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Psychische Gewalt am Kind - Kinderrechte

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<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong><br />

Dokumentation der Enqueten<br />

„Wehe, wehe, wenn<br />

ich an das Ende sehe“, Nov. 1999<br />

„Es irrt der Mensch,<br />

solang’ er strebt“, Okt. 2000<br />

BUNDESMINISTERIUM<br />

FÜR SOZIALE SICHERHEIT UND GENERATIONEN


Impressum<br />

Wir danken allen Referentinnen und Referenten für die Durchsicht der redigierten Texte ihrer Referate.<br />

Redaktion: Barbara Urban, Medizinjournalistin, ORF, e-mail: barbara.urban@gmx.net<br />

Lithographie und Gestaltung: Druckerei BMSG<br />

Lektorat: Media Verlagsservice<br />

Druck: Druckerei BMSG<br />

Medieninhaber und Herausgeber: Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen<br />

1. Auflage<br />

Erhältlich in der Abteilung VI/2<br />

Tel.: 711 00-3244 oder e-mail: franz.macho@bmsg.gv.at


Werte Leserinnen und Leser!<br />

Die Broschüre, die Sie in Händen halten, stellt das zus<strong>am</strong>mengefasste Ergebnis<br />

zweier Enqueten zum Thema „<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern“ dar.<br />

Während körperliche <strong>Gewalt</strong> in den letzten Jahren in Fachgremien, in den<br />

Medien und der Öffentlichkeit verstärkt diskutiert wurde, war die leisere, unauffälligere<br />

und in ihrer Graus<strong>am</strong>keit und ihren Folgen scheinbar harmlosere Form<br />

der <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern, nämlich die psychische <strong>Gewalt</strong>, einfach viel zu wenig<br />

Thema.<br />

Der Grund dafür mag nicht nur in den zumeist weniger augenfälligen Auswirkungen dieser <strong>Gewalt</strong>form liegen,<br />

sondern auch darin, dass diese Form der <strong>Gewalt</strong> so schwer fassbar ist, so schwer einzugrenzen und zu definieren.<br />

Vielschichtigkeit und Schwierigkeit des Themas „psychische <strong>Gewalt</strong>“ werden beim Studium der vorliegenden<br />

Broschüre so richtig offenkundig. Während in der ersten Enquete der Schwerpunkt bei jenen Formen der psychischen<br />

<strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern lag, die in den F<strong>am</strong>ilien bzw. durch die F<strong>am</strong>ilien ausgeübt wird, befasste sich die<br />

zweite Enquete mit den Auswirkungen psychischer <strong>Gewalt</strong>, die aus Institutionen kommt, wie zum Beispiel der<br />

Schule oder Einrichtungen der Jugendwohlfahrt.<br />

Diese Broschüre soll als Nachschlagwerk dienen, als Nachlese die Erinnerung auffrischen und die Vertiefung<br />

mit dem Thema ermöglichen. Sie soll Gelegenheit bieten, sich mit diesem komplexen Thema auseinanderzusetzen.<br />

An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass es sich bei den Beiträgen der vorliegenden Dokumentation<br />

um keine wissenschaftliche Publikationen handelt. Deshalb wurde bewusst der Charakter des gesprochenen<br />

Wortes auch in der vorliegenden schriftlichen Form beibehalten.<br />

Die Beschäftigung mit diesem Thema kann keine rein akademische sein; das zeigten auch die Reaktionen unmittelbar<br />

während der Enqueten. Selbst Expertinnen und Experten mussten immer wieder mit tiefer Betroffenheit<br />

erkennen, dass auch sie selbst nicht gegen die Ausübung der einen oder anderen Form psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

gefeit sind. Die Erkenntnis, dass selbst das gut gemeinte „Handeln in bester Absicht“ mitunter psychische <strong>Gewalt</strong><br />

hervorrufen und somit das Gegenteil von „gut“ sein kann, ist erschreckend.<br />

Daher ersuche ich Sie, dem Thema „psychische <strong>Gewalt</strong>“ nicht nur in Ihrem Arbeitsumfeld, sondern auch in Ihrem<br />

privaten Leben vermehrt Aufmerks<strong>am</strong>keit zu schenken und Ihren höchstpersönlichen Beitrag dafür leisten zu<br />

wollen, dass <strong>Gewalt</strong> – in welcher Form auch immer – zurückgedrängt wird und dadurch ein höherer Grad der<br />

Bewusstmachung erreicht werden kann.<br />

Ihr<br />

Mag. Herbert Haupt<br />

F<strong>am</strong>ilienminister


Was ist psychische <strong>Gewalt</strong>?<br />

Versuch einer Definition<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist ...<br />

l wenn <strong>Kind</strong>ern mutwillig Angst gemacht wird.<br />

l wenn <strong>Kind</strong>er eingeschüchtert, ausgegrenzt, isoliert werden.<br />

l wenn <strong>Kind</strong>er verspottet werden oder der Verspottung Preis gegeben werden.<br />

l wenn <strong>Kind</strong>er missachtet und entwertet werden.<br />

l wenn <strong>Kind</strong>er klein gemacht, klein gehalten und abgewertet werden.<br />

l wenn <strong>Kind</strong>er gezielt entmutigt werden.<br />

l wenn <strong>Kind</strong>er mit Druck und Unterdrückung erzogen werden.<br />

l wenn <strong>Kind</strong>ern keine Grenzen gesetzt werden.<br />

l wenn Eltern ihren <strong>Kind</strong>ern Orientierung verweigern und sich ihrer Verantwortung gegenüber ihren <strong>Kind</strong>ern<br />

entziehen.<br />

l wenn Strafe zu einem Zeitpunkt vollzogen wird, wo das <strong>Kind</strong> gar nicht mehr weiß, was es getan hat, und<br />

die Strafe nicht als Konsequenz seiner Handlungen erkennen kann.<br />

l wenn <strong>Kind</strong>er das tun müssen, was ihre Eltern immer gerne getan hätten, wenn <strong>Kind</strong>ern sozusagen das<br />

Leben der Eltern auferlegt wird.<br />

l wenn Gefühle der Hilflosigkeit und schutzlosen Preisgabe ausgelöst werden und es zu einer Erschütterung<br />

des Selbst- und Weltverständnisses des <strong>Kind</strong>es kommt.<br />

l wenn <strong>Kind</strong>er als Spielball der Interessen des jeweiligen Elternteils z.B. im Zuge einer Scheidung missbraucht<br />

werden, wenn also das <strong>Kind</strong>eswohl vorsätzlich und bewusst vorgeschützt wird, um eigene Interessen durchzusetzen<br />

oder zu fördern.<br />

l wenn <strong>Kind</strong>er Loyalitätskonflikten zwischen den Eltern ausgesetzt werden.<br />

l wenn den Eltern das Verhalten des <strong>Kind</strong>es wichtiger als seine Person ist.<br />

l leise. Sie ist nicht laut. Sie ist nicht spektakulär, aber sie ist langhaltig, sie ist ausdauernd, und sie ist<br />

nachwirkend.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist weiters ...<br />

l immer dort, wo Angst als Erziehungsmittel eingesetzt wird.<br />

l nicht nur Vernachlässigung, es kann auch ein Übermaß an erstickender Liebe sein.<br />

l viel schwieriger zu erkennen als körperliche <strong>Gewalt</strong>, da sie <strong>am</strong> Körper keine sichtbaren Narben hinterlässt.<br />

l so schwer fassbar, da sie individuell erlebt wird und ihre Wirkung von außen oft nicht erkennbar und<br />

einschätzbar ist.<br />

l subjektiv zu verstehen und zu betrachten; das subjektive Erleben des <strong>Kind</strong>es, sein emotionales, existenzielles<br />

Empfinden steht im Vordergrund.<br />

l ein „unangenehmes“ Thema, da dieses Phänomen schwer fassbar ist, sich nicht genau definieren lassen<br />

„will“, sich wissenschaftlicher Analyse entzieht und uns zur Auseinandersetzung mit vielen Themen zwingt,<br />

auf die wir gar nicht so gerne hinschauen.


<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ...<br />

l wird durch alle Handlungen und Unterlassungen von Eltern und Bezugspersonen hervorgerufen, die <strong>Kind</strong>er<br />

ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit übermitteln und sie in ihrer psychischen<br />

und/oder körperlichen Entwicklung beeinträchtigen können.<br />

l „passiert“ oftmals eigentlich ohne böse Absicht.<br />

l wird unterschiedlich aufgefasst; was dem einen noch Spaß macht, kann für den oder die andere schon<br />

Verletzung, Abwertung, Verwundung bedeuten.<br />

l kann dadurch entstehen, dass die Eltern den Druck, dem sie in der Gesellschaft, Arbeit etc. ausgesetzt sind,<br />

an ihre <strong>Kind</strong>er weitergeben.<br />

l kann auch durch gut gemeinte Hilfsangebote ausgeübt werden.<br />

l entsteht und besteht dort, wo <strong>Kind</strong>er und Jugendliche einer Dyn<strong>am</strong>ik von „zu viel“ oder „zu wenig“ ausgesetzt<br />

sind und die existenziellen Bedürfnisse der <strong>Kind</strong>er keinen Platz haben.<br />

l manifestiert sich dort, wo <strong>Kind</strong>er bei für sie schwierigen Erfahrungen/Erlebnissen keine Sprache bzw. keine<br />

Ausdrucksform finden können oder dürfen.<br />

l tritt nicht nur alleine auf, sondern zumeist auch als „stille Schwester“ aller anderen <strong>Gewalt</strong>formen.


1. Enquete<br />

WEHE, WEHE,<br />

WENN ICH AN<br />

DAS ENDE SEHE<br />

<strong>Psychische</strong><br />

<strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong><br />

Moderation:<br />

Dr. Barbara Rett, ORF<br />

25. November 1999, 9.30 Uhr<br />

Palais Palffy<br />

1010 Wien, Josefsplatz 6


<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern<br />

wird bis heute zwar nicht gerichtlich geahndet, doch durch das seit 1989 in Österreich bestehende allgemeine<br />

Züchtigungsverbot gilt auch psychische <strong>Gewalt</strong> als nicht tolerierbares Erziehungsmittel; Erziehung muss<br />

gewaltfrei sein, also auch frei von psychischer <strong>Gewalt</strong>.<br />

Doch was bedeutet gewaltfreie Erziehung? Welche Erziehungsmittel ergreifen Eltern, bzw. welches<br />

Erziehungsmittel ersetzt die „g’sunde Watsch’n“?<br />

Starke mediale Präsenz und dr<strong>am</strong>atische Berichterstattungen über die in letzter Zeit auftretenden Fälle körperlicher<br />

und im Speziellen sexueller <strong>Gewalt</strong> haben zwar eine größere Sensibilisierung der Bevölkerung für<br />

diese zweifellos äußerst wichtige Thematik erreicht, das Interesse jedoch an der Diskussion über psychische<br />

<strong>Gewalt</strong> an den Rand gedrängt.<br />

Ziel der Enquete war es, der Problematik im Zuge der <strong>Gewalt</strong>diskussion ihren Stellenwert zu geben, aber auch<br />

klar zu machen, dass Prävention ein unverzichtbarer Bestandteil einer gewaltfreien Erziehung darstellt.<br />

Titel und Überschriften in Anlehnung an:<br />

Wilhelm Busch: Max und Moritz<br />

Dr. Heinrich Hoffmann: Der Struwwelpeter


Inhaltsverzeichnis Enquete 1<br />

„Vater ist in großer Not, und die Mutter blicket Seite 08<br />

stumm auf dem ganzen Tisch herum“<br />

„Was ist psychische <strong>Gewalt</strong>?“<br />

Dr. Werner Leixnering<br />

Ärztlicher Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie<br />

an der OÖ Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz<br />

„Paulinchen war allein zu Haus, Seite 12<br />

die Eltern waren beide aus“<br />

„Was ist psychische Vernachlässigung?“<br />

Dr. Eva Traindl<br />

Niedergelassene Fachärztin für <strong>Kind</strong>er- und Jugendheilkunde, Wien<br />

„Sei hübsch ordentlich und fromm, Seite 17<br />

bis nach Haus ich wieder komm“<br />

„Elternbildung – Wie wollen <strong>Kind</strong>er erzogen werden?“<br />

Dr. Luitgard Derschmidt<br />

Forum Beziehung, Ehe und F<strong>am</strong>ilie der Katholischen Aktion Österreich, Salzburg<br />

„Also sprach in ernstem Ton der Papa zu seinem Sohn“ Seite 23<br />

„Väter im Erziehungsalltag“<br />

Dr. Harald Werneck<br />

Institut für Entwicklungspsychologie, Universität Wien<br />

„Niemand hört ihn, wenn er schreit“ Seite 30<br />

„Stadt-Land-Problematik“<br />

Dr. Reinhard Neumayer<br />

Niederösterreichische Landesregierung, Abteilung Jugendwohlfahrt<br />

„Der Vater hat’s verboten!“ Seite 36<br />

„Ohnmacht der Helfer“<br />

Dr. Stefan Allgäuer<br />

Institut für Sozialdienste, Vorarlberg<br />

„Die Buben aber folgten nicht“ Seite 45<br />

„Sorgerechtsproblematik/Strafrechtsproblematik“<br />

Dr. Beate Matschnig<br />

Jugendgerichtshof Wien<br />

„Zu Hilf’, ihr Leut’, zu Hilf’, ihr Leut’!“ Seite 50<br />

„Extrembelastungen im <strong>Kind</strong>esalter“<br />

Dr. Gertrude Bogyi<br />

Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des <strong>Kind</strong>es- und Jugendalters, Wien


<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />

ist ein „unangenehmes“<br />

Thema, da<br />

dieses Phänomen<br />

schwer fassbar ist,<br />

sich nicht genau definieren<br />

lassen<br />

„will“, sich wissenschaftlicher<br />

Analyse<br />

entzieht und uns zur<br />

Auseinandersetzung<br />

mit vielen Themen<br />

zwingt, auf die wir<br />

gar nicht so gerne<br />

hinschauen.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />

ist leise. <strong>Psychische</strong><br />

<strong>Gewalt</strong> ist nicht<br />

spektakulär. Aber sie<br />

ist langhaltig, sie ist<br />

ausdauernd, und sie<br />

ist nachwirkend.<br />

8<br />

„Vater ist in großer Not, und die Mutter<br />

blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“<br />

„Was ist psychische <strong>Gewalt</strong>?“<br />

Referent: Dr. Werner Leixnering<br />

Die Titel der Referate sind alle dem „Struwwelpeter“ entnommen. Und das hat mehrere<br />

Gründe: Der „Struwwelpeter“ hat, kinderpsychiatrisch gesehen, eine ganz doppelbödige<br />

Botschaft: Auf der einen Seite beschrieb er bereits vor 150 Jahren sehr genau seelische<br />

Bilder, und zwar so eindringlich, dass wir sie heute noch immer verstehen und als aktuell<br />

empfinden.<br />

Auf der anderen Seite bietet er Methoden des Umgangs d<strong>am</strong>it an, die uns heute befremden.<br />

Die Pädagogik, die in diesem Struwwelpeter angeboten wird, wird vielfach als „schwarze“<br />

Pädagogik bezeichnet. Tatsache ist, dass uns der Struwwelpeter auf jeder Buchseite mit<br />

<strong>Gewalt</strong> konfrontiert. Sei es, dass Situationen so dr<strong>am</strong>atisiert werden, dass sie eskalieren<br />

und <strong>Gewalt</strong> nach sich ziehen, sei es, dass <strong>Gewalt</strong> als pädagogische Konsequenz<br />

angedroht wird.<br />

Und wenn wir uns mit dem Thema psychische <strong>Gewalt</strong> beschäftigen, sind wir sehr schnell<br />

mit sehr heiklen Fragen des Erziehens und der Pädagogik konfrontiert.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist ein sehr vielschichtiges, sehr komplexes Thema, wo eine<br />

Schwarz-weiß-Sicht der Dinge keinesfalls angebracht ist.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist ein „unangenehmes“ Thema, da dieses Phänomen schwer fassbar<br />

ist, sich nicht genau definieren lassen „will“, sich wissenschaftlicher Analyse entzieht<br />

und uns zur Auseinandersetzung mit vielen Themen zwingt, auf die wir gar nicht so gerne<br />

hinschauen.<br />

Doch: <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist ein Thema, dem wir uns zu stellen haben.<br />

Denn: <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> kommt sehr häufig vor. Wahrscheinlich in einem wesentlich<br />

größerem Ausmaß, als wir alle, inklusive meiner Person, das vermuten.<br />

Und: <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> tritt nicht nur alleine auf, sie tritt zumeist auch als „stille<br />

Schwester“ aller anderen <strong>Gewalt</strong>formen auf.<br />

Auf der schwierigen Suche nach „Markern“<br />

„Vater ist in großer Not, und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum.“ Um<br />

der Frage „Was ist psychische <strong>Gewalt</strong>?“ nachzugehen, möchte ich zunächst den Begriff<br />

„stumm“ aus dem Untertitel meines Referates herausgreifen.<br />

Stumm. <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist leise. Sie ist nicht laut. Sie ist nicht spektakulär. Sie erzeugt<br />

auch nicht gleich lautes Schreien, aber sie ist langhaltig, sie ist ausdauernd, und<br />

sie ist nachwirkend.<br />

Und genau hier liegt auch das Problem, psychische <strong>Gewalt</strong> wissenschaftlich methodisch<br />

erfassen zu können. Wo ist die Grenze? Ab wann kann/muss man von psychischer<br />

<strong>Gewalt</strong> sprechen? Wo sind die „Marker“ für psychische <strong>Gewalt</strong>?<br />

Es ist tatsächlich so, dass die Grenzen zwischen Erziehungspraktiken, die sich des<br />

Prinzips der Strafe bedienen, und psychischer <strong>Gewalt</strong> oftmals fließend sind.<br />

Gerade weil die Grenzen oft so schwimmend sind, gerade weil psychische <strong>Gewalt</strong> oft so<br />

leise von statten geht, haben wir ein großes Problem, sie frühzeitig zu erfassen, sie<br />

präventiv zu erfassen.<br />

Trotz dieser Schwierigkeiten müssen wir uns dem Problem stellen!


Die Crux der Definition<br />

Wie kann man also tatsächliche psychische <strong>Gewalt</strong> bewerten, beurteilen?<br />

Nun, man muss einmal die beiden involvierten Pole betrachten: den Menschen, an dem<br />

psychische <strong>Gewalt</strong> ausgeübt wird, und denjenigen, der sie ausübt. Also gleichs<strong>am</strong> Opfer<br />

und Täter. Genauso wie bei körperlicher und sexueller <strong>Gewalt</strong>.<br />

Es geht also immer um zwei oder mehrere Personen, die miteinander interagieren.<br />

Worum geht es bei der Ausübung psychischer <strong>Gewalt</strong> denn de facto? Es geht – um das<br />

vielleicht phänomenologisch ein bisschen zu beschreiben – um die Bedrohung von<br />

<strong>Kind</strong>ern im Umgang mit ihnen. Es geht vor allem um die mutwillige Erzeugung von Angst<br />

– die Betonung liegt auf mutwillig. Es geht um Einschüchterung. Es geht um Zynismus<br />

in der Erziehung. Es geht um Ausgrenzung, um Isolation von <strong>Kind</strong>ern. Es geht – um es<br />

wienerisch zu formulieren – ums „ins Eck stellen“ von <strong>Kind</strong>ern, und das nicht nur wörtlich,<br />

sondern auch im übertragenen Sinn. Es geht um die Tatsache, dass man <strong>Kind</strong>er verspottet<br />

und der Verspottung preisgibt. Es geht zum Beispiel auch darum, was die moderne<br />

Psychologie unter dem Phänomen des „Bullying“ beschreibt. (ð Bullying – siehe<br />

auch Seite 59) Und da geht es nicht nur um Erwachsene, da geht es auch um ältere<br />

Jugendliche, die psychische <strong>Gewalt</strong> auf annähernd Gleichaltrige ausüben, nach dem<br />

Motto „Gib’s den Schwachen“. Es geht letztlich um Missachtung, es geht um Entwertung.<br />

Und als Individualpsychologe möchte ich hinzufügen, es geht um die gezielte<br />

Entmutigung von <strong>Kind</strong>ern. Das, so glaube ich, können wir beispielsweise unter psychischer<br />

<strong>Gewalt</strong> verstehen.<br />

Anzeichen psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

Im Gegensatz zu körperlicher <strong>Gewalt</strong> hinterlässt psychische keine offensichtlichen<br />

Spuren. Also woran können wir denn erkennen, dass psychische <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern ausgeübt<br />

wurde oder wird?<br />

An deren Rückzug zum Beispiel, an deren mehr oder weniger verdeckter oder verdrängter<br />

Aggressivität. Ich möchte ganz besonders darauf hinweisen, dass gerade<br />

Aggressivität auch Ausdruck von eigener Bedrohung ist. Zu oft wird Aggression nur als<br />

impulsives Element, das quasi aus dem Nichts kommt, gesehen.<br />

Weitere wichtige Anzeichen erlebter psychischer <strong>Gewalt</strong> können psychosomatische und<br />

kinderpsychiatrische Symptome wie Einkoten, Schlafstörungen und zwanghaftes<br />

Verhalten sein.<br />

Ich kann es auch anders ausdrücken: <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern äußert sich nicht<br />

selten in so genannten „introversiven“ Symptomen, also Symptomen, die sich nach innen<br />

wenden und die natürlich dann sehr oft auch autoaggressive Komponenten beinhalten.<br />

Man könnte sehr vereinfacht sagen: „Was kränkt, macht krank“; und bei psychischer<br />

<strong>Gewalt</strong> geht es vielfach um Kränkung.<br />

Entstehung von psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

Hier scheint es wichtig, drei Komponenten zu beobachten oder zu beachten:<br />

Der Täter<br />

Betrachten wir zum einen die Persönlichkeit und psychische Verfassung dessen, der die<br />

<strong>Gewalt</strong> ausübt. Es ist zu einfach zu sagen, Täter sind Menschen, die einfach so sind, die<br />

nicht anders können. Und wir können ihnen auch nicht helfen, und d<strong>am</strong>it ist die Sache<br />

erledigt. Nein. Ich glaube, gerade mit diesen Menschen müssen wir uns befassen. Wir<br />

müssen ihnen Angebote machen. Wir müssen sie zu verstehen versuchen, bei aller<br />

Emotion, die sich bei uns ihnen gegenüber zeigt.<br />

Bei psychischer<br />

<strong>Gewalt</strong> geht es um<br />

die mutwillige<br />

Erzeugung von<br />

Angst, um<br />

Einschüchterung,<br />

Zynismus,<br />

Ausgrenzung und<br />

Verspottung.<br />

Rückzug,<br />

Aggressivität und<br />

verschiedene psychosomatische<br />

und<br />

kinderpsychiatrische<br />

Symptome können<br />

Anzeichen dafür<br />

sein, dass das <strong>Kind</strong><br />

psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

ausgesetzt war/ist.<br />

9


Die Rahmenbedingungen<br />

dürfen niemals<br />

außer Acht gelassen<br />

werden. Um<br />

psychische <strong>Gewalt</strong><br />

besser zu verstehen,<br />

müssen wir uns die<br />

Rahmenbedingungen,<br />

unter denen Erziehende<br />

und <strong>Kind</strong>er<br />

miteinander leben,<br />

genau anschauen.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />

ist oftmals keinesfalls<br />

beabsichtigt.<br />

Sie etabliert sich oft<br />

schleichend in<br />

Situationen, und man<br />

merkt leider erst<br />

nachher, was da geschehen<br />

ist.<br />

10<br />

Das Opfer<br />

Wir müssen zweitens die Persönlichkeit des <strong>Kind</strong>es zu erfassen versuchen. Wir müssen<br />

versuchen zu verstehen: „Was war denn aus der Sicht des <strong>Kind</strong>es vielleicht die<br />

Voraussetzung dafür, dass es zur Anwendung psychischer <strong>Gewalt</strong> gekommen ist?“ – und<br />

das meine ich jetzt absolut nicht wertend!<br />

Das heißt, auch hier ist die differenzierte Befassung mit dem <strong>Kind</strong> und mit der Situation,<br />

in der das <strong>Kind</strong> lebt, notwendig.<br />

Die Interaktion<br />

Und drittens ist die Interaktion wesentlich.<br />

Wir verstehen oft Phänomene der psychischen <strong>Gewalt</strong> besser, wenn wir das Miteinander<br />

und die Rahmenbedingungen, unter denen Erziehende und <strong>Kind</strong>er miteinander leben<br />

oder miteinander auskommen müssen, besser erfassen können. Diese Rahmenbedingungen<br />

dürfen niemals außer Acht gelassen werden.<br />

Als wichtiger Hinweis für Interventionsansätze: Meist sind beide in irgendeiner Form in<br />

Not – das <strong>Kind</strong> und die Person, die psychische <strong>Gewalt</strong> verursacht. Nur können sehr oft<br />

die Nöte der beiden nicht mitgeteilt werden, und d<strong>am</strong>it kommt es zur Eskalation und zur<br />

Problematisierung. Natürlich ist das schwächere Glied in der Kette das <strong>Kind</strong>, und unsere<br />

Gesellschaft tut gut daran, zunächst einmal zu den Schwächeren hinzusehen und diese<br />

eben auch entsprechend zu schützen.<br />

Der Umgang mit psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

Zur Frage des Umgangs ein paar Worte zur Einleitung.<br />

Ich glaube, man müsste sich dabei drei Bereiche näher anschauen:<br />

Erziehungsalltag<br />

Erstens den Umgang mit psychischer <strong>Gewalt</strong> im Erziehungsalltag, denn sie kommt in irgendeiner<br />

Form sehr oft vor, mehr oder weniger intendiert – das ist ja das Problem.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist oftmals keinesfalls beabsichtigt, sie etabliert sich oft schleichend<br />

in Situationen, und man merkt leider erst nachher, was da geschehen ist, dass es sich<br />

um eine Form von psychischer <strong>Gewalt</strong> gehandelt hat.<br />

Wir alle begegnen tagtäglich <strong>Kind</strong>ern, ob es in der U-Bahn ist, in einer Schulsituation oder<br />

zu Hause. Wir begegnen <strong>Kind</strong>ern, und wir begegnen Situationen. Und wichtig ist, dass<br />

wir aus Situationen etwas machen. Das hat manchmal auch etwas mit Zivilcourage zu<br />

tun, das heißt nämlich, in Situationen Stellung zu beziehen. Ich glaube, dass das immer<br />

noch ein ganz entscheidender Punkt ist. Das gilt übrigens für alle Formen der <strong>Gewalt</strong>.<br />

Also zum Beispiel: Wenn Sie im Bus fahren und Zeuge werden, wie ein Jugendlicher auf<br />

ein kleineres <strong>Kind</strong> „hindrischt“, nur weil es ihm im Weg ist: Da gilt es einzugreifen, sich<br />

zu äußern – nicht wegzusehen!<br />

Gezielte Prävention<br />

Zweitens die gezielte Prävention. Hier geht es darum, von vornherein schwierige<br />

Erziehungssituationen aufzuzeigen. Es stellt eine große Problematik in der Präventionsarbeit<br />

dar, dass oft von der „heilen Welt“ ausgegangen wird, dass also „nicht sein kann,<br />

was nicht sein darf“ und dass die Existenz solcher schwierigen Situationen oft von vornherein<br />

geleugnet wird. Bei der Präventionsarbeit ist es deshalb sehr wichtig, genau darauf<br />

hinzuweisen, dass es in der Erziehung zum Auftreten von Problemen kommen wird<br />

und dass man mit diesen zu rechnen hat, aber auch dass es Lösungsmöglichkeiten für<br />

solche Probleme gibt!


Therapie<br />

Bei der Therapie müssen wir sicherstellen, dass nicht nur den <strong>Kind</strong>ern, sondern dort, wo<br />

erforderlich – und das wird in den meisten Fällen so sein – auch den Erwachsenen zumindest<br />

Therapieangebote gemacht werden.<br />

Der Schlüssel zur Verhinderung psychischer <strong>Gewalt</strong>.<br />

Ich möchte mit ein paar Thesen schließen.<br />

Erstens: Haltung statt Technik<br />

Ich glaube, dass der Schlüssel zur Verhinderung psychischer <strong>Gewalt</strong> nicht nur in<br />

Erziehungstechniken liegt, die wir Erwachsenen vermitteln, sondern in Haltungen, in<br />

Einstellungen zu <strong>Kind</strong>ern. Wir sind in unserer Zeit durch die Vorstellung geleitet, dass wir<br />

alles mit bestimmten Techniken, Methoden, Trainings oder ähnlichem lösen können.<br />

Doch das ersetzt nicht Haltungen. Und die sind gefragt.<br />

Gefährlich wird psychische <strong>Gewalt</strong> im Übrigen besonders dann, wenn sie aus einer<br />

völlig falsch verstandenen „vorbeugenden Haltung“ („D<strong>am</strong>it du nicht auf dumme Ideen<br />

kommst ...“) heraus eingesetzt wird.<br />

Zweitens: Not produziert <strong>Gewalt</strong><br />

Einfühls<strong>am</strong>es Verstehen psychischer <strong>Gewalt</strong>phänomene orientiert sich an Nöten von<br />

<strong>Kind</strong>ern und Erwachsenen und nicht an einer verkürzten Täter-Opfer-Ideologie.<br />

Drittens: „Was kränkt, macht krankt“<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> kann, psychiatrisch betrachtet, nicht nur zur Erlebnisreaktionen, also<br />

zu einfachen Reaktionen, sondern auch zu schweren neurotischen und psychosomatischen<br />

Störungen bis hin zur chronischen Deformation kindlicher Persönlichkeiten führen,<br />

also zu schweren psychischen Störungen. Das soll hier nicht unerwähnt bleiben.<br />

Viertens: Reflexionsmöglichkeit für Täter<br />

Erwachsene, die psychische <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern anwenden, sollten die Möglichkeit bekommen,<br />

ihre Verhaltensweisen zu reflektieren. Prävention ist nur möglich, wenn so etwas<br />

wie ein Nachvollziehen oder ein Einsehen zumindest angestrebt wird. Auch wenn<br />

dies nicht immer erreichbar sein wird.<br />

11


<strong>Psychische</strong><br />

Vernachlässigung ist<br />

von außen nur<br />

schwer zu erkennen.<br />

„Unverdächtige“<br />

Symptome wie<br />

Bauchschmerzen,<br />

Appetitlosigkeit,<br />

Erbrechen und<br />

Schlafstörungen<br />

können Zeichen<br />

dafür sein.<br />

12<br />

„Paulinchen war allein zu Haus, die Eltern<br />

waren beide aus“<br />

„Was ist psychische Vernachlässigung?“<br />

Referentin: Dr. Eva Traindl<br />

„Die Pflege des minderjährigen <strong>Kind</strong>es umfasst besonders die Wahrung des körperlichen<br />

Wohles und der Gesundheit sowie die unmittelbare Aufsicht, die Erziehung, die<br />

Entfaltung der körperlichen, geistigen, seelischen und sittlichen Kräfte ... .“<br />

(§ 146 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch)<br />

Ich glaube, dass diejenigen, die für diesen Paragrafen verantwortlich zeichnen, ganz<br />

Recht gehabt haben, wenn sie körperliche, geistige, seelische und sittliche Kräfte zus<strong>am</strong>mengenommen<br />

haben. Man kann gerade im <strong>Kind</strong>esalter „körperliche, seelische<br />

Gesundheit, Wahrung der sittlichen Kräfte“ nicht voneinander trennen. In keinem anderen<br />

Lebensabschnitt besteht ein so enger Zus<strong>am</strong>menhang zwischen körperlicher, seelischer<br />

und geistiger Entwicklung wie im <strong>Kind</strong>es- und Jugendalter. In keinem anderen<br />

Lebensabschnitt können Versäumnisse so negative Auswirkungen haben.<br />

Ein Bild, das <strong>Kind</strong>erärzte in der Praxis häufig sehen, ist die körperliche Vernachlässigung,<br />

die leicht zu erkennen ist, weil die Zeichen der Verwahrlosung sichtbar sind.<br />

Viel schwieriger zu erkennen sind <strong>Kind</strong>er, die seelisch vernachlässigt sind, bei denen<br />

äußerlich keine Verwahrlosungszeichen zu erkennen sind, wo „außen sozusagen alles<br />

in Ordnung ist“.<br />

Die Symptomatik ist zumeist ganz unspezifisch. Symptome, die jedes <strong>Kind</strong> einmal<br />

hat, können Anzeichen für psychische Vernachlässigung sein. Zum Beispiel:<br />

Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Erbrechen und Schlafstörungen. Das kann aber auch<br />

bis hin zu schweren psychosomatischen Krankheitsbildern gehen: von bestimmten<br />

Asthmaformen über Einnässen und Einkoten bis hin zu Suchterkrankungen bei<br />

Jugendlichen.<br />

Wir beobachten ein Zunehmen von Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Ess-Brech-<br />

Sucht) sowie zunehmende Abhängigkeit von Suchtmitteln schon bei sehr jungen<br />

<strong>Kind</strong>ern. Das muss man immer wieder sehen und mitverfolgen – leider manchmal auch<br />

ohne dass man den <strong>Kind</strong>ern wirklich helfen kann.<br />

Drei Fallbeispiele<br />

Viele <strong>Kind</strong>er drücken sich über ihren Körper aus, weil sie keine andere Möglichkeit haben.<br />

Sie sind zu klein, um auszusprechen, was sie bedrückt, es wurde ihnen verboten,<br />

auszusprechen, was sie bedrückt, oder sie werden nicht gehört.<br />

Ich möchte Ihnen jetzt drei Fallbeispiele vorstellen, und ich habe das Symptom der<br />

Enuresis (Einnässen; Enuresis nocturna, nächtliches Einnässen) herausgegriffen, das<br />

in der Psychosomatik auch als „das Weinen mit der Blase“ bezeichnet wird.<br />

Fallbeispiel 1: „Paulinchen war allein zu Haus, die Eltern waren<br />

beide aus.“ (Struwwelpeter)<br />

Das <strong>Kind</strong> heißt nicht Paulinchen, es heißt Sefkie. Es ist ein türkisches Mädchen.<br />

Die Eltern haben die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen. Sefkie ist hier<br />

geboren. Sie ist 9 Jahre alt, als ich die F<strong>am</strong>ilie kennen lerne. Sie hat zwei jüngere Brüder.<br />

Eigentlich sind die es, die hauptsächlich zu mir in die Ordination kommen. Die<br />

F<strong>am</strong>iliensituation ist nach außen hin „ordentlich und gut“. Der Vater geht einer geregel-


ten Arbeit nach, die Mutter ist Hausfrau. Sefkie ist eine sehr gute Schülerin. Die Eltern<br />

sind sehr stolz auf sie. Sie wird ins Gymnasium kommen. Bei dieser Gelegenheit, bei<br />

dieser Erstan<strong>am</strong>nese, erzählt mir die Mutter nicht, dass das Mädchen noch einnässt und<br />

mit ihren 9 Jahren in der Nacht noch eine Windel braucht. Tagsüber ist sie seit ihrem dritten<br />

Lebensjahr sauber.<br />

Ich sehe Sefkie in meiner Ordination dann zwei Jahre lang nur in Begleitung ihrer Brüder.<br />

Doch eines Tages k<strong>am</strong> die Mutter mit ihr allein zu mir in die Ordination. Sefkie hat<br />

Probleme. Sie will nicht mehr in die Schule gehen. Ihre Schulleistungen werden schlecht.<br />

Sie war im Vorjahr doch eine der Klassenbesten.<br />

Daraufhin biete ich den Eltern einen Termin für ein ausführliches Gespräch an.<br />

Es kommt nur die Mutter. Sie erzählt mir, dass von der Schule aus in einigen Monaten<br />

eine Exkursion geplant ist. Da muss das Mädchen natürlich einige Tage außer Haus übernachten.<br />

Bis jetzt weiß niemand, dass sie in der Nacht einnässt, aber dann werden alle<br />

anderen <strong>Kind</strong>er von ihrem Problem wissen. Sie werden wissen, dass sie in der Nacht<br />

eine Windel braucht. Sie wird dort mit niemandem in einem Zimmer schlafen können.<br />

Die Mutter bittet mich, doch eine Krankschreibung auszustellen, d<strong>am</strong>it Sefkie nicht auf<br />

diese Exkursion mitfahren muss.<br />

Sie hat schon mit der Lehrerin gesprochen und gesagt, dass Sefkie nicht mitfahren<br />

möchte. Aber die Schule hat darauf bestanden, dass alle <strong>Kind</strong>er mitfahren, auch die türkischen<br />

Mädchen.<br />

Bei diesem Gespräch zwischen Lehrerin und Mutter dürfte herausgekommen sein, dass<br />

die Eltern einfach nicht wollen, dass das <strong>Kind</strong> das elterliche Zuhause verlässt und einige<br />

Tage auswärts übernachtet.<br />

Da die Lehrerin nun aber nichts von Sefkies zusätzlichem Problem gewusst hat, hat sie<br />

darauf bestanden, dass sie mitfährt.<br />

Das hat das Mädchen in einen so großen Konflikt gebracht, dass es einfach nicht mehr<br />

in die Schule gehen wollte und dass ihre Schulleistungen nach und nach schlechter geworden<br />

sind.<br />

Bei meinem Gespräch mit der Mutter ist herausgekommen, dass sie für das Problem ihrer<br />

Tochter nur wenig Verständnis hat.<br />

Das <strong>Kind</strong> ist einmal durchuntersucht worden, doch die urologische Durchuntersuchung<br />

wurde abgebrochen. Die Eltern haben einer weiteren Untersuchung im Urogenitalbereich<br />

nicht zugestimmt.<br />

Für die Nichtmediziner unter Ihnen: Es gibt manchmal über ein gewisses Alter hinaus<br />

ein nächtliches Einnässen. Das ist durch eine Problematik im hormonellen System bedingt.<br />

Sefkies Eltern litten beide bis hin zur Pubertät an dieser Form der Enuresis. Daher<br />

haben sie dem Einnässen ihrer Tochter auch keinen Krankheitswert beigemessen. Und<br />

außerdem – und da sehe ich die eigentliche seelische Vernachlässigung – haben die<br />

Eltern dieses Problem des Mädchens benutzt, um sie „im Haus zu halten“, um ihr<br />

Selbstständigkeit zu verwehren. Sie haben ihrer Tochter noch zusätzlich gedroht: „Wenn<br />

du wirklich hinfahren willst, dann werden alle davon erfahren, und es wird eine Schande<br />

sein für die ganze F<strong>am</strong>ilie.“<br />

Nur der Leistungsabfall in der Schule und dass sie zweimal versucht hat, Schule zu<br />

schwänzen, hat die Mutter zu mir gebracht.<br />

Wir konnten dann in einem Gespräch doch noch einen Kompromiss finden. Ich habe der<br />

Mutter einen Brief an die Lehrerin mitgegeben, in dem ich das Problem genau beschrieben<br />

habe. Die Mutter hat mir versprochen, mit der Lehrerin Kontakt aufzunehmen,<br />

ihr den Brief zu geben und das Problem mit ihr zu besprechen.<br />

Im Endeffekt konnte das Mädchen dann auf diese Schulexkursion mitfahren.<br />

Dieser Fall ist noch relativ „gut ausgegangen“ – vielleicht auch deshalb, weil die Eltern<br />

doch nicht mehr allzu weit davon entfernt waren, selbst Maßnahmen zu setzen.<br />

Im nächsten Fall ist es so, dass die Eltern zwar wollen, aber nicht mehr können. Denn<br />

auch Eltern können ein Burn-out-Syndrom bekommen, also ausbrennen. Und mit ihnen<br />

die <strong>Kind</strong>er – unter gewissen Voraussetzungen.<br />

Für die Eltern hatte<br />

das Einnässen keinen<br />

Krankheitswert.<br />

Außerdem gab ihnen<br />

dieses Problem ihrer<br />

Tochter die<br />

Möglichkeit, sie<br />

„im Haus zu halten“<br />

und ihr so<br />

Selbstständigkeit<br />

zu verwehren.<br />

13


Bernhards kleiner<br />

Bruder bek<strong>am</strong> eine<br />

schwere akute<br />

Erkrankung und<br />

musste ins<br />

Krankenhaus.<br />

Bernhard wurde<br />

während dieser Zeit<br />

zu einer älteren<br />

Verwandten gegeben,<br />

die sehr rigide<br />

Erziehungsvorstellun<br />

gen gehabt haben<br />

dürfte. Bernhard begann<br />

wieder einzunässen.<br />

14<br />

Fallbeispiel 2: „Es brennt die Haut, es brennt das Haar, es brennt<br />

das ganze <strong>Kind</strong> sogar.“ (Struwwelpeter)<br />

Bernhard ist 10 Jahre alt. Er ist von Geburt an ein leicht behindertes <strong>Kind</strong>. Er besucht die<br />

Sonderschule. Seine Mutter ist ebenfalls behindert, aber nur motorisch. Sie hat eine<br />

Gangstörung. Der Vater kümmert sich sehr liebevoll um beide. Er verbringt viel Zeit mit<br />

der F<strong>am</strong>ilie.<br />

Als Bernhard 9 Jahre alt ist, kommt ein Nachzügler. Bernhard bekommt einen kleinen<br />

Bruder. Er reagiert sehr eifersüchtig auf das Baby. Er will wieder aus der Flasche trinken<br />

und Windeln tragen. Er spricht das auch einmal in der Ordination aus und sagt: „Ich will<br />

wieder eine Windelhose anziehen.“ Er beginnt nachts vermehrt einzunässen.<br />

Die Eltern haben vorbildlich reagiert. Sie haben das von sich aus als Eifersuchtsreaktion<br />

gedeutet. Sie waren mit ihm in der Ordination, haben von den Problemen mit ihm erzählt<br />

und haben gefragt, ob sie etwas machen sollen, und was geschehen soll.<br />

Ich war auch der Ansicht, dass es sich um eine Eifersuchtsreaktion handelt. Wir haben<br />

uns daher geeinigt, einmal abzuwarten.<br />

Der Vater hat sich vermehrt Bernhard zugewendet, hat mit ihm viele Ausflüge gemacht,<br />

hat mit ihm viel gemeins<strong>am</strong> unternommen, und nach ein paar Wochen ist das Symptom<br />

„Einnässen“ wieder verschwunden.<br />

Der Vater hat überhaupt sehr viel in dieser und für diese F<strong>am</strong>ilie gemacht und war immer<br />

für die F<strong>am</strong>ilie da.<br />

Ein Jahr später hat Bernhards kleiner Bruder eine schwere akute Erkrankung bekommen.<br />

Er musste sofort ins Krankenhaus, war einige Tage sogar auf der Intensivstation,<br />

und man hat <strong>am</strong> Anfang überhaupt nicht gewusst, ob er überleben wird. In dieser<br />

Situation wurde die Mutter mit dem <strong>Kind</strong> gemeins<strong>am</strong> im Krankenhaus aufgenommen.<br />

Auch der Vater war sehr oft im Krankenhaus beim kleinen Bruder und bei der Mutter.<br />

Bernhard wurde unter diesen Umständen auf unbestimmte Zeit zu einer älteren<br />

Verwandten gegeben.<br />

Diese Frau dürfte sehr rigide Erziehungsvorstellungen gehabt haben. Und Bernhard begann<br />

wieder einzunässen. Die Verwandte hat ihn daraufhin in der Nacht aufgeweckt. Sie<br />

hat ihn das Bett abziehen lassen. Sie hat ihn in die Ecke gestellt. Aber das haben wir erst<br />

nachher erfahren.<br />

Als Bernhard dann wieder zu Hause war und sich die Situation mit dem Bruder weitgehend<br />

beruhigt hat, hat Bernhard aber nicht nur eingenässt, sondern auch begonnen einzukoten.<br />

Und er hat seine schmutzigen Unterhosen in den Schultaschen der anderen<br />

<strong>Kind</strong>er versteckt.<br />

Die Mutter ist zu mir gekommen und hat gesagt „Bitte, helfen Sie uns. Wir halten das<br />

nicht mehr aus. Das <strong>Kind</strong> muss ins Krankenhaus. Was sollen wir denn nur tun?“<br />

Es wurde ein Gespräch zwischen Lehrerin, Schulpsychologen und den Eltern geplant.<br />

Der Schulpsychologe hat diese von den Eltern geschilderte Situation als Problem der<br />

ganzen F<strong>am</strong>ilie wahrgenommen. Er war auch Psychotherapeut. Er hat mit Bernhard in<br />

der Schule – sodass die Eltern nicht noch zusätzlich zeitlich belastet waren – eine<br />

Spieltherapie begonnen, und nach einem halben Jahr waren das Einkoten und<br />

Einnässen wieder verschwunden.<br />

Ich habe Ihnen das als Beispiel dafür gebracht, dass auch bei einer F<strong>am</strong>ilie, die für ihre<br />

<strong>Kind</strong>er sehr viel tut und auch Symptome richtig erkennen und deuten kann, durch äußere<br />

Umstände eine Situation entstehen kann, in der ein <strong>Kind</strong> so völlig in den Schatten gestellt<br />

wird, so „vernachlässigt“ wird, dass es das nicht verkraftet.


