hier Verständnis und wird jeder Maßnahme zustimmen.<br />
Wenn es aber einen 15-, 16-Jährigen betrifft, der pappig und rotzig ist und etwas angestellt<br />
hat, der sich alles andere als positiv präsentiert, der keine Goldlocken mehr hat,<br />
sondern eine Punkerfrisur, dann hört sich das Verständnis schlagartig auf. Kein Mensch<br />
zerbricht sich dann den Kopf darüber, was der Jugendliche schon alles mitgemacht hat,<br />
was mit ihm passiert ist und was wir jetzt eigentlich schonenderweise mit ihm tun sollen.<br />
Da ist der Ruf nach Strafe sehr, sehr laut. Und er wird immer lauter.<br />
„Alles einsperren“ versus Bewährungshilfe<br />
Es gibt kein Verständnis mehr für Therapien und andere Maßnahmen.<br />
Die Devise geht immer stärker in Richtung „Einsperren“.<br />
Was wir versuchen, ist im Rahmen von Probezeiten Maßnahmen zu setzen, um doch<br />
noch irgendeine Hilfestellung zu geben. Die Möglichkeiten dazu haben wir noch, angefangen<br />
von der Bewährungshilfe.<br />
Die Jugendlichen sind meistens auf sich allein gestellt. Unter Umständen gibt es irgendwo<br />
noch eine Mutter – wenn, dann ist es in aller Regel eine Mutter, die da vielleicht<br />
noch dahinter steht.<br />
Bewährungshilfe ist eine Möglichkeit, die ich dem Klienten drei Jahre lang vermitteln<br />
kann. Das soll eine Unterstützung sein. Das hat mit Strafe absolut nichts zu tun. Das ist<br />
eine rein positive Maßnahme für ihn. Ich sage jetzt immer „ihn“, weil 95 Prozent aller<br />
Straftäter Burschen sind.<br />
Wir können im Rahmen der Probezeit zum Beispiel anordnen „Du musst regelmäßig in<br />
die Schule gehen. Du musst dir eine Lehre suchen oder musst beim Arbeits<strong>am</strong>t gemeldet<br />
sein.“<br />
Dann geht es weiter mit Therapien.<br />
Wir können unseren Süchtigen, und das sind sehr, sehr viele, Weisung geben, sich einer<br />
Therapie zu unterziehen, sei es <strong>am</strong>bulant, sei es stationär.<br />
Wir haben bei uns im Haus bei der Jugendgerichtshilfe auch das Antiaggressionstraining,<br />
das diesen Jugendlichen helfen soll, ihre eigenen Aggressionen, die sie letztendlich alle<br />
aus ihrer <strong>Kind</strong>heit mitgenommen haben, aufzuarbeiten und zu verbessern.<br />
Letzte Maßnahme: Haft<br />
Letztendlich bleibt dann die Haft. Das ist dann gar nicht mehr erquicklich, wobei es bei<br />
uns im Haus noch zumindest eine sehr dichte Betreuung gibt.<br />
Es werden schulische Weiterbildung und verschiedene Kurse angeboten, und die<br />
Jugendgerichtshilfe betreut die Häftlinge sowohl psychologisch als auch sozialarbeiterisch.<br />
Sind längere Haftstrafen zu verbüßen, dann schaut es schon schlechter aus.<br />
Ich glaube, es gibt jetzt in Gerasdorf eineinhalb Psychologen für 90 auffällige Burschen,<br />
die eigentlich eine Therapie erhalten sollen. Das ist so faktisch nicht machbar. Aber es<br />
gibt kein Geld für eine Aufstockung des Personals.<br />
Und für diese Burschen haben wir keine Lobby!<br />
Schwierige Teenager<br />
Gerade jene Jugendlichen, die uns <strong>am</strong> meisten <strong>am</strong> Herzen liegen, „bleiben“ bei den<br />
Institutionen letztendlich irgendwo „über“.<br />
Es sind diese schwierigen 13- bis 16-Jährigen.<br />
Eineinhalb<br />
Psychologen sollen<br />
90 verhaltensauffällige<br />
Burschen<br />
therapieren. Es gibt<br />
kein Geld für eine<br />
Aufstockung des<br />
Personals, denn<br />
diese Burschen<br />
haben keine Lobby.<br />
47
Sie passen in keine<br />
Wohngemeinschaft,<br />
es gibt zu wenig<br />
Heime, und auch<br />
eine Pflegschaftsf<strong>am</strong>ilie<br />
hält diese<br />
Jugendlichen<br />
kaum aus.<br />
Je älter die <strong>Kind</strong>er,<br />
desto schlechter sind<br />
ihre Chancen.<br />
48<br />
Sie passen in keine Wohngemeinschaft hinein, weil dort würden sie aller Wahrscheinlichkeit<br />
nach alles „umdrehen“ und die Nachbarn so verärgern, dass sie ausziehen<br />
müssten.<br />
Heime gibt es keine mehr in diesem Ausmaß.<br />
Eine F<strong>am</strong>ilie – eine Pflegschaftsf<strong>am</strong>ilie – hält einen solchen Burschen oder eine solches<br />
Mädchen auch nicht aus.<br />
Wir haben versucht, eine Lösung für diese Jugendlichen in einer interdisziplinären<br />
Kommission zu finden.<br />
Wir haben versucht, niederschwellige Einrichtungen zu schaffen. Wir werden aber mit<br />
der Mitteilung „Das geht nicht. Das ist zu schwierig. Wer haftet und wer tut und wer macht<br />
und wer zahlt vor allem?“ konsequent abgeblockt.<br />
Ich kann Ihnen keine Lösung dafür anbieten. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es schwierig<br />
geworden ist. Viel schwieriger, als es früher war.<br />
Es ist viel schwieriger, sie unterzubringen, das Echo in der Öffentlichkeit wird schlechter,<br />
wir haben mehr Probleme, d<strong>am</strong>it umzugehen.<br />
Alles kann nicht von uns aufgefangen werden.<br />
Ich frage mich manchmal, ob man nicht dazu übergehen sollte, <strong>Kind</strong>er früher aus dem<br />
F<strong>am</strong>ilienverband herauszunehmen. Obwohl ich mir bewusst bin, dass das ein zweischneidiges<br />
Schwert ist. Denn einerseits arbeiten wir <strong>am</strong> Gericht ja letztendlich auch nur<br />
mit Druck, Macht und <strong>Gewalt</strong>. Wie schon gesagt, ein <strong>Kind</strong> aus seiner F<strong>am</strong>ilie herauszureißen<br />
ist <strong>Gewalt</strong>, und deswegen versuchen wir, ein <strong>Kind</strong> so lang wie nur irgendwie möglich<br />
zu Hause zu lassen.<br />
Andererseits sehe ich oft Fälle, wo man die Situation zu Hause schon seit Jahren beobachtet,<br />
und es wird nicht besser, sondern immer schlechter.<br />
Wir wissen, dass es <strong>Gewalt</strong> in dieser F<strong>am</strong>ilie gibt. Wir wissen, dass es Vernachlässigung<br />
gibt, und wir versuchen trotzdem mit noch einer Weisung, mit einer anderen Schule, mit<br />
einem andern Hort, einem anderen F<strong>am</strong>ilienintensivbetreuer usw. der Situation beizukommen,<br />
bis es letztendlich dann so weit ist, dass wir das <strong>Kind</strong> dann doch aus der F<strong>am</strong>ilie<br />
herausnehmen müssen.<br />
Nur – je älter die <strong>Kind</strong>er sind, desto schlechter sind ihre Chancen!<br />
Wenn die <strong>Kind</strong>er einmal fünf, sechs sind, ist es viel schwieriger, als wenn sie ein Jahr<br />
oder noch kleiner sind.<br />
Dass das ein zweischneidiges Schwert ist, weiß ich, und dass es juristisch schwierig ist,<br />
weiß ich auch. Ich habe das sozusagen oft genug <strong>am</strong> eigenen Leib erfahren.<br />
Elternwohl vor <strong>Kind</strong>eswohl?<br />
Zum Abschluss noch eine Geschichte.<br />
Da ist eine Mutter, die durchaus in der Lage ist, ein Baby zu haben. Die Grundversorgung<br />
des Babys, also das Füttern und Wickeln und Streicheln und alles, was dazu gehört, ist<br />
kein Problem für sie. Doch in dem Moment, wo ihr <strong>Kind</strong> anfängt, mobil zu werden, wo es<br />
aufsteht und geht, wird sie mit der Situation nicht mehr fertig.<br />
Sie begann ihren Sohn zu schlagen, weil sie seiner nicht mehr Herr wurde. Sie konnte<br />
ihm keine Grenzen setzen. Sie hat nicht mehr gewusst, was sie mit ihm machen soll. Sie<br />
war einfach von ihrer ganzen Konstellation her nicht fähig, mit dem <strong>Kind</strong> irgendetwas anzufangen.<br />
Diese Frau bek<strong>am</strong> wieder ein <strong>Kind</strong>. Um dieses neue Baby hat sie sich aber sehr wohl<br />
gekümmert. Als wir den „Großen“ aus der F<strong>am</strong>ilie genommen haben, war dieser drei<br />
Jahre, der Kleine war zu diesem Zeitpunkt fünf Monate alt. Der Große k<strong>am</strong> zu<br />
Pflegeeltern.<br />
Zu diesem Zeitpunkt habe ich mit der zuständigen Sozialarbeitern beim Jugend<strong>am</strong>t gesprochen<br />
und gesagt „Was machen wir jetzt? Warten wir, bis der Kleine auch anfängt zu<br />
gehen und „schwieriger“ wird für die Mutter? Nehmen wir ihr das <strong>Kind</strong> dann ab? Dann
ist der Bub aber immerhin wahrscheinlich auch eineinhalb oder zwei Jahre alt.“<br />
Die Pflegeeltern, die den älteren Buben übernommen hatten, waren bereit, auch den<br />
Kleinen zu nehmen.<br />
Und wir entschlossen uns, ihr auch das kleine <strong>Kind</strong> schon jetzt abzunehmen und haben<br />
das dann das erste Mal durch alle Instanzen durchgezogen. Wir haben mit einem<br />
Sachverständigengutachter gearbeitet, der gesagt hat, dass die Mutter sehr wohl in der<br />
Lage ist, ein Baby zu versorgen, nicht aber ein größeres <strong>Kind</strong>.<br />
Und so haben wir das <strong>Kind</strong> mit fünfeinhalb Monaten abgenommen. Aber das war eine<br />
Ausnahmesituation.<br />
Ich kann nicht sagen, dass das immer so funktioniert.<br />
Ich bin ausschließlich für das Wohl des <strong>Kind</strong>es zuständig, ausschließlich!<br />
Ob es der Mutter dabei gut geht oder den Pflegeeltern oder den Großeltern oder wem<br />
auch immer in diesem ganzen F<strong>am</strong>ilienverband, ist für uns nicht entscheidend.<br />
Für das <strong>Kind</strong> ist diese Situation sicher leichter gewesen, denn ein Einschnitt mit fünfeinhalb<br />
Monaten ist leichter zu verkraften als mit zwei oder drei Jahren.<br />
Ob das in Zukunft so gehen wird, das kann ich nicht versprechen. Ich weiß es nicht, weil<br />
die Instanz sehr konservativ ist. Auch der Oberste Gerichtshof stellt immer zuerst fest,<br />
dass die Elternrechte eigentlich schwerer wiegen als die <strong>Kind</strong>errechte. Das steht auch<br />
definitiv in den Entscheidungen des OGH.<br />
Scheinbar ist es also eher dem <strong>Kind</strong> zuzumuten, etwas auf sich zu nehmen, wenn es<br />
den Elternrechten entgegenkommt.<br />
Das beginnt sich jetzt zu ändern.<br />
Wünsche für die Zukunft<br />
Was wir uns wünschen würden – und was jetzt zum Teil auch schon funktioniert –, ist<br />
eine sehr intensive Zus<strong>am</strong>menarbeit mit dem Jugend<strong>am</strong>t. Insofern, dass wir die einzelnen<br />
Fälle vorher besprechen, weil man sich leichter tut, wenn man „gleichgeschaltet“<br />
läuft.<br />
Das Zweite, das wir uns wünschen, ist eine Verbesserung der Situation für unsere<br />
schwierigen Teenager. Wir bräuchten da sehr dringend eine Möglichkeit, auch diese<br />
schwierigen Jugendlichen adäquat unterzubringen. Es sollte einfach nicht mehr vorkommen,<br />
was leider immer wieder passiert, dass wir einen 14-Jährigen in Haft haben,<br />
weil wir nicht wissen, wo wir ihn eigentlich „hintun“ sollen.<br />
Wir können ihn ja nicht auf die Straße stellen.<br />
Ich kann nur hoffen, dass Tagungen wie diese dazu führen, dass sich nicht nur die<br />
Situation für die kleinen <strong>Kind</strong>ern verbessert, sondern dass es eben auch bei jenen eine<br />
Verbesserung der Situation gibt, die quasi schon <strong>am</strong> Ende eines Leidensweges stehen,<br />
den sie von Klein auf an mitmachen mussten.<br />
49
So schwer<br />
traumatisierte<br />
<strong>Kind</strong>er können nie<br />
geheilt werden. Aber<br />
es ist unsere Pflicht,<br />
sie zu begleiten.<br />
50<br />
„Zu Hilf’, Ihr Leut’, zu Hilf’, Ihr Leut’!“<br />
„Extrembelastungen im <strong>Kind</strong>esalter“<br />
Referentin: Dr. Gertrude Bogyi<br />
Sowohl der Titel der Enquete „Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“ als auch der<br />
Titel meines Beitrages „Zu Hilf’ ihr Leut’, zu Hilf’ ihr Leut’“ weisen darauf hin, worum es<br />
in meinem Beitrag gehen wird.<br />
Das Zitat „Zu Hilf’ ihr Leut’, zu Hilf’ ihr Leut’“ ist jener Geschichte im Struwwelpeter entnommen,<br />
wo der Jäger den Hasen erschießen möchte. Letztendlich geht diese<br />
Geschichte aber dann doch noch gut aus.<br />
Aber wovon ich Ihnen jetzt berichten werde, da ist leider nichts gut ausgegangen. Es geht<br />
um <strong>Kind</strong>er, die Zeuge eines Mordes geworden sind.<br />
Ich bin seit siebenundzwanzig Jahren an der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des<br />
<strong>Kind</strong>es- und Jugendalters <strong>am</strong> AKH tätig, beschäftige mich seit langem auch mit dieser<br />
Thematik und habe bis jetzt zweiundvierzig <strong>Kind</strong>er betreut, die Zeugen eines Mordes geworden<br />
sind.<br />
Man kann jetzt sagen, dass das eigentlich eine kleine Gruppe ist. Für mich jedoch ist das<br />
eine wahnsinnig große Gruppe, denn bei dieser Gruppe sind zum Beispiel all die<br />
Flüchtlingskinder, die schreckliche Kriegserlebnisse zu verarbeiten haben, nicht dabei.<br />
(Es wäre übrigens ein wesentlicher Bestandteil der Integration, diesen <strong>Kind</strong>ern eine lang<br />
währende Aufarbeitung ihrer schrecklichen Erfahrungen zu ermöglichen.)<br />
Martin<br />
Ich möchte mit der Geschichte von Martin beginnen, der zum Zeitpunkt des Traumas<br />
sechs Jahre alt war. Ich betreue ihn auch heute noch. Und es ist auch sehr wichtig, dass<br />
ich ihn noch immer betreue, denn es dauert sehr lange, bis solche seelischen Traumen<br />
auch nur halbwegs verarbeitet werden. Wirklich geheilt können diese <strong>Kind</strong>er nie werden.<br />
Auch nicht mit der besten Therapie. Wir sind jedoch verpflichtet, diese <strong>Kind</strong>er zu begleiten.<br />
Wir müssen sie in den verschiedensten Lebensphasen begleiten und wirklich für sie<br />
da sein, da das Trauma in den verschiedenen Altersstufen reaktiviert wird und dann neu<br />
bearbeitet werden muss. Doch davon später.<br />
Der sechsjährige Bub war der einziger Zeuge, als sein Vater die Lebensgefährtin erschossen<br />
hat. Diese Lebensgefährtin des Vaters war Mutterersatzperson, und zwar<br />
schon seit vier Jahren. Seine leibliche Mutter hatte die F<strong>am</strong>ilie verlassen, als das <strong>Kind</strong><br />
zwei Jahre alt war. Dann k<strong>am</strong>en die verschiedensten Tanten und Omas, bis der Bub<br />
schließlich beim Vater und dessen Lebensgefährtin lebte. Bis zu dem Tag, als der Vater<br />
sie im Streit erschoss.<br />
Sprachlosigkeit – ein Verarbeitungssyndrom<br />
Üblicherweise ist es so, dass <strong>Kind</strong>er knapp nach einem so schrecklichen Ereignis wie<br />
automatisiert einzelne Daten und Fakten erzählen können. Doch bereits ein paar<br />
Stunden, ein paar Tage später tritt eine aktive Verdrängung ein. Die <strong>Kind</strong>er erzählen das<br />
Erlebte dann anders, können sich an vieles, das sie vorher genau gewusst haben, nicht<br />
mehr erinnern.<br />
Das ist immer auch das große Problem, wenn <strong>Kind</strong>er vor Gericht als Zeugen aussagen<br />
sollen.<br />
Diese Sprachlosigkeit gehört zu einem Verarbeitungssyndrom, das ich Ihnen nun näher<br />
schildern möchte.
Auch dieser Kleine hatte mir <strong>am</strong> Anfang die verheerenden Geschehnisse genauestens<br />
geschildert. Ein paar Wochen später war er plötzlich stumm und sprachlos geworden.<br />
Ich fragte ihn, ob er nicht vielleicht zeichnen möchte. Er bejahte und begann zu überlegen,<br />
was er denn eigentlich zeichnen wolle. Und dann hat er selbst gemeint, er werde<br />
zeichnen, wie es ihm geht.<br />
Auf einem der Bilder, die er zeichnete, fand ich auch mich. Ich sollte gerade erschossen<br />
werden. Aber da das natürlich auch für ihn sehr schlimm gewesen wäre, hat er mir eine<br />
kugelsichere Weste „umgehängt“, sodass ich nicht erschossen werden kann.<br />
Mittlerweile ist das eineinhalb Jahre her, doch das <strong>Kind</strong> gerät noch immer bei jedem<br />
Blutfleck in Panik. Sieht es Blut, bekommt es eine Wahnsinnsangst. Der kleinste Blutfleck<br />
genügt, um alles sofort zu reaktivieren.<br />
Wir wissen heute, dass bei schweren psychischen Traumatisierungen jede Kleinigkeit<br />
genügt, um ein Wiedererleben auszulösen.<br />
Eine für uns gar nicht sichtbare, nicht erkennbare Kleinigkeit genügt, und das <strong>Kind</strong> muss<br />
die Geschehnisse in den verschiedensten Facetten wieder erleben. Mit einem Mal ist die<br />
ges<strong>am</strong>te Problematik wieder da ist.<br />
<strong>Psychische</strong> Traumatisierung<br />
ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationen und individuellen<br />
Bewältigungsmechanismen.<br />
Charakteristischer Weise ruft dies sowohl bei <strong>Kind</strong>ern als auch bei Erwachsenen ein extremes<br />
Gefühl der Hilflosigkeit und schutzlosen Preisgabe hervor. Das betroffene <strong>Kind</strong><br />
fühlt sich ohnmächtig, und es kommt zu einer Erschütterung des Selbst- und<br />
Weltverständnisses.<br />
Bei einem psychischen Trauma handelt es sich um ein subjektives Erleben, und deswegen<br />
stellt es sich auch nicht für jeden gleich dar.<br />
Es gibt also keine objektive Skala mit Schweregraden der psychischen Traumatisierung.<br />
Meistens treten nach dem Ereignis auch noch ganz massive Schuldgefühle bei den betroffenen<br />
<strong>Kind</strong>er auf. Schuldgefühle, nichts „dagegen“ getan zu haben.<br />
Zum Beispiel hat mir ein <strong>Kind</strong>, das Zeuge war, als der Vater die Mutter ermordet hat, gesagt:<br />
„Weißt du, sie haben so oft gestritten, und ich hab’ immer wieder gesagt, hört auf<br />
zu streiten. Aber wenn ich sie hätte ausstreiten lassen, dann hätte der Papa die M<strong>am</strong>a<br />
nicht erschießen müssen.“<br />
Dieses Sich-schuldig-, Sich-mitbeteiligt-Fühlen ist natürlich auch ein sehr wesentlicher<br />
Punkt bei der Traumatisierung.<br />
Professor Friedrich sagt immer, wir müssten wieder eine Streitkultur entwickeln. Ich<br />
nehme das sehr ernst, und ich glaube sogar, es wäre eine präventive Maßnahme. Ein<br />
<strong>Kind</strong> soll keinesfalls von allem, von jedem Streit fern gehalten werden. Denn es ist ja nicht<br />
der Streit an sich, es ist viel mehr die Art und Weise, wie gestritten wird.<br />
Wenn der Vater der Mörder ist<br />
Ich arbeite mit <strong>Kind</strong>ern, die Traumen der verschiedensten Art erlebt haben. Aber das<br />
Schlimmste, was einem <strong>Kind</strong> passieren kann, ist fraglos, wenn der Vater die Mutter oder<br />
auch umgekehrt, die Mutter den Vater ermordet. Da kommt es zu schwersten<br />
Erschütterung vom Selbst- und Weltverständnis des <strong>Kind</strong>es.<br />
Es ist wesentlich leichter, wenn der Mörder ein Außenfeind ist.<br />
Denn wenn Vater oder Mutter Täter sind, kann das <strong>Kind</strong> ja seine negativen Gefühle nicht<br />
voll auf diese „Person“ richten. Vater oder Mutter werden vom <strong>Kind</strong> geliebt, und das<br />
Gefühlschaos, in das ein <strong>Kind</strong> stürzt, das miterleben musste, wie der eine liebe Mensch<br />
den anderen geliebten Menschen ermordet hat, ist grauenvoll. Diesen <strong>Kind</strong>ern wird regelrecht<br />
der Boden unter den Füßen weggezogen. Jegliches Urvertrauen in die Welt ist<br />
Sieht er Blut,<br />
bekommt er eine<br />
Wahnsinnsangst.<br />
Der kleinste<br />
Blutfleck genügt,<br />
um die schrecklichen<br />
Erlebnisse zu<br />
reaktivieren.<br />
Betroffene <strong>Kind</strong>er<br />
fühlen sich hilflos,<br />
schutzlos und ohnmächtig.<br />
Zumeist<br />
fühlen sie sich auch<br />
noch schuldig an<br />
dem, was sie miterleben<br />
mussten.<br />
„Weißt du, sie haben<br />
so oft gestritten, und<br />
ich hab’ immer wieder<br />
gesagt, hört auf<br />
zu streiten. Aber<br />
wenn ich sie hätte<br />
ausstreiten lassen,<br />
dann hätte der Papa<br />
die M<strong>am</strong>a nicht<br />
erschießen müssen.“<br />
Diesen <strong>Kind</strong>ern wird<br />
der Boden unter den<br />
Füßen weggezogen.<br />
Diese <strong>Kind</strong>er haben<br />
jegliches Urvertrauen<br />
in die Welt auf<br />
immer verloren.<br />
Diese <strong>Kind</strong>er wissen<br />
wirklich nicht mehr<br />
ein und aus.<br />
51
Psychogenes<br />
Schocksyndrom:<br />
Es äußert sich als<br />
Reaktion auf ein<br />
traumatisches<br />
Ereignis in der ersten<br />
Phase durch<br />
Panikreaktion,<br />
Fluchttendenzen,<br />
Angstreaktionen<br />
bis hin zur Apathie.<br />
Es erfolgt dann eine<br />
aktive Verdrängung<br />
gegen die Bewusstmachung<br />
der<br />
Ereignisse und eine<br />
Bearbeitung in der<br />
Fantasie. Erst<br />
6 Monate bis 1 Jahr<br />
danach, manchmal<br />
auch noch später,<br />
kommt es zu<br />
Symptombildungen,<br />
und erst danach ist<br />
eine Bearbeitung der<br />
Realität möglich.<br />
52<br />
diesen <strong>Kind</strong>ern auf immer genommen worden. Diese <strong>Kind</strong>er wissen wirklich nicht mehr<br />
ein und aus.<br />
Wie verunsichert diese <strong>Kind</strong>er sind, sieht man an Martin, der auch heute noch, nach zwei<br />
Jahren Therapie bei mir, sagt: „Ich weiß ja nicht, ob du mich nicht auch erschießen willst.“<br />
Martin ist derzeit wieder stationär bei uns aufgenommen. Seine Verunsicherung ist so<br />
tief, dass er sich ununterbrochen absichern muss, ob die Schwester in der Nacht munter<br />
ist, d<strong>am</strong>it da ja jemand aufpasst, dass ihm nichts passiert.<br />
Das psychogene Schocksyndrom<br />
Walter Spiel, der langjährigen Leiter und Gründer unserer Klinik, hat 1974 ein psychogenes<br />
Schocksyndrom an Hand von <strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen beschrieben, an denen<br />
ein Mordversuch verübt worden ist.<br />
Bei diesen <strong>Kind</strong>ern ist quasi im letzten Moment alles noch gut gegangen, sie wurden nicht<br />
einmal – körperlich – verletzt. Dennoch bleibt die Tatsache, dass ein Elternteil versucht<br />
hat, das <strong>Kind</strong> zu ermorden.<br />
Spiel hat hier vier Phasen beschrieben, die ich dann auch bei diesen extrem traumatisierten<br />
<strong>Kind</strong>ern, die Zeugen eines Mordes geworden sind, erlebt habe.<br />
Diese Phasen sind:<br />
1.) Panikreaktion, Fluchttendenzen, Angstreaktionen, Apathie<br />
2.) Aktive Verdrängung des Erlebten<br />
3.) Bearbeitung der Erlebnisse in der Fantasie<br />
4.) Symptombildung (6 Monate bis 1 Jahr nach dem Trauma)<br />
Und dazu jetzt ein Beispiel.<br />
Jürgens Geschichte<br />
Jürgen war sechs Jahre alt, als er miterleben musste, wie sein Vater seine Mutter und<br />
die Großmutter ermordet hat. Die Tatwaffe war eine Glasscherbe. Mit dieser hat er ihnen<br />
die Kehle durchgeschnitten. Der Vater versuchte auch Jürgen zu ermorden. Doch offensichtlich<br />
hatte der Mann dann eine Tötungshemmung und somit blieben nur leichte<br />
Kratzspuren. Im Anschluss daran hat der Vater dann Selbstmord begangen, indem er<br />
mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler gefahren ist.<br />
Laut Auskunft der Gerichtsmedizin war Jürgen stundenlang mit den Leichen von Mutter<br />
und Großmutter allein.<br />
Die Tat passierte in den Abendstunden, und erst <strong>am</strong> nächsten Tag verließ er die<br />
Wohnung. Er packte seinen Rucksack, gab eine Haarbürste, ein Scherzerl Brot und<br />
Papiertaschentücher hinein, nahm dann den Hund an die Leine und ging zur Nachbarin.<br />
Er läutete bei ihr an und sagte: „Ich muss jetzt auswandern, weil alle meine Leute sind<br />
gestorben.“<br />
Diese Botschaft konnte er noch überbringen, dann brach er ohnmächtig zus<strong>am</strong>men.<br />
Dann wurde er mit der Rettung zu uns gebracht.<br />
Jürgen hat abgesehen vom Miterleben der Tat noch weiteres Schreckliches miterlebt.<br />
Wie wir nachher rekonstruiert haben, hat er die Leichen seiner Mutter und Großmutter<br />
ins Badezimmer geschleppt und siebeneinhalb Stunden lang versucht, sie abzuspülen,<br />
d<strong>am</strong>it sie zu bluten aufhören.<br />
Natürlich hat er das Blut nicht stoppen können, hat sie so nicht retten können. Sie können<br />
sich sein Entsetzen vorstellen, als das Blut durch die Verdünnung mit dem Wasser<br />
sogar noch mehr geworden ist! Das hat ihm <strong>am</strong> Schluss enorme Schuldgefühle bereitet,<br />
weil er der fixen Überzeugung war, dass es seine Schuld war, dass sie so geblutet<br />
haben.
Als er dann zu uns gebracht wurde, war er apathisch, war <strong>am</strong> Anfang sprachlos, konnte<br />
nichts sagen. Er hat das Erlebnis also schon <strong>am</strong> Anfang verdrängt.<br />
Das wäre also die erste Phase des psychogenen Schocksyndroms, die Apathie.<br />
Nach und nach bin ich dann dem Jürgen ein Stückchen näher gekommen, denn dass<br />
solche <strong>Kind</strong>er auch ein Schutzschild an Abwehr aufbauen, das können Sie sicherlich<br />
leicht verstehen. Er malte sein erstes Bild in der Therapie, und das war ganz in Schwarz<br />
gehalten. So schaute also seine Welt aus. Auf diesem Bild war ein Erhängter auf einem<br />
Schiff zu sehen.<br />
Jürgen hat sich dann ganz massiv gegen die Bewusstmachung der Tatsache gewehrt,<br />
dass der Vater der Mörder ist. Er hat mir in den Therapie-Stunden gesagt: „Weißt du, der<br />
Mörder war zwar so groß wie mein Papa, und er hat so ausgeschaut wie mein Papa, und<br />
er hat so eine Stimme gehabt wie mein Papa, aber es war nicht mein Papa.“<br />
Also dieser Schmerz, dass der Täter auch noch der Vater ist, war für dieses <strong>Kind</strong> zu diesem<br />
Zeitpunkt einfach zu viel.<br />
Genau das meinte Spiel mit der „aktiven Verdrängung“.<br />
Die Wahrheit nicht verleugnen<br />
Auch für Helfer und Helferinnen ist es entsetzlich, so etwas auszuhalten zu müssen.<br />
Natürlich wäre es hier sehr verführerisch zu vertrösten und dem <strong>Kind</strong> zu sagen: Ja, Du<br />
hast Recht, die Polizei hat sich geirrt. Der Mörder ist nicht Dein Papa.<br />
Aber hier ein Appell an alle Helfer/innen: Tun Sie das nie! Das wäre der größte Fehler.<br />
Sie würden d<strong>am</strong>it vielleicht sogar auch psychische <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong> verüben, auch wenn<br />
Ihnen das jetzt ganz komisch erscheinen mag.<br />
Aber wenn wir die Wahrheit leugnen, geben wir dem <strong>Kind</strong> eigentlich keine Möglichkeit<br />
mehr, mit uns darüber zu reden. Wir würden dann ja diese Lüge aufrecht erhalten.<br />
Natürlich hab ich dem <strong>Kind</strong> auch nicht jeden Tag gesagt: „Du, der Mörder war Dein Papa!“<br />
Aber <strong>am</strong> Anfang hab ich dem <strong>Kind</strong> gesagt: „Weißt Du, es wäre schön, wenn sich die<br />
Polizei geirrt hätte, aber es war der Papa.“<br />
Ganz wichtig ist, dass jemand dem <strong>Kind</strong> beisteht, das Ganze gemeins<strong>am</strong> mit dem <strong>Kind</strong><br />
aushält und gemeins<strong>am</strong> mit ihm trägt.<br />
Verarbeitung in der Fantasie<br />
In der Regel erfolgt dann die dritte Phase, in der es zu einer Bearbeitung des Falles in<br />
der Fantasie kommt. Und dann, oft ein halbes bis zu eineinhalb Jahre später, wenn die<br />
Menschen aus der Umgebung des <strong>Kind</strong>es glauben, jetzt hat es ohnehin schon alles verkraftet,<br />
weil es auch nicht mehr darüber spricht, dann kommt es zu massiven<br />
Symptombildungen.<br />
Die Symptome können die ganze Bandbreite der Palette der kinderpsychiatrischen<br />
Auffälligkeiten umfassen, von Einnässen über Leistungsstörungen, bis hin zum Stottern.<br />
Die Erkrankungen sind dann noch einmal das Zeichen einer Bearbeitungssituation, und<br />
erst in der vierten Phase beginnt der lange, lange Prozess der Bearbeitung der Realität.<br />
Der Trauerprozess kommt überhaupt noch viel, viel später.<br />
Am Beginn der vierten Phase muss die ganze <strong>Gewalt</strong>, die ganze Schuld, all das, was da<br />
passiert ist, zunächst einmal Schritt für Schritt verarbeitet werden. Was sich dann in den<br />
verschiedensten Entwicklungsphasen eben auch wiederholt. Angenommen, ein Trauma<br />
passiert einem kleinen <strong>Kind</strong>, dann muss dieses <strong>Kind</strong> dieses Trauma in allen<br />
Entwicklungsstufen neu und auf einem anderen Entwicklungsniveau bearbeiten.<br />
Zu den Symptomen<br />
zählen: Tick-Erkrankungen,Angststörungen,aggressive<br />
Tendenzen,<br />
Bettnässen, LernundLeistungsstörungen,<br />
motorische<br />
Störungen,<br />
Kontaktstörungen,<br />
Stottern.<br />
53
54<br />
Die heikle Frage der Unterbringung<br />
In Jürgens Fall k<strong>am</strong> dann natürlich auch noch die Frage der Unterbringung auf. Hier ein<br />
Appell an alle Sozialarbeiter/innen: Überlegen Sie bitte immer sehr gut, wo Sie solche<br />
<strong>Kind</strong>er unterbringen.<br />
In der ersten Minute sind natürlich sofort alle Verwandten zur Stelle. Die sagen, selbstverständlich<br />
nehmen wir das <strong>Kind</strong> zu uns, keine Frage, das bin ich meiner Schwester<br />
schuldig, oder Ähnliches. Das hört sich zwar sehr gut an, aber oft ist eine andere Lösung<br />
besser. Und manchmal ist es auch meine Aufgabe gewesen, diesen Menschen zu sagen,<br />
sie dürfen Tante oder sie dürfen Oma bleiben, aber es ist gescheiter, das <strong>Kind</strong><br />
kommt ins <strong>Kind</strong>erdorf.<br />
Ich hatte da zum Beispiel eine Frau, die selbst vier kleine <strong>Kind</strong>er hatte und dann drei<br />
kleine dazu nehmen hätte wollen!<br />
Es geht ja nicht „nur“ darum, dieses <strong>Kind</strong> bei sich aufzunehmen. Es geht vor allem auch<br />
darum, es zu begleiten.<br />
Jürgen k<strong>am</strong> zur Schwester seiner toten Mutter und musste noch eine Reihe von<br />
Trennungen (Schulwechsel, Scheidung von Onkel und Tante etc.) und weiteren psychische<br />
Traumen durch die Gesellschaft erleben.<br />
(Mehr über Jürgens Geschichte lesen Sie im zweiten Teil der Dokumentation, Seite 63).<br />
Zeichnungen von <strong>Kind</strong>ern dürfen zwar nicht überbewertet werden, trotzdem geben sie<br />
uns oft einen guten Einblick in den momentanen Sinneszustand. Deshalb möchte ich<br />
Ihnen zum Abschluss noch erzählen, was Jürgen gezeichnet hat.<br />
Waren seine Zeichnungen <strong>am</strong> Anfang eigentlich nur ein schwarzes Bild, so zeichnete er<br />
nach einem Jahr einen Kaiseradler. Warum? – Weil er sich in einen Kaiseradler verwandeln<br />
lassen will, denn der steht unter Naturschutz, und dann kann ihm nie wieder etwas<br />
passieren!<br />
Bei richtiger Begleitung können die Ressourcen und Stärken eines <strong>Kind</strong>es auch bei den<br />
ärgsten Traumen wieder geweckt werden. Und in diesem Sinne wollen wir weiter arbeiten!