Fallbeispiel 3: „Ein Häuflein Asche bleibt allein und beide Schuh’,<br />

so hübsch und fein.“ (Struwwelpeter)<br />

Das Thema hier heißt: Wohlstandsverwahrlosung.<br />

Im Gegensatz zu Verwahrlosung, wo alle Ressourcen fehlen, sind bei Wohlstandsverwahrlosung<br />

fast alle Ressourcen vorhanden – außer einer: nämlich jener, dass die<br />

Probleme des <strong>Kind</strong>es richtig erkannt und richtig gedeutet werden.<br />

Das Mädchen Sandrina hat gleich nach ihrer Geburt Harnwegsinfekte gehabt. Es wurde<br />

eine schwere Nierenmissbildung festgestellt. Das <strong>Kind</strong> ist im Säuglingsalter zweimal operiert<br />

worden. Sie bekommt eine Dauertherapie mit Antibiotika.<br />

Die Eltern wohnen mit der Großmutter in einem Haushalt. Es kann immer jemand auf<br />

Sandrina aufpassen. „Es ist immer jemand für Sandrina da.“<br />

Es fällt aber auf, dass in bestimmten Situationen, die von den Erwachsenen als belastend<br />

empfunden werden, das <strong>Kind</strong> offensichtlich keine oder eine inadäquate Betreuung und<br />

Unterstützung erhält.<br />

So ist es zum Beispiel gewesen, als Sandrina mit 16 Monaten für 10 Tage im<br />

Krankenhaus aufgenommen werden musste. Während dieser Zeit wurde sie von den<br />

Eltern und der Großmutter nur zweimal besucht. Der Vater k<strong>am</strong> nicht öfter, weil er die<br />

Krankenhausatmosphäre nicht aushält, die Mutter, weil sie verzweifelt ist, wenn das <strong>Kind</strong><br />

weint. Wenn sie kommt und wenn sie geht, weint das <strong>Kind</strong>. Die Großmutter kommt deshalb<br />

nicht, weil sie zu dieser Zeit keine Zeit hat und eigentlich auch nicht so gerne ins<br />

Krankenhaus geht. „Das <strong>Kind</strong> leidet nur, wenn wir kommen“, so sagten sie mir.<br />

Ich habe versucht, die Eltern aufzuklären, dass das Verhalten des Mädchens verständlich<br />

ist und Sandrina gerade unter diesen Umständen ihre Bezugspersonen dringend in<br />

ihrer Nähe braucht. Es ist mir nicht gelungen.<br />

Mir ist dann weiters aufgefallen, dass die Eltern sich bei Impfungen geweigert haben,<br />

beim <strong>Kind</strong> zu bleiben. Normalerweise ist es so, dass die Eltern das <strong>Kind</strong> während der<br />

Impfung im Arm halten wollen. Diese Eltern wollten den Ordinationsraum verlassen.<br />

Die Großmutter hat das dann übernommen. Sie hielt das <strong>Kind</strong> im Arm, aber auch sie hat<br />

sich beim Einstich weggedreht. Die Situation war dann oft so, dass sie gesagt hat: „Es<br />

tut überhaupt nicht weh. Du bist das schönste Mäderl von der ganzen Welt. Da kann dir<br />

gar nichts passieren. Wenn du nicht weinst, kauft dir die Oma, was du willst. Oder: Wenn<br />

du weinst, kauft dir die Oma, was du willst. Jetzt hast du so viel geweint, und die Frau<br />

Doktor hat dir so viel wehgetan, da kannst du dir aussuchen, was du willst.“<br />

Auf die Frage, „wie es dem <strong>Kind</strong> geht“, haben die Eltern immer geantwortet: „Es geht ihr<br />

gut, sie bekommt ja alles, was sie will.“<br />

Mit drei Jahren hat Sandrina Trotzanfälle bekommen – in diesem Alter ein entwicklungsbedingter<br />

Vorgang. Ihre Trotzanfälle wurden anfänglich „mit Geschenken abgewürgt“.<br />

Trotzdem wurden sie immer häufiger und heftiger, sodass die Eltern dem<br />

Verhalten ihrer Tochter hilflos gegenüber gestanden sind.<br />

Die f<strong>am</strong>iliäre Situation war so, dass die Großmutter ganz andere Erziehungsmaßnahmen<br />

gesetzt hat als jeweils Mutter und Vater.<br />

Eines Tages sagte der Vater: „Ich will jetzt, dass das <strong>Kind</strong> in den <strong>Kind</strong>ergarten kommt,<br />

d<strong>am</strong>it zu Hause endlich Ruhe ist.“ Und „eh nur in den besten Privatkindergarten“. Das<br />

<strong>Kind</strong> ist dann in den <strong>Kind</strong>ergarten gekommen, obwohl die Großmutter dagegen war („Ein<br />

<strong>Kind</strong> gehört nach Hause, dort geht es ihm <strong>am</strong> besten!“).<br />

Und im <strong>Kind</strong>ergarten hat Sandrina wieder begonnen einzunässen.<br />

Zum Einnässen ist zu sagen: Ich habe die Eltern mehrmals darauf hingewiesen, dass<br />

bei einem <strong>Kind</strong> mit einer schweren Nierenschädigung die Sauberkeitserziehung nicht zu<br />

früh beginnen soll, dass sie Geduld haben sollen.<br />

Sandrina war bei ihrem 2. Geburtstag Tag und Nacht sauber!<br />

Die Oma sagte zu mir: „Meine Tochter war schon mit einem Jahr sauber, und auf so was<br />

muss man Wert legen!“<br />

Die f<strong>am</strong>iliäre<br />

Situation war so,<br />

dass die Großmutter<br />

ganz andere Erziehungsmaßnahmen<br />

setzte als Mutter und<br />

Vater. Die Hinweise,<br />

dass möglicherweise<br />

diese unterschiedlichen<br />

Ansichten und<br />

Anforderungen ihrer<br />

15


Bezugspersonen<br />

für Sandrinas<br />

Symptome verantwortlich<br />

sein könnten,<br />

wurden ignoriert.<br />

16<br />

Da Sandrina im <strong>Kind</strong>ergarten also wieder mit dem Einnässen begann, hat die Oma das<br />

<strong>Kind</strong> zu mir gebracht und gesagt, ich solle doch jetzt endlich den Eltern mitteilen, dass<br />

der <strong>Kind</strong>ergarten das <strong>Kind</strong> krank macht. Sie würde ja wieder einnässen.<br />

Meine Hinweise, dass möglicherweise die unterschiedlichen Ansichten und<br />

Anforderungen ihrer Bezugspersonen Sandrinas Symptome beeinflusst haben könnten,<br />

wurden ignoriert.<br />

Es wurde dann ein anderer <strong>Kind</strong>ergarten ausgesucht, und nachdem auch dort die<br />

Enuresis aufgetreten ist, habe ich mit den Eltern ein Gespräch geführt und ihnen zu einer<br />

F<strong>am</strong>ilientherapie geraten. In die F<strong>am</strong>ilientherapie sind sie nicht gegangen, obwohl<br />

jedes einzelne F<strong>am</strong>ilienmitglied gesagt hat, wie schwierig die f<strong>am</strong>iliäre Situation zu<br />

Hause wäre. Mit Sandrinas Problem „hat das aber nichts zu tun, denn sie hat ja alles,<br />

was sich ein <strong>Kind</strong> nur wünschen kann“.<br />

In Fällen, wo <strong>Kind</strong>er auf diese Weise vernachlässigt werden, ist es sehr schwierig einzugreifen,<br />

auch wenn man als <strong>Kind</strong>erarzt in der Praxis an erster Stelle für eine Prävention<br />

steht, da diese Eltern meist sehr „symptomorientiert“ sind.<br />

Eine Hilfe von außen kann jedoch von den Bezugspersonen nicht angenommen werden,<br />

da sie nicht erkennen, was dem <strong>Kind</strong> „wirklich fehlt“.<br />

„Es hat ja alles! Es ist ja alles da! Es ist das schönste Mädchen von der ganzen Welt, es<br />

wird ihm alles gegeben! Es hat alles, was es will!“<br />

„Ein Häuflein Asche bleibt allein und beide Schuh’, so hübsch und fein.“


„Sei hübsch ordentlich und fromm, bis nach<br />

Haus ich wieder komm“<br />

„Elternbildung – wie wollen <strong>Kind</strong>er erzogen werden?“<br />

Referentin: Dr. Luitgard Derschmidt<br />

Ich bin in der Elternbildung tätig, ich bin aber auch Mutter dreier erwachsener <strong>Kind</strong>er und<br />

habe auch als Mutter so meine Erfahrungen mit psychischer <strong>Gewalt</strong>.<br />

Mein heutiges Thema ist die „normale“, die alltägliche psychische <strong>Gewalt</strong>, die auch heute<br />

noch in der Erziehung immer wieder vorkommt.<br />

Der Begriff „psychische <strong>Gewalt</strong>“ ist sehr schwer zu definieren.<br />

Bei physischer <strong>Gewalt</strong> sieht man Wunden, bei psychischer <strong>Gewalt</strong> sind die Verletzungen<br />

nicht sichtbar. <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> kommt im ganz normalen Erziehungsalltag oft vor, wobei<br />

sie vielfach nicht bewusst, meist auch nicht absichtlich angewendet wird.<br />

Was ist psychische <strong>Gewalt</strong>?<br />

Ich möchte die Liste dessen, was psychische <strong>Gewalt</strong> ist, noch ergänzen.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist Vernachlässigung, es kann aber auch ein Übermaß an erstickender<br />

Liebe sein.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist auch das Wechselbad zwischen das <strong>Kind</strong> einmal an sich ziehen<br />

und übermäßig lieben und es dann wieder zurückweisen.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> kommt auch im Zus<strong>am</strong>menhang mit der Problematik der Strafe<br />

vor. Wenn Strafe zu einem Zeitpunkt vollzogen wird, wo das <strong>Kind</strong> gar nicht mehr weiß,<br />

was es getan hat, kann das <strong>Kind</strong> die Strafe nicht als Konsequenz seiner Handlungen<br />

erkennen.<br />

Wenn keine Grenzen gesetzt werden, leiden <strong>Kind</strong>er genau so, wie wenn sie zu sehr eingeengt<br />

werden.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist auch, wenn Eltern ihren <strong>Kind</strong>ern Orientierung verweigern und sich<br />

ihrer Verantwortung gegenüber ihren <strong>Kind</strong>ern entziehen.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> kann auch sein, wenn <strong>Kind</strong>er das tun müssen, was die Eltern immer<br />

gerne selbst tun wollten. Wenn sie das werden sollen, lernen sollen, das bekommen sollen,<br />

was eigentlich die Eltern haben wollten, wenn sozusagen das Leben der Eltern den<br />

<strong>Kind</strong>ern auferlegt wird.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist immer dort, wo Angst als Erziehungsmittel eingesetzt wird, wenn<br />

mit Druck, mit Unterdrückung erzogen wird, wenn <strong>Kind</strong>er klein gemacht, klein gehalten<br />

und abgewertet werden. Sie alle kennen Aussagen, die dafür typisch sind. Ich möchte<br />

nur ein paar erwähnen – Sie können die Liste ja dann beliebig ergänzen: „Ich werd’ dir<br />

schon zeigen, wer der Stärkere ist“, „In meinem Haus wird gemacht, was ich sage“, „So<br />

lange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, tust Du, was ich will.“<br />

Aber auch: „Ich habe um deinetwillen so viel aufgegeben, die vielen Nächte, die Liebe,<br />

meinen Beruf, mein Leben ...“, „Ich hab’ ja nur dich“, „Ich weiß <strong>am</strong> besten, was für dich<br />

gut ist.“<br />

Auch in der religiösen Erziehung, das sage ich ganz bewusst als kirchliche Mitarbeiterin,<br />

ist sehr viel mit psychischer <strong>Gewalt</strong> gearbeitet worden. Leider. „Der Himmelvater ist böse,<br />

wenn Du ...“ – ich glaub’, Sie können diese Liste ergänzen.<br />

Wenn keine Grenzen<br />

gesetzt werden, leiden<br />

<strong>Kind</strong>er genau so,<br />

wie wenn sie zu sehr<br />

eingeengt werden.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />

ist auch, wenn Eltern<br />

ihren <strong>Kind</strong>ern<br />

Orientierung verweigern<br />

und sich ihrer<br />

Verantwortung gegenüber<br />

ihren<br />

<strong>Kind</strong>ern entziehen.<br />

17


Eltern lieben ihre<br />

<strong>Kind</strong>er und wollen<br />

sie gut erziehen.<br />

Manche Eltern meinen,<br />

ihre <strong>Kind</strong>er<br />

würden <strong>am</strong> besten<br />

lernen, wenn mit<br />

besonderem<br />

Nachdruck vorgegangen<br />

wird – das<br />

Wort spricht wohl<br />

für sich ...<br />

18<br />

Warum wird geliebten <strong>Kind</strong>ern von liebenden Eltern<br />

<strong>Gewalt</strong> angetan?<br />

Warum verhalten sich Eltern so? Warum setzen Eltern psychische <strong>Gewalt</strong> bei der<br />

Erziehung ein?<br />

Ich behaupte einmal, Eltern lieben ihre <strong>Kind</strong>er und wollen sie gut erziehen.<br />

Ich möchte diese These so in den Raum stellen. Ich behaupte, dass die meisten Eltern<br />

ihre <strong>Kind</strong>er grundsätzlich lieben und ihnen nichts Böses wollen.<br />

Und etwas Zweites: Ich glaube, dass Eltern elterliche Kompetenzen haben, auch wenn<br />

sie mit diesen oft sehr schlecht umgehen.<br />

Wenn wir, wie gesagt, davon ausgehen, dass Eltern ihre <strong>Kind</strong>er lieben und das Beste für<br />

sie wollen, dann müssen wir uns schon fragen: Warum wird geliebten <strong>Kind</strong>ern von liebenden<br />

Eltern <strong>Gewalt</strong> angetan?<br />

Ich möchte da dreierlei besonders zu bedenken geben:<br />

Weil Eltern selbst mit psychischer <strong>Gewalt</strong> erzogen wurden<br />

Eltern üben psychische <strong>Gewalt</strong> meist unbewusst und unwillentlich aus, und sie erkennen<br />

sie oft nicht einmal als solche, weil sie selbst mit psychischer <strong>Gewalt</strong> erzogen worden<br />

sind. Sie haben ihre eigenen Verletzungen vergessen oder verdrängt und übernehmen<br />

einfach die Verhaltensweisen ihrer Eltern.<br />

Oder: auch wenn sie sich der psychischen <strong>Gewalt</strong> in der eigenen Erziehung bewusst sind<br />

und ihren <strong>Kind</strong>ern auf keinen Fall das antun wollen, worunter sie selber gelitten haben,<br />

fallen sie oft automatisch in diese Verhaltensweisen zurück. Es gibt auch so etwas wie<br />

eine Fixierung: Genau das, was ich absolut vermeiden will, mach ich dann gerade selbst.<br />

Aus meiner eigenen Erfahrung als Mutter kann ich, ja muss ich das leider auch bestätigen.<br />

Einengen, Angst machen, Willen brechen, d<strong>am</strong>it etwas Neues,<br />

Gutes wachsen kann<br />

Manche Eltern jedoch setzen psychische <strong>Gewalt</strong> bewusst als Erziehungsmittel ein, weil<br />

sie der Meinung sind, man müsse so erziehen. Auch sie wollen für ihre <strong>Kind</strong>er das Beste,<br />

und sie sind eben der Meinung, dass ihre <strong>Kind</strong>er so <strong>am</strong> besten lernen würden und es<br />

sich so auch <strong>am</strong> besten merken würden, wenn mit besonderem Nachdruck – das Wort<br />

spricht schon für sich – vorgegangen wird.<br />

Hier geht es natürlich um Erziehungsstile, um verschiedene Erziehungstheorien oder<br />

grundsätzliche Überzeugungen.<br />

Im puritanischen England des 17. Jahrhundert, zur Zeit Cromwells, wurde die grundsätzliche<br />

Überzeugung vertreten, dass <strong>Kind</strong>er von Natur aus schlecht sind. Ihr Wille müsse<br />

gebrochen werden, d<strong>am</strong>it sie zu guten und sozialen Menschen gemacht werden können.<br />

Bei „David Copperfield“ oder im „Struwwelpeter“ ist das zu spüren. Diese Überzeugung<br />

muss natürlich ein bestimmtes Erziehungsverhalten bewirken, gerade wenn man seine<br />

<strong>Kind</strong>er liebt. Einengen, Angst machen, Willen brechen, d<strong>am</strong>it etwas neues Gutes wachsen<br />

kann.<br />

Wenn man nun aber der Meinung ist, dass <strong>Kind</strong>er von Natur aus gut sind und Erziehung<br />

eigentlich bedeutet, für <strong>Kind</strong>er Bedingungen zu schaffen, in denen sie sich gut entfalten<br />

und entwickeln können, so muss das natürlich zu einem völlig anderen Erziehungsverhalten<br />

führen.<br />

Auch überholte Erziehungstheorien wirken sehr viel länger nach, wenn auch nicht<br />

bewusst in den Köpfen der Menschen, so doch oft unterschwellig in spontanen<br />

Verhaltensweisen in Situationen von Unsicherheit und Überforderung – und nicht, weil<br />

Eltern es so wollen.


Druck erzeugt Druck – Eltern in schwierigen Situationen<br />

Es gibt Situationen, in denen Eltern unter Stress, außergewöhnlichen Belastungen und<br />

besonderem Druck stehen. Und dann geben sie diesen Druck weiter.<br />

Als Beispiel könnte ich hier die Situation im Supermarkt anbieten, die jede Mutter eines<br />

kleinen <strong>Kind</strong>es sehr gut kennt: Das <strong>Kind</strong> schreit, str<strong>am</strong>pelt, will etwas Bestimmtes haben.<br />

Alle, Kunden, Verkäufer und Verkäuferinnen etc. schauen her. Sie alle – so schießt<br />

es der Mutter durch den Kopf – haben natürlich viel bravere <strong>Kind</strong>er und wissen auch viel<br />

besser, was man jetzt tun sollte. Nur man selbst wird mit dieser Situation nicht fertig.<br />

Als Mutter denkt man in Panik nur das Eine: So schnell wie möglich „das Geschrei“ abstellen.<br />

Stress, Hektik und Schwierigkeiten, in denen Eltern stecken, werden oft an den <strong>Kind</strong>ern<br />

ausgelassen. Das reicht von materiellen bis zu beruflichen Schwierigkeiten, z.B.<br />

Arbeitslosigkeit. Das gilt aber auch für persönliche Schwierigkeiten und besonders für<br />

die Situation der Scheidung der Eltern. In solchen überfordernden Situationen verhalten<br />

sich Eltern ihren <strong>Kind</strong>ern gegenüber oft völlig atypisch. Auf Grund ihrer eigenen<br />

Schwierigkeiten, ihrer eigenen Verletzungen und Schmerzen fügen sie ihren <strong>Kind</strong>ern<br />

Verletzungen zu.<br />

<strong>Kind</strong>er haben mit der Scheidung ihrer Eltern Probleme. Wie sie diese Probleme in ihrem<br />

Leben bewältigen können, hängt sehr davon ab, wie ihre Eltern sich ihnen gegenüber in<br />

dieser Phase verhalten.<br />

Wenn Eltern hier Bescheid wüssten, wäre ihnen das in dieser Problemsituation hilfreich,<br />

denn schaden, so behaupte ich noch einmal, wollen Eltern ihren <strong>Kind</strong>ern nicht.<br />

Vieles geschieht unabsichtlich, unbewusst, wenn Eltern in Situationen stecken, wo sie<br />

einfach reagieren und nicht kontrolliert handeln.<br />

Wir müssen uns bewusst machen:<br />

Elterliche Erziehung findet bewusst durch beabsichtigtes Handeln und unbewusst durch<br />

das Zus<strong>am</strong>menleben von Eltern und <strong>Kind</strong>ern statt.<br />

Die Bedeutung der Elternbildung<br />

Ich glaube, genau in diesem Punkt muss/kann Elternbildung ansetzen. Also zum Beispiel<br />

im Bewusst-Machen der Folgen der verschiedenen Verhaltensweisen. Hier kann<br />

Elternbildung hilfreich sein, besonders in der Prävention, weil Eltern dann mit ihren eigenen<br />

Handlungen bewusster umgehen können.<br />

Beratung und Therapie und auch Mediation haben ihren eigenen Stellenwert, sind wichtig<br />

und notwendig.<br />

Doch Bildung setzt meiner Meinung nach niederschwelliger und präventiv an.<br />

Verunsicherung der Eltern<br />

Bildung als Prävention ist gerade heute wichtiger denn je, weil es auf Grund der starken<br />

und schnellen Veränderungen unserer Gesellschaft für Eltern ungemein schwierig ist,<br />

sich zurechtzufinden.<br />

Man muss sich nur vergegenwärtigen, wie sehr Erziehungsbücher boomen.<br />

Offensichtlich, weil die Not und die Verunsicherung der Eltern in diesen Fragen sehr groß<br />

sind.<br />

Überkommene Traditionen und die Art, wie man selbst erzogen worden ist, sind heute<br />

nicht mehr immer „passend“ und müssen hinterfragt werden.<br />

Bei Bildungsveranstaltungen, vor allem <strong>am</strong> Land, höre ich sehr oft:<br />

„Ich möcht’ meine <strong>Kind</strong>er nicht so erziehen, wie ich selbst erzogen worden bin. Aber wie<br />

soll ich’s dann machen? Einiges war ja ganz gut, aber manches war für mich eher katastrophal.“<br />

Auf Grund dieser Verunsicherung ziehen sich manche Eltern aus ihrer<br />

Erziehungsverantwortung zurück.<br />

Stresssituation:<br />

schreiendes <strong>Kind</strong> in<br />

der Öffentlichkeit<br />

Wir können unsere<br />

<strong>Kind</strong>er noch so gut<br />

erziehen – sie machen<br />

uns doch alles<br />

nach.<br />

Verunsicherte Eltern<br />

ziehen sich aus ihrer<br />

Erziehungsverantwortung<br />

zurück.<br />

19


20<br />

Elternbildung soll<br />

den Eltern ihre<br />

Stärken und<br />

Kompetenzen bewusst<br />

machen.<br />

Eltern werden auch verunsichert, weil die <strong>Kind</strong>er heute sehr oft viel mehr wissen als ihre<br />

Eltern gelernt haben. Das erlebt man in den Dörfern <strong>am</strong> Land immer wieder: „Der weiß<br />

ja schon alles, was soll ich ihm noch sagen?“ Und so verweigern die Eltern ihren <strong>Kind</strong>er<br />

das Lebenswissen, das sie ihnen doch schuldig sind.<br />

Dafür reagieren die Eltern aber dann in Situationen, wo sie das Gefühl haben, „Jetzt muss<br />

ich was tun“, zu heftig und meist falsch. Sie erkennen dann selbst, dass sie da falsch<br />

reagiert haben. Dies verunsichert sie nun noch mehr, und sie ziehen sich weiter zurück.<br />

Das ist ein Teufelskreis, in den Eltern manchmal geraten.<br />

Hier kann Elternbildung auf vielfältige Weise helfen. Die grundsätzliche Aufgabe der<br />

Elternbildung ist, den Eltern bewusst zu machen, dass sie Stärken haben und dass sie<br />

auch kompetent sind.<br />

Zusätzlich muss Elternbildung aber auch Information geben. Denn vieles wissen Eltern<br />

einfach nicht, ob es nun auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie oder in einem anderen<br />

Bereich ist.<br />

Wichtig ist die Weitergabe von fachlich richtiger, also auf dem neuesten Stand wissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse basierender Information.<br />

Bewusstsein durch Wissen<br />

Aber um mehr Bewusstsein zu erreichen, muss Wissen vermittelt werden. Information<br />

ist nicht schon Wissen. Wissen ist angeeignete, persönliche Information, die mit dem eigenen<br />

Leben, mit der eigenen persönlichen Situation, mit der eigenen Wirklichkeit in<br />

Beziehung gebracht werden muss. D<strong>am</strong>it die Information, die man bekommt, auch verarbeitet<br />

werden kann, braucht es sinnvolle methodische Angebote, um die Inhalte in das<br />

eigene Bewusstsein aufnehmen zu können.<br />

Auch da gibt es klare wissenschaftliche Erkenntnisse, unter welchen Umständen<br />

Erwachsene <strong>am</strong> besten lernen, welche Sinneskanäle angesprochen werden müssen,<br />

welche Vermittlungstechniken <strong>am</strong> zielführendsten sind und so weiter. Gute<br />

Bildungsangebote müssen auf diesen Erkenntnissen basieren, d<strong>am</strong>it Eltern das, was sie<br />

in den Elternbildungskursen hören, auch wirklich verarbeiten, in ihr Bewusstsein aufnehmen<br />

und später umsetzen können.<br />

Ein weiterer wichtiger Bereich guter Angebote ist der Austausch zwischen den Eltern.<br />

Eltern sind Betroffene, wie man heute so schön sagt, das heißt, sie sind auch Fachleute<br />

für ihre eigene Situation. Und der Austausch zwischen Fachleuten bringt sehr viel an<br />

Entlastung, an Wissenszuwachs und Erkenntnissen.<br />

Ein weiterer notwendiger Schritt wäre dann, dass die auf Grund der erworbenen<br />

Kenntnisse zu verändernden Verhaltensweisen ein Stück weit auch eingeübt werden<br />

können, d<strong>am</strong>it sie dann in schwierigen Situationen spontan zur Verfügung stehen.<br />

Elternbildung ist:<br />

ð Information – Wissen<br />

ððInteraktion – Methoden – Austausch<br />

ðððEinüben neuer, veränderter Verhaltensweisen – Training<br />

<strong>Kind</strong>er sind keine Knetmasse<br />

Sie sehen schon, das sind anspruchsvolle und auf eine gewisse Weise aufwändige<br />

Bildungsangebote, die hier verlangt sind.<br />

Eltern brauchen die Stärkung ihrer Kompetenzen und dürfen nicht durch falsch verstandene<br />

Angebote noch weiter verunsichert werden.<br />

Rezepte aber, so wie manche es wünschen, die gibt es nicht und kann es nicht geben,<br />

weil unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen verschieden reagieren<br />

und einfach auch Verschiedenes brauchen.


„Es gibt keine Sicherheit, aber ungemein viel Angst, sie zu verlieren.“ (Phil Bosmann)<br />

„Rezepte“ können in der Elternbildung nicht gegeben werden. Es kann keine Rezepte<br />

geben, weil <strong>Kind</strong>er keine Knetmasse sind, die man nach Anleitung formen kann. Würde<br />

man das versuchen, würde man ihnen <strong>Gewalt</strong> antun, psychische, aber auch physische,<br />

weil sie in ihrem Menschsein nicht ernst genommen und übergangen werden.<br />

Das Gelingen der Erziehung hängt auch vom guten Willen der <strong>Kind</strong>er ab. Und ich glaube,<br />

das muss man sich, vor allem als Elternteil, immer wieder vor Augen halten.<br />

In der Elternbildung geht es um mehr Verständnis, um mehr Klarheit, um mehr „Echtheit“<br />

(Erik H. Erikson). Die Eltern in ihrer elterlichen Kompetenz zu stärken, die eigenen<br />

Fähigkeiten und Stärken den Eltern bewusst zu machen und sie zu unterstützen ist nötig.<br />

Was soll in der Elternbildung noch vermittelt werden: wertschätzendes Verhalten, die<br />

Achtung vor der Person des <strong>Kind</strong>es, der sensible, behuts<strong>am</strong>e Umgang mit<br />

Schwierigkeiten, aber auch das sinnvolle Setzen von hilfreichen Grenzen.<br />

Wie Eltern-<strong>Kind</strong>-Gespräche gelingen können, wie Auseinandersetzungen, die immer<br />

wieder notwendig sind, konstruktiv ausgetragen werden können, soll in Elternbildungsseminaren<br />

erarbeitet und – das ist, glaub’ ich, ganz besonders wichtig – erlebt<br />

werden können, denn das ist es, was Eltern im Umgang mit ihren <strong>Kind</strong>ern brauchen, um<br />

psychische <strong>Gewalt</strong> zu vermeiden.<br />

Eltern sind heute in einer schwierigen Situation<br />

Natürlich muss Elternbildung bei der Situation und Befindlichkeit der Eltern ansetzen.<br />

Eltern müssen in ihrer Situation ernst genommen werden.<br />

„Alles Lernen beginnt bei mir und mit mir“, sagt Xaver Fiederle, Professor für<br />

Erwachsenbildung in Freiburg.<br />

Und: „Ich weiß nur, was ich wissen will.“ (Jean Piaget)<br />

Eltern müssen in ihrer Situation ernst genommen, in ihrer Sprache informiert werden, und<br />

sie müssen die sanfte Pädagogik, die notwendig ist, um psychische <strong>Gewalt</strong> zu vermeiden,<br />

selbst erleben und erfahren, d<strong>am</strong>it sie diese im Umgang mit ihren <strong>Kind</strong>ern anwenden<br />

können.<br />

Genauso wie mit <strong>Kind</strong>ern umgegangen werden soll, muss in der Elternbildung auch mit<br />

den Eltern umgegangen werden. Denn nur durch das Vor- und Erleben können Eltern<br />

den richtigen „Umgang“ lernen und verstehen.<br />

„<strong>Kind</strong>er können nur so glücklich oder unglücklich werden wie es die Erwachsenen sind,<br />

in deren Welt sie aufwachsen müssen.“ (Johanna Romberg)<br />

Und in diesem Zus<strong>am</strong>menhang müssen wir uns aber auch bewusst machen, dass die<br />

Situation der Eltern heute wirklich eine schwierige ist.<br />

Im Beruf, in der Gesellschaft, in der Öffentlichkeit ist teilweise ein völlig anderes Verhalten<br />

gefragt als in der F<strong>am</strong>ilie. F<strong>am</strong>ilien- und Berufsverhalten klaffen auseinander. In einer<br />

zunehmend kälter werdenden Gesellschaft herrscht Leistungsdruck, Konkurrenzk<strong>am</strong>pf,<br />

gibt es Ängste, gibt es Ausgrenzung, gibt es Mobbing. In dieser Welt sind auch<br />

Erwachsene, Eltern, jeder Menge psychischer <strong>Gewalt</strong> ausgesetzt. Solidarität geht verloren,<br />

wir leben in einer gewalttätigen Gesellschaft. In diesem Zus<strong>am</strong>menhang ist<br />

Elternbildung wichtig, weil sie Raum geben kann, diese Erfahrungen aus der persönlichen<br />

Betroffenheit zur Sprache zu bringen und andere Verhaltensweisen anzusprechen<br />

und auszuprobieren.<br />

Und genau diese sanfte Art ist es auch, wie Referenten und Referentinnen mit ihren<br />

Teilnehmern und Teilnehmerinnen umgehen müssen. Sie müssen darauf achten, dass<br />

auch diese so miteinander umgehen, denn Eltern sind in Bildungsveranstaltungen nicht<br />

Publikum. Eltern sind Teilnehmer und Teilnehmerinnen, sie sind Lernpartner und<br />

Lernpartnerinnen.<br />

Eltern brauchen die<br />

Stärkung ihrer<br />

Kompetenzen und<br />

dürfen nicht durch<br />

falsch verstandene<br />

Angebote noch<br />

weiter verunsichert<br />

werden.<br />

„Ich weiß nur,<br />

was ich wissen will.“<br />

Jean Piaget.<br />

<strong>Kind</strong>er können nur<br />

so glücklich oder<br />

unglücklich werden<br />

wie es die Erwachsenen<br />

sind, in deren<br />

Welt sie aufwachsen<br />

müssen.<br />

(Johanna Romberg)<br />

21


Elternbildung soll<br />

helfen, Schwächen<br />

nicht gewalttätig<br />

auszumerzen, sondern<br />

Stärken zu verstärken<br />

und dadurch<br />

die Schwächen abzubauen.<br />

<strong>Kind</strong>er wollen bedingungslos<br />

geliebt<br />

werden. <strong>Kind</strong>er wollen,<br />

dass verantwortlich<br />

mit ihnen umgegangen<br />

wird, d<strong>am</strong>it<br />

sie lernen können,<br />

selbst Verantwortung<br />

zu übernehmen.<br />

<strong>Kind</strong>er wollen hilfreich<br />

begleitet werden,<br />

d<strong>am</strong>it sie später<br />

selbstständig ein<br />

glückliches Leben<br />

führen können.<br />

22<br />

Für diese Elternbildung braucht es aber speziell ausgebildete Ausbildner und<br />

Ausbildnerinnen und Angebote guter Aus- und Weiterbildungen. Es braucht Referenten<br />

und Referentinnen, die gelernt haben, die einzelnen Wissensgebiete zus<strong>am</strong>menzuführen<br />

und zu vernetzen, gemeins<strong>am</strong> zu betrachten und anzubieten. Nur so ist die<br />

Elternbildung für Eltern hilfreich und kann auch in ihre Alltagsrealität einfließen.<br />

Es braucht Referenten und Referentinnen, die Übersetzungsarbeit leisten können, die<br />

die wissenschaftlichen oder fachspezifischen Formulierungen so „übersetzen“, dass die<br />

Menschen die Botschaft auch verstehen und mit ihrem eigenen Leben in Berührung bringen<br />

können.<br />

Es braucht Referenten und Referentinnen, die gelernt haben, nicht Schwächen gewalttätig<br />

auszumerzen, sondern Stärken zu verstärken und dadurch die Schwächen abzubauen.<br />

Nur so können Eltern erfahren, wie sie dann daheim mit ihren <strong>Kind</strong>ern umgehen<br />

sollen. Elternbildung soll helfen, Schwächen nicht gewalttätig auszumerzen, sondern<br />

Stärken zu verstärken und dadurch die Schwächen abzubauen.<br />

Zum Abschluss: Wie wollen <strong>Kind</strong>er denn erzogen werden?<br />

Sie wollen zuallererst geliebt werden, so wie sie eben sind. Und diese Zuneigung darf<br />

nicht an Bedingungen geknüpft werden. <strong>Kind</strong>er wollen frei agieren können, wollen lieben<br />

lernen, d<strong>am</strong>it sie auch später selbst in Beziehung treten können. Sie wollen wertschätzend<br />

behandelt werden, in der Würde ihrer eigenen Person geachtet und ernst genommen<br />

werden, d<strong>am</strong>it sie ihren eigenen Wert erkennen und ihren Selbstwert aufbauen können.<br />

<strong>Kind</strong>er wollen Orientierung und Halt finden, hilfreiche Grenzen erfahren, d<strong>am</strong>it sie<br />

auch später erkennen und entscheiden können, was für ihr Leben Sinn macht und was<br />

keinen Sinn macht.<br />

Und: <strong>Kind</strong>er wollen, dass man verantwortlich mit ihnen umgeht, d<strong>am</strong>it sie auch fähig werden,<br />

Verantwortung zu übernehmen, für sich selbst, für die Menschen, mit denen sie zu<br />

tun haben, für die Gesellschaft und die Umwelt. Sie wollen einfach, dass Eltern, Erzieher<br />

und Erzieherinnen oder Lehrer und Lehrerinnen sie hilfreich begleiten, sodass sie später<br />

selbstständig ein glückliches Leben führen können.


„Also sprach in ernstem Ton<br />

der Papa zu seinem Sohn“<br />

„Väter im Erziehungsalltag“<br />

Referent: Dr. Harald Werneck<br />

Ich möchte speziell auf die Rolle der Väter als Urheber der psychischen <strong>Gewalt</strong> an den<br />

<strong>Kind</strong>ern eingehen.<br />

Im Zuge dessen möchte ich auch (nochmals) auf die verschiedenen Formen der psychischen<br />

<strong>Gewalt</strong> im Erziehungsalltag eingehen und auf die Frage, wo die Grenze liegt<br />

zwischen sinnvollen und notwendigen Erziehungsmaßnahmen einerseits und<br />

Maßnahmen, die bereits – mehr oder weniger – als psychische <strong>Gewalt</strong> zu klassifizieren<br />

sind, andererseits.<br />

Schließlich sollen auch Anregungen für einen gewaltfreieren Erziehungsalltag gegeben<br />

werden.<br />

Was ist psychische <strong>Gewalt</strong>?<br />

Um sich zum Themenbereich psychische <strong>Gewalt</strong> systematisch Gedanken zu machen,<br />

scheint es mir aber vorerst angemessen, in Ergänzung zu den bereits vorangegangenen<br />

Definitionen zu deklarieren, auf welchem Verständnis von psychischer <strong>Gewalt</strong> meine<br />

Ausführungen beruhen. Der Misshandlungsbegriff kann ja (wie bereits gehört) insbesondere<br />

im Bereich der psychischen <strong>Gewalt</strong> enger und weiter gefasst werden. Im<br />

Gegensatz zu strafrechtlichen Entscheidungskontexten etwa scheint es im Zus<strong>am</strong>menhang<br />

mit präventiven Überlegungen sinnvoll, sich an breiten <strong>Gewalt</strong>definitionen zu orientieren.<br />

Ich lege meinen Ausführungen zuerst einmal eine Definition in Anlehnung an das<br />

Konzept von Garbarino, Guttmann und Seeley (1986) zu Grunde, wo unter psychischer<br />

<strong>Gewalt</strong> alle Handlungen und Unterlassungen von Eltern und Bezugspersonen verstanden<br />

werden, die <strong>Kind</strong>er ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl der eigenen<br />

Wertlosigkeit übermitteln und sie in ihrer psychischen und/oder körperlichen Entwicklung<br />

beeinträchtigen können.<br />

Dazu zählen grundsätzlich nicht nur die extremen Formen seelischer Graus<strong>am</strong>keit, sondern<br />

auch auf den ersten Blick vielleicht harmlosere Varianten elterlichen Verhaltens, wie<br />

zum Beispiel ständiges Schimpfen oder das demonstrative Bevorzugen eines<br />

Geschwisterkindes; auf diese Formen möchte ich dann später noch eingehen.<br />

Aus dieser breiten Definition wird aber zugleich deutlich, wie schwierig es ist, eine<br />

Grenze zwischen üblichen, weitgehend tolerierten Erziehungspraktiken und psychisch<br />

schädigendem Elternverhalten zu ziehen.<br />

Hier geht es also vor allem um die Frage des geeigneten Erziehungsstils.<br />

Erziehung – eine Frage des Stils?<br />

Schon in den 30er-Jahren wurden die verschiedenen Erziehungsstile einer Dreiteilung<br />

unterworfen, die sich mit leichten Modifikationen im Wesentlichen bis heute bewährt hat.<br />

Diese drei „Grund-Erziehungsstile“ sind der autoritäre, der demokratische und der<br />

Laissez-faire-Stil. Zumindest die N<strong>am</strong>en dieser Erziehungsstile haben mittlerweile auch<br />

den Einzug ins Allgemeinwissen geschafft.<br />

Sie unterscheiden sich vor allem hinsichtlich des Grades der Lenkung einerseits und des<br />

Grades der emotionalen Wertschätzung durch die Erziehungspersonen andererseits.<br />

Diese mehr oder weniger bewusst gewählten Stile, die den Erziehungsalltag wesentlich<br />

Alle Handlungen<br />

und Unterlassungen<br />

von Eltern und<br />

Bezugspersonen, die<br />

<strong>Kind</strong>er ängstigen,<br />

überfordern, ihnen<br />

das Gefühl der eigenen<br />

Wertlosigkeit<br />

vermitteln und sie in<br />

ihrer psychischen<br />

und/oder körperlichen<br />

Entwicklung<br />

beeinträchtigen, können<br />

als psychische<br />

<strong>Gewalt</strong> verstanden<br />

werden.<br />

23


Der autoritäre<br />

Erziehungsstil führt<br />

auf der einen Seite<br />

zwar kurzfristig oft<br />

zum erwünschten<br />

Resultat, längerfristig<br />

aber zu einer<br />

Verschlechterung der<br />

Beziehung der<br />

<strong>Kind</strong>er zu den<br />

Erziehenden.<br />

Laissez faire führt<br />

zwar kurzfristig zu<br />

einer verbesserten<br />

Beziehung zu den<br />

Erziehenden, langfristig<br />

jedoch zu<br />

Desorganisation und<br />

Unangepasstheit.<br />

24<br />

prägen, variieren in ihrer Anwendungshäufigkeit sehr stark – in Abhängigkeit von der<br />

Kultur, von individuellen Einstellungen, von Überzeugungen, vom gesellschaftlichen<br />

Kontext und nicht zuletzt auch von der Zeit.<br />

Der autoritäre Erziehungsstil<br />

Bezeichnend ist, dass 1845 im „Zappelphilipp“, daraus st<strong>am</strong>mt das Zitat meines<br />

Referattitels, der Vater seinen Sohn in ernstem Ton ermahnt.<br />

Dies ist bezeichnend einerseits für die Rollenaufteilung d<strong>am</strong>als, aber auch bezeichnend<br />

für den früher wohl vorherrschenden Erziehungsstil, nämlich den autoritären.<br />

Dieser Erziehungsstil kann allgemein gekennzeichnet werden durch erhöhte<br />

Unfreundlichkeit, häufigeres Befehlen in der Erziehung, durch Pessimismus, Erregung,<br />

vermehrte Strafandrohungen und natürlich auch vermehrte Straferteilungen.<br />

Das führt auf der einen Seite bei den <strong>Kind</strong>ern zwar kurzfristig oft zum erwünschten<br />

Resultat, andererseits aber längerfristig doch eher zu einer Verschlechterung der<br />

Beziehung zu den Erziehenden.<br />

Der autoritäre Stil provoziert in der Regel vermehrt ablehnende Reaktionen der <strong>Kind</strong>er,<br />

verstärkte Unfreiheit im Handeln, unmittelbare Angepasstheit – interessanterweise gepaart<br />

mit späterer Unangepasstheit – und natürlich eine Behinderung der seelischen<br />

Reifung allgemein.<br />

Dieser Umgang zwischen Erziehenden und <strong>Kind</strong>ern wird in seiner Reinkultur als<br />

„schwarze Pädagogik“ bezeichnet. Diese Erziehungsform wird zwar von der<br />

Gesellschaft, vom „common sense“ mittlerweile nur mehr sehr bedingt akzeptiert, ist aber<br />

trotzdem zumindest immer noch eine potenzielle Quelle psychischer <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong>.<br />

Dieser Erziehungsstil ist noch immer zumindest in den Hinterköpfen vieler verankert und<br />

somit häufiger im Erziehungsalltag präsent, als uns lieb ist.<br />

Der Laissez-faire-Stil<br />

Abgelöst als weit verbreitetes Erziehungsideal wurde dieser autoritäre Stil in den späten<br />

60er- und 70er-Jahren – Stichwort „antiautoritäre Erziehung“ – immer mehr durch das<br />

Ideal des „Laissez faire“. Hier legen die Erziehenden grundsätzlich Wert auf Ruhe,<br />

Verständnis und Höflichkeit im Erziehungsalltag, ansonsten vertrauen sie aber im<br />

Wesentlichen auf Selbstregulationsmechanismen der <strong>Kind</strong>er.<br />

Bei den so erzogenen <strong>Kind</strong>ern führt dies zwar vermehrt zu Freiheit im Handeln, einer zumindest<br />

kurzfristig (oft nur vordergründig) verbesserten Beziehung zu den Erziehenden,<br />

zu positiveren Gefühlen den Erziehenden gegenüber, andererseits aber natürlich vor<br />

allem zu Desorganisation, im Endeffekt dann auch zu schlechteren Erziehungsergebnissen<br />

sowie zu einer unmittelbaren und auch späteren Unangepasstheit.<br />

Der demokratische Erziehungsstil<br />

Dieser Erziehungsstil wird oft auch als „sozialintegrativer Stil“ bezeichnet und sollte zumindest<br />

theoretisch im Wesentlichen die Vorteile der beiden vorher Genannten integrieren:<br />

nämlich das weit gehende Erreichen des Erziehungszieles (vom autoritären<br />

Erziehungsstil) und die relativ gute emotionale Beziehung zwischen Eltern und <strong>Kind</strong> (vom<br />

Laissez-faire-Stil).<br />

Von der grauen Theorie zur Praxis<br />

Wie lässt sich das nun – zumindest annähernd – im Alltag umsetzen? Was gibt es für<br />

Ansätze, das tatsächlich auch im Alltag umzusetzen, wo ja vieles anders ist als in der<br />

grauen Theorie? Wie kann also ein <strong>Kind</strong> ohne Anwendung körperlicher und auch psychischer<br />

<strong>Gewalt</strong> dazu gebracht werden, entsprechend dem Willen der Erziehungsperson<br />

etwas zu tun, was es spontan nicht tun würde, oder etwas zu unterlassen, was es im


Moment zwar gerne tun würde, aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht tun sollte?<br />

Wichtig dabei erscheint mir aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie vor allen<br />

Dingen, den Entwicklungsstand des jeweiligen <strong>Kind</strong>es verstärkt zu beachten.<br />

Aus der Forschung über die Entwicklung des moralischen Urteilvermögens wissen wir,<br />

dass sich Kleinkinder bei ihrer Einschätzung von Handlungen als gut oder böse, richtig<br />

oder falsch im Wesentlichen daran orientieren, ob sie von den Erwachsenen für diese<br />

Handlungen belohnt oder bestraft werden. Dementsprechend schwierig und aussichtslos<br />

wird es daher in den meisten Fällen sein, etwa einem 2-Jährigen den tieferen Sinn<br />

der verschiedenen Erziehungsinterventionen darzulegen, in der Hoffnung auf Einsicht<br />

und Vernunft. Ein <strong>Kind</strong> dieses Alters richtet sein Verhalten einfach noch nahezu ausschließlich<br />

nach den Konsequenzen beziehungsweise den Reaktionen der Eltern aus.<br />

Selbst noch so gut gemeinte Erklärungen werden auf Grund der einfach unrealistischen<br />

Erwartungshaltung kontraproduktiv wirken, nämlich dann, wenn die elterlichen<br />

Forderungen im Endeffekt doch, dann allerdings gegen den bewusst gemachten Willen<br />

der <strong>Kind</strong>er durchgesetzt werden. Sinnvoller und effizienter wäre in solchen Fällen, von<br />

vornherein in ruhigem Ton klare Anweisungen zu geben beziehungsweise Grenzen zu<br />

setzen, die vom <strong>Kind</strong> in dieser Situation möglicherweise noch nicht verstanden, aber<br />

doch akzeptiert werden können. Auf diese Weise kann ein ruhiges, aber bestimmtes<br />

„Nein“ in vielen Situationen nicht nur klärend, sondern auch psychisch entlastend wirken<br />

– für das betroffene <strong>Kind</strong> und auch für den das „Nein“ aussprechenden Elternteil.<br />

Je älter die <strong>Kind</strong>er dann sind, desto sinnvoller ist es, Erziehungsmaßnahmen doch zu<br />

erklären und, statt starre Grenzen zu setzen, zunehmend flexiblere Verhaltensregeln zu<br />

erklären und zu vereinbaren.<br />

Vor allem Väter begehen oft den Fehler, dass sie lange Zeit das Verhalten ihres<br />

Sprösslings tolerieren, ohne ein Wort zu sagen, bis ihnen dann sozusagen der<br />

Geduldfaden reißt. Dann „explodieren“ sie, was für das <strong>Kind</strong> völlig unnachvollziehbar ist.<br />

Für das <strong>Kind</strong> reagiert der Vater unverhältnismäßig stark, da zumeist dann gleich sanktionierend.<br />

Erst relativ spät, interessanterweise erst nach dem Volksschulalter, sind <strong>Kind</strong>er dann<br />

wirklich in der Lage zu begreifen, dass man von Regeln auch Ausnahmen machen kann,<br />

ohne dabei die Regel selbst grundsätzlich in Frage zu stellen.<br />

Ich denke, das ist auch in der alltäglichen Erziehung wichtig zu berücksichtigen.<br />

Dennoch ist eine klare und konsequente Erziehungslinie bei <strong>Kind</strong>ern beziehungsweise<br />

Jugendlichen unheimlich wichtig. Die <strong>Kind</strong>er müssen einmal wissen, worauf sie sich einstellen<br />

und worauf sie sich verlassen können. Das setzt natürlich auch voraus, dass sich<br />

die Eltern beziehungsweise die Erziehungspersonen selbst über diese Erziehungsziele<br />

und auch die Erziehungsstile im Klaren sind.<br />

Väter im Aufbruch<br />

Speziell die Väter sind heute mehr denn je über die an sie gestellten Erwartungen und<br />

Anforderungen als Erzieher verunsichert. Schwankend so etwa irgendwo zwischen dem<br />

Bild des <strong>am</strong> Abend nach Hause kommenden und die <strong>Kind</strong>er für die Sünden des Tages<br />

bestrafenden Vaters einerseits und dem alles tolerierenden Spielk<strong>am</strong>eraden, mit dem<br />

man alles machen kann, andererseits.<br />

Grundsätzlich geht speziell auch bei den Vätern der Trend in Richtung einer deutlichen<br />

Abnahme autoritärer Aspekte in der Erziehung, wie in einer Generationen vergleichenden<br />

Studie von Eitler (1984) gezeigt wurde, in der Erziehungsstile und Erziehungspraktiken<br />

der jetzigen Vätergeneration mit jenen der Großväter verglichen wurden.<br />

Auch in einem eigenen Forschungsprojekt zur F<strong>am</strong>ilienentwicklung im Lebenslauf gaben<br />

uns 58 Prozent der jungen Väter an, ihre <strong>Kind</strong>er milder zu erziehen als sie selbst erzogen<br />

wurden (z.B. Werneck, 1998). Nicht einmal 1 Prozent der Väter erziehen ihre<br />

<strong>Kind</strong>er strenger, als sie selber erzogen wurden. Besonders interessant erscheint auch,<br />

dass Väter, die selbst sehr streng erzogen worden sind, sich in der Regel zumindest vornehmen,<br />

mit ihren eigenen <strong>Kind</strong>ern besonders mild umzugehen.<br />

Wichtig ist, den<br />

jeweiligen Entwicklungsstand<br />

des<br />

<strong>Kind</strong>es zu beachten.<br />

Je älter die <strong>Kind</strong>er<br />

sind, desto sinnvoller<br />

wird es, Erziehungsmaßnahmen<br />

zu<br />

erklären und, statt<br />

starre Grenzen zu<br />

setzen, zunehmend<br />

flexiblere Verhaltensregeln<br />

zu<br />

erklären und zu<br />

vereinbaren.<br />

Dennoch ist eine<br />

klare und konsequenteErziehungslinie<br />

ausgesprochen<br />

wichtig.<br />

Väter erziehen heute<br />

milder als ihre<br />

eigenen Väter.<br />

25


„Neue Väter“<br />

zeichnen sich durch<br />

geringe <strong>Gewalt</strong>bereitschaft,<br />

hohe<br />

Befürwortung der<br />

Emanzipation der<br />

Frau, starke<br />

Gefühlsbetontheit<br />

und hohes Engagement<br />

in der <strong>Kind</strong>ererziehung<br />

aus.<br />

Während Väter zu<br />

ihren Töchtern oft<br />

bessere emotionale<br />

Beziehungen als zu<br />

ihren Söhnen haben,<br />

stimulieren sie ihre<br />

Söhne intellektuell<br />

mehr als ihre<br />

Töchter. Diese geschlechtsspezifischen<br />

Unterlassungen können<br />

auch als Form<br />

psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

betrachtet werden,<br />

da sie zu Entwicklungsbeeinträchtigungen<br />

führen<br />

können.<br />

26<br />

Die „neuen“ Väter<br />

Das deckt sich auch mit Resultaten einer kürzlich durchgeführten deutschen<br />

Untersuchung von Zulehner und Volz (1999) mit Daten aus Deutschland. Danach ist die<br />

<strong>Gewalt</strong>bereitschaft bei den so genannten „neuen Vätern“, die sich vor allem durch hohe<br />

Befürwortung der Emanzipation der Frauen, starke Gefühlsbetontheit und hohes<br />

Engagement in der <strong>Kind</strong>ererziehung auszeichnen, generell gering: 91 Prozent dieser<br />

neuen Männer lehnen männliche <strong>Gewalt</strong> grundsätzlich stark ab. Das passt auch gut zu<br />

den Wünschen und Ansprüchen an den idealen Vater, der einer eigenen Umfrage unter<br />

Studentinnen und Studenten zur Folge vor allem verständnisvoll, liebevoll, fürsorglich,<br />

gesprächsbereit und verantwortungsvoll sein sollte.<br />

Erziehungsalltag der Väter<br />

Wie sieht nun der konkrete Erziehungsalltag für Väter in der Regel aus?<br />

Die Zeit, die Väter mit ihren <strong>Kind</strong>ern verbringen, wird vor allem dem gemeins<strong>am</strong>en Spiel<br />

gewidmet. Versorgende Tätigkeiten spielen, natürlich abhängig vom Lebensalter des<br />

<strong>Kind</strong>es, grundsätzlich eine untergeordnete Rolle.<br />

Die alltägliche Erziehungsarbeit aber wird, wie wir aus verschiedenen Studien wissen,<br />

im Wesentlichen noch immer von den Müttern geleistet.<br />

Was die angegebene Strenge in der Erziehung betrifft, so gibt es etwa in unserer<br />

Längsschnittstudie, aber auch anderen Erhebungen zur Folge keine bedeutenden<br />

Unterschiede zwischen Vätern und Müttern, statistisch gesehen – was für den Einzelfall<br />

nicht unbedingt gültig ist.<br />

Die Qualität insbesondere der Vater-<strong>Kind</strong>-Beziehung und, d<strong>am</strong>it zus<strong>am</strong>menhängend, die<br />

Neigung zur Anwendung diverser Formen psychischer <strong>Gewalt</strong> im Erziehungsalltag hängt<br />

aber auch stark von der Qualität der Beziehung zwischen den Eltern ab. Auch das wird<br />

interessanterweise erst seit ein paar Jahren übereinstimmend in mehreren Studien immer<br />

wieder betont.<br />

Der kleine Unterschied<br />

Abgesehen von der negativen Vorbildwirkung sich streitender Eltern, die, glaube ich, relativ<br />

evident ist, fand etwa das Forscherehepaar Cowan und Cowan Anfang der 90er-<br />

Jahre (1994) in einer groß angelegten <strong>am</strong>erikanischen Studie, dass Väter bei Partnerschaftsproblemen<br />

vor allem die Töchter schlechter behandeln.<br />

Das weist einmal mehr auf Unterschiede im Erziehungsverhalten je nach Geschlecht des<br />

<strong>Kind</strong>es hin.<br />

Auch hiezu gibt es eine Fülle von Untersuchungsergebnissen, die einander allerdings<br />

teilweise widersprechen. Man könnte sie dahingehend zus<strong>am</strong>menfassen, dass seitens<br />

der Väter die emotionale Beziehung zu den Töchtern oft besser ist als zu den Söhnen,<br />

dass die Söhne dafür aber intellektuell mehr stimuliert werden.<br />

Betrachtet man jetzt die Befunde sozusagen von hintenherum, hinsichtlich der Frage,<br />

was bei den Töchtern beziehungsweise den Söhnen zu wenig gefördert wird, so ließen<br />

sich im Sinne der eingangs erwähnten breiten Definition zu präventiven Zwecken die<br />

geschlechtsspezifischen Unterlassungen durchaus als Form der psychischen <strong>Gewalt</strong><br />

klassifizieren, die dann natürlich in weiterer Folge auch den Keim für spätere Entwicklungsbeeinträchtigungen<br />

in sich bergen.<br />

Vernachlässigung der väterlichen Pflichten<br />

D<strong>am</strong>it wäre ich auch schon bei einer Kernthese meines Vortrages:<br />