2. Enquete<br />
ES IRRT DER MENSCH,<br />
SOLANG ER STREBT<br />
<strong>Psychische</strong><br />
<strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong><br />
Moderation:<br />
Barbara Urban, ORF<br />
6. Oktober 2000, 10 Uhr<br />
Hofburg, Großer Redoutensaal<br />
1010 Wien, Josefsplatz
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />
ist sicherlich jene <strong>Gewalt</strong>form, die <strong>am</strong> häufigsten auftritt. Zum einen tritt sie immer als Begleiterscheinung bei<br />
jeder Form körperlicher und sexueller <strong>Gewalt</strong> auf; zum anderen haben zusätzlich viele <strong>Kind</strong>er – ohne körperlich<br />
betroffen zu sein – unter psychischer <strong>Gewalt</strong>, sei es im Elternhaus, sei es im sozialen Umfeld, zu leiden.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> hinterlässt keine körperlichen Spuren und ist daher schwer festzustellen und zu beweisen.<br />
Oftmals werden extrem „brave“ <strong>Kind</strong>er nicht als „Opfer“ wahr genommen, sondern finden sogar noch die<br />
Anerkennung der erzieherischen Leistung ihrer Eltern in einer immer noch autoritär denkenden Gesellschaft.<br />
Auch das Verhalten der Eltern in Scheidungssituationen kann zu psychischer Misshandlung führen, wenn<br />
z.B. <strong>Kind</strong>er zum Mittelpunkt juristischer Auseinandersetzungen werden, um elterliche Machtinteressen durchzusetzen.<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> kommt aber auch in Institutionen vor oder kann durch institutionelles Handeln ausgelöst<br />
werden.<br />
Auch zwischen <strong>Kind</strong>ern/Jugendlichen gibt es diese Form der <strong>Gewalt</strong> – Schlagworte, wie „Bullying“ oder<br />
„Mobbing“ sind in letzter Zeit laut geworden.<br />
Ziel der Enquete war es, das Spannungsfeld Schutz bzw. Gefahr durch die F<strong>am</strong>ilie versus Schutz bzw. Gefahr<br />
durch Institutionen bei psychischer <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong> zu beleuchten.<br />
Titel und Überschrift in Anlehnung an:<br />
Johann Wolfgang von Goethe: Faust
Inhaltsverzeichnis Enquetes 2<br />
„Der Menschheit ganzer J<strong>am</strong>mer faßt mich an“ Seite 158<br />
„<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> aus der Gesellschaft: Der Kreis wird enger“<br />
Dr. Werner Leixnering<br />
Ärztlicher Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie<br />
an der OÖ Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz<br />
„Heinrich! Mir graut’s vor dir!“ Seite 162<br />
„Traumatisierung und Gesellschaft“<br />
Dr. Gertrude Bogyi<br />
Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des <strong>Kind</strong>es- und Jugendalters, Wien<br />
„Erbarme dich und lass’ mich leben“ Seite 168<br />
„Scheidung – psychische <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern?“<br />
Dr. Harald Werneck<br />
Institut für Entwicklungspsychologie, Universität Wien<br />
„Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Seite 175<br />
Geduld will bei dem Werke sein“<br />
„Eltern als Begleiter in schwierigen Zeiten“<br />
Dr. Luitgard Derschmidt<br />
Forum Beziehung, Ehe und F<strong>am</strong>ilie der Katholischen Aktion Österreich<br />
„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ Seite 182<br />
„Der Eingriff von Außen – ein zusätzliches Trauma?“<br />
Dr. Reinhard Neumayer<br />
Amt der NÖ Landesregierung, Abt. Jugendwohlfahrt<br />
„Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“ Seite 190<br />
„Schule – ein Ort der Tat“<br />
Dir. Gertraud Schimak/Mag. Dagmar Friedl<br />
Rudolf-Ekstein-Zentrum, Wien<br />
„Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor“ Seite 196<br />
„Entlastungsstrukturen“<br />
Dr. Stefan Allgäuer<br />
Institut für Sozialdienste, Vorarlberg<br />
„Das Gute liegt uns oft so fern“ Seite 104<br />
„Prognose versus Vorurteil: Stolperstein der Prävention“<br />
2 Fallbeispiele<br />
Dr. Eva Traindl<br />
Niedergelassene Fachärztin für <strong>Kind</strong>er- und Jugendheilkunde, Wien
Wir dürfen ruhig<br />
hinschauen, wenn<br />
wir uns irren.<br />
Psychosomatik:<br />
Wenn psychische<br />
<strong>Gewalt</strong> ausgeübt<br />
wird, kann sie sich<br />
bei <strong>Kind</strong>ern körperlich<br />
äußern. Können<br />
wir uns also körperliche<br />
Symptome<br />
organisch nicht<br />
erklären, müssen wir<br />
an die Möglichkeit<br />
erlittener psychischer<br />
<strong>Gewalt</strong><br />
denken.<br />
58<br />
„Der Menschheit ganzer J<strong>am</strong>mer<br />
faßt mich an“<br />
„<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> aus der Gesellschaft:<br />
Der Kreis wird enger“<br />
Referent: Dr. Werner Leixnering<br />
„Es irrt der Mensch, solang er strebt“, so lautet der Übertitel dieser Enquete. Wenn wir<br />
diesen Satz genauer betrachten, ein wenig umdrehen, dann heißt das ja eigentlich auch:<br />
Wir dürfen uns irren. Und das heißt wiederum auch: Wir dürfen ruhig hinschauen, wenn<br />
wir uns irren. Dass wir also hinschauen dürfen, ja sogar sollen, scheint ein Faktum zu<br />
sein, das uns gerade beim Phänomen der psychischen <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern (übrigens<br />
auch an Erwachsenen) durchaus verfolgen sollte. Ich sage bewusst „verfolgen“ sollte,<br />
weil verfolgen kann auch bedeuten, etwas immer im Fokus zu haben.<br />
Ich würde aber auch sagen, es ist eine Tatsache, die uns immer „begleiten“ darf. Denn,<br />
wenn wir wirklich hinschauen und dadurch erkennen, dass wir uns irren, haben wir möglicherweise<br />
schon einen Ansatz der Veränderung in der Hand.<br />
Der zweite Titel, den ich hier ansprechen möchte, lautet: „Der Menschheit ganzer<br />
J<strong>am</strong>mer fasst mich an“. Und auch dieses berühmte Zitat möchte ich ein wenig näher betrachten.<br />
„Der Menschheit ganzer J<strong>am</strong>mer fasst uns an.“ Da steht nicht, der „sieht“ uns an oder<br />
der „ruft“ uns etwas zu, nein „fasst“ uns an. Und alle, die mit <strong>Kind</strong>ern arbeiten, wissen,<br />
welch wesentliche Bedeutung wir in den letzten Jahren all dem geschenkt haben, was<br />
etwas mit dem unmittelbaren Berühren von <strong>Kind</strong>ern zu tun hat. Das heißt, wenn uns dieser<br />
J<strong>am</strong>mer gleichs<strong>am</strong> bewegen soll, dann muss er uns anfassen. Das heißt aber auch<br />
– und das wissen auch wieder alle, die mit dem taktilen und sensomotorischen Bereich<br />
zu tun haben –, dass man bereit und imstande sein muss, sich anfassen zu lassen.<br />
Aber „der Menschheit ganzer J<strong>am</strong>mer“ fasst auch die betroffenen <strong>Kind</strong>er und Jugendlichen<br />
an, wenn es um psychische <strong>Gewalt</strong> geht. Denn wenn psychische <strong>Gewalt</strong> ausgeübt<br />
wird, egal ob sie jetzt von unmittelbaren Bezugspersonen oder aus der Gesellschaft<br />
kommt, kann sie sich bei <strong>Kind</strong>ern körperlich äußern.<br />
Die Psychosomatik spielt hier also eine große Rolle. Deshalb müssen wir bei <strong>Kind</strong>ern,<br />
die an körperlichen Phänomenen leiden, die wir uns organisch nicht gut erklären können,<br />
an die Möglichkeit erlittener psychische <strong>Gewalt</strong> denken, wie in der ersten Enquete<br />
zu diesem Thema schon kurz dargestellt wurde. (ð Hinweis auf Seite 9)<br />
Wir haben bei der letzten Enquete schon darüber gesprochen, dass die Grenzen zwischen<br />
Erziehungspraktiken, die sich des Prinzips der Strafe bedienen, und psychischer<br />
<strong>Gewalt</strong> oftmals fließend sind. Das ist ein Problem, mit dem wir uns immer wieder befassen<br />
und auseinandersetzen müssen.<br />
Und genau das Problem dieser fließenden Grenzen sollte uns wahrscheinlich besonders<br />
dazu anregen, immer daran zu denken, dass wir uns auch irren können.<br />
Eine Erziehungsmaßnahme kann eben auch irrtümlich erfolgt sein, und das müssen und<br />
können wir auch zugeben und uns eingestehen – als Eltern, als Lehrer, als Bezugspersonen.<br />
Die Wurzel des Übels<br />
Wenn wir uns nicht nur mit dem Phänomen der psychischen <strong>Gewalt</strong> innerhalb der<br />
F<strong>am</strong>ilie befassen, sondern die Problematik etwas weiter beleuchten, dann müssen wir<br />
uns die Frage stellen: Wie geht die Gesellschaft mit Eltern um, die dann wieder mit<br />
<strong>Kind</strong>ern „umgehen“? Oder: Wie geht die Gesellschaft überhaupt mit jenen Personen –
das müssen ja gar nicht immer nur die Eltern sein – um, die dann wieder mit <strong>Kind</strong>ern<br />
„umgehen“?<br />
Müssen wir nicht dort ein wenig nachforschen, wenn wir uns die Wurzeln der psychischen<br />
<strong>Gewalt</strong> ansehen möchten?<br />
Ist nicht auch ein wesentlicher Punkt, wie Erwachsene mit Erwachsenen umgehen, was<br />
<strong>Kind</strong>er dann natürlich miterleben, mitbekommen? Und ist dieses Mitbekommen nicht wesentlich<br />
mehr also nur das Sehen, das Hören, das Spüren? Ist das nicht auch etwas<br />
Seelisches an sich, ein psychischer, ein emotionaler Akt?<br />
Noch ein Punkt scheint mir besonders beachtenswert zu sein: der Umgang von <strong>Kind</strong>ern<br />
mit <strong>Kind</strong>ern!<br />
Wenn man sich in der Literatur umschaut und Beschreibungen, Bemerkungen und<br />
Erfahrungen s<strong>am</strong>melt, so sieht man, dass wir in einer Zeit leben, in der wir sehr darauf<br />
achten, <strong>Kind</strong>ern rechtzeitig Autonomie zu geben, <strong>Kind</strong>ern rechtzeitig Selbstständigkeit<br />
zu geben, <strong>Kind</strong>ern rechtzeitig zu ihrem Recht zu verhelfen. Das bedeutet natürlich auch,<br />
dass <strong>Kind</strong>er relativ früh selbstständig miteinander „umgehen“, also in Interaktion treten.<br />
<strong>Kind</strong>er gehen heute auch vielleicht autonomer miteinander um, als das früher der Fall<br />
war, da nicht so schnell jemand von Außen eingreift. Das bedeutet aber auch, dass wir<br />
viel früher darauf achten müssen, wie die <strong>Kind</strong>er miteinander umgehen.<br />
Also nicht nur Erwachsene gehen mit <strong>Kind</strong>ern um, sondern auch <strong>Kind</strong>er, auch junge<br />
Menschen gehen miteinander um.<br />
Phänomen Bullying<br />
In diesem Zus<strong>am</strong>menhang ist leider das Phänomen des „Bullying“ anzusprechen, jenes<br />
Phänomen, das man vielleicht mit schikanieren, quälen, sekkieren, malträtieren usw.<br />
übersetzen kann. Und dazu gibt es seit den 80er Jahren erste Untersuchungen, die dann<br />
in verschiedenen Ländern in verschiedenen Formen repliziert wurden.<br />
Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass Bullying weit verbreitet ist.<br />
Es gibt Daten, die darauf hinweisen, dass in Schulklassen – dort wurden die ersten<br />
Untersuchungen durchgeführt – im internationalen Mittel etwa 5 bis 10 % der <strong>Kind</strong>er und<br />
Jugendlichen von diesem Phänomen betroffen sind. Und zwar nicht nur als Täter, sondern<br />
auch als Opfer. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass sich die Relation Täter –<br />
Opfer etwa deckt; es gibt andere Ergebnisse, die mehr Täter und weniger Opfer ausweisen.<br />
Das methodische Problem all dieser Untersuchungen ist, dass man auf Befragungen angewiesen<br />
ist und dadurch natürlich auch subjektive Momente der Antworten berücksichtigen<br />
muss, die das Ergebnis sehr stark beeinflussen können.<br />
Faktum ist aber, dass wir uns mit diesem Phänomen auseinander setzen müssen. Faktum<br />
ist weiters, dass wir es vor allem deshalb mit diesem Phänomen zu tun haben, weil die<br />
Methoden, mit denen heute <strong>Gewalt</strong>, auch psychische <strong>Gewalt</strong>, ausgeübt wird, viel subtiler<br />
werden. Und subtiler werden bedeutet, dass wir in Zukunft genauer hinsehen müssen.<br />
„<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> aus der Gesellschaft –<br />
der Kreis wird enger“<br />
Nun noch ein paar Worte zur Entstehung psychischer <strong>Gewalt</strong>. Stellen wir uns jetzt dem<br />
Titel: Wann wird denn der Kreis enger? Wodurch wird er enger?<br />
Durch Verrohung! Verrohung der Sprache ist dabei ein sehr wichtiges Phänomen. Er wird<br />
auch enger durch Verherrlichung von <strong>Gewalt</strong> in jeder Art. Er wird aber auch enger durch<br />
Einschränkung basaler Lebensbedürfnisse, durch Einschränkung der Entwicklungschancen,<br />
durch Einschränkung des Rechts auf einen Platz in der Gesellschaft. Da geht<br />
es bei <strong>Kind</strong>ern um Plätze in Gruppen. Da geht es bei Jugendlichen schon zunehmend<br />
um Arbeitsplätze, da geht es um Fragen der Existenzsicherung für das ganze Leben.<br />
Ein wesentlicher<br />
Punkt ist, wie<br />
Erwachsene mit<br />
Erwachsenen umgehen,<br />
denn <strong>Kind</strong>er<br />
lernen davon.<br />
Bullying:<br />
„Eine Person wird<br />
„gebulliet“ oder<br />
viktimisiert, wenn<br />
sie wiederholt und<br />
über längere Zeit<br />
hinweg negativen<br />
Handlungen durch<br />
eine oder mehrere<br />
Personen ausgesetzt<br />
ist. Eine negative<br />
Handlung findet<br />
statt, wenn jemand<br />
absichtlich einer<br />
anderen Person<br />
Verletzungen oder<br />
Unannehmlichkeiten<br />
zufügt oder zuzufügen<br />
versucht.<br />
„Bullying“ oder<br />
Viktimisierung ist<br />
nicht gegeben, wenn<br />
zwei Personen vergleichbarer<br />
Stärke<br />
streiten oder<br />
kämpfen“ (nach<br />
OLWEUS, 1992 und<br />
SCHUSTER, 1999).<br />
Die Verrohung der<br />
Sprache ist im<br />
Zus<strong>am</strong>menhang mit<br />
psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
ein sehr wichtiges<br />
Phänomen.<br />
59
Der Kreis wird auch<br />
enger, wenn man<br />
sich emotional nicht<br />
mehr Luft machen<br />
kann. Was in der<br />
Einzelpsychotherapie<br />
gewünscht<br />
ist, muss auch – in<br />
adäquater Weise – in<br />
Gemeinschaften<br />
möglich sein.<br />
<strong>Kind</strong>er können<br />
Druck nicht adäquat<br />
verarbeiten. Sie<br />
geben den Druck<br />
weiter – an<br />
Gleichaltrige, an<br />
Jüngere und auch an<br />
Erwachsene.<br />
60<br />
Es geht aber auch darum, dass der Kreis enger wird, wenn man sich emotional nicht<br />
mehr Luft machen kann.<br />
Was in der Einzelpsychotherapie gewünscht ist, muss auch – in adäquater Weise – in<br />
Gemeinschaften möglich sein.<br />
Wir sprechen so gern von diesem Schlagwort „den Gürtel enger schnallen“. Ich frage Sie<br />
einmal: Wie würde es Ihnen mit einem Gürtel gehen, bei dem Sie überhaupt kein Loch<br />
mehr finden, an dem Sie die Schnalle einklinken könnten?<br />
Da ist man dann sehr hilflos in der einen, aber auch in der anderen Richtung. Wie schaut<br />
es also mit der Orientierung aus, mit den Zielen, mit den Schritten, wenn Gürtel enger<br />
geschnallt werden müssen? Transportieren wir sie? Ist das nicht auch psychische<br />
<strong>Gewalt</strong>, wenn wir „Gürtel ohne Löcher“ produzieren?<br />
Und das spielt für <strong>Kind</strong>er, die sich viel schwerer tun, Perspektiven zu erfassen, zu erkennen,<br />
eine sehr große Rolle. Wir sind hier also in einem gewissen Sinn wieder auch<br />
beim Problem der Grenzenlosigkeit. Sie wissen alle, dass wir vor 20, 30 Jahren Begriffe<br />
wie „die totale Institution“ sehr stark frequentiert haben. Wir haben daraus sehr viel gelernt.<br />
Wir haben sehr viel verändert, und wir haben erfasst, welche Handlungsräume<br />
Menschen brauchen. Heute, glaube ich, müssen wir uns zunehmend mehr auch bei<br />
<strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen mit der Frage auseinander setzen, ob unterschiedliche<br />
Individuen, unterschiedliche <strong>Kind</strong>er und Jugendliche vielleicht auch unterschiedliche<br />
Handlungs- und Erlebnisräume brauchen.<br />
Ich glaube, wir müssen lernen, mehr als bisher unterschiedliche Stile in der Erziehung,<br />
im Umgang mit <strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen anzuwenden.<br />
Die Folgen psychischer <strong>Gewalt</strong> aus der Gesellschaft<br />
Was sind denn die Folgen?<br />
Erstens: <strong>Kind</strong>er können Druck nicht adäquat verarbeiten. Das führt zu Verdrängung. Das<br />
führt zu Verleugnung. Das führt zu einer Reihe von psychopathologischen Phänomenen,<br />
die sich zum Teil in psychosomatischen Symptomen äußern können. Es geht da oft um<br />
einen Teufelskreis, der entsteht, wenn <strong>Kind</strong>er primär schon beeinträchtigt sind. Das<br />
Phänomen der psychischen <strong>Gewalt</strong> aus der Gesellschaft wird vor allem auch bedrohlich<br />
für <strong>Kind</strong>er, die von sich aus ungünstigere Voraussetzungen haben.<br />
Zweitens: <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> in der Gesellschaft führt dazu, dass <strong>Kind</strong>er diese psychische<br />
<strong>Gewalt</strong> unter Erwachsenen miterleben. Zumeist imitieren sie dieses Verhalten<br />
dann unkritisch und unreflektiert, ohne genau zu verstehen, was da überhaupt passiert.<br />
Und letztens: <strong>Kind</strong>er geben Druck weiter, und das müssen wir uns immer vergegenwärtigen.<br />
Sie geben den Druck an Gleichaltrige, an Jüngere, aber unter Umständen auch<br />
an Erwachsene weiter.<br />
Und das ist ein Phänomen, dem wir in der klinischen Psychologie und in der<br />
Psychopathologie immer mehr ausgesetzt sind, dass <strong>Kind</strong>er, die sehr stark traumatisiert<br />
wurden, ihrerseits nicht nur <strong>Kind</strong>er, sondern auch Erwachsene wieder psychisch traumatisieren<br />
können – natürlich nicht bewusst, aber es entsteht ein Teufelskreis. Das sind<br />
also neue Phänomene, mit denen wir uns auseinander setzen müssen!<br />
Schnelllebigkeit und Leistungsdruck<br />
Zum Schluss möchte ich ein wenig zus<strong>am</strong>menfassen: Wir leben in einer Zeit, die durch<br />
Schnelllebigkeit, Komplexität und Veränderungsdruck gekennzeichnet ist, und dies stellt<br />
an junge Menschen generell hohe Anforderungen. Sie müssen sich sehr rasch auf<br />
Neues, Anderes, Unerwartetes einstellen, ebenso wie wir weiterhin von ihnen oft<br />
Verständnis für Gehütetes und Geschütztes erwarten.<br />
Die <strong>Kind</strong>ern zwar im besonderen Maße eigene Fähigkeit zu Entwicklung und Anpassung<br />
– und d<strong>am</strong>it zur Änderung des eigenen Verhaltens – droht auf diese Weise dennoch oft<br />
überfordert zu werden, und dann kann Veränderungslust in Veränderungsfrust enden.
Die Methoden, mit denen Erwachsene die ihnen anvertrauten jungen Menschen sich und<br />
den anderen anpassen wollen, anpassen müssen – vielleicht manchmal auch anpassen<br />
dürfen oder zu dürfen glauben –, werden immer subtiler. Dieser Tatsache müssen wir<br />
uns stellen.<br />
Phänomene des seelisch überfordernden, ja schadenden Gruppendrucks lassen sich<br />
heute mehr und mehr beobachten und stehen zunehmend im Widerspruch zu den in unseren<br />
Tagen als selbstverständlich anerkannten erzieherischen Werten der Toleranz und<br />
Akzeptanz.<br />
Die Gefahr des „Überbordens“ psychischer <strong>Gewalt</strong> ist also allgegenwärtig in einer Zeit,<br />
in der Leistung nicht nur gefordert, sondern mehr noch evaluiert, taxiert und relativiert<br />
wird. Die Angst, selbst in diesem Prozess unter die Räder zu kommen, mobilisiert in oft<br />
erschreckend hohem Ausmaß Kräfte seelischer <strong>Gewalt</strong>, deren Folgen erst viel später zu<br />
erfassen und schwer zu mildern sind.<br />
Wir alle, meine D<strong>am</strong>en und Herren, sind fähig, psychischer <strong>Gewalt</strong> entgegenzuwirken,<br />
sofern wir ihrer nicht nur schaudernd harren, sondern frühen Anfängen und frühen<br />
Gefahren des Psychoterrors klug und konsequent entgegentreten.<br />
Die <strong>Kind</strong>ern im<br />
besonderen Maße<br />
eigene Fähigkeit zu<br />
Entwicklung und<br />
Anpassung droht<br />
überfordert zu werden,<br />
und dann kann<br />
Veränderungslust in<br />
Veränderungsfrust<br />
enden.<br />
61
62<br />
„Heinrich! Mir graut’s vor Dir!“<br />
„Traumatisierung und Gesellschaft“<br />
Referentin: Dr. Gertrude Bogyi<br />
Das Gretchen sagt in der Kerkerszene zu Faust: „Heinrich, mir graut’s vor dir“.<br />
Wer ist der Faust? Wer ist das Gretchen, und wovor graut’s?<br />
Ich hoffe, dass meine Ausführungen Ihnen das ein wenig klarer machen können.<br />
Was ist psychische Traumatisierung?<br />
Unter psychischer Traumatisierung verstehen wir eine seelische Verwundung, und zwar<br />
einerseits durch ein plötzliches und unerwartetes Ereignis, das unvorhersehbar ist und<br />
außerhalb der normalen Lebenserfahrung geschieht, also z.B. Missbrauch, Misshandlung,<br />
plötzlicher Verlust, Unfall, Katastrophen. Charakteristisch, dass dies sowohl<br />
bei <strong>Kind</strong>ern als auch bei Erwachsenen ein extremes Gefühl der Hilflosigkeit hervorruft.<br />
Andererseits sprechen wir auch von Traumatisierungen, wenn es sich um lang andauernde,<br />
chronische traumatische Erfahrungen handelt, die die ges<strong>am</strong>te Entwicklung des<br />
<strong>Kind</strong>es von früh an beeinflussen. Walter Spiel hat dazu den Begriff „Persönlichkeitsentwicklungsstörungen“<br />
geprägt. Das kann etwa eine Vernachlässigung oder aber auch<br />
eine psychische oder psychiatrisch schwere Erkrankung der Elternteile sein, die sich auf<br />
die Entwicklung der <strong>Kind</strong>er auswirken.<br />
Nun noch einmal kurz zur Definition „psychische Traumatisierung“.<br />
Es geht um ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und<br />
den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten. Gefühle von Hilflosigkeit und schutzloser<br />
Preisgabe werden ausgelöst, und es kommt zu einer Erschütterung des Selbst- und<br />
Weltverständnisses. Freilich gibt es eben, wie schon genannt, eine große Bandbreite<br />
traumatischer Situationen und Situationskonstellationen, sodass sich kein einheitliches<br />
Trauma-Syndrom feststellen lässt.<br />
Dennoch hat Walter Spiel bereits im Jahre 1974 vom so genannten „Psychogenen<br />
Schocksyndrom“ gesprochen.<br />
Es äußert sich als Reaktion auf ein traumatisches Ereignis durch Panikreaktion,<br />
Fluchttendenzen, Angstreaktionen bis hin zur Apathie. Es erfolgt dann eine Phase der<br />
aktiven Verdrängung gegen die Bewusstmachung der Ereignisse und eine Bearbeitung<br />
in der Fantasie. Erst 6 Monate bis 1 Jahr danach, manchmal auch noch später, kommt<br />
es zur Symptombildungen und erst danach ist eine Bearbeitung der Realität möglich. (ð<br />
Siehe auch Seite 52, 53)<br />
Heute spricht man einerseits von der „akuten Belastungsreaktion“, andererseits von der<br />
„posttraumatischen Belastungsstörung“.<br />
Akute Belastungsreaktion: vorübergehende Störung, meist bis 3 Tage nach dem<br />
Ereignis. Nach anfänglichem Zustand der Betäubung werden Depression, Angst, Ärger,<br />
Verzweiflung, Überaktivität und Rückzug beobachtet. Kein Symptom ist längere Zeit<br />
vorherrschend.<br />
Posttraumatische Belastungsstörung: verzögerte Reaktion auf belastendes Ereignis,<br />
selten mehr als 6 Monate nach dem Ereignis. Gekennzeichnet durch Symptomtrias: sich<br />
aufdrängende Erinnerungen, Vermeidung von Situationen, die an das Trauma erinnern,<br />
vegetative Übererregtheit.
Die posttraumatische Belastungsstörung<br />
und ihre Erscheinungsformen bei <strong>Kind</strong>ern<br />
Eine Vielfalt von Symptomen kann auftreten, die auf eine Traumabelastung zurückführen<br />
sind: Rückzug, Angst, Misstrauen, aber auch Konzentrationsstörungen, Leistungsstörungen,<br />
Schlafstörungen, immer wiederkehrende Albträume, psychosomatische<br />
Störungen aller Art und vor allem auch selbstschädigende Verhaltensweisen. Das heißt,<br />
oft wird das aggressive Trauma dann eben gegen sich selbst gerichtet. Bei Jugendlichen<br />
kommen noch oftmals eine Drogenproblematik, sehr häufig auch Selbstmordversuche,<br />
sexuelle Straftaten und vor allem soziale Anpassungsstörungen dazu.<br />
Eine psychische Traumatisierung ist eine das <strong>Kind</strong> in seiner psychischen Entwicklung<br />
überfordernde Lebenserfahrung, der es wehrlos, hilflos und unentrinnbar ausgeliefert ist.<br />
Starke innere und äußere Eindrücke überfluten die innere Wahrnehmung des <strong>Kind</strong>es und<br />
führen zu einer massiven Entwicklungsbeeinträchtigung, und das – dies sei jetzt<br />
nochmals betont – auf jeder Entwicklungsstufe. Angenommen, ein Trauma passiert einem<br />
kleinen <strong>Kind</strong>, dann muss dieses <strong>Kind</strong> dieses Trauma in allen Entwicklungsstufen<br />
neu und auf einem anderen Entwicklungsniveau bearbeiten.<br />
Wie wird nun die Entwicklung weiterverlaufen? Dies hängt einerseits von der<br />
Ges<strong>am</strong>tpersönlichkeit des <strong>Kind</strong>es ab, von der Persönlichkeitsstruktur, von den vorhandenen<br />
Abwehrmechanismen, von der Art und den Begleitumständen des Traumas, von<br />
der Reaktivierung des Traumas, aber vor allem – und d<strong>am</strong>it bin ich beim heutigen Thema<br />
– vom sozialen Umfeld und d<strong>am</strong>it auch von der Reaktion der Gesellschaft.<br />
Jürgen<br />
Ich möchte Ihnen nun anhand eines Extrembeispieles erläutern, was ich meine.<br />
Sie erinnern an die Geschichte von Jürgen (Siehe S. 52), der als 6-Jähriger miterleben<br />
musste, wie sein Vater seine Mutter und seine Großmutter ermordete, indem er ihnen<br />
mit einer Glasscherbe die Kehle durchgeschnitten hat. Der Vater versuchte auch Jürgen<br />
zu töten, hatte aber dann offensichtlich eine Tötungshemmung, und somit blieben nur<br />
leichte Kratzspuren. Anschließend beging der Vater Selbstmord.<br />
Jürgen war drei Jahre bei uns in Therapie und wurde dann nach und nach auch von uns<br />
entlassen. Er wurde bei der Schwester seiner Mutter und deren Mann untergebracht. Und<br />
er blieb natürlich auch an der Klinik in Weiterbehandlung.<br />
Und jetzt komme ich dazu, warum ich den Titel eigentlich gewählt habe.<br />
Zwei Jahre nach der Entlassung bei uns k<strong>am</strong> Jürgen plötzlich wieder zu mir. Er war in<br />
einer höchsten Paniksituation, denn er war nochmals in eine massive Schocksituation<br />
geraten.<br />
Er war mittlerweile in der 2. Volksschulklasse, und es hatte sich dort herumgesprochen,<br />
dass sein Vater ein Mörder war.<br />
Die Eltern einiger Mitschüler von Jürgen gingen daraufhin in die Schule und verlangten<br />
von der Lehrerin darauf zu achten, dass ihr <strong>Kind</strong> keinesfalls neben Jürgen sitzt. Denn es<br />
wollte niemand, dass sein <strong>Kind</strong> neben dem „Mörderkind“ zu sitzen kommt.<br />
Die Lehrerin hat nun, obwohl sie eigentlich eine wirklich bemühte, engagierte Lehrerin<br />
war, Jürgen tatsächlich allein in die letzte Reihe gesetzt.<br />
Jürgen saß jetzt also alleine in der letzten Bank, und was glauben Sie, was er getan hat?<br />
Er begann mit allem möglichen wie Radiergummi, Bleistift, Zirkel usw. nach vorne zu<br />
schießen. Es war seine einzige Möglichkeit, mit den Anderen in Interaktion zu treten, auf<br />
sich aufmerks<strong>am</strong> zu machen. Und dann ist er zus<strong>am</strong>mengebrochen.<br />
Bei mir in der Therapie hat er auf meine Frage „Jürgen, wie geht es dir?“ Tränen gezeichnet.<br />
Er hat mir gesagt: „So wie der Himmel weint, wein auch ich.“<br />
Wir haben uns darauf hin die alten Zeichnungen, die er zwei Jahre zuvor gezeichnet<br />
hatte, angesehen und mit den jetzigen verglichen.<br />
Eine psychische<br />
Traumatisierung ist<br />
eine das <strong>Kind</strong> in<br />
seiner psychischen<br />
Entwicklung überfordernde<br />
Lebenserfahrung,<br />
der es wehrlos, hilflos<br />
und unentrinnbar<br />
ausgeliefert ist.<br />
Starke innere und<br />
äußere Eindrücke<br />
überfluten die innere<br />
Wahrnehmung des<br />
<strong>Kind</strong>es und führen<br />
zu einer massiven<br />
Entwicklungsbeeinträchtigung<br />
auf jeder<br />
Entwicklungsstufe.<br />
Die Reaktion der<br />
Gesellschaft nimmt<br />
massiven Einfluss<br />
auf die Entwicklung<br />
traumatisierter<br />
<strong>Kind</strong>er.<br />
Als Jürgen acht<br />
Jahre war, musste er<br />
die Schule wechseln.<br />
Der Grund dafür:<br />
Niemand wollte<br />
neben dem<br />
„Mörderkind“ sitzen.<br />
Hier ist es wieder zu<br />
psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
gekommen. Die<br />
Umwelt hat Jürgens<br />
neue F<strong>am</strong>ilie gemieden,<br />
die Lehrerin hat<br />
ihn in die letzte Bank<br />
gesetzt. Es war eine<br />
so verfahrene<br />
Situation, dass er die<br />
Schule wechseln<br />
musste. Dabei wäre<br />
es gerade in so einer<br />
Situation ganz<br />
besonders wichtig,<br />
dass es nicht noch zu<br />
weiteren Trennungen<br />
kommt.<br />
63
Martin sagt: „Wir<br />
sind eine schlechte<br />
F<strong>am</strong>ilie“ und hat ununterbrochen<br />
Angst,<br />
bereits wegen einer<br />
nicht gemachten<br />
Hausübung auch<br />
ins Gefängnis zu<br />
müssen.<br />
64<br />
Als wir die Differenziertheit der alten Zeichnungen und sein neues Stimmungsbild verglichen<br />
haben, k<strong>am</strong>en wir zu dem Schluss, dass Jürgen einfach nicht in seiner jetzigen<br />
Schulklasse verbleiben kann. Der emotionale und gesellschaftliche Druck war dort einfach<br />
zu groß für ihn. Er hätte dort keine Chance mehr gehabt, obwohl ich sonst immer<br />
der Meinung bin, dass bei so schweren Verlusterlebnissen und Trennungserlebnissen<br />
wenigstens irgend etwas stabil gehalten werden muss, aber in diesem Fall war es zu spät.<br />
Wir konnten ihn dann in eine neue Klasse eingliedern. Wir bemühten uns, noch bessere<br />
Vorbereitungsarbeit zu leisten, wir sprachen im Vorhinein mit den Eltern und Lehrer/innen.<br />
Dass unsere Arbeit schlussendlich Früchte getragen hat, zeigt sich auch an den<br />
Zeichnungen, die Jürgen dann im Lauf der Zeit noch angefertigt hat.<br />
Es waren zwar nach wie vor infantile, nicht so differenzierte Zeichnungen wie vor dieser<br />
neuen Traumatisierung. Trotzdem haben die Bilder dann irgendwann wieder lebendiger<br />
ausgesehen, und somit war es auch in Jürgen wieder lebendiger.<br />
Mit fünfzehn haben sich dann Jürgens Tante und Onkel scheiden lassen, und dann<br />
„konnte“ Jürgen nur mehr Mistkübel anzünden, konnte nur mehr so rebellieren. Er ist kriminell<br />
auffällig geworden, hatte also sehr viel mit der Polizei zu tun und hat dann sogar<br />
ein Moped gestohlen.<br />
Zum Glück sagte er d<strong>am</strong>als bei der Polizei: „Ich will jetzt zur Bogyi und nirgendwo anders<br />
hin“, und er wurde auch tatsächlich zu mir gebracht. So konnte das dann noch aufgefangen<br />
werden.<br />
An diesem Beispiel sieht man einerseits deutlich, welch schreckliche Traumen <strong>Kind</strong>er<br />
verarbeiten können. Andererseits zeigt es, wie schwer die Gesellschaft es diesen<br />
<strong>Kind</strong>ern macht.<br />
Graus<strong>am</strong>e oder unwissende Gesellschaft?<br />
Ich möchte Ihnen weitere Beispiele dafür bringen, was die Gesellschaft – zum Großteil<br />
wohl aus Unwissenheit und Uninformiertheit heraus – <strong>Kind</strong>ern antut.<br />
Wie der Vater so der Sohn?<br />
Ein 8-jähriger Bub, dessen Vater seine kleine Schwester und die Mutter umgebracht hat,<br />
darf plötzlich nicht mehr seinen Freund besuchen.<br />
Die Mutter des Freundes sagt zu ihm: „Ich habe ja auch drei kleine Mädchen, und ich<br />
habe Angst, dass du sie umbringst.“<br />
Diese Frau hatte sicherlich einfach große Angst, Angst um ihre Töchter, so mag ich ihr<br />
auch keinen Vorwurf machen. Dennoch: Es zeigt deutlich, wie wichtig hier Aufklärung<br />
gewesen wäre.<br />
Väter in Haft<br />
Martin (ð Siehe auch S 50) wiederum war sechs Jahre alt, als er mitansehen musste,<br />
wie der Vater seine Lebensgefährtin erschossen hat. Diese Lebensgefährtin war für das<br />
<strong>Kind</strong> eine Ersatzmutter gewesen. Wenn Martin heute von Schulkollegen gehänselt wird,<br />
weil er immer wieder zu seinem Vater ins Gefängnis fahren muss, dann sagt er: „Wartet’s<br />
nur, bis der Papa herauskommt aus dem Gefängnis, der schlägt euch dann alle nieder.“<br />
Oder er sagt: „Wir sind eine schlechte F<strong>am</strong>ilie“ und hat ununterbrochen Angst, Angst z.B.,<br />
bereits wegen einer nicht gemachten Hausübung auch ins Gefängnis zu müssen.<br />
Ein anderer kleiner Bub, ebenfalls knapp sechs Jahre alt, fürchtet sich wahnsinnig vorm<br />
Schulbesuch, vorm Schuleintritt, weil er nicht weiß, was er der Lehrerin und den anderen<br />
<strong>Kind</strong>ern auf die Frage nach seinem Vater antworten soll, denn der sitzt im Gefängnis.<br />
Dabei hatte er sich so sehr auf die Schule gefreut. Anfangs schwindelte er sich irgendwie<br />
über die Antwort drüber, doch eines Tages kommt die Wahrheit zu Tage. Die Reaktion<br />
darauf ist, dass ihn die anderen <strong>Kind</strong>er nicht mehr einladen (dürfen), dass sie nicht mehr<br />
neben ihm sitzen wollen.