Die häufigste Form psychischer <strong>Gewalt</strong>, die zurzeit von Vätern in Österreich praktiziert<br />

wird (im Sinn der eingangs angeführten breiten Definition), besteht wohl weniger in den


verschiedensten Varianten aktiver <strong>Gewalt</strong>anwendung, sondern eher in der<br />

Vernachlässigung ihrer väterlichen Pflichten, im Unterlassen einer optimalen und maximalen<br />

Entwicklungsförderung der <strong>Kind</strong>er, die ja sozusagen Kraft ihrer Existenz eigentlich<br />

ein Anrecht auch auf väterliche Unterstützung hätten.<br />

Die Abwesenheit beziehungsweise die – selbst bei Anwesenheit – oft nicht vorhandene<br />

emotionale Verfügbarkeit, aus welchen Gründen auch immer, wird mehrfach als einer der<br />

Hauptgründe für das bedenkliche Ansteigen diversester Verhaltensstörungen angeführt.<br />

Es geht hier in erster Linie um Störungen im Sozialverhalten, um aggressive<br />

Verhaltenstörungen – vor allem Buben werden immer aggressiver. Ein Hauptgrund hierfür<br />

wird wohl in der eben beschriebenen „Unterväterung“ zu finden sein.<br />

Viele dieser Buben und Mädchen würden sich vielleicht wünschen, dass der „Papa“ ab<br />

und zu einmal, wenn auch „in ernstem Ton“, aber doch zu ihnen spricht. Pointiert formuliert:<br />

Besser in ernstem Ton als gar nicht!<br />

In zu vielen Fällen fehlt der Vater entweder ganz oder weitgehend in der Erziehung. Vor<br />

allem aus der Perspektive der <strong>Kind</strong>er fehlt er als Ansprechpartner. Er fehlt als positives<br />

Identifikationsmodell, als eine die Mutter ergänzende Erziehungsinstanz oder einfach –<br />

scheinbar banal – als interessanter Freizeitpartner; wobei die Gründe, warum sich die<br />

Väter nicht eingehender mit ihren <strong>Kind</strong>ern befassen, in vielen Fällen weniger in der<br />

grundsätzlich fehlenden oder mangelnden Bereitschaft oder sogar fehlenden Fähigkeit,<br />

sich mit den <strong>Kind</strong>ern zu beschäftigen, zu suchen sind, als vielmehr in externen Ursachen,<br />

die mit der Vater-<strong>Kind</strong>-Beziehung an sich nicht unmittelbar direkt zus<strong>am</strong>menhängen.<br />

Dazu gehören typischerweise eine Trennung der Eltern oder natürlich auch der hohe berufliche<br />

Zeitaufwand. Oder beides zus<strong>am</strong>men: Trennung und Beruf.<br />

Diese mittelbaren Formen psychischer <strong>Gewalt</strong> wären der Vollständigkeit halber noch zu<br />

ergänzen durch Formen struktureller, ja ges<strong>am</strong>tgesellschaftlich bedingter <strong>Gewalt</strong>: etwa<br />

mangelnde Einräumung von kindgerechten Spielmöglichkeiten, von Bewegungsmöglichkeiten<br />

und ähnlichem.<br />

Neben diesen strukturellen Komponenten ist aber nicht zu vergessen, dass es nach wie<br />

vor Formen der unmittelbaren, aktiven psychischen <strong>Gewalt</strong> gibt, die im Erziehungsalltag<br />

mehr oder weniger deutlich zu beobachten sind.<br />

Art und Ausmaß dieser <strong>Gewalt</strong>formen haben sich bei Vätern und Müttern in den letzten<br />

Jahrzehnten in Summe einander angenähert und lassen sich im Durchschnitt nicht mehr<br />

wesentlich voneinander unterscheiden.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong>: fällt weniger auf,<br />

ist gesellschaftlich eher akzeptiert als physische <strong>Gewalt</strong><br />

Obwohl eine umfassende, objektive, methodisch korrekte Erfassung psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

letztendlich nahezu unmöglich ist – das ist ja das Dilemma! – und somit die harten Daten<br />

fehlen, stelle ich jetzt eine weitere Hypothese auf: Parallel zum Rückgang der physischen<br />

<strong>Gewalt</strong>, der natürlich sehr zu begrüßen ist, hat die psychische <strong>Gewalt</strong> in der Erziehung<br />

als Mittel zur Konfliktaustragung und als alltägliches Erziehungsmittel eher zugenommen.<br />

Die physische <strong>Gewalt</strong> wird gesellschaftlich immer mehr geächtet, während die psychische<br />

eher gerechtfertigt wird.<br />

Gemessen an den zu erwartenden Spätfolgen, die im Extremfall bis zu Suizidversuchen<br />

gehen können, wird die psychische <strong>Gewalt</strong> im Vergleich zur physischen <strong>Gewalt</strong> in der<br />

Regel unterbewertet.<br />

Die Gründe dafür: Einerseits ist das gewalts<strong>am</strong>e Verhalten als solches schwer identifizierbar,<br />

andererseits sind die Konsequenzen, die psychischer Missbrauch nach sich ziehen<br />

kann, häufig unklar und unabsehbar.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist eher Ausdruck einer Grundhaltung, Ausdruck einer Einstellung,<br />

die den Erziehungsalltag aber wirklich maßgebend und auch nachhaltig prägt (und<br />

wahrscheinlich nachhaltiger prägt als der fallweise Einsatz physischer Bestrafung).<br />

Unterlassungen –<br />

die häufigste Form<br />

väterlicher <strong>Gewalt</strong><br />

Gemessen an den<br />

zu erwartenden<br />

Spätfolgen, die im<br />

Extremfall bis zu<br />

Suizidversuchen<br />

gehen können, wird<br />

die psychische<br />

<strong>Gewalt</strong> im Vergleich<br />

zur physischen<br />

<strong>Gewalt</strong> in der Regel<br />

unterbewertet.<br />

27


<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />

ist auch Ausdruck<br />

einer Grundhaltung,<br />

einer Einstellung, die<br />

den Erziehungsalltag<br />

maßgebend und<br />

wahrscheinlich<br />

nachhaltiger prägt<br />

als fallweise physische<br />

Bestrafung.<br />

Vätern fällt es zumeist<br />

schwer, <strong>am</strong><br />

Feierabend oder zum<br />

Wochenende in eine<br />

kindgerechte Sprache<br />

zu wechseln.<br />

Männlich-väterliche<br />

Sprache hat mehr<br />

28<br />

Eine permanente psychische <strong>Gewalt</strong> als Ausdruck einer Erziehungseinstellung ist wahrscheinlich<br />

mittel- und längerfristig noch schädlicher als physische <strong>Gewalt</strong>.<br />

Zu den klassischen Varianten psychischer <strong>Gewalt</strong> zählen etwa: das <strong>Kind</strong> einschüchtern,<br />

isolieren, es übermäßig kontrollieren, mit lang anhaltendem Liebesentzug bestrafen,<br />

emotional erpressen, ablehnen, auslachen, bl<strong>am</strong>ieren, grundlos misstrauen, ständig<br />

über- oder auch unterfordern oder das speziell unter Vätern weit verbreitete Spektrum<br />

verbaler <strong>Gewalt</strong>formen, wie zum Beispiel beleidigen, erniedrigen, sich lustig machen,<br />

hänseln, abwerten, ständig Kritik üben, Sarkasmus, Zynismus etc. Diese Liste ließe sich<br />

wohl noch lange fortsetzen.<br />

Vielleicht sollte sich jede/r als ersten Schritt, im Sinne einer Bewusstmachung und in weiterer<br />

Folge zur Vermeidung dieser aggressiven Kommunikationsformen für sich selbst<br />

einmal so eine Liste überlegen, um sich zu verdeutlichen, welche Erziehungsmaßnahmen<br />

aus subjektiver Perspektive des <strong>Kind</strong>es eigentlich eine Integritätsverletzung<br />

bedeuten müssen.<br />

Was die Prävention gerade von psychischer <strong>Gewalt</strong> so erschwert, ist ja unter anderem,<br />

dass psychische <strong>Gewalt</strong> in vielen Fällen von den Ausübenden gar nicht und auch von<br />

den Opfern häufig nur diffus oder gar nicht als solche erkannt wird.<br />

Was können wir tun?<br />

Bewusstseinsarbeit, Sensibilisierung auf konkreter individueller, aber auch auf gesellschaftliche<br />

Makroebene, etwa in Form dieser heutigen Enquete, bilden die Basis, auf<br />

welcher dann Strategien überlegt werden müssen und können, um <strong>Gewalt</strong>aspekte im<br />

Erziehungsalltag möglichst zu reduzieren.<br />

Auf soziologischer, gesellschaftlicher Ebene sollten die Bemühungen zur Vermeidung<br />

psychischer <strong>Gewalt</strong> grundsätzlich in Richtung einer umfassenderen Entlastung der<br />

F<strong>am</strong>ilien gehen, vor allem in krisengeförderten Übergangsphasen, also zum Beispiel in<br />

der Phase des Übergangs zur Elternschaft oder in der Phase der Pubertät, wo die<br />

F<strong>am</strong>ilien mehr Unterstützung bräuchten.<br />

F<strong>am</strong>ilien- und gesellschaftspolitische Maßnahmen, im Sinne einer Stärkung, eines<br />

„Empowerments“ des Einzelnen und der F<strong>am</strong>ilien als Ganzes, beeinflussen in letzter<br />

Konsequenz auch den innerf<strong>am</strong>iliären Kommunikationsstil positiv, die „Interaktionskultur“.<br />

Sie sind im Rahmen einer umfassenderen Strategie – und einer solchen bedarf<br />

es – daher wohl unverzichtbar.<br />

Parallel zu dieser übergeordneten Ebene obliegt es aber auch vielleicht noch zu einem<br />

viel größeren Anteil der Verantwortung des Einzelnen – und den kann man nicht aus<br />

dieser Verantwortung entlassen –, sich unmittelbar um eine gewaltfreie Erziehung zu<br />

bemühen.<br />

Das setzt, wie gesagt, zuerst einmal das Bemühen um die Herstellung beziehungsweise<br />

Intensivierung einer tragfähigen, auf gegenseitigem Vertrauen basierenden<br />

Gesprächsbasis zwischen <strong>Kind</strong> und Vater voraus, so dass auch das <strong>Kind</strong> die subjektive<br />

Sicherheit hat, sich mit allen Anliegen an den Vater wenden zu können und d<strong>am</strong>it auch<br />

ernst genommen zu werden. Denn wer sich von vornherein ein zynisches Statement<br />

erwartet, wird kaum das Gespräch suchen.<br />

Sie sprechen oft ein andere Sprache ...<br />

Speziell Vätern fällt es – mitbedingt durch die geringe mit den <strong>Kind</strong>ern verbrachte Zeit –<br />

wahrscheinlich auch oft schwerer, all die Sorgen und Nöte der <strong>Kind</strong>er in der ganzen<br />

Tragweite, die es für das <strong>Kind</strong> bedeutet, nachzuvollziehen. Es fällt ihnen schwer, adäquat<br />

darauf einzugehen und darauf zu reagieren. Dazu kommt, dass es in der Regel gerade<br />

Vätern nach dem Berufsalltag, also wenn sie <strong>am</strong> Abend nach Hause kommen, oder<br />

zum Wochenende, schwerer fällt, sich von der Erwachsenensprache auf die altersgemäße<br />

Sprache der <strong>Kind</strong>er umzustellen, sowohl vom Stil her als auch von den Inhalten.


Väter wissen oft nicht, welche Gesprächsthemen gerade für die <strong>Kind</strong>er relevant sind und<br />

was diese gerade wirklich beschäftigt.<br />

Ich denke, das hängt auch d<strong>am</strong>it zus<strong>am</strong>men, dass die männlich-väterliche Gesprächskultur<br />

im Durchschnitt betrachtet vielleicht grundsätzlich mehr Barrieren auf dem Weg zu<br />

einer kindgerechten Sprache zu überwinden hat als jene der Mütter.<br />

Konklusio<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> im Erziehungsalltag zu vermeiden setzt also vor allem bei Vätern voraus,<br />

sich grundsätzlich bereitwillig auf das <strong>Kind</strong> einzulassen, sich mehr an den kindlichen<br />

Bedürfnissen zu orientieren, diese auch ernst zu nehmen, dabei aber gegebenenfalls<br />

auch Richtungen vorzugeben und das <strong>Kind</strong> in liebevoller und zielführender Weise anzuleiten<br />

und zu begleiten.<br />

Bedingung dafür wäre in erster Linie aber wiederum eines: mehr Zeit der Väter für ihre<br />

<strong>Kind</strong>er.<br />

Barrieren auf dem<br />

Weg zu einer kindgerechten<br />

Sprache<br />

zu überwinden als<br />

die „Muttersprache“.<br />

29


Idyllische<br />

Dorfstrukturen gibt<br />

es nur mehr im<br />

Fremdenverkehrsprospekt.<br />

30<br />

„Niemand hört ihn, wenn er schreit“<br />

„Stadt-Land-Problematik“<br />

Referent: Dr. Reinhard Neumayer<br />

Ich habe zwei Einleitungen für Sie vorbereitet. Die erste ist ein wenig naiv. Während der<br />

zweiten können Sie sich davon erholen.<br />

Erste Einleitung<br />

Es treffen sich zwei Idealisten aus dem psychosozialen Feld und besprechen ihre<br />

Situation. Der eine arbeitet in der Stadt, der andere auf dem Land. Der vom Land sagt<br />

zu seinem Kollegen: „Ja ihr in der Stadt, ihr habt es gut! Das gibt es so viele Angebote.<br />

Alles ist leichter erreichbar. Und diese herrliche Anonymität! Wenn man in eine<br />

Beratungsstelle geht, ist es unwahrscheinlich, dass der Nachbar im gleichen Wartezimmer<br />

sitzt. Da kann man doch wirklich gut und profund arbeiten, und die Klienten nehmen<br />

diese Arbeit sicher gerne an.“<br />

Der Kollege aus der Stadt schluckt die spontane Antwort hinunter und sagt: „Aber bei<br />

euch <strong>am</strong> Land, wo noch die F<strong>am</strong>ilienbande funktionieren, wo die Großf<strong>am</strong>ilien tragfähig<br />

sind, wo Krisen innerhalb des Clans ausgetragen werden, wo die dörfliche Gemeinschaft<br />

alles trägt, da braucht man wahrscheinlich gar nicht so viele Beratungsstellen.“<br />

Und dann schluckt der vom Land, und beide haben plötzlich den Eindruck, dass der<br />

jeweils andere von einem anderen Kontinent kommt.<br />

Jeder von Ihnen arbeitet entweder in der Stadt oder auf dem Land oder – bei besonderem<br />

Pech – in einem Bereich einer Bezirkshauptmannschaft, wo es städtische und ländliche<br />

Umgebung gibt. Oder Sie arbeiten vielleicht in einer Kleinstadt, die gar nicht weiß,<br />

ob sie noch ein Dorf oder schon eine Stadt ist.<br />

Die Strukturen sind alle nicht mehr so, wie wir geglaubt haben oder wie es uns Fremdenverkehrsprospekte<br />

suggerieren.<br />

Das war die naive Einleitung, jetzt kommt die andere.<br />

Zweite Einleitung<br />

Es war einmal ein Klient, der hat noch gar nicht gewusst, dass er einer ist.<br />

Er ist eine „Sie“, eine Lehrerin, die das Gefühl hat, dass mit einem ihrer Schüler etwas<br />

nicht in Ordnung ist. Der Bursche ist recht zurückgezogen, ängstlich, wirkt, als sei er unter<br />

Druck. Es gibt viel zu wenig Hinweise auf ein stabiles Selbstwertgefühl, und er weicht<br />

aus, wann immer es Gelegenheit für ein persönlicheres Gespräch gibt – und so oft gibt<br />

es die ja gar nicht.<br />

Bei einigen der Leser und Leserinnen beginnt vielleicht jetzt schon die Hypothesenbildung:<br />

Was könnte denn mit diesem Schüler wirklich los sein?<br />

Andere wiederum erinnern sich jetzt, dass ich mit der Situation einer Lehrerin begonnen<br />

habe. Sie fragen sich jetzt also: „Wieso soll die Lehrerin der Klient sein?“<br />

Und wieder andere beschäftigt vielleicht die Idee, dass das Referat etwas mit Stadt und<br />

Land zu tun haben sollte. Warten Sie ab!<br />

Dank ganz beharrlicher und vielfältiger Versuche von vernetzungsfreudigen Anbietern<br />

aus der psychosozialen Szene ist der Lehrerin ja klar: Dieser Schüler braucht Hilfe! Und<br />

es gibt auch eine ganze Palette von Angeboten. Die Auswahl zu treffen ist nicht leicht,<br />

aber es lohnt sich in den Fall einzusteigen. (Hinweis: Die Lehrerin wird deshalb zur<br />

Klientin, weil sie sich zunächst Rat für die geeignete eigene Vorgangsweise sucht. Also<br />

zuerst einmal ist sie die Klientin und nicht das <strong>Kind</strong>, nicht die F<strong>am</strong>ilie.)


Sie tut viel. Sie holt telefonisch unter Zuhilfenahme einer reichhaltigen Broschürens<strong>am</strong>mlung<br />

Auskünfte über Arbeitsschwerpunkte, Öffnungszeiten und Erreichbarkeit von<br />

verschiedenen Beratungseinrichtungen mit oder ohne therapeutisches Zusatzangebot<br />

ein. Außerdem erkundet sie – nicht unwesentliche – Zugangskriterien wie: Wer darf denn<br />

welche Beratungsstelle überhaupt aufsuchen? Und sie informiert sich natürlich über<br />

mögliche Kosten.<br />

Aber bevor sie wirklich etwas tun kann, bedarf es – das ist der mittlerweile erschöpften<br />

Lehrerin inzwischen klar geworden – der Zustimmung der Eltern.<br />

Und, was vielleicht noch viel schwieriger ist, auch der Mitwirkung der Eltern.<br />

Das bedeutet Motivationsarbeit, Überzeugungsarbeit und so weiter – jedenfalls Arbeit.<br />

Die Eltern – entgegen aller statistischen Wahrscheinlichkeit sogar beide Eltern – kommen<br />

der „Einladung“ der Lehrerin in die Sprechstunde nach.<br />

Sie kommen also und hören sich zunächst einmal geduldig und dann immer verständnisloser<br />

an, worum es geht.<br />

Offenbar geht es nicht um schlechte Leistungen, nicht um tadelnswertes Benehmen,<br />

nicht um überraschend aufgedecktes Schulschwänzen.<br />

Was will diese Lehrerin eigentlich?<br />

Auszüge aus den (vermuteten) Gedankengängen der Eltern und wie sie versuchen, es<br />

selber darzustellen:<br />

„Wir haben uns doch so bemüht – nie hat es auch nur eine Ohrfeige gebraucht. Er hat<br />

auch so recht bald verstanden, der Bub, was sich gehört. Eigentlich braucht man nur einmal<br />

hinschauen, und er gehorcht. Und Zurückreden, das gibt es sowieso nicht, weil erst<br />

muss man einmal was leisten, und dann hat man was zu reden.“<br />

Vielleicht hat man aber dann auch nichts mehr zu sagen ...<br />

„Ja doch, früher, da war einmal so eine Zeit, da wollte er so auf trotzig machen.<br />

Aber da weiß man ja, wenn man sich da nicht durchsetzt, dann wachsen einem diese<br />

<strong>Kind</strong>er gleich über den Kopf.<br />

Aber es geht alles ohne Schlagen.<br />

Obwohl manchmal, da hätte es einen schon gejuckt. Aber heute, da steht das ja überall,<br />

dass das nicht mehr geht mit dem Hinhauen.<br />

Nein, wir haben das feiner gemacht.<br />

Aufheben – Badezimmer – einmal das Gesicht mit dem Waschlappen abputzen und dann<br />

ab ins <strong>Kind</strong>erzimmer. Dort muss er bleiben, bis er vernünftig ist und bittet – bittet, dass<br />

er wieder herauskommen darf. Aber es muss das Bitte schon ernst meinen. Einfach nur<br />

„Bitte“ sagen und dann schon heraussausen, und alles ist vergessen – na so geht das<br />

natürlich nicht! Das muss schon ehrlich kommen, das muss man spüren, dass das<br />

echt ist.<br />

Und jetzt soll er Hilfe brauchen? – Was? Wir alle? ... (?) Wieso? Was ist denn nicht in<br />

Ordnung?“<br />

Die Realität<br />

Steigen wir jetzt aus dieser Szene aus, und fassen wir zus<strong>am</strong>men:<br />

Es gibt ein auffälliges <strong>Kind</strong>. Das <strong>Kind</strong> ist jemandem – in diesem Beispiel einer Lehrerin<br />

– aufgefallen.<br />

Dann hat dieser Jemand – diese Lehrerin – auch noch den Versuch gemacht, einen<br />

Hilfeprozess in Gang zu bringen.<br />

Aber das war eben nur eine Einleitung. Die Realität sieht zumeist anders aus.<br />

Es gibt viele <strong>Kind</strong>er, an deren Verhalten etwas Auffälliges zu bemerken wäre, würde nur<br />

jemand mit geschultem Blick hinschauen.<br />

Es gibt <strong>Kind</strong>er, die haben aufgegeben. Sie resignieren, sie versuchen nicht mehr auf sich<br />

und auf ihre Not aufmerks<strong>am</strong> zu machen.<br />

„Wir haben uns doch<br />

so bemüht! Ja, es hat<br />

Zeiten gegeben, da<br />

wollte er trotzig sein.<br />

Wenn man sich da<br />

nicht durchsetzt,<br />

dann wachsen einem<br />

die <strong>Kind</strong>er gleich<br />

über den Kopf. Aber<br />

schlagen mussten<br />

wir ihn nie! Hie und<br />

da ein wenig einsperren<br />

ins<br />

<strong>Kind</strong>erzimmer –<br />

wem schadet das?<br />

Und jetzt soll er, sollen<br />

wir alle Hilfe<br />

brauchen?“<br />

31


Viel zu oft bleiben<br />

die „Schreie“, die<br />

verschiedenen<br />

Versuche, sich bemerkbar<br />

zu machen,<br />

auf seine Not aufmerks<strong>am</strong><br />

zu machen,<br />

unbemerkt.<br />

Erziehung sollte<br />

dahin führen, die<br />

Fähigkeit zu erlangen,<br />

sich in einem<br />

sozialen Kontext so<br />

zu bewegen, dass<br />

jeder seine Entwicklungschancen<br />

wahrt,<br />

ohne die des anderen<br />

zu beschädigen.<br />

Elternbildung muss<br />

zielgruppenorientiert<br />

sein.<br />

32<br />

Und es gibt <strong>Kind</strong>er, die immer noch schreien. Doch – ganz im Sinne des Referattitels:<br />

„Niemand hört ihn, wenn er schreit“.<br />

Die verschiedenen Versuche, sich bemerkbar zu machen, auf seine Not aufmerks<strong>am</strong> zu<br />

machen, bleiben unbemerkt.<br />

Wenn ich von geschultem Blick spreche, dann setze ich den Level nicht hoch an. Ich<br />

meine d<strong>am</strong>it keine Untersuchungen durch ein mobiles „Psycho-Notfalls-Te<strong>am</strong>“. Ich meine<br />

Sensibilisierung der Menschen, ich meine Aus- und Fortbildung möglicher Ersthelfer.<br />

Zielgruppenorientierte Information<br />

Diese Veranstaltung versucht einen Impuls zur Meinungsbildung zum Thema<br />

„<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong>“ zu setzen.<br />

Aber es hat keinen Sinn, nur Hinweise darauf zu geben, was alles verboten ist. Das wissen<br />

inzwischen ohnehin schon viele Leute. Es gehört vielmehr auch gesagt, was in der<br />

Entwicklung der <strong>Kind</strong>er hilfreich ist. Und vielleicht sollte man auch eine Zielrichtung dazu<br />

sagen. Also: Wohin soll die Entwicklung zielen?<br />

Nützlich ist es, die Fähigkeit zu erlangen, sich in einem sozialen Kontext so zu bewegen,<br />

dass jeder seine Entwicklungschancen wahrt, ohne die des anderen zu beschädigen.<br />

Für mich geht es in die Richtung „Seelische Gesundheit jetzt und in der Zukunft“. Es geht<br />

um Elternbildung.<br />

Ich habe viele Jahre lang als Referent in der Elternbildung gewirkt und habe es häufig<br />

mit Paaren zu tun gehabt, die ihr erstes <strong>Kind</strong> erwartet haben und in völliger Euphorie alle<br />

Angebote zum „Thema: <strong>Kind</strong>“ wahrgenommen haben.<br />

So k<strong>am</strong>en diese werdenden Eltern auch zu einem Informations- und Diskussionsabend,<br />

an dem man mit einem Psychologen über <strong>Kind</strong>erentwicklung reden konnte. Das Thema<br />

waren die ersten drei Lebensjahre. Die, die auf ihr erstes <strong>Kind</strong> gewartet haben, haben<br />

die Hoffnung gehabt, dort ein Angebot an Sicherheitsmaßnahmen gegen mögliche<br />

Fehler zu bekommen. Und wenn sie das dann alles gut befolgen, dann wird das <strong>Kind</strong> genau<br />

das, was sie für den perfekten F<strong>am</strong>ilienergänzungsteil auf ihrer Wunschliste haben,<br />

der aus irgendeinem biologischen Grund bis jetzt gefehlt hat.<br />

Viel spannender war es für mich, wenn Eltern dabei waren, die schon auf ihr zweites <strong>Kind</strong><br />

gewartet haben. Also genau genommen waren es in diesem Fall fast ausschließlich<br />

Mütter. Nur bei denen, die aufs erste <strong>Kind</strong> warten, kommen meist noch Paare. Also diese<br />

paar noch immer neugierigen Mütter, die dann gekommen sind, haben sich die ersten<br />

Themen mit diesem gewissen abgeklärten Lächeln angehört und auf die Themen gewartet,<br />

die für sie wirklich spannend sind. Sie wussten ja schon, wie das ist mit „Dann<br />

wird das <strong>Kind</strong> gehen lernen“ und „Wo wird es überall dagegen stoßen?“, „Welche<br />

Gefahren gibt es überhaupt?“<br />

Diese haben dann erst gefragt: „Wie ist das denn eigentlich mit der Geschwistereifersucht?“<br />

Da haben sich dann die, die noch aufs erste <strong>Kind</strong> gewartet haben, gelangweilt<br />

zurückgelehnt und sich offensichtlich gedacht: „Bis das bei uns soweit ist, da<br />

haben wir ja noch ewig Zeit!“<br />

Ich will d<strong>am</strong>it nur verdeutlichen, dass Elternbildung zielgruppenorientiert sein muss.<br />

Wir müssen uns in der Vorbereitung einiges überlegen. Wir müssen uns darauf vorbereiten,<br />

auch über die unangenehmen Themen zu reden. Wir müssen uns überlegen, was<br />

wir uns trauen und was die Zuhörer aushalten.<br />

Das mit der Geschwistereifersucht ist ja so populär, dass die Laien mehr darüber wissen<br />

als die Fachleute. Diesen Teil habe ich genossen. Das war wirklich spannend, weil da<br />

hat jeder so seine eigenen Erfahrungen eingebracht.


Elternbildung in Stadt und Land<br />

Sie werden sich jetzt wieder fragen: „Was hat das mit Stadt-Land zu tun?“<br />

Ich habe Elternbildungsveranstaltungen in einem kleinstädtischen Kurort in der<br />

Thermenregion südlich von Wien, aber auch im hügeligen karstigen Land an der nördlichen<br />

Grenze von Niederösterreich gehalten.<br />

Wissen Sie, was da immer die allererste Frage an mich war? „Haben Sie selber <strong>Kind</strong>er?“<br />

Der Kompetenznachweis war (und ist) gefragt – biologisch und erzieherisch. Diese<br />

Frage wurde mir übrigens <strong>am</strong> Land – vor allem im nördlichen Waldviertel – sehr oft gestellt.<br />

Ich habe mit den Elternbildungsveranstaltungen als <strong>Kind</strong>er- und Jugendpsychologe, der<br />

ich bin, zu einer Zeit angefangen, in der ich diesen geforderten biologischen Nachweis<br />

noch nicht erbringen konnte. Aber ich habe das als Auftrag aufgefasst und habe mittlerweile<br />

zwei gar nicht mehr so junge <strong>Kind</strong>er.<br />

Und erst als die beiden herangewachsen sind, habe ich verstanden, warum mich die<br />

Eltern das d<strong>am</strong>als gefragt haben. Sie haben das nicht so formuliert, aber sie haben eigentlich<br />

herausfinden wollen, ob ich das alles ernst meine, was ich ihnen erzähle, und<br />

wie <strong>Kind</strong>er auf solche „psychologischen Tipps“ reagieren.<br />

Ich glaube, dass der Unterschied zwischen Stadt und Land in diesem Bereich nicht so<br />

groß ist, wie manche von Ihnen vermuten. Die Fragen und Sorgen der (werdenden)<br />

Eltern gleichen sich sehr stark.<br />

„Waffenlose“ Eltern<br />

Viele Eltern fragen sich: „Was mache ich denn, wenn mein <strong>Kind</strong> mir nicht folgt?“<br />

Da geht es nicht darum zu sagen „Das kann Ihnen nicht passieren, Sie als perfekter<br />

Elternteil werden das schon schaffen“, sondern sich d<strong>am</strong>it auseinander zu setzen.<br />

Es geht also um die grundsätzliche Hilflosigkeit der Anfrager.<br />

Es sind uns die „Waffen der Erziehung“, wie Rohrstaberln und ähnliches, ja aus der Hand<br />

genommen worden. Sie gelten als überholt – allerdings weniger wegen der Vernunft und<br />

Einsicht der Eltern. Vielmehr sind sie wie das über Generation praktizierte „Scheitelknien“<br />

nur durch den technischen Fortschritt aus der Mode gekommen. Wer heizt heute noch<br />

mit Holzscheiteln? Auf der Zentralheizung knien ist, na ja, schwieriger.<br />

Aber denken Sie auch an andere Erziehungsmethoden: Früher hat es wirklich geheißen:<br />

„Schlimme <strong>Kind</strong>er in den Keller!“. Sie wurde also an einen Ort verbannt, wo noch dazu<br />

vorher jahrelang darauf hingewiesen wurde, dass genau dort der „schwarze Mann“<br />

haust. Der Keller war ja nicht nur Lebensmittelvorratsk<strong>am</strong>mer, oft auch Aufbewahrungsort<br />

für Alkohol. So gesehen war es für manche in der F<strong>am</strong>ilie dann vielleicht sogar<br />

angenehm, in den Keller zu gehen, aber sicher nicht für die <strong>Kind</strong>er!<br />

Was ich zeigen möchte, ist diese Hilflosigkeit der Eltern mit dem Gefühl: „Das <strong>Kind</strong> stellt<br />

mich bloß, und ich weiß einfach nicht, was ich dagegen tun soll.“<br />

Eltern verlieren nicht gerne das Gesicht<br />

Eltern, die quasi in Not geraten sind, reagieren eben oft mit psychischer <strong>Gewalt</strong>.<br />

Nehmen Sie das Beispiel von der Supermarktkassa, wenn ein <strong>Kind</strong> etwas von den<br />

Lockangeboten haben möchte: im Blick der Öffentlichkeit, im Blick der F<strong>am</strong>ilie, im Blick<br />

der Partnerin, der Schwiegermutter, der anderen <strong>Kind</strong>er – wenn ich dem einen das durchgehen<br />

lasse, was machen dann die anderen mit mir?<br />

Wie oft reagieren hier Eltern auf quengelnde oder fordernde <strong>Kind</strong>er mit übermäßiger psychischer<br />

<strong>Gewalt</strong> bis zu der Androhung: „Wenn du nicht gleich Ruhe gibst, aufhörst usw.,<br />

dann gehe ich ohne dich nach Hause!“<br />

Eltern, die in Not geraten<br />

sind, reagieren<br />

oft mit psychischer<br />

<strong>Gewalt</strong><br />

33


„Wir haben es nicht<br />

leicht gehabt, und<br />

darum sollen die<br />

Jungen erst einmal<br />

zeigen, ob sie unserer<br />

Nachfolge würdig<br />

und wert sind.“<br />

Sinnvolle Angebote<br />

müssen die<br />

Besonderheiten von<br />

Stadt und Land,<br />

wie z.B. regionale<br />

Erreichbarkeit,<br />

berücksichtigen.<br />

34<br />

Bei diesem Szenario fühlen sich sicher auch die hauptberuflichen Pädagogen angesprochen,<br />

die sich statt dem Supermarkt eine Gruppensituation vorstellen im<br />

<strong>Kind</strong>ergarten, in der Schule, bei Nachmittagsbetreuungsformen.<br />

Das <strong>Kind</strong> stellt mich bloß!<br />

Vielen Eltern ist, als sie selbst noch <strong>Kind</strong>er waren, eingehämmert worden, dass sie nie<br />

respektlos mit den Eltern umgehen dürfen.<br />

Dahinter verbarg sich ein Versprechen, nämlich: „Wenn ihr euch als <strong>Kind</strong>er euren Eltern<br />

unterworfen habt, dann wird euch das dadurch vergolten, dass ihr dann, wenn ihr endlich<br />

selber Eltern seid, genauso mit euren <strong>Kind</strong>ern umgehen könnt.“<br />

Dieses Versprechen kann jedoch heute – ich sage Gott-sei-Dank – nicht mehr zwangsläufig<br />

eingelöst werden.<br />

Aber machen wir uns bitte in einem Fachleutegremium nicht vor, dass sich dieser<br />

Gesinnungswandel schon überall durchgesetzt hat. In vielen sitzt tief innerlich noch die<br />

Hoffnung, dass das Versprechen von anno dazumal doch noch eingelöst wird, und so<br />

wird es de facto von den <strong>Kind</strong>ern eingefordert.<br />

Ich habe – basierend auf den zahlreichen Gesprächen und Erfahrungen in meiner Arbeit<br />

– so den Eindruck und Verdacht, dass es in der öffentlichen Meinung und in der veröffentlichten<br />

Meinung eine Art unausgesprochenen Konsens unter den Erwachsenen gibt,<br />

der in etwa so lauten könnte: „Ja, ja, besser gehen soll es den Jungen schon als uns.<br />

Aber wir haben es nicht leicht gehabt, und darum sollen die Jungen erst einmal zeigen,<br />

ob sie unserer Nachfolge würdig und wert sind.“<br />

Aber wie soll man denn diesen Respekt bekommen, wenn nicht mit den überkommenen<br />

erprobten Mitteln?<br />

Notwendige Unterschiede des Angebots in Stadt und Land<br />

Wir können viel über Prophylaxe reden, aber es geht auch um „Reparaturen“.<br />

Wir benötigen also eine notwendige Dichte von qualifizierten Hilfsangeboten, die den regionalen<br />

Gegebenheiten adäquat gestaltet sind.<br />

Sie werden verstehen, dass sich die Situation ändert, je nachdem, ob ich eine zentrale<br />

Stelle in einem Ballungsraum habe oder ob ich eine Fläche versorgen muss.<br />

Im städtischen Bereich mag es sinnvoll sein, wenn mehrere spezialisierte und trotzdem<br />

leicht erreichbare Angebote parallel und auch an verschiedenen Adressen zur Verfügung<br />

stehen. Hier ist es sinnvoll, Öffnungszeiten bis in den Abend hineinzuziehen oder die<br />

Frequenzen bei den Beratungs- und Behandlungsformen so zu setzen, dass die Klienten<br />

möglichst häufig wiederkommen. Das Stichwort heißt hier: Straßenbahn.<br />

Wenn die Erreichbarkeit innerhalb von einer Viertel- oder halben Stunde liegt –<br />

Straßenbahn im Großraum ist ein Beispiel, dichte Frequenz, dichtes Netz – dann kann<br />

man so etwas anbieten.<br />

Am Land schaut es anders aus. Da ist eine große Fläche zu versorgen, und ich meine<br />

jetzt wirklich Fläche. Das hat nichts mit Steilheit des Geländes, mit Schneekettenpflicht<br />

und dergleichen zu tun, aber Anreisezeiten und Kosten für das Transportmittel kosten<br />

eben Geld. Es hat noch nicht jeder ein Auto, und die Buslinie hält nicht vor der Türe.<br />

Mir hat eine Waldviertler Bäuerin einmal gesagt: „Das ist sehr gut, was Sie da vorschlagen,<br />

und wir hören eh zu. Ja, aber da muss ich mir jedes Mal ein Auto aufnehmen für<br />

jede Fahrt“, und dann relativieren sich bestimmte Angebotsformen durch Nichterreichbarkeit.<br />

Da wird es eher multifunktionale Angebote geben müssen im Vorfeld, also Stellen, die<br />

für sehr viele Erstanfragen kompetent sind, aber dann auch in der Lage sind, eine qualifizierte<br />

Weiterverweisung von den komplexen und hochkomplizierten Fällen zu leisten.<br />

Klienten mit an sich schon strapazierter Motivation nehmen nämlich nicht viele „Anläufe“.<br />

Wenn sie sich beim ersten Mal fehlgeleitet fühlen, geben sie einfach auf.


Sie sagen: „Hilft eh nix“. Und wir dürfen dann nicht überrascht sein, wenn sich in dieser<br />

F<strong>am</strong>ilie eine Dr<strong>am</strong>atik entwickelt, wo wir dann überhaupt nicht mehr helfen können – weder<br />

mit Angeboten vor Ort noch mit spezialisierten Angeboten, weil der Kontakt nicht<br />

mehr hergestellt werden kann.<br />

Flächendeckung versus Mindeststandard<br />

Ich bin in dieser Situation in Niederösterreich für die sozialen Dienste freier Träger in der<br />

Jugendwohlfahrt zuständig.<br />

Da gibt es das mehr oder weniger schöne Wort von „flächendeckenden Angeboten“. Das<br />

ist ein Wort, das mich sehr beunruhigt, weil wenn irgendein neues Angebot kommt, sagen<br />

wir mal Mediation, sagen wir einmal Scheidungsberatung, sagen wir einmal<br />

Besuchsbegleitungsformen, kommt es zum gleiche Ablauf:<br />

Es geht dann nicht um die Einrichtung des Angebots an einer Zentralstelle, sondern wir<br />

haben 21 Bezirke und 4 Städte mit eigenen Jugendabteilungen, also mindestens 25<br />

Stellen (die übrigens alle nicht mit der Straßenbahn erreichbar sind). Das Installieren<br />

(etwa durch freie Träger), aber auch die notwendige finanzielle Bedeckung dauert dann<br />

relativ lange und blockiert möglicherweise andere, ebenfalls notwendige neue Angebote.<br />

Das, was wir in diesem Zus<strong>am</strong>menhang versuchen, ist – ganz neu seit 2000 – eine groß<br />

angelegte Jugendwohlfahrtsplanung, die den Mindeststandard an Versorgung gewährleisten<br />

soll. Es wird also für Niederösterreich vorgegeben werden, was an Versorgungsangebot<br />

<strong>am</strong> psychosozialen Sektor vorhanden sein muss. „Muss“ im Sinne von „darauf<br />

sollen sich die Klienten verlassen können“.<br />

Was wir dadurch erreichen wollen ist, dass die <strong>Kind</strong>er, die im Sinne des Referattitels<br />

„schreien“, aber auch Rat suchende Erwachsene, die wissen wollen, wohin sie sich wenden<br />

sollen, auch wirklich eine qualifizierte, erreichbare Beratungs- oder Hilfestellungsmöglichkeit<br />

vorfinden.<br />

Dann braucht es eigentlich nur mehr Ohren – Ohren allerdings mit Menschen dran –<br />

Ohren, die hören.<br />

35


Da das Erlebte von<br />

den Betroffenen sehr<br />

unterschiedlich empfunden<br />

und beurteilt<br />

werden kann, müssen<br />

wir uns mit der<br />

„Diagnose psychische<br />

<strong>Gewalt</strong>“ nach<br />

dem subjektiven<br />

Befinden der betroffenen<br />

Person richten.<br />

36<br />

„Der Vater hat’s verboten“<br />

„Ohnmacht der Helfer“<br />

Referent: Dr. Stefan Allgäuer<br />

Ich bin selber ein „Helfer“.<br />

Ich bin Psychologe und Therapeut. Jetzt arbeite ich als Geschäftsführer im Management<br />

und in der Organisation von sozialen Diensten.<br />

Meine Perspektive zum Thema „<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong>“ ist diejenige aus Sicht der<br />

Helfer, der Helfersysteme und der Intervention der Helfer. Deshalb habe ich den Untertitel<br />

„Ohnmacht der Helfer“ gewählt.<br />

Ich habe mir die Frage gestellt: Worauf kommt es an, dass wir in einer Situation gut und<br />

effektiv reagieren können? Was bräuchte es, d<strong>am</strong>it wir noch besser reagieren könnten?<br />

Beim Beschäftigen mit dem Thema „psychische <strong>Gewalt</strong>“ ist mir etwas immer deutlicher<br />

geworden: Entweder lernen wir, d<strong>am</strong>it zu arbeiten, dass (fast) alles, womit wir uns in der<br />

JWF (Jugendwohlfahrt) zu beschäftigen haben, auch psychische <strong>Gewalt</strong> beinhaltet.<br />

Oder aber wir versuchen, psychische <strong>Gewalt</strong> auf ein klares, diagnostizierbares Symptom<br />

zu beschränken, das beschreibbar/abgrenzbar/identifizierbar ist und von dem dann auch<br />

entsprechende Handlungsstrategien ableitbar sind.<br />

Ich habe versucht, diesen Bogen zu spannen; im Wissen, dass natürlich in vielen<br />

Alltagssituationen und in fast allen krisen- und konflikthaften pädagogischen Situationen<br />

psychische Wirkungen zu beobachten sind, die – subjektiv – als <strong>Gewalt</strong> des jeweils anderen<br />

erlebt werden.<br />

Ich habe meine Überlegungen in Thesen gefasst – es sind deren sieben –, mit der<br />

Hoffnung und Aufforderung, diese und mit diesen das Thema weiter zu diskutieren.<br />

Ich habe diesen Thesen vier – zus<strong>am</strong>menfassende – Aussagen zum Verständnis von<br />

psychischer <strong>Gewalt</strong> vorangestellt. Sie dienen der Eingrenzung des Themas. Die sieben<br />

Thesen skizzieren dann Konsequenzen für die Helfer.<br />

Und hier sei gleich angemerkt: Unter Helfer verstehe ich in diesem Fall alle, also auch<br />

die Eltern und alle anderen an der Erziehung, an der Begleitung eines <strong>Kind</strong>es oder<br />

Jugendlichen Beteiligten.<br />

1) <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist subjektiv zu verstehen und zu betrachten.<br />

Das subjektive Erleben des <strong>Kind</strong>es, sein emotionales, existenzielles<br />

Empfinden steht im Vordergrund.<br />

Wenn wir uns mit dem Thema psychische <strong>Gewalt</strong> auseinandersetzen, muss uns klar<br />

sein, dass hierbei das subjektive Empfinden des <strong>Kind</strong>es/des Jugendlichen im<br />

Vordergrund stehen muss.<br />

Nicht wir sind diejenigen, die quasi die Diagnose stellen und sagen, das ist psychische<br />

<strong>Gewalt</strong>. Da das Erlebte von den Betroffenen sehr unterschiedlich empfunden und beurteilt<br />

wird, müssen wir uns danach richten.<br />

Wir müssen die jeweilige Situation in ihrer Wirkung auf <strong>Kind</strong>er betrachten (durchaus im<br />

Gegensatz zur körperlichen <strong>Gewalt</strong>, sexuellen <strong>Gewalt</strong>, wo der Maßstab eindeutig ist und<br />

es eine beschreibbare, messbare Grenze gibt).<br />

Verschiedene <strong>Kind</strong>er werden ein und dieselbe Situation unterschiedlich empfinden und<br />

bewerten. Und ein und dieselbe Situation kann sogar bei ein und demselben <strong>Kind</strong> in unterschiedlichen<br />

Momenten völlig unterschiedlich wirken.<br />

In Ergänzung zu dem, was wir im Umgang mit körperlicher und sexualisierter <strong>Gewalt</strong> gelernt<br />

haben, ist offensichtlich:


l Nicht allein der strafrechtlich relevante Tatbestand steht im Vordergrund.<br />

l Nicht die Intention des „Täters“ ist das Primäre,<br />

l sondern eben die erlebte subjektive Welt des <strong>Kind</strong>es.<br />

2) <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> muss in ihrem Kontext gesehen und<br />

verstanden werden.<br />

Subjektivität hat zur Konsequenz, dass wir jede Situation differenziert betrachten<br />

müssen.<br />

Aussagen wie: „<strong>Gewalt</strong> gehört gestoppt“, „<strong>Kind</strong>er sind zu schützen“, „<strong>Gewalt</strong> gehört geahndet“,<br />

und Arbeitsaufträge wie Meldepflicht, Beweissicherung usw. – all das ist möglicherweise<br />

nicht das genügend geeignete Konzept zum Umgang mit psychischer<br />

<strong>Gewalt</strong>, vor allem dann, wenn wir im Kontinuum weg von den eindeutigen, massiven und<br />

existenzbedrohenden <strong>Gewalt</strong>-Erfahrungen kommen.<br />

3) <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> entsteht und besteht dort, wo <strong>Kind</strong>er und<br />

Jugendliche einer Dyn<strong>am</strong>ik von „zu viel“ oder „zu wenig“<br />

ausgesetzt sind und die existenziellen Bedürfnisse der <strong>Kind</strong>er<br />

keinen Platz haben.<br />

Ursachen von psychischer <strong>Gewalt</strong> sind auf den Polen von „zu wenig und/oder zu viel“<br />

zu finden. Im folgenden Diagr<strong>am</strong>m sind beispielhaft einige Bereiche dieser Polarität<br />

angeführt.<br />

Zu viel zu wenig<br />

Nähe<br />

Distanz<br />

Emotion<br />

Forderung<br />

Schutz und Sicherheit<br />

(neue) Erfahrungen/Reize<br />

Annahme<br />

etc.<br />

Eine Dyn<strong>am</strong>ik des Eine Dyn<strong>am</strong>ik des<br />

„Zuviel“ braucht: „Zuwenig“ braucht:<br />

Entlastung Förderung<br />

Wurzeln Reifung<br />

Schutz Wachstum<br />

etc. etc.<br />

4) <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> manifestiert sich dort, wo <strong>Kind</strong>er bei für sie<br />

schwierigen Erfahrungen/Erlebnissen keine Sprache bzw. keine<br />

Ausdrucksform finden können oder dürfen.<br />

Wenn <strong>Kind</strong>er etwas erleben, für das sie keine Sprache, keine Ausdrucksform finden (dürfen<br />

oder können), wenn sie so also quasi ein Opfer der Situation werden, dann – würde<br />

ich sagen – ist psychische <strong>Gewalt</strong> vorhanden.<br />

Um ein Beispiel zu bringen: Wenn Eltern ihrem <strong>Kind</strong> eine „heile Welt“ vorspielen, das <strong>Kind</strong><br />

aber ganz genau spürt, dass es zwischen seinen Eltern „nicht mehr stimmt“, dann ist das<br />

psychische <strong>Gewalt</strong>.<br />

37


Phänomen der Spiegelung<br />

und Übertragung:<br />

Könnte es<br />

sein, dass sich die<br />

Sprachlosigkeit als<br />

Phänomen der psychischen<br />

<strong>Gewalt</strong><br />

auch bei uns auf der<br />

Helferebene fortsetzt?<br />

Etwa dadurch,<br />

dass psychische<br />

<strong>Gewalt</strong> bisher zu wenig<br />

Thema war?<br />

38<br />

Wie Sie alle wissen, neigen <strong>Kind</strong>er hier zu Ambivalenzen. Sie neigen dazu,<br />

Widersprüchliches in ihrer Umwelt so zu interpretieren, dass sie sich selbst die „Schuld“<br />

dafür geben. So halten sie sich auch dafür verantwortlich, wenn die Eltern trotz<br />

Schwierigkeiten beis<strong>am</strong>men bleiben.<br />

Soweit zu vier Aspekten der psychischen <strong>Gewalt</strong>.<br />

In den folgenden sieben Thesen möchte ich dieses Verständnis von psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

nun auf die Situation der Helfer und der möglichen Hilfestellungen umsetzen.<br />

Anna, 10 Jahre alt, hört böse Stimmen im Kopf. Diese Stimmen, eine männliche und<br />

eine weibliche, tyrannisieren sie aufs Äußerste. Beim Zeichnen spricht Anna von „Gift“<br />

in ihr drin.<br />

Die Stimmen und Schreie in ihrem Kopf symbolisieren die verinnerlichten<br />

Spannungszustände in der F<strong>am</strong>ilie. Die Eltern konstruieren eine doppelte Wirklichkeit:<br />

Auf der einen Seite herrschen eisiges Schweigen und f<strong>am</strong>iliärer Stillstand, kalter Krieg.<br />

Es regiert eine herbe Verbitterung über alle möglichen Enttäuschungen, über die aber<br />

nicht gesprochen wird.<br />

Auf der anderen Seite entladen sich diese Spannungen in kurzen, heftigen Ausbrüchen.<br />

Es kommt – in Abwesenheit von Anna – zu Schreiduellen, Vorwürfen und gegenseitigen<br />

Abwertungen.<br />

Die Eltern sind sehr bemüht, nicht vor Anna zu streiten. In bester pädagogischer Absicht<br />

geht es ihnen darum, ihre Tochter aus allem herauszuhalten. Sie haben vereinbart, vor<br />

Anna gute Eltern zu sein und Frieden zu bewahren. Die Ereignisse eskalieren. Herr N.<br />

schlägt seine Frau, Anna bekommt das nicht mit, sie schläft. Anna sieht aber <strong>am</strong> nächsten<br />

Morgen eine durch und durch geknickte Mutter, die „irgendwie anders ist als sonst“.<br />

Sie traut sich nicht zu fragen, sie versteht die Welt nicht mehr.<br />

Färbt die Sprachlosigkeit auf die Helfer ab?<br />

In der Dyn<strong>am</strong>ik der Helferstrukturen kann man folgendes Phänomen beobachten: Oft<br />

wiederholen sich die Symptome der Klienten und Patienten in den Helfersystemen.<br />

Sie kennen das vielleicht aus der Supervision: Da entdeckt man gelegentlich, dass man<br />

die Symptomatik und Dyn<strong>am</strong>ik der Klienten in die eigene Arbeit oder ins eigene Te<strong>am</strong><br />

übernommen hat. Es passiert also immer wieder, dass man das System, mit dem man<br />

arbeitet, widerspiegelt.<br />

So möchte ich folgende erste These formulieren.<br />

These I<br />

Sprachlosigkeit als Phänomen psychischer <strong>Gewalt</strong> setzt sich auch auf der<br />

Helferebene fort. Das (unbewusste) Credo scheint zu sein: „<strong>Psychische</strong><br />

<strong>Gewalt</strong> ist kein Thema.“ Es ist ja auch leichter, andere Diagnosen bzw.<br />

Symptome zu beschreiben, zu behandeln.<br />

Es fällt uns leichter, von „sichtbaren“ Symptomen wie Bettnässen, Aggressivität,<br />

Verwahrlosung usw. zu reden als von diesen schwer sichtbaren und abgrenzbaren<br />

Phänomenen.<br />

Man könnte diese Tatsache aber auch von einer anderen Seite betrachten: Könnte es<br />

sein, dass sich das Symptom der „psychischen <strong>Gewalt</strong>“ auch in unseren Arbeitssystemen,<br />

in der Art und Weise, wie wir zus<strong>am</strong>men arbeiten, wiederholt?<br />

Manchmal bekommt man fast diesen Eindruck, wenn man die Selbstzerfleischung<br />

innerhalb von Te<strong>am</strong>s, die Überarbeitung oder auch die klassisch hierarchischen<br />

Organisationskonzepte betrachtet, welche – als subjektive Tatsache – die Erfahrung von<br />

<strong>Gewalt</strong> mit verursachen könnten.