Wenn es die anderen wissen ...<br />
Ich brauche vor diesem Fachgremium nicht zu erläutern, wie es sexuell missbrauchten<br />
<strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen geht, wenn sie irgendwo einmal über ihren Missbrauch erzählt<br />
haben. Sie alle wissen, wie schwer es ihnen dann oft gemacht wird, wie leichtfertig die<br />
Gesellschaft sagt: „Das <strong>Kind</strong> hat sich halt so verhalten, dass das passieren musste“ oder<br />
„Die Jugendliche hat sich ja so angezogen, dass sie ja praktisch selber Schuld ist, dass<br />
das passiert ist.“<br />
Und wie oft es trotz – und da hat ja mein Chef, Professor Friedrich, ja sehr viel dazugeholfen<br />
– kontradiktorischer Befragungen zu für die <strong>Kind</strong>er unmöglichen Fragen kommt,<br />
ist haarsträubend. Die <strong>Kind</strong>er sitzen dann zwar im geschützten Kämmerchen, sind aber<br />
trotzdem zusätzlich einer extremen seelischen <strong>Gewalt</strong> ausgesetzt.<br />
Sie bekommen außerdem noch von der Gesellschaft den Vorwurf, dass sie ihre F<strong>am</strong>ilie<br />
zerstört haben, und, und, und.<br />
Ich glaube, ich brauche da keine weiteren Beispiele aufzuzählen, denn das ist Ihnen<br />
alles bekannt.<br />
Ebenfalls schwere Traumatisierungen erleiden <strong>Kind</strong>er, wenn sich ihre Eltern suizidieren.<br />
Da wird oft viel verheimlicht, den <strong>Kind</strong>ern wird nichts oder nicht alles gesagt, und auch<br />
diese Vorenthaltung der Wahrheit ist eigentlich psychische <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong>.<br />
Diese <strong>Kind</strong>er können, wenn sie dann ins Jugendlichenalter kommen, also etwa mit<br />
13, 14 Jahren, dann nur mehr gegen diese Welt rebellieren.<br />
Wenn die Eltern anders sind<br />
Nun noch einmal kurz – wie eingangs erwähnt – zur Situation von <strong>Kind</strong>ern psychisch und<br />
psychiatrisch kranker Eltern.<br />
Solche <strong>Kind</strong>er sind oft Äußerungen wie: „Dein Vater ist ja ein Narr“ oder „Dein Vater ist<br />
ja in der Klapsmühle“ ausgesetzt. Was macht das mit den <strong>Kind</strong>ern, die ohnehin schon<br />
konstant traumatisiert sind und – wie wir alle wissen – Rollen übernehmen, die eigentlich<br />
die Rollenumkehr darstellen?<br />
<strong>Kind</strong>er alkoholkranker Eltern, schizophrener Eltern, ganz zu schweigen von <strong>Kind</strong>ern von<br />
Eltern mit Drogenproblemen oder aber an Aids erkrankten Eltern – da gibt es ganz massive<br />
Berührungsängste der Gesellschaft, womit die Traumatisierung durch die<br />
Gesellschaft beinhart weitergeht.<br />
Ebenso beinhart ist das Verhalten der Gesellschaft gegen oft schwerst traumatisierten<br />
und noch dazu andersfarbigen <strong>Kind</strong>ern.<br />
Kürzlich erst hatte ich einen 13-jähriger Buben aus Ruanda bei mir, der lange, schwerste<br />
Kriegserfahrung mitgemacht hat. Die Mutter wurde direkt neben ihm auf der Flucht<br />
erschossen. Er wurde dann vom Vater, der schon längere Zeit zwecks Studium in Österreich<br />
weilte, irgendwie nach Österreich gebracht. Und dann ist auch der Vater verstorben.<br />
Wir haben in der Therapie über all das geredet, und plötzlich erzählt er mir, wie er in der<br />
U-Bahn verspottet wurde, weil er ein Schwarzer ist!<br />
„Das passiert mir immer wieder“, sagt das <strong>Kind</strong>. Und wissen Sie, was dieser 13-Jährige<br />
Junge darauf weiter gesagt hat? – „Das muss man überhören“, sagte er mit ganz steinerner<br />
Miene, um sich abzuschotten.<br />
Oder ein 4-jähriges Mädchen aus Nigeria, das bei einer Pflegemutter untergebracht ist<br />
fährt mit dieser in der U-Bahn. Da wird die Pflegemutter vor dem <strong>Kind</strong> als „Dealer-Hure“<br />
beschimpft! Das <strong>Kind</strong> beginnt zu weinen, und niemand der Passagiere stellt sich schützend<br />
davor.<br />
Ich selber hatte einmal so ein ähnliches Erlebnis. Da ging es allerdings um eine türkische<br />
F<strong>am</strong>ilie, wo ein Mann auf ein kleines Mädchen und eine hochschwangere Frau losgegangen<br />
ist, sie furchtbar beschimpft hat. Ich stand dann auf, um mich schützend vor<br />
das <strong>Kind</strong> zu stellen. Ich wurde daraufhin aufs Ärgste beschimpft und war eigentlich auch<br />
darauf gefasst, eine „drüberzukriegen“.<br />
„Die Jugendliche hat<br />
sich ja so angezogen,<br />
dass sie ja praktisch<br />
selber Schuld ist,<br />
dass das passiert ist.“<br />
<strong>Kind</strong>er, deren Eltern<br />
z.B. alkoholkrank,<br />
drogenabhängig, an<br />
AIDS erkrankt oder<br />
deren Eltern psychisch<br />
krank sind,<br />
aber auch <strong>Kind</strong>er,<br />
deren Eltern eine<br />
andere Hautfarbe<br />
haben, werden von<br />
der Gesellschaft<br />
oft beinhart traumatisiert.<br />
65
66<br />
Oder aber ich sitze im Taxi, und <strong>Kind</strong>er spielen auf der Straße. Sie flitzen mit diesen modernen<br />
Rollern über die Straße, und der Taxifahrer sagt: „Na eigentlich tät’ ich sie <strong>am</strong><br />
liebsten gleich niederführen, die brauchen wir eh nicht.“ Er sagte dies, weil es sich um<br />
ausländische <strong>Kind</strong>er handelte. Ich bin sofort an der nächsten Ecke ausgestiegen.<br />
Wenn wir gegen psychische <strong>Gewalt</strong> in der Gesellschaft ankämpfen wollen, dann liegt es<br />
auch an jedem einzelnen von uns, dann müssen wir eben auch Zivilcourage zeigen!<br />
Wenn <strong>Kind</strong>er anders sind<br />
Die Gesellschaft verübt aber auch dort psychische <strong>Gewalt</strong>, wo es um die Verspottung<br />
und Ablehnung von <strong>Kind</strong>ern mit körperlichen Mängeln geht.<br />
Denken wir an <strong>Kind</strong>er, die unter Minderwuchs leiden, denken wir an all die „bösen“ <strong>Kind</strong>er,<br />
denken wir an <strong>Kind</strong>er, die z.B. zu uns an die Klinik kommen und die oft befürchten, wenn<br />
sie dann wieder in die Schule gehen, als „Psycherl“ oder „Behinderte/r“ bezeichnet zu<br />
werden.<br />
In einer Gesellschaft, wo Worte wie „Behinderte/r“ als Schimpfworte verwendet werden,<br />
führt das zu einer weiteren Traumatisierung der Betroffenen.<br />
Denken wir an fremd untergebrachte <strong>Kind</strong>er, in WGs zum Beispiel. Es gibt viele, sagen<br />
wir einmal „schlimme“ Jugendliche, die irgendwo Wände beschmieren oder irgendwas<br />
kaputt machen; wenn aber in diesem Wohnblock eine WG ist, dann sagen alle Bewohner<br />
des Wohnblocks: „Das waren sicher diese acht <strong>Kind</strong>er aus dieser WG-Wohnung.“<br />
Traumatisierung durch Hilflosigkeit<br />
Denken wir aber jetzt noch an die Reaktion der Gesellschaft bei rein natürlichen<br />
Ereignissen, natürlichen Verlusten.<br />
Unlängst war eine Mutter bei mir, deren kleines <strong>Kind</strong> gestorben ist. Sie musste erleben,<br />
dass die Gesellschaft, ihre Umgebung darauf mit Rückzug reagierte.<br />
Und das ist kein bösartiges, sondern das ist ein hilfloses Sichzurückziehen.<br />
Am Tag nachdem ihr <strong>Kind</strong> gestorben war, waren plötzlich keine <strong>Kind</strong>er mehr im Hof.<br />
„Es herrschte Totenstille.“ Diese Mutter erzählt mir, genauso wie auch andere Mütter, die<br />
ihr <strong>Kind</strong> verloren haben, dass sie kaum noch durch das Wohnhaus gehen will, weil dann<br />
plötzlich überall die Türen zugehen und sie sich so ganz eins<strong>am</strong> und alleine fühlt.<br />
Die Türen gehen zu, weil sich keiner traut, mit der Problematik umzugehen.<br />
Auch das ist eine Form von psychischer <strong>Gewalt</strong>.<br />
Und als diese Mutter dann einmal von anderen Eltern gefragt wurde, wie sie ihr helfen<br />
könnten, hat sie nur mehr gebeten: „Bitte seid ganz normal zu mir und lasst die <strong>Kind</strong>er<br />
wieder in den Hof.“<br />
Hier sieht man deutlich, wie oft gut Gemeintes und unsere Angst vor dem Trauma, unsere<br />
Angst vor dem Anderssein, dazu führen, das Trauma zu prolongieren.<br />
Mir graut’s vor Dir!<br />
Was ich d<strong>am</strong>it aufzeigen wollte war, auf welch vielfältige Weise die Gesellschaft<br />
Menschen, <strong>Kind</strong>er zu traumatisieren vermag.<br />
Welchen Platz haben diese <strong>Kind</strong>er in der Gesellschaft, wenn man mehr oder weniger einem<br />
„Mörderkind“ das „Mörderische“ schon voraussagt? Was, wenn so ein <strong>Kind</strong> dann<br />
wie alle anderen gleichaltrigen <strong>Kind</strong>er einmal in der Schulpause rauft und dann sofort<br />
zum „kleinen Mörder“ gestempelt wird? Was macht also die Gesellschaft mit traumatisierten<br />
<strong>Kind</strong>ern, bzw. was müssen dann oft <strong>Kind</strong>er mit dieser Gesellschaft machen?<br />
Wir alle sind die Gesellschaft, und wir alle müssen unermüdlich gegen diese Formen der<br />
psychischen <strong>Gewalt</strong>, der Traumatisierung kämpfen.
Wenn wir jetzt zum Beispiel auch an jugendliche Banden denken. Da hat sich einiges<br />
verändert; sie kämpfen teilweise schon mit Waffen gegeneinander. Warum nur? Eine<br />
konstruktive Auseinandersetzung ist immer seltener geworden. Abgrenzung dominiert<br />
das Miteinander. Wo früher manchmal noch in kritischen Diskursen neue Wege gesucht<br />
wurden, gilt es mehr den je andere zu entwerten und niederzumachen. Beispiele dafür<br />
sind Skins und Hooligans, bei denen idealisierender Zus<strong>am</strong>menschluss innerhalb der<br />
Gruppe und entwertende Ausgrenzung anderer Hand in Hand gehen.<br />
Keine Gesellschaft hat je auf Dauer existiert, die unberücksichtigt ließ, dass jede Kette<br />
nur so stark sein kann wie ihr schwächstes Glied. Die größte Gefahr der heutigen<br />
Gesellschaft liegt in einer emotionalen Entdifferenzierung, die durch noch so große kognitive<br />
Bildung und Ausbildung nicht kompensiert werden kann. Die Herausforderung an<br />
uns alle liegt in der Ausdifferenzierung von Bewertungs- und Entscheidungsstrukturen,<br />
in der Verbesserung von sozialen Verständigungsprozessen, in der verbesserten<br />
Abstimmung eigener Erlebniswelten mit anderen, also einer Verbesserung der sozialen<br />
Wahrnehmung und Erkenntnis, beschreibbar im Begriff einer emotionalen Differenzierung.<br />
Die emotionale Bedeutung der Dinge lässt uns handeln. Viele Beispiele zeigen<br />
das. Wir werden nicht durch unser Wissen zu Grunde gehen oder überleben, unsere<br />
Werte und Haltungen werden darüber entscheiden. Eine emotionale Kultivierung, emotionale<br />
Differenzierung und Erziehung, d.h. die Entwicklung eines Verständnisses für die<br />
eigene Befindlichkeit und die der anderen ist angesagt.<br />
Wer ist das Gretchen? Wer ist der Faust? Wovor graut’s? Ich danke für die Aufmerks<strong>am</strong>keit!<br />
Wir werden nicht<br />
durch unser Wissen<br />
zu Grunde gehen<br />
oder überleben, unsere<br />
Werte und<br />
Haltungen werden<br />
darüber entscheiden.<br />
67
Auf zwei geschlossene<br />
kommt im<br />
Moment ca. eine<br />
geschiedene Ehe.<br />
Hochgerechnet<br />
erlebt mittlerweile<br />
ungefähr jedes dritte<br />
<strong>Kind</strong> die Trennung<br />
seiner Eltern mit.<br />
Das Defizitmodell:<br />
Zu einer gelungen<br />
Sozialisation braucht<br />
das <strong>Kind</strong> beide<br />
Elternteile. Ist dies<br />
nicht der Fall, hat<br />
das negative<br />
Konsequenzen für<br />
die kindliche<br />
Entwicklung.<br />
68<br />
„Erbarme dich und lass’ mich leben“<br />
„Scheidung – psychische <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern?“<br />
Referent: Dr. Harald Werneck<br />
Der Titel meines Referates ist natürlich bewusst provokant.<br />
Korrekter müsste die Frage etwa lauten: „Wann und unter welchen Bedingungen kann<br />
eine Trennung der Eltern negative Auswirkungen auf die psychische Entwicklung der betroffenen<br />
<strong>Kind</strong>er haben?“ Oder vielleicht noch neutraler formuliert: „Welche möglichen<br />
Nachteile – aber auch: welche möglichen Vorteile – hat denn eine Trennung der Eltern<br />
für das betroffene <strong>Kind</strong>, und unter welchen Bedingungen überwiegen für welches <strong>Kind</strong><br />
die Vorteile und unter welchen Bedingungen die Nachteile?“<br />
Zu diesem ganzen Fragenkomplex möchte ich Ihnen nun im Folgenden ein paar<br />
Antworten und Anregungen aus der aktuellen Scheidungsforschung vorstellen.<br />
Zahlen und Fakten<br />
Zuerst aber ein paar demografische Kennzahlen dazu von der Statistik Österreich bzw.<br />
Statistik Austria, ehemals Statistisches Zentral<strong>am</strong>t, d<strong>am</strong>it Sie sich die Dimension oder<br />
die Relevanz der Problematik und des Themas ein bisschen bewusst machen können:<br />
1999 lagen die Scheidungsquoten bundesweit bei 40,5 %, in Wien bei 51,4 %. In den<br />
70er Jahren war es nicht einmal die Hälfte davon. Auf zwei geschlossene kommt im<br />
Moment ca. eine geschiedene Ehe. Die Zahl der von der Scheidung ihrer Eltern betroffenen<br />
<strong>Kind</strong>er betrug 1999 österreichweit insges<strong>am</strong>t ungefähr 21.000, davon waren<br />
rund 17.000 Minderjährige, unter 19 Jahren, mit einem Durchschnittsalter von ungefähr<br />
9 Jahren.<br />
Aus der Perspektive der <strong>Kind</strong>er und Jugendlichen beträgt die Wahrscheinlichkeit, die<br />
Scheidung der Eltern mitzuerleben, 25 %.<br />
In diesem Zus<strong>am</strong>menhang ist auch zu erwähnen, dass das Trennungsrisiko bei Lebensgemeinschaften,<br />
vor allem auf Grund der geringeren Abhängigkeiten der Partner voneinander,<br />
wahrscheinlich noch um mindestens 50 % höher als bei Ehegemeinschaften<br />
ist. Das heißt, die Zahl der von der Trennung der Eltern betroffenen <strong>Kind</strong>er liegt de facto<br />
noch bedeutend über diesen 25 %; hochgerechnet erlebt momentan mittlerweile also ungefähr<br />
jedes dritte <strong>Kind</strong> die Trennung der Eltern mit.<br />
Die entwicklungs- und f<strong>am</strong>ilienpsychologischen Konsequenzen von Trennungen sind daher<br />
nicht nur für die betroffenen <strong>Kind</strong>er von nachhaltiger Bedeutung, sondern enthalten<br />
durchaus eine soziologische, fast schon gesellschaftspolitische Komponente.<br />
Bedeutung der Trennung für das <strong>Kind</strong><br />
Was kann nun die elterliche Trennung für das <strong>Kind</strong> bedeuten?<br />
Am Beginn einer jeden seriösen Auseinandersetzung mit der Trennungsproblematik<br />
muss fast – entsprechend einem differenziellen Ansatz – die Feststellung stehen, dass<br />
es „die Scheidungsf<strong>am</strong>ilie“ oder „das Trennungskind“ natürlich nicht gibt.<br />
Es erscheint mir weiters wichtig, auf die Notwendigkeit eines perspektivischen Zugangs<br />
hinzuweisen, d.h. es ist zu beachten, dass das Scheidungsgeschehen in der Regel von<br />
allen Involvierten sehr unterschiedlich gesehen und beurteilt wird.<br />
Mavis Hetherington (1989), eine der Pionierinnen der Scheidungsforschung, sprach in<br />
diesem Zus<strong>am</strong>menhang daher immer von der Scheidung der Frau, von der Scheidung<br />
des Mannes und von der Scheidung des <strong>Kind</strong>es – was ausdrücken soll, dass man sich<br />
dieser perspektivischen Zugangsweise stets bewusst sein sollte.
Die noch immer mancherorts anzutreffende Auffassung, dass die Trennung der Eltern in<br />
jedem Fall eine Form psychischer <strong>Gewalt</strong> bedeutet, geht wissenschaftshistorisch auf das<br />
so genannte „Defizitmodell“ zurück, wonach die Verfügbarkeit beider Elternteile die<br />
Voraussetzung für eine gelungene Sozialisation darstellt. Die Abwesenheit eines<br />
Elternteiles bedingt laut diesem Modell automatisch negative Konsequenzen für die kindliche<br />
Entwicklung.<br />
Dieses Forschungsparadigma wurde ungefähr in den 80er Jahren von einem „Reorganisationsmodell“<br />
abgelöst, wonach eine F<strong>am</strong>ilie durch die Trennung der Eltern nur neu organisiert<br />
wird. Die f<strong>am</strong>iliären Beziehungen hören selbstverständlich nicht auf. Die alte<br />
Kernf<strong>am</strong>ilie bleibt kognitiv präsent, und vor allem überdauern die emotionalen Bindungen<br />
der betroffenen <strong>Kind</strong>er an beide Elternteile, zumindest in den allermeisten Fällen, deren<br />
Trennung.<br />
Parallel zu diesem Paradigmen-Wechsel begann auch zunehmend ein Wechsel von<br />
einer klinischen Perspektive des Scheidungsgeschehens hin zu einer Sichtweise von<br />
Scheidung als eine neutral zu bewertende Übergangsphase, eine „Transition“ im<br />
F<strong>am</strong>ilienentwicklungsprozess.<br />
Man kann, wie die Zahlen ja gezeigt haben, mittlerweile fast schon von normativem<br />
Charakter reden, wenn Sie bedenken: 50 % Scheidungsquote.<br />
An dieser Stelle möchte ich aber zur Relativierung des Problems klarstellen:<br />
Die Mehrzahl der <strong>Kind</strong>er bewältigt das Ereignis der Trennung ihrer Eltern ohne wirklich<br />
gravierende mittel- und längerfristige Beeinträchtigungen der Entwicklung und wird nicht<br />
bis kaum klinisch auffällig.<br />
Wenn das doch der Fall ist, dann meist als Folge multipler Belastungen für das <strong>Kind</strong>, wobei<br />
die Trennung dann meist nur das auslösende Moment darstellt.<br />
Bedenkt man, dass ein wichtiger Aspekt von psychischer <strong>Gewalt</strong> im Ausgeliefertsein<br />
liegt, in der Machtlosigkeit und in der Unkontrollierbarkeit eines nicht erwünschten<br />
Ereignisses, das einem widerfährt, so hat die Trennung der Eltern aber natürlich schon<br />
auch immer etwas mit <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong> zu tun.<br />
Denn die <strong>Kind</strong>er wollen in der Regel ja, dass sich ihre Eltern vertragen und beis<strong>am</strong>men<br />
bleiben.<br />
So gesehen wird die Trennung letztendlich ohne echte Einflussmöglichkeit und gegen<br />
den Willen des <strong>Kind</strong>es vollzogen.<br />
Keine Scheidung – <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern?<br />
Andererseits muss aber auch einmal die Frage gestellt werden: „Können <strong>Kind</strong>er denn<br />
fallweise nicht vielleicht sogar mehr darunter leiden, wenn sich die Eltern nicht trennen?“<br />
– Sei es durch die anhaltend feindselige f<strong>am</strong>iliäre Atmosphäre, geprägt von permanenten<br />
Streitigkeiten zwischen den Eltern oder auch durch den mehr oder weniger ausgesprochenen<br />
Vorwurf, dass die elterliche Partnerschaft nur wegen der <strong>Kind</strong>er – zumindest<br />
formell – aufrecht erhalten werden muss?<br />
Die einleitende Titelfrage müsste dann ebenso provokant ergänzt werden durch „Keine<br />
Scheidung – psychische <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern?”<br />
Sie sehen schon an der Umkehrbarkeit des Titels meines Referates die ganze Differenziertheit.<br />
Es muss also der jeweilige Einzelfall beurteilt werden.<br />
Außerdem bin ich der Meinung, es sollte weniger das Ereignis Scheidung bzw. Trennung<br />
der Eltern an sich Gegenstand des eigentlichen Interesses sein, sondern vielmehr die<br />
vielfältigen Rahmenbedingungen, vor der Trennung, während der Trennung und natürlich<br />
vor allem auch nach der Trennung – im Sinne eines „kontextualistischen Prozessmodelles“,<br />
wie es so schön genannt wird.<br />
Das Reorganisationsmodell:<br />
Eine<br />
F<strong>am</strong>ilie wird durch<br />
die Trennung der<br />
Eltern schlichtweg<br />
nur neu organisiert.<br />
Emotionale<br />
Bindungen bleiben<br />
erhalten.<br />
69
Besonders kleine<br />
<strong>Kind</strong>er im Vorschulalter<br />
fühlen sich auf<br />
Grund ihres egozentrischen<br />
Denkens zumeist<br />
schuldig an der<br />
Trennung der Eltern.<br />
70<br />
Die Wichtigkeit der Rahmenbedingungen<br />
Zustände und Umstände<br />
Neuere Studien aus der Scheidungs- und Trennungsforschung konzentrieren sich daher<br />
auch weniger auf das eigentlich kritische Ereignis der Trennung an sich (wobei immer<br />
die Unterscheidung zwischen dem Zeitpunkt der rechtlichen, emotionalen oder ökonomischen<br />
Trennung getroffen werden müsste). Sie konzentrieren sich vielmehr auf die<br />
Untersuchung der spezifischen f<strong>am</strong>iliären Verhältnisse oder einer Reihe von Faktoren,<br />
die mehr oder weniger mit der Trennung assoziiert sind und die über die psychische<br />
Entwicklung der <strong>Kind</strong>er Aufschluss geben können.<br />
Ich möchte Ihnen jetzt nur exemplarisch einige aktuelle Resultate aus einer größer angelegten<br />
Studie aus Deutschland vorstellen, nämlich der Kölner Längsschnittstudie von<br />
Ulrich Schmidt-Denter und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: Hier wurde über<br />
insges<strong>am</strong>t 6 Jahre hinweg untersucht, unter welchen Bedingungen das <strong>Kind</strong>eswohl trotz<br />
einer elterliche Trennung noch <strong>am</strong> ehesten gewahrt bleibt.<br />
Eine Aussage dieser Studie deckt sich mit nahezu allen einschlägigen Studienergebnissen:<br />
Die möglichen Folgen einer Scheidung variieren von Fall zu Fall sehr stark für<br />
die betroffenen <strong>Kind</strong>er, und zwar vor allem in Abhängigkeit vom Alter, Geschlecht und<br />
Temper<strong>am</strong>ent des <strong>Kind</strong>es. Weiters von Wichtigkeit sind die Eltern-<strong>Kind</strong>-Beziehung vor<br />
und nach der Scheidung, die sozioökonomische Situation und das ges<strong>am</strong>te soziale<br />
Umfeld. Ebenso sind der Verlauf der Trennung, die Qualität der Nach-Scheidungs-<br />
Beziehungen der Eltern, das Wohlbefinden der Eltern usw. von großer Bedeutung.<br />
Um ein Beispiel herauszugreifen: Bezüglich des Alters ist etwa sicher erwähnenswert,<br />
auch für mich als Entwicklungspsychologe, dass Vorschulkinder und jüngere<br />
Volksschulkinder in der Regel von Trennungsfolgen stärker betroffen sind als ältere, weil<br />
sie auf Grund des durch ihr Alter bedingten egozentrischen Denkens oft geneigt sind,<br />
das Fernbleiben eines Elternteiles auf sich zu beziehen und sich dafür sozusagen schuldig<br />
oder verantwortlich zu fühlen.<br />
Ergebnisse: Die Verlaufstypen<br />
Bei dieser deutschen Längsschnittstudie konnten nun hinsichtlich der kindlichen<br />
Belastungen durch die elterliche Trennung insges<strong>am</strong>t drei Verlaufstypen identifiziert<br />
werden:<br />
Das waren einmal die hochbelasteten <strong>Kind</strong>er, die durchwegs über den ges<strong>am</strong>ten<br />
Untersuchungszeitraum von 6 Jahren hinweg relativ deutliche und markante Verhaltensauffälligkeiten<br />
gezeigt haben.<br />
Eine zweite Gruppe, die so genannten „Belastungsbewältiger“, sind gekennzeichnet<br />
durch anfangs hohe, dann aber stetig abnehmende Symptombelastung.<br />
Und drittens, die so genannten „gering Belasteten“, die durchgängig gering belastet, wenig<br />
verhaltensauffällig waren und sozusagen ein bisschen „immun“ schienen.<br />
Interessant sind jetzt in weiterer Folge die Beschreibungen dieser drei Verlaufsformen<br />
über die Zeit hinweg und vor allem die daraus ableitbaren Risikofaktoren auf der einen<br />
Seite und die protektiven Faktoren für Verhaltensauffälligkeiten von <strong>Kind</strong>ern nach der<br />
elterlichen Trennung auf der anderen Seite.<br />
Risikofaktoren<br />
Der mit Abstand markanteste Risikofaktor war eine negativ erlebte Beziehung zum getrennt<br />
lebenden Vater. Weitere Risikofaktoren, die zu Verhaltensauffälligkeiten der <strong>Kind</strong>er<br />
führten, waren ungelöste Partnerschafts- und Trennungsprobleme, eine misslungene<br />
Redefinition der Beziehung zwischen den Elternteilen sowie ein sich verändernder bzw.<br />
verschlechternder elterlicher Erziehungsstil.