Das Hinschauen, wie etwas auf uns abfärbt und was es bei uns Helfern auslöst, wenn<br />

wir uns mit dem Thema psychische <strong>Gewalt</strong> beschäftigen, könnte ein ganz wichtiger<br />

Hinweis zum Verständnis eben dieses Bereichs psychischer <strong>Gewalt</strong> für unsere<br />

Hilfsangebote sein.<br />

Erklärungskontexte suchen und anbieten<br />

Wenn <strong>Kind</strong>er zu verstehen beginnen, „was läuft“, dann können sie mit der Situation besser<br />

umgehen. Wie schon vorher erwähnt, neigen <strong>Kind</strong>er dazu, immer dann, wenn sie<br />

nicht wissen, „was los ist“, es auf sich zu beziehen und zu sagen „Ich selber bin nicht o.k.<br />

Bei mir ist was los. Wenn ich nur anders wäre, dann ginge es meinen Eltern besser, dann<br />

würden sie sich mehr lieben, würden mich mehr lieben usw.“<br />

Primäre Aufgabe von Eltern und Helfer/-innen im Kontext psychischer <strong>Gewalt</strong> ist es, dem<br />

betroffenen <strong>Kind</strong>/Jugendlichen in seiner Situation behilflich zu sein, sein Erleben zuzulassen,<br />

ihm Ausdruck zu geben und sein Erleben zur Sprache zu bringen.<br />

Nicht der Schutz vor, nicht das Ahnden von, nicht die Wertung (richtig/falsch) usw. ist<br />

primäres Ziel, sondern die Hilfestellung, Sprache zu finden und das <strong>Kind</strong> als Subjekt zu<br />

stärken.<br />

Das können Eltern und Bezugspersonen vielfach und idealerweise selbst tun (etwa wenn<br />

sie ganz unbewusst im Alltag eine Deutung anbieten, die für das <strong>Kind</strong>/die Situation<br />

stimmt).<br />

Dazu bedarf es zuweilen der behuts<strong>am</strong>en Information, Beratung und Begleitung von<br />

Eltern, d<strong>am</strong>it diese lernen, nicht nur ihre Erwartungen und Aufträge an die <strong>Kind</strong>er zu formulieren,<br />

sondern auch einen entsprechenden Kontext der Erklärung dafür anzubieten.<br />

Das ist – immer noch – ein großes Feld für die Elternbildung. Je mehr im Gespräch in<br />

F<strong>am</strong>ilien versucht wird, einen Erklärungskontext herzustellen, umso weniger psychische<br />

<strong>Gewalt</strong> wird ausgeübt.<br />

Eine gute Auflösung solcher Situationen ist immer noch die „gute alte Gordonsche Ich-<br />

Botschaft“ (vgl. dazu Thomas Gordon: „F<strong>am</strong>ilienkonferenz“).<br />

Dazu bedarf es in manchen Fällen auch der psychologischen und/oder kinderpsychiatrischen<br />

Abklärung und Behandlung, nämlich überall dort, wo die Sprachlosigkeit sich<br />

schon in Symptomen verfestigt hat oder sich zu verfestigen droht.<br />

Eltern sollten dort miteinbezogen werden, wo dies möglich ist, z.B. in Settings wie dem<br />

der F<strong>am</strong>ilientherapie.<br />

These II<br />

Primäre Hilfe für <strong>Kind</strong>er und Jugendliche – „Erste Hilfe“ aus dem Blickwinkel<br />

der psychischen <strong>Gewalt</strong> – ist es, einen Erklärungskontext herzustellen.<br />

Ein kleines Beispiel hiefür:<br />

Der Vater geht mit seinem <strong>Kind</strong> immer wieder in der Stadt spazieren. Und da kommen<br />

sie auf ihrem Weg regelmäßig bei einem Nachtklub vorbei. Der vierjährige Bub sieht die<br />

roten L<strong>am</strong>pen. Der Vater erklärt das mit „das ist ein Geschäft“, oder „das ist ein Gasthaus“<br />

– nichts weiter.<br />

Das <strong>Kind</strong> ist mit dieser Erklärung zufrieden.<br />

Das <strong>Kind</strong> wird sieben, beginnt zu lesen und fragt den Vater „Du Papa, was ist das, ein<br />

Nachtklub?“ Der Vater antwortet dem <strong>Kind</strong>: „Das ist nix für dich.“<br />

Noch gibt sich das <strong>Kind</strong> mit dieser Interpretation zufrieden.<br />

Zwei Jahre später fragt das <strong>Kind</strong> immer wieder und wieder, und dann sagt der Vater „Du,<br />

da darfst aber wirklich nie hineingehen, da siehst du Dinge, die du besser nicht sehen<br />

sollst.“<br />

39


Wir müssen lernen,<br />

zielgerichtete<br />

Öffentlichkeitsarbeit<br />

und Bewusstseinsbildung<br />

über Medien<br />

zu leisten.<br />

40<br />

Der Neunjährige ist nicht zufrieden mit der Interpretation, fragt dann noch etwas weiter,<br />

bekommt vom Vater aber keine angemessene Erklärung.<br />

Eines Tages, als die Gelegenheit günstig ist, schummelt er sich in den Nachtklub. Am<br />

nächsten Tag erzählt er seinen Freunden davon, und die fragen ganz aufgeregt: „Und<br />

hast du gesehen, was du nicht sehen solltest?“ Er antwortete „Ja. Ich habe meinen Vater<br />

gesehen.“<br />

Wir können unseren <strong>Kind</strong>ern keine heile Welt vormachen, wir können ihnen aber helfen,<br />

solange sie es annehmen von uns. Wir können ihnen einen entsprechenden<br />

Erklärungskontext anzubieten, der ihnen hilft, Situationen nicht als psychische <strong>Gewalt</strong>,<br />

sondern als Realität, als Konflikt, als Schwierigkeit, als mehr oder weniger gut zu sehen<br />

und dann ein Stück weiter zu verarbeiten.<br />

Nicht nur „gegen <strong>Gewalt</strong>“, sondern für starke <strong>Kind</strong>er<br />

Die Ohnmacht der Helfer/innen – nicht wir können entscheiden, was ein hilfreicher<br />

Erklärungskontext ist – kann nicht über mehr Macht (z.B. Ordnungsmacht, Bestrafung,<br />

Verfolgung der Täter usw.) erfolgen, sondern nur darüber, dem <strong>Kind</strong> mehr Macht<br />

(zur Interpretation, zur Subjektivität, zum Ausdruck) zu vermitteln. Das Ziel ist das<br />

Empowerment der <strong>Kind</strong>er.<br />

In diesem Sinne sind alle jene Ansätze sehr wichtig, die präventiv schon dort beginnen,<br />

bevor <strong>Gewalt</strong>situationen entstehen.<br />

Das beste Mittel gegen psychische <strong>Gewalt</strong> sind starke gesunde <strong>Kind</strong>er und starke gesunde<br />

Eltern.<br />

Die Maßnahmen der Gesundheitsförderung und der Öffentlichkeitsarbeit in diesem<br />

Bereich sind hier anzusetzen und gefragt. Wir haben bei uns in Vorarlberg seit drei<br />

Jahren eine sehr intensive K<strong>am</strong>pagne zum Thema „<strong>Kind</strong>er stark machen“ laufen, mit sehr<br />

viel medialer Präsenz und mit sehr viel Aktivität und Aktionen.<br />

Ich glaube, wir im psychosozialen Feld müssen noch lernen, dass die Bewusstseinsbildung<br />

auch über mediale Formen von enormer Bedeutung ist. Wir sollten die<br />

Medien nicht nur verteufeln, sondern uns ihrer auch bedienen.<br />

Ziel ist es, Vertrauen aufzubauen und zu stärken. Wie ist das bei uns Helfern, wenn<br />

<strong>Kind</strong>er NEIN sagen usw. und ihre Stärke zeigen?<br />

These III<br />

Das beste Mittel gegen psychische <strong>Gewalt</strong> sind starke <strong>Kind</strong>er. Gesundheitsförderungsprogr<strong>am</strong>me<br />

sind angesagt.<br />

Schließlich stellt sich auch die Frage, auf welche Welt wir, die Pädagogen usw., unsere<br />

<strong>Kind</strong>er vorbereiten: auf eine idealisierte, gewaltfreie Welt (wie wir sie uns alle wünschen)?<br />

Dann sagen wir aber gleichzeitig: <strong>Gewalt</strong> ist ein Betriebsunfall.<br />

Oder bereiten wir sie auf eine Welt vor, in der <strong>Gewalt</strong> ein Teil der Realität ist genau so,<br />

wie das Sich-Wehren.<br />

Niederschwellige Soziale Dienste als Anlaufstellen<br />

Wo psychische <strong>Gewalt</strong> als solche gesehen und verstanden wird und bereits gehandelt<br />

wird, hat der Verarbeitungsprozess schon begonnen.<br />

Wo versucht wird, psychische <strong>Gewalt</strong> subjektiv zu verarbeiten (in der Projektion auf sich<br />

selbst), wo Symptome sich verhärten – dort sollten die Angebote der Jugendwohlfahrt<br />

verstärkt einsetzen.<br />

Das bedeutet: Die im JWG (Jugendwohlfahrtsgesetz) vorgesehenen Sozialen Dienste<br />

möglichst niederschwellig anlegen, die Akzeptanz steigern und den Zugang erleichtern.


Ganz entgegen den Bestrebungen heute: Sparen durch Erschweren der Zugänge und<br />

Erhöhung der Schwellen.<br />

In Vorarlberg versuchen wir durch das Angebot privater Träger (höhere Akzeptanz bei<br />

persönlichen Problemen), durch eine dezentrale, regionale Streuung, durch kurze Wege<br />

und niedere Schwellen (in öffentlich zugänglichen Gebäuden) usw. diesen Weg zu schaffen.<br />

Ein wichtiger Punkt ist hier auch PR und Werbung!<br />

Diese Angebote an Hilfen müssen auch für Eltern/Erwachsene zugänglich sein.<br />

These IV<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> erfordert präventive, niederschwellige soziale Dienste mit<br />

hoher Akzeptanz.<br />

Es gehört zu meiner Arbeit als Geschäftsführer, unseren Geldgebern jedes Jahr genau<br />

auseinander zu setzen, was das, was wir machen, kostet.<br />

Das Institut für Sozialdienste ist eine private soziale Organisation, die in sehr vielen<br />

unterschiedlichen Bereichen tätig ist.<br />

Wenn ich mit einem potenziellen Sponsor spreche, da schildere ich immer die drastischen<br />

Situationen, erzähle von den schlimmsten Dingen und massivsten Problemen.<br />

Und ich merke, wie schwer es mir fällt, zu erklären, wie wichtig es ist, auch soziale<br />

Dienste für <strong>Kind</strong>er und Jugendliche anzubieten, die vielleicht noch gar kein massives,<br />

kein sichtbares ausgeprägtes Problem haben.<br />

Aber es braucht eine präventive, niederschwelllige, soziale Angebotspalette mit hoher<br />

Akzeptanz.<br />

Das „niederschwellig“ geht in Richtung Stadt-Land, in Richtung gute Erreichbarkeit,<br />

Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel, in Richtung Kunden- und Klientenfreundlichkeit<br />

und all dessen, was es in diesem Bereich gibt.<br />

Wir haben pro Jahr allein im Institut für Sozialdienste etwa 18.000 Klientinnen und<br />

Klienten. Das ist mehr als 5 Prozent der Bevölkerung von Vorarlberg.<br />

Davon sind etwas mehr als die Hälfte direkte Beziehungs-, F<strong>am</strong>ilienerziehungsprobleme<br />

und alles, was hier dazugehört.<br />

Man könnte sagen, dass es ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft ist, dass so viele<br />

Menschen unser Angebot in Anspruch nehmen müssen.<br />

Man könnte aber auch sagen, es ist ein Kompliment, dass so viele Menschen hier leben,<br />

denen ihre Beziehungen zu ihren <strong>Kind</strong>ern, ihren F<strong>am</strong>ilien so wichtig sind, dass sie unsere<br />

Hilfe zu einem Zeitpunkt in Anspruch nehmen, wo noch nicht alles zus<strong>am</strong>mengebrochen<br />

ist, oder um Veränderungen und Übergänge nicht-destruktiv zu gestalten.<br />

Sensible Kooperation der Helfer<br />

These V<br />

Hilfe oder Handeln der Helfer muss, um nicht ebenfalls in den Kontext von<br />

psychischer <strong>Gewalt</strong> zu geraten, koordiniert und im Lebenskontext des <strong>Kind</strong>es<br />

kalkulierbar, verstehbar und kritisierbar sein.<br />

Wir müssen hier ganz sensibel vorgehen. Sie alle wissen, dass wir als Helfer nicht einfach<br />

irgendwelche Dinge inszenieren und dann sagen können „Ich weiß schon, was für<br />

dich gut ist“. Das muss koordiniert und dem Lebenskontext des <strong>Kind</strong> angepasst, verstehbar<br />

und gestaltbar sein. Und ein wichtiger Par<strong>am</strong>eter ist hier eben auch das Alter<br />

des <strong>Kind</strong>es.<br />

Ist es ein Armutszeugnis,<br />

dass so<br />

viele Menschen<br />

unsere Angebote in<br />

Anspruch nehmen?<br />

41


42<br />

Wenn die Helfer dasselbe tun, was z.B. im Elternsystem passiert, nämlich neben- oder<br />

gegeneinander zu agieren, dann passiert auf der nächsten Ebene dem <strong>Kind</strong> nochmals<br />

dasselbe.<br />

Etwa: Wenn jemand nach dem Prinzip „<strong>Gewalt</strong> gehört geahndet“ zu agieren beginnt, jemand<br />

anderer mit dem <strong>Kind</strong> zu arbeiten bzw. klären beginnt, was es erlebt und wieder<br />

jemand anderer den Eltern bestätigt, dass die erzieherische Klarheit (Wer ist auf der<br />

Elternebene? Wer bestimmt? usw.) für das <strong>Kind</strong> ganz wichtig ist. Das kann man ja alles<br />

nebeneinander haben, und noch viel mehr (Schlagwort: Die eine Hand weiß nicht, was<br />

die andere tut).<br />

Dazu wieder eine Geschichte.<br />

Hüte dich vor den Buben!<br />

Ein Vater wollte seine Tochter vor den Gefahren des Lebens bewahren. Als die Zeit gekommen<br />

war und seine Tochter zu einer wahren Schönheit erblüht war, nahm er sie zur<br />

Seite und klärte sie über die Gemeinheit und Hinterhältigkeit der Welt auf.<br />

Er sagte: „Liebe Tochter, denk an das, was ich dir sage. Alle Männer wollen nur das eine.<br />

Die Männer sind raffiniert und stellen Fallen, wo sie nur können. Du merkst gar nicht, wie<br />

du immer tiefer in den Sumpf ihrer Begierden versinkst. Ich will dir den Weg des Unglücks<br />

zeigen. Erst schwärmt der Mann von deinen Vorzügen und bewundert dich. Dann lädt er<br />

dich ein, um mit ihm auszugehen. Dann kommt ihr an seinem Haus vorbei, und er sagt<br />

dir, dass er nur schnell seinen Mantel holen wolle. Er fragt dich, ob du ihn nicht in seine<br />

Wohnung begleiten möchtest. Oben lädt er dich zum Sitzen ein, bietet dir Tee an, ihr hört<br />

gemeins<strong>am</strong> Musik, und wenn die Stunde dann gekommen ist, wirft er sich plötzlich auf<br />

dich. D<strong>am</strong>it bist du geschändet, wir sind geschändet, deine Mutter und ich, unsere<br />

F<strong>am</strong>ilie ist geschändet. Unser Ansehen ist dahin.“<br />

Die Tochter nahm sich die Worte des Vaters zu Herzen. Einige Zeit später k<strong>am</strong> sie stolz<br />

lächelnd auf ihren Vater zu und sagte „Vati, bist du ein Prophet? Woher hast du bloß gewusst,<br />

dass sich alles so abspielt? Es war genauso, wie du es beschrieben hast. Erst<br />

hat er meine Schönheit bewundert, dann hat mich eingeladen. Wie durch Zufall k<strong>am</strong>en<br />

wir bei seinem Haus vorbei und da merkte der Ärmste, dass er seinen Mantel vergessen<br />

hatte. Um mich nicht allein zu lassen, bat er mich, ihn in seine Wohnung zu begleiten.<br />

Wie es der Anstand befiehlt, machte er mir Tee, verschönte mir die Zeit mit herrlicher<br />

Musik.<br />

Nun dachte ich an deine Worte und ich wusste daher genau, was auf mich zukommen<br />

sollte. Aber du wirst sehen, ich bin würdig, deine Tochter zu sein. Als ich den Augenblick<br />

nahen fühlte, warf ich mich auf ihn und schändete ihn, seine Eltern, seine F<strong>am</strong>ilie, sein<br />

Ansehen und seinen Ruf.“<br />

Ich denke, was wir können, ist <strong>Kind</strong>ern/Jugendlichen einen Erklärungskontext anbieten.<br />

Wie sie ihn dann verwenden, liegt in ihrer Macht. Mehrere solcher Erklärungskontexte,<br />

vielleicht auch verschiedene, sind oft Realität. Sie sind dann gefährlich, wenn das <strong>Kind</strong><br />

diese nicht integrieren kann.<br />

Mehrperspektivität statt Reduktion<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> ist ein interdisziplinäres Phänomen – es kann nicht eindeutig einer<br />

Berufsgruppe zugeordnet werden. Sei es der/die Sozialarbeiter/in des Jugend<strong>am</strong>tes,<br />

der/die Psycholog/in, der/die Lehrer/in, der Arzt, die Ärztin, seien es die Eltern,<br />

Angehörige oder wer auch immer – jeder, der die Sprachlosigkeit sieht und/oder spürt,<br />

ist aufgerufen, im System des <strong>Kind</strong>es mitzuhelfen, die Erfahrungen zur Sprache zu bringen<br />

l durch Gespräche<br />

l durch kreative Medien


l durch pädagogische Situationen<br />

l durch Ermutigung zum Ausdruck und zum Fühlen<br />

l durch das Vor-Leben<br />

l usw.<br />

Erklärungen von psychischer <strong>Gewalt</strong> sind vielseitig und fordern interdisziplinäres<br />

Arbeiten. Nicht die Reduktion darauf, wem das Thema „gehört“, ist sinnvoll, sondern die<br />

Mehrperspektivität. Vernetztes Handeln ist hilfreich, gerade für die <strong>Kind</strong>er, die hier Hilfe<br />

brauchen.<br />

Wenn Sie sich vergegenwärtigen, wie viele unterschiedliche Akteure unter Umständen<br />

in einer einzigen Situation integriert sind und handeln (Hinweis: Siehe Referat Dr.<br />

Neumayer, S 82), einschreiten und helfen, dann ist das ganz typisch für das Thema.<br />

These VI<br />

(Er-)Klärungen von psychischer <strong>Gewalt</strong> sind vielseitig und legen interdisziplinäres<br />

Arbeiten nahe. Nicht Reduktion, sondern Mehrperspektivität<br />

ist hilfreich.<br />

Der Vater hat’s verboten<br />

... der Übertitel meines Referates entst<strong>am</strong>mt natürlich auch dem Struwwelpeter, und zwar<br />

aus der „gar traurigen Geschichte mit dem Feuerzug“. Ein <strong>Kind</strong> spielt mit dem Feuerzug<br />

und verbrennt dann. Am Anfang dieser Geschichte gibt es zwei Katzen. Und als die Eltern<br />

ausgegangen sind, „... heben die Katzen ihre Tatzen ...“ und sagen der daheim gebliebenen,<br />

zündelnden Tochter immer wieder: „Das darfst du nicht.“ Sie drohen mit den<br />

Pfoten, „der Vater hat’s verboten! Miau, Mio, Miau, Mio, lass stehn, sonst brennst du<br />

lichterloh“.<br />

Die zwei Katzen sind die Symbole für die Helfer/innen.<br />

Ich glaube, das ist gar kein so schlechtes Symbol. Wir können schnurren, wir können<br />

herumstreichen, wir können mit den Pfoten kratzen, wir können ihnen – unseren <strong>Kind</strong>ern<br />

– verschiedene Dinge raten, erlauben oder verbieten.<br />

Das <strong>Kind</strong> hier hat die Botschaft der Katzen nicht verstanden, hat einen anderen Weg eingeschlagen.<br />

Wir können – zumindest längerfristig gesehen – nicht mehr tun, als verschiedene Dinge<br />

anzubieten.<br />

Eben darum denke ich, dass die unterschiedlichen Zugänge und interdisziplinäre<br />

Ansätze sehr hilfreich sind, denn möglicherweise kommt ein Helfer/eine Helferin von einem<br />

anderen Feld besser an das <strong>Kind</strong> heran.<br />

Ein 10-jähriger Bub, dessen Eltern sich unter ganz dr<strong>am</strong>atischen Umständen scheiden<br />

ließen, hat in der Erziehungsberatung in der <strong>Kind</strong>ertherapie mit Puppen gespielt. Da lässt<br />

er die eine Puppe die andere fragen: „Du was ist denn das – Scheidung?“ Sagt die andere<br />

Puppe: „Scheidung, das ist wie der Untergang der Titanic. Die beiden brechen auseinander,<br />

nur dass sie nicht ertrinken.“<br />

Ich weiß nicht, ob es gescheit ist, dass 7-jährige <strong>Kind</strong>er den Film „Titanic“ sehen, aber<br />

wenn der Bub das verstanden hat und das Bild ihm eine Hilfe gibt, dann war es trotzdem<br />

sinnvoll.<br />

Und es war eine Erklärung, auf die ich nie gekommen wäre.<br />

Interdisziplinäre<br />

Ansätze, unterschiedliche<br />

Zugänge<br />

und die Kooperation<br />

der verschiedenen<br />

Berufsgruppen sind<br />

in der Prävention<br />

und Aufarbeitung<br />

psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

unumgänglich.<br />

43


44<br />

<strong>Gewalt</strong>, was sonst?<br />

Ich frage mich bei der Beschäftigung mit solchen Themen immer: Was ist das Gegenteil<br />

von psychischer <strong>Gewalt</strong>?<br />

Ich denke, wir sollten als Helfer/innen darauf achten, dass wir nicht immer nur dagegen<br />

rennen, um zu verhindern, was es zu verhindern gilt, sondern den Blick darauf werfen,<br />

was wir denn eigentlich aufbauen und stärken wollen.<br />

These VII<br />

Reduktion von psychischer <strong>Gewalt</strong> setzt voraus, dass wir lernen, lebendige<br />

Vielfältigkeit gegenseitig auszuhalten.<br />

Ich denke, zwischen dem Pol psychische <strong>Gewalt</strong> und dem, was das Gegenteil davon<br />

ist – vielleicht können Sie diese Frage einmal für sich selber anschauen und beantworten<br />

–, kann man kann nur subjektive Antworten finden.<br />

Ich glaube nicht, dass <strong>Gewalt</strong>losigkeit der Gegenpol ist.<br />

Ich würde heute sagen: Der Gegenpol von psychischer <strong>Gewalt</strong> ist das Aushalten von<br />

Vielfältigkeit und Lebendigkeit, von Unterschiedlichkeit, von Vielfältigkeit.<br />

Das gilt für die F<strong>am</strong>ilien, für die <strong>Kind</strong>er, für die Beziehungen mit und in denen wir arbeiten.<br />

Wenn es gelingt, ein bisschen etwas davon entstehen zu lassen, dass Menschen,<br />

die miteinander leben und aufwachsen, ein bisschen mehr an Vielfältigkeit, Lebendigkeit,<br />

Unterschiedlichkeit gegenseitig aushalten – was ja nicht immer so lustig ist –, dann<br />

haben wir viel erreicht.<br />

Und ich glaube, das ist auch ein gutes Bild für uns als Helfer/innen. Wenn es uns gelingt,<br />

uns in unseren Unterschiedlichkeiten auszuhalten und uns in unseren Unterschiedlichkeiten<br />

leben zu lassen, dann können wir einen Beitrag dazu leisten, dass wir <strong>Kind</strong>ern helfen,<br />

sich in solchen Situationen besser zurechtzufinden.<br />

Züngelnde Helfer<br />

Zum Schluss noch eine ganz kleine Geschichte, um die Vielfältigkeit noch in ein Bild zu<br />

packen.<br />

Da gibt es in einem Dorf eine Schlange, die beißt ständig die Einwohner. Und eines Tages<br />

gehen die Menschen – wie es in den Geschichten so ist – zu einem heiligen Meister und<br />

sagen zu ihm: „Du bist so heilig und so weise. Könntest du nicht die Schlange zähmen,<br />

sodass sie uns nicht ständig beißt?“ Der Meister willigt ein und tut, wie ihm geheißen.<br />

Die Schlange beißt also nicht mehr. Die Dorfbewohner merken bald, dass die Schlange<br />

harmlos geworden ist. Bald beginnen sie Steine nach ihr zu werfen, sie <strong>am</strong> Schwanz hinter<br />

sich herzuziehen und sie ständig zu belästigen.<br />

Eines Nachts hält die Schlage das nicht mehr aus und kriecht übel zugerichtet in des<br />

Meisters Haus, um sich zu beschweren. Der Meister sagte: „Mein Freund, du jagst den<br />

Menschen keine Angst mehr ein, das ist schlecht“. „Aber du hast mich doch gelehrt, gewaltlos<br />

zu sein“ antwortete die Schlange. Sagte der Meister: „Ich habe dir gesagt, du<br />

sollst aufhören zu beißen, nicht aber zu züngeln und zu zischen.“<br />

Ich denke, auch wir müssen in unserem Beruf manchmal züngeln und zischen. Auch<br />

<strong>Kind</strong>er und Eltern dürfen züngeln und zischen. Das ist was anderes als <strong>Gewalt</strong>, auch als<br />

psychische <strong>Gewalt</strong> auszuüben, und diesen Unterschied herauszufinden, dazu wünsche<br />

ich uns allen sehr viel Erfolg!


„Die Buben aber folgten nicht“<br />

„Sorgerechtsproblematik/Strafrechtsproblematik!“<br />

Referentin: Dr. Beate Matschnig:<br />

Ich arbeite <strong>am</strong> Jugendgericht in Wien. Wir sind zuständig für sämtliche Straftaten<br />

Jugendlicher bis zum 19. Lebensjahr, die im Bereich Wien verübt werden.<br />

Außerdem sind wir Pflegschaftsgericht für sämtliche Erziehungsnotstände von ganz<br />

Wien, unabhängig vom Bezirk.<br />

Wie reagiert die Justiz auf <strong>Gewalt</strong>?<br />

Primär sind wir immer spät dran.<br />

Das ist nicht die Schuld der Justiz allein, sondern das ergibt sich aus der Situation. Denn<br />

in dem Moment, wo ein Fall bei uns anhängig ist, ist ja bereits etwas passiert.<br />

Wir arbeiten nicht in der Prävention, sondern wir werden mit Tatsachen konfrontiert. Wir<br />

können dann nur noch im Nachhinein versuchen, den Schaden möglichst gering zu halten,<br />

regulierend oder ordnend einzugreifen.<br />

Was passiert, wenn es sich um kleine <strong>Kind</strong>er handelt?<br />

Wir haben sämtliche Fälle des sexuellen Missbrauchs bei uns, der <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern,<br />

der groben Vernachlässigung, die ja genauso auch ein <strong>Gewalt</strong>faktum darstellen.<br />

Ich beginne mit dem einfachsten und gelindesten Eingreifen unsererseits: das ist die<br />

Unterstützung zur Erziehung. Dieser Fall ist allerdings auch der seltenste bei uns und<br />

deckt maximal knapp 10 Prozent meiner Arbeit ab.<br />

Unterstützung zur Erziehung<br />

... kann dann angewandt werden, wenn die Eltern zumindest noch ein bisschen kooperationsbereit<br />

sind, wenn z.B. das Jugend<strong>am</strong>t sagt: „Mit uns arbeiten sie zwar nicht zus<strong>am</strong>men,<br />

aber wenn sie einen Gerichtsbeschluss in der Hand haben, dann könnte man<br />

ihnen vielleicht gewisse Auflagen auftragen.“<br />

Diese Auflagen können mannigfaltig sein: Das kann eine intensivere Zus<strong>am</strong>menarbeit<br />

mit dem Jugend<strong>am</strong>t sein oder eine Kontrolle durch das Jugend<strong>am</strong>t.<br />

Sehr häufig ist es eine <strong>Kind</strong>ergartenunterbringung oder Hortunterbringung, d<strong>am</strong>it eine<br />

gewisse kontinuierliche Beobachtung der <strong>Kind</strong>er gewährleistet ist.<br />

Weiters: Kontrolltermine bei Ärzt/innen, logopädische Behandlungen, F<strong>am</strong>ilienintensivbetreuungen<br />

– Sie sehen schon, der Bogen ist weit gespannt.<br />

In der Praxis sieht das so aus, dass ich mich in so einem Fall mit den Eltern zus<strong>am</strong>mensetze<br />

und die möglichen Maßnahmen mit ihnen durchspreche.<br />

Im Idealfall können sie die Auflage akzeptieren, da sie einsehen, dass etwas passieren<br />

muss, weil das <strong>Kind</strong> sonst aus der F<strong>am</strong>ilie genommen wird.<br />

Doch wie gesagt, das sind die seltensten Fälle bei uns.<br />

Denn entweder arbeiten die Eltern so und so schon mit dem Jugend<strong>am</strong>t zus<strong>am</strong>men oder<br />

sie lehnen alles strikt ab. Dann hilft auch unser Einschreiten kaum, denn wenn ich einen<br />

Antrag bekomme, und ich muss ja die Eltern zu jedem Antrag des Jugend<strong>am</strong>tes laden,<br />

und die Eltern kommen schon nicht einmal zu mir, dann ist ein Beschluss mit Unterstützung<br />

auf Erziehungshilfe völlig sinnlos.<br />

Ich kann Eltern im Pflegschaftsverfahren nicht zwangsweise bei mir vorführen lassen.<br />

Das heißt, wenn sie den Kontakt ablehnen, ist diese Maßnahme auch nicht durchführbar.<br />

Unterstützung zur<br />

Erziehung bedeutet<br />

zum Beispiel<br />

Kontrollen durch<br />

das Jugend<strong>am</strong>t,<br />

<strong>Kind</strong>ergartenunterbringung<br />

oder<br />

Hortunterbringung,<br />

d<strong>am</strong>it eine gewisse<br />

kontinuierliche<br />

Beobachtung der<br />

<strong>Kind</strong>er gewährleistet<br />

ist, sowie Kontrolltermine<br />

bei Ärzt/innen,<br />

logopädische<br />

Behandlungen oder<br />

F<strong>am</strong>ilienintensivbetreuungen.<br />

45


Wir sind uns sehr<br />

wohl bewusst,<br />

dass auch eine<br />

Herausnahme der<br />

<strong>Kind</strong>er aus ihrer<br />

F<strong>am</strong>ilie <strong>Gewalt</strong> an<br />

den <strong>Kind</strong>ern ist. Nur<br />

ist in den meisten<br />

Fällen keine andere<br />

Lösung denkbar.<br />

Über 80 Prozent<br />

unserer straffällig<br />

gewordenen<br />

Jugendlichen kommen<br />

aus „belasteten“<br />

F<strong>am</strong>ilien. Es wurde<br />

ihnen in ihrer<br />

F<strong>am</strong>ilie <strong>Gewalt</strong> angetan,<br />

sie wurden<br />

misshandelt oder<br />

vernachlässigt.<br />

46<br />

Entzug der Obsorge<br />

In den meisten Fällen, die bei uns anhängig sind, kommt es zu einer Abnahme des<br />

<strong>Kind</strong>es, zu einem Entzug der Obsorge der Eltern.<br />

Wobei Obsorge teilbar ist. Es gibt die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung – das<br />

wird in 90 Prozent aller Fälle entzogen.<br />

Das heißt, sie dürfen das <strong>Kind</strong> nicht mehr bei sich haben, sie sind nicht mehr zuständig<br />

für Pflege und Erziehung. Man belässt ihnen aber noch die gesetzliche Vertretung und<br />

Vermögensverwaltung. Das wird in 90 Prozent aller Fälle bei den Eltern belassen.<br />

Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass auch eine Herausnahme der <strong>Kind</strong>er aus ihrer<br />

F<strong>am</strong>ilie <strong>Gewalt</strong> an den <strong>Kind</strong>ern ist.<br />

Auch wir erleben das zum Teil sehr dr<strong>am</strong>atisch. Wenn die Eltern die <strong>Kind</strong>er nicht „herausgeben“<br />

und dann Polizei, Feuerwehr, Vollzugsbe<strong>am</strong>ter und Jugend<strong>am</strong>t auftreten, um<br />

die <strong>Kind</strong>er quasi gewalts<strong>am</strong> aus der F<strong>am</strong>ilie zu reißen, dann ist das pure <strong>Gewalt</strong>, die bei<br />

den <strong>Kind</strong>ern einen Schock verursacht.<br />

Nur ist in den meisten Fällen keine andere Lösung denkbar.<br />

Es ist nicht so, dass das Jugend<strong>am</strong>t leichtfertig einen Antrag bei uns stellt oder dass irgendeiner<br />

von uns eine solche Maßnahme leichtfertig genehmigt.<br />

Es wird von uns intensivst recherchiert, bevor wir uns zu so einem Schritt entschließen.<br />

Wir haben die Jugendgerichtshilfe im Haus, mit Psychologen und Sozialarbeitern, die<br />

zusätzlich zum Jugend<strong>am</strong>t nochmals sämtliche Erhebungen im Umfeld durchführen, die<br />

mit Nachbarn, in den Schulen, <strong>Kind</strong>ergärten und mit den Ärzten und Ärztinnen sprechen.<br />

Die Jugendgerichtshilfe nimmt uns Richtern diese Erhebungen ab, denn das würde<br />

unser Zeitbudget bei weitem überschreiten.<br />

Nach diesen Recherchen folgen Gespräche von uns mit den Eltern. Daraufhin wird meistens<br />

auch noch ein Sachverständigengutachten über die Erziehungsfähigkeit der Eltern<br />

und die Möglichkeit, das <strong>Kind</strong> aus der F<strong>am</strong>ilie herauszunehmen, eingeholt, und erst dann<br />

wird der Beschluss getroffen, dass das <strong>Kind</strong> der F<strong>am</strong>ilie abgenommen wird.<br />

Für das <strong>Kind</strong> ist die Sache d<strong>am</strong>it aber noch keineswegs durchgestanden, und das macht<br />

die Sache auch immer so schwierig.<br />

Denn dann kommen die Besuchsregelungen. Die Eltern können oder wollen diese<br />

Regelung zumeist nicht akzeptieren. Dass dadurch auch das <strong>Kind</strong> immer wieder involviert<br />

wird, dessen muss man sich bewusst sein.<br />

Das <strong>Kind</strong> hat keine Ruhe mit der Abnahme, nur haben wir bisher noch keine bessere<br />

Lösung gefunden.<br />

„Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“<br />

Was passiert a la longe mit dem <strong>Kind</strong>ern?<br />

Da kommen wir nun zum Titel dieser Tagung „Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“.<br />

Verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, ich möchte nicht sagen, dass jeder, der eine gewalts<strong>am</strong>e<br />

<strong>Kind</strong>heit durchgemacht hat, kriminell wird. Das stimmt sicher nicht. Aber es gibt<br />

einen Umkehrschluss.<br />

Jeder einzelne Fall, jeder einzelne Strafakt wird von uns an die Jugendgerichtshilfe weitergeleitet,<br />

die umfangreiche Erhebungen über das ganze Umfeld, über die F<strong>am</strong>ilie, die<br />

Schule des Betroffenen usw. im Zuge des Pflegschaftsverfahrens macht. Und von dort<br />

her gibt es eine grobe Statistik, die besagt, dass über 80 Prozent unserer straffällig gewordenen<br />

Jugendlichen aus „belasteten“ F<strong>am</strong>ilien kommen, sei es, dass ihnen dort<br />

<strong>Gewalt</strong> angetan wurde, dass sie misshandelt oder vernachlässigt wurden.<br />

Und etliche von unseren Straftätern haben auch einen Pflegschaftsakt bei uns anhängig.<br />

Das sind dann die 14-, 15-, 16-Jährigen, bei denen wir uns zwar auch bemühen, noch<br />

irgendwelche hilfreichen Maßnahmen zu setzen, wo es aber natürlich immer schwieriger<br />

wird.


Jeder wird für ein 2-, 3-, 4-, 5-jähriges <strong>Kind</strong> Verständnis haben, dem <strong>Gewalt</strong> angetan<br />

wurde. Jeder sagt „Dieses arme <strong>Kind</strong>“ und „Was ist nur mit diesem <strong>Kind</strong> passiert? Das<br />

ist ja furchtbar.“ Jeder hat hier Verständnis und wird jeder Maßnahme zustimmen.<br />

Wenn es aber einen 15-, 16-Jährigen betrifft, der pappig und rotzig ist und etwas angestellt<br />

hat, der sich alles andere als positiv präsentiert, der keine Goldlocken mehr hat,<br />

sondern eine Punkerfrisur, dann hört sich das Verständnis schlagartig auf. Kein Mensch<br />

zerbricht sich dann den Kopf darüber, was der Jugendliche schon alles mitgemacht hat,<br />

was mit ihm passiert ist und was wir jetzt eigentlich schonenderweise mit ihm tun sollen.<br />

Da ist der Ruf nach Strafe sehr, sehr laut. Und er wird immer lauter.<br />

„Alles einsperren“ versus Bewährungshilfe<br />

Es gibt kein Verständnis mehr für Therapien und andere Maßnahmen.<br />

Die Devise geht immer stärker in Richtung „Einsperren“.<br />

Was wir versuchen, ist im Rahmen von Probezeiten Maßnahmen zu setzen, um doch<br />

noch irgendeine Hilfestellung zu geben. Die Möglichkeiten dazu haben wir noch, angefangen<br />

von der Bewährungshilfe.<br />

Die Jugendlichen sind meistens auf sich allein gestellt. Unter Umständen gibt es irgendwo<br />

noch eine Mutter – wenn, dann ist es in aller Regel eine Mutter, die da vielleicht<br />

noch dahinter steht.<br />

Bewährungshilfe ist eine Möglichkeit, die ich dem Klienten drei Jahre lang vermitteln<br />

kann. Das soll eine Unterstützung sein. Das hat mit Strafe absolut nichts zu tun. Das ist<br />

eine rein positive Maßnahme für ihn. Ich sage jetzt immer „ihn“, weil 95 Prozent aller<br />

Straftäter Burschen sind.<br />

Wir können im Rahmen der Probezeit zum Beispiel anordnen „Du musst regelmäßig in<br />

die Schule gehen. Du musst dir eine Lehre suchen oder musst beim Arbeits<strong>am</strong>t gemeldet<br />

sein.“<br />

Dann geht es weiter mit Therapien.<br />

Wir können unseren Süchtigen, und das sind sehr, sehr viele, Weisung geben, sich einer<br />

Therapie zu unterziehen, sei es <strong>am</strong>bulant, sei es stationär.<br />

Wir haben bei uns im Haus bei der Jugendgerichtshilfe auch das Antiaggressionstraining,<br />

das diesen Jugendlichen helfen soll, ihre eigenen Aggressionen, die sie letztendlich alle<br />

aus ihrer <strong>Kind</strong>heit mitgenommen haben, aufzuarbeiten und zu verbessern.<br />

Letzte Maßnahme: Haft<br />

Letztendlich bleibt dann die Haft. Das ist dann gar nicht mehr erquicklich, wobei es bei<br />

uns im Haus noch zumindest eine sehr dichte Betreuung gibt.<br />

Es werden schulische Weiterbildung und verschiedene Kurse angeboten, und die<br />

Jugendgerichtshilfe betreut die Häftlinge sowohl psychologisch als auch sozialarbeiterisch.<br />

Sind längere Haftstrafen zu verbüßen, dann schaut es schon schlechter aus.<br />

Ich glaube, es gibt jetzt in Gerasdorf eineinhalb Psychologen für 90 auffällige Burschen,<br />

die eigentlich eine Therapie erhalten sollen. Das ist so faktisch nicht machbar. Aber es<br />

gibt kein Geld für eine Aufstockung des Personals.<br />

Und für diese Burschen haben wir keine Lobby!<br />

Schwierige Teenager<br />

Gerade jene Jugendlichen, die uns <strong>am</strong> meisten <strong>am</strong> Herzen liegen, „bleiben“ bei den<br />

Institutionen letztendlich irgendwo „über“.<br />

Es sind diese schwierigen 13- bis 16-Jährigen.<br />

Eineinhalb<br />

Psychologen sollen<br />

90 verhaltensauffällige<br />

Burschen<br />

therapieren. Es gibt<br />

kein Geld für eine<br />

Aufstockung des<br />

Personals, denn<br />

diese Burschen<br />

haben keine Lobby.<br />

47


Sie passen in keine<br />

Wohngemeinschaft,<br />

es gibt zu wenig<br />

Heime, und auch<br />

eine Pflegschaftsf<strong>am</strong>ilie<br />

hält diese<br />

Jugendlichen<br />

kaum aus.<br />

Je älter die <strong>Kind</strong>er,<br />

desto schlechter sind<br />

ihre Chancen.<br />

48<br />

Sie passen in keine Wohngemeinschaft hinein, weil dort würden sie aller Wahrscheinlichkeit<br />

nach alles „umdrehen“ und die Nachbarn so verärgern, dass sie ausziehen<br />

müssten.<br />

Heime gibt es keine mehr in diesem Ausmaß.<br />

Eine F<strong>am</strong>ilie – eine Pflegschaftsf<strong>am</strong>ilie – hält einen solchen Burschen oder eine solches<br />

Mädchen auch nicht aus.<br />

Wir haben versucht, eine Lösung für diese Jugendlichen in einer interdisziplinären<br />

Kommission zu finden.<br />

Wir haben versucht, niederschwellige Einrichtungen zu schaffen. Wir werden aber mit<br />

der Mitteilung „Das geht nicht. Das ist zu schwierig. Wer haftet und wer tut und wer macht<br />

und wer zahlt vor allem?“ konsequent abgeblockt.<br />

Ich kann Ihnen keine Lösung dafür anbieten. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es schwierig<br />

geworden ist. Viel schwieriger, als es früher war.<br />

Es ist viel schwieriger, sie unterzubringen, das Echo in der Öffentlichkeit wird schlechter,<br />

wir haben mehr Probleme, d<strong>am</strong>it umzugehen.<br />

Alles kann nicht von uns aufgefangen werden.<br />

Ich frage mich manchmal, ob man nicht dazu übergehen sollte, <strong>Kind</strong>er früher aus dem<br />

F<strong>am</strong>ilienverband herauszunehmen. Obwohl ich mir bewusst bin, dass das ein zweischneidiges<br />

Schwert ist. Denn einerseits arbeiten wir <strong>am</strong> Gericht ja letztendlich auch nur<br />

mit Druck, Macht und <strong>Gewalt</strong>. Wie schon gesagt, ein <strong>Kind</strong> aus seiner F<strong>am</strong>ilie herauszureißen<br />

ist <strong>Gewalt</strong>, und deswegen versuchen wir, ein <strong>Kind</strong> so lang wie nur irgendwie möglich<br />

zu Hause zu lassen.<br />

Andererseits sehe ich oft Fälle, wo man die Situation zu Hause schon seit Jahren beobachtet,<br />

und es wird nicht besser, sondern immer schlechter.<br />

Wir wissen, dass es <strong>Gewalt</strong> in dieser F<strong>am</strong>ilie gibt. Wir wissen, dass es Vernachlässigung<br />

gibt, und wir versuchen trotzdem mit noch einer Weisung, mit einer anderen Schule, mit<br />

einem andern Hort, einem anderen F<strong>am</strong>ilienintensivbetreuer usw. der Situation beizukommen,<br />

bis es letztendlich dann so weit ist, dass wir das <strong>Kind</strong> dann doch aus der F<strong>am</strong>ilie<br />

herausnehmen müssen.<br />

Nur – je älter die <strong>Kind</strong>er sind, desto schlechter sind ihre Chancen!<br />

Wenn die <strong>Kind</strong>er einmal fünf, sechs sind, ist es viel schwieriger, als wenn sie ein Jahr<br />

oder noch kleiner sind.<br />

Dass das ein zweischneidiges Schwert ist, weiß ich, und dass es juristisch schwierig ist,<br />

weiß ich auch. Ich habe das sozusagen oft genug <strong>am</strong> eigenen Leib erfahren.<br />

Elternwohl vor <strong>Kind</strong>eswohl?<br />

Zum Abschluss noch eine Geschichte.<br />

Da ist eine Mutter, die durchaus in der Lage ist, ein Baby zu haben. Die Grundversorgung<br />

des Babys, also das Füttern und Wickeln und Streicheln und alles, was dazu gehört, ist<br />

kein Problem für sie. Doch in dem Moment, wo ihr <strong>Kind</strong> anfängt, mobil zu werden, wo es<br />

aufsteht und geht, wird sie mit der Situation nicht mehr fertig.<br />

Sie begann ihren Sohn zu schlagen, weil sie seiner nicht mehr Herr wurde. Sie konnte<br />

ihm keine Grenzen setzen. Sie hat nicht mehr gewusst, was sie mit ihm machen soll. Sie<br />

war einfach von ihrer ganzen Konstellation her nicht fähig, mit dem <strong>Kind</strong> irgendetwas anzufangen.<br />

Diese Frau bek<strong>am</strong> wieder ein <strong>Kind</strong>. Um dieses neue Baby hat sie sich aber sehr wohl<br />

gekümmert. Als wir den „Großen“ aus der F<strong>am</strong>ilie genommen haben, war dieser drei<br />

Jahre, der Kleine war zu diesem Zeitpunkt fünf Monate alt. Der Große k<strong>am</strong> zu<br />

Pflegeeltern.<br />

Zu diesem Zeitpunkt habe ich mit der zuständigen Sozialarbeitern beim Jugend<strong>am</strong>t gesprochen<br />

und gesagt „Was machen wir jetzt? Warten wir, bis der Kleine auch anfängt zu<br />

gehen und „schwieriger“ wird für die Mutter? Nehmen wir ihr das <strong>Kind</strong> dann ab? Dann


ist der Bub aber immerhin wahrscheinlich auch eineinhalb oder zwei Jahre alt.“<br />

Die Pflegeeltern, die den älteren Buben übernommen hatten, waren bereit, auch den<br />

Kleinen zu nehmen.<br />

Und wir entschlossen uns, ihr auch das kleine <strong>Kind</strong> schon jetzt abzunehmen und haben<br />

das dann das erste Mal durch alle Instanzen durchgezogen. Wir haben mit einem<br />

Sachverständigengutachter gearbeitet, der gesagt hat, dass die Mutter sehr wohl in der<br />

Lage ist, ein Baby zu versorgen, nicht aber ein größeres <strong>Kind</strong>.<br />

Und so haben wir das <strong>Kind</strong> mit fünfeinhalb Monaten abgenommen. Aber das war eine<br />

Ausnahmesituation.<br />

Ich kann nicht sagen, dass das immer so funktioniert.<br />

Ich bin ausschließlich für das Wohl des <strong>Kind</strong>es zuständig, ausschließlich!<br />

Ob es der Mutter dabei gut geht oder den Pflegeeltern oder den Großeltern oder wem<br />

auch immer in diesem ganzen F<strong>am</strong>ilienverband, ist für uns nicht entscheidend.<br />

Für das <strong>Kind</strong> ist diese Situation sicher leichter gewesen, denn ein Einschnitt mit fünfeinhalb<br />

Monaten ist leichter zu verkraften als mit zwei oder drei Jahren.<br />

Ob das in Zukunft so gehen wird, das kann ich nicht versprechen. Ich weiß es nicht, weil<br />

die Instanz sehr konservativ ist. Auch der Oberste Gerichtshof stellt immer zuerst fest,<br />

dass die Elternrechte eigentlich schwerer wiegen als die <strong>Kind</strong>errechte. Das steht auch<br />

definitiv in den Entscheidungen des OGH.<br />

Scheinbar ist es also eher dem <strong>Kind</strong> zuzumuten, etwas auf sich zu nehmen, wenn es<br />

den Elternrechten entgegenkommt.<br />

Das beginnt sich jetzt zu ändern.<br />

Wünsche für die Zukunft<br />

Was wir uns wünschen würden – und was jetzt zum Teil auch schon funktioniert –, ist<br />

eine sehr intensive Zus<strong>am</strong>menarbeit mit dem Jugend<strong>am</strong>t. Insofern, dass wir die einzelnen<br />

Fälle vorher besprechen, weil man sich leichter tut, wenn man „gleichgeschaltet“<br />

läuft.<br />

Das Zweite, das wir uns wünschen, ist eine Verbesserung der Situation für unsere<br />

schwierigen Teenager. Wir bräuchten da sehr dringend eine Möglichkeit, auch diese<br />

schwierigen Jugendlichen adäquat unterzubringen. Es sollte einfach nicht mehr vorkommen,<br />

was leider immer wieder passiert, dass wir einen 14-Jährigen in Haft haben,<br />

weil wir nicht wissen, wo wir ihn eigentlich „hintun“ sollen.<br />

Wir können ihn ja nicht auf die Straße stellen.<br />

Ich kann nur hoffen, dass Tagungen wie diese dazu führen, dass sich nicht nur die<br />

Situation für die kleinen <strong>Kind</strong>ern verbessert, sondern dass es eben auch bei jenen eine<br />

Verbesserung der Situation gibt, die quasi schon <strong>am</strong> Ende eines Leidensweges stehen,<br />

den sie von Klein auf an mitmachen mussten.<br />

49


So schwer<br />

traumatisierte<br />

<strong>Kind</strong>er können nie<br />

geheilt werden. Aber<br />

es ist unsere Pflicht,<br />

sie zu begleiten.<br />

50<br />

„Zu Hilf’, Ihr Leut’, zu Hilf’, Ihr Leut’!“<br />

„Extrembelastungen im <strong>Kind</strong>esalter“<br />

Referentin: Dr. Gertrude Bogyi<br />

Sowohl der Titel der Enquete „Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“ als auch der<br />

Titel meines Beitrages „Zu Hilf’ ihr Leut’, zu Hilf’ ihr Leut’“ weisen darauf hin, worum es<br />

in meinem Beitrag gehen wird.<br />

Das Zitat „Zu Hilf’ ihr Leut’, zu Hilf’ ihr Leut’“ ist jener Geschichte im Struwwelpeter entnommen,<br />

wo der Jäger den Hasen erschießen möchte. Letztendlich geht diese<br />

Geschichte aber dann doch noch gut aus.<br />

Aber wovon ich Ihnen jetzt berichten werde, da ist leider nichts gut ausgegangen. Es geht<br />

um <strong>Kind</strong>er, die Zeuge eines Mordes geworden sind.<br />

Ich bin seit siebenundzwanzig Jahren an der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des<br />

<strong>Kind</strong>es- und Jugendalters <strong>am</strong> AKH tätig, beschäftige mich seit langem auch mit dieser<br />

Thematik und habe bis jetzt zweiundvierzig <strong>Kind</strong>er betreut, die Zeugen eines Mordes geworden<br />

sind.<br />

Man kann jetzt sagen, dass das eigentlich eine kleine Gruppe ist. Für mich jedoch ist das<br />

eine wahnsinnig große Gruppe, denn bei dieser Gruppe sind zum Beispiel all die<br />

Flüchtlingskinder, die schreckliche Kriegserlebnisse zu verarbeiten haben, nicht dabei.<br />

(Es wäre übrigens ein wesentlicher Bestandteil der Integration, diesen <strong>Kind</strong>ern eine lang<br />

währende Aufarbeitung ihrer schrecklichen Erfahrungen zu ermöglichen.)<br />

Martin<br />

Ich möchte mit der Geschichte von Martin beginnen, der zum Zeitpunkt des Traumas<br />

sechs Jahre alt war. Ich betreue ihn auch heute noch. Und es ist auch sehr wichtig, dass<br />

ich ihn noch immer betreue, denn es dauert sehr lange, bis solche seelischen Traumen<br />

auch nur halbwegs verarbeitet werden. Wirklich geheilt können diese <strong>Kind</strong>er nie werden.<br />

Auch nicht mit der besten Therapie. Wir sind jedoch verpflichtet, diese <strong>Kind</strong>er zu begleiten.<br />

Wir müssen sie in den verschiedensten Lebensphasen begleiten und wirklich für sie<br />

da sein, da das Trauma in den verschiedenen Altersstufen reaktiviert wird und dann neu<br />

bearbeitet werden muss. Doch davon später.<br />

Der sechsjährige Bub war der einziger Zeuge, als sein Vater die Lebensgefährtin erschossen<br />

hat. Diese Lebensgefährtin des Vaters war Mutterersatzperson, und zwar<br />

schon seit vier Jahren. Seine leibliche Mutter hatte die F<strong>am</strong>ilie verlassen, als das <strong>Kind</strong><br />

zwei Jahre alt war. Dann k<strong>am</strong>en die verschiedensten Tanten und Omas, bis der Bub<br />

schließlich beim Vater und dessen Lebensgefährtin lebte. Bis zu dem Tag, als der Vater<br />

sie im Streit erschoss.<br />

Sprachlosigkeit – ein Verarbeitungssyndrom<br />

Üblicherweise ist es so, dass <strong>Kind</strong>er knapp nach einem so schrecklichen Ereignis wie<br />

automatisiert einzelne Daten und Fakten erzählen können. Doch bereits ein paar<br />

Stunden, ein paar Tage später tritt eine aktive Verdrängung ein. Die <strong>Kind</strong>er erzählen das<br />

Erlebte dann anders, können sich an vieles, das sie vorher genau gewusst haben, nicht<br />

mehr erinnern.<br />

Das ist immer auch das große Problem, wenn <strong>Kind</strong>er vor Gericht als Zeugen aussagen<br />

sollen.<br />

Diese Sprachlosigkeit gehört zu einem Verarbeitungssyndrom, das ich Ihnen nun näher<br />

schildern möchte.


Auch dieser Kleine hatte mir <strong>am</strong> Anfang die verheerenden Geschehnisse genauestens<br />

geschildert. Ein paar Wochen später war er plötzlich stumm und sprachlos geworden.<br />

Ich fragte ihn, ob er nicht vielleicht zeichnen möchte. Er bejahte und begann zu überlegen,<br />

was er denn eigentlich zeichnen wolle. Und dann hat er selbst gemeint, er werde<br />

zeichnen, wie es ihm geht.<br />

Auf einem der Bilder, die er zeichnete, fand ich auch mich. Ich sollte gerade erschossen<br />

werden. Aber da das natürlich auch für ihn sehr schlimm gewesen wäre, hat er mir eine<br />

kugelsichere Weste „umgehängt“, sodass ich nicht erschossen werden kann.<br />

Mittlerweile ist das eineinhalb Jahre her, doch das <strong>Kind</strong> gerät noch immer bei jedem<br />

Blutfleck in Panik. Sieht es Blut, bekommt es eine Wahnsinnsangst. Der kleinste Blutfleck<br />

genügt, um alles sofort zu reaktivieren.<br />

Wir wissen heute, dass bei schweren psychischen Traumatisierungen jede Kleinigkeit<br />

genügt, um ein Wiedererleben auszulösen.<br />

Eine für uns gar nicht sichtbare, nicht erkennbare Kleinigkeit genügt, und das <strong>Kind</strong> muss<br />

die Geschehnisse in den verschiedensten Facetten wieder erleben. Mit einem Mal ist die<br />

ges<strong>am</strong>te Problematik wieder da ist.<br />

<strong>Psychische</strong> Traumatisierung<br />

ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationen und individuellen<br />

Bewältigungsmechanismen.<br />

Charakteristischer Weise ruft dies sowohl bei <strong>Kind</strong>ern als auch bei Erwachsenen ein extremes<br />

Gefühl der Hilflosigkeit und schutzlosen Preisgabe hervor. Das betroffene <strong>Kind</strong><br />

fühlt sich ohnmächtig, und es kommt zu einer Erschütterung des Selbst- und<br />

Weltverständnisses.<br />

Bei einem psychischen Trauma handelt es sich um ein subjektives Erleben, und deswegen<br />

stellt es sich auch nicht für jeden gleich dar.<br />

Es gibt also keine objektive Skala mit Schweregraden der psychischen Traumatisierung.<br />

Meistens treten nach dem Ereignis auch noch ganz massive Schuldgefühle bei den betroffenen<br />

<strong>Kind</strong>er auf. Schuldgefühle, nichts „dagegen“ getan zu haben.<br />

Zum Beispiel hat mir ein <strong>Kind</strong>, das Zeuge war, als der Vater die Mutter ermordet hat, gesagt:<br />

„Weißt du, sie haben so oft gestritten, und ich hab’ immer wieder gesagt, hört auf<br />

zu streiten. Aber wenn ich sie hätte ausstreiten lassen, dann hätte der Papa die M<strong>am</strong>a<br />

nicht erschießen müssen.“<br />

Dieses Sich-schuldig-, Sich-mitbeteiligt-Fühlen ist natürlich auch ein sehr wesentlicher<br />

Punkt bei der Traumatisierung.<br />

Professor Friedrich sagt immer, wir müssten wieder eine Streitkultur entwickeln. Ich<br />

nehme das sehr ernst, und ich glaube sogar, es wäre eine präventive Maßnahme. Ein<br />

<strong>Kind</strong> soll keinesfalls von allem, von jedem Streit fern gehalten werden. Denn es ist ja nicht<br />

der Streit an sich, es ist viel mehr die Art und Weise, wie gestritten wird.<br />

Wenn der Vater der Mörder ist<br />

Ich arbeite mit <strong>Kind</strong>ern, die Traumen der verschiedensten Art erlebt haben. Aber das<br />

Schlimmste, was einem <strong>Kind</strong> passieren kann, ist fraglos, wenn der Vater die Mutter oder<br />

auch umgekehrt, die Mutter den Vater ermordet. Da kommt es zu schwersten<br />

Erschütterung vom Selbst- und Weltverständnis des <strong>Kind</strong>es.<br />

Es ist wesentlich leichter, wenn der Mörder ein Außenfeind ist.<br />

Denn wenn Vater oder Mutter Täter sind, kann das <strong>Kind</strong> ja seine negativen Gefühle nicht<br />

voll auf diese „Person“ richten. Vater oder Mutter werden vom <strong>Kind</strong> geliebt, und das<br />

Gefühlschaos, in das ein <strong>Kind</strong> stürzt, das miterleben musste, wie der eine liebe Mensch<br />

den anderen geliebten Menschen ermordet hat, ist grauenvoll. Diesen <strong>Kind</strong>ern wird regelrecht<br />

der Boden unter den Füßen weggezogen. Jegliches Urvertrauen in die Welt ist<br />

Sieht er Blut,<br />

bekommt er eine<br />

Wahnsinnsangst.<br />

Der kleinste<br />

Blutfleck genügt,<br />

um die schrecklichen<br />

Erlebnisse zu<br />

reaktivieren.<br />

Betroffene <strong>Kind</strong>er<br />

fühlen sich hilflos,<br />

schutzlos und ohnmächtig.<br />

Zumeist<br />

fühlen sie sich auch<br />

noch schuldig an<br />

dem, was sie miterleben<br />

mussten.<br />

„Weißt du, sie haben<br />

so oft gestritten, und<br />

ich hab’ immer wieder<br />

gesagt, hört auf<br />

zu streiten. Aber<br />

wenn ich sie hätte<br />

ausstreiten lassen,<br />

dann hätte der Papa<br />

die M<strong>am</strong>a nicht<br />

erschießen müssen.“<br />

Diesen <strong>Kind</strong>ern wird<br />

der Boden unter den<br />

Füßen weggezogen.<br />

Diese <strong>Kind</strong>er haben<br />

jegliches Urvertrauen<br />

in die Welt auf<br />

immer verloren.<br />

Diese <strong>Kind</strong>er wissen<br />

wirklich nicht mehr<br />

ein und aus.<br />

51


Psychogenes<br />

Schocksyndrom:<br />

Es äußert sich als<br />

Reaktion auf ein<br />

traumatisches<br />

Ereignis in der ersten<br />

Phase durch<br />

Panikreaktion,<br />

Fluchttendenzen,<br />

Angstreaktionen<br />

bis hin zur Apathie.<br />

Es erfolgt dann eine<br />

aktive Verdrängung<br />

gegen die Bewusstmachung<br />

der<br />

Ereignisse und eine<br />

Bearbeitung in der<br />

Fantasie. Erst<br />

6 Monate bis 1 Jahr<br />

danach, manchmal<br />

auch noch später,<br />

kommt es zu<br />

Symptombildungen,<br />

und erst danach ist<br />

eine Bearbeitung der<br />

Realität möglich.<br />

52<br />

diesen <strong>Kind</strong>ern auf immer genommen worden. Diese <strong>Kind</strong>er wissen wirklich nicht mehr<br />

ein und aus.<br />

Wie verunsichert diese <strong>Kind</strong>er sind, sieht man an Martin, der auch heute noch, nach zwei<br />

Jahren Therapie bei mir, sagt: „Ich weiß ja nicht, ob du mich nicht auch erschießen willst.“<br />

Martin ist derzeit wieder stationär bei uns aufgenommen. Seine Verunsicherung ist so<br />

tief, dass er sich ununterbrochen absichern muss, ob die Schwester in der Nacht munter<br />

ist, d<strong>am</strong>it da ja jemand aufpasst, dass ihm nichts passiert.<br />

Das psychogene Schocksyndrom<br />

Walter Spiel, der langjährigen Leiter und Gründer unserer Klinik, hat 1974 ein psychogenes<br />

Schocksyndrom an Hand von <strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen beschrieben, an denen<br />

ein Mordversuch verübt worden ist.<br />

Bei diesen <strong>Kind</strong>ern ist quasi im letzten Moment alles noch gut gegangen, sie wurden nicht<br />

einmal – körperlich – verletzt. Dennoch bleibt die Tatsache, dass ein Elternteil versucht<br />

hat, das <strong>Kind</strong> zu ermorden.<br />

Spiel hat hier vier Phasen beschrieben, die ich dann auch bei diesen extrem traumatisierten<br />

<strong>Kind</strong>ern, die Zeugen eines Mordes geworden sind, erlebt habe.<br />

Diese Phasen sind:<br />

1.) Panikreaktion, Fluchttendenzen, Angstreaktionen, Apathie<br />

2.) Aktive Verdrängung des Erlebten<br />

3.) Bearbeitung der Erlebnisse in der Fantasie<br />

4.) Symptombildung (6 Monate bis 1 Jahr nach dem Trauma)<br />

Und dazu jetzt ein Beispiel.<br />

Jürgens Geschichte<br />

Jürgen war sechs Jahre alt, als er miterleben musste, wie sein Vater seine Mutter und<br />

die Großmutter ermordet hat. Die Tatwaffe war eine Glasscherbe. Mit dieser hat er ihnen<br />

die Kehle durchgeschnitten. Der Vater versuchte auch Jürgen zu ermorden. Doch offensichtlich<br />

hatte der Mann dann eine Tötungshemmung und somit blieben nur leichte<br />

Kratzspuren. Im Anschluss daran hat der Vater dann Selbstmord begangen, indem er<br />

mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler gefahren ist.<br />

Laut Auskunft der Gerichtsmedizin war Jürgen stundenlang mit den Leichen von Mutter<br />

und Großmutter allein.<br />

Die Tat passierte in den Abendstunden, und erst <strong>am</strong> nächsten Tag verließ er die<br />

Wohnung. Er packte seinen Rucksack, gab eine Haarbürste, ein Scherzerl Brot und<br />

Papiertaschentücher hinein, nahm dann den Hund an die Leine und ging zur Nachbarin.<br />

Er läutete bei ihr an und sagte: „Ich muss jetzt auswandern, weil alle meine Leute sind<br />

gestorben.“<br />

Diese Botschaft konnte er noch überbringen, dann brach er ohnmächtig zus<strong>am</strong>men.<br />

Dann wurde er mit der Rettung zu uns gebracht.<br />

Jürgen hat abgesehen vom Miterleben der Tat noch weiteres Schreckliches miterlebt.<br />

Wie wir nachher rekonstruiert haben, hat er die Leichen seiner Mutter und Großmutter<br />

ins Badezimmer geschleppt und siebeneinhalb Stunden lang versucht, sie abzuspülen,<br />

d<strong>am</strong>it sie zu bluten aufhören.<br />

Natürlich hat er das Blut nicht stoppen können, hat sie so nicht retten können. Sie können<br />

sich sein Entsetzen vorstellen, als das Blut durch die Verdünnung mit dem Wasser<br />

sogar noch mehr geworden ist! Das hat ihm <strong>am</strong> Schluss enorme Schuldgefühle bereitet,<br />

weil er der fixen Überzeugung war, dass es seine Schuld war, dass sie so geblutet<br />

haben.


Als er dann zu uns gebracht wurde, war er apathisch, war <strong>am</strong> Anfang sprachlos, konnte<br />

nichts sagen. Er hat das Erlebnis also schon <strong>am</strong> Anfang verdrängt.<br />

Das wäre also die erste Phase des psychogenen Schocksyndroms, die Apathie.<br />

Nach und nach bin ich dann dem Jürgen ein Stückchen näher gekommen, denn dass<br />

solche <strong>Kind</strong>er auch ein Schutzschild an Abwehr aufbauen, das können Sie sicherlich<br />

leicht verstehen. Er malte sein erstes Bild in der Therapie, und das war ganz in Schwarz<br />

gehalten. So schaute also seine Welt aus. Auf diesem Bild war ein Erhängter auf einem<br />

Schiff zu sehen.<br />

Jürgen hat sich dann ganz massiv gegen die Bewusstmachung der Tatsache gewehrt,<br />

dass der Vater der Mörder ist. Er hat mir in den Therapie-Stunden gesagt: „Weißt du, der<br />

Mörder war zwar so groß wie mein Papa, und er hat so ausgeschaut wie mein Papa, und<br />

er hat so eine Stimme gehabt wie mein Papa, aber es war nicht mein Papa.“<br />

Also dieser Schmerz, dass der Täter auch noch der Vater ist, war für dieses <strong>Kind</strong> zu diesem<br />

Zeitpunkt einfach zu viel.<br />

Genau das meinte Spiel mit der „aktiven Verdrängung“.<br />

Die Wahrheit nicht verleugnen<br />

Auch für Helfer und Helferinnen ist es entsetzlich, so etwas auszuhalten zu müssen.<br />

Natürlich wäre es hier sehr verführerisch zu vertrösten und dem <strong>Kind</strong> zu sagen: Ja, Du<br />

hast Recht, die Polizei hat sich geirrt. Der Mörder ist nicht Dein Papa.<br />

Aber hier ein Appell an alle Helfer/innen: Tun Sie das nie! Das wäre der größte Fehler.<br />

Sie würden d<strong>am</strong>it vielleicht sogar auch psychische <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong> verüben, auch wenn<br />

Ihnen das jetzt ganz komisch erscheinen mag.<br />

Aber wenn wir die Wahrheit leugnen, geben wir dem <strong>Kind</strong> eigentlich keine Möglichkeit<br />

mehr, mit uns darüber zu reden. Wir würden dann ja diese Lüge aufrecht erhalten.<br />

Natürlich hab ich dem <strong>Kind</strong> auch nicht jeden Tag gesagt: „Du, der Mörder war Dein Papa!“<br />

Aber <strong>am</strong> Anfang hab ich dem <strong>Kind</strong> gesagt: „Weißt Du, es wäre schön, wenn sich die<br />

Polizei geirrt hätte, aber es war der Papa.“<br />

Ganz wichtig ist, dass jemand dem <strong>Kind</strong> beisteht, das Ganze gemeins<strong>am</strong> mit dem <strong>Kind</strong><br />

aushält und gemeins<strong>am</strong> mit ihm trägt.<br />

Verarbeitung in der Fantasie<br />

In der Regel erfolgt dann die dritte Phase, in der es zu einer Bearbeitung des Falles in<br />

der Fantasie kommt. Und dann, oft ein halbes bis zu eineinhalb Jahre später, wenn die<br />

Menschen aus der Umgebung des <strong>Kind</strong>es glauben, jetzt hat es ohnehin schon alles verkraftet,<br />

weil es auch nicht mehr darüber spricht, dann kommt es zu massiven<br />

Symptombildungen.<br />

Die Symptome können die ganze Bandbreite der Palette der kinderpsychiatrischen<br />

Auffälligkeiten umfassen, von Einnässen über Leistungsstörungen, bis hin zum Stottern.<br />

Die Erkrankungen sind dann noch einmal das Zeichen einer Bearbeitungssituation, und<br />

erst in der vierten Phase beginnt der lange, lange Prozess der Bearbeitung der Realität.<br />

Der Trauerprozess kommt überhaupt noch viel, viel später.<br />

Am Beginn der vierten Phase muss die ganze <strong>Gewalt</strong>, die ganze Schuld, all das, was da<br />

passiert ist, zunächst einmal Schritt für Schritt verarbeitet werden. Was sich dann in den<br />

verschiedensten Entwicklungsphasen eben auch wiederholt. Angenommen, ein Trauma<br />

passiert einem kleinen <strong>Kind</strong>, dann muss dieses <strong>Kind</strong> dieses Trauma in allen<br />

Entwicklungsstufen neu und auf einem anderen Entwicklungsniveau bearbeiten.<br />

Zu den Symptomen<br />

zählen: Tick-Erkrankungen,Angststörungen,aggressive<br />

Tendenzen,<br />

Bettnässen, LernundLeistungsstörungen,<br />

motorische<br />

Störungen,<br />

Kontaktstörungen,<br />

Stottern.<br />

53


54<br />

Die heikle Frage der Unterbringung<br />

In Jürgens Fall k<strong>am</strong> dann natürlich auch noch die Frage der Unterbringung auf. Hier ein<br />

Appell an alle Sozialarbeiter/innen: Überlegen Sie bitte immer sehr gut, wo Sie solche<br />

<strong>Kind</strong>er unterbringen.<br />

In der ersten Minute sind natürlich sofort alle Verwandten zur Stelle. Die sagen, selbstverständlich<br />

nehmen wir das <strong>Kind</strong> zu uns, keine Frage, das bin ich meiner Schwester<br />

schuldig, oder Ähnliches. Das hört sich zwar sehr gut an, aber oft ist eine andere Lösung<br />

besser. Und manchmal ist es auch meine Aufgabe gewesen, diesen Menschen zu sagen,<br />

sie dürfen Tante oder sie dürfen Oma bleiben, aber es ist gescheiter, das <strong>Kind</strong><br />

kommt ins <strong>Kind</strong>erdorf.<br />

Ich hatte da zum Beispiel eine Frau, die selbst vier kleine <strong>Kind</strong>er hatte und dann drei<br />

kleine dazu nehmen hätte wollen!<br />

Es geht ja nicht „nur“ darum, dieses <strong>Kind</strong> bei sich aufzunehmen. Es geht vor allem auch<br />

darum, es zu begleiten.<br />

Jürgen k<strong>am</strong> zur Schwester seiner toten Mutter und musste noch eine Reihe von<br />

Trennungen (Schulwechsel, Scheidung von Onkel und Tante etc.) und weiteren psychische<br />

Traumen durch die Gesellschaft erleben.<br />

(Mehr über Jürgens Geschichte lesen Sie im zweiten Teil der Dokumentation, Seite 63).<br />

Zeichnungen von <strong>Kind</strong>ern dürfen zwar nicht überbewertet werden, trotzdem geben sie<br />

uns oft einen guten Einblick in den momentanen Sinneszustand. Deshalb möchte ich<br />

Ihnen zum Abschluss noch erzählen, was Jürgen gezeichnet hat.<br />

Waren seine Zeichnungen <strong>am</strong> Anfang eigentlich nur ein schwarzes Bild, so zeichnete er<br />

nach einem Jahr einen Kaiseradler. Warum? – Weil er sich in einen Kaiseradler verwandeln<br />

lassen will, denn der steht unter Naturschutz, und dann kann ihm nie wieder etwas<br />

passieren!<br />

Bei richtiger Begleitung können die Ressourcen und Stärken eines <strong>Kind</strong>es auch bei den<br />

ärgsten Traumen wieder geweckt werden. Und in diesem Sinne wollen wir weiter arbeiten!


2. Enquete<br />

ES IRRT DER MENSCH,<br />

SOLANG ER STREBT<br />

<strong>Psychische</strong><br />

<strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong><br />

Moderation:<br />

Barbara Urban, ORF<br />

6. Oktober 2000, 10 Uhr<br />

Hofburg, Großer Redoutensaal<br />

1010 Wien, Josefsplatz


<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />

ist sicherlich jene <strong>Gewalt</strong>form, die <strong>am</strong> häufigsten auftritt. Zum einen tritt sie immer als Begleiterscheinung bei<br />

jeder Form körperlicher und sexueller <strong>Gewalt</strong> auf; zum anderen haben zusätzlich viele <strong>Kind</strong>er – ohne körperlich<br />

betroffen zu sein – unter psychischer <strong>Gewalt</strong>, sei es im Elternhaus, sei es im sozialen Umfeld, zu leiden.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> hinterlässt keine körperlichen Spuren und ist daher schwer festzustellen und zu beweisen.<br />

Oftmals werden extrem „brave“ <strong>Kind</strong>er nicht als „Opfer“ wahr genommen, sondern finden sogar noch die<br />

Anerkennung der erzieherischen Leistung ihrer Eltern in einer immer noch autoritär denkenden Gesellschaft.<br />

Auch das Verhalten der Eltern in Scheidungssituationen kann zu psychischer Misshandlung führen, wenn<br />

z.B. <strong>Kind</strong>er zum Mittelpunkt juristischer Auseinandersetzungen werden, um elterliche Machtinteressen durchzusetzen.<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> kommt aber auch in Institutionen vor oder kann durch institutionelles Handeln ausgelöst<br />

werden.<br />

Auch zwischen <strong>Kind</strong>ern/Jugendlichen gibt es diese Form der <strong>Gewalt</strong> – Schlagworte, wie „Bullying“ oder<br />

„Mobbing“ sind in letzter Zeit laut geworden.<br />

Ziel der Enquete war es, das Spannungsfeld Schutz bzw. Gefahr durch die F<strong>am</strong>ilie versus Schutz bzw. Gefahr<br />

durch Institutionen bei psychischer <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong> zu beleuchten.<br />

Titel und Überschrift in Anlehnung an:<br />

Johann Wolfgang von Goethe: Faust


Inhaltsverzeichnis Enquetes 2<br />

„Der Menschheit ganzer J<strong>am</strong>mer faßt mich an“ Seite 158<br />

„<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> aus der Gesellschaft: Der Kreis wird enger“<br />

Dr. Werner Leixnering<br />

Ärztlicher Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie<br />

an der OÖ Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz<br />

„Heinrich! Mir graut’s vor dir!“ Seite 162<br />

„Traumatisierung und Gesellschaft“<br />

Dr. Gertrude Bogyi<br />

Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des <strong>Kind</strong>es- und Jugendalters, Wien<br />

„Erbarme dich und lass’ mich leben“ Seite 168<br />

„Scheidung – psychische <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern?“<br />

Dr. Harald Werneck<br />

Institut für Entwicklungspsychologie, Universität Wien<br />

„Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Seite 175<br />

Geduld will bei dem Werke sein“<br />

„Eltern als Begleiter in schwierigen Zeiten“<br />

Dr. Luitgard Derschmidt<br />

Forum Beziehung, Ehe und F<strong>am</strong>ilie der Katholischen Aktion Österreich<br />

„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ Seite 182<br />

„Der Eingriff von Außen – ein zusätzliches Trauma?“<br />

Dr. Reinhard Neumayer<br />

Amt der NÖ Landesregierung, Abt. Jugendwohlfahrt<br />

„Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“ Seite 190<br />

„Schule – ein Ort der Tat“<br />

Dir. Gertraud Schimak/Mag. Dagmar Friedl<br />

Rudolf-Ekstein-Zentrum, Wien<br />

„Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor“ Seite 196<br />

„Entlastungsstrukturen“<br />

Dr. Stefan Allgäuer<br />

Institut für Sozialdienste, Vorarlberg<br />

„Das Gute liegt uns oft so fern“ Seite 104<br />

„Prognose versus Vorurteil: Stolperstein der Prävention“<br />

2 Fallbeispiele<br />

Dr. Eva Traindl<br />

Niedergelassene Fachärztin für <strong>Kind</strong>er- und Jugendheilkunde, Wien


Wir dürfen ruhig<br />

hinschauen, wenn<br />

wir uns irren.<br />

Psychosomatik:<br />

Wenn psychische<br />

<strong>Gewalt</strong> ausgeübt<br />

wird, kann sie sich<br />

bei <strong>Kind</strong>ern körperlich<br />

äußern. Können<br />

wir uns also körperliche<br />

Symptome<br />

organisch nicht<br />

erklären, müssen wir<br />

an die Möglichkeit<br />

erlittener psychischer<br />

<strong>Gewalt</strong><br />

denken.<br />

58<br />

„Der Menschheit ganzer J<strong>am</strong>mer<br />

faßt mich an“<br />

„<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> aus der Gesellschaft:<br />

Der Kreis wird enger“<br />

Referent: Dr. Werner Leixnering<br />

„Es irrt der Mensch, solang er strebt“, so lautet der Übertitel dieser Enquete. Wenn wir<br />

diesen Satz genauer betrachten, ein wenig umdrehen, dann heißt das ja eigentlich auch:<br />

Wir dürfen uns irren. Und das heißt wiederum auch: Wir dürfen ruhig hinschauen, wenn<br />

wir uns irren. Dass wir also hinschauen dürfen, ja sogar sollen, scheint ein Faktum zu<br />

sein, das uns gerade beim Phänomen der psychischen <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern (übrigens<br />

auch an Erwachsenen) durchaus verfolgen sollte. Ich sage bewusst „verfolgen“ sollte,<br />

weil verfolgen kann auch bedeuten, etwas immer im Fokus zu haben.<br />

Ich würde aber auch sagen, es ist eine Tatsache, die uns immer „begleiten“ darf. Denn,<br />

wenn wir wirklich hinschauen und dadurch erkennen, dass wir uns irren, haben wir möglicherweise<br />

schon einen Ansatz der Veränderung in der Hand.<br />

Der zweite Titel, den ich hier ansprechen möchte, lautet: „Der Menschheit ganzer<br />

J<strong>am</strong>mer fasst mich an“. Und auch dieses berühmte Zitat möchte ich ein wenig näher betrachten.<br />

„Der Menschheit ganzer J<strong>am</strong>mer fasst uns an.“ Da steht nicht, der „sieht“ uns an oder<br />

der „ruft“ uns etwas zu, nein „fasst“ uns an. Und alle, die mit <strong>Kind</strong>ern arbeiten, wissen,<br />

welch wesentliche Bedeutung wir in den letzten Jahren all dem geschenkt haben, was<br />

etwas mit dem unmittelbaren Berühren von <strong>Kind</strong>ern zu tun hat. Das heißt, wenn uns dieser<br />

J<strong>am</strong>mer gleichs<strong>am</strong> bewegen soll, dann muss er uns anfassen. Das heißt aber auch<br />

– und das wissen auch wieder alle, die mit dem taktilen und sensomotorischen Bereich<br />

zu tun haben –, dass man bereit und imstande sein muss, sich anfassen zu lassen.<br />

Aber „der Menschheit ganzer J<strong>am</strong>mer“ fasst auch die betroffenen <strong>Kind</strong>er und Jugendlichen<br />

an, wenn es um psychische <strong>Gewalt</strong> geht. Denn wenn psychische <strong>Gewalt</strong> ausgeübt<br />

wird, egal ob sie jetzt von unmittelbaren Bezugspersonen oder aus der Gesellschaft<br />

kommt, kann sie sich bei <strong>Kind</strong>ern körperlich äußern.<br />

Die Psychosomatik spielt hier also eine große Rolle. Deshalb müssen wir bei <strong>Kind</strong>ern,<br />

die an körperlichen Phänomenen leiden, die wir uns organisch nicht gut erklären können,<br />

an die Möglichkeit erlittener psychische <strong>Gewalt</strong> denken, wie in der ersten Enquete<br />

zu diesem Thema schon kurz dargestellt wurde. (ð Hinweis auf Seite 9)<br />

Wir haben bei der letzten Enquete schon darüber gesprochen, dass die Grenzen zwischen<br />

Erziehungspraktiken, die sich des Prinzips der Strafe bedienen, und psychischer<br />

<strong>Gewalt</strong> oftmals fließend sind. Das ist ein Problem, mit dem wir uns immer wieder befassen<br />

und auseinandersetzen müssen.<br />

Und genau das Problem dieser fließenden Grenzen sollte uns wahrscheinlich besonders<br />

dazu anregen, immer daran zu denken, dass wir uns auch irren können.<br />

Eine Erziehungsmaßnahme kann eben auch irrtümlich erfolgt sein, und das müssen und<br />

können wir auch zugeben und uns eingestehen – als Eltern, als Lehrer, als Bezugspersonen.<br />

Die Wurzel des Übels<br />

Wenn wir uns nicht nur mit dem Phänomen der psychischen <strong>Gewalt</strong> innerhalb der<br />

F<strong>am</strong>ilie befassen, sondern die Problematik etwas weiter beleuchten, dann müssen wir<br />

uns die Frage stellen: Wie geht die Gesellschaft mit Eltern um, die dann wieder mit<br />

<strong>Kind</strong>ern „umgehen“? Oder: Wie geht die Gesellschaft überhaupt mit jenen Personen –


das müssen ja gar nicht immer nur die Eltern sein – um, die dann wieder mit <strong>Kind</strong>ern<br />

„umgehen“?<br />

Müssen wir nicht dort ein wenig nachforschen, wenn wir uns die Wurzeln der psychischen<br />

<strong>Gewalt</strong> ansehen möchten?<br />

Ist nicht auch ein wesentlicher Punkt, wie Erwachsene mit Erwachsenen umgehen, was<br />

<strong>Kind</strong>er dann natürlich miterleben, mitbekommen? Und ist dieses Mitbekommen nicht wesentlich<br />

mehr also nur das Sehen, das Hören, das Spüren? Ist das nicht auch etwas<br />

Seelisches an sich, ein psychischer, ein emotionaler Akt?<br />

Noch ein Punkt scheint mir besonders beachtenswert zu sein: der Umgang von <strong>Kind</strong>ern<br />

mit <strong>Kind</strong>ern!<br />

Wenn man sich in der Literatur umschaut und Beschreibungen, Bemerkungen und<br />

Erfahrungen s<strong>am</strong>melt, so sieht man, dass wir in einer Zeit leben, in der wir sehr darauf<br />

achten, <strong>Kind</strong>ern rechtzeitig Autonomie zu geben, <strong>Kind</strong>ern rechtzeitig Selbstständigkeit<br />

zu geben, <strong>Kind</strong>ern rechtzeitig zu ihrem Recht zu verhelfen. Das bedeutet natürlich auch,<br />

dass <strong>Kind</strong>er relativ früh selbstständig miteinander „umgehen“, also in Interaktion treten.<br />

<strong>Kind</strong>er gehen heute auch vielleicht autonomer miteinander um, als das früher der Fall<br />

war, da nicht so schnell jemand von Außen eingreift. Das bedeutet aber auch, dass wir<br />

viel früher darauf achten müssen, wie die <strong>Kind</strong>er miteinander umgehen.<br />

Also nicht nur Erwachsene gehen mit <strong>Kind</strong>ern um, sondern auch <strong>Kind</strong>er, auch junge<br />

Menschen gehen miteinander um.<br />

Phänomen Bullying<br />

In diesem Zus<strong>am</strong>menhang ist leider das Phänomen des „Bullying“ anzusprechen, jenes<br />

Phänomen, das man vielleicht mit schikanieren, quälen, sekkieren, malträtieren usw.<br />

übersetzen kann. Und dazu gibt es seit den 80er Jahren erste Untersuchungen, die dann<br />

in verschiedenen Ländern in verschiedenen Formen repliziert wurden.<br />

Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass Bullying weit verbreitet ist.<br />

Es gibt Daten, die darauf hinweisen, dass in Schulklassen – dort wurden die ersten<br />

Untersuchungen durchgeführt – im internationalen Mittel etwa 5 bis 10 % der <strong>Kind</strong>er und<br />

Jugendlichen von diesem Phänomen betroffen sind. Und zwar nicht nur als Täter, sondern<br />

auch als Opfer. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass sich die Relation Täter –<br />

Opfer etwa deckt; es gibt andere Ergebnisse, die mehr Täter und weniger Opfer ausweisen.<br />

Das methodische Problem all dieser Untersuchungen ist, dass man auf Befragungen angewiesen<br />

ist und dadurch natürlich auch subjektive Momente der Antworten berücksichtigen<br />

muss, die das Ergebnis sehr stark beeinflussen können.<br />

Faktum ist aber, dass wir uns mit diesem Phänomen auseinander setzen müssen. Faktum<br />

ist weiters, dass wir es vor allem deshalb mit diesem Phänomen zu tun haben, weil die<br />

Methoden, mit denen heute <strong>Gewalt</strong>, auch psychische <strong>Gewalt</strong>, ausgeübt wird, viel subtiler<br />

werden. Und subtiler werden bedeutet, dass wir in Zukunft genauer hinsehen müssen.<br />

„<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> aus der Gesellschaft –<br />

der Kreis wird enger“<br />

Nun noch ein paar Worte zur Entstehung psychischer <strong>Gewalt</strong>. Stellen wir uns jetzt dem<br />

Titel: Wann wird denn der Kreis enger? Wodurch wird er enger?<br />

Durch Verrohung! Verrohung der Sprache ist dabei ein sehr wichtiges Phänomen. Er wird<br />

auch enger durch Verherrlichung von <strong>Gewalt</strong> in jeder Art. Er wird aber auch enger durch<br />

Einschränkung basaler Lebensbedürfnisse, durch Einschränkung der Entwicklungschancen,<br />

durch Einschränkung des Rechts auf einen Platz in der Gesellschaft. Da geht<br />

es bei <strong>Kind</strong>ern um Plätze in Gruppen. Da geht es bei Jugendlichen schon zunehmend<br />

um Arbeitsplätze, da geht es um Fragen der Existenzsicherung für das ganze Leben.<br />

Ein wesentlicher<br />

Punkt ist, wie<br />

Erwachsene mit<br />

Erwachsenen umgehen,<br />

denn <strong>Kind</strong>er<br />

lernen davon.<br />

Bullying:<br />

„Eine Person wird<br />

„gebulliet“ oder<br />

viktimisiert, wenn<br />

sie wiederholt und<br />

über längere Zeit<br />

hinweg negativen<br />

Handlungen durch<br />

eine oder mehrere<br />

Personen ausgesetzt<br />

ist. Eine negative<br />

Handlung findet<br />

statt, wenn jemand<br />

absichtlich einer<br />

anderen Person<br />

Verletzungen oder<br />

Unannehmlichkeiten<br />

zufügt oder zuzufügen<br />

versucht.<br />

„Bullying“ oder<br />

Viktimisierung ist<br />

nicht gegeben, wenn<br />

zwei Personen vergleichbarer<br />

Stärke<br />

streiten oder<br />

kämpfen“ (nach<br />

OLWEUS, 1992 und<br />

SCHUSTER, 1999).<br />

Die Verrohung der<br />

Sprache ist im<br />

Zus<strong>am</strong>menhang mit<br />

psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

ein sehr wichtiges<br />

Phänomen.<br />

59


Der Kreis wird auch<br />

enger, wenn man<br />

sich emotional nicht<br />

mehr Luft machen<br />

kann. Was in der<br />

Einzelpsychotherapie<br />

gewünscht<br />

ist, muss auch – in<br />

adäquater Weise – in<br />

Gemeinschaften<br />

möglich sein.<br />

<strong>Kind</strong>er können<br />

Druck nicht adäquat<br />

verarbeiten. Sie<br />

geben den Druck<br />

weiter – an<br />

Gleichaltrige, an<br />

Jüngere und auch an<br />

Erwachsene.<br />

60<br />

Es geht aber auch darum, dass der Kreis enger wird, wenn man sich emotional nicht<br />

mehr Luft machen kann.<br />

Was in der Einzelpsychotherapie gewünscht ist, muss auch – in adäquater Weise – in<br />

Gemeinschaften möglich sein.<br />

Wir sprechen so gern von diesem Schlagwort „den Gürtel enger schnallen“. Ich frage Sie<br />

einmal: Wie würde es Ihnen mit einem Gürtel gehen, bei dem Sie überhaupt kein Loch<br />

mehr finden, an dem Sie die Schnalle einklinken könnten?<br />

Da ist man dann sehr hilflos in der einen, aber auch in der anderen Richtung. Wie schaut<br />

es also mit der Orientierung aus, mit den Zielen, mit den Schritten, wenn Gürtel enger<br />

geschnallt werden müssen? Transportieren wir sie? Ist das nicht auch psychische<br />

<strong>Gewalt</strong>, wenn wir „Gürtel ohne Löcher“ produzieren?<br />

Und das spielt für <strong>Kind</strong>er, die sich viel schwerer tun, Perspektiven zu erfassen, zu erkennen,<br />

eine sehr große Rolle. Wir sind hier also in einem gewissen Sinn wieder auch<br />

beim Problem der Grenzenlosigkeit. Sie wissen alle, dass wir vor 20, 30 Jahren Begriffe<br />

wie „die totale Institution“ sehr stark frequentiert haben. Wir haben daraus sehr viel gelernt.<br />

Wir haben sehr viel verändert, und wir haben erfasst, welche Handlungsräume<br />

Menschen brauchen. Heute, glaube ich, müssen wir uns zunehmend mehr auch bei<br />

<strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen mit der Frage auseinander setzen, ob unterschiedliche<br />

Individuen, unterschiedliche <strong>Kind</strong>er und Jugendliche vielleicht auch unterschiedliche<br />

Handlungs- und Erlebnisräume brauchen.<br />

Ich glaube, wir müssen lernen, mehr als bisher unterschiedliche Stile in der Erziehung,<br />

im Umgang mit <strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen anzuwenden.<br />

Die Folgen psychischer <strong>Gewalt</strong> aus der Gesellschaft<br />

Was sind denn die Folgen?<br />

Erstens: <strong>Kind</strong>er können Druck nicht adäquat verarbeiten. Das führt zu Verdrängung. Das<br />

führt zu Verleugnung. Das führt zu einer Reihe von psychopathologischen Phänomenen,<br />

die sich zum Teil in psychosomatischen Symptomen äußern können. Es geht da oft um<br />

einen Teufelskreis, der entsteht, wenn <strong>Kind</strong>er primär schon beeinträchtigt sind. Das<br />

Phänomen der psychischen <strong>Gewalt</strong> aus der Gesellschaft wird vor allem auch bedrohlich<br />

für <strong>Kind</strong>er, die von sich aus ungünstigere Voraussetzungen haben.<br />

Zweitens: <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> in der Gesellschaft führt dazu, dass <strong>Kind</strong>er diese psychische<br />

<strong>Gewalt</strong> unter Erwachsenen miterleben. Zumeist imitieren sie dieses Verhalten<br />

dann unkritisch und unreflektiert, ohne genau zu verstehen, was da überhaupt passiert.<br />

Und letztens: <strong>Kind</strong>er geben Druck weiter, und das müssen wir uns immer vergegenwärtigen.<br />

Sie geben den Druck an Gleichaltrige, an Jüngere, aber unter Umständen auch<br />

an Erwachsene weiter.<br />

Und das ist ein Phänomen, dem wir in der klinischen Psychologie und in der<br />

Psychopathologie immer mehr ausgesetzt sind, dass <strong>Kind</strong>er, die sehr stark traumatisiert<br />

wurden, ihrerseits nicht nur <strong>Kind</strong>er, sondern auch Erwachsene wieder psychisch traumatisieren<br />

können – natürlich nicht bewusst, aber es entsteht ein Teufelskreis. Das sind<br />

also neue Phänomene, mit denen wir uns auseinander setzen müssen!<br />

Schnelllebigkeit und Leistungsdruck<br />

Zum Schluss möchte ich ein wenig zus<strong>am</strong>menfassen: Wir leben in einer Zeit, die durch<br />

Schnelllebigkeit, Komplexität und Veränderungsdruck gekennzeichnet ist, und dies stellt<br />

an junge Menschen generell hohe Anforderungen. Sie müssen sich sehr rasch auf<br />

Neues, Anderes, Unerwartetes einstellen, ebenso wie wir weiterhin von ihnen oft<br />

Verständnis für Gehütetes und Geschütztes erwarten.<br />

Die <strong>Kind</strong>ern zwar im besonderen Maße eigene Fähigkeit zu Entwicklung und Anpassung<br />

– und d<strong>am</strong>it zur Änderung des eigenen Verhaltens – droht auf diese Weise dennoch oft<br />

überfordert zu werden, und dann kann Veränderungslust in Veränderungsfrust enden.


Die Methoden, mit denen Erwachsene die ihnen anvertrauten jungen Menschen sich und<br />

den anderen anpassen wollen, anpassen müssen – vielleicht manchmal auch anpassen<br />

dürfen oder zu dürfen glauben –, werden immer subtiler. Dieser Tatsache müssen wir<br />

uns stellen.<br />

Phänomene des seelisch überfordernden, ja schadenden Gruppendrucks lassen sich<br />

heute mehr und mehr beobachten und stehen zunehmend im Widerspruch zu den in unseren<br />

Tagen als selbstverständlich anerkannten erzieherischen Werten der Toleranz und<br />

Akzeptanz.<br />

Die Gefahr des „Überbordens“ psychischer <strong>Gewalt</strong> ist also allgegenwärtig in einer Zeit,<br />

in der Leistung nicht nur gefordert, sondern mehr noch evaluiert, taxiert und relativiert<br />

wird. Die Angst, selbst in diesem Prozess unter die Räder zu kommen, mobilisiert in oft<br />

erschreckend hohem Ausmaß Kräfte seelischer <strong>Gewalt</strong>, deren Folgen erst viel später zu<br />

erfassen und schwer zu mildern sind.<br />

Wir alle, meine D<strong>am</strong>en und Herren, sind fähig, psychischer <strong>Gewalt</strong> entgegenzuwirken,<br />

sofern wir ihrer nicht nur schaudernd harren, sondern frühen Anfängen und frühen<br />

Gefahren des Psychoterrors klug und konsequent entgegentreten.<br />

Die <strong>Kind</strong>ern im<br />

besonderen Maße<br />

eigene Fähigkeit zu<br />

Entwicklung und<br />

Anpassung droht<br />

überfordert zu werden,<br />

und dann kann<br />

Veränderungslust in<br />

Veränderungsfrust<br />

enden.<br />

61


62<br />

„Heinrich! Mir graut’s vor Dir!“<br />

„Traumatisierung und Gesellschaft“<br />

Referentin: Dr. Gertrude Bogyi<br />

Das Gretchen sagt in der Kerkerszene zu Faust: „Heinrich, mir graut’s vor dir“.<br />

Wer ist der Faust? Wer ist das Gretchen, und wovor graut’s?<br />

Ich hoffe, dass meine Ausführungen Ihnen das ein wenig klarer machen können.<br />

Was ist psychische Traumatisierung?<br />

Unter psychischer Traumatisierung verstehen wir eine seelische Verwundung, und zwar<br />

einerseits durch ein plötzliches und unerwartetes Ereignis, das unvorhersehbar ist und<br />

außerhalb der normalen Lebenserfahrung geschieht, also z.B. Missbrauch, Misshandlung,<br />

plötzlicher Verlust, Unfall, Katastrophen. Charakteristisch, dass dies sowohl<br />

bei <strong>Kind</strong>ern als auch bei Erwachsenen ein extremes Gefühl der Hilflosigkeit hervorruft.<br />

Andererseits sprechen wir auch von Traumatisierungen, wenn es sich um lang andauernde,<br />

chronische traumatische Erfahrungen handelt, die die ges<strong>am</strong>te Entwicklung des<br />

<strong>Kind</strong>es von früh an beeinflussen. Walter Spiel hat dazu den Begriff „Persönlichkeitsentwicklungsstörungen“<br />

geprägt. Das kann etwa eine Vernachlässigung oder aber auch<br />

eine psychische oder psychiatrisch schwere Erkrankung der Elternteile sein, die sich auf<br />

die Entwicklung der <strong>Kind</strong>er auswirken.<br />

Nun noch einmal kurz zur Definition „psychische Traumatisierung“.<br />

Es geht um ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und<br />

den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten. Gefühle von Hilflosigkeit und schutzloser<br />

Preisgabe werden ausgelöst, und es kommt zu einer Erschütterung des Selbst- und<br />

Weltverständnisses. Freilich gibt es eben, wie schon genannt, eine große Bandbreite<br />

traumatischer Situationen und Situationskonstellationen, sodass sich kein einheitliches<br />

Trauma-Syndrom feststellen lässt.<br />

Dennoch hat Walter Spiel bereits im Jahre 1974 vom so genannten „Psychogenen<br />

Schocksyndrom“ gesprochen.<br />

Es äußert sich als Reaktion auf ein traumatisches Ereignis durch Panikreaktion,<br />

Fluchttendenzen, Angstreaktionen bis hin zur Apathie. Es erfolgt dann eine Phase der<br />

aktiven Verdrängung gegen die Bewusstmachung der Ereignisse und eine Bearbeitung<br />

in der Fantasie. Erst 6 Monate bis 1 Jahr danach, manchmal auch noch später, kommt<br />

es zur Symptombildungen und erst danach ist eine Bearbeitung der Realität möglich. (ð<br />

Siehe auch Seite 52, 53)<br />

Heute spricht man einerseits von der „akuten Belastungsreaktion“, andererseits von der<br />

„posttraumatischen Belastungsstörung“.<br />

Akute Belastungsreaktion: vorübergehende Störung, meist bis 3 Tage nach dem<br />

Ereignis. Nach anfänglichem Zustand der Betäubung werden Depression, Angst, Ärger,<br />

Verzweiflung, Überaktivität und Rückzug beobachtet. Kein Symptom ist längere Zeit<br />

vorherrschend.<br />

Posttraumatische Belastungsstörung: verzögerte Reaktion auf belastendes Ereignis,<br />

selten mehr als 6 Monate nach dem Ereignis. Gekennzeichnet durch Symptomtrias: sich<br />

aufdrängende Erinnerungen, Vermeidung von Situationen, die an das Trauma erinnern,<br />

vegetative Übererregtheit.