Also in erster Linie Probleme auf der Elternebene.<br />
Die finanzielle Ausstattung der betroffenen F<strong>am</strong>ilie hingegen hat in dieser Studie nicht<br />
so eine große Rolle gespielt.<br />
Interessant ist auch, dass die soziale Stigmatisierung von Scheidungskindern offensichtlich<br />
auch nicht mehr so stark ist, wie es vielleicht vor 10, 20 Jahren oder vor einer<br />
Generation noch der Fall war.<br />
Protektive Faktoren<br />
Als protektiv erwiesen sich in erster Linie, analog zum wichtigsten Risikofaktor, eine positiv<br />
erlebte Beziehung zum Vater, eine positive Beziehung zu den Geschwistern,<br />
Stabilität und Unterstützung in der Mutter-<strong>Kind</strong>-Beziehung und eine Konsensbildung zwischen<br />
den nunmehr getrennt lebenden Eltern.<br />
Wichtig sind natürlich auch noch individuelle Kompetenzen, personale Ressourcen der<br />
<strong>Kind</strong>er, aber auch das Lebensalter der <strong>Kind</strong>er, sozusagen als Trägervariable für<br />
Entwicklungsschritte, welche die Bewältigung der Trennungsproblematik erleichtern,<br />
wie etwa die hilfreiche Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, ein gesichertes<br />
Selbstkonzept oder auch Temper<strong>am</strong>ents- und Persönlichkeitseigenschaften. Ergebnisse<br />
aus der Resilienzforschung bestätigen, dass es – wie die Gruppe der gering Belasteten<br />
aus der Longitudinalstudie – offenbar <strong>Kind</strong>er gibt, die trotz ungünstigster f<strong>am</strong>iliärer<br />
Verhältnisse und Lebensumstände über ein erstaunlich hohes Maß an Widerstandsfähigkeit<br />
verfügen, was vor allem durch eine besonders gute, sichere Bindung zu den<br />
Eltern in den ersten Lebensjahren erklärt werden kann.<br />
Häufige Scheidungsfolgen<br />
An dieser Stelle sei erwähnt, dass es natürlich mittlerweile eine Fülle an Studien über<br />
Scheidungsfolgen für die <strong>Kind</strong>er gibt. Ich möchte hier in diesem Rahmen nur kurz die<br />
Metaanalyse von Amato und Keith (1991) erwähnen, die bei insges<strong>am</strong>t 92 Studien zu<br />
den Scheidungsfolgen gehäuft Hinweise für folgende Beeinträchtigungen der betroffenen<br />
<strong>Kind</strong>er fanden: Das waren<br />
1) externalisierende Verhaltensweisen, wie z.B. Aggressivität,<br />
2) internalisierende Verhaltensauffälligkeiten wie Ängste, Depressionen,<br />
3) Schul- und Leistungsprobleme,<br />
4) Auffälligkeiten im Sozialverhalten, vor allem in Richtung verminderter sozialer<br />
Aktivitäten,<br />
5) langfristige Beeinträchtigungen im psychischen und physischen Wohlbefinden – das<br />
heißt, diese Menschen hatten dann später im Erwachsenenalter auch mehr<br />
Gesundheitsprobleme. Ebenso resultierten daraus<br />
6) negativere Einstellungen zur Ehe und als Erwachsene ein höheres Scheidungsrisiko.<br />
In diesem Zus<strong>am</strong>menhang will ich schon einschränkend festhalten, dass manche dieser<br />
Resultate methodisch durchaus anzweifelbar sind, vor allem weil Scheidungsfolgen<br />
eben nie ausschließlich auf die Veränderungen in der F<strong>am</strong>ilienstruktur zurückgeführt werden<br />
können, sondern immer auch im ges<strong>am</strong>ten Lebenskontext der F<strong>am</strong>ilie und ihrer<br />
Mitglieder zu sehen sind.<br />
Nicht erst die Scheidung macht einen Unterschied<br />
für die <strong>Kind</strong>er<br />
Weiters gilt es natürlich nicht nur, die mutmaßlichen Effekte einer Scheidung auf die<br />
Entwicklung der <strong>Kind</strong>er zu berücksichtigen, sondern auch die negativen f<strong>am</strong>iliären<br />
Umstände und Entwicklungen, die möglicherweise schon lange vor der eigentlichen<br />
Trennung der Eltern die <strong>Kind</strong>er beeinträchtigten.<br />
71
Streng genommen<br />
stellen elterliche<br />
Konflikte immer<br />
auch eine Form<br />
zumindest indirekter<br />
psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
<strong>am</strong> <strong>Kind</strong> dar.<br />
Wenn das <strong>Kind</strong> als<br />
Spielball der<br />
Interessen des jeweiligen<br />
Elternteils<br />
missbraucht wird,<br />
wird psychische<br />
<strong>Gewalt</strong> ausgeübt.<br />
Vor allem dann,<br />
wenn das <strong>Kind</strong> und<br />
das <strong>Kind</strong>eswohl vorsätzlich<br />
und bewusst<br />
vorgeschützt werden,<br />
um eigene<br />
Interessen durchzusetzen<br />
oder zu<br />
fördern<br />
72<br />
Etwas allgemeiner und offener ließe sich dann formulieren, dass elterliche Konflikte das<br />
psychische Wohlergehen von <strong>Kind</strong>ern beeinflussen sowie ihre Fähigkeiten, im<br />
Erwachsenenalter intime Beziehungen aufzubauen, f<strong>am</strong>iliale gesellschaftliche<br />
Verbindungen aufrecht zu erhalten, im sozioökonomischen Bereich Leistungen zu<br />
erbringen und positive Elternbeziehungen zu etablieren.<br />
So gesehen stellen elterliche Konflikte natürlich immer auch eine Form zumindest indirekter<br />
psychischer <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong> dar.<br />
Direktere Formen der psychischen <strong>Gewalt</strong> häufen sich allerdings im Zuge der elterlichen<br />
Trennung. So kann bei einer Trennung z.B. sehr oft eine temporäre Bevorzugung des<br />
gleichgeschlechtlichen <strong>Kind</strong>es beobachtet werden. Dies ist vor allem während der<br />
Trennungszeit erklärbar, etwa durch die Theorie des „kollusiven Partnersubstituts“, wonach<br />
das andersgeschlechtliche <strong>Kind</strong> gewissermaßen den nunmehr ungeliebten oder<br />
vielleicht sogar verhassten Partner repräsentiert.<br />
<strong>Kind</strong>er im Spannungsfeld der Eltern<br />
Das führt mich jetzt zu einem der Hauptprobleme für <strong>Kind</strong>er im Zuge elterlicher<br />
Trennungen, nämlich dass es Erwachsenen offensichtlich selten gelingt – und wahrscheinlich<br />
nur zu einem gewissen Ausmaß gelingen kann –, zwischen gestörter<br />
Partnerbeziehung und Eltern-<strong>Kind</strong>-Verhältnis entsprechend zu differenzieren.<br />
Eine wirklich strenge kognitive Trennung der gescheiterten Paarebene von der weiterhin<br />
bestehenden Elternebene gelingt in den allerseltensten Fällen. Beide sozialen<br />
Subsysteme beeinflussen sich einfach wechselseitig zu sehr; rationale Einsicht in eine<br />
notwendige Trennung dieser beiden Ebenen und emotionale Vorbehalte befinden sich<br />
oft in einem Widerspruch, was sich in irrationalen Ängsten um das <strong>Kind</strong> äußern kann.<br />
So wird zum Beispiel dem anderen Partner zwar grundsätzlich eine Kompetenz zugesprochen,<br />
aber man hat doch immer ein ungutes Gefühl, wenn sich das <strong>Kind</strong> längere<br />
Zeit bei diesem aufhält.<br />
Besonders krass und deutlich wird diese Vermischung der Partner- mit der Eltern-<strong>Kind</strong>-<br />
Ebene, wenn <strong>Kind</strong>er im Zuge des Trennungsprozesses mehr oder weniger bewusst instrumentalisiert<br />
werden, also als Spielball der jeweiligen Interessen beider Elternteile<br />
missbraucht werden.<br />
Hier scheint es mir in vielen Fällen tatsächlich berechtigt, von einer Form psychischer<br />
<strong>Gewalt</strong> zu sprechen, vor allem dann, wenn das <strong>Kind</strong> und das <strong>Kind</strong>eswohl vorsätzlich und<br />
bewusst vorgeschützt werden, um eigene Interessen durchzusetzen oder zu fördern.<br />
Und ich denke, dass hier der Punkt ist, wo wirklich alle, ohne Ausnahme, Mütter, Väter,<br />
alle <strong>am</strong> Trennungsprozess Beteiligten, also gegebenenfalls auch alle in irgendeiner<br />
Form professionell d<strong>am</strong>it Befassten, sich laufend fragen müssen, wie sehr denn bei den<br />
Vorgangsweisen bzw. Ratschlägen oder Entscheidungen tatsächlich das <strong>Kind</strong>eswohl im<br />
Vordergrund steht. Denn oft geht es – gar nicht unbedingt in böser Absicht – um ganz<br />
andere Interessen.<br />
Bedenken Sie, dass das <strong>Kind</strong> durch die angespannte f<strong>am</strong>iliäre Situation ohnehin schon<br />
stark belastet ist. Ich meine, alle Beteiligten – und ich betone: alle Beteiligten – täten gut<br />
daran, bei Entscheidungen, die <strong>Kind</strong>er betreffen, etwa im Zuge eines Scheidungsprozesses,<br />
zuallererst die eigenen Motive gründlich und ehrlich vor sich selbst zu hinterfragen.<br />
Nur so kann verhindert werden, dass die psychische <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong>, die durch<br />
die angespannte f<strong>am</strong>iliäre Situation ohnehin in den meisten Fällen bereits Platz gegriffen<br />
hat, sich noch weiter ausbreitet und mutwillig potenziert wird, das <strong>Kind</strong> also noch einmal<br />
psychisch „vergewaltigt“ wird.
Die Obsorgefrage<br />
Erlauben Sie mir an dieser Stelle, vor allem auch aufgrund der Aktualität durch die geplante<br />
<strong>Kind</strong>schaftsrechtsreform, kurz ein paar Sätze aus psychologischer Sicht zur<br />
Obsorgefrage. Mir geht es primär um die Beziehungsgestaltung innerhalb der<br />
Ursprungsf<strong>am</strong>ilie und erst sekundär um die juristische Kategorie des gemeins<strong>am</strong>en<br />
Sorgerechtes.<br />
Aus psychologischer Sicht scheinen mir jedenfalls für eine vernünftige Regelung zum<br />
Wohl der betroffenen <strong>Kind</strong>er einige Voraussetzungen förderlich, wenn nicht teilweise<br />
unabdingbar:<br />
l Da wäre vorerst ein Mindestmaß an Willen aller Beteiligten zu konstruktiven<br />
Lösungen, gegebenenfalls unter Inanspruchnahme von externen Hilfestellungen wie<br />
etwa im Zuge des Scheidungsmediationsprojektes.<br />
l Eine weitere Voraussetzung wäre eine Unterstützung der psychischen Stabilität des<br />
<strong>Kind</strong>es durch eine gewisse Kontinuität und Verlässlichkeit der Eltern-<strong>Kind</strong>-Kontakte,<br />
aber auch durch einen Grundkonsens in den Erziehungskonzepten beider Elternteile.<br />
Auch die Großeltern sollten hier eingebunden werden, wenn sie beteiligt sind.<br />
l Der nächste Punkt: Vermeidung von Loyalitätskonflikten – also das <strong>Kind</strong> keinen<br />
Loyalitätskonflikten aussetzen, keine exklusiven Bündnisse mit dem <strong>Kind</strong> anstreben.<br />
l Feindbildprojektionen so weit wie möglich vermeiden.<br />
l Aber auch keine Überfrachtung der Beziehung mit dem <strong>Kind</strong> anstreben, keine übertriebene<br />
Nähe, was oft aus Schuldgefühlen, etwas Versäumtes nachzuholen, resultiert.<br />
Das klingt einfach, ist aber in der Praxis natürlich sehr schwer umzusetzen.<br />
l Weiters keine Konkurrenzkämpfe der Eltern um die Gunst der <strong>Kind</strong>er.<br />
Eine sinnvolle gemeins<strong>am</strong>e Obsorge beider Elternteile setzt zweifellos einen beträchtlichen<br />
psychischen Reifegrad der Eltern voraus und auch die Fähigkeit, konsensual zumindest<br />
eine gewisse Struktur der Alltagsabläufe für das betroffene <strong>Kind</strong> zu entwickeln.<br />
Davon hängt es im Wesentlichen ab, ob die gemeins<strong>am</strong>e Obsorge im Einzelfall ein geeignetes<br />
Mittel darstellen kann, um die motivationale Bereitschaft beider Eltern auch<br />
nach der Trennung zu erhöhen, die elterliche Verantwortungsgemeinschaft jetzt unter<br />
geänderten Bedingungen aufrecht zu erhalten.<br />
Unter all den genannten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen – und nur unter diesen<br />
– kann sich diese gesetzliche Regelung über das Gefühl der geteilten Verantwortung<br />
auch psychologisch positiv auf die Eltern-<strong>Kind</strong>-Beziehungen und auf die Kommunikations-<br />
und Kooperationsbereitschaft der Eltern untereinander sowie deren Motivation zur<br />
eigenständigen Umsetzung vernünftiger Regelungen auswirken.<br />
Aber, wie gesagt: nur unter diesen Bedingungen.<br />
Gemeins<strong>am</strong>e Obsorge kann sicher nicht funktionieren, wenn es nur als formale Regelung<br />
verstanden wird oder sogar als Plattform für eine neue Runde im Machtk<strong>am</strong>pf der Eltern,<br />
etwa für Unterhaltsforderungen, missbraucht wird.<br />
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich vor der Gefahr einer neuerlichen, zusätzlichen<br />
Instrumentalisierung des <strong>Kind</strong>eswohls durch eine ideologisch geführte politische Debatte<br />
warnen. Denn hier entwickelt sich sehr leicht eine gewisse Eigendyn<strong>am</strong>ik, bei welcher<br />
es in Wirklichkeit nur vordergründig um eine optimale Regelung im Sinne der <strong>Kind</strong>er geht.<br />
Dadurch würde den <strong>Kind</strong>ern in Wirklichkeit nur doppelt und dreifach psychische <strong>Gewalt</strong><br />
angetan. Hier darf es ausschließlich um die Durchsetzung der Interessen der betroffenen<br />
<strong>Kind</strong>er gehen und nicht um die Durchsetzung der Interessen irgendwelcher Parteien,<br />
irgendwelcher Interessenvertretungen, sonstiger Institutionen und auch nicht um jene der<br />
Eltern.<br />
Gemeins<strong>am</strong>e Obsorge<br />
ist u.a. nur dann<br />
sinnvoll, wenn: ein<br />
Mindestmaß an<br />
Willen aller Beteiligten<br />
zu konstruktiven<br />
Lösungen vorhanden<br />
ist; eine gewisse<br />
Kontinuität und<br />
Verlässlichkeit der<br />
Eltern-<strong>Kind</strong>-Kontakte<br />
gegeben ist; ein<br />
Grundkonsens über<br />
das Erziehungskonzept<br />
besteht; das<br />
<strong>Kind</strong> in keinen<br />
Loyalitätskonflikt<br />
gebracht wird; es<br />
keine Konkurrenzkämpfe<br />
der Eltern<br />
um die Gunst der<br />
<strong>Kind</strong>er gibt.<br />
Gemeins<strong>am</strong>e<br />
Obsorge kann sicher<br />
nicht funktionieren,<br />
wenn sie nur als formale<br />
Regelung verstanden<br />
wird oder<br />
sogar als Plattform<br />
für eine neue Runde<br />
im Machtk<strong>am</strong>pf der<br />
Eltern, etwa für Unterhaltsforderungen,<br />
missbraucht wird.<br />
73
74<br />
Konklusio<br />
Abschließend lassen Sie mich noch einige mir wichtig erscheinende Aspekte kurz zus<strong>am</strong>menfassen<br />
und daraus Schlussfolgerungen ziehen.<br />
Zahlreiche Studien weisen eine positive Beziehungsgestaltung auch nach der Trennung<br />
der Eltern als herausragendes Kriterium für die Qualität der Scheidungsbewältigung<br />
durch die betroffenen <strong>Kind</strong>er aus.<br />
Die Gestaltung der elterlichen Paarbeziehung nach der Scheidung, nach der Trennung<br />
kann als wirkungsvollster Ansatzpunkt zur Wahrung des <strong>Kind</strong>eswohls und der kindlichen<br />
Gesundheit dienen. Dies ist sozusagen ein Schlüssel zur Sicherung kindlicher<br />
Entwicklungsmöglichkeiten nach der Scheidung.<br />
Basierend auf den empirischen Ergebnissen der genannten Längsschnittstudie erweisen<br />
sich folgende Punkte für die psychische Entwicklung von <strong>Kind</strong>ern aus Trennungsf<strong>am</strong>ilien<br />
günstig:<br />
l wenn es hilfreiche Gespräche gibt zwischen – in der Regel – der Mutter mit dem <strong>Kind</strong><br />
über den abwesenden Vater, aber auch mit dem Vater über die Situation mit der<br />
Mutter<br />
l wenn die Mutter der Auffassung ist, dass der Vater dem <strong>Kind</strong> auch wirklich geben<br />
kann, was es gefühlsmäßig braucht<br />
l wenn die Mutter keine Angst um das <strong>Kind</strong> fühlt, wenn es sich beim Vater aufhält<br />
l wenn die Eltern – und zwar beide Eltern – meinen, dass die Trennung die richtige<br />
Entscheidung war<br />
l und wenn vor allem die Väter mit der Zahl der Kontakte bzw. mit der Sorgerechtsregelung<br />
zufrieden sind.<br />
Unter all diesen Voraussetzungen sind die Chancen relativ groß, dass negative Konsequenzen<br />
einer elterlichen Trennung auf die psychische Entwicklung der betroffenen<br />
<strong>Kind</strong>er weitgehend hintangehalten werden können oder vielleicht sogar durch mögliche<br />
positive Effekte kompensiert werden können.<br />
Das singuläre Ereignis Scheidung an sich allgemein als Form psychischer <strong>Gewalt</strong> zu<br />
bezeichnen wäre jedenfalls eine unzulässige Vereinfachung.
„Nicht Kunst und Wissenschaft allein,<br />
Geduld will bei dem Werke sein“<br />
„Eltern als Begleiter in schwierigen Zeiten“<br />
Referentin: Dr. Luitgard Derschmidt<br />
„Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Geduld will bei dem Werke sein“ – das zeigt<br />
die Situation der Erwachsenenbildung, besonders der Elternbildung, und als<br />
Erwachsenenbildnerin spreche ich heute zu ihnen. Mein Anliegen als Elternbildnerin ist<br />
nicht nur das Wohl des <strong>Kind</strong>es, sondern auch das seiner Eltern, weil ich meine, wir müssen<br />
das vernetzt sehen. Denn geht es den Eltern nicht gut, so geht es auch dem <strong>Kind</strong><br />
nicht gut und umgekehrt. Unsere Teilnehmer und Teilnehmerinnen in der Elternbildung<br />
sind die Eltern.<br />
In der Elternbildung geht es um die Vermittlung von Wissen an die Eltern, es geht aber<br />
noch mehr darum, für sie die Möglichkeit, Bewusstsein zu gewinnen und den<br />
Handlungsspielraum zu erweitern, anzubieten, und es geht auch im Letzten darum, dass<br />
sie Haltungen erkennen und diese gegebenenfalls auch bei sich verändern.<br />
Welche Rollen spielen nun die Eltern beim Thema „<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong>“ <strong>am</strong> <strong>Kind</strong> im<br />
Zus<strong>am</strong>menhang mit Institutionen?<br />
Die Rolle der Eltern ist eine zweifache:<br />
Zum einen kommt von ihnen ausgehend über ihre <strong>Kind</strong>er <strong>Gewalt</strong> in diese Institutionen<br />
hinein. Zum anderen sollen sie ihre <strong>Kind</strong>er hilfreich in schwierigen Situationen begleiten,<br />
unterstützen und befähigen, solche zu bewältigen. Und zu diesen schwierigen Situationen<br />
gehören eben auch solche, in denen <strong>Kind</strong>er psychischer <strong>Gewalt</strong> aus Institutionen<br />
ausgesetzt sind.<br />
Fließende Grenzen – die „alltägliche“ psychische <strong>Gewalt</strong><br />
Wir erleben es alle täglich; psychische <strong>Gewalt</strong> ist ein Phänomen unserer Gesellschaft.<br />
Nicht nur <strong>Kind</strong>er, auch viele Erwachsene sind davon betroffen. Und ein Problem dieser<br />
ganz normalen psychischen <strong>Gewalt</strong> ist es, dass sie so schwer fassbar ist, dass sie individuell<br />
erlebt wird und ihre Wirkung von außen oft nicht erkennbar und einschätzbar ist.<br />
Menschen sind einfach verschieden. <strong>Kind</strong>er wie Erwachsene. Sie sind verschieden in<br />
der Art ihres Agierens. Es ist auch verschieden, wie Menschen das Agieren anderer erleben.<br />
So sind, wie wir selbst im Alltag immer wieder erfahren, die Grenzen zwischen<br />
temper<strong>am</strong>entvollem aktiven Handeln so im Sinn von „hart, aber herzlich“, aggressivem<br />
Verhalten und gezielter psychischer <strong>Gewalt</strong> fließend.<br />
Außerdem wird Verhalten unterschiedlich erlebt: Was dem einen Spaß macht, kann für<br />
den oder die andere/n schon Verletzung, Abwertung, Verwundung bedeuten. Und das<br />
bringt im ganz normalen täglichen Zus<strong>am</strong>menleben große Schwierigkeiten. So kommt<br />
es dort, wo Menschen zus<strong>am</strong>menleben – <strong>Kind</strong>er wie Erwachsene – zu Problemen.<br />
Und daher gibt es leider auch in Institutionen, die eigentlich zum Wohl der <strong>Kind</strong>er eingerichtet<br />
worden sind, immer wieder psychische <strong>Gewalt</strong>. Selbst die Organisationsform<br />
und die Struktur dieser Einrichtungen wirkt auf manche <strong>Kind</strong>er gewalttätig. Auch hier<br />
kommt es auf das subjektive Empfinden des <strong>Kind</strong>es an. Auch hier muss die<br />
Unterschiedlichkeit von <strong>Kind</strong>ern berücksichtigt werden. Nehmen wir zum Beispiel die<br />
Situation in einem Internat: Manche <strong>Kind</strong>er fühlen sich unter den vorgegebenen Regeln<br />
und Verordnungen pudelwohl, für andere ist es einfach eine Zumutung, eine Qual, die<br />
sie nicht aushalten.<br />
75
<strong>Kind</strong>er nehmen sich<br />
das Verhalten der<br />
Eltern und anderer<br />
erwachsener<br />
Bezugspersonen<br />
zum Vorbild und<br />
ahmen es nach.<br />
76<br />
Die Not der Eltern<br />
schafft Täter.<br />
Die Rolle der Eltern<br />
Die Rolle der Eltern in Zus<strong>am</strong>menhang mit psychischer <strong>Gewalt</strong> in Institutionen ist, wie<br />
schon eingangs erwähnt, eine zweifache, und darauf möchte ich jetzt genauer eingehen.<br />
Wenn Eltern psychische <strong>Gewalt</strong> ausüben ...<br />
Zum einen üben Eltern gewollt oder ungewollt psychische <strong>Gewalt</strong> an ihren <strong>Kind</strong>ern aus,<br />
und <strong>Kind</strong>er, die unter solcher <strong>Gewalt</strong> leiden, geben diese dann an andere weiter.<br />
Eltern verhalten sich gewalttätig, weil sie <strong>Gewalt</strong> als Erziehungsmittel einsetzen, weil sie<br />
selbst so erzogen worden sind und weil manche leider auch glauben, dass es so richtig<br />
ist und die besten Ergebnisse bringt. „Warum wird geliebten <strong>Kind</strong>ern von liebenden Eltern<br />
<strong>Gewalt</strong> angetan?“ (ð Siehe auch Seite 18)<br />
Aber Eltern können auch unter großem Druck stehen, weil sie selbst Opfer solcher<br />
<strong>Gewalt</strong> sind (z.B. Mobbing <strong>am</strong> Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, Ausgrenzungen aller Art)<br />
oder auch weil sie in einer besonders belastenden Lebenssituation sind (z.B. Scheidung).<br />
Eltern können also aus den unterschiedlichsten Gründen unter einem Druck leiden und<br />
ihn dann, wenn auch ungewollt, weitergeben.<br />
<strong>Kind</strong>er wiederum nehmen sich das Verhalten ihrer Eltern und natürlich auch der anderen<br />
Erwachsenen zum Vorbild und ahmen es nach.<br />
Die Verhaltensweise der Eltern, der erwachsenen Bezugspersonen, sollte also so<br />
gestaltet sein, dass sie eine Orientierungshilfe für <strong>Kind</strong>er ist. Denn die <strong>Kind</strong>er müssen<br />
einfach, um sich in einer Welt, die von Erwachsenen geprägt ist, zurechtzufinden, deren<br />
Verhaltensweisen imitieren.<br />
Eltern erziehen ihre <strong>Kind</strong>er sowohl bewusst durch beabsichtigtes erzieherisches Handeln<br />
als auch unbewusst durch ihr Zus<strong>am</strong>menleben mit ihren <strong>Kind</strong>ern.<br />
<strong>Kind</strong>er als Sündenbock narzistischer Projektion<br />
Ein Punkt noch, der verdeutlichen soll, wie komplex dieses Thema in Wirklichkeit ist:<br />
Verhaltensauffällige <strong>Kind</strong>er befinden sich manchmal auch in so einer Art Sündenbock-<br />
Funktion. Sie übernehmen die Rolle ihrer Eltern. Eltern delegieren an ihre <strong>Kind</strong>er ihre eigenen<br />
aggressiven und destruktiven Anteile, die sie selbst nicht ausleben können, weil<br />
sie es sich „in ihrer Situation“ sozial nicht leisten können. Ein Geschäftsmann oder eine<br />
Geschäftsfrau kann sich weder zynisch noch aggressiv ihren Klienten und Klientinnen<br />
oder Kunden und Kundinnen gegenüber verhalten. Das <strong>Kind</strong> lebt diese Verhaltensweisen<br />
dann stellvertretend für sie aus.<br />
Der Psychoanalytiker und F<strong>am</strong>ilientherapeut Horst Eberhard Richter bezeichnet diesen<br />
Vorgang als narzistische Projektion, die dazu dient, das Individuum von Selbstvorwürfen<br />
zu entlasten.<br />
Man kann das Ganze auch noch einmal harmlos formulieren: Wie oft sind <strong>Kind</strong>er dazu<br />
motiviert, Dinge zu tun, die ihre Eltern gerne getan hätten, aber nicht tun durften? Und<br />
Sie kennen sicher alle den Spruch: „Meine <strong>Kind</strong>er sollen es einmal besser haben als<br />
ich.“...<br />
Ich möchte darauf nur hinweisen, um aufzuzeigen, wie komplex und vielfältig die Gründe<br />
sein können, die <strong>Kind</strong>er schwierig werden lassen.<br />
Ich möchte ebenso darauf hinweisen, dass eine Not bei jenen Eltern dahinter steht, die<br />
ihre <strong>Kind</strong>er so erziehen, dass diese zu Tätern werden, dass sie psychische <strong>Gewalt</strong> ausüben.<br />
Das soll keine Entschuldigung sein, aber Lösungen können nur gefunden werden,<br />
wenn die Situationen klar durchschaut und die Ursachen benannt werden können. Daher<br />
sind Bewusstseinsbildung und Elternbildung so wichtig, denn komplexe Probleme müssen<br />
eben auch komplex und von vielerlei Seiten aus angegangen werden.
Bei dem im Interesse der <strong>Kind</strong>er notwendigen Zus<strong>am</strong>menspiel von Elternhaus und<br />
Institution, wie etwa Schule, kommt es oft eher zu einem Auseinanderspiel oder zu einem<br />
Gegeneinanderausspielen.<br />
Der „Schwarze Peter“ wird in der Hilflosigkeit schwieriger und komplexer Situationen<br />
auch in öffentlichen Diskussionen zwischen den Eltern und der jeweiligen Institution<br />
hin- und her geschoben. Die Schuld wird immer dem jeweils anderen zugeteilt.<br />
Definition der Rollen als Lösungsansatz<br />
Dieses Hin- und Herschieben der Schuld führt naturgemäß zu keiner Lösung.<br />
Im Interesse der <strong>Kind</strong>er wäre es notwendig, zu einer offenen Zus<strong>am</strong>menarbeit im<br />
Wahrnehmen der unterschiedlichen Rollen und Aufgaben zu finden.<br />
Welche Aufgabe, welche Verpflichtung, welche Rollen haben Eltern, welche Rolle haben<br />
Erzieher, welche Rolle haben Lehrer dem <strong>Kind</strong> gegenüber? Und wie unterscheiden sich<br />
diese Rollen voneinander?<br />
In manchem sind sie gleich, in manchem ähnlich, in manchem aber sind sie verschieden,<br />
und es ist wichtig, diese Rollen nicht zu verwechseln.<br />
In dieser Auseinandersetzung ist es notwendig, auch die unterschiedlichen Fähigkeiten<br />
und Haltungen, die ja gerade besonders schwer zu verändern sind und in dieser<br />
Diskussion die größten Probleme bereiten, zuerst einmal zu akzeptieren und<br />
Unterstellungen und Ängste zu vermeiden. Genau das ist aber sowohl für Eltern als auch<br />
für Lehrer oder andere Betreuungspersonen sehr schwierig. Genau das lässt, wie ich aus<br />
meinen Gesprächen mit Eltern in der Erwachsenenbildung weiß, oft mutlos werden; sowohl<br />
auf der Seite der Eltern als auch auf der Seite der anderen Betreuungspersonen.<br />
Dabei muss im Interesse der <strong>Kind</strong>er eine gute Zus<strong>am</strong>menarbeit mit gegenseitiger<br />
Anerkennung und Wertschätzung immer wieder gesucht werden!<br />
Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Druck<br />
schaffen <strong>Gewalt</strong><br />
Im Weiteren muss auch die Rolle des gesellschaftlichen Umfeldes, die Rolle der Medien<br />
und der Druck der wirtschaftlichen und Arbeitssituation, unter dem Eltern leiden, im<br />
Zus<strong>am</strong>menhang mit psychischer <strong>Gewalt</strong> in Augenschein genommen werden.<br />
Ich möchte in dem Zus<strong>am</strong>menhang auf Beck-Gernsheim (in: „Das ganz normale Chaos<br />
der Liebe“) hinweisen, die aufzeigt, dass <strong>Kind</strong>er für Frauen in unserer Gesellschaft nicht<br />
nur ein Karriere-Handycap, sondern auch ein berufliches, soziales und finanzielles<br />
Existenzrisiko geworden sind. Ich möchte das einmal so stehen lassen. Aber auch die<br />
Väter leiden unter diesem Druck (oder sollten darunter leiden).<br />
Ich habe dazu einen Cartoon entdeckt, der das sehr pointiert zeigt. Ein kleines <strong>Kind</strong><br />
schaut zu seiner Mutter auf und fragt, auf den durch die Wohnungstür eintretenden,<br />
freundlich lächelnden Mann zeigend: „Pst, M<strong>am</strong>i, wer ist denn der Mann, der abends immer<br />
zum Fernsehen kommt?“<br />
Hier geht es keineswegs darum, Väter gegen Mütter auszuspielen, sondern hier geht es<br />
vor allem darum, aufzuzeigen, dass teilweise auch Väter unter sehr starkem Druck stehen<br />
und dass in unserer Arbeitswelt auf die f<strong>am</strong>iliäre Situation einfach keine Rücksicht<br />
genommen wird.<br />
Der Unterschied ist nur, dass es für Männer karrierefördernd ist, wenn sie F<strong>am</strong>ilie haben,<br />
weil sie dann nachweislich einsatzfähiger sind.<br />
Wenn die Wirtschaftsentwicklung so weiter geht wie manche Wirtschaftsfachleute prophezeien,<br />
wenn die Wichtigkeit von Flexibilität, Mobilität und permanenter Verfügbarkeit<br />
immer mehr zunimmt, wenn es irgendwann einmal zu einer Unterscheidung zwischen<br />
Gewinnern und Verlierern kommen sollte, dann werden gerade jene Menschen, die<br />
Bindungen haben, die sich durch <strong>Kind</strong>er gebunden fühlen, in Gefahr geraten, auf die<br />
Seite der Verlierer zu kommen.<br />
Im Interesse der<br />
<strong>Kind</strong>er muss eine<br />
gute Zus<strong>am</strong>menarbeit<br />
zwischen<br />
den Eltern und den<br />
anderen betreuenden<br />
Personen und<br />
Institutionen mit<br />
gegenseitiger<br />
Anerkennung und<br />
Wertschätzung<br />
gesucht werden!<br />
77
78<br />
Nur der, der sich<br />
wirklich auf das<br />
<strong>Kind</strong> einstellt und<br />
dem <strong>Kind</strong> zugewandt<br />
bleibt,<br />
erkennt, wie es<br />
dem <strong>Kind</strong> geht.<br />
Hier müssen Gesellschaft wie auch Politik dagegensteuern.<br />
Obwohl es da auch schon verschiedene Überlegungen, Bestrebungen und Maßnahmen<br />
gibt, die Lobby der Wirtschaft wird leider immer viel größer sein als die Lobby für Eltern<br />
und <strong>Kind</strong>er.<br />
... Geduld will bei dem Werke sein<br />
Und gerade in Stress- und Drucksituationen ist es für liebevolle Eltern schwer, die<br />
Geduld aufzubringen, die bei dem „Werke“ sein will, wie es in der Überschrift heißt.<br />
Es dürfen die Bedürfnisse der Eltern nicht gegen die Bedürfnisse der <strong>Kind</strong>er ausgespielt<br />
werden – und umgekehrt.<br />
Natürlich wird es auch zu einem großen Problem für die <strong>Kind</strong>er, wenn sich die wirtschaftliche<br />
Situation ihrer Eltern im Allgemeinen verschlechtert und diese unter noch<br />
größeren Druck kommen.<br />
Europaweit ist das auch deutlich sichtbar. <strong>Kind</strong>er können sich nur in Richtung zufriedener<br />
und freundlicher Menschen entwickeln, wenn es ihnen gut geht und ihre Bedürfnisse<br />
befriedigt werden. Dieses „Gutgehen“ darf nicht ausschließlich materiell verstanden, sondern<br />
muss umfassender gesehen werden. <strong>Kind</strong>ern kann es aber nur gut gehen, wenn<br />
es auch ihren Eltern gut geht. Und Menschen, denen es gut geht, haben es nicht nötig,<br />
psychische <strong>Gewalt</strong> und Druck auf andere auszuüben. Weder Eltern noch <strong>Kind</strong>er. Nur<br />
dann kann die nötige Geduld bei dem Werke sein.<br />
Eltern als Begleiter in schwierigen Situationen<br />
Wir haben bis jetzt von der Rolle der Eltern zum Thema psychische <strong>Gewalt</strong> in<br />
Institutionen in dem Zus<strong>am</strong>menhang gesprochen, dass von ihnen ausgehend über ihre<br />
<strong>Kind</strong>er <strong>Gewalt</strong> in die Institutionen hineingebracht wird.<br />
Besonders wichtig ist aber die Rolle der Eltern, die <strong>Kind</strong>er in diesen schwierigen<br />
Situationen begleiten, ihnen zur Seite stehen und ihnen helfen sollen, dass die Wunden,<br />
die möglicherweise geschlagen werden, heilen und keine Belastung für ihr ganzes Leben<br />
werden.<br />
Was tut also eine Mutter oder ein Vater, wenn das <strong>Kind</strong> von der Schule heimkommt und<br />
sich beklagt „Ich werde immer von allen ausgelacht, niemand will mit mir spielen.“ Was<br />
tun, wenn sich das <strong>Kind</strong> ausgegrenzt fühlt und darunter leidet?<br />
Wenn ein <strong>Kind</strong> eine solche belastende Situation von sich aus anspricht, so ist das schon<br />
ein großer Vorteil. Meist aber kann das <strong>Kind</strong> – aus welchen Gründen auch immer – seine<br />
Probleme nicht so benennen. Das hängt natürlich auch vom Alter des <strong>Kind</strong>es ab. Daher<br />
ist von Seiten der Erwachsenen sehr viel Aufmerks<strong>am</strong>keit nötig, sich auf <strong>Kind</strong>er so<br />
einzustellen, dass man ihre Sprache versteht, die Signale, die sie aussenden, richtig zu<br />
deuten weiß.<br />
Eltern müssen aufmerks<strong>am</strong>, einfühls<strong>am</strong> sein und Nähe zu ihrem <strong>Kind</strong> haben, um die<br />
Bedürfnisse des <strong>Kind</strong>es zu erkennen. Sie müssen Geborgenheit und Zuwendung geben.<br />
Das braucht Zeit und Geduld. Geborgenheit erleben wir dann, wenn unsere körperlichen<br />
Bedürfnisse befriedigt werden und uns vertraute Menschen ein Gefühl von Nähe geben.<br />
Zuwendung erleben wir dann, wenn vertraute Menschen uns ein Gefühl des Angenommenseins<br />
geben, wenn vertraute Menschen zu uns als Person stehen.<br />
<strong>Kind</strong>er brauchen Geborgenheit und Zuwendung, um ihre Bedürfnisse sagen, zeigen und<br />
signalisieren zu können. Die Sprache der <strong>Kind</strong>er ist eine vielfältige, je nach Alter und<br />
Person des <strong>Kind</strong>es, wobei sich ältere z.B. in der Pubertät, wie wir ja wissen, oft schwerer<br />
tun, ihre Bedürfnisse anzumelden, als jüngere.<br />
Und was ganz wichtig ist: Auch die Bedürfnisse sind verschieden, ebenfalls nach Alter<br />
und Person. <strong>Kind</strong>er entwickeln sich aktiv von sich aus. Sie können nicht wie Gefäße beliebig<br />
gefüllt werden, sondern sie nehmen nur auf, was ihrem Entwicklungsstand entspricht,<br />
betont der Schweizer Arzt Remo H. Largo, der sich über 20 Jahre mit Wachstum
und Entwicklung von <strong>Kind</strong>ern beschäftigt hat. Er sagt, ein Angebot, das über seine<br />
Entwicklung hinausgeht, bleibt ungenützt oder kann sogar die Entwicklung des <strong>Kind</strong>es<br />
beeinträchtigen. Deshalb ist es auch unter anderem so wichtig, diese Verschiedenheit<br />
von <strong>Kind</strong>ern ganz ernst und wahrzunehmen.<br />
Nur der, der sich wirklich auf das <strong>Kind</strong> einstellt und dem <strong>Kind</strong> zugewandt bleibt, erkennt,<br />
wie es dem <strong>Kind</strong> geht.<br />
Und wir sollten uns auch in Gesprächen mit <strong>Kind</strong>ern in die Situation von <strong>Kind</strong>ern versetzen.<br />
Was, wenn ein <strong>Kind</strong> ein Problem anspricht und nur die Antwort bekommt „Du<br />
willst ja immer nur, dass alles nach deinem Kopf geht“ oder „Du bist einfach zu empfindlich“?<br />
Was das Problem des <strong>Kind</strong>es ist und wie schwer das <strong>Kind</strong> darunter leidet, wie<br />
sehr es sich verletzt fühlt, weiß nur das <strong>Kind</strong> allein. Sensibilität und Empfindlichkeit sind<br />
eben – wie schon zuerst erwähnt – von <strong>Kind</strong> zu <strong>Kind</strong> oft sehr verschieden.<br />
Vielleicht kennen Sie die Zeichnung, wo ein Affe, eine Katze, eine Ente und ein Hund in<br />
einer Reihe vor einem hohen Baum stehen und der „Lehrer“ sagt: „Zum Ziele einer gerechten<br />
Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich: Klettern Sie auf diesen<br />
Baum!“<br />
Gerechtigkeit und adäquate Behandlung müssten anders ausschauen.<br />
Die Verschiedenheit von <strong>Kind</strong>ern muss akzeptiert werden. <strong>Kind</strong>er müssen gerade in so<br />
schwierigen Situationen, wo sie sich ohnehin schon abgewertet fühlen, von ihren Eltern<br />
in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt und in ihrer Eigenständigkeit unterstützt werden. Ein<br />
schönes Beispiel dafür findet sich im Film „Forrest Gump“, wo der junge Mann für sein<br />
Leben diesen „Stehsatz“ von seiner Mutter mitbekommt: „Dumm ist, wer Dummes tut“.<br />
Und dieser Satz hilft dem leicht beschränkten, naiven jungen Mann auf eine liebevolle<br />
Art, sein Leben eigenständig bewältigen zu können.<br />
Autonomie entwickeln<br />
Eltern müssen ihren <strong>Kind</strong>ern helfen, Autonomie zu entwickeln. Diese Autonomie wird<br />
schon von Geburt an aufgebaut, wenn das Baby lernt, dass es seine Bedürfnisse äußern<br />
kann und darauf eine Reaktion erlebt. Das Baby schreit, die Mutter kommt mit der<br />
Flasche – durch die Kausalitätserfahrung erlebt sich das Baby als Herrscher der Welt<br />
und kann so Vertrauen und Sicherheit hinsichtlich der Wirks<strong>am</strong>keit des eigenen Handelns<br />
entwickeln. Das ermöglicht Autonomie und Selbstständigkeit im Handeln und in den sozialen<br />
Beziehungen.<br />
Doch nicht nur als Baby sollten <strong>Kind</strong>er Erfahrungen der eigenen Wirks<strong>am</strong>keit und<br />
Akzeptenz machen können, sondern auch später. Unser Wohlbefinden und<br />
Selbstwertgefühl hängt wesentlich davon ab, ob wir uns von unseren Mitmenschen angenommen<br />
fühlen und mit unseren Leistungen uns selbst und unseren Mitmenschen<br />
genügen.<br />
Wenn die Leistungen des <strong>Kind</strong>es nicht auch im Zus<strong>am</strong>menhang mit seinen Fähigkeiten<br />
gesehen werden, kann das zwischen Eltern und <strong>Kind</strong>ern zu einem großen Problem werden.<br />
Vermindertes Wohlbefinden und Selbstwertgefühl schwächen einfach unsere<br />
Beziehungsfähigkeit. Die Mitmenschen spüren unsere Unsicherheit, und wir werden sozial<br />
weniger attraktiv. Das kann zu einem Teufelskreis führen, den es zu durchbrechen<br />
gilt. Das erleben viele <strong>Kind</strong>er in ihren Schulklassen.<br />
Akzeptanz und Wertschätzung als „Grundbausteine“<br />
des Lebens<br />
Das „Fitkonzept“ nach Largo orientiert sich <strong>am</strong> Wohlgefühl und Selbstwertgefühl des<br />
<strong>Kind</strong>es, weil psychisches und körperliches Wohlbefinden die Grundvoraussetzungen<br />
dafür sind, dass sich ein <strong>Kind</strong> bestmöglich entwickeln kann, und weil ein gutes<br />
Selbstwertgefühl entscheidend für seine Beziehungs- und Leistungsfähigkeit ist. Es<br />
gilt also von Seiten der Eltern her, die <strong>Kind</strong>er für das Zus<strong>am</strong>menleben mit anderen fit zu<br />
<strong>Kind</strong>er müssen gerade<br />
in schwierigen<br />
Situationen, wo sie<br />
sich ohnehin schon<br />
abgewertet fühlen,<br />
von ihren Eltern in<br />
ihrem Selbstwertgefühl<br />
gestärkt und<br />
in ihrer Eigenständigkeit<br />
unterstützt<br />
werden.<br />
Vermindertes<br />
Wohlbefinden und<br />
Selbstwertgefühl<br />
schwächen unsere<br />
Beziehungsfähigkeit.<br />
79
Wichtig ist, Person<br />
und Verhalten auseinander<br />
zu halten –<br />
das klingt theoretisch<br />
sehr gut, aber<br />
im praktischen<br />
Alltag ist das, wie<br />
alle Erziehenden<br />
wissen, oft ganz<br />
schön schwierig.<br />
Aber genauso wie zu<br />
wenig Unterstützung<br />
die Autonomie des<br />
<strong>Kind</strong>es nicht wachsen<br />
lässt, verhindert<br />
Überfürsorge die<br />
Eigenständigkeit<br />
und Autonomie.<br />
80<br />
machen, ohne verletzt zu werden und ohne zu verletzen. Es muss dieser doppelte Aspekt<br />
gesehen werden, und Eltern haben dabei eine ganz besondere Aufgabe.<br />
Während die Umgebung die soziale Akzeptanz des <strong>Kind</strong>es oft von seinem Verhalten abhängig<br />
macht, sollte für die Eltern das Verhalten des <strong>Kind</strong>es nicht wichtiger sein als seine<br />
Person.<br />
Als Person vorbehaltlos akzeptiert zu werden ist eine Erfahrung, die die meisten <strong>Kind</strong>er<br />
nur in den ersten Lebensmonaten machen dürfen. Ein <strong>Kind</strong> sollte sich aber als Person<br />
nie von seinen Eltern in Frage gestellt fühlen und nie auf Grund seines Verhaltens<br />
grundsätzlich abgelehnt werden. Das heißt nicht, dass Eltern jegliches Verhalten ihrer<br />
<strong>Kind</strong>er billigen sollten, ganz im Gegenteil, aber die Person als solche darf von Seiten der<br />
Eltern nicht in Frage gestellt werden.<br />
Wichtig ist, Person und Verhalten auseinander zu halten – das klingt theoretisch sehr gut,<br />
aber im praktischen Alltag ist das, wie alle Erziehenden wissen, oft ganz schön schwierig.<br />
Einfacher wäre, wenn man Eltern sagen könnte, je mehr Zuwendung, je mehr Liebe, je<br />
mehr Fürsorge ein <strong>Kind</strong> bekommt, desto besser geht es ihm. Aber genauso wie zu wenig<br />
Unterstützung die Autonomie des <strong>Kind</strong>es nicht wachsen lässt, genauso verhindert<br />
auch Überfürsorge die Eigenständigkeit und Autonomie.<br />
Letztlich sollte unser Ziel sein, dass die <strong>Kind</strong>er fähig werden, ihre eigenen Probleme<br />
selbst zu lösen, dass sie sich im Zus<strong>am</strong>menhang mit psychischer <strong>Gewalt</strong> vor Übergriffen<br />
schützen lernen, die die Grenzen der eigenen Person verletzen und überschreiten.<br />
Grundlage jeder hilfreichen Handlung von Eltern und anderen Begleitern in schwierigen<br />
Zeiten muss die Wertschätzung und Achtung der Person des <strong>Kind</strong>es sein.<br />
In dieser Grundhaltung müssen Eltern den <strong>Kind</strong>ern geben, was sie brauchen – und das<br />
ist nicht immer das, was Eltern glauben, das die <strong>Kind</strong>er brauchen.<br />
<strong>Kind</strong>er müssen im Laufe ihres Erwachsenwerdens lernen, in ihren sozialen Beziehungen<br />
eine ausgewogene Balance zwischen dem Tun und dem Mit-sich-geschehen-Lassen zu<br />
finden.<br />
Tun im Sinne von Ursache von Reaktionen anderer zu sein und Mit-sich-geschehen-<br />
Lassen heißt auch, auf andere und ihre Bedürfnisse zu reagieren.<br />
Das Mit-sich-geschehen-Lassen birgt die Gefahr, die eigene Identität zu verlieren, wenn<br />
man nicht manchmal auch das Tun wahrnimmt. Wer aber meint, immer mit dem Kopf<br />
durch die Wand zu müssen, der wird überall anecken und beziehungsunfähig sein. Diese<br />
Balance zu finden ist nicht leicht, und Eltern sollten ihren <strong>Kind</strong>ern dabei helfen.<br />
Wenn man heute mit <strong>Kind</strong>ergärtnerinnen, vor allem aber auch mit Lehrern und<br />
Lehrerinnen spricht, so hört man immer öfter: „Ich habe das Gefühl, vor einer Gruppe<br />
von Prinzen und Prinzessinnen zu stehen.“<br />
Einzelkinder haben manchmal Defizite bei sozialen Verhaltensweisen, die sie im<br />
Zus<strong>am</strong>menleben mit Erwachsenen nicht brauchen. Diese Verhaltensweisen müssen<br />
dann in der Gruppe der Gleichaltrigen erst nachgelernt werden, und das kann<br />
Schwierigkeiten bringen. Auch da müssen Eltern ihre <strong>Kind</strong>er einfach hilfreich begleiten<br />
und auszugleichen versuchen, was an Problemen auftritt.<br />
Kunst und Wissenschaft allein ...<br />
... helfen Eltern dabei nur teilweise. Geduld ist gefragt, Sensibilität. Die Eltern müssen<br />
erkennen lernen, was bei den <strong>Kind</strong>ern verstärkt und wo eventuell entgegengesteuert werden<br />
muss, wo Unterstützung und Bestätigung Not tun oder wo es vielleicht wichtiger<br />
wäre, dem <strong>Kind</strong> zu ermöglichen, die Grenze seiner Frustrationstoleranz zu erhöhen.<br />
Geschwister sind dabei hilfreich, denn unter Mehreren lernt man sich zu sich arrangieren.<br />
Für das Zus<strong>am</strong>menleben unter Menschen ist Toleranz notwendig. Wer Geschwister<br />
hat, lernt das in der F<strong>am</strong>ilie, bei Einzelkindern muss diese Sozialisation dann oft erst im<br />
<strong>Kind</strong>ergarten und in der Schule nachgeholt werden.
Eltern können und müssen <strong>Kind</strong>er gerade in schwierigen Zeiten begleiten. Die erzieherische<br />
Herausforderung dabei ist, das <strong>Kind</strong> richtig zu verstehen und im Umgang mit ihm<br />
das richtige Maß zu finden.<br />
Es gibt viele Elternratgeber, die Hilfe anbieten, auch faktische Tipps, die Eltern tatsächlich<br />
ein Stück weiterhelfen. Es gibt Angebote in der Elternbildung. Diese Hilfen werden<br />
von vielen Eltern sehr gerne angenommen. Wichtig dabei ist aber, dass Eltern nicht noch<br />
mehr verunsichert werden, sondern dass sie in ihrer eigenen Kompetenz gestärkt werden.<br />
Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass es zu diesen komplexen und schwierigen Aufgaben<br />
der Eltern noch viel zu sagen gäbe. In den Grundlinien ist es immer so einfach, doch der<br />
Teufel steckt meistens im Detail, und Rezepte kann es nicht geben. Es braucht Geduld<br />
und viele kleine Schritte.<br />
Konklusio<br />
Zus<strong>am</strong>menfassend möchte ich nur mehr kurz einige Punkte herausheben, die mir besonders<br />
wichtig erscheinen:<br />
l Wichtig ist die Zus<strong>am</strong>menarbeit zwischen Eltern und Institutionen.<br />
l Wichtig ist die Lobbyarbeit für <strong>Kind</strong>er und F<strong>am</strong>ilien.<br />
l Wichtig ist die Bewusstseinsbildung, vielfältig und auf allen Ebenen.<br />
l Wichtig ist Elternbildung.<br />
l Wichtig ist es auch, die Autonomie und die Eigenständigkeit des <strong>Kind</strong>es zu stärken,<br />
seine Frustrationstoleranz zu erhöhen und zu lernen, die Sprache des <strong>Kind</strong>es zu verstehen.<br />
Aber eine Aufgabe, die Eltern ganz besonders und hauptsächlich nur sie wahrnehmen<br />
können, ist, das <strong>Kind</strong> als Person bedingungslos zu akzeptieren und ernst zu nehmen.<br />
„Du aber liebe mich, auch wenn ich schmutzig bin, denn wenn ich weiß gewaschen wäre,<br />
liebten mich doch alle“ (Dostojewski).<br />
81
Wir gehen davon<br />
aus, dass, da wir ja<br />
immer in bester<br />
Absicht handeln, <strong>am</strong><br />
Schluss auch etwas<br />
Gutes heraus-<br />
kommen muss.<br />
Für einen Klienten<br />
ist immer sehr<br />
erstaunlich, dass<br />
er sich an jemanden<br />
wendet, und plötzlich<br />
ist dann wer<br />
anderer zuständig.<br />
82<br />
„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“<br />
„Der Eingriff von außen – ein zusätzliches Trauma?“<br />
Referent: Dr. Reinhard Neumayer<br />
Gleich <strong>am</strong> Anfang sei festgestellt: Wir alle handeln immer in bester Absicht. Das, was wir<br />
tun, das ist also ohnehin „wunderbar, toll, klasse“ – oder etwa nicht?<br />
Wir haben Klienten, die schuldlos in eine Notlage gekommen sind. Wir erleben ihr Leid<br />
mit, doch das soll uns nicht persönlich treffen, weil wir ja Profis sind. Wir bemühen uns,<br />
in geeigneter Form zu handeln, so dass es unseren Klienten nach unserer Intervention<br />
auch tatsächlich besser geht.<br />
Wir gehen davon aus, dass, da wir ja immer in bester Absicht handeln, <strong>am</strong> Schluss auch<br />
etwas Gutes herauskommen muss.<br />
Wir wollen immer nur das Richtige tun. Das haben wir uns geschworen, als wir uns für<br />
diese Berufe entschieden haben.<br />
Und das beweist uns auch die tägliche Praxis. Aber vielleicht vor allem deswegen, weil<br />
wir <strong>am</strong> liebsten auf die Fälle hinschauen, bei denen auch wirklich etwas Gutes herausgekommen<br />
ist.<br />
Denn: „Grau ist alle Theorie“ – das wissen Sie genauso gut wie ich.<br />
Es könnte also sein, dass wir heute ein bis zwei Blicke auch auf Fälle werfen müssen,<br />
bei denen nicht nur Gutes herausgekommen ist.<br />
Wir Zuständigen ...<br />
Beginnen wir einmal bei Wir. Wer ist eigentlich Wir?<br />
Wir – das sind natürlich die Zuständigen. Aus irgendeinem Grund wird man „zuständig“.<br />
Wir werden zu Zuständigen, weil sich Klienten an uns wenden, weil Klienten in der<br />
Erwartung zu uns kommen, dass ihnen hier geholfen wird. Sie tragen ihr Anliegen in der<br />
Erwartung vor, dass wir ihnen helfen.<br />
Es könnte aber auch sein, dass sie bei der falschen Tür stehen geblieben sind, dass sie<br />
sich im Türschild geirrt haben und dass wir gar nicht zuständig sind. Das ist dann manchmal<br />
eine Erleichterung. Dann kann man den Klienten, die Klientin zu einer anderen Tür<br />
schicken oder ihm/ihr eine andere Telefonnummern geben ...<br />
Aber wahrscheinlich passiert Ihnen so etwas gar nicht, wahrscheinlich passiert so etwas<br />
immer nur mir.<br />
Aber auch wenn der Klient beim richtigen Türtaferl stehen geblieben ist, hat das nicht für<br />
immer Gültigkeit. Für einen Klienten ist immer sehr erstaunlich, dass er sich an jemanden<br />
wendet, und plötzlich ist dann wer anderer zuständig. Oder es kommt noch wer dazu,<br />
oder es redet in einer bestimmten Phase dann plötzlich noch wer Neuer mit.<br />
Der Klient weiß zunächst nichts von diesen Phasen. Er kommt nicht bei der Tür herein<br />
und sagt „Bitte, ich bin jetzt in der Anfangsphase meiner Problemdarstellung. Wenn Sie<br />
sich als Zuständiger bitte darum kümmern wollen und mir dann sagen, wann der Nächste<br />
zuständig ist.“<br />
... wir handeln ...<br />
Wie dem auch sei – sobald ein Klient bei uns ist und wir zuständig sind, handeln wir. Wir<br />
alle handeln. Und wenn wir schon handeln, dann geplant und vernetzt. Sie wissen<br />
hoffentlich, in wie vielen Netzen Sie hängen. Wir handeln also vernetzt, und wir handeln<br />
immer.
Handeln – das Wort an sich ist schon eine Drohung.<br />
Sollten wir nicht nachdenken, bevor wir handeln?<br />
Aber wir handeln immer und bei jedem Schwierigkeitsgrad.<br />
Gibt es jemanden unter Ihnen, der das schon öfters mit sich selber ausdiskutiert hat, bei<br />
welchem Schwierigkeitsgrad er oder sie eigentlich sagen müsste: „Das ist mir jetzt vielleicht<br />
zuviel“? Vielleicht wäre es fairer, zu Ihrem Klienten/Ihrer Klientin zu sagen: „Es ehrt<br />
mich, dass Sie zu mir gekommen sind, aber ich muss Ihnen ehrlicher Weise sagen, dass<br />
ich davon nichts verstehe. Und bevor ich mich großmächtig aufblase, um vor Ihnen als<br />
allwissender Riese dazustehen, der für Alles eine Antwort hat, bin ich lieber ehrlich und<br />
sage, dass ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann.“<br />
... nur in bester Absicht ...<br />
Aber wir handeln ja in bester Absicht. Wir wissen, was gut ist. Wir handeln in bester<br />
Absicht für das <strong>Kind</strong>eswohl. Alle, die in der Jugendwohlfahrt tätig sind, wissen über diesen<br />
magischen Begriff Bescheid. Und alle, die an der Jugendwohlfahrt auch nur angestreift<br />
sind, haben auch schon mit diesem Wort zu tun gehabt.<br />
Es geht in der Jugendwohlfahrt um das Wohl des <strong>Kind</strong>es.<br />
Was genau ist bitte das Wohl des <strong>Kind</strong>es?<br />
Ich arbeite seit über 20 Jahren in diesem Bereich, aber ich kann Ihnen das nicht genau<br />
sagen. Aber es ist eine Leitschnur für uns. Und deswegen handeln wir in bester Absicht<br />
für das <strong>Kind</strong>eswohl. Oder vielleicht manchmal für das Helferwohl?<br />
Passiert es vielleicht doch manchmal, dass wir etwas nicht nur des <strong>Kind</strong>eswohles wegen<br />
tun? Passiert es vielleicht manchmal, dass wir – um ein bisschen besser dazustehen<br />
– einfach handeln auf unsere Fahnen schreiben? Passiert es vielleicht manchmal,<br />
dass wir Klienten und Klientinnen, die mit einem bestimmten Anliegen kommen, so umbiegen,<br />
dass sie zu unserem Angebot passen?<br />
Das, meine ich, ist das Helferwohl und nicht das Klientenwohl.<br />
Und kann es auch sein, dass es die Öffentlichkeitsarbeit ist, die uns manchmal als leitendes<br />
Motiv bewegt?<br />
Aber wahrscheinlich gibt es bei Ihnen so etwas gar nicht, wahrscheinlich passiert so etwas<br />
immer nur mir.<br />
Kann also unser Eingreifen von außen ein zusätzliches Trauma für unsere Klientinnen<br />
und Klienten sein?<br />
Wenn wir mit der Idee, unseren Klienten zu helfen oder ihnen Wege zu zeigen, auf denen<br />
vielleicht Hilfe zu bekommen ist, oder ihnen ihre eigenen Ressourcen bewusst<br />
machen, um Hilfe in Anspruch nehmen zu können, an unsere Arbeit herangehen, dann<br />
werden wir a priori wahrscheinlich nicht gleich daran denken, dass wir ihnen mit unserem<br />
Tun, unserem Handeln auch zusätzliches Leid zufügen können.<br />
Und trotzdem gibt es das.<br />
... und meinen es immer nur gut<br />
Unser heutiges Thema lautet: <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> durch Institutionen. Daher die Frage:<br />
Kann es auch durch gut gemeinte Hilfsangebote zur Ausübung von psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
kommen?<br />
Schauen wir einmal, was so ein „gut gemeintes Hilfsangebot“ alles bewirken kann.<br />
Behalten Sie bitte die Wortfolge „gut gemeintes Hilfsangebot” für die nächsten paar<br />
Minuten „eingespeichert“.<br />
Ich möchte Ihnen etwas aus meiner Studentenzeit erzählen.<br />
Das war in den 70er Jahren. Ich habe d<strong>am</strong>als ein Praktikum an einer Krankenanstalt gemacht,<br />
und diese Krankenanstalt hat gewisse Regeln im Umgang mit <strong>Kind</strong>ern gehabt.<br />
Passiert es vielleicht<br />
manchmal, dass wir<br />
Klient/innen, die mit<br />
einem bestimmten<br />
Anliegen kommen,<br />
so umbiegen, dass<br />
sie zu unserem<br />
Angebot passen?<br />
83
Über Wochen hindurch<br />
durften die<br />
<strong>Kind</strong>er „zu ihrem<br />
eigenen Wohle“ ihre<br />
Angehörigen nicht<br />
sehen – doch niemand<br />
hatte die Absicht,<br />
den <strong>Kind</strong>ern<br />
psychische <strong>Gewalt</strong><br />
anzutun. Es wurde<br />
eben in bester<br />
Absicht nach dem<br />
d<strong>am</strong>aligen wissenschaftlichen<br />
Stand<br />
der Dinge gehandelt.<br />
84<br />
Streng nach d<strong>am</strong>als gültigen wissenschaftlichen Erkenntnissen lautete die Regel: <strong>Kind</strong>er<br />
aus schwierigen F<strong>am</strong>ilien kommen in die Krankenanstalt und werden dort für einige<br />
Wochen nicht mit ihrer F<strong>am</strong>ilie zus<strong>am</strong>menkommen. Ganz bewusst. Schädigende<br />
Einflüsse sollen so von diesen <strong>Kind</strong>ern fern gehalten werden.<br />
Die Situation war dann so, dass die <strong>Kind</strong>er vom Fachpersonal gut betreut worden sind,<br />
gute therapeutische Angebote bekommen haben und Angehörige – die waren nämlich<br />
gemeint mit den schädigenden Einflüssen – nur Auskunft bekommen haben. Heute<br />
würde man sagen: durch zertifizierte Auskunftspersonen. Das heißt, die Angehörigen<br />
konnten zu bestimmten Sprechstunden kommen und fragen „Wie geht es meinem<br />
<strong>Kind</strong>?“, und haben dann haben sie eine klare Auskunft bekommen und konnten wieder<br />
heimgehen.<br />
Es war auch noch möglich, ein Brieflein für das <strong>Kind</strong> zu hinterlassen.<br />
Ich habe mich nicht wirklich wohl gefühlt bei der Vorstellung, dass es irgendwann einmal<br />
auch meinem <strong>Kind</strong> so gehen könnte, obwohl ich d<strong>am</strong>als überhaupt noch keine <strong>Kind</strong>er<br />
hatte.<br />
Was immer Sie sich heute im Oktober des Jahres 2000 über diese Vorgangsweise denken<br />
– d<strong>am</strong>als hatte ganz bestimmt niemand die Absicht, psychische <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern<br />
zu begehen. Es wurde eben in bester Absicht nach dem wissenschaftlichen Stand der<br />
Dinge gehandelt.<br />
Wahrscheinlich fallen Ihnen selber auch noch andere solcher Beispiele ein.<br />
Heute, aus der gebührlichen zeitlichen Distanz, können wir uns natürlich überlegen, was<br />
wir d<strong>am</strong>als den <strong>Kind</strong>ern angetan haben. Es ist keinesfalls in böser Absicht, sondern in<br />
bester Absicht geschehen.<br />
Das Fachpersonal, das die <strong>Kind</strong>er während der wochenlangen Trennung von ihren<br />
Angehörigen betreut hat, wusste genau: „Wir müssen hier Beziehungsarbeit leisten.“ Das<br />
waren nicht irgendwelche eiskalten Theoretiker, die an <strong>Kind</strong>ern experimentierten. Nein!<br />
Das waren Menschen, die sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit plus ihrem fachlichen<br />
Wissen engagiert haben, um für diese <strong>Kind</strong>er etwas Positives zu bewirken.<br />
Sie konnten nicht – vielleicht wollten sie es auch nicht – sehen, dass es zu zusätzlichen<br />
Problemen gekommen ist, weil man den <strong>Kind</strong>ern ihr Bezugsnetz gestohlen hat, weil die<br />
<strong>Kind</strong>er natürlich unter Trennungsängsten gelitten haben.<br />
Auch ich hätte Trennungsängste in dieser Situation!<br />
<strong>Kind</strong>er, die nicht begreifen konnten, dass sie vor jemandem geschützt werden, den sie<br />
lieb haben; <strong>Kind</strong>er, die erleben mussten, dass draußen jemand bei der Glastür vorbeigeht,<br />
mit dem sie gerne reden würden, von dem sie gerne in den Arm genommen worden<br />
wären, der aber nicht zu ihnen gelassen wurde – für Wochen! Zum Glück haben sie<br />
das mit ihrem kindlichen Verstand gar nicht ganz erfassen können, denn sonst hätten sie<br />
sich noch ganz anders „aufgeführt“, als sie es getan haben.<br />
Nachdem wir alle schon den Jahrtausendwechsel gefeiert haben, kann ich ja sagen, das<br />
passierte im vorigen Jahrhundert.<br />
Das klingt vielleicht irgendwie beruhigender.<br />
Es ist leicht, für gestern schlau zu sein<br />
Ein zweiter Hinweis.<br />
Für alle die, die schon etwas länger im Geschäft sind, oder alle die, die manchmal in die<br />
Literatur schauen, ist nicht zu übersehen, dass sich in einem Spezialgebiet, nämlich der<br />
Adoption, die Geisteshaltung der beteiligten Fachleute in den letzten 15 Jahren wesentlich<br />
verändert hat.<br />
Der Gedankengang bei Adoptionen war früher, nur ja keinen Kontakt zwischen der<br />
Herkunftsf<strong>am</strong>ilie und dem Adoptivwilligen herzustellen. Eine Behörde, zuständigerweise<br />
das Jugend<strong>am</strong>t, war dazwischengeschaltet. Bei der Behörde sind die Informationen zus<strong>am</strong>mengelaufen.<br />
Das <strong>Kind</strong> wurde anonym übergeben. Unterlagen hat es schon gegeben,<br />
aber eher nicht für die Adoptiveltern oder das betroffenen <strong>Kind</strong>.