Die posttraumatische Belastungsstörung<br />

und ihre Erscheinungsformen bei <strong>Kind</strong>ern<br />

Eine Vielfalt von Symptomen kann auftreten, die auf eine Traumabelastung zurückführen<br />

sind: Rückzug, Angst, Misstrauen, aber auch Konzentrationsstörungen, Leistungsstörungen,<br />

Schlafstörungen, immer wiederkehrende Albträume, psychosomatische<br />

Störungen aller Art und vor allem auch selbstschädigende Verhaltensweisen. Das heißt,<br />

oft wird das aggressive Trauma dann eben gegen sich selbst gerichtet. Bei Jugendlichen<br />

kommen noch oftmals eine Drogenproblematik, sehr häufig auch Selbstmordversuche,<br />

sexuelle Straftaten und vor allem soziale Anpassungsstörungen dazu.<br />

Eine psychische Traumatisierung ist eine das <strong>Kind</strong> in seiner psychischen Entwicklung<br />

überfordernde Lebenserfahrung, der es wehrlos, hilflos und unentrinnbar ausgeliefert ist.<br />

Starke innere und äußere Eindrücke überfluten die innere Wahrnehmung des <strong>Kind</strong>es und<br />

führen zu einer massiven Entwicklungsbeeinträchtigung, und das – dies sei jetzt<br />

nochmals betont – auf jeder Entwicklungsstufe. Angenommen, ein Trauma passiert einem<br />

kleinen <strong>Kind</strong>, dann muss dieses <strong>Kind</strong> dieses Trauma in allen Entwicklungsstufen<br />

neu und auf einem anderen Entwicklungsniveau bearbeiten.<br />

Wie wird nun die Entwicklung weiterverlaufen? Dies hängt einerseits von der<br />

Ges<strong>am</strong>tpersönlichkeit des <strong>Kind</strong>es ab, von der Persönlichkeitsstruktur, von den vorhandenen<br />

Abwehrmechanismen, von der Art und den Begleitumständen des Traumas, von<br />

der Reaktivierung des Traumas, aber vor allem – und d<strong>am</strong>it bin ich beim heutigen Thema<br />

– vom sozialen Umfeld und d<strong>am</strong>it auch von der Reaktion der Gesellschaft.<br />

Jürgen<br />

Ich möchte Ihnen nun anhand eines Extrembeispieles erläutern, was ich meine.<br />

Sie erinnern an die Geschichte von Jürgen (Siehe S. 52), der als 6-Jähriger miterleben<br />

musste, wie sein Vater seine Mutter und seine Großmutter ermordete, indem er ihnen<br />

mit einer Glasscherbe die Kehle durchgeschnitten hat. Der Vater versuchte auch Jürgen<br />

zu töten, hatte aber dann offensichtlich eine Tötungshemmung, und somit blieben nur<br />

leichte Kratzspuren. Anschließend beging der Vater Selbstmord.<br />

Jürgen war drei Jahre bei uns in Therapie und wurde dann nach und nach auch von uns<br />

entlassen. Er wurde bei der Schwester seiner Mutter und deren Mann untergebracht. Und<br />

er blieb natürlich auch an der Klinik in Weiterbehandlung.<br />

Und jetzt komme ich dazu, warum ich den Titel eigentlich gewählt habe.<br />

Zwei Jahre nach der Entlassung bei uns k<strong>am</strong> Jürgen plötzlich wieder zu mir. Er war in<br />

einer höchsten Paniksituation, denn er war nochmals in eine massive Schocksituation<br />

geraten.<br />

Er war mittlerweile in der 2. Volksschulklasse, und es hatte sich dort herumgesprochen,<br />

dass sein Vater ein Mörder war.<br />

Die Eltern einiger Mitschüler von Jürgen gingen daraufhin in die Schule und verlangten<br />

von der Lehrerin darauf zu achten, dass ihr <strong>Kind</strong> keinesfalls neben Jürgen sitzt. Denn es<br />

wollte niemand, dass sein <strong>Kind</strong> neben dem „Mörderkind“ zu sitzen kommt.<br />

Die Lehrerin hat nun, obwohl sie eigentlich eine wirklich bemühte, engagierte Lehrerin<br />

war, Jürgen tatsächlich allein in die letzte Reihe gesetzt.<br />

Jürgen saß jetzt also alleine in der letzten Bank, und was glauben Sie, was er getan hat?<br />

Er begann mit allem möglichen wie Radiergummi, Bleistift, Zirkel usw. nach vorne zu<br />

schießen. Es war seine einzige Möglichkeit, mit den Anderen in Interaktion zu treten, auf<br />

sich aufmerks<strong>am</strong> zu machen. Und dann ist er zus<strong>am</strong>mengebrochen.<br />

Bei mir in der Therapie hat er auf meine Frage „Jürgen, wie geht es dir?“ Tränen gezeichnet.<br />

Er hat mir gesagt: „So wie der Himmel weint, wein auch ich.“<br />

Wir haben uns darauf hin die alten Zeichnungen, die er zwei Jahre zuvor gezeichnet<br />

hatte, angesehen und mit den jetzigen verglichen.<br />

Eine psychische<br />

Traumatisierung ist<br />

eine das <strong>Kind</strong> in<br />

seiner psychischen<br />

Entwicklung überfordernde<br />

Lebenserfahrung,<br />

der es wehrlos, hilflos<br />

und unentrinnbar<br />

ausgeliefert ist.<br />

Starke innere und<br />

äußere Eindrücke<br />

überfluten die innere<br />

Wahrnehmung des<br />

<strong>Kind</strong>es und führen<br />

zu einer massiven<br />

Entwicklungsbeeinträchtigung<br />

auf jeder<br />

Entwicklungsstufe.<br />

Die Reaktion der<br />

Gesellschaft nimmt<br />

massiven Einfluss<br />

auf die Entwicklung<br />

traumatisierter<br />

<strong>Kind</strong>er.<br />

Als Jürgen acht<br />

Jahre war, musste er<br />

die Schule wechseln.<br />

Der Grund dafür:<br />

Niemand wollte<br />

neben dem<br />

„Mörderkind“ sitzen.<br />

Hier ist es wieder zu<br />

psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

gekommen. Die<br />

Umwelt hat Jürgens<br />

neue F<strong>am</strong>ilie gemieden,<br />

die Lehrerin hat<br />

ihn in die letzte Bank<br />

gesetzt. Es war eine<br />

so verfahrene<br />

Situation, dass er die<br />

Schule wechseln<br />

musste. Dabei wäre<br />

es gerade in so einer<br />

Situation ganz<br />

besonders wichtig,<br />

dass es nicht noch zu<br />

weiteren Trennungen<br />

kommt.<br />

63


Martin sagt: „Wir<br />

sind eine schlechte<br />

F<strong>am</strong>ilie“ und hat ununterbrochen<br />

Angst,<br />

bereits wegen einer<br />

nicht gemachten<br />

Hausübung auch<br />

ins Gefängnis zu<br />

müssen.<br />

64<br />

Als wir die Differenziertheit der alten Zeichnungen und sein neues Stimmungsbild verglichen<br />

haben, k<strong>am</strong>en wir zu dem Schluss, dass Jürgen einfach nicht in seiner jetzigen<br />

Schulklasse verbleiben kann. Der emotionale und gesellschaftliche Druck war dort einfach<br />

zu groß für ihn. Er hätte dort keine Chance mehr gehabt, obwohl ich sonst immer<br />

der Meinung bin, dass bei so schweren Verlusterlebnissen und Trennungserlebnissen<br />

wenigstens irgend etwas stabil gehalten werden muss, aber in diesem Fall war es zu spät.<br />

Wir konnten ihn dann in eine neue Klasse eingliedern. Wir bemühten uns, noch bessere<br />

Vorbereitungsarbeit zu leisten, wir sprachen im Vorhinein mit den Eltern und Lehrer/innen.<br />

Dass unsere Arbeit schlussendlich Früchte getragen hat, zeigt sich auch an den<br />

Zeichnungen, die Jürgen dann im Lauf der Zeit noch angefertigt hat.<br />

Es waren zwar nach wie vor infantile, nicht so differenzierte Zeichnungen wie vor dieser<br />

neuen Traumatisierung. Trotzdem haben die Bilder dann irgendwann wieder lebendiger<br />

ausgesehen, und somit war es auch in Jürgen wieder lebendiger.<br />

Mit fünfzehn haben sich dann Jürgens Tante und Onkel scheiden lassen, und dann<br />

„konnte“ Jürgen nur mehr Mistkübel anzünden, konnte nur mehr so rebellieren. Er ist kriminell<br />

auffällig geworden, hatte also sehr viel mit der Polizei zu tun und hat dann sogar<br />

ein Moped gestohlen.<br />

Zum Glück sagte er d<strong>am</strong>als bei der Polizei: „Ich will jetzt zur Bogyi und nirgendwo anders<br />

hin“, und er wurde auch tatsächlich zu mir gebracht. So konnte das dann noch aufgefangen<br />

werden.<br />

An diesem Beispiel sieht man einerseits deutlich, welch schreckliche Traumen <strong>Kind</strong>er<br />

verarbeiten können. Andererseits zeigt es, wie schwer die Gesellschaft es diesen<br />

<strong>Kind</strong>ern macht.<br />

Graus<strong>am</strong>e oder unwissende Gesellschaft?<br />

Ich möchte Ihnen weitere Beispiele dafür bringen, was die Gesellschaft – zum Großteil<br />

wohl aus Unwissenheit und Uninformiertheit heraus – <strong>Kind</strong>ern antut.<br />

Wie der Vater so der Sohn?<br />

Ein 8-jähriger Bub, dessen Vater seine kleine Schwester und die Mutter umgebracht hat,<br />

darf plötzlich nicht mehr seinen Freund besuchen.<br />

Die Mutter des Freundes sagt zu ihm: „Ich habe ja auch drei kleine Mädchen, und ich<br />

habe Angst, dass du sie umbringst.“<br />

Diese Frau hatte sicherlich einfach große Angst, Angst um ihre Töchter, so mag ich ihr<br />

auch keinen Vorwurf machen. Dennoch: Es zeigt deutlich, wie wichtig hier Aufklärung<br />

gewesen wäre.<br />

Väter in Haft<br />

Martin (ð Siehe auch S 50) wiederum war sechs Jahre alt, als er mitansehen musste,<br />

wie der Vater seine Lebensgefährtin erschossen hat. Diese Lebensgefährtin war für das<br />

<strong>Kind</strong> eine Ersatzmutter gewesen. Wenn Martin heute von Schulkollegen gehänselt wird,<br />

weil er immer wieder zu seinem Vater ins Gefängnis fahren muss, dann sagt er: „Wartet’s<br />

nur, bis der Papa herauskommt aus dem Gefängnis, der schlägt euch dann alle nieder.“<br />

Oder er sagt: „Wir sind eine schlechte F<strong>am</strong>ilie“ und hat ununterbrochen Angst, Angst z.B.,<br />

bereits wegen einer nicht gemachten Hausübung auch ins Gefängnis zu müssen.<br />

Ein anderer kleiner Bub, ebenfalls knapp sechs Jahre alt, fürchtet sich wahnsinnig vorm<br />

Schulbesuch, vorm Schuleintritt, weil er nicht weiß, was er der Lehrerin und den anderen<br />

<strong>Kind</strong>ern auf die Frage nach seinem Vater antworten soll, denn der sitzt im Gefängnis.<br />

Dabei hatte er sich so sehr auf die Schule gefreut. Anfangs schwindelte er sich irgendwie<br />

über die Antwort drüber, doch eines Tages kommt die Wahrheit zu Tage. Die Reaktion<br />

darauf ist, dass ihn die anderen <strong>Kind</strong>er nicht mehr einladen (dürfen), dass sie nicht mehr<br />

neben ihm sitzen wollen.


Wenn es die anderen wissen ...<br />

Ich brauche vor diesem Fachgremium nicht zu erläutern, wie es sexuell missbrauchten<br />

<strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen geht, wenn sie irgendwo einmal über ihren Missbrauch erzählt<br />

haben. Sie alle wissen, wie schwer es ihnen dann oft gemacht wird, wie leichtfertig die<br />

Gesellschaft sagt: „Das <strong>Kind</strong> hat sich halt so verhalten, dass das passieren musste“ oder<br />

„Die Jugendliche hat sich ja so angezogen, dass sie ja praktisch selber Schuld ist, dass<br />

das passiert ist.“<br />

Und wie oft es trotz – und da hat ja mein Chef, Professor Friedrich, ja sehr viel dazugeholfen<br />

– kontradiktorischer Befragungen zu für die <strong>Kind</strong>er unmöglichen Fragen kommt,<br />

ist haarsträubend. Die <strong>Kind</strong>er sitzen dann zwar im geschützten Kämmerchen, sind aber<br />

trotzdem zusätzlich einer extremen seelischen <strong>Gewalt</strong> ausgesetzt.<br />

Sie bekommen außerdem noch von der Gesellschaft den Vorwurf, dass sie ihre F<strong>am</strong>ilie<br />

zerstört haben, und, und, und.<br />

Ich glaube, ich brauche da keine weiteren Beispiele aufzuzählen, denn das ist Ihnen<br />

alles bekannt.<br />

Ebenfalls schwere Traumatisierungen erleiden <strong>Kind</strong>er, wenn sich ihre Eltern suizidieren.<br />

Da wird oft viel verheimlicht, den <strong>Kind</strong>ern wird nichts oder nicht alles gesagt, und auch<br />

diese Vorenthaltung der Wahrheit ist eigentlich psychische <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong>.<br />

Diese <strong>Kind</strong>er können, wenn sie dann ins Jugendlichenalter kommen, also etwa mit<br />

13, 14 Jahren, dann nur mehr gegen diese Welt rebellieren.<br />

Wenn die Eltern anders sind<br />

Nun noch einmal kurz – wie eingangs erwähnt – zur Situation von <strong>Kind</strong>ern psychisch und<br />

psychiatrisch kranker Eltern.<br />

Solche <strong>Kind</strong>er sind oft Äußerungen wie: „Dein Vater ist ja ein Narr“ oder „Dein Vater ist<br />

ja in der Klapsmühle“ ausgesetzt. Was macht das mit den <strong>Kind</strong>ern, die ohnehin schon<br />

konstant traumatisiert sind und – wie wir alle wissen – Rollen übernehmen, die eigentlich<br />

die Rollenumkehr darstellen?<br />

<strong>Kind</strong>er alkoholkranker Eltern, schizophrener Eltern, ganz zu schweigen von <strong>Kind</strong>ern von<br />

Eltern mit Drogenproblemen oder aber an Aids erkrankten Eltern – da gibt es ganz massive<br />

Berührungsängste der Gesellschaft, womit die Traumatisierung durch die<br />

Gesellschaft beinhart weitergeht.<br />

Ebenso beinhart ist das Verhalten der Gesellschaft gegen oft schwerst traumatisierten<br />

und noch dazu andersfarbigen <strong>Kind</strong>ern.<br />

Kürzlich erst hatte ich einen 13-jähriger Buben aus Ruanda bei mir, der lange, schwerste<br />

Kriegserfahrung mitgemacht hat. Die Mutter wurde direkt neben ihm auf der Flucht<br />

erschossen. Er wurde dann vom Vater, der schon längere Zeit zwecks Studium in Österreich<br />

weilte, irgendwie nach Österreich gebracht. Und dann ist auch der Vater verstorben.<br />

Wir haben in der Therapie über all das geredet, und plötzlich erzählt er mir, wie er in der<br />

U-Bahn verspottet wurde, weil er ein Schwarzer ist!<br />

„Das passiert mir immer wieder“, sagt das <strong>Kind</strong>. Und wissen Sie, was dieser 13-Jährige<br />

Junge darauf weiter gesagt hat? – „Das muss man überhören“, sagte er mit ganz steinerner<br />

Miene, um sich abzuschotten.<br />

Oder ein 4-jähriges Mädchen aus Nigeria, das bei einer Pflegemutter untergebracht ist<br />

fährt mit dieser in der U-Bahn. Da wird die Pflegemutter vor dem <strong>Kind</strong> als „Dealer-Hure“<br />

beschimpft! Das <strong>Kind</strong> beginnt zu weinen, und niemand der Passagiere stellt sich schützend<br />

davor.<br />

Ich selber hatte einmal so ein ähnliches Erlebnis. Da ging es allerdings um eine türkische<br />

F<strong>am</strong>ilie, wo ein Mann auf ein kleines Mädchen und eine hochschwangere Frau losgegangen<br />

ist, sie furchtbar beschimpft hat. Ich stand dann auf, um mich schützend vor<br />

das <strong>Kind</strong> zu stellen. Ich wurde daraufhin aufs Ärgste beschimpft und war eigentlich auch<br />

darauf gefasst, eine „drüberzukriegen“.<br />

„Die Jugendliche hat<br />

sich ja so angezogen,<br />

dass sie ja praktisch<br />

selber Schuld ist,<br />

dass das passiert ist.“<br />

<strong>Kind</strong>er, deren Eltern<br />

z.B. alkoholkrank,<br />

drogenabhängig, an<br />

AIDS erkrankt oder<br />

deren Eltern psychisch<br />

krank sind,<br />

aber auch <strong>Kind</strong>er,<br />

deren Eltern eine<br />

andere Hautfarbe<br />

haben, werden von<br />

der Gesellschaft<br />

oft beinhart traumatisiert.<br />

65


66<br />

Oder aber ich sitze im Taxi, und <strong>Kind</strong>er spielen auf der Straße. Sie flitzen mit diesen modernen<br />

Rollern über die Straße, und der Taxifahrer sagt: „Na eigentlich tät’ ich sie <strong>am</strong><br />

liebsten gleich niederführen, die brauchen wir eh nicht.“ Er sagte dies, weil es sich um<br />

ausländische <strong>Kind</strong>er handelte. Ich bin sofort an der nächsten Ecke ausgestiegen.<br />

Wenn wir gegen psychische <strong>Gewalt</strong> in der Gesellschaft ankämpfen wollen, dann liegt es<br />

auch an jedem einzelnen von uns, dann müssen wir eben auch Zivilcourage zeigen!<br />

Wenn <strong>Kind</strong>er anders sind<br />

Die Gesellschaft verübt aber auch dort psychische <strong>Gewalt</strong>, wo es um die Verspottung<br />

und Ablehnung von <strong>Kind</strong>ern mit körperlichen Mängeln geht.<br />

Denken wir an <strong>Kind</strong>er, die unter Minderwuchs leiden, denken wir an all die „bösen“ <strong>Kind</strong>er,<br />

denken wir an <strong>Kind</strong>er, die z.B. zu uns an die Klinik kommen und die oft befürchten, wenn<br />

sie dann wieder in die Schule gehen, als „Psycherl“ oder „Behinderte/r“ bezeichnet zu<br />

werden.<br />

In einer Gesellschaft, wo Worte wie „Behinderte/r“ als Schimpfworte verwendet werden,<br />

führt das zu einer weiteren Traumatisierung der Betroffenen.<br />

Denken wir an fremd untergebrachte <strong>Kind</strong>er, in WGs zum Beispiel. Es gibt viele, sagen<br />

wir einmal „schlimme“ Jugendliche, die irgendwo Wände beschmieren oder irgendwas<br />

kaputt machen; wenn aber in diesem Wohnblock eine WG ist, dann sagen alle Bewohner<br />

des Wohnblocks: „Das waren sicher diese acht <strong>Kind</strong>er aus dieser WG-Wohnung.“<br />

Traumatisierung durch Hilflosigkeit<br />

Denken wir aber jetzt noch an die Reaktion der Gesellschaft bei rein natürlichen<br />

Ereignissen, natürlichen Verlusten.<br />

Unlängst war eine Mutter bei mir, deren kleines <strong>Kind</strong> gestorben ist. Sie musste erleben,<br />

dass die Gesellschaft, ihre Umgebung darauf mit Rückzug reagierte.<br />

Und das ist kein bösartiges, sondern das ist ein hilfloses Sichzurückziehen.<br />

Am Tag nachdem ihr <strong>Kind</strong> gestorben war, waren plötzlich keine <strong>Kind</strong>er mehr im Hof.<br />

„Es herrschte Totenstille.“ Diese Mutter erzählt mir, genauso wie auch andere Mütter, die<br />

ihr <strong>Kind</strong> verloren haben, dass sie kaum noch durch das Wohnhaus gehen will, weil dann<br />

plötzlich überall die Türen zugehen und sie sich so ganz eins<strong>am</strong> und alleine fühlt.<br />

Die Türen gehen zu, weil sich keiner traut, mit der Problematik umzugehen.<br />

Auch das ist eine Form von psychischer <strong>Gewalt</strong>.<br />

Und als diese Mutter dann einmal von anderen Eltern gefragt wurde, wie sie ihr helfen<br />

könnten, hat sie nur mehr gebeten: „Bitte seid ganz normal zu mir und lasst die <strong>Kind</strong>er<br />

wieder in den Hof.“<br />

Hier sieht man deutlich, wie oft gut Gemeintes und unsere Angst vor dem Trauma, unsere<br />

Angst vor dem Anderssein, dazu führen, das Trauma zu prolongieren.<br />

Mir graut’s vor Dir!<br />

Was ich d<strong>am</strong>it aufzeigen wollte war, auf welch vielfältige Weise die Gesellschaft<br />

Menschen, <strong>Kind</strong>er zu traumatisieren vermag.<br />

Welchen Platz haben diese <strong>Kind</strong>er in der Gesellschaft, wenn man mehr oder weniger einem<br />

„Mörderkind“ das „Mörderische“ schon voraussagt? Was, wenn so ein <strong>Kind</strong> dann<br />

wie alle anderen gleichaltrigen <strong>Kind</strong>er einmal in der Schulpause rauft und dann sofort<br />

zum „kleinen Mörder“ gestempelt wird? Was macht also die Gesellschaft mit traumatisierten<br />

<strong>Kind</strong>ern, bzw. was müssen dann oft <strong>Kind</strong>er mit dieser Gesellschaft machen?<br />

Wir alle sind die Gesellschaft, und wir alle müssen unermüdlich gegen diese Formen der<br />

psychischen <strong>Gewalt</strong>, der Traumatisierung kämpfen.


Wenn wir jetzt zum Beispiel auch an jugendliche Banden denken. Da hat sich einiges<br />

verändert; sie kämpfen teilweise schon mit Waffen gegeneinander. Warum nur? Eine<br />

konstruktive Auseinandersetzung ist immer seltener geworden. Abgrenzung dominiert<br />

das Miteinander. Wo früher manchmal noch in kritischen Diskursen neue Wege gesucht<br />

wurden, gilt es mehr den je andere zu entwerten und niederzumachen. Beispiele dafür<br />

sind Skins und Hooligans, bei denen idealisierender Zus<strong>am</strong>menschluss innerhalb der<br />

Gruppe und entwertende Ausgrenzung anderer Hand in Hand gehen.<br />

Keine Gesellschaft hat je auf Dauer existiert, die unberücksichtigt ließ, dass jede Kette<br />

nur so stark sein kann wie ihr schwächstes Glied. Die größte Gefahr der heutigen<br />

Gesellschaft liegt in einer emotionalen Entdifferenzierung, die durch noch so große kognitive<br />

Bildung und Ausbildung nicht kompensiert werden kann. Die Herausforderung an<br />

uns alle liegt in der Ausdifferenzierung von Bewertungs- und Entscheidungsstrukturen,<br />

in der Verbesserung von sozialen Verständigungsprozessen, in der verbesserten<br />

Abstimmung eigener Erlebniswelten mit anderen, also einer Verbesserung der sozialen<br />

Wahrnehmung und Erkenntnis, beschreibbar im Begriff einer emotionalen Differenzierung.<br />

Die emotionale Bedeutung der Dinge lässt uns handeln. Viele Beispiele zeigen<br />

das. Wir werden nicht durch unser Wissen zu Grunde gehen oder überleben, unsere<br />

Werte und Haltungen werden darüber entscheiden. Eine emotionale Kultivierung, emotionale<br />

Differenzierung und Erziehung, d.h. die Entwicklung eines Verständnisses für die<br />

eigene Befindlichkeit und die der anderen ist angesagt.<br />

Wer ist das Gretchen? Wer ist der Faust? Wovor graut’s? Ich danke für die Aufmerks<strong>am</strong>keit!<br />

Wir werden nicht<br />

durch unser Wissen<br />

zu Grunde gehen<br />

oder überleben, unsere<br />

Werte und<br />

Haltungen werden<br />

darüber entscheiden.<br />

67


Auf zwei geschlossene<br />

kommt im<br />

Moment ca. eine<br />

geschiedene Ehe.<br />

Hochgerechnet<br />

erlebt mittlerweile<br />

ungefähr jedes dritte<br />

<strong>Kind</strong> die Trennung<br />

seiner Eltern mit.<br />

Das Defizitmodell:<br />

Zu einer gelungen<br />

Sozialisation braucht<br />

das <strong>Kind</strong> beide<br />

Elternteile. Ist dies<br />

nicht der Fall, hat<br />

das negative<br />

Konsequenzen für<br />

die kindliche<br />

Entwicklung.<br />

68<br />

„Erbarme dich und lass’ mich leben“<br />

„Scheidung – psychische <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern?“<br />

Referent: Dr. Harald Werneck<br />

Der Titel meines Referates ist natürlich bewusst provokant.<br />

Korrekter müsste die Frage etwa lauten: „Wann und unter welchen Bedingungen kann<br />

eine Trennung der Eltern negative Auswirkungen auf die psychische Entwicklung der betroffenen<br />

<strong>Kind</strong>er haben?“ Oder vielleicht noch neutraler formuliert: „Welche möglichen<br />

Nachteile – aber auch: welche möglichen Vorteile – hat denn eine Trennung der Eltern<br />

für das betroffene <strong>Kind</strong>, und unter welchen Bedingungen überwiegen für welches <strong>Kind</strong><br />

die Vorteile und unter welchen Bedingungen die Nachteile?“<br />

Zu diesem ganzen Fragenkomplex möchte ich Ihnen nun im Folgenden ein paar<br />

Antworten und Anregungen aus der aktuellen Scheidungsforschung vorstellen.<br />

Zahlen und Fakten<br />

Zuerst aber ein paar demografische Kennzahlen dazu von der Statistik Österreich bzw.<br />

Statistik Austria, ehemals Statistisches Zentral<strong>am</strong>t, d<strong>am</strong>it Sie sich die Dimension oder<br />

die Relevanz der Problematik und des Themas ein bisschen bewusst machen können:<br />

1999 lagen die Scheidungsquoten bundesweit bei 40,5 %, in Wien bei 51,4 %. In den<br />

70er Jahren war es nicht einmal die Hälfte davon. Auf zwei geschlossene kommt im<br />

Moment ca. eine geschiedene Ehe. Die Zahl der von der Scheidung ihrer Eltern betroffenen<br />

<strong>Kind</strong>er betrug 1999 österreichweit insges<strong>am</strong>t ungefähr 21.000, davon waren<br />

rund 17.000 Minderjährige, unter 19 Jahren, mit einem Durchschnittsalter von ungefähr<br />

9 Jahren.<br />

Aus der Perspektive der <strong>Kind</strong>er und Jugendlichen beträgt die Wahrscheinlichkeit, die<br />

Scheidung der Eltern mitzuerleben, 25 %.<br />

In diesem Zus<strong>am</strong>menhang ist auch zu erwähnen, dass das Trennungsrisiko bei Lebensgemeinschaften,<br />

vor allem auf Grund der geringeren Abhängigkeiten der Partner voneinander,<br />

wahrscheinlich noch um mindestens 50 % höher als bei Ehegemeinschaften<br />

ist. Das heißt, die Zahl der von der Trennung der Eltern betroffenen <strong>Kind</strong>er liegt de facto<br />

noch bedeutend über diesen 25 %; hochgerechnet erlebt momentan mittlerweile also ungefähr<br />

jedes dritte <strong>Kind</strong> die Trennung der Eltern mit.<br />

Die entwicklungs- und f<strong>am</strong>ilienpsychologischen Konsequenzen von Trennungen sind daher<br />

nicht nur für die betroffenen <strong>Kind</strong>er von nachhaltiger Bedeutung, sondern enthalten<br />

durchaus eine soziologische, fast schon gesellschaftspolitische Komponente.<br />

Bedeutung der Trennung für das <strong>Kind</strong><br />

Was kann nun die elterliche Trennung für das <strong>Kind</strong> bedeuten?<br />

Am Beginn einer jeden seriösen Auseinandersetzung mit der Trennungsproblematik<br />

muss fast – entsprechend einem differenziellen Ansatz – die Feststellung stehen, dass<br />

es „die Scheidungsf<strong>am</strong>ilie“ oder „das Trennungskind“ natürlich nicht gibt.<br />

Es erscheint mir weiters wichtig, auf die Notwendigkeit eines perspektivischen Zugangs<br />

hinzuweisen, d.h. es ist zu beachten, dass das Scheidungsgeschehen in der Regel von<br />

allen Involvierten sehr unterschiedlich gesehen und beurteilt wird.<br />

Mavis Hetherington (1989), eine der Pionierinnen der Scheidungsforschung, sprach in<br />

diesem Zus<strong>am</strong>menhang daher immer von der Scheidung der Frau, von der Scheidung<br />

des Mannes und von der Scheidung des <strong>Kind</strong>es – was ausdrücken soll, dass man sich<br />

dieser perspektivischen Zugangsweise stets bewusst sein sollte.


Die noch immer mancherorts anzutreffende Auffassung, dass die Trennung der Eltern in<br />

jedem Fall eine Form psychischer <strong>Gewalt</strong> bedeutet, geht wissenschaftshistorisch auf das<br />

so genannte „Defizitmodell“ zurück, wonach die Verfügbarkeit beider Elternteile die<br />

Voraussetzung für eine gelungene Sozialisation darstellt. Die Abwesenheit eines<br />

Elternteiles bedingt laut diesem Modell automatisch negative Konsequenzen für die kindliche<br />

Entwicklung.<br />

Dieses Forschungsparadigma wurde ungefähr in den 80er Jahren von einem „Reorganisationsmodell“<br />

abgelöst, wonach eine F<strong>am</strong>ilie durch die Trennung der Eltern nur neu organisiert<br />

wird. Die f<strong>am</strong>iliären Beziehungen hören selbstverständlich nicht auf. Die alte<br />

Kernf<strong>am</strong>ilie bleibt kognitiv präsent, und vor allem überdauern die emotionalen Bindungen<br />

der betroffenen <strong>Kind</strong>er an beide Elternteile, zumindest in den allermeisten Fällen, deren<br />

Trennung.<br />

Parallel zu diesem Paradigmen-Wechsel begann auch zunehmend ein Wechsel von<br />

einer klinischen Perspektive des Scheidungsgeschehens hin zu einer Sichtweise von<br />

Scheidung als eine neutral zu bewertende Übergangsphase, eine „Transition“ im<br />

F<strong>am</strong>ilienentwicklungsprozess.<br />

Man kann, wie die Zahlen ja gezeigt haben, mittlerweile fast schon von normativem<br />

Charakter reden, wenn Sie bedenken: 50 % Scheidungsquote.<br />

An dieser Stelle möchte ich aber zur Relativierung des Problems klarstellen:<br />

Die Mehrzahl der <strong>Kind</strong>er bewältigt das Ereignis der Trennung ihrer Eltern ohne wirklich<br />

gravierende mittel- und längerfristige Beeinträchtigungen der Entwicklung und wird nicht<br />

bis kaum klinisch auffällig.<br />

Wenn das doch der Fall ist, dann meist als Folge multipler Belastungen für das <strong>Kind</strong>, wobei<br />

die Trennung dann meist nur das auslösende Moment darstellt.<br />

Bedenkt man, dass ein wichtiger Aspekt von psychischer <strong>Gewalt</strong> im Ausgeliefertsein<br />

liegt, in der Machtlosigkeit und in der Unkontrollierbarkeit eines nicht erwünschten<br />

Ereignisses, das einem widerfährt, so hat die Trennung der Eltern aber natürlich schon<br />

auch immer etwas mit <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong> zu tun.<br />

Denn die <strong>Kind</strong>er wollen in der Regel ja, dass sich ihre Eltern vertragen und beis<strong>am</strong>men<br />

bleiben.<br />

So gesehen wird die Trennung letztendlich ohne echte Einflussmöglichkeit und gegen<br />

den Willen des <strong>Kind</strong>es vollzogen.<br />

Keine Scheidung – <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern?<br />

Andererseits muss aber auch einmal die Frage gestellt werden: „Können <strong>Kind</strong>er denn<br />

fallweise nicht vielleicht sogar mehr darunter leiden, wenn sich die Eltern nicht trennen?“<br />

– Sei es durch die anhaltend feindselige f<strong>am</strong>iliäre Atmosphäre, geprägt von permanenten<br />

Streitigkeiten zwischen den Eltern oder auch durch den mehr oder weniger ausgesprochenen<br />

Vorwurf, dass die elterliche Partnerschaft nur wegen der <strong>Kind</strong>er – zumindest<br />

formell – aufrecht erhalten werden muss?<br />

Die einleitende Titelfrage müsste dann ebenso provokant ergänzt werden durch „Keine<br />

Scheidung – psychische <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern?”<br />

Sie sehen schon an der Umkehrbarkeit des Titels meines Referates die ganze Differenziertheit.<br />

Es muss also der jeweilige Einzelfall beurteilt werden.<br />

Außerdem bin ich der Meinung, es sollte weniger das Ereignis Scheidung bzw. Trennung<br />

der Eltern an sich Gegenstand des eigentlichen Interesses sein, sondern vielmehr die<br />

vielfältigen Rahmenbedingungen, vor der Trennung, während der Trennung und natürlich<br />

vor allem auch nach der Trennung – im Sinne eines „kontextualistischen Prozessmodelles“,<br />

wie es so schön genannt wird.<br />

Das Reorganisationsmodell:<br />

Eine<br />

F<strong>am</strong>ilie wird durch<br />

die Trennung der<br />

Eltern schlichtweg<br />

nur neu organisiert.<br />

Emotionale<br />

Bindungen bleiben<br />

erhalten.<br />

69


Besonders kleine<br />

<strong>Kind</strong>er im Vorschulalter<br />

fühlen sich auf<br />

Grund ihres egozentrischen<br />

Denkens zumeist<br />

schuldig an der<br />

Trennung der Eltern.<br />

70<br />

Die Wichtigkeit der Rahmenbedingungen<br />

Zustände und Umstände<br />

Neuere Studien aus der Scheidungs- und Trennungsforschung konzentrieren sich daher<br />

auch weniger auf das eigentlich kritische Ereignis der Trennung an sich (wobei immer<br />

die Unterscheidung zwischen dem Zeitpunkt der rechtlichen, emotionalen oder ökonomischen<br />

Trennung getroffen werden müsste). Sie konzentrieren sich vielmehr auf die<br />

Untersuchung der spezifischen f<strong>am</strong>iliären Verhältnisse oder einer Reihe von Faktoren,<br />

die mehr oder weniger mit der Trennung assoziiert sind und die über die psychische<br />

Entwicklung der <strong>Kind</strong>er Aufschluss geben können.<br />

Ich möchte Ihnen jetzt nur exemplarisch einige aktuelle Resultate aus einer größer angelegten<br />

Studie aus Deutschland vorstellen, nämlich der Kölner Längsschnittstudie von<br />

Ulrich Schmidt-Denter und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: Hier wurde über<br />

insges<strong>am</strong>t 6 Jahre hinweg untersucht, unter welchen Bedingungen das <strong>Kind</strong>eswohl trotz<br />

einer elterliche Trennung noch <strong>am</strong> ehesten gewahrt bleibt.<br />

Eine Aussage dieser Studie deckt sich mit nahezu allen einschlägigen Studienergebnissen:<br />

Die möglichen Folgen einer Scheidung variieren von Fall zu Fall sehr stark für<br />

die betroffenen <strong>Kind</strong>er, und zwar vor allem in Abhängigkeit vom Alter, Geschlecht und<br />

Temper<strong>am</strong>ent des <strong>Kind</strong>es. Weiters von Wichtigkeit sind die Eltern-<strong>Kind</strong>-Beziehung vor<br />

und nach der Scheidung, die sozioökonomische Situation und das ges<strong>am</strong>te soziale<br />

Umfeld. Ebenso sind der Verlauf der Trennung, die Qualität der Nach-Scheidungs-<br />

Beziehungen der Eltern, das Wohlbefinden der Eltern usw. von großer Bedeutung.<br />

Um ein Beispiel herauszugreifen: Bezüglich des Alters ist etwa sicher erwähnenswert,<br />

auch für mich als Entwicklungspsychologe, dass Vorschulkinder und jüngere<br />

Volksschulkinder in der Regel von Trennungsfolgen stärker betroffen sind als ältere, weil<br />

sie auf Grund des durch ihr Alter bedingten egozentrischen Denkens oft geneigt sind,<br />

das Fernbleiben eines Elternteiles auf sich zu beziehen und sich dafür sozusagen schuldig<br />

oder verantwortlich zu fühlen.<br />

Ergebnisse: Die Verlaufstypen<br />

Bei dieser deutschen Längsschnittstudie konnten nun hinsichtlich der kindlichen<br />

Belastungen durch die elterliche Trennung insges<strong>am</strong>t drei Verlaufstypen identifiziert<br />

werden:<br />

Das waren einmal die hochbelasteten <strong>Kind</strong>er, die durchwegs über den ges<strong>am</strong>ten<br />

Untersuchungszeitraum von 6 Jahren hinweg relativ deutliche und markante Verhaltensauffälligkeiten<br />

gezeigt haben.<br />

Eine zweite Gruppe, die so genannten „Belastungsbewältiger“, sind gekennzeichnet<br />

durch anfangs hohe, dann aber stetig abnehmende Symptombelastung.<br />

Und drittens, die so genannten „gering Belasteten“, die durchgängig gering belastet, wenig<br />

verhaltensauffällig waren und sozusagen ein bisschen „immun“ schienen.<br />

Interessant sind jetzt in weiterer Folge die Beschreibungen dieser drei Verlaufsformen<br />

über die Zeit hinweg und vor allem die daraus ableitbaren Risikofaktoren auf der einen<br />

Seite und die protektiven Faktoren für Verhaltensauffälligkeiten von <strong>Kind</strong>ern nach der<br />

elterlichen Trennung auf der anderen Seite.<br />

Risikofaktoren<br />

Der mit Abstand markanteste Risikofaktor war eine negativ erlebte Beziehung zum getrennt<br />

lebenden Vater. Weitere Risikofaktoren, die zu Verhaltensauffälligkeiten der <strong>Kind</strong>er<br />

führten, waren ungelöste Partnerschafts- und Trennungsprobleme, eine misslungene<br />

Redefinition der Beziehung zwischen den Elternteilen sowie ein sich verändernder bzw.<br />

verschlechternder elterlicher Erziehungsstil.


Also in erster Linie Probleme auf der Elternebene.<br />

Die finanzielle Ausstattung der betroffenen F<strong>am</strong>ilie hingegen hat in dieser Studie nicht<br />

so eine große Rolle gespielt.<br />

Interessant ist auch, dass die soziale Stigmatisierung von Scheidungskindern offensichtlich<br />

auch nicht mehr so stark ist, wie es vielleicht vor 10, 20 Jahren oder vor einer<br />

Generation noch der Fall war.<br />

Protektive Faktoren<br />

Als protektiv erwiesen sich in erster Linie, analog zum wichtigsten Risikofaktor, eine positiv<br />

erlebte Beziehung zum Vater, eine positive Beziehung zu den Geschwistern,<br />

Stabilität und Unterstützung in der Mutter-<strong>Kind</strong>-Beziehung und eine Konsensbildung zwischen<br />

den nunmehr getrennt lebenden Eltern.<br />

Wichtig sind natürlich auch noch individuelle Kompetenzen, personale Ressourcen der<br />

<strong>Kind</strong>er, aber auch das Lebensalter der <strong>Kind</strong>er, sozusagen als Trägervariable für<br />

Entwicklungsschritte, welche die Bewältigung der Trennungsproblematik erleichtern,<br />

wie etwa die hilfreiche Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, ein gesichertes<br />

Selbstkonzept oder auch Temper<strong>am</strong>ents- und Persönlichkeitseigenschaften. Ergebnisse<br />

aus der Resilienzforschung bestätigen, dass es – wie die Gruppe der gering Belasteten<br />

aus der Longitudinalstudie – offenbar <strong>Kind</strong>er gibt, die trotz ungünstigster f<strong>am</strong>iliärer<br />

Verhältnisse und Lebensumstände über ein erstaunlich hohes Maß an Widerstandsfähigkeit<br />

verfügen, was vor allem durch eine besonders gute, sichere Bindung zu den<br />

Eltern in den ersten Lebensjahren erklärt werden kann.<br />

Häufige Scheidungsfolgen<br />

An dieser Stelle sei erwähnt, dass es natürlich mittlerweile eine Fülle an Studien über<br />

Scheidungsfolgen für die <strong>Kind</strong>er gibt. Ich möchte hier in diesem Rahmen nur kurz die<br />

Metaanalyse von Amato und Keith (1991) erwähnen, die bei insges<strong>am</strong>t 92 Studien zu<br />

den Scheidungsfolgen gehäuft Hinweise für folgende Beeinträchtigungen der betroffenen<br />

<strong>Kind</strong>er fanden: Das waren<br />

1) externalisierende Verhaltensweisen, wie z.B. Aggressivität,<br />

2) internalisierende Verhaltensauffälligkeiten wie Ängste, Depressionen,<br />

3) Schul- und Leistungsprobleme,<br />

4) Auffälligkeiten im Sozialverhalten, vor allem in Richtung verminderter sozialer<br />

Aktivitäten,<br />

5) langfristige Beeinträchtigungen im psychischen und physischen Wohlbefinden – das<br />

heißt, diese Menschen hatten dann später im Erwachsenenalter auch mehr<br />

Gesundheitsprobleme. Ebenso resultierten daraus<br />

6) negativere Einstellungen zur Ehe und als Erwachsene ein höheres Scheidungsrisiko.<br />

In diesem Zus<strong>am</strong>menhang will ich schon einschränkend festhalten, dass manche dieser<br />

Resultate methodisch durchaus anzweifelbar sind, vor allem weil Scheidungsfolgen<br />

eben nie ausschließlich auf die Veränderungen in der F<strong>am</strong>ilienstruktur zurückgeführt werden<br />

können, sondern immer auch im ges<strong>am</strong>ten Lebenskontext der F<strong>am</strong>ilie und ihrer<br />

Mitglieder zu sehen sind.<br />

Nicht erst die Scheidung macht einen Unterschied<br />

für die <strong>Kind</strong>er<br />

Weiters gilt es natürlich nicht nur, die mutmaßlichen Effekte einer Scheidung auf die<br />

Entwicklung der <strong>Kind</strong>er zu berücksichtigen, sondern auch die negativen f<strong>am</strong>iliären<br />

Umstände und Entwicklungen, die möglicherweise schon lange vor der eigentlichen<br />

Trennung der Eltern die <strong>Kind</strong>er beeinträchtigten.<br />

71


Streng genommen<br />

stellen elterliche<br />

Konflikte immer<br />

auch eine Form<br />

zumindest indirekter<br />

psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

<strong>am</strong> <strong>Kind</strong> dar.<br />

Wenn das <strong>Kind</strong> als<br />

Spielball der<br />

Interessen des jeweiligen<br />

Elternteils<br />

missbraucht wird,<br />

wird psychische<br />

<strong>Gewalt</strong> ausgeübt.<br />

Vor allem dann,<br />

wenn das <strong>Kind</strong> und<br />

das <strong>Kind</strong>eswohl vorsätzlich<br />

und bewusst<br />

vorgeschützt werden,<br />

um eigene<br />

Interessen durchzusetzen<br />

oder zu<br />

fördern<br />

72<br />

Etwas allgemeiner und offener ließe sich dann formulieren, dass elterliche Konflikte das<br />

psychische Wohlergehen von <strong>Kind</strong>ern beeinflussen sowie ihre Fähigkeiten, im<br />

Erwachsenenalter intime Beziehungen aufzubauen, f<strong>am</strong>iliale gesellschaftliche<br />

Verbindungen aufrecht zu erhalten, im sozioökonomischen Bereich Leistungen zu<br />

erbringen und positive Elternbeziehungen zu etablieren.<br />

So gesehen stellen elterliche Konflikte natürlich immer auch eine Form zumindest indirekter<br />

psychischer <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong> dar.<br />

Direktere Formen der psychischen <strong>Gewalt</strong> häufen sich allerdings im Zuge der elterlichen<br />

Trennung. So kann bei einer Trennung z.B. sehr oft eine temporäre Bevorzugung des<br />

gleichgeschlechtlichen <strong>Kind</strong>es beobachtet werden. Dies ist vor allem während der<br />

Trennungszeit erklärbar, etwa durch die Theorie des „kollusiven Partnersubstituts“, wonach<br />

das andersgeschlechtliche <strong>Kind</strong> gewissermaßen den nunmehr ungeliebten oder<br />

vielleicht sogar verhassten Partner repräsentiert.<br />

<strong>Kind</strong>er im Spannungsfeld der Eltern<br />

Das führt mich jetzt zu einem der Hauptprobleme für <strong>Kind</strong>er im Zuge elterlicher<br />

Trennungen, nämlich dass es Erwachsenen offensichtlich selten gelingt – und wahrscheinlich<br />

nur zu einem gewissen Ausmaß gelingen kann –, zwischen gestörter<br />

Partnerbeziehung und Eltern-<strong>Kind</strong>-Verhältnis entsprechend zu differenzieren.<br />

Eine wirklich strenge kognitive Trennung der gescheiterten Paarebene von der weiterhin<br />

bestehenden Elternebene gelingt in den allerseltensten Fällen. Beide sozialen<br />

Subsysteme beeinflussen sich einfach wechselseitig zu sehr; rationale Einsicht in eine<br />

notwendige Trennung dieser beiden Ebenen und emotionale Vorbehalte befinden sich<br />

oft in einem Widerspruch, was sich in irrationalen Ängsten um das <strong>Kind</strong> äußern kann.<br />

So wird zum Beispiel dem anderen Partner zwar grundsätzlich eine Kompetenz zugesprochen,<br />

aber man hat doch immer ein ungutes Gefühl, wenn sich das <strong>Kind</strong> längere<br />

Zeit bei diesem aufhält.<br />

Besonders krass und deutlich wird diese Vermischung der Partner- mit der Eltern-<strong>Kind</strong>-<br />

Ebene, wenn <strong>Kind</strong>er im Zuge des Trennungsprozesses mehr oder weniger bewusst instrumentalisiert<br />

werden, also als Spielball der jeweiligen Interessen beider Elternteile<br />

missbraucht werden.<br />

Hier scheint es mir in vielen Fällen tatsächlich berechtigt, von einer Form psychischer<br />

<strong>Gewalt</strong> zu sprechen, vor allem dann, wenn das <strong>Kind</strong> und das <strong>Kind</strong>eswohl vorsätzlich und<br />

bewusst vorgeschützt werden, um eigene Interessen durchzusetzen oder zu fördern.<br />

Und ich denke, dass hier der Punkt ist, wo wirklich alle, ohne Ausnahme, Mütter, Väter,<br />

alle <strong>am</strong> Trennungsprozess Beteiligten, also gegebenenfalls auch alle in irgendeiner<br />

Form professionell d<strong>am</strong>it Befassten, sich laufend fragen müssen, wie sehr denn bei den<br />

Vorgangsweisen bzw. Ratschlägen oder Entscheidungen tatsächlich das <strong>Kind</strong>eswohl im<br />

Vordergrund steht. Denn oft geht es – gar nicht unbedingt in böser Absicht – um ganz<br />

andere Interessen.<br />

Bedenken Sie, dass das <strong>Kind</strong> durch die angespannte f<strong>am</strong>iliäre Situation ohnehin schon<br />

stark belastet ist. Ich meine, alle Beteiligten – und ich betone: alle Beteiligten – täten gut<br />

daran, bei Entscheidungen, die <strong>Kind</strong>er betreffen, etwa im Zuge eines Scheidungsprozesses,<br />

zuallererst die eigenen Motive gründlich und ehrlich vor sich selbst zu hinterfragen.<br />

Nur so kann verhindert werden, dass die psychische <strong>Gewalt</strong> <strong>am</strong> <strong>Kind</strong>, die durch<br />

die angespannte f<strong>am</strong>iliäre Situation ohnehin in den meisten Fällen bereits Platz gegriffen<br />

hat, sich noch weiter ausbreitet und mutwillig potenziert wird, das <strong>Kind</strong> also noch einmal<br />

psychisch „vergewaltigt“ wird.