Und dann ist etwas passiert – Menschen sind nicht immer so wie die graue Theorie:<br />
Adoptivkinder sind erstaunlicherweise, genauso wie leibliche <strong>Kind</strong>er, genauso wie<br />
Pflegekinder, älter geworden. Und dann haben sie irgendwann einmal begonnen, Fragen<br />
zu stellen wie: „Bin ich in deinem Bauch aufgewachsen?“<br />
Pflegeeltern sind auf solche Fragen trainiert gewesen, Adoptiveltern d<strong>am</strong>als nicht. So<br />
blieb ihnen nichts übrig, als die Frage als unzulässig zurückzuweisen.<br />
Doch die Adoptivkinder sind beharrlicher geworden – auch das war ja nicht vorhersehbar<br />
– und haben die Frage mehr als einmal gestellt ...<br />
Heute sind wir soweit, dass die anonyme Adoption die absolute Ausnahme ist.<br />
Wir wissen, dass die Heranwachsenden sicher fragen werden, wie ihre persönlichen<br />
Verhältnisse sind. Wir wollen zeitgerecht dafür sorgen, dass es diese Information gibt.<br />
Wir schulen Adoptiveltern. Wir beraten Adoptivf<strong>am</strong>ilien bei den Problemen ihrer heranwachsenden<br />
<strong>Kind</strong>er.<br />
Dennoch: Niemand hatte vor 15, vor 20 Jahren die Absicht, den <strong>Kind</strong>ern psychische<br />
<strong>Gewalt</strong> anzutun.<br />
Vielleicht gibt es in 20 Jahren wieder eine Tagung, bei der Leute, die heute noch relativ<br />
jung sind, unsereins, die wir dann bereits etwas grau und erschöpft in der vorderen Reihe<br />
sitzen, erzählen werden, was es d<strong>am</strong>als bei der Jahrtausendwende für absurde Ideen<br />
im Umgang mit <strong>Kind</strong>ern gegeben hat.<br />
Erste Fallgeschichte<br />
Karli, vier Jahre alt, ist jetzt endlich weg von zu Hause. Er wird in der Nacht nicht mehr<br />
so schreien, wenn daheim gestritten wird. Er wird nicht mehr grün und blau im Gesicht<br />
sein, oder sonst wo, wie man ja beim Turnen gesehen hat ...<br />
Er wird auch nicht mehr die <strong>Kind</strong>er in diesem <strong>Kind</strong>ergarten beißen und treten.<br />
Er ist jetzt weit weg von hier, bei einer anderen F<strong>am</strong>ilie. Nein, Freunde hat er wenige gehabt,<br />
vielleicht den Peter und die Karin, aber die sieht er jetzt nicht mehr. Nein, seine<br />
Eltern soll er jetzt auch nicht mehr sehen, vielleicht später einmal, wenn er sich erst eingewöhnt<br />
hat und die Therapie so richtig greift ...<br />
Nein, reden tut er jetzt nicht viel, eigentlich sehr wenig ...<br />
Ob er jetzt glücklich ist?<br />
Na jedenfalls geht es ihm viel besser als vorher, oder?<br />
Der Eingriff von außen – Garant, dass es besser wird?<br />
Im Allgemeinen haben Institutionen bestimmte Vorstellungen davon, wann <strong>Kind</strong>er „gerettet“<br />
werden müssen.<br />
Institutionen haben aus diesem Behufe oft einen Katalog, in dem genau aufgelistet wird,<br />
wann gehandelt werden muss, wann eingegriffen werden muss, wann <strong>Kind</strong>er offenbar<br />
in ihrer Herkunftsf<strong>am</strong>ilie oder im erweiterten Umfeld einer solchen Fülle von Gefahren<br />
und Gefährdungen ausgesetzt sind, dass man sie nicht mehr dort belassen kann.<br />
Bei der Jugendwohlfahrt gibt es ziemlich klare Richtlinien bzw. ein Auflistung von<br />
Hinweisen, ab wann die Gefährdung so akut ist, dass man das <strong>Kind</strong> aus dieser Situation<br />
herausnehmen muss.<br />
Es gibt aber auch weniger dr<strong>am</strong>atische Fälle – Gott sei Dank gibt es die auch –, wo man<br />
überlegen kann, ob man nicht auch mit langs<strong>am</strong> greifenden, dafür aber beharrlich<br />
angebotenen Hilfeformen zu einer Veränderung der Situation beitragen kann.<br />
Stellen Sie sich jetzt Folgendes vor: Eine Institution, eine Behörde, hat nach Durchsicht<br />
aller Kataloge festgestellt, „bei diesem bestimmten <strong>Kind</strong> ist der Pegelstand erreicht, jetzt<br />
ist Handlung angesagt“.<br />
Und so wird ein gut gemeintes Angebot gemacht. Ein gut gemeintes heißt in solchen<br />
Fällen aber: „Das <strong>Kind</strong> kommt weg“.<br />
Menschen sind nicht<br />
immer so wie die<br />
graue Theorie.<br />
85
Was aber, wenn die<br />
Pflegef<strong>am</strong>ilie nun<br />
genauso mit<br />
Schwierigkeiten<br />
beladen ist wie die<br />
ursprüngliche<br />
F<strong>am</strong>ilie? Dann hat<br />
es sich das <strong>Kind</strong><br />
aber nicht wirklich<br />
verbessert.<br />
86<br />
Das <strong>Kind</strong> kommt in eine hoffentlich bessere Situation.<br />
Wir nehmen natürlich an, dass es das betroffenen <strong>Kind</strong> bei einer anderen F<strong>am</strong>ilie, bei<br />
der Pflegef<strong>am</strong>ilie besser haben wird.<br />
Was aber, wenn die andere F<strong>am</strong>ilie nun genauso mit Schwierigkeiten beladen ist wie die<br />
bisherige? Dann hat es sich das <strong>Kind</strong> aber nicht wirklich verbessert.<br />
Es hat lange gedauert, bis den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – und da zähle ich mich<br />
auch dazu – (dank intensiver Fortbildung) klar geworden ist, dass die Unterbringung auf<br />
einen Pflegeplatz eben nicht einen komplexen Wechsel, nicht ein Streichen der<br />
Vorgeschichte bedeuten kann. Wenn man das weiß, wird auch klar, dass es nicht nur<br />
trotziges Verhalten von <strong>Kind</strong>ern ist, wenn sie auf einmal anfangen, ihre Herkunftsf<strong>am</strong>ilie<br />
zu idealisieren; dass es nicht nur Widerstand gegen die neue F<strong>am</strong>ilie ist, wenn sie dort<br />
nicht sofort in Dankbarkeit zerfließen, und dass es nicht Fehler in der Angebotsseite der<br />
Pflegef<strong>am</strong>ilie sind, wenn das <strong>Kind</strong> nicht sofort in strahlendem Glück aufgeht.<br />
Der Einblick von außen<br />
Wir haben fremde Hilfe gebraucht, Supervision mit erlebnisgeleiteten Fortbildungsformen,<br />
um zu erkennen, was in einem <strong>Kind</strong> in dieser Situation vorgehen kann; um zu<br />
erkennen, dass das <strong>Kind</strong> Verluste erleidet. Diese Verluste bemerkt es sogleich, eventuelle<br />
Erleichterungen, Verbesserungen wohl erst viel später. Ob es einmal sagen wird<br />
„Das hat mir d<strong>am</strong>als wirklich geholfen“, das können wir nicht voraussagen. Ich muss gestehen,<br />
in den Jahren, in denen ich jetzt in diesem Bereich tätig bin, habe ich das überhaupt<br />
noch von keinem <strong>Kind</strong> gehört.<br />
Ich habe es von Erwachsenen bis jetzt vielleicht drei- oder viermal gehört – aber niemals<br />
von einem <strong>Kind</strong>.<br />
Wären also positive Rückmeldung oder Dankbarkeit ein Maß, das uns hilft, unsere<br />
Verhaltensweisen zu steuern, dann wäre es besser, wir ließen es ganz.<br />
Aber der Umkehrschluss „Schauen wir doch einfach nicht hin“, der verhilft einem auch<br />
nur kurz zu gutem Schlaf.<br />
Zweite Fallgeschichte<br />
Noch eine kleine Geschichte:<br />
Fatima, 16 Jahre alt, hat es nicht leicht mit den strengen Vorstellungen ihrer F<strong>am</strong>ilie,<br />
wenn sie doch gleichzeitig sieht, wie ihre Schulfreundinnen aufwachsen und was für die<br />
alles selbstverständlich ist, nicht aber für sie.<br />
Nach einem heftigen Streit, bei dem sie auch vom Vater verprügelt wird, wendet sie sich<br />
an die Berufsschullehrerin. Diese verspricht zu helfen, wendet sich an das Jugend<strong>am</strong>t,<br />
und es kommt – nicht zuletzt wegen der festgestellten Verletzungen – zu einer<br />
Unterbringung des Mädchens in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft. Dort<br />
wird das Mädchen betreut, therapeutisch begleitet und unter Beachtung der Multikulturperspektive<br />
gestützt.<br />
Die Herkunftf<strong>am</strong>ilie hat nicht verstehen können (wollen?), warum sich eine Schule und<br />
ein Amt in die Erziehung einmischen und sich dabei genauso wie die Eltern auf das Wohl<br />
des <strong>Kind</strong>es beziehen!<br />
Für diese F<strong>am</strong>ilie ist Fatima übrigens „gestorben“!<br />
Erratum: Das Mädchen heißt nicht Fatima, sondern Monika.<br />
Wie passen die Normen, die seitens einer Institution für selbstverständlich erwartet werden,<br />
mit denen in der F<strong>am</strong>ilie zus<strong>am</strong>men?<br />
l Das kann sich auf den Erziehungsstil beziehen.<br />
l Das kann sich auf allgemeine Werthaltung beziehen.<br />
l Das kann sich auf kulturelle, religiöse Vorstellungen beziehen.
l Das kann sich auf vielerlei beziehen. Offenbar gibt es in den Institutionen Vorstellungen<br />
darüber, wie F<strong>am</strong>ilien sein sollen, und das weit über die gesetzlichen Bestimmungen<br />
hinaus.<br />
Das mag vielleicht daran liegen, dass in diesen Institutionen Menschen arbeiten, die ihre<br />
eigene Werthaltung vertreten. Es mag aber vielleicht auch daran liegen, dass dort<br />
Menschen ihre eigene Werthaltung nicht immer reflektieren.<br />
Und wenn dann in dieser Geschichte ein Mädchen vorkommt mit einem selts<strong>am</strong> klingenden<br />
N<strong>am</strong>en, dann haben Sie wahrscheinlich schon ähnliche Erfahrungen gemacht,<br />
dann ist Ihnen vielleicht schon einmal so ein konfrontierendes Gespräch in Erinnerung,<br />
wo Sie versucht haben, jemandem, der ganz anders denkt als Sie, klar zu machen, dass<br />
Sie es sind, die oder der weiß, wie es langgeht. Und wenn die F<strong>am</strong>ilie sich nicht daran<br />
hält, dann wird eben ein Eingriff notwendig.<br />
Wahrscheinlich sind Sie ein wenig zus<strong>am</strong>mengezuckt, als Sie gelesen haben, dass das<br />
Mädchen gar nicht Fatima, sondern Monika heißt. So einfach ist es nämlich nicht, dass<br />
es nur irgendwelche Minderheiten sind, die man klar auf Grund von Äußerlichkeit,<br />
Nationalität, Reisepass, Hautfarbe oder sonst etwas eingrenzen kann und sagen kann:<br />
„Das machen ja nur die dort!“<br />
Schauen Sie gut nach, mit welchen Klienten und Klientinnen Sie regelmäßig arbeiten und<br />
ob es nicht dort auch eine ganz andere Form von Minderheiten gibt.<br />
Dritte Fallgeschichte<br />
Letzte Geschichte. „Klein, aber nicht fein”<br />
Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch an Jaqueline ist erstmals aufgetaucht, als sie 12<br />
war. Sie hat sich einer Freundin (1) anvertraut, die ist dann mit ihr zur Frau Direktor (2)<br />
gegangen, dann wurde die Schulärztin (3) geholt und danach das Jugend<strong>am</strong>t verständigt.<br />
Eine Sozialarbeiterin (4) und eine Psychologin (5) haben mit Jaqueline gesprochen.<br />
Dann ist eine Anzeige gemacht worden, wodurch eine Einvernahme durch eine Polizistin<br />
(6), den Untersuchungsrichter (7), die Begutachtung durch den Gerichtssachverständigen<br />
(8) und die Befragung in der Hauptverhandlung (9) folgten. Mit der ersten<br />
Therapeutin (10) k<strong>am</strong> Jaqueline nicht soo gut zurecht, also wurden noch zwei weitere<br />
Versuche (11+12) gemacht, ja und dann noch die Erzieherinnen (13–16) im Jugendheim.<br />
Hoffentlich hat Jaqueline niemanden vergessen?<br />
Ach ja, die Mutter (17) und die Großmutter väterlicherseits (18), die gar nicht glauben<br />
kann, dass ihr Bub so etwas machen könnte („Das bildest du dir doch nur ein, gell!“) wollten<br />
die Geschichte auch genau erzählt bekommen.<br />
Für eine Verurteilung des Beschuldigten haben die Beweise nicht gereicht.<br />
Gut gemeint heißt nicht automatisch gut<br />
Sie, verehrte Experten und Expertinnen, wissen natürlich, dass so etwas heute nicht<br />
mehr sein muss. Heute kann es nicht mehr vorkommen, dass ein missbrauchtes <strong>Kind</strong><br />
quasi von Amts wegen 18 (!) mal irgendjemandem seine Geschichte erzählen muss. Sich<br />
18 (!) mal rechtfertigen muss, dass es ein Problem hat;<br />
18 (!) mal zugeben muss, in eine komplett unaushaltbare Situationen geraten zu sein und<br />
nicht den Mund gehalten zu haben; 18 (!) mal mit Leuten konfrontiert wird, die sagen:<br />
„So, wie du das sagst, kann es doch gar nicht gewesen sein.”<br />
Sie werden sagen, das kann man heute alles schon viel besser machen, es gibt doch<br />
diese kontradiktorische Befragung. Die soll doch nur einmal stattfinden und nicht beim<br />
Untersuchungsrichter und beim Hauptverhandlungsteil und bei insges<strong>am</strong>t 18 Personen.<br />
Springen Sie jetzt um 20 Jahre zurück. Hat d<strong>am</strong>als jemand gesagt: „So viele Helfer“?<br />
Alle Finger hätten Sie sich abgeschleckt, wenn es so viele Helfer gegeben hätte!<br />
87
Lauter hervorragend<br />
geschulte IntervenientInnen.<br />
Lauter<br />
Professionalistinnen<br />
und Professionalisten.<br />
Alle wollen nur<br />
das Beste vom <strong>Kind</strong>.<br />
(Hoffentlich kriegen<br />
sie es nicht!)<br />
88<br />
Man hätte es als einen großartigen Fortschritt gewertet. Lauter hervorragend geschulte<br />
Intervenienten und Intervenientinnen. Lauter Professionalistinnen und Professionalisten.<br />
Alle wollen nur das Beste vom <strong>Kind</strong>.<br />
Hoffentlich kriegen sie es nicht.<br />
Wir alle handeln immer in bester Absicht. Na klar. Trotzdem kann es passieren, dass wir<br />
d<strong>am</strong>it Schaden anrichten. Auch wenn das wirklich keiner von uns absichtlich tut.<br />
In einer ganz interessanten Arbeit in der Zeitschrift „Praxis der <strong>Kind</strong>erpsychologie“ im vorigen<br />
Jahr ist dieser Teufelskreis aufgezeigt worden. Der Teufelskreis: Was passiert,<br />
wenn man nicht auf eigene Fehler hinschaut, wenn man nicht eine selbstkritische<br />
Perspektive einnimmt, wenn man nicht von Selbstverständlichkeiten abgeht?<br />
Vereinfacht zus<strong>am</strong>mengefasst steht dort, dass es dadurch zu einem Klima des gegenseitigen<br />
fachlichen und vielleicht auch wissenschaftlichen Schulterklopfens kommt.<br />
Gut sind wir, fesch sind wir, wir machen eh alles, was wir können, und außerdem ist die<br />
Arbeit immer zu viel.<br />
Natürlich! Gut sind wir – das hoffe ich schon für unsere Klienten; fesch sind wir – das<br />
überlasse ich jedem selbst; wir machen, was wir können – das kann manchmal gefährlich<br />
werden; und die Arbeit wird zu viel – natürlich.<br />
Wir sollten uns natürlich auch überlegen, was wir dagegen unternehmen können. Wieder<br />
so ein Katalog, werden Sie sagen, und Recht haben Sie. Ich wollte es Ihnen einfach nicht<br />
ersparen. Wie könnten wir diese immer wieder drohende sekundäre Traumatisierung<br />
weitgehend vermeiden? Wenn wir es wüssten, säßen wir nicht hier, sondern würden<br />
schon daran arbeiten.<br />
Trotzdem einige Hinweise.<br />
Wie machen wir es besser? – Ein Versuch<br />
l Zunächst einmal eine ehrliche Sicht auf Nachteile beim noch so gut gemeinten<br />
Hilfsangebot. Nur das wird uns in die Lage versetzen, unsere Hilfsangebote zu optimieren.<br />
Und wenn Trennungen ein Nachteil sind, dann muss man d<strong>am</strong>it umgehen.<br />
Man wird sie aus Aspekten von <strong>Kind</strong>erschutz nicht automatisch vermeiden können,<br />
aber man muss sie in seine Überlegungen einbeziehen.<br />
Man muss diesem Aspekt ein zusätzliches Hilfsangebot widmen, inhaltlich, nicht<br />
noch einen Trennungshelfer dazu.<br />
l Fortbildung und Supervision für Helfer/innen, um sich eigenen Fehlern und<br />
Fehlentscheidungen stellen zu können und daraus zu lernen.<br />
Das ist ein Aufruf an jede und jeden Einzelnen von Ihnen und natürlich an die<br />
Dienstgeber, so etwas zu ermöglichen. Supervision und Fortbildung fallen nicht von<br />
allein vom Himmel.<br />
l Qualitätsentwicklung aus der Perspektive „<strong>Kind</strong>erschutz als Konsumentenschutz“.<br />
Wieso? – Weil es manchmal hilft, sich vorzustellen, ein <strong>Kind</strong>, 11, 12 Jahre<br />
alt, wäre Klient eines <strong>am</strong>erikanischen Konsumentenschutzanwaltes und würde sagen<br />
„Ist das wirklich das Beste, was Sie für mich tun konnten? Können Sie das beweisen?<br />
Haben Sie alle Möglichkeiten gut überlegt und mir wirklich das Beste angeboten,<br />
oder haben Sie irgendeine Routine in der Schublade, nach der ich abgehandelt<br />
worden bin?“<br />
l Und ein letzter Punkt (und hier schließt sich wieder der Kreis im Bereich Öffentlichkeitsarbeit):<br />
Ich habe es ganz <strong>am</strong> Anfang schon angedeutet. Öffentlichkeitsarbeit<br />
nicht nur reaktiv beim Skandal. Das ist eine Situation, in der wir immer wieder sind.<br />
Einem <strong>Kind</strong> geht es so schlecht, dass es auch den Medien auffällt. Es wird berichtet,<br />
es wird vorverurteilt, es wird gefragt „Warum habt ihr denn nicht ...?“
l Wenn dann erst mit Öffentlichkeitsarbeit begonnen wird, wird man der Sache nicht<br />
wirklich helfen. Da schwankt man zwischen Dementi und „Bin in einer Besprechung“,<br />
oder man versucht es mit Ehrlichkeit und hofft, dass etwas Verwandtes davon dann<br />
auch in den Medien gebracht wird.<br />
Aber tatsächlich geht es um etwas ganz anderes bei der Öffentlichkeitsarbeit. Es geht<br />
um eine begleitende Form, aktiv und permanent und nicht nur d<strong>am</strong>it etwas in der<br />
Zeitung steht.<br />
Öffentlichkeitsarbeit soll ein positiv formuliertes Ziel haben, d<strong>am</strong>it auch Entscheidungsträger<br />
rechtzeitig die erforderlichen Mittel bereitzustellen gewillt sind. Diese<br />
Entscheidungsträger bedienen sich nämlich in vielerlei Hinsicht nicht unserer fachlichen<br />
Hinweise, sondern der Informationen und dem Druck der Medien. Und das<br />
sollte uns Mut machen, auch diesen Teil unserer Arbeit zu übernehmen.<br />
Zum Schluss nehmen Sie vielleicht einen Satz als Zus<strong>am</strong>menfassung mit:<br />
Wenn wir überall dort, wo wir gut gemeinte Hilfe anbringen, die Aspekte beachten, wie<br />
sie aus der Zukunft her kritisch gesehen werden könnten, dann könnten wir doch mit der<br />
Verbesserung schon morgen früh beginnen. Dankeschön!<br />
89
90<br />
„Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“<br />
„Schule – ein Ort der Tat“<br />
Referentinnen: Dir. Gertraud Schimak, Mag. Dagmar Friedl<br />
Sehr verehrte D<strong>am</strong>en und Herren!<br />
„Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“ – wir sind Goethes Worten nachgegangen und auf<br />
Seneca gestoßen.<br />
Dieser hat Aphorismen des Hippokrates übernommen bzw. verschriftlicht. Der Geheimrat<br />
benützt lediglich den Beginn eines Hippokratischen Aphorismus, wir wollen Ihnen den<br />
vollständigen Text nicht vorenthalten:<br />
„Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, die Gelegenheit<br />
flüchtig, der Versuch gefährlich, die Entscheidung schwer.“<br />
Wir freuen uns, in der Kürze der Zeit und mit Hilfe Ihrer Aufmerks<strong>am</strong>keit über die flüchtige<br />
Gelegenheiten, den gefährlichen Versuch und die schwierige Entscheidung in den<br />
Dialog treten zu dürfen über ein sehr komplexes Thema: nämlich dem der hohen Kunst<br />
des Miteinander in der Institution Schule.<br />
Wie dieses Miteinander z.B. auch aussehen kann, zeigt die Entwicklungsgeschichte zum<br />
Goethe-Zitat, wie wir sie in der Einleitung dargestellt haben.<br />
Vom „Miteinander“ der historischen Persönlichkeiten zum Miteinander der Institution<br />
Schule – versuchen wir gemeins<strong>am</strong> den Transfer:<br />
Ersetzen wir Goethe durch Personen des Lehrkörpers – sie verdichten, sie fassen zus<strong>am</strong>men,<br />
sie entrümpeln; Seneca, der von Hippokrates übernimmt und verschriftlicht, ersetzen<br />
wir durch Vertreter/innen der Schulbehörde und Hippokrates durch die<br />
Gesellschaft.<br />
Und nehmen Sie unser gemeins<strong>am</strong>es Auftreten, als äußeres Zeichen für unsere Überzeugung,<br />
dass Lernen nur im Dialog gelingen kann, aber auch misslingt, wenn dieser<br />
verweigert wird.<br />
Dazu ein Beispiel aus dem schulischen Alltag:<br />
Erste Klasse Volksschule, zweite Stunde, Lerneinheit: Buchstaben-Laut-Zuordnung <strong>am</strong><br />
Buchstaben P, 24 Schüler/innen, eine Lehrerin, Unterrichtssprache Deutsch.<br />
Der Schüler Patrick (P-atrick!) sitzt ganz hinten auf dem Boden, sieht also alle <strong>Kind</strong>er nur<br />
von hinten, die Lehrerin kommentiert erklärend: „Ich halte ihn sonst nicht aus.“<br />
Die Lehrerin bietet zum Buchstaben P verschiedene Gegenstände an, alles beginnt mit<br />
P oder enthält diesen Buchstaben: Puppe, Postkasten, Zahnpasta, Papier.<br />
Patrick holt sich einen Teil des Angebotes und bemüht sich offensichtlich um<br />
Konzentration und Teilnahme.<br />
Patrick ergreift eine kleine Puppe, springt selbst freudig auf und ab und schreit laut und<br />
begeistert: „Peppo, hopp! Peppo, hopp!“<br />
Lehrerin: „Patrick, jetzt ist aber Schluss!“<br />
Patrick springt weiter auf und ab, die kleine Papierpuppe in seiner Hand.<br />
Lehrerin, läuft zu Patrick, nimmt ihm die Papierpuppe weg und fordert ihn nachdrücklich<br />
auf: „Patrick! Mach endlich mit!“<br />
Und das <strong>Kind</strong> mit dem glücklichen N<strong>am</strong>en P-atrick – es könnte heute seinen besonderen<br />
Tag haben, würde sein N<strong>am</strong>e Beachtung finden –, das <strong>Kind</strong> Patrick, das so einfallsreich<br />
seine Puppe Peppo taufte und mit der Aufforderung „Hopp!“ springen ließ, hat nun<br />
keine Puppe mehr und setzt sich still und ruhig, wie gefordert, auf seinen Platz zurück.
Wir überlassen es Ihrer Fantasie, wie er der Aufforderung „Mach jetzt endlich mit!“ nachkommen<br />
wird.<br />
Eine unbedeutend scheinende, fast mikroskopisch kleine Momentaufnahme aus dem<br />
Schulalltag – und wo ist die <strong>Gewalt</strong>?<br />
<strong>Gewalt</strong> ist dort, wo nicht hingehört wird, wo nicht aufeinander gehört wird, wo bestehende<br />
Erwartungen keine Neugierde zulassen, wo unvorbereitete, also nicht vorausgedachte,<br />
spontane Reaktionen keinen Platz haben und Raum und Zeit für Entwicklungsprozesse<br />
fehlen.<br />
Und wo ist die <strong>Gewalt</strong>?<br />
<strong>Gewalt</strong> ist dort, wo es nicht um Entwicklung, also prozesshaftes Geschehen gehen darf,<br />
sondern in einer vorgegebenen Zeit zu vorgegebenen Bedingungen und mit vorgegebenen,<br />
weil vorbereiteten und daher eingeschränkten, fixierten Mitteln ein bestimmtes<br />
Ziel erreicht werden soll.<br />
<strong>Gewalt</strong> ist dort, wo es nicht um die Persönlichkeit von Schüler/innen, nicht um die<br />
Wahrnehmung ihrer Ideen und emotionalen Befindlichkeit, sondern um scheinbaren<br />
Erfolg von Lehrer/innen geht.<br />
Beispiel AHS, Englisch-Stunde: Eine Schülerin kommt erheblich zu spät zum Unterricht<br />
und entschuldigt sich mit den Worten: „Ich habe heute nicht geschlafen, meine Oma ist<br />
in der Nacht gestorben.“ Darauf die Lehrerin: „It’s O.k. But tell me in English!“<br />
Ein anderes Beispiel. Elternabend, die Klassenlehrerin stellt sich und ihre Arbeitsweise<br />
vor: „Ich werde Ihre <strong>Kind</strong>er mit s<strong>am</strong>tener Faust behandeln!“<br />
Oder dies: Hauptschule, der Klassenvorstand begrüßt die Schüler/innen seiner Klasse<br />
mit den Worten: „Das sage ich euch gleich: Ich bin als strengster Lehrer der Schule bekannt!“<br />
Aber auch das: Begrüßung eines neuen Schülers durch einen Klassenlehrer:<br />
„Ah, deine F<strong>am</strong>ilie kenne ich, ich kenn ja deinen Bruder. Hoffentlich hast du eine andere<br />
Arbeitshaltung als er.“<br />
<strong>Gewalt</strong> ist dort, wo das Gegenüber nicht wahrgenommen wird, wo autoritäre Herrschaft<br />
vorbeugend – sicher ist sicher! – Schüler/innen klein, mundtot und leicht lenkbar machen<br />
soll.<br />
Schule – ein Ort der Tat<br />
<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> als Alltagsphänomen – auch wir sind Täter/innen und Opfer. Eine<br />
Tatsache, die uns erschrecken darf, aber nicht schockieren, die uns betroffen machen<br />
darf, aber nicht handlungsunfähig.<br />
Wenn wir in der bisherigen Darstellung den Fokus auf die Täterschaft im Bereich Schule<br />
gerichtet haben, wollen wir dennoch nicht vergessen, wie sehr <strong>am</strong> Schulgeschehen<br />
Beteiligte auch Opfer des Phänomens „<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong>“ sein können und de facto<br />
auch sind.<br />
Gestatten Sie uns auch jene Perspektive, die Täterinnen und Tätern überwiegend<br />
fehlende Vorsätzlichkeit der Tat unterstellt.<br />
Denn welche Personengruppe im Kontext Schule wir auch betrachten – Eltern,<br />
Schüler/innen, Lehrer/innen, Schulleiter/innen, Vertreter/innen der Schulbehörde – wir<br />
sind überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit der Problembeteiligten sich nicht<br />
kollektiv entschlossen hat, Bösewichte und <strong>Gewalt</strong>täter/innen zu werden und zu sein.<br />
Nein! Und das entschieden!<br />
Denn das Gegenteil ist der Fall: Was geschieht, firmiert unter lautersten Absichten und<br />
bei hohen Erwartungen und Zielen.<br />
Aber es geschieht auch – und das ist unsere zweite Hypothese – in Unkenntnis, im<br />
Zustand der Kantschen Unmündigkeit bezüglich grundlegender Kenntnisse menschlicher<br />
Psychodyn<strong>am</strong>ik und Kommunikation.<br />
91
92<br />
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit.“<br />
(Kant).<br />
Aufklärung versus Schuldzuweisung, Aufklärung im Sinne des Klarstellens, der klärenden<br />
Einsicht des Problembewusstseins, der Exploration des eigenen Selbst, der<br />
Erkenntnis. Aufklärung im Sinne der Selbst-Erkenntnis.<br />
Schule ist aber auch Ort der Tat in anderer Hinsicht:<br />
Schule als Institution, die alle <strong>Kind</strong>er und Jugendlichen durchwandern müssen, birgt unendliche<br />
Chancen, all das zu lernen, was andernorts nicht gelernt werden konnte.<br />
Schule als Ort der Tat, der Handlung, wo nachgeholt werden darf, wozu es andernorts<br />
keine Gelegenheit gab, wo es möglich sein muss, Fehler zu machen, die nicht sanktioniert,<br />
sondern als Gelegenheit, neue Lösungsansätze zu finden, begrüßt werden.<br />
Schule als Ort, der Probehandeln nicht nur ermöglicht, sondern nachgerade die<br />
Bedingungen für dieses bereitstellt, Bedingungen, die da sind:<br />
l vielfältige Beziehungsangebote,<br />
l Echtheit,<br />
l Flexibilität,<br />
l Einfühlung,<br />
l Erleben der eigenen Fähigkeiten und Grenzen<br />
l und ein offenes Angebot von Zeit und Raum.<br />
Das Ziel der Bemühungen im Kontext der genannten Bedingungen hieße dann das<br />
Erreichen personaler Kompetenz als der Möglichkeit, sich selbst im Umfeld wahrzunehmen,<br />
Bedürfnisse und Interessen adäquat zu formulieren und zu vertreten und Sinn im<br />
persönlichen und im Gruppen-Leben zu finden.<br />
Schule ist auch dieser Ort der Tat.<br />
Schuleingangsphase, Sarah, 8 Jahre alt, steht im Klassenzimmer. Non-verbal artikuliert<br />
sie Verzweiflung und Hilflosigkeit und teilt der Lehrerin mit:<br />
„Meine Oma hat gesagt, der N<strong>am</strong>e Sarah gefällt ihr nicht.“<br />
Die Lehrerin: „Das muss aber ganz schwer für dich sein.“<br />
Sarah setzt sich auf den Schoß der Lehrerin und beginnt zu weinen.<br />
Lehrerin, streichelt Sarah: „Das tut aber sehr weh.“<br />
Andere <strong>Kind</strong>er aus der Gruppe verlassen nach und nach ihre Arbeit und wenden sich<br />
Sarah zu:<br />
„Hör einfach nicht hin!“<br />
„Wenn sie das sagt, sag ihr, dass dir ihr N<strong>am</strong>e auch nicht gefällt.“<br />
„Sprich einfach einen Tag lang nicht mit ihr!“<br />
Die <strong>Kind</strong>er sind ganz nah bei Sarah angekommen und bieten ihre jeweils eigenen<br />
Lösungen an. Sarah spürt Interesse an ihrem Problem und fühlt die innere<br />
Verbundenheit, kann zwar keine dieser Lösungen als die ihre anerkennen, fühlt sich aber<br />
angenommen und getröstet, hört zu weinen auf und sagt: „Ich werd’ die Oma anrufen.“<br />
Wie sonst könnte sich personale Kompetenz eines <strong>Kind</strong>es äußern?<br />
Worin äußert sich die personale Kompetenz der Lehrerin?<br />
„... die Gelegenheit ist flüchtig ...“<br />
Durch die offene Wahrnehmung und die einfühlende Reaktion der Lehrerin, die sofort<br />
Raum und Zeit zur Verfügung stellt, die nicht auf Fortsetzung der Arbeit beharrt, entsteht<br />
eine Atmosphäre von Geborgenheit, in der die <strong>Kind</strong>er unaufgefordert ganz frei und entsprechend<br />
ihren Fähigkeiten Handlungsmöglichkeiten anbieten. Bewertungen fehlen.<br />
Weil die Lehrerin diesen äußeren Rahmen der Freiheit gibt, ermöglicht sie jedem einzelnen<br />
<strong>Kind</strong> einen angstfreien Zugang zur eigenen kreativen Möglichkeit.
Niemand muss überzeugen, niemand muss überzeugt werden.<br />
Frei von Bewertung kann Sarah zuhören und gelangt zu der ihr adäquaten eigenen<br />
Lösung. Alle angebotenen Lösungswege bedeuten eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten<br />
der beteiligten <strong>Kind</strong>er.<br />
Das sind Sternminuten der Pädagogik, die sich sogar als Sternstunden herausstellen,<br />
da Sarah frei von Bewertung zuhören kann und so zu der ihr eigenen Lösungsmöglichkeit<br />
gelangt.<br />
Und Sternstunde der Pädagogik auch daher, weil dieses Miteinander beweist, dass alle<br />
angebotenen Lösungsmöglichkeiten Sinn machen, nämlich jeweils für den Anbieter bzw.<br />
die Anbieterin. Und die Ges<strong>am</strong>theit der Lösungswege bedeutet zudem eine Möglichkeit<br />
zur Erweiterung des Handlungsspielraumes aller beteiligten <strong>Kind</strong>er, auch derjenigen, die<br />
sich nicht direkt involviert haben, sind sie doch Hörende. Alle <strong>Kind</strong>er und auch die<br />
Lehrerin erleben, dass es zu einem Problem viele Lösungsmöglichkeiten gibt.<br />
Und das ist Freiheit: aus dem Angebot wählen dürfen, nicht müssen, und mit dem eigenen<br />
Lösungsansatz selbstbestimmt zu entscheiden.<br />
Wäre da nur nicht die Angst ...<br />
„... der Versuch ist gefährlich, die Entscheidung schwer ...“<br />
Welche Ängste können eine Lehrerin geradezu heimsuchen, wenn sie sich auf einen derartigen<br />
Versuch einlässt? – Gedanken wie<br />
... und wenn jetzt alle die Arbeit verlassen?...<br />
... und wenn ein Streit unter den <strong>Kind</strong>ern um die beste/die einzige Lösung ausbricht?...<br />
... und wenn Sarah untröstlich weiterweint?...<br />
... und wenn ich selbst die beste Lösung nicht finde?...<br />
... und wenn meine beste Lösung von Sarah nicht angenommen wird?...<br />
... oder wenn Sarah eine Lösung wählt, die ich nicht für gut halte?...<br />
... und wenn die (schon bekannte) Oma auf einmal vor der Klassentür steht?...<br />
... und wenn ... und wenn ... und aber ... und wenn ... und wenn und aber ...<br />
... und tatsächlich: Manchmal wird alles ganz anders und viel schwieriger als erwartet.<br />
Na wunderbar! Jetzt gilt es für die Lehrerin, neue Möglichkeiten in der Schwierigkeit zu<br />
entdecken und eine Erweiterung ihres Handlungsspielraumes erfahren zu dürfen.<br />
Nannten wir nicht Schule einen Ort des Lernens für alle Beteiligten?<br />
„... die Kunst ist lang ...“<br />
In unserem Zitat geht es um die Kunst, und die Kunst der Beziehungsfähigkeit stellt ohne<br />
Zweifel hohe Anforderungen an Lehrer/innen. Diese Kunst setzt lebenslanges Lernen an<br />
der eigenen Persönlichkeit voraus.<br />
Und selbst bei besten Voraussetzungen einer reifen, eigenverantwortlichen Lehrerinnen-<br />
Persönlichkeit besteht die Gültigkeit der aphoristisch zitierten Tat-Sachen: die Kürze der<br />
Zeit, die Flüchtigkeit der Gelegenheit, die Gefährlichkeit des Versuches und die<br />
Schwierigkeit der Entscheidung.<br />
Nochmals: Selbst unter besten Voraussetzungen kann es möglich sein, dass<br />
Lehrerinnen ihr eigenes Gefühl der Hilflosigkeit entweder nicht von dem des <strong>Kind</strong>es unterscheiden<br />
können oder es nicht als Ausdruck der Hilflosigkeit des <strong>Kind</strong>es identifizieren<br />
können.<br />
Steht das eigene Erleben im Vordergrund, ist der freie Blick auf die psychische Realität<br />
des <strong>Kind</strong>es nicht möglich.<br />
Diese Perspektive erst würde die Annahme des <strong>Kind</strong>es sowie Sympathie und Solidarität<br />
für seine Situation ermöglichen. 93
94<br />
Das Gefühl der Hilflosigkeit im <strong>Kind</strong> – oft bedingt durch sein bisheriges Erleben und<br />
Mangel an Handlungsalternativen – und daraus abgeleitete Inszenierungen zeigen die<br />
Verzweiflung fehlender Ich-Stärke.<br />
Kann ein Lehrer/eine Lehrerin das eigene Erleben als Übertragung der Gefühlswelt des<br />
<strong>Kind</strong>es erkennen, bleibt seine/ihre Handlungsfähigkeit bestehen. Der/Die Lehrer/in wird<br />
in der Beziehung weiterhin bemüht sein, den Selbstwert des <strong>Kind</strong>es zu erhalten und seine<br />
Entwicklung zu fördern.<br />
„ Ach Gott! Die Kunst ist lang<br />
Und kurz ist unser Leben. Mir wird,<br />
Bei meinem kritischen Bestreben,<br />
Doch oft um Kopf und Busen bang.<br />
Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben,<br />
Durch die man zu den Quellen steigt!<br />
Und eh man nur den halben Weg erreicht,<br />
Muß wohl ein armer Teufel sterben. “<br />
(Wagner in „Faust“)<br />
Und wie sind nun „die Mittel zu erwerben, durch die man zu den Quellen steigt“?<br />
Lehrer/innen werden im Schulalltag immer wieder mit eigenen Bedürfnissen konfrontiert,<br />
in der Person des Schülers/der Schülerin begegnet jeder Lehrer/jede Lehrerin immer<br />
auch sich selbst. Gleichzeitig stellen die Bedürfnisse des <strong>Kind</strong>es höchste Anforderungen<br />
an Lehrer/innen, zusätzlich zu den eigenen, meist über-fordernden Erwartungen. Hier<br />
ist die Fähigkeit der Lehrer/innen gefordert, die eigenen Gefühle als solche zu erkennen<br />
und sie in Bezug zur aktuellen Situation zu setzen. Das bedeutet einen Wechsel der<br />
Perspektive: weg vom Verhalten, hin zum Erleben.<br />
In unserer Illustration durch die Schülerin Sarah hieße die Perspektive „Verhalten“, dass<br />
sich die Lehrerin auf das Weinen konzentriert, auch darauf, dass andere Schüler/innen<br />
den Arbeitsplatz unaufgefordert verlassen.<br />
Die Lehrerin in unserem Beispiel richtet den Fokus jedoch auf das Erleben und initiiert<br />
d<strong>am</strong>it nachhaltige Erfahrungen für alle Beteiligten, Lernen eben.<br />
Ohne Kenntnis der jeweils eigenen Persönlichkeitsstruktur, also ohne entsprechende<br />
Selbsterfahrung, fehlt in der aktuellen Situation eine tatsächliche Wahlmöglichkeit. Die<br />
eigene Befindlichkeit, nämlich die der Lehrerin, geht bevor und bestimmt die Antwort an<br />
das <strong>Kind</strong>.<br />
Kehren wir noch einmal zu unserem ersten Beispiel zurück: der Schüler Patrick, der,<br />
„Peppo, hopp!“, die Puppe ergreift und in seinem Angebot an die Lehrerin letztendlich<br />
nicht wahrgenommen wird.<br />
Uns fällt auf, dass die Lehrerin mit der Aussage „Ich halte ihn sonst nicht aus.“ eine<br />
Grenze erkennt und dadurch Kompetenz beweist. Die Grenzen wahrzunehmen bedeutet<br />
dann Erkenntnis, wenn die Lehrerin daraus die Bereitschaft zu weiteren Fragen entwickeln<br />
kann.<br />
Nietzsche sagt: „Werde, der du bist!“, und wir denken, diese Aufforderung oder<br />
Forderung an den Menschen impliziert als erste Frage diese: Wer bin ich? Und unmittelbar<br />
daran anschließend: Was brauche ich, um zu werden, wer ich bin?<br />
Für die Lehrerin heißt das: Was brauche ich, um diese Situation bewältigen zu können?<br />
Unterstützt werden unsere Thesen durch ein, wie uns scheint, ganz besonderes Zitat von<br />
Hartmut von Hentig, der schreibt:<br />
„Die Persönlichkeit des Lehrers sei sein bestes Curriculum.“<br />
Persönlichkeitsbildung aber ist ein dyn<strong>am</strong>ischer Prozess und durch Aus- und<br />
Weiterbildung niemals zu vollenden, sehr wohl aber durch diese anzubieten, zu initiieren,<br />
zu begleiten und letztendlich auch immer wieder zu fordern.
Bleibt das Vertrauen: das Vertrauen in uns selbst und in die eigenen Fähigkeiten, in die<br />
Dyn<strong>am</strong>ik der eigenen Entwicklung und in die der uns anvertrauten <strong>Kind</strong>er.<br />
Entwicklung lässt sich nicht verordnen. Sie geschieht zum einzig möglichen und daher<br />
richtigen Zeitpunkt. Manchmal wie zur Bestätigung, und manchmal zu unserer Überraschung.<br />
Wir danken für Ihre Aufmerks<strong>am</strong>keit!<br />
„ An einem dürren Ast<br />
Ist eine Blüt’ erblüht<br />
Hat sich heut nacht bemüht<br />
Und nicht den Mai verpaßt.<br />
Ich hatt’ so kein Vertraun<br />
Daß ich ihn schon verwarf<br />
Für Anblick und Bedarf<br />
Hätt ihn fast abgehaun. “<br />
(Bert Brecht)<br />
95
96<br />
„Da steh ich nun, ich armer Tor,<br />
und bin so klug als wie zuvor“<br />
„Entlastungsstrukturen“<br />
Referent: Dr. Stefan Allgäuer<br />
Was braucht es für Bedingungen, dass wir Hilfsstrukturen anbieten können, die tatsächlich<br />
auch bei denjenigen Entlastung erreichen, die von <strong>Gewalt</strong>, von psychischer und anderer<br />
<strong>Gewalt</strong> betroffen sind?<br />
Diesen Fragen will ich nachgehen. Doch dazu müssen wir zuvor sozusagen einen Blick<br />
hinter die Kulissen werfen.<br />
Im Wechselbad der Gefühle<br />
Alle, die wir im psychosozialen Umfeld arbeiten, arbeiten in einem Spannungsfeld:<br />
Einerseits müssen wir uns als Profis unserer Schwächen, unserer Unzulänglichkeiten<br />
klar sein, müssen uns unser Nicht-Erreichen und manchmal erfolgloses Bemühen offen<br />
eingestehen.<br />
Andererseits müssen wir immer wieder dokumentieren, nachweisen, begründen, erklären,<br />
dass das, was wir tun, auch effektiv ist, Resultate bringt, notwendig ist – denn<br />
sonst bekommen wir keine Finanzierung.<br />
In diesem Wechselbad der Gefühle befinde auch ich mich oft in meiner Arbeit.<br />
Wenn man das Thema psychische <strong>Gewalt</strong> und andere <strong>Gewalt</strong> in all seiner Differenziertheit<br />
anschaut, dann sieht man vier unterschiedliche Handlungsfelder für alle, die in diesem<br />
Bereich tätig sind. D<strong>am</strong>it meine ich nicht nur Profis, nicht nur jene, die dafür bezahlt<br />
werden, sondern alle, die in einen bestimmten Bereich dafür zuständig sind und die entsprechende<br />
Kompetenz mitbringen; das sind auch Eltern, das sind natürlich die<br />
Pädagogen und Pädagoginnen, sind viele andere mitwirkende Personen auch.<br />
+<br />
+<br />
S<br />
U<br />
B<br />
J.<br />
E<br />
R<br />
L<br />
E<br />
B<br />
E<br />
N<br />
–<br />
Die vier Handlungsfelder von psychischer <strong>Gewalt</strong><br />
subjektive <strong>Gewalt</strong>erfahrung:<br />
Behandlung<br />
und Unterstützung<br />
3<br />
Alltagssituationen:<br />
Prävention, Erziehung<br />
und Gesellschaft<br />
4<br />
massive, sichtbare <strong>Gewalt</strong><br />
und Reaktion:<br />
Behandlung, Schutz<br />
und Maßnahmen<br />
– INTENSITÄT ++<br />
1<br />
<strong>Gewalt</strong> mit wenig<br />
(sichtbarer) Reaktion:<br />
Beobachtung, Begleitung,<br />
Sorge und Sicherung<br />
2
Wenn wir das Thema „psychische <strong>Gewalt</strong>“ und „<strong>Gewalt</strong>“ anschauen, dann gibt es zwei<br />
unterschiedliche Vektoren, die eine Rolle spielen:<br />
zum einem (untere waagrechte Linie) der Vektor der Intensität des Erlebens, also wie<br />
stark die Intensität der <strong>Gewalt</strong> ist, wie stark die <strong>Gewalt</strong> scheinbar oder wirklich ist;<br />
auf der anderen Seite die vertikale Linie, wo wir unterscheiden können, wie ein <strong>Kind</strong> oder<br />
ein Jugendlicher jeweils die unterschiedliche <strong>Gewalt</strong> erlebt, denn das ist ja nicht immer<br />
das Gleiche.<br />
Wenn man das dann in einem einfachen Schema auflöst, ergeben sich ganz grob und<br />
ganz unscharf vier unterschiedliche Handlungsfelder für Entlastungsstrukturen.<br />
Und diese vier Handlungsfelder sind:<br />
zum einen jener Bereich (1, rechts oben), in dem es eine hohe Intensität von <strong>Gewalt</strong> gibt<br />
(wie auch immer die ausgesehen hat). Und auf der anderen Seite ist jener Bereich, wo<br />
ein starkes subjektives Erleben stattgefunden hat, wo <strong>Kind</strong>er, Jugendliche entsprechend<br />
stark reagieren, in welche Richtung auch immer. Das ist der Bereich, den wir uns in den<br />
heutigen Referaten schon vielfach angeschaut haben, wo es Behandlung, Schutz,<br />
Maßnahmen auf allen Ebenen braucht, wo es sehr intensive Hilfs- und Helfermaßnahmen<br />
braucht.<br />
Der zweite Bereich (2, rechts unten), in dem viel <strong>Gewalt</strong> aufscheint und viel <strong>Gewalt</strong> vorhanden<br />
ist, in dem aber <strong>Kind</strong>er, Jugendliche wenig oder sichtbar nicht besonders darauf<br />
reagieren.<br />
Das ist jener Bereich, wo wir all jene Maßnahmen und Handlungen setzen müssen, bei<br />
denen es darum geht, zu beobachten, zu begleiten, Sorge und Sicherung zu gewährleisten.<br />
Hier müssen wir genau schauen, ob diese subjektive Bewältigung nur eine scheinbare<br />
oder eine wirkliche ist. Vielleicht wird hier etwas nur versteckt und kommt dann später<br />
in einer anderen Form wieder hoch.<br />
Das ist jener Bereich, wo gerade auch die Mitarbeit von Pädagogen und Pädagoginnen,<br />
Eltern, anderen Berufen wie <strong>Kind</strong>ergärtner/innen usw. gefordert sind, weil wir – die<br />
Spezialist/innen – in verschiedenen Situationen nicht anwesend und in vielen<br />
Lebensbezügen nicht nahe genug „dran“ sind.<br />
Der dritte Bereich (3, links oben) ist jener, in dem Menschen subjektiv sehr intensiv auf<br />
irgendwelche Dinge reagieren, die mit <strong>Gewalt</strong> zus<strong>am</strong>menhängen, wo aber auf der anderen<br />
Seite der Zus<strong>am</strong>menhang mit der <strong>Gewalt</strong> – mit dem, was tatsächlich passiert ist<br />
– noch nicht oder nicht eindeutig festgestellt werden kann.<br />
Auch das kennen Sie wahrscheinlich aus Ihrer Arbeit – und gerade hier ist es wichtig –<br />
hier sind vor allem die <strong>am</strong>bulanten Dienste und Angebote gefragt –, das sehr ernst zu<br />
nehmen und den Menschen die Möglichkeit zu geben, in Kontakt mit sich, mit ihrem<br />
Erleben und ihrem Erfahren zu kommen; das ist eine ganz andere Form der<br />
Unterstützung in diesem Bereich.<br />
Und viertens jener Bereich (4, links unten), wo es um die scheinbaren Alltagssituationen<br />
geht, wo es darum geht, im präventiven Sinn, im pädagogischen Sinn, im Sinn von<br />
Erziehung, im Sinn von Sozial- und Gesellschaftspolitik sensibel zu werden. Sensibel zu<br />
werden überhaupt im Umgang mit dem Thema <strong>Gewalt</strong> mit- und untereinander.<br />
Das also sind die vier Handlungsfelder.<br />
Ich werde im Folgenden zwei Bereiche zum Thema „Entlastungsstrukturen“ ausführen<br />
und dann noch einen kleinen dritten Punkt zum Thema „Alltagssituationen und<br />
Prävention“.<br />
Auch die Kuh muss ins Zimmer<br />
Die erste Frage ist: „Was müssen wir tun, d<strong>am</strong>it wir bei <strong>Kind</strong>ern, Jugendlichen, die im<br />
<strong>Gewalt</strong>kontext mit <strong>Gewalt</strong> konfrontiert waren, eine Entlastung erreichen?“<br />
Ich möchte diese Frage sehr bewusst immer wieder so stellen, weil wir als Profis nicht<br />
nur darauf schauen dürfen „Was ist die richtige Methode? Was muss man tun? Was ist 97
98<br />
Oft können wir<br />
erst helfen, wenn<br />
<strong>Gewalt</strong> eskaliert.<br />
Vorschrift?“ usw., sondern eben immer wieder darauf schauen müssen: „Was können wir<br />
tun, d<strong>am</strong>it der oder die Betroffene auch tatsächlich etwas spürt und tatsächlich etwas in<br />
ihm/in ihr bewirkt wird?“<br />
Was braucht es, d<strong>am</strong>it <strong>Kind</strong>er und Jugendliche Entlastung erleben?<br />
Wir haben es da mit einem schwierigen und komplexen Thema zu tun, und das möchte<br />
ich mit einer kleinen Geschichte noch etwas verdeutlichen.<br />
Ein Mann kommt zum Meister und sagt: „Meister, ich brauche dringend Hilfe, sonst werde<br />
ich verrückt. Ich lebe mit meiner Frau, den <strong>Kind</strong>ern und Schwiegereltern in einem einzigen<br />
Raum. Wir sind mit unseren Nerven <strong>am</strong> Ende, wir brüllen uns an und schreien uns<br />
an. Es ist die Hölle. Was soll ich nur tun?“<br />
„Versprichst du alles zu tun, was ich dir sage?”, fragt der Meister.<br />
„Ich schwöre, ich werde es tun“, antwortet der verzweifelte Mann.<br />
„Gut. Wie viele Haustiere hast du?“<br />
„Eine Kuh, eine Ziege und 10 Hühner.“<br />
„Gut, nimm sie alle zu dir ins Zimmer, dann komm in einer Woche wieder“.<br />
Der Hilfesuchende war entsetzt, aber er hatte versprochen zu gehorchen. Also nahm er<br />
die Tiere ins Haus. Eine Woche später k<strong>am</strong> er wieder, ein Bild des J<strong>am</strong>mers.<br />
Er stöhnte: „Ich bin ein Wrack; der Schmutz, der Gestank, der Lärm, wir sind alle <strong>am</strong> Rand<br />
des Wahnsinns.”<br />
„Nun geh nach Hause“, sagte der Meister „und bring jetzt die Tiere wieder nach draußen.“<br />
Der Mann rannte den ganzen Heimweg und k<strong>am</strong> <strong>am</strong> nächsten Tag freudestrahlend zum<br />
Meister zurück.<br />
„Wie schön ist das Leben. Die Tiere sind draußen, die Wohnung ein Paradies, so ruhig,<br />
so sauber, so viel Platz.“<br />
Ich hab das Beispiel nicht darum gebracht, weil man uns Helfern oft vorwirft, dass wir bestenfalls<br />
die Probleme lösen, die wir selber verursachen.<br />
Ich habe es deswegen gebracht, weil wir uns oft und gerade bei diesem Thema in der<br />
schwierigen Situation befinden, abwarten zu müssen, bis <strong>Gewalt</strong> eskaliert. Erst dann<br />
können wir helfen.<br />
Wir müssen wie im Bild dieser Geschichte noch die Kuh und die Ziegen hineinstellen,<br />
um überhaupt etwas tun zu können.<br />
Das trifft vor allem oft die Helfer im öffentlichen Bereich, aber manchmal auch im freiwilligen<br />
Bereich. Die Menschen müssen oft erst so viel Druck, so viel Belastung haben,<br />
dass sie dann auch Hilfe suchen und Hilfe annehmen.<br />
Im unten stehenden Schaubild sind 4 Dimensionen skizziert, die beschreiben, welche<br />
Art von Hilfe bei oder nach <strong>Gewalt</strong>erfahrungen entlastend wirkt:<br />
Entlastung bei/nach <strong>Gewalt</strong><br />
rasch, konkret, spürbar (multi-)professionell<br />
klar wertend ganzheitlich
1) <strong>Gewalt</strong> fordert: rasches konkretes Handeln<br />
Entlastung nach <strong>Gewalt</strong> braucht zum einen rasches, konkretes für den oder die<br />
Betroffenen spürbares Handeln.<br />
Sie wissen, <strong>Gewalt</strong> ist häufig etwas, das unmittelbar erfolgt, das unmittelbar erlebt wird,<br />
das zumeist ungeplant und unvorbereitet kommt, und Menschen, die deshalb Hilfe suchen,<br />
brauchen ganz rasch etwas ganz Konkretes.<br />
Um zu entlasten, müssen wir also rasch konkrete Schritte vor- und wahrnehmen.<br />
Solche Schritte sind: Überlegen: Was tut wer? Was geschieht als Nächstes? Was mache<br />
ich?<br />
All das ist auch mit dem betroffenen <strong>Kind</strong> oder Jugendlichen zu kommunizieren.<br />
Auch wenn <strong>Kind</strong>er das vielleicht noch nicht ganz verstehen, so spüren sie dann doch,<br />
dass da jetzt etwas geschieht.<br />
Hilfe, Entlastung erfordert also rasches, konkretes, eben für die Betroffenen spürbares<br />
Handeln.<br />
Ein Beispiel: In einer kleinen Gemeinde wurde eine Missbrauchsituation bekannt.<br />
Ein junger Erwachsener lockte immer wieder jugendliche Burschen, die er über seine<br />
Arbeit als Jugendführer kennen gelernt hatte, zu sich nach Hause. Dort zeigte er ihnen<br />
pornografische Videos usw. und missbrauchte die Jugendlichen zum Teil auch.<br />
Schon als die ersten Erhebungen und Ermittlungen liefen, wurde die „Geschichte“ öffentlich.<br />
Medien hatten irgendwie Wind davon bekommen und berichteten darüber. Und<br />
das zu einem Zeitpunkt, als ein Teil der betroffenen Eltern noch gar nichts davon wusste.<br />
Es wurde öffentlich, bevor einige der betroffenen <strong>Kind</strong>er und Jugendlichen überhaupt<br />
gewusst haben, dass ihre Erfahrungen jetzt an die Öffentlichkeit kommen werden.<br />
In dieser Situation war (und ist) es ganz besonders wichtig, so rasch wie möglich alle<br />
Beteiligten und Betroffenen zus<strong>am</strong>menzuholen. Es muss mit den Eltern und soweit möglich<br />
mit den <strong>Kind</strong>ern, den Lehrer/innen, mit dem Pfarrer, mit dem Arzt/der Ärztin, also wirklich<br />
mit allen Beteiligten darüber gesprochen werden, was jetzt geschehen wird, wer was<br />
tun wird etc.<br />
Da geschah plötzlich etwas ganz Interessantes: Am ersten Tag sind die Zeitungen voll<br />
mit „Missbrauch in der Gemeinde X“ und „Jugendführer missbraucht <strong>Kind</strong>er“ usw. Zum<br />
Teil wurden in den Zeitungen Bilder gezeigt, die zur Folge hatten, dass sich die <strong>Kind</strong>er<br />
nicht mehr aus dem Haus trauten, auch die, die gar nichts d<strong>am</strong>it zu tun hatten. Es wurde<br />
also nochmals und ganz massiv psychische <strong>Gewalt</strong> ausgeübt.<br />
Am nächsten Tag jedoch waren die Medien plötzlich voll von Berichten wie „Hilfe in der<br />
Gemeinde X“.<br />
Das war der erste Schritt, um die Situation zu deeskalieren. Man sprach nicht mehr nur<br />
über die Dr<strong>am</strong>atik der Geschehnisse, sondern über den Weg, wie man jetzt möglichst<br />
allen Beteiligten weiterhelfen kann.<br />
2) <strong>Gewalt</strong> fordert: werten, ohne zu entwerten<br />
Ein zweiter Punkt: Im Umgang mit <strong>Gewalt</strong> sind wir als Helfer gefordert, klar zu werten.<br />
Und das ist durchaus etwas anderes als das, was wir in anderen Bereichen lernen; wo<br />
wir als Helfer nämlich gefordert sind, neutral, objektiv oder einfach zuhörend zu sein.<br />
In der Arbeit mit dem Thema <strong>Gewalt</strong> sind wir gefordert, klar zu werten, nicht abzuwerten<br />
und nicht andere schlecht zu machen, aber doch deutlich annehmend, unterstützend,<br />
akzeptierend zu sagen „Das ist falsch. Das ist ein Verhalten, das nicht in Ordnung ist“<br />
und dem <strong>Kind</strong>, dem Jugendlichen so auch quasi diesen Part zu verstärken oder eine Zeit<br />
lang auch abzunehmen.<br />
Die schwierigste Arbeit ist diejenige mit Opfern, die sagen: „Da war doch nichts. Der hat<br />
doch nix gemacht. Den darf man doch nicht verurteilen.“<br />
Um zu entlasten,<br />
müssen wir rasch<br />
konkrete Schritte<br />
vor- und wahrnehmen.<br />
Missbrauchsituation<br />
in einem kleinen<br />
Dorf – Medien<br />
üben psychische<br />
<strong>Gewalt</strong> aus.<br />
Normalerweise<br />
sollen Helfer/innen<br />
neutral, objektiv<br />
oder einfach zuhörend<br />
sein. Hier müssen<br />
sie klar werten.<br />
99
Wir müssen der<br />
skeptischen Öffentlichkeit<br />
deutlich<br />
machen, dass gerade<br />
mit Hilfe unserer<br />
Disziplinen Entlastung<br />
gebracht<br />
werden kann.<br />
Das soziale Umfeld,<br />
die Beziehung zu<br />
den Täter/innen,<br />
alles muss mit<br />
einbezogen werden.<br />
Sichern die Strukturen,<br />
dass das,<br />
worum es geht, im<br />
Mittelpunkt der<br />
Aufmerks<strong>am</strong>keit<br />
steht?<br />
100<br />
Ihnen in langer Arbeit deutlich zu machen, dass ihr subjektive Erleben, das vielleicht<br />
zwiespältig ist, etwas anderes ist als ein objektives „Richtig“ oder „Falsch“ und dass es<br />
eben Situationen gibt, die so nicht richtig sind, die also Übergriffe sind, ist eine schwierige<br />
Aufgabe.<br />
Ich denke, Entlastung braucht dieses klar Wertende, ohne dass wir dadurch abwerten,<br />
ohne dass wir dadurch den Anderen schlecht machen, ohne dass wir dadurch etwas<br />
kaputt machen.<br />
3) <strong>Gewalt</strong> braucht: multiprofessionelles Handeln<br />
Ein dritter Punkt: Entlastung bei/nach <strong>Gewalt</strong> braucht professionelles oder zum Teil multiprofessionelles<br />
Handeln.<br />
Gerade in einer Zeit, wo das Soziale mehr mit Sozialschmarotzer assoziiert ist als mit<br />
Solidarität, sollten wir, die Professionellen in diesem Bereich, auch deutlich machen, dass<br />
es hier Fachkompetenz braucht, um <strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen zu helfen.<br />
Wir machen uns durch unsere – berechtigten – Zweifel oft schlechter, als wir sind.<br />
Die professionellen Hickhacks oder die öffentlichen Diskussionen unter verschiedenen<br />
Berufsgruppen bzw. Repräsentant/innen von unterschiedlichen Institutionen tun uns<br />
keinen guten Dienst.<br />
Wir sollten viel mehr einer doch sehr skeptischen Öffentlichkeit deutlich machen, dass<br />
unsere Disziplinen – die pädagogischen, die sozialarbeiterischen, die psychologischen<br />
und alle anderen – ganz wichtige Bestandteile für eine Entlastung bringen können und<br />
müssen.<br />
4) <strong>Gewalt</strong> braucht: ganzheitliche Betrachtung<br />
Und schließlich als Viertes: Es ist wichtig, im Sinne der Entlastung auch ganzheitlich hinzusehen.<br />
Ganzheitlich meine ich hier in dem besonderen Sinn, dass man sich vergegenwärtigen<br />
und wissen muss, dass das <strong>Kind</strong> in einem spezifischen Umfeld lebt, dass das <strong>Kind</strong> möglicherweise<br />
in <strong>am</strong>bivalenten Beziehungen mit den Tätern konfrontiert ist, und im Sinn von<br />
Entlastung gibt es immer nur eine ganzheitliche Weiterentwicklung und nicht nur einen<br />
Teil daraus. Da sind oft Zwischenschritte notwendig, es braucht Zeit und Reifung.<br />
So weit zum ersten Teil, zur Entlastung.<br />
Als Geschäftsführer frage ich mich weiters: Wie muss ich Organisationen organisieren,<br />
Systeme und Arbeitsstrukturen organisieren, d<strong>am</strong>it es uns eher gelingt, Entlastung auch<br />
tatsächlich in Bewegung zu bringen?<br />
Organisation der Organisation<br />
Sie kennen vielleicht folgende Geschichte.<br />
Gott betrachtete nach der Erschaffung der Welt zufrieden sein Werk. Und auch der Teufel<br />
betrachtet die Schöpfung mit Wohlgefühl, auf seine Weise natürlich.<br />
Als er ein Wunder nach dem anderen begutachtete, da rief er immer wieder „Wie gelungen<br />
ist das alles. Lasst es uns organisieren und d<strong>am</strong>it alle Freude nehmen.”<br />
Wir haben mittlerweile ein paar tausend Jahre Erfahrung mit der Frage der Organisation<br />
und der Struktur und haben gelernt, wie man auch Strukturen so organisieren kann, dass<br />
sie etwas zielorientierter sind und nicht nur destruktiv.<br />
Und wenn Sie Ihre eigenen Arbeitsstrukturen – seien es Ihre Organisationen oder das<br />
Ges<strong>am</strong>tsystem anschauen – betrachten Sie diese immer unter zwei Aspekten:
l Zum einen nach der Frage „Sichern die Strukturen, dass das, worum es geht, im<br />
Mittelpunkt der Aufmerks<strong>am</strong>keit steht?”<br />
Viele Strukturen sind so konstruiert, dass dem nicht so ist. Da stehen dann Dinge<br />
wie, dass richtig abgerechnet ist, dass man keinen Schilling zu viel ausgibt im<br />
Mittelpunkt. Also organisieren Sie Strukturen so, dass das im Zentrum der Aufmerks<strong>am</strong>keit<br />
steht, was aus unser Perspektive im Zentrum stehen soll: dass es uns<br />
gelingt, <strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen bei und nach <strong>Gewalt</strong> zu helfen!<br />
l Zweitens. Stellen Sie sich die Frage: „Tragen die Strukturen dazu bei, dass es den<br />
Mitarbeiter/innen leicht gemacht wird, das zu tun, wofür sie angestellt sind?“<br />
Auch hier muss ich mich manchmal selbstkritisch fragen und beobachten, dass es<br />
oft in Organisationen, in Te<strong>am</strong>s, in Bereichen um ganz andere Dinge geht.<br />
Aber eine Organisation hat ausschließlich den Zweck, Rahmenbedingungen dafür<br />
zu schaffen, dass die Menschen, die darin arbeiten, das tun können, wofür sie bezahlt<br />
werden.<br />
Auch da könnten wir eine ganze Menge weiterentwickeln.<br />
Der Teufel steckt – in der Struktur<br />
Fragen wir uns weiter: Wo ist der Teufel bei den Strukturen <strong>am</strong> Werk?<br />
Nur zwei Aspekte dazu. Zum einen führen wir immer wieder Ablenkungs- und<br />
Dauerbrennerdiskussionen, die nichts bringen. Fragen wie „Was ist besser, privat oder<br />
öffentlich, GmbH oder Verein?“ kennen Sie. Ich glaube, aus dem Aspekt der Hilfe<br />
heraus sollten wir nur darauf schauen, was sind die Stärken und die spezifischen<br />
Bedingungen von einem Bereich, und was kann jemand besonders gut.<br />
Diese Fragen kann man auf anderer Ebene diskutieren, wenn man viel Zeit hat. Da gäbe<br />
es viel dazu zu sagen, aber im Sinne der Hilfe sollten wir Folgendes in den Mittelpunkt<br />
stellen: Was können wir besonders gut im Hinblick auf diese <strong>Kind</strong>er, Jugendlichen, die<br />
uns brauchen?<br />
Zum Zweiten achten Sie auf Krisensymptome von Institutionen oder Organisationen.<br />
Zum Beispiel, wenn es zu viele Hierarchieebenen gibt, die für einen einzelnen „Fall“<br />
zuständig sind oder wenn es zu viele unterschiedliche Bereiche gibt, die zus<strong>am</strong>menarbeiten<br />
müssen, d<strong>am</strong>it man dann effektiv etwas tun kann; oder auch wenn viele<br />
Besprechungen mit vielen Menschen notwendig sind, d<strong>am</strong>it man in einer konkreten<br />
Situation etwas tun kann. Das alles sind Hinweise, dass man strukturell im Sinne der<br />
Zielsetzung etwas besser machen könnte.<br />
Worum geht es bei den Strukturen? Das folgende Diagr<strong>am</strong>m soll wiederum vier<br />
Dimensionen aufzeigen:<br />
Zugänglichkeit sichern<br />
Klienten- und Prozessorientierung<br />
ermöglichen<br />
Strukturen sollen<br />
professionelle Arbeit<br />
ermöglichen<br />
Schutz bieten<br />
Tragen die Strukturen<br />
dazu bei, dass<br />
es den Mitarbeiter/innen<br />
leicht gemacht<br />
wird, das zu tun,<br />
wofür sie bezahlt<br />
werden?<br />
Wenn es zu viele<br />
Hierarchieebenen<br />
gibt, die für einen<br />
einzelnen „Fall“<br />
zuständig sind; wenn<br />
es zu viele unterschiedliche<br />
Bereiche<br />
gibt, die zus<strong>am</strong>menarbeiten<br />
müssen, d<strong>am</strong>it<br />
man effektiv etwas<br />
tun kann; wenn<br />
viele Besprechungen<br />
mit vielen Menschen<br />
notwendig sind,<br />
dann sollte strukturell<br />
dringend etwas<br />
geändert werden.<br />
101
Wir müssen lernen,<br />
die Sprache unserer<br />
Klienten und<br />
Klientinnen zu<br />
sprechen.<br />
Wir müssen so<br />
präsent sein, dass<br />
alle, die uns brauchen,<br />
auch wissen,<br />
dass es uns gibt.<br />
102<br />
Struktur muss<br />
Professionalität<br />
sichern.<br />
ad 1) Die Tür offen halten<br />
Strukturen sollen so wirken, dass sie für alle jene, die Hilfe brauchen – in diesem Fall<br />
<strong>Kind</strong>er und Jugendliche – zugänglich sind.<br />
Wie können wir unser Angebot so strukturieren, dass alle jene, die unsere Hilfe brauchen,<br />
also die betroffenen <strong>Kind</strong>er und Jugendlichen, dieses Angebot auch annehmen<br />
können? Wie organisieren wir Niederschwelligkeit?<br />
Welche Sprache sprechen wir, wenn wir an unsere Klientinnen und Klienten herangehen?<br />
Auf viele der Prospekte und Folder, die wir erstellen, können wir zweifelsohne stolz<br />
sein. Aber die, die diese Folder eigentlich brauchen, verstehen sie nicht.<br />
Wie können wir die Öffentlichkeitsarbeit so gestalten, dass wir so präsent sind, dass die,<br />
die uns brauchen, auch wissen, dass es uns gibt?<br />
Ich weiß, das kostet Geld. Da müssen wir mit unseren Geldgebern diskutieren, gut argumentieren,<br />
denn Geld für Öffentlichkeitsarbeit ist nicht selbstverständlich. Aber unter<br />
dem Aspekt der Hilfe ist das ein ganz wichtiger Punkt.<br />
In diesem Zus<strong>am</strong>menhang sollten wir uns auch überlegen, mit welchem Image wir arbeiten<br />
und uns präsentieren möchten. Ich glaube, das Image „Wir sind arm, krank und<br />
haben mit allen Problemen der Welt zu tun“ ist überholt.<br />
Wir sollten uns vielmehr selbstbewusst präsentieren und in der Öffentlichkeit transportieren,<br />
dass wir verantwortungsbewusst und professionell Hilfe zur Selbsthilfe anbieten.<br />
ad 2) Der Struktur den Teufel austreiben<br />
Wie schon oben aufgezeigt, eine Struktur soll Professionalität sichern, soll sichern, dass<br />
die Profis, die angestellt sind, die entsprechenden Rahmenbedingungen haben, um auch<br />
effektiv arbeiten zu können.<br />
Zweitens. Die Struktur soll so sein, dass die Mitarbeiter/innen Reflexionen machen,<br />
lernen können, sich weiterentwickeln können.<br />
Die Struktur soll die höchste Verantwortung bei den Menschen lassen und belassen, welche<br />
die konkrete Arbeit mit <strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen machen. Hierarchie kann das nicht<br />
sichern.<br />
ad 3) Sich an den Klienten orientieren<br />
Wir sollten darauf achten, wie wir uns organisieren und an wem (an wessen Zielen und<br />
Vorgaben) wir uns orientieren.<br />
Wir bieten keine Produkte an. Wenn wir sagen, wir machen Mediation, wir machen<br />
Psychotherapie in dieser und dieser Form, so denke ich, ist das eine Überbrückungshilfe,<br />
die wir brauchen.<br />
Das, was wir in der Arbeit erreichen können, ist das, was in der Interaktion zwischen<br />
Klient/Klientin und Helfer/Helferin entsteht. Und alle Methoden, die wir mit einbringen,<br />
sind unser Rüstzeug, aber nicht das Produkt, das wir „verkaufen“. Und <strong>Kind</strong>er/Jugendliche<br />
sind die – wichtigsten – Beteiligten an diesem Prozess. Sie gestalten ihn mit und<br />
machen ihn einmalig.<br />
ad 4) Auch die Helfer/innen schützen<br />
Viertens. Schließlich müssen Strukturen Schutz bieten. Schutz heißt auch Zeit, heißt<br />
auch Anonymität, Schutz vor Bekanntheit usw., und wir müssen auch darauf achten, dass<br />
wir uns selber als Helferinnen und Helfer schützen. Ich glaube, dass das eine wichtige<br />
Aufgabe von Organisationen in diesem Bereich ist. Auch Helfer/innen sind immer wieder<br />
von <strong>Gewalt</strong> bedroht, von Diff<strong>am</strong>ierung und dem Öffentlich-verurteilt-Werden.