Die Obsorgefrage<br />

Erlauben Sie mir an dieser Stelle, vor allem auch aufgrund der Aktualität durch die geplante<br />

<strong>Kind</strong>schaftsrechtsreform, kurz ein paar Sätze aus psychologischer Sicht zur<br />

Obsorgefrage. Mir geht es primär um die Beziehungsgestaltung innerhalb der<br />

Ursprungsf<strong>am</strong>ilie und erst sekundär um die juristische Kategorie des gemeins<strong>am</strong>en<br />

Sorgerechtes.<br />

Aus psychologischer Sicht scheinen mir jedenfalls für eine vernünftige Regelung zum<br />

Wohl der betroffenen <strong>Kind</strong>er einige Voraussetzungen förderlich, wenn nicht teilweise<br />

unabdingbar:<br />

l Da wäre vorerst ein Mindestmaß an Willen aller Beteiligten zu konstruktiven<br />

Lösungen, gegebenenfalls unter Inanspruchnahme von externen Hilfestellungen wie<br />

etwa im Zuge des Scheidungsmediationsprojektes.<br />

l Eine weitere Voraussetzung wäre eine Unterstützung der psychischen Stabilität des<br />

<strong>Kind</strong>es durch eine gewisse Kontinuität und Verlässlichkeit der Eltern-<strong>Kind</strong>-Kontakte,<br />

aber auch durch einen Grundkonsens in den Erziehungskonzepten beider Elternteile.<br />

Auch die Großeltern sollten hier eingebunden werden, wenn sie beteiligt sind.<br />

l Der nächste Punkt: Vermeidung von Loyalitätskonflikten – also das <strong>Kind</strong> keinen<br />

Loyalitätskonflikten aussetzen, keine exklusiven Bündnisse mit dem <strong>Kind</strong> anstreben.<br />

l Feindbildprojektionen so weit wie möglich vermeiden.<br />

l Aber auch keine Überfrachtung der Beziehung mit dem <strong>Kind</strong> anstreben, keine übertriebene<br />

Nähe, was oft aus Schuldgefühlen, etwas Versäumtes nachzuholen, resultiert.<br />

Das klingt einfach, ist aber in der Praxis natürlich sehr schwer umzusetzen.<br />

l Weiters keine Konkurrenzkämpfe der Eltern um die Gunst der <strong>Kind</strong>er.<br />

Eine sinnvolle gemeins<strong>am</strong>e Obsorge beider Elternteile setzt zweifellos einen beträchtlichen<br />

psychischen Reifegrad der Eltern voraus und auch die Fähigkeit, konsensual zumindest<br />

eine gewisse Struktur der Alltagsabläufe für das betroffene <strong>Kind</strong> zu entwickeln.<br />

Davon hängt es im Wesentlichen ab, ob die gemeins<strong>am</strong>e Obsorge im Einzelfall ein geeignetes<br />

Mittel darstellen kann, um die motivationale Bereitschaft beider Eltern auch<br />

nach der Trennung zu erhöhen, die elterliche Verantwortungsgemeinschaft jetzt unter<br />

geänderten Bedingungen aufrecht zu erhalten.<br />

Unter all den genannten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen – und nur unter diesen<br />

– kann sich diese gesetzliche Regelung über das Gefühl der geteilten Verantwortung<br />

auch psychologisch positiv auf die Eltern-<strong>Kind</strong>-Beziehungen und auf die Kommunikations-<br />

und Kooperationsbereitschaft der Eltern untereinander sowie deren Motivation zur<br />

eigenständigen Umsetzung vernünftiger Regelungen auswirken.<br />

Aber, wie gesagt: nur unter diesen Bedingungen.<br />

Gemeins<strong>am</strong>e Obsorge kann sicher nicht funktionieren, wenn es nur als formale Regelung<br />

verstanden wird oder sogar als Plattform für eine neue Runde im Machtk<strong>am</strong>pf der Eltern,<br />

etwa für Unterhaltsforderungen, missbraucht wird.<br />

Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich vor der Gefahr einer neuerlichen, zusätzlichen<br />

Instrumentalisierung des <strong>Kind</strong>eswohls durch eine ideologisch geführte politische Debatte<br />

warnen. Denn hier entwickelt sich sehr leicht eine gewisse Eigendyn<strong>am</strong>ik, bei welcher<br />

es in Wirklichkeit nur vordergründig um eine optimale Regelung im Sinne der <strong>Kind</strong>er geht.<br />

Dadurch würde den <strong>Kind</strong>ern in Wirklichkeit nur doppelt und dreifach psychische <strong>Gewalt</strong><br />

angetan. Hier darf es ausschließlich um die Durchsetzung der Interessen der betroffenen<br />

<strong>Kind</strong>er gehen und nicht um die Durchsetzung der Interessen irgendwelcher Parteien,<br />

irgendwelcher Interessenvertretungen, sonstiger Institutionen und auch nicht um jene der<br />

Eltern.<br />

Gemeins<strong>am</strong>e Obsorge<br />

ist u.a. nur dann<br />

sinnvoll, wenn: ein<br />

Mindestmaß an<br />

Willen aller Beteiligten<br />

zu konstruktiven<br />

Lösungen vorhanden<br />

ist; eine gewisse<br />

Kontinuität und<br />

Verlässlichkeit der<br />

Eltern-<strong>Kind</strong>-Kontakte<br />

gegeben ist; ein<br />

Grundkonsens über<br />

das Erziehungskonzept<br />

besteht; das<br />

<strong>Kind</strong> in keinen<br />

Loyalitätskonflikt<br />

gebracht wird; es<br />

keine Konkurrenzkämpfe<br />

der Eltern<br />

um die Gunst der<br />

<strong>Kind</strong>er gibt.<br />

Gemeins<strong>am</strong>e<br />

Obsorge kann sicher<br />

nicht funktionieren,<br />

wenn sie nur als formale<br />

Regelung verstanden<br />

wird oder<br />

sogar als Plattform<br />

für eine neue Runde<br />

im Machtk<strong>am</strong>pf der<br />

Eltern, etwa für Unterhaltsforderungen,<br />

missbraucht wird.<br />

73


74<br />

Konklusio<br />

Abschließend lassen Sie mich noch einige mir wichtig erscheinende Aspekte kurz zus<strong>am</strong>menfassen<br />

und daraus Schlussfolgerungen ziehen.<br />

Zahlreiche Studien weisen eine positive Beziehungsgestaltung auch nach der Trennung<br />

der Eltern als herausragendes Kriterium für die Qualität der Scheidungsbewältigung<br />

durch die betroffenen <strong>Kind</strong>er aus.<br />

Die Gestaltung der elterlichen Paarbeziehung nach der Scheidung, nach der Trennung<br />

kann als wirkungsvollster Ansatzpunkt zur Wahrung des <strong>Kind</strong>eswohls und der kindlichen<br />

Gesundheit dienen. Dies ist sozusagen ein Schlüssel zur Sicherung kindlicher<br />

Entwicklungsmöglichkeiten nach der Scheidung.<br />

Basierend auf den empirischen Ergebnissen der genannten Längsschnittstudie erweisen<br />

sich folgende Punkte für die psychische Entwicklung von <strong>Kind</strong>ern aus Trennungsf<strong>am</strong>ilien<br />

günstig:<br />

l wenn es hilfreiche Gespräche gibt zwischen – in der Regel – der Mutter mit dem <strong>Kind</strong><br />

über den abwesenden Vater, aber auch mit dem Vater über die Situation mit der<br />

Mutter<br />

l wenn die Mutter der Auffassung ist, dass der Vater dem <strong>Kind</strong> auch wirklich geben<br />

kann, was es gefühlsmäßig braucht<br />

l wenn die Mutter keine Angst um das <strong>Kind</strong> fühlt, wenn es sich beim Vater aufhält<br />

l wenn die Eltern – und zwar beide Eltern – meinen, dass die Trennung die richtige<br />

Entscheidung war<br />

l und wenn vor allem die Väter mit der Zahl der Kontakte bzw. mit der Sorgerechtsregelung<br />

zufrieden sind.<br />

Unter all diesen Voraussetzungen sind die Chancen relativ groß, dass negative Konsequenzen<br />

einer elterlichen Trennung auf die psychische Entwicklung der betroffenen<br />

<strong>Kind</strong>er weitgehend hintangehalten werden können oder vielleicht sogar durch mögliche<br />

positive Effekte kompensiert werden können.<br />

Das singuläre Ereignis Scheidung an sich allgemein als Form psychischer <strong>Gewalt</strong> zu<br />

bezeichnen wäre jedenfalls eine unzulässige Vereinfachung.


„Nicht Kunst und Wissenschaft allein,<br />

Geduld will bei dem Werke sein“<br />

„Eltern als Begleiter in schwierigen Zeiten“<br />

Referentin: Dr. Luitgard Derschmidt<br />

„Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Geduld will bei dem Werke sein“ – das zeigt<br />

die Situation der Erwachsenenbildung, besonders der Elternbildung, und als<br />

Erwachsenenbildnerin spreche ich heute zu ihnen. Mein Anliegen als Elternbildnerin ist<br />

nicht nur das Wohl des <strong>Kind</strong>es, sondern auch das seiner Eltern, weil ich meine, wir müssen<br />

das vernetzt sehen. Denn geht es den Eltern nicht gut, so geht es auch dem <strong>Kind</strong><br />

nicht gut und umgekehrt. Unsere Teilnehmer und Teilnehmerinnen in der Elternbildung<br />

sind die Eltern.<br />

In der Elternbildung geht es um die Vermittlung von Wissen an die Eltern, es geht aber<br />

noch mehr darum, für sie die Möglichkeit, Bewusstsein zu gewinnen und den<br />

Handlungsspielraum zu erweitern, anzubieten, und es geht auch im Letzten darum, dass<br />

sie Haltungen erkennen und diese gegebenenfalls auch bei sich verändern.<br />

Welche Rollen spielen nun die Eltern beim Thema „<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong>“ <strong>am</strong> <strong>Kind</strong> im<br />

Zus<strong>am</strong>menhang mit Institutionen?<br />

Die Rolle der Eltern ist eine zweifache:<br />

Zum einen kommt von ihnen ausgehend über ihre <strong>Kind</strong>er <strong>Gewalt</strong> in diese Institutionen<br />

hinein. Zum anderen sollen sie ihre <strong>Kind</strong>er hilfreich in schwierigen Situationen begleiten,<br />

unterstützen und befähigen, solche zu bewältigen. Und zu diesen schwierigen Situationen<br />

gehören eben auch solche, in denen <strong>Kind</strong>er psychischer <strong>Gewalt</strong> aus Institutionen<br />

ausgesetzt sind.<br />

Fließende Grenzen – die „alltägliche“ psychische <strong>Gewalt</strong><br />

Wir erleben es alle täglich; psychische <strong>Gewalt</strong> ist ein Phänomen unserer Gesellschaft.<br />

Nicht nur <strong>Kind</strong>er, auch viele Erwachsene sind davon betroffen. Und ein Problem dieser<br />

ganz normalen psychischen <strong>Gewalt</strong> ist es, dass sie so schwer fassbar ist, dass sie individuell<br />

erlebt wird und ihre Wirkung von außen oft nicht erkennbar und einschätzbar ist.<br />

Menschen sind einfach verschieden. <strong>Kind</strong>er wie Erwachsene. Sie sind verschieden in<br />

der Art ihres Agierens. Es ist auch verschieden, wie Menschen das Agieren anderer erleben.<br />

So sind, wie wir selbst im Alltag immer wieder erfahren, die Grenzen zwischen<br />

temper<strong>am</strong>entvollem aktiven Handeln so im Sinn von „hart, aber herzlich“, aggressivem<br />

Verhalten und gezielter psychischer <strong>Gewalt</strong> fließend.<br />

Außerdem wird Verhalten unterschiedlich erlebt: Was dem einen Spaß macht, kann für<br />

den oder die andere/n schon Verletzung, Abwertung, Verwundung bedeuten. Und das<br />

bringt im ganz normalen täglichen Zus<strong>am</strong>menleben große Schwierigkeiten. So kommt<br />

es dort, wo Menschen zus<strong>am</strong>menleben – <strong>Kind</strong>er wie Erwachsene – zu Problemen.<br />

Und daher gibt es leider auch in Institutionen, die eigentlich zum Wohl der <strong>Kind</strong>er eingerichtet<br />

worden sind, immer wieder psychische <strong>Gewalt</strong>. Selbst die Organisationsform<br />

und die Struktur dieser Einrichtungen wirkt auf manche <strong>Kind</strong>er gewalttätig. Auch hier<br />

kommt es auf das subjektive Empfinden des <strong>Kind</strong>es an. Auch hier muss die<br />

Unterschiedlichkeit von <strong>Kind</strong>ern berücksichtigt werden. Nehmen wir zum Beispiel die<br />

Situation in einem Internat: Manche <strong>Kind</strong>er fühlen sich unter den vorgegebenen Regeln<br />

und Verordnungen pudelwohl, für andere ist es einfach eine Zumutung, eine Qual, die<br />

sie nicht aushalten.<br />

75


<strong>Kind</strong>er nehmen sich<br />

das Verhalten der<br />

Eltern und anderer<br />

erwachsener<br />

Bezugspersonen<br />

zum Vorbild und<br />

ahmen es nach.<br />

76<br />

Die Not der Eltern<br />

schafft Täter.<br />

Die Rolle der Eltern<br />

Die Rolle der Eltern in Zus<strong>am</strong>menhang mit psychischer <strong>Gewalt</strong> in Institutionen ist, wie<br />

schon eingangs erwähnt, eine zweifache, und darauf möchte ich jetzt genauer eingehen.<br />

Wenn Eltern psychische <strong>Gewalt</strong> ausüben ...<br />

Zum einen üben Eltern gewollt oder ungewollt psychische <strong>Gewalt</strong> an ihren <strong>Kind</strong>ern aus,<br />

und <strong>Kind</strong>er, die unter solcher <strong>Gewalt</strong> leiden, geben diese dann an andere weiter.<br />

Eltern verhalten sich gewalttätig, weil sie <strong>Gewalt</strong> als Erziehungsmittel einsetzen, weil sie<br />

selbst so erzogen worden sind und weil manche leider auch glauben, dass es so richtig<br />

ist und die besten Ergebnisse bringt. „Warum wird geliebten <strong>Kind</strong>ern von liebenden Eltern<br />

<strong>Gewalt</strong> angetan?“ (ð Siehe auch Seite 18)<br />

Aber Eltern können auch unter großem Druck stehen, weil sie selbst Opfer solcher<br />

<strong>Gewalt</strong> sind (z.B. Mobbing <strong>am</strong> Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, Ausgrenzungen aller Art)<br />

oder auch weil sie in einer besonders belastenden Lebenssituation sind (z.B. Scheidung).<br />

Eltern können also aus den unterschiedlichsten Gründen unter einem Druck leiden und<br />

ihn dann, wenn auch ungewollt, weitergeben.<br />

<strong>Kind</strong>er wiederum nehmen sich das Verhalten ihrer Eltern und natürlich auch der anderen<br />

Erwachsenen zum Vorbild und ahmen es nach.<br />

Die Verhaltensweise der Eltern, der erwachsenen Bezugspersonen, sollte also so<br />

gestaltet sein, dass sie eine Orientierungshilfe für <strong>Kind</strong>er ist. Denn die <strong>Kind</strong>er müssen<br />

einfach, um sich in einer Welt, die von Erwachsenen geprägt ist, zurechtzufinden, deren<br />

Verhaltensweisen imitieren.<br />

Eltern erziehen ihre <strong>Kind</strong>er sowohl bewusst durch beabsichtigtes erzieherisches Handeln<br />

als auch unbewusst durch ihr Zus<strong>am</strong>menleben mit ihren <strong>Kind</strong>ern.<br />

<strong>Kind</strong>er als Sündenbock narzistischer Projektion<br />

Ein Punkt noch, der verdeutlichen soll, wie komplex dieses Thema in Wirklichkeit ist:<br />

Verhaltensauffällige <strong>Kind</strong>er befinden sich manchmal auch in so einer Art Sündenbock-<br />

Funktion. Sie übernehmen die Rolle ihrer Eltern. Eltern delegieren an ihre <strong>Kind</strong>er ihre eigenen<br />

aggressiven und destruktiven Anteile, die sie selbst nicht ausleben können, weil<br />

sie es sich „in ihrer Situation“ sozial nicht leisten können. Ein Geschäftsmann oder eine<br />

Geschäftsfrau kann sich weder zynisch noch aggressiv ihren Klienten und Klientinnen<br />

oder Kunden und Kundinnen gegenüber verhalten. Das <strong>Kind</strong> lebt diese Verhaltensweisen<br />

dann stellvertretend für sie aus.<br />

Der Psychoanalytiker und F<strong>am</strong>ilientherapeut Horst Eberhard Richter bezeichnet diesen<br />

Vorgang als narzistische Projektion, die dazu dient, das Individuum von Selbstvorwürfen<br />

zu entlasten.<br />

Man kann das Ganze auch noch einmal harmlos formulieren: Wie oft sind <strong>Kind</strong>er dazu<br />

motiviert, Dinge zu tun, die ihre Eltern gerne getan hätten, aber nicht tun durften? Und<br />

Sie kennen sicher alle den Spruch: „Meine <strong>Kind</strong>er sollen es einmal besser haben als<br />

ich.“...<br />

Ich möchte darauf nur hinweisen, um aufzuzeigen, wie komplex und vielfältig die Gründe<br />

sein können, die <strong>Kind</strong>er schwierig werden lassen.<br />

Ich möchte ebenso darauf hinweisen, dass eine Not bei jenen Eltern dahinter steht, die<br />

ihre <strong>Kind</strong>er so erziehen, dass diese zu Tätern werden, dass sie psychische <strong>Gewalt</strong> ausüben.<br />

Das soll keine Entschuldigung sein, aber Lösungen können nur gefunden werden,<br />

wenn die Situationen klar durchschaut und die Ursachen benannt werden können. Daher<br />

sind Bewusstseinsbildung und Elternbildung so wichtig, denn komplexe Probleme müssen<br />

eben auch komplex und von vielerlei Seiten aus angegangen werden.


Bei dem im Interesse der <strong>Kind</strong>er notwendigen Zus<strong>am</strong>menspiel von Elternhaus und<br />

Institution, wie etwa Schule, kommt es oft eher zu einem Auseinanderspiel oder zu einem<br />

Gegeneinanderausspielen.<br />

Der „Schwarze Peter“ wird in der Hilflosigkeit schwieriger und komplexer Situationen<br />

auch in öffentlichen Diskussionen zwischen den Eltern und der jeweiligen Institution<br />

hin- und her geschoben. Die Schuld wird immer dem jeweils anderen zugeteilt.<br />

Definition der Rollen als Lösungsansatz<br />

Dieses Hin- und Herschieben der Schuld führt naturgemäß zu keiner Lösung.<br />

Im Interesse der <strong>Kind</strong>er wäre es notwendig, zu einer offenen Zus<strong>am</strong>menarbeit im<br />

Wahrnehmen der unterschiedlichen Rollen und Aufgaben zu finden.<br />

Welche Aufgabe, welche Verpflichtung, welche Rollen haben Eltern, welche Rolle haben<br />

Erzieher, welche Rolle haben Lehrer dem <strong>Kind</strong> gegenüber? Und wie unterscheiden sich<br />

diese Rollen voneinander?<br />

In manchem sind sie gleich, in manchem ähnlich, in manchem aber sind sie verschieden,<br />

und es ist wichtig, diese Rollen nicht zu verwechseln.<br />

In dieser Auseinandersetzung ist es notwendig, auch die unterschiedlichen Fähigkeiten<br />

und Haltungen, die ja gerade besonders schwer zu verändern sind und in dieser<br />

Diskussion die größten Probleme bereiten, zuerst einmal zu akzeptieren und<br />

Unterstellungen und Ängste zu vermeiden. Genau das ist aber sowohl für Eltern als auch<br />

für Lehrer oder andere Betreuungspersonen sehr schwierig. Genau das lässt, wie ich aus<br />

meinen Gesprächen mit Eltern in der Erwachsenenbildung weiß, oft mutlos werden; sowohl<br />

auf der Seite der Eltern als auch auf der Seite der anderen Betreuungspersonen.<br />

Dabei muss im Interesse der <strong>Kind</strong>er eine gute Zus<strong>am</strong>menarbeit mit gegenseitiger<br />

Anerkennung und Wertschätzung immer wieder gesucht werden!<br />

Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Druck<br />

schaffen <strong>Gewalt</strong><br />

Im Weiteren muss auch die Rolle des gesellschaftlichen Umfeldes, die Rolle der Medien<br />

und der Druck der wirtschaftlichen und Arbeitssituation, unter dem Eltern leiden, im<br />

Zus<strong>am</strong>menhang mit psychischer <strong>Gewalt</strong> in Augenschein genommen werden.<br />

Ich möchte in dem Zus<strong>am</strong>menhang auf Beck-Gernsheim (in: „Das ganz normale Chaos<br />

der Liebe“) hinweisen, die aufzeigt, dass <strong>Kind</strong>er für Frauen in unserer Gesellschaft nicht<br />

nur ein Karriere-Handycap, sondern auch ein berufliches, soziales und finanzielles<br />

Existenzrisiko geworden sind. Ich möchte das einmal so stehen lassen. Aber auch die<br />

Väter leiden unter diesem Druck (oder sollten darunter leiden).<br />

Ich habe dazu einen Cartoon entdeckt, der das sehr pointiert zeigt. Ein kleines <strong>Kind</strong><br />

schaut zu seiner Mutter auf und fragt, auf den durch die Wohnungstür eintretenden,<br />

freundlich lächelnden Mann zeigend: „Pst, M<strong>am</strong>i, wer ist denn der Mann, der abends immer<br />

zum Fernsehen kommt?“<br />

Hier geht es keineswegs darum, Väter gegen Mütter auszuspielen, sondern hier geht es<br />

vor allem darum, aufzuzeigen, dass teilweise auch Väter unter sehr starkem Druck stehen<br />

und dass in unserer Arbeitswelt auf die f<strong>am</strong>iliäre Situation einfach keine Rücksicht<br />

genommen wird.<br />

Der Unterschied ist nur, dass es für Männer karrierefördernd ist, wenn sie F<strong>am</strong>ilie haben,<br />

weil sie dann nachweislich einsatzfähiger sind.<br />

Wenn die Wirtschaftsentwicklung so weiter geht wie manche Wirtschaftsfachleute prophezeien,<br />

wenn die Wichtigkeit von Flexibilität, Mobilität und permanenter Verfügbarkeit<br />

immer mehr zunimmt, wenn es irgendwann einmal zu einer Unterscheidung zwischen<br />

Gewinnern und Verlierern kommen sollte, dann werden gerade jene Menschen, die<br />

Bindungen haben, die sich durch <strong>Kind</strong>er gebunden fühlen, in Gefahr geraten, auf die<br />

Seite der Verlierer zu kommen.<br />

Im Interesse der<br />

<strong>Kind</strong>er muss eine<br />

gute Zus<strong>am</strong>menarbeit<br />

zwischen<br />

den Eltern und den<br />

anderen betreuenden<br />

Personen und<br />

Institutionen mit<br />

gegenseitiger<br />

Anerkennung und<br />

Wertschätzung<br />

gesucht werden!<br />

77


78<br />

Nur der, der sich<br />

wirklich auf das<br />

<strong>Kind</strong> einstellt und<br />

dem <strong>Kind</strong> zugewandt<br />

bleibt,<br />

erkennt, wie es<br />

dem <strong>Kind</strong> geht.<br />

Hier müssen Gesellschaft wie auch Politik dagegensteuern.<br />

Obwohl es da auch schon verschiedene Überlegungen, Bestrebungen und Maßnahmen<br />

gibt, die Lobby der Wirtschaft wird leider immer viel größer sein als die Lobby für Eltern<br />

und <strong>Kind</strong>er.<br />

... Geduld will bei dem Werke sein<br />

Und gerade in Stress- und Drucksituationen ist es für liebevolle Eltern schwer, die<br />

Geduld aufzubringen, die bei dem „Werke“ sein will, wie es in der Überschrift heißt.<br />

Es dürfen die Bedürfnisse der Eltern nicht gegen die Bedürfnisse der <strong>Kind</strong>er ausgespielt<br />

werden – und umgekehrt.<br />

Natürlich wird es auch zu einem großen Problem für die <strong>Kind</strong>er, wenn sich die wirtschaftliche<br />

Situation ihrer Eltern im Allgemeinen verschlechtert und diese unter noch<br />

größeren Druck kommen.<br />

Europaweit ist das auch deutlich sichtbar. <strong>Kind</strong>er können sich nur in Richtung zufriedener<br />

und freundlicher Menschen entwickeln, wenn es ihnen gut geht und ihre Bedürfnisse<br />

befriedigt werden. Dieses „Gutgehen“ darf nicht ausschließlich materiell verstanden, sondern<br />

muss umfassender gesehen werden. <strong>Kind</strong>ern kann es aber nur gut gehen, wenn<br />

es auch ihren Eltern gut geht. Und Menschen, denen es gut geht, haben es nicht nötig,<br />

psychische <strong>Gewalt</strong> und Druck auf andere auszuüben. Weder Eltern noch <strong>Kind</strong>er. Nur<br />

dann kann die nötige Geduld bei dem Werke sein.<br />

Eltern als Begleiter in schwierigen Situationen<br />

Wir haben bis jetzt von der Rolle der Eltern zum Thema psychische <strong>Gewalt</strong> in<br />

Institutionen in dem Zus<strong>am</strong>menhang gesprochen, dass von ihnen ausgehend über ihre<br />

<strong>Kind</strong>er <strong>Gewalt</strong> in die Institutionen hineingebracht wird.<br />

Besonders wichtig ist aber die Rolle der Eltern, die <strong>Kind</strong>er in diesen schwierigen<br />

Situationen begleiten, ihnen zur Seite stehen und ihnen helfen sollen, dass die Wunden,<br />

die möglicherweise geschlagen werden, heilen und keine Belastung für ihr ganzes Leben<br />

werden.<br />

Was tut also eine Mutter oder ein Vater, wenn das <strong>Kind</strong> von der Schule heimkommt und<br />

sich beklagt „Ich werde immer von allen ausgelacht, niemand will mit mir spielen.“ Was<br />

tun, wenn sich das <strong>Kind</strong> ausgegrenzt fühlt und darunter leidet?<br />

Wenn ein <strong>Kind</strong> eine solche belastende Situation von sich aus anspricht, so ist das schon<br />

ein großer Vorteil. Meist aber kann das <strong>Kind</strong> – aus welchen Gründen auch immer – seine<br />

Probleme nicht so benennen. Das hängt natürlich auch vom Alter des <strong>Kind</strong>es ab. Daher<br />

ist von Seiten der Erwachsenen sehr viel Aufmerks<strong>am</strong>keit nötig, sich auf <strong>Kind</strong>er so<br />

einzustellen, dass man ihre Sprache versteht, die Signale, die sie aussenden, richtig zu<br />

deuten weiß.<br />

Eltern müssen aufmerks<strong>am</strong>, einfühls<strong>am</strong> sein und Nähe zu ihrem <strong>Kind</strong> haben, um die<br />

Bedürfnisse des <strong>Kind</strong>es zu erkennen. Sie müssen Geborgenheit und Zuwendung geben.<br />

Das braucht Zeit und Geduld. Geborgenheit erleben wir dann, wenn unsere körperlichen<br />

Bedürfnisse befriedigt werden und uns vertraute Menschen ein Gefühl von Nähe geben.<br />

Zuwendung erleben wir dann, wenn vertraute Menschen uns ein Gefühl des Angenommenseins<br />

geben, wenn vertraute Menschen zu uns als Person stehen.<br />

<strong>Kind</strong>er brauchen Geborgenheit und Zuwendung, um ihre Bedürfnisse sagen, zeigen und<br />

signalisieren zu können. Die Sprache der <strong>Kind</strong>er ist eine vielfältige, je nach Alter und<br />

Person des <strong>Kind</strong>es, wobei sich ältere z.B. in der Pubertät, wie wir ja wissen, oft schwerer<br />

tun, ihre Bedürfnisse anzumelden, als jüngere.<br />

Und was ganz wichtig ist: Auch die Bedürfnisse sind verschieden, ebenfalls nach Alter<br />

und Person. <strong>Kind</strong>er entwickeln sich aktiv von sich aus. Sie können nicht wie Gefäße beliebig<br />

gefüllt werden, sondern sie nehmen nur auf, was ihrem Entwicklungsstand entspricht,<br />

betont der Schweizer Arzt Remo H. Largo, der sich über 20 Jahre mit Wachstum


und Entwicklung von <strong>Kind</strong>ern beschäftigt hat. Er sagt, ein Angebot, das über seine<br />

Entwicklung hinausgeht, bleibt ungenützt oder kann sogar die Entwicklung des <strong>Kind</strong>es<br />

beeinträchtigen. Deshalb ist es auch unter anderem so wichtig, diese Verschiedenheit<br />

von <strong>Kind</strong>ern ganz ernst und wahrzunehmen.<br />

Nur der, der sich wirklich auf das <strong>Kind</strong> einstellt und dem <strong>Kind</strong> zugewandt bleibt, erkennt,<br />

wie es dem <strong>Kind</strong> geht.<br />

Und wir sollten uns auch in Gesprächen mit <strong>Kind</strong>ern in die Situation von <strong>Kind</strong>ern versetzen.<br />

Was, wenn ein <strong>Kind</strong> ein Problem anspricht und nur die Antwort bekommt „Du<br />

willst ja immer nur, dass alles nach deinem Kopf geht“ oder „Du bist einfach zu empfindlich“?<br />

Was das Problem des <strong>Kind</strong>es ist und wie schwer das <strong>Kind</strong> darunter leidet, wie<br />

sehr es sich verletzt fühlt, weiß nur das <strong>Kind</strong> allein. Sensibilität und Empfindlichkeit sind<br />

eben – wie schon zuerst erwähnt – von <strong>Kind</strong> zu <strong>Kind</strong> oft sehr verschieden.<br />

Vielleicht kennen Sie die Zeichnung, wo ein Affe, eine Katze, eine Ente und ein Hund in<br />

einer Reihe vor einem hohen Baum stehen und der „Lehrer“ sagt: „Zum Ziele einer gerechten<br />

Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich: Klettern Sie auf diesen<br />

Baum!“<br />

Gerechtigkeit und adäquate Behandlung müssten anders ausschauen.<br />

Die Verschiedenheit von <strong>Kind</strong>ern muss akzeptiert werden. <strong>Kind</strong>er müssen gerade in so<br />

schwierigen Situationen, wo sie sich ohnehin schon abgewertet fühlen, von ihren Eltern<br />

in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt und in ihrer Eigenständigkeit unterstützt werden. Ein<br />

schönes Beispiel dafür findet sich im Film „Forrest Gump“, wo der junge Mann für sein<br />

Leben diesen „Stehsatz“ von seiner Mutter mitbekommt: „Dumm ist, wer Dummes tut“.<br />

Und dieser Satz hilft dem leicht beschränkten, naiven jungen Mann auf eine liebevolle<br />

Art, sein Leben eigenständig bewältigen zu können.<br />

Autonomie entwickeln<br />

Eltern müssen ihren <strong>Kind</strong>ern helfen, Autonomie zu entwickeln. Diese Autonomie wird<br />

schon von Geburt an aufgebaut, wenn das Baby lernt, dass es seine Bedürfnisse äußern<br />

kann und darauf eine Reaktion erlebt. Das Baby schreit, die Mutter kommt mit der<br />

Flasche – durch die Kausalitätserfahrung erlebt sich das Baby als Herrscher der Welt<br />

und kann so Vertrauen und Sicherheit hinsichtlich der Wirks<strong>am</strong>keit des eigenen Handelns<br />

entwickeln. Das ermöglicht Autonomie und Selbstständigkeit im Handeln und in den sozialen<br />

Beziehungen.<br />

Doch nicht nur als Baby sollten <strong>Kind</strong>er Erfahrungen der eigenen Wirks<strong>am</strong>keit und<br />

Akzeptenz machen können, sondern auch später. Unser Wohlbefinden und<br />

Selbstwertgefühl hängt wesentlich davon ab, ob wir uns von unseren Mitmenschen angenommen<br />

fühlen und mit unseren Leistungen uns selbst und unseren Mitmenschen<br />

genügen.<br />

Wenn die Leistungen des <strong>Kind</strong>es nicht auch im Zus<strong>am</strong>menhang mit seinen Fähigkeiten<br />

gesehen werden, kann das zwischen Eltern und <strong>Kind</strong>ern zu einem großen Problem werden.<br />

Vermindertes Wohlbefinden und Selbstwertgefühl schwächen einfach unsere<br />

Beziehungsfähigkeit. Die Mitmenschen spüren unsere Unsicherheit, und wir werden sozial<br />

weniger attraktiv. Das kann zu einem Teufelskreis führen, den es zu durchbrechen<br />

gilt. Das erleben viele <strong>Kind</strong>er in ihren Schulklassen.<br />

Akzeptanz und Wertschätzung als „Grundbausteine“<br />

des Lebens<br />

Das „Fitkonzept“ nach Largo orientiert sich <strong>am</strong> Wohlgefühl und Selbstwertgefühl des<br />

<strong>Kind</strong>es, weil psychisches und körperliches Wohlbefinden die Grundvoraussetzungen<br />

dafür sind, dass sich ein <strong>Kind</strong> bestmöglich entwickeln kann, und weil ein gutes<br />

Selbstwertgefühl entscheidend für seine Beziehungs- und Leistungsfähigkeit ist. Es<br />

gilt also von Seiten der Eltern her, die <strong>Kind</strong>er für das Zus<strong>am</strong>menleben mit anderen fit zu<br />

<strong>Kind</strong>er müssen gerade<br />

in schwierigen<br />

Situationen, wo sie<br />

sich ohnehin schon<br />

abgewertet fühlen,<br />

von ihren Eltern in<br />

ihrem Selbstwertgefühl<br />

gestärkt und<br />

in ihrer Eigenständigkeit<br />

unterstützt<br />

werden.<br />

Vermindertes<br />

Wohlbefinden und<br />

Selbstwertgefühl<br />

schwächen unsere<br />

Beziehungsfähigkeit.<br />

79


Wichtig ist, Person<br />

und Verhalten auseinander<br />

zu halten –<br />

das klingt theoretisch<br />

sehr gut, aber<br />

im praktischen<br />

Alltag ist das, wie<br />

alle Erziehenden<br />

wissen, oft ganz<br />

schön schwierig.<br />

Aber genauso wie zu<br />

wenig Unterstützung<br />

die Autonomie des<br />

<strong>Kind</strong>es nicht wachsen<br />

lässt, verhindert<br />

Überfürsorge die<br />

Eigenständigkeit<br />

und Autonomie.<br />

80<br />

machen, ohne verletzt zu werden und ohne zu verletzen. Es muss dieser doppelte Aspekt<br />

gesehen werden, und Eltern haben dabei eine ganz besondere Aufgabe.<br />

Während die Umgebung die soziale Akzeptanz des <strong>Kind</strong>es oft von seinem Verhalten abhängig<br />

macht, sollte für die Eltern das Verhalten des <strong>Kind</strong>es nicht wichtiger sein als seine<br />

Person.<br />

Als Person vorbehaltlos akzeptiert zu werden ist eine Erfahrung, die die meisten <strong>Kind</strong>er<br />

nur in den ersten Lebensmonaten machen dürfen. Ein <strong>Kind</strong> sollte sich aber als Person<br />

nie von seinen Eltern in Frage gestellt fühlen und nie auf Grund seines Verhaltens<br />

grundsätzlich abgelehnt werden. Das heißt nicht, dass Eltern jegliches Verhalten ihrer<br />

<strong>Kind</strong>er billigen sollten, ganz im Gegenteil, aber die Person als solche darf von Seiten der<br />

Eltern nicht in Frage gestellt werden.<br />

Wichtig ist, Person und Verhalten auseinander zu halten – das klingt theoretisch sehr gut,<br />

aber im praktischen Alltag ist das, wie alle Erziehenden wissen, oft ganz schön schwierig.<br />

Einfacher wäre, wenn man Eltern sagen könnte, je mehr Zuwendung, je mehr Liebe, je<br />

mehr Fürsorge ein <strong>Kind</strong> bekommt, desto besser geht es ihm. Aber genauso wie zu wenig<br />

Unterstützung die Autonomie des <strong>Kind</strong>es nicht wachsen lässt, genauso verhindert<br />

auch Überfürsorge die Eigenständigkeit und Autonomie.<br />

Letztlich sollte unser Ziel sein, dass die <strong>Kind</strong>er fähig werden, ihre eigenen Probleme<br />

selbst zu lösen, dass sie sich im Zus<strong>am</strong>menhang mit psychischer <strong>Gewalt</strong> vor Übergriffen<br />

schützen lernen, die die Grenzen der eigenen Person verletzen und überschreiten.<br />

Grundlage jeder hilfreichen Handlung von Eltern und anderen Begleitern in schwierigen<br />

Zeiten muss die Wertschätzung und Achtung der Person des <strong>Kind</strong>es sein.<br />

In dieser Grundhaltung müssen Eltern den <strong>Kind</strong>ern geben, was sie brauchen – und das<br />

ist nicht immer das, was Eltern glauben, das die <strong>Kind</strong>er brauchen.<br />

<strong>Kind</strong>er müssen im Laufe ihres Erwachsenwerdens lernen, in ihren sozialen Beziehungen<br />

eine ausgewogene Balance zwischen dem Tun und dem Mit-sich-geschehen-Lassen zu<br />

finden.<br />

Tun im Sinne von Ursache von Reaktionen anderer zu sein und Mit-sich-geschehen-<br />

Lassen heißt auch, auf andere und ihre Bedürfnisse zu reagieren.<br />

Das Mit-sich-geschehen-Lassen birgt die Gefahr, die eigene Identität zu verlieren, wenn<br />

man nicht manchmal auch das Tun wahrnimmt. Wer aber meint, immer mit dem Kopf<br />

durch die Wand zu müssen, der wird überall anecken und beziehungsunfähig sein. Diese<br />

Balance zu finden ist nicht leicht, und Eltern sollten ihren <strong>Kind</strong>ern dabei helfen.<br />

Wenn man heute mit <strong>Kind</strong>ergärtnerinnen, vor allem aber auch mit Lehrern und<br />

Lehrerinnen spricht, so hört man immer öfter: „Ich habe das Gefühl, vor einer Gruppe<br />

von Prinzen und Prinzessinnen zu stehen.“<br />

Einzelkinder haben manchmal Defizite bei sozialen Verhaltensweisen, die sie im<br />

Zus<strong>am</strong>menleben mit Erwachsenen nicht brauchen. Diese Verhaltensweisen müssen<br />

dann in der Gruppe der Gleichaltrigen erst nachgelernt werden, und das kann<br />

Schwierigkeiten bringen. Auch da müssen Eltern ihre <strong>Kind</strong>er einfach hilfreich begleiten<br />

und auszugleichen versuchen, was an Problemen auftritt.<br />

Kunst und Wissenschaft allein ...<br />

... helfen Eltern dabei nur teilweise. Geduld ist gefragt, Sensibilität. Die Eltern müssen<br />

erkennen lernen, was bei den <strong>Kind</strong>ern verstärkt und wo eventuell entgegengesteuert werden<br />

muss, wo Unterstützung und Bestätigung Not tun oder wo es vielleicht wichtiger<br />

wäre, dem <strong>Kind</strong> zu ermöglichen, die Grenze seiner Frustrationstoleranz zu erhöhen.<br />

Geschwister sind dabei hilfreich, denn unter Mehreren lernt man sich zu sich arrangieren.<br />

Für das Zus<strong>am</strong>menleben unter Menschen ist Toleranz notwendig. Wer Geschwister<br />

hat, lernt das in der F<strong>am</strong>ilie, bei Einzelkindern muss diese Sozialisation dann oft erst im<br />

<strong>Kind</strong>ergarten und in der Schule nachgeholt werden.


Eltern können und müssen <strong>Kind</strong>er gerade in schwierigen Zeiten begleiten. Die erzieherische<br />

Herausforderung dabei ist, das <strong>Kind</strong> richtig zu verstehen und im Umgang mit ihm<br />

das richtige Maß zu finden.<br />

Es gibt viele Elternratgeber, die Hilfe anbieten, auch faktische Tipps, die Eltern tatsächlich<br />

ein Stück weiterhelfen. Es gibt Angebote in der Elternbildung. Diese Hilfen werden<br />

von vielen Eltern sehr gerne angenommen. Wichtig dabei ist aber, dass Eltern nicht noch<br />

mehr verunsichert werden, sondern dass sie in ihrer eigenen Kompetenz gestärkt werden.<br />

Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass es zu diesen komplexen und schwierigen Aufgaben<br />

der Eltern noch viel zu sagen gäbe. In den Grundlinien ist es immer so einfach, doch der<br />

Teufel steckt meistens im Detail, und Rezepte kann es nicht geben. Es braucht Geduld<br />

und viele kleine Schritte.<br />

Konklusio<br />

Zus<strong>am</strong>menfassend möchte ich nur mehr kurz einige Punkte herausheben, die mir besonders<br />

wichtig erscheinen:<br />

l Wichtig ist die Zus<strong>am</strong>menarbeit zwischen Eltern und Institutionen.<br />

l Wichtig ist die Lobbyarbeit für <strong>Kind</strong>er und F<strong>am</strong>ilien.<br />

l Wichtig ist die Bewusstseinsbildung, vielfältig und auf allen Ebenen.<br />

l Wichtig ist Elternbildung.<br />

l Wichtig ist es auch, die Autonomie und die Eigenständigkeit des <strong>Kind</strong>es zu stärken,<br />

seine Frustrationstoleranz zu erhöhen und zu lernen, die Sprache des <strong>Kind</strong>es zu verstehen.<br />

Aber eine Aufgabe, die Eltern ganz besonders und hauptsächlich nur sie wahrnehmen<br />

können, ist, das <strong>Kind</strong> als Person bedingungslos zu akzeptieren und ernst zu nehmen.<br />

„Du aber liebe mich, auch wenn ich schmutzig bin, denn wenn ich weiß gewaschen wäre,<br />

liebten mich doch alle“ (Dostojewski).<br />

81


Wir gehen davon<br />

aus, dass, da wir ja<br />

immer in bester<br />

Absicht handeln, <strong>am</strong><br />

Schluss auch etwas<br />

Gutes heraus-<br />

kommen muss.<br />

Für einen Klienten<br />

ist immer sehr<br />

erstaunlich, dass<br />

er sich an jemanden<br />

wendet, und plötzlich<br />

ist dann wer<br />

anderer zuständig.<br />

82<br />

„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“<br />

„Der Eingriff von außen – ein zusätzliches Trauma?“<br />

Referent: Dr. Reinhard Neumayer<br />

Gleich <strong>am</strong> Anfang sei festgestellt: Wir alle handeln immer in bester Absicht. Das, was wir<br />

tun, das ist also ohnehin „wunderbar, toll, klasse“ – oder etwa nicht?<br />

Wir haben Klienten, die schuldlos in eine Notlage gekommen sind. Wir erleben ihr Leid<br />

mit, doch das soll uns nicht persönlich treffen, weil wir ja Profis sind. Wir bemühen uns,<br />

in geeigneter Form zu handeln, so dass es unseren Klienten nach unserer Intervention<br />

auch tatsächlich besser geht.<br />

Wir gehen davon aus, dass, da wir ja immer in bester Absicht handeln, <strong>am</strong> Schluss auch<br />

etwas Gutes herauskommen muss.<br />

Wir wollen immer nur das Richtige tun. Das haben wir uns geschworen, als wir uns für<br />

diese Berufe entschieden haben.<br />

Und das beweist uns auch die tägliche Praxis. Aber vielleicht vor allem deswegen, weil<br />

wir <strong>am</strong> liebsten auf die Fälle hinschauen, bei denen auch wirklich etwas Gutes herausgekommen<br />

ist.<br />

Denn: „Grau ist alle Theorie“ – das wissen Sie genauso gut wie ich.<br />

Es könnte also sein, dass wir heute ein bis zwei Blicke auch auf Fälle werfen müssen,<br />

bei denen nicht nur Gutes herausgekommen ist.<br />

Wir Zuständigen ...<br />

Beginnen wir einmal bei Wir. Wer ist eigentlich Wir?<br />

Wir – das sind natürlich die Zuständigen. Aus irgendeinem Grund wird man „zuständig“.<br />

Wir werden zu Zuständigen, weil sich Klienten an uns wenden, weil Klienten in der<br />

Erwartung zu uns kommen, dass ihnen hier geholfen wird. Sie tragen ihr Anliegen in der<br />

Erwartung vor, dass wir ihnen helfen.<br />

Es könnte aber auch sein, dass sie bei der falschen Tür stehen geblieben sind, dass sie<br />

sich im Türschild geirrt haben und dass wir gar nicht zuständig sind. Das ist dann manchmal<br />

eine Erleichterung. Dann kann man den Klienten, die Klientin zu einer anderen Tür<br />

schicken oder ihm/ihr eine andere Telefonnummern geben ...<br />

Aber wahrscheinlich passiert Ihnen so etwas gar nicht, wahrscheinlich passiert so etwas<br />

immer nur mir.<br />

Aber auch wenn der Klient beim richtigen Türtaferl stehen geblieben ist, hat das nicht für<br />

immer Gültigkeit. Für einen Klienten ist immer sehr erstaunlich, dass er sich an jemanden<br />

wendet, und plötzlich ist dann wer anderer zuständig. Oder es kommt noch wer dazu,<br />

oder es redet in einer bestimmten Phase dann plötzlich noch wer Neuer mit.<br />

Der Klient weiß zunächst nichts von diesen Phasen. Er kommt nicht bei der Tür herein<br />

und sagt „Bitte, ich bin jetzt in der Anfangsphase meiner Problemdarstellung. Wenn Sie<br />

sich als Zuständiger bitte darum kümmern wollen und mir dann sagen, wann der Nächste<br />

zuständig ist.“<br />

... wir handeln ...<br />

Wie dem auch sei – sobald ein Klient bei uns ist und wir zuständig sind, handeln wir. Wir<br />

alle handeln. Und wenn wir schon handeln, dann geplant und vernetzt. Sie wissen<br />

hoffentlich, in wie vielen Netzen Sie hängen. Wir handeln also vernetzt, und wir handeln<br />

immer.


Handeln – das Wort an sich ist schon eine Drohung.<br />

Sollten wir nicht nachdenken, bevor wir handeln?<br />

Aber wir handeln immer und bei jedem Schwierigkeitsgrad.<br />

Gibt es jemanden unter Ihnen, der das schon öfters mit sich selber ausdiskutiert hat, bei<br />

welchem Schwierigkeitsgrad er oder sie eigentlich sagen müsste: „Das ist mir jetzt vielleicht<br />

zuviel“? Vielleicht wäre es fairer, zu Ihrem Klienten/Ihrer Klientin zu sagen: „Es ehrt<br />

mich, dass Sie zu mir gekommen sind, aber ich muss Ihnen ehrlicher Weise sagen, dass<br />

ich davon nichts verstehe. Und bevor ich mich großmächtig aufblase, um vor Ihnen als<br />

allwissender Riese dazustehen, der für Alles eine Antwort hat, bin ich lieber ehrlich und<br />

sage, dass ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann.“<br />

... nur in bester Absicht ...<br />

Aber wir handeln ja in bester Absicht. Wir wissen, was gut ist. Wir handeln in bester<br />

Absicht für das <strong>Kind</strong>eswohl. Alle, die in der Jugendwohlfahrt tätig sind, wissen über diesen<br />

magischen Begriff Bescheid. Und alle, die an der Jugendwohlfahrt auch nur angestreift<br />

sind, haben auch schon mit diesem Wort zu tun gehabt.<br />

Es geht in der Jugendwohlfahrt um das Wohl des <strong>Kind</strong>es.<br />

Was genau ist bitte das Wohl des <strong>Kind</strong>es?<br />

Ich arbeite seit über 20 Jahren in diesem Bereich, aber ich kann Ihnen das nicht genau<br />

sagen. Aber es ist eine Leitschnur für uns. Und deswegen handeln wir in bester Absicht<br />

für das <strong>Kind</strong>eswohl. Oder vielleicht manchmal für das Helferwohl?<br />

Passiert es vielleicht doch manchmal, dass wir etwas nicht nur des <strong>Kind</strong>eswohles wegen<br />

tun? Passiert es vielleicht manchmal, dass wir – um ein bisschen besser dazustehen<br />

– einfach handeln auf unsere Fahnen schreiben? Passiert es vielleicht manchmal,<br />

dass wir Klienten und Klientinnen, die mit einem bestimmten Anliegen kommen, so umbiegen,<br />

dass sie zu unserem Angebot passen?<br />

Das, meine ich, ist das Helferwohl und nicht das Klientenwohl.<br />

Und kann es auch sein, dass es die Öffentlichkeitsarbeit ist, die uns manchmal als leitendes<br />

Motiv bewegt?<br />

Aber wahrscheinlich gibt es bei Ihnen so etwas gar nicht, wahrscheinlich passiert so etwas<br />

immer nur mir.<br />

Kann also unser Eingreifen von außen ein zusätzliches Trauma für unsere Klientinnen<br />

und Klienten sein?<br />

Wenn wir mit der Idee, unseren Klienten zu helfen oder ihnen Wege zu zeigen, auf denen<br />

vielleicht Hilfe zu bekommen ist, oder ihnen ihre eigenen Ressourcen bewusst<br />

machen, um Hilfe in Anspruch nehmen zu können, an unsere Arbeit herangehen, dann<br />

werden wir a priori wahrscheinlich nicht gleich daran denken, dass wir ihnen mit unserem<br />

Tun, unserem Handeln auch zusätzliches Leid zufügen können.<br />

Und trotzdem gibt es das.<br />

... und meinen es immer nur gut<br />

Unser heutiges Thema lautet: <strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> durch Institutionen. Daher die Frage:<br />

Kann es auch durch gut gemeinte Hilfsangebote zur Ausübung von psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

kommen?<br />

Schauen wir einmal, was so ein „gut gemeintes Hilfsangebot“ alles bewirken kann.<br />

Behalten Sie bitte die Wortfolge „gut gemeintes Hilfsangebot” für die nächsten paar<br />

Minuten „eingespeichert“.<br />

Ich möchte Ihnen etwas aus meiner Studentenzeit erzählen.<br />

Das war in den 70er Jahren. Ich habe d<strong>am</strong>als ein Praktikum an einer Krankenanstalt gemacht,<br />

und diese Krankenanstalt hat gewisse Regeln im Umgang mit <strong>Kind</strong>ern gehabt.<br />

Passiert es vielleicht<br />

manchmal, dass wir<br />

Klient/innen, die mit<br />

einem bestimmten<br />

Anliegen kommen,<br />

so umbiegen, dass<br />

sie zu unserem<br />

Angebot passen?<br />

83


Über Wochen hindurch<br />

durften die<br />

<strong>Kind</strong>er „zu ihrem<br />

eigenen Wohle“ ihre<br />

Angehörigen nicht<br />

sehen – doch niemand<br />

hatte die Absicht,<br />

den <strong>Kind</strong>ern<br />

psychische <strong>Gewalt</strong><br />

anzutun. Es wurde<br />

eben in bester<br />

Absicht nach dem<br />

d<strong>am</strong>aligen wissenschaftlichen<br />

Stand<br />

der Dinge gehandelt.<br />

84<br />

Streng nach d<strong>am</strong>als gültigen wissenschaftlichen Erkenntnissen lautete die Regel: <strong>Kind</strong>er<br />

aus schwierigen F<strong>am</strong>ilien kommen in die Krankenanstalt und werden dort für einige<br />

Wochen nicht mit ihrer F<strong>am</strong>ilie zus<strong>am</strong>menkommen. Ganz bewusst. Schädigende<br />

Einflüsse sollen so von diesen <strong>Kind</strong>ern fern gehalten werden.<br />

Die Situation war dann so, dass die <strong>Kind</strong>er vom Fachpersonal gut betreut worden sind,<br />

gute therapeutische Angebote bekommen haben und Angehörige – die waren nämlich<br />

gemeint mit den schädigenden Einflüssen – nur Auskunft bekommen haben. Heute<br />

würde man sagen: durch zertifizierte Auskunftspersonen. Das heißt, die Angehörigen<br />

konnten zu bestimmten Sprechstunden kommen und fragen „Wie geht es meinem<br />

<strong>Kind</strong>?“, und haben dann haben sie eine klare Auskunft bekommen und konnten wieder<br />

heimgehen.<br />

Es war auch noch möglich, ein Brieflein für das <strong>Kind</strong> zu hinterlassen.<br />

Ich habe mich nicht wirklich wohl gefühlt bei der Vorstellung, dass es irgendwann einmal<br />

auch meinem <strong>Kind</strong> so gehen könnte, obwohl ich d<strong>am</strong>als überhaupt noch keine <strong>Kind</strong>er<br />

hatte.<br />

Was immer Sie sich heute im Oktober des Jahres 2000 über diese Vorgangsweise denken<br />

– d<strong>am</strong>als hatte ganz bestimmt niemand die Absicht, psychische <strong>Gewalt</strong> an <strong>Kind</strong>ern<br />

zu begehen. Es wurde eben in bester Absicht nach dem wissenschaftlichen Stand der<br />

Dinge gehandelt.<br />

Wahrscheinlich fallen Ihnen selber auch noch andere solcher Beispiele ein.<br />

Heute, aus der gebührlichen zeitlichen Distanz, können wir uns natürlich überlegen, was<br />

wir d<strong>am</strong>als den <strong>Kind</strong>ern angetan haben. Es ist keinesfalls in böser Absicht, sondern in<br />

bester Absicht geschehen.<br />

Das Fachpersonal, das die <strong>Kind</strong>er während der wochenlangen Trennung von ihren<br />

Angehörigen betreut hat, wusste genau: „Wir müssen hier Beziehungsarbeit leisten.“ Das<br />

waren nicht irgendwelche eiskalten Theoretiker, die an <strong>Kind</strong>ern experimentierten. Nein!<br />

Das waren Menschen, die sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit plus ihrem fachlichen<br />

Wissen engagiert haben, um für diese <strong>Kind</strong>er etwas Positives zu bewirken.<br />

Sie konnten nicht – vielleicht wollten sie es auch nicht – sehen, dass es zu zusätzlichen<br />

Problemen gekommen ist, weil man den <strong>Kind</strong>ern ihr Bezugsnetz gestohlen hat, weil die<br />

<strong>Kind</strong>er natürlich unter Trennungsängsten gelitten haben.<br />

Auch ich hätte Trennungsängste in dieser Situation!<br />

<strong>Kind</strong>er, die nicht begreifen konnten, dass sie vor jemandem geschützt werden, den sie<br />

lieb haben; <strong>Kind</strong>er, die erleben mussten, dass draußen jemand bei der Glastür vorbeigeht,<br />

mit dem sie gerne reden würden, von dem sie gerne in den Arm genommen worden<br />

wären, der aber nicht zu ihnen gelassen wurde – für Wochen! Zum Glück haben sie<br />

das mit ihrem kindlichen Verstand gar nicht ganz erfassen können, denn sonst hätten sie<br />

sich noch ganz anders „aufgeführt“, als sie es getan haben.<br />

Nachdem wir alle schon den Jahrtausendwechsel gefeiert haben, kann ich ja sagen, das<br />

passierte im vorigen Jahrhundert.<br />

Das klingt vielleicht irgendwie beruhigender.<br />

Es ist leicht, für gestern schlau zu sein<br />

Ein zweiter Hinweis.<br />

Für alle die, die schon etwas länger im Geschäft sind, oder alle die, die manchmal in die<br />

Literatur schauen, ist nicht zu übersehen, dass sich in einem Spezialgebiet, nämlich der<br />

Adoption, die Geisteshaltung der beteiligten Fachleute in den letzten 15 Jahren wesentlich<br />

verändert hat.<br />

Der Gedankengang bei Adoptionen war früher, nur ja keinen Kontakt zwischen der<br />

Herkunftsf<strong>am</strong>ilie und dem Adoptivwilligen herzustellen. Eine Behörde, zuständigerweise<br />

das Jugend<strong>am</strong>t, war dazwischengeschaltet. Bei der Behörde sind die Informationen zus<strong>am</strong>mengelaufen.<br />

Das <strong>Kind</strong> wurde anonym übergeben. Unterlagen hat es schon gegeben,<br />

aber eher nicht für die Adoptiveltern oder das betroffenen <strong>Kind</strong>.