Conklusio<br />
Vor etwa 2000 Jahren ist ein Paradigmenwechsel im Umgang mit <strong>Gewalt</strong> im christlichen<br />
Abendland vor sich gegangen.<br />
Im Alten Test<strong>am</strong>ent lautete die Botschaft „Auge und Auge, Zahn um Zahn“.<br />
Das neue Test<strong>am</strong>ent brachte dann eine neue Botschaft und verbreitete sie in der Welt:<br />
„Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halte ihm auch die rechte Wange<br />
hin“.<br />
Wir haben es 2000 Jahre mit diesem System probiert. Ich glaube nicht, dass das der<br />
Weisheit letzter Schluss ist, und denke, wir sollten das weiterentwickeln.<br />
Ich habe bei der letzten Enquete die Frage gestellt, was denn das Gegenteil von <strong>Gewalt</strong><br />
sei. Ich glaube nicht, dass das die <strong>Gewalt</strong>losigkeit und das ewige Glück sind, das können<br />
wir höchstens in einer anderen Welt erreichen.<br />
Ich glaube, dass das Gegenteil von <strong>Gewalt</strong> etwas ganz Banales ist: Wir sollten uns<br />
bemühen, unsere Unterschiedlichkeiten, unser Anderssein und unsere Verschiedenheit<br />
zu ertragen!<br />
Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte schließen:<br />
Ein paar Jäger haben zur Büffeljagd ein Flugzeug gechartert. Der Pilot setzt sie ab, und<br />
es wird vereinbart, wann er die Jagdgesellschaft wieder abholen wird.<br />
Nach den vereinbarten Tagen kommt er mit dem Flugzeug wieder zum Treffpunkt.<br />
Der Pilot wirf einen Blick auf die erlegten Büffel und sagt zu den Jägern: „Mit der<br />
Maschine kann ich aber nicht mehr als einen Büffel transportieren. Die anderen müssen<br />
Sie leider zurücklassen.”<br />
Da antworten die Jäger: „Im letzten Jahr erlaubte uns der Pilot, zwei Tiere in einer<br />
Maschine dieser Größe mitzunehmen.“<br />
Der Pilot ist zwar skeptisch, sagt aber schließlich: „O.k., wenn Sie es voriges Jahr so gemacht<br />
haben, können wir es vermutlich wieder probieren.“<br />
Die Maschine hebt ab, aber mit den Jägern und den zwei Büffeln an Bord kann sie kaum<br />
an Höhe gewinnen, und so prallt sie gegen eine nahe gelegenen Berg.<br />
Die Männer klettern aus dem Wrack heraus, blicken sich um, und ein Jäger sagt zu den<br />
anderen: „Was glaubt ihr, wo wir sind?”<br />
Da erwidert einer: „Ich glaube, wir befinden uns ungefähr zwei Kilometer links von der<br />
Stelle, an der wir letztes Jahr abgestürzt sind.“<br />
„Da steh ich nun, ich armer Tor“ war der Übertitel meines Referates. Wie können wir erreichen,<br />
dass es uns immer ein bisschen mehr gelingt, das Anderssein des Anderen zu<br />
ertragen?<br />
Ich glaube, wir könnten das erreichen, wenn wir das tun, was der Pilot hätte tun sollen,<br />
nämlich den Mut zu haben, <strong>am</strong> richtigen Ort „ja“ und <strong>am</strong> richtigen Ort „nein“ zu sagen.<br />
Wir könnten das erreichen, wenn wir das tun, was die Jäger hätten tun sollen, nämlich<br />
aus der eigenen Erfahrung, aus der Erfahrung der Anderen und aus der Geschichte im<br />
Leben und in der Welt zu lernen.<br />
Und wir könnten das Aushalten unserer Unterschiedlichkeit und Vielseitigkeit erreichen,<br />
wenn wir das tun, was die Büffel hätten tun sollen, nämlich <strong>am</strong> Leben zu bleiben und uns<br />
selber zuzugestehen, dass wir verschieden und anders sein dürfen. Dann halten wir das<br />
auch bei den anderen besser aus, und das ist die beste Prävention von <strong>Gewalt</strong>.<br />
Das Gegenteil von<br />
<strong>Gewalt</strong> ist nicht<br />
<strong>Gewalt</strong>losigkeit.<br />
Wir müssen den<br />
Mut aufbringen,<br />
<strong>am</strong> richtigen Ort<br />
„ja“ und <strong>am</strong> richtigen<br />
Ort „nein“ zu<br />
sagen.<br />
103
Ein Mädchen wurde<br />
im Alter von einem<br />
Jahr fremduntergebracht,<br />
das andere<br />
Mädchen lebt heute<br />
noch bei seiner<br />
F<strong>am</strong>ilie.<br />
Mutter: 30 Jahre,<br />
geistig behindert, hat<br />
einen Sachwalter.<br />
Vater: 40 Jahre,<br />
keine geregelte<br />
Arbeit, da er an<br />
Depressionen leidet.<br />
104<br />
„Das Gute liegt uns oft so fern“<br />
„Prognose versus Vorurteil: Stolperstein der Prävention“<br />
Referentin: Dr. Eva Traindl<br />
Kann eine Prognose gleichs<strong>am</strong> zu einem Vorurteil und so zum Stolperstein der<br />
Prävention werden?<br />
Die folgenden zwei Fälle sollen Ihnen zeigen, welchen Einfluss Prognosen auf die weitere<br />
Entwicklung eines <strong>Kind</strong>es haben können. Urteilen Sie selbst, ob die Prognose hier<br />
zu einem Stolperstein der Prävention geworden ist.<br />
Die Geschichten von „Anna“ und „Berta“<br />
Auch wenn ich jetzt von den beiden Fällen parallel berichte, lagen zwischen den beiden<br />
Geschichten Jahre.<br />
Am Anfang verlaufen die beiden Fälle fast ident, erst im Verlauf entwickeln sie sich dr<strong>am</strong>atisch<br />
auseinander.<br />
Ich stelle Ihnen also zwei F<strong>am</strong>ilien vor: F<strong>am</strong>ilie A. mit ihrer Tochter Anna und F<strong>am</strong>ilie B.<br />
mit ihrer Tochter Berta.<br />
Beide <strong>Kind</strong>er, Anna und Berta, habe ich von Geburt an betreut.<br />
Das eine Mädchen wurde im Alter von einem Jahr fremduntergebracht, das andere<br />
Mädchen lebt heute noch bei seiner F<strong>am</strong>ilie.<br />
Ich werde Ihnen jetzt über das erste Lebensjahr dieser <strong>Kind</strong>er berichten.<br />
Sie haben die Gelegenheit zu überlegen, welche Prognosen sich hier als richtig herausgestellt<br />
haben. Welche Vorhersagen – eine Prognose ist eine Vorhersage – wurden<br />
möglicherweise durch Vorurteile beeinflusst, wo wäre Prävention möglich gewesen, und<br />
wo war sie möglich?<br />
Die Vorgeschichte<br />
Ich erzähle Ihnen die Vorgeschichte, soweit sie mir d<strong>am</strong>als bei der Geburt der <strong>Kind</strong>er bekannt<br />
war.<br />
F<strong>am</strong>ilie A.<br />
Anna, das <strong>Kind</strong> der F<strong>am</strong>ilie A., wird nach unauffälliger Schwangerschaft entbunden. Sie<br />
ist unmittelbar nach der Entbindung beschwerdefrei. Annas Mutter ist 30 Jahre alt und<br />
hat eine geistige Behinderung.<br />
Vor ihrer Heirat mit Herrn A. lebte sie in einer Wohngemeinschaft für geistig behinderte<br />
Menschen. Sie hat einen Sachwalter, das heißt, sie ist nur unzureichend im Stande, ihre<br />
eigenen Belange wahrzunehmen.<br />
Ihr Mann, Herr A., ist 40 Jahre alt. Er ist seit längerer Zeit arbeitslos. Er kann keiner<br />
geregelten Arbeit nachgehen, weil er seit Jugendjahren an Depressionen und immer<br />
wiederkehrenden Angstzuständen leidet. Er wohnt – bis zur Geburt seiner Tochter – bei<br />
seiner Mutter.<br />
Ich erfahre von dem Fall durch die zuständige Sozialarbeiterin, die mich informiert und<br />
bittet, die medizinische Betreuung des <strong>Kind</strong>es zu übernehmen. Es besteht eine Auflage,<br />
welche die Eltern verpflichtet, das <strong>Kind</strong> regelmäßig zu kinderärztlichen Untersuchungen<br />
zu bringen.
F<strong>am</strong>ilie B.<br />
Auch Berta wird nach unauffälliger Schwangerschaft entbunden und ist nach der<br />
Entbindung beschwerdefrei.<br />
Bertas Mutter ist 30 Jahre alt und hat eine geistige Behinderung. Sie arbeitete in einer<br />
geschützten Werkstätte und besuchte die Sonderschule.<br />
Sie wohnt bis zur ihrer Heirat bei ihrer Herkunftsf<strong>am</strong>ilie. Auch sie hat einen Sachwalter,<br />
da sie nicht im Stande ist, eigene Belange wahrzunehmen.<br />
Herr B., ihr Mann, ist 42 Jahre alt. Er ist seit einem Arbeitsunfall Frührentner und leidet<br />
seit diesem Unfall an epileptischen Anfällen.<br />
Auch in diesem Fall wurde ich vom zuständigen Jugend<strong>am</strong>t – es war ein anderes<br />
Jugend<strong>am</strong>t als bei der F<strong>am</strong>ilie A. – informiert, und die Sozialarbeiterin hat mich gebeten,<br />
die medizinische Betreuung zu übernehmen; das vor allem deshalb, weil ich Bertas<br />
Mutter schon von einer früheren Schwangerschaft und von einer früheren Geburt her gekannt<br />
habe.<br />
Sie werden jetzt nach diesen Erstvorstellungen wahrscheinlich nicht wissen, welches<br />
<strong>Kind</strong> in der Folge fremduntergebracht werden musste und welches nicht.<br />
Das erste Gespräch<br />
Ich lerne die Eltern von Anna und die Eltern von Berta kennen, als sie zu mir in die<br />
Ordination bzw. zu mir in die Elternberatung kommen.<br />
Ich gebe Ihnen eine Beschreibung der Eltern, d<strong>am</strong>it Sie sich vorstellen können, wie sie<br />
ausgesehen und wie sie sich verhalten haben.<br />
Annas Eltern<br />
Annas Mutter, Frau A. ist sehr groß. Sie hat auffällige Gesichtsmissbildungen. Sie hat<br />
sehr starke Zahnfehlstellungen. Sie kann ihren Mund nicht schließen und speichelt sehr<br />
stark beim Sprechen. Ihre Kleidung ist vernachlässigt.<br />
Herr A. ist ebenfalls sehr groß. Er wirkt sehr ungepflegt. Er trägt seinen sehr langen<br />
Vollbart, der voller Essensreste ist.<br />
Im Gespräch macht Herr A. einen sehr höflichen und gebildeten Eindruck.<br />
Seine Frau antwortet auf Fragen mit stereotypen Sätzen oder Satzteilen, z.B. Oijoijoi oder<br />
Jajaja.<br />
Bei der Nachbesprechung mit der Sozialarbeiterin meint diese, dass die Mutter kaum in<br />
der Lage sein werde, Anna zu versorgen. Von einer Fremdunterbringung hat das<br />
Jugend<strong>am</strong>t nur deshalb bis jetzt Abstand genommen, weil der Vater sehr ernsthaft versprochen<br />
hat, seine Frau zu unterstützen. Außerdem findet die F<strong>am</strong>ilie noch<br />
Unterstützung durch die väterliche Großmutter, bei der sie einstweilen wohnen können.<br />
Die <strong>Kind</strong>erpflegerin wird bei Bedarf vorbeikommen und den Eltern helfen.<br />
Man wird aber – und Sie sehen hier die erste Prognose – um eine Fremdunterbringung<br />
nicht herumkommen.<br />
Nun zur Erstvorstellung von Berta.<br />
Bertas Eltern<br />
Bertas Mutter ist mir – das habe ich schon erwähnt – von früher her bekannt. Bertas<br />
Mutter hat bereits eine Geburt hinter sich. Sie hat ihr <strong>Kind</strong> einige Jahre großgezogen, bis<br />
es fremduntergebracht wurde.<br />
Dieses <strong>Kind</strong> wurde fremduntergebracht, weil es, ebenso wie Frau B., eine Behinderung<br />
hatte. Es handelte sich um eine geistige Behinderung, die zunehmend schwer wiegender<br />
geworden ist. Weiters bestand bei diesem ersten <strong>Kind</strong> der Verdacht, dass die mütterliche<br />
Großmutter das <strong>Kind</strong> misshandelt hat. Das war aber nur ein Verdacht. Das <strong>Kind</strong> wurde<br />
Mutter: 30 Jahre,<br />
geistig behindert, hat<br />
einen Sachwalter.<br />
Vater: 42 Jahre,<br />
Frührentner, leidet<br />
an epileptischen<br />
Anfällen.<br />
Frau A. hat<br />
Gesichtsmissbildung,<br />
Zahnfehlstellung,<br />
speichelt stark beim<br />
Sprechen.<br />
Herr A. wirkt sehr<br />
ungepflegt, jedoch<br />
höflich und gebildet<br />
Sozialarbeiterin:<br />
„Man wird um eine<br />
Fremdunterbringung<br />
des <strong>Kind</strong>es nicht<br />
herumkommen.“<br />
105
Frau B.s erstes <strong>Kind</strong><br />
wurde fremduntergebracht.<br />
Unglücklich<br />
über diesen Verlust,<br />
will sie unbedingt<br />
noch ein <strong>Kind</strong>: Berta.<br />
Herr B. ist sehr<br />
aggressiv; hat Angst,<br />
dass sein <strong>Kind</strong><br />
ebenso wie das erste<br />
<strong>Kind</strong> seiner Frau<br />
fremduntergebracht<br />
werden wird.<br />
Beide <strong>Kind</strong>er<br />
bleiben in ihrer<br />
Entwicklung zurück<br />
Annas Eltern suchen<br />
die Entwicklungs<strong>am</strong>bulanz<br />
auf. Bertas<br />
Eltern lehnen alles,<br />
was vom „Amt“<br />
kommt, als Kontrollversuch<br />
ab.<br />
Beide Mädchen<br />
beginnen eine<br />
Physiotherapie.<br />
Auch Bertas<br />
Sozialarbeiterin<br />
meint, dass sie um<br />
eine Fremdunterbringung<br />
nicht herumkommen<br />
werde.<br />
Annas Eltern freuen<br />
sich über jeden<br />
Fortschritt. Bertas<br />
Eltern brechen den<br />
Kontakt zu Ärzte<br />
und Ärztinnen,<br />
Institut und<br />
Jugend<strong>am</strong>t ab.<br />
106<br />
.<br />
fremduntergebracht, und Bertas Mutter, Frau B., war sehr unglücklich über den Verlust<br />
des ersten <strong>Kind</strong>es. Bei ihr hat ein sehr starker <strong>Kind</strong>erwunsch bestanden. Sie hat mehrmals<br />
versucht, das <strong>Kind</strong> aus dem Pflegeheim, in dem es untergebracht war, zu entführen.<br />
Als sie gesehen hat, dass das keinen Sinn hat, und da sie zu dieser Zeit Herrn B. kennen<br />
gelernt hat, ist sie wieder schwanger geworden – mit Berta.<br />
Herr B. wirkt in diesem ersten Kontakt auf mich ängstlich aber auch sehr aggressiv. Sein<br />
Arbeitsunfall liegt schon lange zurück. Epileptische Anfälle bekommt er nur dann, wenn<br />
er seine Medik<strong>am</strong>ente nicht regelmäßig einnimmt. Bei oder nach diesen epileptischen<br />
Anfällen ist es aber auch schon vorgekommen, dass er aggressiv geworden ist.<br />
Herr B. äußert sehr aggressiv und sehr ängstlich seine Befürchtungen, dass dieses –<br />
sein – <strong>Kind</strong> so wie das erste <strong>Kind</strong> seiner Frau in ein Heim kommen könnte. Er hofft aber,<br />
dass jetzt alles in Ordnung kommt, weil er steht auf dem Standpunkt, „wozu hätte er denn<br />
die Frau überhaupt geheiratet, wenn sich jetzt wieder das Amt in alles einmischt“. Er versteht<br />
die Auflage nicht.<br />
Die ersten Lebensmonate<br />
Ich erzähle Ihnen jetzt von den ersten Monaten im Leben von Anna und Berta.<br />
Es ergibt sich ein wesentlicher Punkt bei beiden <strong>Kind</strong>ern. Beide <strong>Kind</strong>er bleiben in ihrer<br />
Entwicklung zurück. Das wird schon in den ersten Lebenswochen auffällig. Beide <strong>Kind</strong>er<br />
zeigen kaum Blickkontakt, sind in ihren Bewegungsmustern auffällig, und ich empfehle<br />
bei beiden <strong>Kind</strong>ern – und bespreche das auch mit der Sozialarbeiterin – eine zusätzliche<br />
Diagnostik und Therapie in einer Entwicklungs<strong>am</strong>bulanz.<br />
Die Eltern gehen mit diesem Problem unterschiedlich um.<br />
Annas Eltern sind dem gegenüber positiv eingestellt. Sie suchen die Ambulanz für<br />
Entwicklungskontrolle und Therapie auf und beginnen eine Physiotherapie mit Anna.<br />
Bertas Eltern haben das Gefühl, dass sie in dieser – es wird in Wien als Sondermutterberatung<br />
bezeichnet – Beratungsstelle vom Jugend<strong>am</strong>t zusätzlich noch kontrolliert werden.<br />
Der Vater sagt mir in der Ordination, er werde nichts annehmen, was von irgendwelchen<br />
Ämtern ausgeht, da er doch mit Ämtern so schlechte Erfahrungen gemacht hat.<br />
Ich bespreche mit der Sozialarbeiterin die Möglichkeit, dass man Bertas Eltern in ein<br />
Institut für Entwicklungsdiagnostik und -therapie zuweist, d<strong>am</strong>it sich die Eltern selbst melden<br />
können. Und das funktioniert dann auch. Bertas Eltern melden sich selbst dort und<br />
beginnen ebenfalls mit Berta eine Physiotherapie.<br />
Die Sozialarbeiterin war in diesem Fall der Ansicht, dass auch diese Eltern um eine<br />
Trennung von ihrem <strong>Kind</strong> nicht herumkommen werden, vor allem auf Grund dessen,<br />
dass schon ein <strong>Kind</strong> fremduntergebracht ist und auch, weil sich der Vater den Sozialarbeiterinnen<br />
<strong>am</strong> Jugend<strong>am</strong>t gegenüber ausgesprochen aggressiv benimmt.<br />
Therapieverlauf<br />
Annas Therapie<br />
Bei Anna wird mit der Physiotherapie begonnen. Die Eltern freuen sich über jeden<br />
Fortschritt. Allerdings beginnen sich Herrn A.s Depressionen zu verstärken, und er muss<br />
seiner Depressionen und seiner eigenen körperlichen Beschwerden wegen selbst sehr<br />
viele ärztliche Termine wahrnehmen.<br />
Er wünscht sich daher, dass die Auflage geändert wird, d.h. dass er nicht mehr so oft mit<br />
seiner Tochter zur Kontrolle kommen muss bzw. dass sie gelockert wird.<br />
Bertas Therapie<br />
Bertas Eltern besuchten freiwillig mehrmals das Institut für Entwicklungsdiagnostik. Auch<br />
mit Berta wurde eine Physiotherapie begonnen. Aber dann hat man ihnen vom Amt aus
noch zusätzlich eine Intensivbetreuung empfohlen. Auf Grund dieser zusätzlichen<br />
F<strong>am</strong>ilienintensivbetreuung haben sich Bertas Eltern dazu entschlossen, den Kontakt zu<br />
dem behandelnden Arzt und Betreuungspersonal im Institut für Entwicklungsdiagnostik<br />
und auch zum Jugend<strong>am</strong>t überhaupt abzubrechen („Es wird uns zuviel!“).<br />
Bertas Vater hat mir noch einmal gesagt, er wäre der Meinung, man würde ihm nur deshalb<br />
so viele Therapien aufbrummen, d<strong>am</strong>it man endlich einen Beweis findet, d<strong>am</strong>it man<br />
ihm das <strong>Kind</strong> wegnehmen kann.<br />
Ich habe mich sehr bemüht, dass er das nicht so sieht, aber er ist bei seiner Meinung geblieben.<br />
Paradoxon<br />
Bei Anna konnte die Auflage geändert werden. Anna musste nur mehr einmal monatlich<br />
von mir untersucht werden, und jetzt passiert das Paradoxe in Annas Fall. Wir haben ein<br />
Übereinkommen getroffen, dass sie nicht mehr so oft zu einer Kontrolle in die<br />
Elternberatung und in meine Ordination zu kommen brauchen, sondern dass die Eltern<br />
ihre Energien dafür aufwenden sollen, die Physiotherapie im Institut für Entwicklungsdiagnostik<br />
mit Anna durchzuziehen.<br />
Und da haben die Eltern ganz anders reagiert als erwartet. Sie brachten das <strong>Kind</strong> sogar<br />
öfter zu uns als vorher. Sie suchten uns auf, teilweise, um uns etwas zu erzählen, etwas<br />
zu zeigen oder uns um Rat zu fragen. Sie k<strong>am</strong>en sowohl öfters in die Ordination als auch<br />
in die Elternberatung, und ihre Termine im Institut für Entwicklungsdiagnostik hielten sie<br />
ebenfalls ein. Wir hatten das Gefühl, ihr Vertrauen gewonnen zu haben.<br />
Bertas Weg<br />
Bei Berta war es dann so, dass die Eltern wirklich alle Therapien und alle Kontakte abgebrochen<br />
haben. Ich sah den Vater noch einmal, als er mich bat, ihm eine Bestätigung<br />
zu schreiben, dass ich das <strong>Kind</strong> regelmäßig gesehen hätte. D<strong>am</strong>it würde er in der<br />
Gerichtsverhandlung einen Beweis haben, dass er die Auflage erfüllt hätte.<br />
Ich kann die Eltern nicht davon überzeugen, dass das nicht ausreicht, und ich erfahre<br />
dann in einem Folgegespräch mit der Sozialarbeiterin, dass den Eltern bereits vor einigen<br />
Wochen mitgeteilt worden war, dass sie das <strong>Kind</strong> nicht behalten können.<br />
Annas Weg<br />
Bei Anna zeigt sich im 10. und 12. Lebensmonat ein deutlicher Entwicklungsschub. Da<br />
die Eltern von Anna nicht in der Lage sind, die Therapien zu Hause durchzuführen – die<br />
Physiotherapeutin, die mit Anna arbeitet, sagt, sie hat das Gefühl, die Eltern arbeiten<br />
zwar im Institut mit, würden aber die gezeigten Übungen zu Hause nicht anwenden können<br />
– wird für Anna zusätzlich eine mobile Frühförderung empfohlen.<br />
Erstmals sind die Eltern nicht einverstanden.<br />
Daraufhin versuchen wir in einem Gespräch ihre Ängste zu besprechen. Dabei zeigt sich,<br />
dass die Eltern zum Beispiel Angst davor haben, aus irgendeinem Grund gleichzeitig einen<br />
anderen Termin wahrnehmen zu müssen. Dann wären sie womöglich nicht zu<br />
Hause, wenn die Frühförderin kommt, und dann würden sie als unverlässlich gelten.<br />
Außerdem wollen sie keine Frühförderin ins Haus lassen, da sie sonst regelmäßig „zus<strong>am</strong>menräumen“<br />
müssten.<br />
Wir beschließen Folgendes: Wir vereinbaren mit den Eltern eine Bedenkzeit und sagen,<br />
sie sollen selbst entscheiden, so wie andere Eltern auch, ob sie eine zusätzliche<br />
Förderung für ihr <strong>Kind</strong> in Anspruch nehmen wollen oder nicht. Sie haben ja schon einmal<br />
eine Förderung in Anspruch genommen. Sie haben sozusagen schon bewiesen,<br />
dass sie für ihr <strong>Kind</strong> etwas tun wollen. Ob sie zusätzlich etwas tun wollen, das überlassen<br />
wir ihnen.<br />
Trotz Lockerung der<br />
Auflagen kommen<br />
Annas Eltern öfter<br />
in Ordination und<br />
Beratung.<br />
Berta wird fremduntergebracht.<br />
Annas Eltern sind<br />
gegen die mobile<br />
Frühförderung.<br />
Nach der Bedenkzeit<br />
entscheiden sich<br />
Annas Eltern für die<br />
Frühförderung.<br />
Niemand spricht<br />
mehr von Fremdunterbringung.<br />
107
Wie hätte Ihre<br />
Prognose ausgeschaut?<br />
Hätten Sie<br />
<strong>am</strong> Anfang der<br />
Geschichte gewusst,<br />
welches Mädchen<br />
fremduntergebracht<br />
wurde?<br />
Auch Therapeuten<br />
und Therapeutinnen<br />
sind nicht vorurteilsfrei!<br />
Wir müssen uns<br />
bemühen, für die<br />
Sichtweise des<br />
Anderen offen zu<br />
sein; nicht nur für<br />
die Sichtweise der<br />
Eltern, sondern auch<br />
für die der anderen<br />
Therapeuten und<br />
Therapeutinnen.<br />
108<br />
Kurz vor Annas erstem Geburtstag haben sich die Eltern dann entschieden, die mobile<br />
Frühförderung für ihre Tochter in Anspruch zu nehmen. Herr A. sagt, er wolle nicht Schuld<br />
sein, dass sein <strong>Kind</strong> sich nicht gut entwickelt, und immerhin wäre er ja der Vater und d<strong>am</strong>it<br />
in erster Linie für seine Tochter verantwortlich. Im Schutze des vertrauensvollen<br />
Umganges miteinander war er fähig geworden, sich auch selbst Verantwortung zuzutrauen.<br />
„Das Gute liegt uns oft so fern“<br />
Das war der Übertitel dieses Referates, in dem es um Prognosen und um Beeinflussung<br />
durch Vorurteile gehen sollte.<br />
Wo wären Ihre Vorurteile gewesen?<br />
Wie hätten Ihre Prognosen ausgeschaut?<br />
Ich habe diese beiden Fälle für Sie ausgewählt, weil ich es so spannend finde, dass sie<br />
so ähnlich angefangen haben. Beide Mütter sind geistig behindert. Beide <strong>Kind</strong>er bleiben<br />
in ihrer Entwicklung zurück. Beide Väter sind krank. Es ist eine schlechte Ausgangslage,<br />
die es fast unmöglich macht, überhaupt an das Gute zu glauben. Man wird um eine<br />
Fremdunterbringung nicht herumkommen, lautet die Prognose nach der Geburt der<br />
<strong>Kind</strong>er.<br />
Was ist Prävention? Einfach gesprochen ist Prävention das Verhindern, dass etwas<br />
Schlimmeres passiert. Das Schlimme, die weitere Fehlentwicklung des <strong>Kind</strong>es, aber<br />
auch die Trennung des <strong>Kind</strong>es von den Eltern soll verhindert werden. Und genau das<br />
scheint in beiden Fällen <strong>am</strong> Anfang schwierig zu sein; sowohl bei Anna als auch bei<br />
Berta.<br />
Conklusio<br />
Zus<strong>am</strong>menfassend glaube ich, dass folgende Punkte hilfreich waren, dass Annas<br />
Geschichte gut ausgegangen ist.<br />
Alle mit dem Fall betrauten Personen, die Sozialarbeiterin, die <strong>Kind</strong>erpflegerin, die<br />
Physiotherapeutin, die behandelnden Ärzte/Ärztinnen, und das war nicht nur ich, das waren<br />
auch die Ärzte/Ärztinnen im Institut für Entwicklungsdiagnostik, haben ihre<br />
Vorgangsweise bei Bedarf miteinander abgesprochen. Das jetzt nicht so sehr im Sinne<br />
einer Supervision oder im Sinne einer Helferkonferenz, sondern wenn ein Punkt fraglich<br />
war, wenn Fragen aufgetaucht sind, dann haben wir miteinander gesprochen. Wir haben<br />
auch mit den Eltern gesprochen und sie über weitere Schritte informiert. Wir waren offen<br />
für die Sichtweise des Anderen, nicht nur für die Sichtweise der Eltern, sondern auch<br />
offen für die Sichtweise der anderen Therapeuten und Therapeutinnen.<br />
Auch Therapeuten und Therapeutinnen sind nicht vorurteilsfrei! Aber wir haben unseren<br />
Vorurteilen nicht nachgegeben, weil wir uns und den Eltern vertraut haben.<br />
Wir haben nicht an unserer anfänglichen Prognose, d.h. an unserer anfänglichen<br />
Vorhersage festgehalten, sondern wir haben uns überraschen lassen. Wir waren neugierig,<br />
wir waren erwartungsvoll, ob sie unseren Empfehlungen nachkommen können,<br />
und letztendlich sind wir – in Annas Fall – positiv überrascht worden.<br />
Dennoch: Was ich für wesentlich halte: Wir haben den Eltern von Anna von Anfang an<br />
sicherlich mehr (Kompetenz) zugetraut als Bertas Eltern.
Literatur:<br />
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Der große Umbruch im Leben des Paares.<br />
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Werneck, H. & Werneck-Rohrer, S. (Hrsg.). (2000): Psychologie der F<strong>am</strong>ilie.<br />
Theorien, Konzepte, Anwendungen.<br />
WUV, Wien.<br />
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Werneck, H. (1998): Übergang zur Vaterschaft. Auf der Suche nach den<br />
„Neuen Vätern“.<br />
Springer-Verlag, Wien und New York.<br />
Werneck, H. (1998): Übergang zur Vaterschaft. Auf der Suche nach den<br />
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Springer-Verlag, Wien und New York.<br />
Zulehner, P. M. & Volz, R. (1999): Männer im Aufbruch.<br />
Schwabenverlag, Ostfildern.<br />
Zumkley-Münkel, C. (1996): <strong>Kind</strong>er brauchen Grenzen! Aber was bedeutet das?<br />
Psychologie in Erziehung und Unterricht, 43, 302-306.
Kurzbiografien<br />
- in alphabetischer Reihenfolge<br />
Allgäuer, Dr. phil. Stefan<br />
Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut;<br />
praktische Arbeit im <strong>Kind</strong>erdorf Vorarlberg und in der Erziehungs- und<br />
Erwachsenenberatung im Institut für Sozialdienste, Supervisor, seit 1995<br />
Geschäftsführer des Institutes für Sozialmedizin in Vorarlberg.<br />
Bogyi, Dr. phil. Gertrude<br />
Klinische Psychologin und Psychotherapeutin an der Universitätsklinik für<br />
Neuropsychiatrie des <strong>Kind</strong>es- und Jugendalters und in freier Praxis.<br />
Präsidentin und Lehranalytikerin im Österreichischen Verein für Individualpsychologie.<br />
Lehrbeauftragte an der Universität Wien<br />
Derschmidt, Dr. phil. Luitgard<br />
Bildungsreferentin des Forums Beziehung, Ehe und F<strong>am</strong>ilie der Katholischen<br />
Aktion Österreich<br />
Erwachsenenbildnerin mit Schwerpunkt Eltern-, Partner- und F<strong>am</strong>ilienbildung,<br />
verheiratet, Mutter dreier erwachsener <strong>Kind</strong>er.<br />
Friedl, Mag. Dagmar<br />
AHS-Lehrerin für Deutsch und Philosophischen Einführungsunterricht;<br />
Studium an der Bundesakademie für Sozialarbeit; seit 1995 Lehrerin in<br />
Mosaikklassen des Rudolf-Ekstein-Zentrums; Psychagogin in Ausbildung.<br />
Leixnering, Dr. med. Werner<br />
Facharzt für Psychiatrie und Neurologie/<strong>Kind</strong>er- und Jugendneuropsychiatrie,<br />
Psychotherapeut;<br />
Leitender Oberarzt des Bereichs Heilpädagogik und Psychosomatik an der<br />
Klinischen Abteilung für Allgemeine Pädiatrie der Universitätsklinik für <strong>Kind</strong>erund<br />
Jugendheilkunde Wien (bis Mai 2001);<br />
Seit Juni 2001 Ärztlicher Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie an<br />
der OÖ Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz<br />
Lehrbeauftragter <strong>am</strong> Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien<br />
Matschnig, Dr. jur. Beate<br />
Richterin des JGH Wien seit April 1978<br />
Befasst mit Pflegschaftssachen und Jugendstrafsachen<br />
Neumayer, Dr. phil. Reinhard<br />
Klinischer und Gesundheitspsychologe<br />
Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Abteilung Jugendwohlfahrt<br />
Leiter des mobilen psychologischen Dienstes<br />
Psychotherapeut (Individualpsychologie) in freier Praxis.<br />
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Schimak Gertraud<br />
Pflichtschullehrerin, Psychagogische Betreuerin an Pflichtschulen,<br />
Psychotherapeutin, systemische Supervisorin;<br />
seit 1994 Leiterin des Rudolf-Ekstein-Zentrums, eines Sonderpädagogischen<br />
Zentrums für integrative Betreuungsformen in Wien mit den Schwerpunkten<br />
Psychagogische Betreuung sowie präventive Hilfestellung für <strong>Kind</strong>er der<br />
Schuleingangsphase (Modell Mosaik)<br />
Traindl, Dr. med. Eva<br />
niedergelassene Fachärztin für <strong>Kind</strong>er- und Jugendheilkunde in Wien;<br />
in der Elternberatung tätig;<br />
Gründungsmitglied, Mitarbeiterin und Konsularärztin des Vereines<br />
„Unabhängiges <strong>Kind</strong>erschutzzentrum Wien“.<br />
Ärztin für psychotherapeutische Medizin in Ausbildung<br />
Werneck, Univ.-Ass. Mag.rer.nat. Dr.phil. Harald<br />
Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe<br />
seit 1993 Universitätsassistent an der Abteilung für Entwicklungspsychologie und<br />
Pädagogische Psychologie (Leiterin: o.Univ.-Prof. Dr. Brigitta Rollett) des Instituts<br />
für Psychologie der Universität Wien; Lehrbeauftragter für Entwicklungspsychologie<br />
und F<strong>am</strong>ilienpsychologie;<br />
Leiter des Forschungsprojektes „F<strong>am</strong>ilienentwicklung im Lebenslauf (FIL)“;<br />
2 Töchter<br />
Nähere Informationen unter: www: http://mailbox.univie.ac.at/harald.werneck