Und dann ist etwas passiert – Menschen sind nicht immer so wie die graue Theorie:<br />

Adoptivkinder sind erstaunlicherweise, genauso wie leibliche <strong>Kind</strong>er, genauso wie<br />

Pflegekinder, älter geworden. Und dann haben sie irgendwann einmal begonnen, Fragen<br />

zu stellen wie: „Bin ich in deinem Bauch aufgewachsen?“<br />

Pflegeeltern sind auf solche Fragen trainiert gewesen, Adoptiveltern d<strong>am</strong>als nicht. So<br />

blieb ihnen nichts übrig, als die Frage als unzulässig zurückzuweisen.<br />

Doch die Adoptivkinder sind beharrlicher geworden – auch das war ja nicht vorhersehbar<br />

– und haben die Frage mehr als einmal gestellt ...<br />

Heute sind wir soweit, dass die anonyme Adoption die absolute Ausnahme ist.<br />

Wir wissen, dass die Heranwachsenden sicher fragen werden, wie ihre persönlichen<br />

Verhältnisse sind. Wir wollen zeitgerecht dafür sorgen, dass es diese Information gibt.<br />

Wir schulen Adoptiveltern. Wir beraten Adoptivf<strong>am</strong>ilien bei den Problemen ihrer heranwachsenden<br />

<strong>Kind</strong>er.<br />

Dennoch: Niemand hatte vor 15, vor 20 Jahren die Absicht, den <strong>Kind</strong>ern psychische<br />

<strong>Gewalt</strong> anzutun.<br />

Vielleicht gibt es in 20 Jahren wieder eine Tagung, bei der Leute, die heute noch relativ<br />

jung sind, unsereins, die wir dann bereits etwas grau und erschöpft in der vorderen Reihe<br />

sitzen, erzählen werden, was es d<strong>am</strong>als bei der Jahrtausendwende für absurde Ideen<br />

im Umgang mit <strong>Kind</strong>ern gegeben hat.<br />

Erste Fallgeschichte<br />

Karli, vier Jahre alt, ist jetzt endlich weg von zu Hause. Er wird in der Nacht nicht mehr<br />

so schreien, wenn daheim gestritten wird. Er wird nicht mehr grün und blau im Gesicht<br />

sein, oder sonst wo, wie man ja beim Turnen gesehen hat ...<br />

Er wird auch nicht mehr die <strong>Kind</strong>er in diesem <strong>Kind</strong>ergarten beißen und treten.<br />

Er ist jetzt weit weg von hier, bei einer anderen F<strong>am</strong>ilie. Nein, Freunde hat er wenige gehabt,<br />

vielleicht den Peter und die Karin, aber die sieht er jetzt nicht mehr. Nein, seine<br />

Eltern soll er jetzt auch nicht mehr sehen, vielleicht später einmal, wenn er sich erst eingewöhnt<br />

hat und die Therapie so richtig greift ...<br />

Nein, reden tut er jetzt nicht viel, eigentlich sehr wenig ...<br />

Ob er jetzt glücklich ist?<br />

Na jedenfalls geht es ihm viel besser als vorher, oder?<br />

Der Eingriff von außen – Garant, dass es besser wird?<br />

Im Allgemeinen haben Institutionen bestimmte Vorstellungen davon, wann <strong>Kind</strong>er „gerettet“<br />

werden müssen.<br />

Institutionen haben aus diesem Behufe oft einen Katalog, in dem genau aufgelistet wird,<br />

wann gehandelt werden muss, wann eingegriffen werden muss, wann <strong>Kind</strong>er offenbar<br />

in ihrer Herkunftsf<strong>am</strong>ilie oder im erweiterten Umfeld einer solchen Fülle von Gefahren<br />

und Gefährdungen ausgesetzt sind, dass man sie nicht mehr dort belassen kann.<br />

Bei der Jugendwohlfahrt gibt es ziemlich klare Richtlinien bzw. ein Auflistung von<br />

Hinweisen, ab wann die Gefährdung so akut ist, dass man das <strong>Kind</strong> aus dieser Situation<br />

herausnehmen muss.<br />

Es gibt aber auch weniger dr<strong>am</strong>atische Fälle – Gott sei Dank gibt es die auch –, wo man<br />

überlegen kann, ob man nicht auch mit langs<strong>am</strong> greifenden, dafür aber beharrlich<br />

angebotenen Hilfeformen zu einer Veränderung der Situation beitragen kann.<br />

Stellen Sie sich jetzt Folgendes vor: Eine Institution, eine Behörde, hat nach Durchsicht<br />

aller Kataloge festgestellt, „bei diesem bestimmten <strong>Kind</strong> ist der Pegelstand erreicht, jetzt<br />

ist Handlung angesagt“.<br />

Und so wird ein gut gemeintes Angebot gemacht. Ein gut gemeintes heißt in solchen<br />

Fällen aber: „Das <strong>Kind</strong> kommt weg“.<br />

Menschen sind nicht<br />

immer so wie die<br />

graue Theorie.<br />

85


Was aber, wenn die<br />

Pflegef<strong>am</strong>ilie nun<br />

genauso mit<br />

Schwierigkeiten<br />

beladen ist wie die<br />

ursprüngliche<br />

F<strong>am</strong>ilie? Dann hat<br />

es sich das <strong>Kind</strong><br />

aber nicht wirklich<br />

verbessert.<br />

86<br />

Das <strong>Kind</strong> kommt in eine hoffentlich bessere Situation.<br />

Wir nehmen natürlich an, dass es das betroffenen <strong>Kind</strong> bei einer anderen F<strong>am</strong>ilie, bei<br />

der Pflegef<strong>am</strong>ilie besser haben wird.<br />

Was aber, wenn die andere F<strong>am</strong>ilie nun genauso mit Schwierigkeiten beladen ist wie die<br />

bisherige? Dann hat es sich das <strong>Kind</strong> aber nicht wirklich verbessert.<br />

Es hat lange gedauert, bis den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – und da zähle ich mich<br />

auch dazu – (dank intensiver Fortbildung) klar geworden ist, dass die Unterbringung auf<br />

einen Pflegeplatz eben nicht einen komplexen Wechsel, nicht ein Streichen der<br />

Vorgeschichte bedeuten kann. Wenn man das weiß, wird auch klar, dass es nicht nur<br />

trotziges Verhalten von <strong>Kind</strong>ern ist, wenn sie auf einmal anfangen, ihre Herkunftsf<strong>am</strong>ilie<br />

zu idealisieren; dass es nicht nur Widerstand gegen die neue F<strong>am</strong>ilie ist, wenn sie dort<br />

nicht sofort in Dankbarkeit zerfließen, und dass es nicht Fehler in der Angebotsseite der<br />

Pflegef<strong>am</strong>ilie sind, wenn das <strong>Kind</strong> nicht sofort in strahlendem Glück aufgeht.<br />

Der Einblick von außen<br />

Wir haben fremde Hilfe gebraucht, Supervision mit erlebnisgeleiteten Fortbildungsformen,<br />

um zu erkennen, was in einem <strong>Kind</strong> in dieser Situation vorgehen kann; um zu<br />

erkennen, dass das <strong>Kind</strong> Verluste erleidet. Diese Verluste bemerkt es sogleich, eventuelle<br />

Erleichterungen, Verbesserungen wohl erst viel später. Ob es einmal sagen wird<br />

„Das hat mir d<strong>am</strong>als wirklich geholfen“, das können wir nicht voraussagen. Ich muss gestehen,<br />

in den Jahren, in denen ich jetzt in diesem Bereich tätig bin, habe ich das überhaupt<br />

noch von keinem <strong>Kind</strong> gehört.<br />

Ich habe es von Erwachsenen bis jetzt vielleicht drei- oder viermal gehört – aber niemals<br />

von einem <strong>Kind</strong>.<br />

Wären also positive Rückmeldung oder Dankbarkeit ein Maß, das uns hilft, unsere<br />

Verhaltensweisen zu steuern, dann wäre es besser, wir ließen es ganz.<br />

Aber der Umkehrschluss „Schauen wir doch einfach nicht hin“, der verhilft einem auch<br />

nur kurz zu gutem Schlaf.<br />

Zweite Fallgeschichte<br />

Noch eine kleine Geschichte:<br />

Fatima, 16 Jahre alt, hat es nicht leicht mit den strengen Vorstellungen ihrer F<strong>am</strong>ilie,<br />

wenn sie doch gleichzeitig sieht, wie ihre Schulfreundinnen aufwachsen und was für die<br />

alles selbstverständlich ist, nicht aber für sie.<br />

Nach einem heftigen Streit, bei dem sie auch vom Vater verprügelt wird, wendet sie sich<br />

an die Berufsschullehrerin. Diese verspricht zu helfen, wendet sich an das Jugend<strong>am</strong>t,<br />

und es kommt – nicht zuletzt wegen der festgestellten Verletzungen – zu einer<br />

Unterbringung des Mädchens in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft. Dort<br />

wird das Mädchen betreut, therapeutisch begleitet und unter Beachtung der Multikulturperspektive<br />

gestützt.<br />

Die Herkunftf<strong>am</strong>ilie hat nicht verstehen können (wollen?), warum sich eine Schule und<br />

ein Amt in die Erziehung einmischen und sich dabei genauso wie die Eltern auf das Wohl<br />

des <strong>Kind</strong>es beziehen!<br />

Für diese F<strong>am</strong>ilie ist Fatima übrigens „gestorben“!<br />

Erratum: Das Mädchen heißt nicht Fatima, sondern Monika.<br />

Wie passen die Normen, die seitens einer Institution für selbstverständlich erwartet werden,<br />

mit denen in der F<strong>am</strong>ilie zus<strong>am</strong>men?<br />

l Das kann sich auf den Erziehungsstil beziehen.<br />

l Das kann sich auf allgemeine Werthaltung beziehen.<br />

l Das kann sich auf kulturelle, religiöse Vorstellungen beziehen.


l Das kann sich auf vielerlei beziehen. Offenbar gibt es in den Institutionen Vorstellungen<br />

darüber, wie F<strong>am</strong>ilien sein sollen, und das weit über die gesetzlichen Bestimmungen<br />

hinaus.<br />

Das mag vielleicht daran liegen, dass in diesen Institutionen Menschen arbeiten, die ihre<br />

eigene Werthaltung vertreten. Es mag aber vielleicht auch daran liegen, dass dort<br />

Menschen ihre eigene Werthaltung nicht immer reflektieren.<br />

Und wenn dann in dieser Geschichte ein Mädchen vorkommt mit einem selts<strong>am</strong> klingenden<br />

N<strong>am</strong>en, dann haben Sie wahrscheinlich schon ähnliche Erfahrungen gemacht,<br />

dann ist Ihnen vielleicht schon einmal so ein konfrontierendes Gespräch in Erinnerung,<br />

wo Sie versucht haben, jemandem, der ganz anders denkt als Sie, klar zu machen, dass<br />

Sie es sind, die oder der weiß, wie es langgeht. Und wenn die F<strong>am</strong>ilie sich nicht daran<br />

hält, dann wird eben ein Eingriff notwendig.<br />

Wahrscheinlich sind Sie ein wenig zus<strong>am</strong>mengezuckt, als Sie gelesen haben, dass das<br />

Mädchen gar nicht Fatima, sondern Monika heißt. So einfach ist es nämlich nicht, dass<br />

es nur irgendwelche Minderheiten sind, die man klar auf Grund von Äußerlichkeit,<br />

Nationalität, Reisepass, Hautfarbe oder sonst etwas eingrenzen kann und sagen kann:<br />

„Das machen ja nur die dort!“<br />

Schauen Sie gut nach, mit welchen Klienten und Klientinnen Sie regelmäßig arbeiten und<br />

ob es nicht dort auch eine ganz andere Form von Minderheiten gibt.<br />

Dritte Fallgeschichte<br />

Letzte Geschichte. „Klein, aber nicht fein”<br />

Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch an Jaqueline ist erstmals aufgetaucht, als sie 12<br />

war. Sie hat sich einer Freundin (1) anvertraut, die ist dann mit ihr zur Frau Direktor (2)<br />

gegangen, dann wurde die Schulärztin (3) geholt und danach das Jugend<strong>am</strong>t verständigt.<br />

Eine Sozialarbeiterin (4) und eine Psychologin (5) haben mit Jaqueline gesprochen.<br />

Dann ist eine Anzeige gemacht worden, wodurch eine Einvernahme durch eine Polizistin<br />

(6), den Untersuchungsrichter (7), die Begutachtung durch den Gerichtssachverständigen<br />

(8) und die Befragung in der Hauptverhandlung (9) folgten. Mit der ersten<br />

Therapeutin (10) k<strong>am</strong> Jaqueline nicht soo gut zurecht, also wurden noch zwei weitere<br />

Versuche (11+12) gemacht, ja und dann noch die Erzieherinnen (13–16) im Jugendheim.<br />

Hoffentlich hat Jaqueline niemanden vergessen?<br />

Ach ja, die Mutter (17) und die Großmutter väterlicherseits (18), die gar nicht glauben<br />

kann, dass ihr Bub so etwas machen könnte („Das bildest du dir doch nur ein, gell!“) wollten<br />

die Geschichte auch genau erzählt bekommen.<br />

Für eine Verurteilung des Beschuldigten haben die Beweise nicht gereicht.<br />

Gut gemeint heißt nicht automatisch gut<br />

Sie, verehrte Experten und Expertinnen, wissen natürlich, dass so etwas heute nicht<br />

mehr sein muss. Heute kann es nicht mehr vorkommen, dass ein missbrauchtes <strong>Kind</strong><br />

quasi von Amts wegen 18 (!) mal irgendjemandem seine Geschichte erzählen muss. Sich<br />

18 (!) mal rechtfertigen muss, dass es ein Problem hat;<br />

18 (!) mal zugeben muss, in eine komplett unaushaltbare Situationen geraten zu sein und<br />

nicht den Mund gehalten zu haben; 18 (!) mal mit Leuten konfrontiert wird, die sagen:<br />

„So, wie du das sagst, kann es doch gar nicht gewesen sein.”<br />

Sie werden sagen, das kann man heute alles schon viel besser machen, es gibt doch<br />

diese kontradiktorische Befragung. Die soll doch nur einmal stattfinden und nicht beim<br />

Untersuchungsrichter und beim Hauptverhandlungsteil und bei insges<strong>am</strong>t 18 Personen.<br />

Springen Sie jetzt um 20 Jahre zurück. Hat d<strong>am</strong>als jemand gesagt: „So viele Helfer“?<br />

Alle Finger hätten Sie sich abgeschleckt, wenn es so viele Helfer gegeben hätte!<br />

87


Lauter hervorragend<br />

geschulte IntervenientInnen.<br />

Lauter<br />

Professionalistinnen<br />

und Professionalisten.<br />

Alle wollen nur<br />

das Beste vom <strong>Kind</strong>.<br />

(Hoffentlich kriegen<br />

sie es nicht!)<br />

88<br />

Man hätte es als einen großartigen Fortschritt gewertet. Lauter hervorragend geschulte<br />

Intervenienten und Intervenientinnen. Lauter Professionalistinnen und Professionalisten.<br />

Alle wollen nur das Beste vom <strong>Kind</strong>.<br />

Hoffentlich kriegen sie es nicht.<br />

Wir alle handeln immer in bester Absicht. Na klar. Trotzdem kann es passieren, dass wir<br />

d<strong>am</strong>it Schaden anrichten. Auch wenn das wirklich keiner von uns absichtlich tut.<br />

In einer ganz interessanten Arbeit in der Zeitschrift „Praxis der <strong>Kind</strong>erpsychologie“ im vorigen<br />

Jahr ist dieser Teufelskreis aufgezeigt worden. Der Teufelskreis: Was passiert,<br />

wenn man nicht auf eigene Fehler hinschaut, wenn man nicht eine selbstkritische<br />

Perspektive einnimmt, wenn man nicht von Selbstverständlichkeiten abgeht?<br />

Vereinfacht zus<strong>am</strong>mengefasst steht dort, dass es dadurch zu einem Klima des gegenseitigen<br />

fachlichen und vielleicht auch wissenschaftlichen Schulterklopfens kommt.<br />

Gut sind wir, fesch sind wir, wir machen eh alles, was wir können, und außerdem ist die<br />

Arbeit immer zu viel.<br />

Natürlich! Gut sind wir – das hoffe ich schon für unsere Klienten; fesch sind wir – das<br />

überlasse ich jedem selbst; wir machen, was wir können – das kann manchmal gefährlich<br />

werden; und die Arbeit wird zu viel – natürlich.<br />

Wir sollten uns natürlich auch überlegen, was wir dagegen unternehmen können. Wieder<br />

so ein Katalog, werden Sie sagen, und Recht haben Sie. Ich wollte es Ihnen einfach nicht<br />

ersparen. Wie könnten wir diese immer wieder drohende sekundäre Traumatisierung<br />

weitgehend vermeiden? Wenn wir es wüssten, säßen wir nicht hier, sondern würden<br />

schon daran arbeiten.<br />

Trotzdem einige Hinweise.<br />

Wie machen wir es besser? – Ein Versuch<br />

l Zunächst einmal eine ehrliche Sicht auf Nachteile beim noch so gut gemeinten<br />

Hilfsangebot. Nur das wird uns in die Lage versetzen, unsere Hilfsangebote zu optimieren.<br />

Und wenn Trennungen ein Nachteil sind, dann muss man d<strong>am</strong>it umgehen.<br />

Man wird sie aus Aspekten von <strong>Kind</strong>erschutz nicht automatisch vermeiden können,<br />

aber man muss sie in seine Überlegungen einbeziehen.<br />

Man muss diesem Aspekt ein zusätzliches Hilfsangebot widmen, inhaltlich, nicht<br />

noch einen Trennungshelfer dazu.<br />

l Fortbildung und Supervision für Helfer/innen, um sich eigenen Fehlern und<br />

Fehlentscheidungen stellen zu können und daraus zu lernen.<br />

Das ist ein Aufruf an jede und jeden Einzelnen von Ihnen und natürlich an die<br />

Dienstgeber, so etwas zu ermöglichen. Supervision und Fortbildung fallen nicht von<br />

allein vom Himmel.<br />

l Qualitätsentwicklung aus der Perspektive „<strong>Kind</strong>erschutz als Konsumentenschutz“.<br />

Wieso? – Weil es manchmal hilft, sich vorzustellen, ein <strong>Kind</strong>, 11, 12 Jahre<br />

alt, wäre Klient eines <strong>am</strong>erikanischen Konsumentenschutzanwaltes und würde sagen<br />

„Ist das wirklich das Beste, was Sie für mich tun konnten? Können Sie das beweisen?<br />

Haben Sie alle Möglichkeiten gut überlegt und mir wirklich das Beste angeboten,<br />

oder haben Sie irgendeine Routine in der Schublade, nach der ich abgehandelt<br />

worden bin?“<br />

l Und ein letzter Punkt (und hier schließt sich wieder der Kreis im Bereich Öffentlichkeitsarbeit):<br />

Ich habe es ganz <strong>am</strong> Anfang schon angedeutet. Öffentlichkeitsarbeit<br />

nicht nur reaktiv beim Skandal. Das ist eine Situation, in der wir immer wieder sind.<br />

Einem <strong>Kind</strong> geht es so schlecht, dass es auch den Medien auffällt. Es wird berichtet,<br />

es wird vorverurteilt, es wird gefragt „Warum habt ihr denn nicht ...?“


l Wenn dann erst mit Öffentlichkeitsarbeit begonnen wird, wird man der Sache nicht<br />

wirklich helfen. Da schwankt man zwischen Dementi und „Bin in einer Besprechung“,<br />

oder man versucht es mit Ehrlichkeit und hofft, dass etwas Verwandtes davon dann<br />

auch in den Medien gebracht wird.<br />

Aber tatsächlich geht es um etwas ganz anderes bei der Öffentlichkeitsarbeit. Es geht<br />

um eine begleitende Form, aktiv und permanent und nicht nur d<strong>am</strong>it etwas in der<br />

Zeitung steht.<br />

Öffentlichkeitsarbeit soll ein positiv formuliertes Ziel haben, d<strong>am</strong>it auch Entscheidungsträger<br />

rechtzeitig die erforderlichen Mittel bereitzustellen gewillt sind. Diese<br />

Entscheidungsträger bedienen sich nämlich in vielerlei Hinsicht nicht unserer fachlichen<br />

Hinweise, sondern der Informationen und dem Druck der Medien. Und das<br />

sollte uns Mut machen, auch diesen Teil unserer Arbeit zu übernehmen.<br />

Zum Schluss nehmen Sie vielleicht einen Satz als Zus<strong>am</strong>menfassung mit:<br />

Wenn wir überall dort, wo wir gut gemeinte Hilfe anbringen, die Aspekte beachten, wie<br />

sie aus der Zukunft her kritisch gesehen werden könnten, dann könnten wir doch mit der<br />

Verbesserung schon morgen früh beginnen. Dankeschön!<br />

89


90<br />

„Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“<br />

„Schule – ein Ort der Tat“<br />

Referentinnen: Dir. Gertraud Schimak, Mag. Dagmar Friedl<br />

Sehr verehrte D<strong>am</strong>en und Herren!<br />

„Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“ – wir sind Goethes Worten nachgegangen und auf<br />

Seneca gestoßen.<br />

Dieser hat Aphorismen des Hippokrates übernommen bzw. verschriftlicht. Der Geheimrat<br />

benützt lediglich den Beginn eines Hippokratischen Aphorismus, wir wollen Ihnen den<br />

vollständigen Text nicht vorenthalten:<br />

„Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, die Gelegenheit<br />

flüchtig, der Versuch gefährlich, die Entscheidung schwer.“<br />

Wir freuen uns, in der Kürze der Zeit und mit Hilfe Ihrer Aufmerks<strong>am</strong>keit über die flüchtige<br />

Gelegenheiten, den gefährlichen Versuch und die schwierige Entscheidung in den<br />

Dialog treten zu dürfen über ein sehr komplexes Thema: nämlich dem der hohen Kunst<br />

des Miteinander in der Institution Schule.<br />

Wie dieses Miteinander z.B. auch aussehen kann, zeigt die Entwicklungsgeschichte zum<br />

Goethe-Zitat, wie wir sie in der Einleitung dargestellt haben.<br />

Vom „Miteinander“ der historischen Persönlichkeiten zum Miteinander der Institution<br />

Schule – versuchen wir gemeins<strong>am</strong> den Transfer:<br />

Ersetzen wir Goethe durch Personen des Lehrkörpers – sie verdichten, sie fassen zus<strong>am</strong>men,<br />

sie entrümpeln; Seneca, der von Hippokrates übernimmt und verschriftlicht, ersetzen<br />

wir durch Vertreter/innen der Schulbehörde und Hippokrates durch die<br />

Gesellschaft.<br />

Und nehmen Sie unser gemeins<strong>am</strong>es Auftreten, als äußeres Zeichen für unsere Überzeugung,<br />

dass Lernen nur im Dialog gelingen kann, aber auch misslingt, wenn dieser<br />

verweigert wird.<br />

Dazu ein Beispiel aus dem schulischen Alltag:<br />

Erste Klasse Volksschule, zweite Stunde, Lerneinheit: Buchstaben-Laut-Zuordnung <strong>am</strong><br />

Buchstaben P, 24 Schüler/innen, eine Lehrerin, Unterrichtssprache Deutsch.<br />

Der Schüler Patrick (P-atrick!) sitzt ganz hinten auf dem Boden, sieht also alle <strong>Kind</strong>er nur<br />

von hinten, die Lehrerin kommentiert erklärend: „Ich halte ihn sonst nicht aus.“<br />

Die Lehrerin bietet zum Buchstaben P verschiedene Gegenstände an, alles beginnt mit<br />

P oder enthält diesen Buchstaben: Puppe, Postkasten, Zahnpasta, Papier.<br />

Patrick holt sich einen Teil des Angebotes und bemüht sich offensichtlich um<br />

Konzentration und Teilnahme.<br />

Patrick ergreift eine kleine Puppe, springt selbst freudig auf und ab und schreit laut und<br />

begeistert: „Peppo, hopp! Peppo, hopp!“<br />

Lehrerin: „Patrick, jetzt ist aber Schluss!“<br />

Patrick springt weiter auf und ab, die kleine Papierpuppe in seiner Hand.<br />

Lehrerin, läuft zu Patrick, nimmt ihm die Papierpuppe weg und fordert ihn nachdrücklich<br />

auf: „Patrick! Mach endlich mit!“<br />

Und das <strong>Kind</strong> mit dem glücklichen N<strong>am</strong>en P-atrick – es könnte heute seinen besonderen<br />

Tag haben, würde sein N<strong>am</strong>e Beachtung finden –, das <strong>Kind</strong> Patrick, das so einfallsreich<br />

seine Puppe Peppo taufte und mit der Aufforderung „Hopp!“ springen ließ, hat nun<br />

keine Puppe mehr und setzt sich still und ruhig, wie gefordert, auf seinen Platz zurück.


Wir überlassen es Ihrer Fantasie, wie er der Aufforderung „Mach jetzt endlich mit!“ nachkommen<br />

wird.<br />

Eine unbedeutend scheinende, fast mikroskopisch kleine Momentaufnahme aus dem<br />

Schulalltag – und wo ist die <strong>Gewalt</strong>?<br />

<strong>Gewalt</strong> ist dort, wo nicht hingehört wird, wo nicht aufeinander gehört wird, wo bestehende<br />

Erwartungen keine Neugierde zulassen, wo unvorbereitete, also nicht vorausgedachte,<br />

spontane Reaktionen keinen Platz haben und Raum und Zeit für Entwicklungsprozesse<br />

fehlen.<br />

Und wo ist die <strong>Gewalt</strong>?<br />

<strong>Gewalt</strong> ist dort, wo es nicht um Entwicklung, also prozesshaftes Geschehen gehen darf,<br />

sondern in einer vorgegebenen Zeit zu vorgegebenen Bedingungen und mit vorgegebenen,<br />

weil vorbereiteten und daher eingeschränkten, fixierten Mitteln ein bestimmtes<br />

Ziel erreicht werden soll.<br />

<strong>Gewalt</strong> ist dort, wo es nicht um die Persönlichkeit von Schüler/innen, nicht um die<br />

Wahrnehmung ihrer Ideen und emotionalen Befindlichkeit, sondern um scheinbaren<br />

Erfolg von Lehrer/innen geht.<br />

Beispiel AHS, Englisch-Stunde: Eine Schülerin kommt erheblich zu spät zum Unterricht<br />

und entschuldigt sich mit den Worten: „Ich habe heute nicht geschlafen, meine Oma ist<br />

in der Nacht gestorben.“ Darauf die Lehrerin: „It’s O.k. But tell me in English!“<br />

Ein anderes Beispiel. Elternabend, die Klassenlehrerin stellt sich und ihre Arbeitsweise<br />

vor: „Ich werde Ihre <strong>Kind</strong>er mit s<strong>am</strong>tener Faust behandeln!“<br />

Oder dies: Hauptschule, der Klassenvorstand begrüßt die Schüler/innen seiner Klasse<br />

mit den Worten: „Das sage ich euch gleich: Ich bin als strengster Lehrer der Schule bekannt!“<br />

Aber auch das: Begrüßung eines neuen Schülers durch einen Klassenlehrer:<br />

„Ah, deine F<strong>am</strong>ilie kenne ich, ich kenn ja deinen Bruder. Hoffentlich hast du eine andere<br />

Arbeitshaltung als er.“<br />

<strong>Gewalt</strong> ist dort, wo das Gegenüber nicht wahrgenommen wird, wo autoritäre Herrschaft<br />

vorbeugend – sicher ist sicher! – Schüler/innen klein, mundtot und leicht lenkbar machen<br />

soll.<br />

Schule – ein Ort der Tat<br />

<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong> als Alltagsphänomen – auch wir sind Täter/innen und Opfer. Eine<br />

Tatsache, die uns erschrecken darf, aber nicht schockieren, die uns betroffen machen<br />

darf, aber nicht handlungsunfähig.<br />

Wenn wir in der bisherigen Darstellung den Fokus auf die Täterschaft im Bereich Schule<br />

gerichtet haben, wollen wir dennoch nicht vergessen, wie sehr <strong>am</strong> Schulgeschehen<br />

Beteiligte auch Opfer des Phänomens „<strong>Psychische</strong> <strong>Gewalt</strong>“ sein können und de facto<br />

auch sind.<br />

Gestatten Sie uns auch jene Perspektive, die Täterinnen und Tätern überwiegend<br />

fehlende Vorsätzlichkeit der Tat unterstellt.<br />

Denn welche Personengruppe im Kontext Schule wir auch betrachten – Eltern,<br />

Schüler/innen, Lehrer/innen, Schulleiter/innen, Vertreter/innen der Schulbehörde – wir<br />

sind überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit der Problembeteiligten sich nicht<br />

kollektiv entschlossen hat, Bösewichte und <strong>Gewalt</strong>täter/innen zu werden und zu sein.<br />

Nein! Und das entschieden!<br />

Denn das Gegenteil ist der Fall: Was geschieht, firmiert unter lautersten Absichten und<br />

bei hohen Erwartungen und Zielen.<br />

Aber es geschieht auch – und das ist unsere zweite Hypothese – in Unkenntnis, im<br />

Zustand der Kantschen Unmündigkeit bezüglich grundlegender Kenntnisse menschlicher<br />

Psychodyn<strong>am</strong>ik und Kommunikation.<br />

91


92<br />

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit.“<br />

(Kant).<br />

Aufklärung versus Schuldzuweisung, Aufklärung im Sinne des Klarstellens, der klärenden<br />

Einsicht des Problembewusstseins, der Exploration des eigenen Selbst, der<br />

Erkenntnis. Aufklärung im Sinne der Selbst-Erkenntnis.<br />

Schule ist aber auch Ort der Tat in anderer Hinsicht:<br />

Schule als Institution, die alle <strong>Kind</strong>er und Jugendlichen durchwandern müssen, birgt unendliche<br />

Chancen, all das zu lernen, was andernorts nicht gelernt werden konnte.<br />

Schule als Ort der Tat, der Handlung, wo nachgeholt werden darf, wozu es andernorts<br />

keine Gelegenheit gab, wo es möglich sein muss, Fehler zu machen, die nicht sanktioniert,<br />

sondern als Gelegenheit, neue Lösungsansätze zu finden, begrüßt werden.<br />

Schule als Ort, der Probehandeln nicht nur ermöglicht, sondern nachgerade die<br />

Bedingungen für dieses bereitstellt, Bedingungen, die da sind:<br />

l vielfältige Beziehungsangebote,<br />

l Echtheit,<br />

l Flexibilität,<br />

l Einfühlung,<br />

l Erleben der eigenen Fähigkeiten und Grenzen<br />

l und ein offenes Angebot von Zeit und Raum.<br />

Das Ziel der Bemühungen im Kontext der genannten Bedingungen hieße dann das<br />

Erreichen personaler Kompetenz als der Möglichkeit, sich selbst im Umfeld wahrzunehmen,<br />

Bedürfnisse und Interessen adäquat zu formulieren und zu vertreten und Sinn im<br />

persönlichen und im Gruppen-Leben zu finden.<br />

Schule ist auch dieser Ort der Tat.<br />

Schuleingangsphase, Sarah, 8 Jahre alt, steht im Klassenzimmer. Non-verbal artikuliert<br />

sie Verzweiflung und Hilflosigkeit und teilt der Lehrerin mit:<br />

„Meine Oma hat gesagt, der N<strong>am</strong>e Sarah gefällt ihr nicht.“<br />

Die Lehrerin: „Das muss aber ganz schwer für dich sein.“<br />

Sarah setzt sich auf den Schoß der Lehrerin und beginnt zu weinen.<br />

Lehrerin, streichelt Sarah: „Das tut aber sehr weh.“<br />

Andere <strong>Kind</strong>er aus der Gruppe verlassen nach und nach ihre Arbeit und wenden sich<br />

Sarah zu:<br />

„Hör einfach nicht hin!“<br />

„Wenn sie das sagt, sag ihr, dass dir ihr N<strong>am</strong>e auch nicht gefällt.“<br />

„Sprich einfach einen Tag lang nicht mit ihr!“<br />

Die <strong>Kind</strong>er sind ganz nah bei Sarah angekommen und bieten ihre jeweils eigenen<br />

Lösungen an. Sarah spürt Interesse an ihrem Problem und fühlt die innere<br />

Verbundenheit, kann zwar keine dieser Lösungen als die ihre anerkennen, fühlt sich aber<br />

angenommen und getröstet, hört zu weinen auf und sagt: „Ich werd’ die Oma anrufen.“<br />

Wie sonst könnte sich personale Kompetenz eines <strong>Kind</strong>es äußern?<br />

Worin äußert sich die personale Kompetenz der Lehrerin?<br />

„... die Gelegenheit ist flüchtig ...“<br />

Durch die offene Wahrnehmung und die einfühlende Reaktion der Lehrerin, die sofort<br />

Raum und Zeit zur Verfügung stellt, die nicht auf Fortsetzung der Arbeit beharrt, entsteht<br />

eine Atmosphäre von Geborgenheit, in der die <strong>Kind</strong>er unaufgefordert ganz frei und entsprechend<br />

ihren Fähigkeiten Handlungsmöglichkeiten anbieten. Bewertungen fehlen.<br />

Weil die Lehrerin diesen äußeren Rahmen der Freiheit gibt, ermöglicht sie jedem einzelnen<br />

<strong>Kind</strong> einen angstfreien Zugang zur eigenen kreativen Möglichkeit.


Niemand muss überzeugen, niemand muss überzeugt werden.<br />

Frei von Bewertung kann Sarah zuhören und gelangt zu der ihr adäquaten eigenen<br />

Lösung. Alle angebotenen Lösungswege bedeuten eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten<br />

der beteiligten <strong>Kind</strong>er.<br />

Das sind Sternminuten der Pädagogik, die sich sogar als Sternstunden herausstellen,<br />

da Sarah frei von Bewertung zuhören kann und so zu der ihr eigenen Lösungsmöglichkeit<br />

gelangt.<br />

Und Sternstunde der Pädagogik auch daher, weil dieses Miteinander beweist, dass alle<br />

angebotenen Lösungsmöglichkeiten Sinn machen, nämlich jeweils für den Anbieter bzw.<br />

die Anbieterin. Und die Ges<strong>am</strong>theit der Lösungswege bedeutet zudem eine Möglichkeit<br />

zur Erweiterung des Handlungsspielraumes aller beteiligten <strong>Kind</strong>er, auch derjenigen, die<br />

sich nicht direkt involviert haben, sind sie doch Hörende. Alle <strong>Kind</strong>er und auch die<br />

Lehrerin erleben, dass es zu einem Problem viele Lösungsmöglichkeiten gibt.<br />

Und das ist Freiheit: aus dem Angebot wählen dürfen, nicht müssen, und mit dem eigenen<br />

Lösungsansatz selbstbestimmt zu entscheiden.<br />

Wäre da nur nicht die Angst ...<br />

„... der Versuch ist gefährlich, die Entscheidung schwer ...“<br />

Welche Ängste können eine Lehrerin geradezu heimsuchen, wenn sie sich auf einen derartigen<br />

Versuch einlässt? – Gedanken wie<br />

... und wenn jetzt alle die Arbeit verlassen?...<br />

... und wenn ein Streit unter den <strong>Kind</strong>ern um die beste/die einzige Lösung ausbricht?...<br />

... und wenn Sarah untröstlich weiterweint?...<br />

... und wenn ich selbst die beste Lösung nicht finde?...<br />

... und wenn meine beste Lösung von Sarah nicht angenommen wird?...<br />

... oder wenn Sarah eine Lösung wählt, die ich nicht für gut halte?...<br />

... und wenn die (schon bekannte) Oma auf einmal vor der Klassentür steht?...<br />

... und wenn ... und wenn ... und aber ... und wenn ... und wenn und aber ...<br />

... und tatsächlich: Manchmal wird alles ganz anders und viel schwieriger als erwartet.<br />

Na wunderbar! Jetzt gilt es für die Lehrerin, neue Möglichkeiten in der Schwierigkeit zu<br />

entdecken und eine Erweiterung ihres Handlungsspielraumes erfahren zu dürfen.<br />

Nannten wir nicht Schule einen Ort des Lernens für alle Beteiligten?<br />

„... die Kunst ist lang ...“<br />

In unserem Zitat geht es um die Kunst, und die Kunst der Beziehungsfähigkeit stellt ohne<br />

Zweifel hohe Anforderungen an Lehrer/innen. Diese Kunst setzt lebenslanges Lernen an<br />

der eigenen Persönlichkeit voraus.<br />

Und selbst bei besten Voraussetzungen einer reifen, eigenverantwortlichen Lehrerinnen-<br />

Persönlichkeit besteht die Gültigkeit der aphoristisch zitierten Tat-Sachen: die Kürze der<br />

Zeit, die Flüchtigkeit der Gelegenheit, die Gefährlichkeit des Versuches und die<br />

Schwierigkeit der Entscheidung.<br />

Nochmals: Selbst unter besten Voraussetzungen kann es möglich sein, dass<br />

Lehrerinnen ihr eigenes Gefühl der Hilflosigkeit entweder nicht von dem des <strong>Kind</strong>es unterscheiden<br />

können oder es nicht als Ausdruck der Hilflosigkeit des <strong>Kind</strong>es identifizieren<br />

können.<br />

Steht das eigene Erleben im Vordergrund, ist der freie Blick auf die psychische Realität<br />

des <strong>Kind</strong>es nicht möglich.<br />

Diese Perspektive erst würde die Annahme des <strong>Kind</strong>es sowie Sympathie und Solidarität<br />

für seine Situation ermöglichen. 93


94<br />

Das Gefühl der Hilflosigkeit im <strong>Kind</strong> – oft bedingt durch sein bisheriges Erleben und<br />

Mangel an Handlungsalternativen – und daraus abgeleitete Inszenierungen zeigen die<br />

Verzweiflung fehlender Ich-Stärke.<br />

Kann ein Lehrer/eine Lehrerin das eigene Erleben als Übertragung der Gefühlswelt des<br />

<strong>Kind</strong>es erkennen, bleibt seine/ihre Handlungsfähigkeit bestehen. Der/Die Lehrer/in wird<br />

in der Beziehung weiterhin bemüht sein, den Selbstwert des <strong>Kind</strong>es zu erhalten und seine<br />

Entwicklung zu fördern.<br />

„ Ach Gott! Die Kunst ist lang<br />

Und kurz ist unser Leben. Mir wird,<br />

Bei meinem kritischen Bestreben,<br />

Doch oft um Kopf und Busen bang.<br />

Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben,<br />

Durch die man zu den Quellen steigt!<br />

Und eh man nur den halben Weg erreicht,<br />

Muß wohl ein armer Teufel sterben. “<br />

(Wagner in „Faust“)<br />

Und wie sind nun „die Mittel zu erwerben, durch die man zu den Quellen steigt“?<br />

Lehrer/innen werden im Schulalltag immer wieder mit eigenen Bedürfnissen konfrontiert,<br />

in der Person des Schülers/der Schülerin begegnet jeder Lehrer/jede Lehrerin immer<br />

auch sich selbst. Gleichzeitig stellen die Bedürfnisse des <strong>Kind</strong>es höchste Anforderungen<br />

an Lehrer/innen, zusätzlich zu den eigenen, meist über-fordernden Erwartungen. Hier<br />

ist die Fähigkeit der Lehrer/innen gefordert, die eigenen Gefühle als solche zu erkennen<br />

und sie in Bezug zur aktuellen Situation zu setzen. Das bedeutet einen Wechsel der<br />

Perspektive: weg vom Verhalten, hin zum Erleben.<br />

In unserer Illustration durch die Schülerin Sarah hieße die Perspektive „Verhalten“, dass<br />

sich die Lehrerin auf das Weinen konzentriert, auch darauf, dass andere Schüler/innen<br />

den Arbeitsplatz unaufgefordert verlassen.<br />

Die Lehrerin in unserem Beispiel richtet den Fokus jedoch auf das Erleben und initiiert<br />

d<strong>am</strong>it nachhaltige Erfahrungen für alle Beteiligten, Lernen eben.<br />

Ohne Kenntnis der jeweils eigenen Persönlichkeitsstruktur, also ohne entsprechende<br />

Selbsterfahrung, fehlt in der aktuellen Situation eine tatsächliche Wahlmöglichkeit. Die<br />

eigene Befindlichkeit, nämlich die der Lehrerin, geht bevor und bestimmt die Antwort an<br />

das <strong>Kind</strong>.<br />

Kehren wir noch einmal zu unserem ersten Beispiel zurück: der Schüler Patrick, der,<br />

„Peppo, hopp!“, die Puppe ergreift und in seinem Angebot an die Lehrerin letztendlich<br />

nicht wahrgenommen wird.<br />

Uns fällt auf, dass die Lehrerin mit der Aussage „Ich halte ihn sonst nicht aus.“ eine<br />

Grenze erkennt und dadurch Kompetenz beweist. Die Grenzen wahrzunehmen bedeutet<br />

dann Erkenntnis, wenn die Lehrerin daraus die Bereitschaft zu weiteren Fragen entwickeln<br />

kann.<br />

Nietzsche sagt: „Werde, der du bist!“, und wir denken, diese Aufforderung oder<br />

Forderung an den Menschen impliziert als erste Frage diese: Wer bin ich? Und unmittelbar<br />

daran anschließend: Was brauche ich, um zu werden, wer ich bin?<br />

Für die Lehrerin heißt das: Was brauche ich, um diese Situation bewältigen zu können?<br />

Unterstützt werden unsere Thesen durch ein, wie uns scheint, ganz besonderes Zitat von<br />

Hartmut von Hentig, der schreibt:<br />

„Die Persönlichkeit des Lehrers sei sein bestes Curriculum.“<br />

Persönlichkeitsbildung aber ist ein dyn<strong>am</strong>ischer Prozess und durch Aus- und<br />

Weiterbildung niemals zu vollenden, sehr wohl aber durch diese anzubieten, zu initiieren,<br />

zu begleiten und letztendlich auch immer wieder zu fordern.


Bleibt das Vertrauen: das Vertrauen in uns selbst und in die eigenen Fähigkeiten, in die<br />

Dyn<strong>am</strong>ik der eigenen Entwicklung und in die der uns anvertrauten <strong>Kind</strong>er.<br />

Entwicklung lässt sich nicht verordnen. Sie geschieht zum einzig möglichen und daher<br />

richtigen Zeitpunkt. Manchmal wie zur Bestätigung, und manchmal zu unserer Überraschung.<br />

Wir danken für Ihre Aufmerks<strong>am</strong>keit!<br />

„ An einem dürren Ast<br />

Ist eine Blüt’ erblüht<br />

Hat sich heut nacht bemüht<br />

Und nicht den Mai verpaßt.<br />

Ich hatt’ so kein Vertraun<br />

Daß ich ihn schon verwarf<br />

Für Anblick und Bedarf<br />

Hätt ihn fast abgehaun. “<br />

(Bert Brecht)<br />

95


96<br />

„Da steh ich nun, ich armer Tor,<br />

und bin so klug als wie zuvor“<br />

„Entlastungsstrukturen“<br />

Referent: Dr. Stefan Allgäuer<br />

Was braucht es für Bedingungen, dass wir Hilfsstrukturen anbieten können, die tatsächlich<br />

auch bei denjenigen Entlastung erreichen, die von <strong>Gewalt</strong>, von psychischer und anderer<br />

<strong>Gewalt</strong> betroffen sind?<br />

Diesen Fragen will ich nachgehen. Doch dazu müssen wir zuvor sozusagen einen Blick<br />

hinter die Kulissen werfen.<br />

Im Wechselbad der Gefühle<br />

Alle, die wir im psychosozialen Umfeld arbeiten, arbeiten in einem Spannungsfeld:<br />

Einerseits müssen wir uns als Profis unserer Schwächen, unserer Unzulänglichkeiten<br />

klar sein, müssen uns unser Nicht-Erreichen und manchmal erfolgloses Bemühen offen<br />

eingestehen.<br />

Andererseits müssen wir immer wieder dokumentieren, nachweisen, begründen, erklären,<br />

dass das, was wir tun, auch effektiv ist, Resultate bringt, notwendig ist – denn<br />

sonst bekommen wir keine Finanzierung.<br />

In diesem Wechselbad der Gefühle befinde auch ich mich oft in meiner Arbeit.<br />

Wenn man das Thema psychische <strong>Gewalt</strong> und andere <strong>Gewalt</strong> in all seiner Differenziertheit<br />

anschaut, dann sieht man vier unterschiedliche Handlungsfelder für alle, die in diesem<br />

Bereich tätig sind. D<strong>am</strong>it meine ich nicht nur Profis, nicht nur jene, die dafür bezahlt<br />

werden, sondern alle, die in einen bestimmten Bereich dafür zuständig sind und die entsprechende<br />

Kompetenz mitbringen; das sind auch Eltern, das sind natürlich die<br />

Pädagogen und Pädagoginnen, sind viele andere mitwirkende Personen auch.<br />

+<br />

+<br />

S<br />

U<br />

B<br />

J.<br />

E<br />

R<br />

L<br />

E<br />

B<br />

E<br />

N<br />

–<br />

Die vier Handlungsfelder von psychischer <strong>Gewalt</strong><br />

subjektive <strong>Gewalt</strong>erfahrung:<br />

Behandlung<br />

und Unterstützung<br />

3<br />

Alltagssituationen:<br />

Prävention, Erziehung<br />

und Gesellschaft<br />

4<br />

massive, sichtbare <strong>Gewalt</strong><br />

und Reaktion:<br />

Behandlung, Schutz<br />

und Maßnahmen<br />

– INTENSITÄT ++<br />

1<br />

<strong>Gewalt</strong> mit wenig<br />

(sichtbarer) Reaktion:<br />

Beobachtung, Begleitung,<br />

Sorge und Sicherung<br />

2


Wenn wir das Thema „psychische <strong>Gewalt</strong>“ und „<strong>Gewalt</strong>“ anschauen, dann gibt es zwei<br />

unterschiedliche Vektoren, die eine Rolle spielen:<br />

zum einem (untere waagrechte Linie) der Vektor der Intensität des Erlebens, also wie<br />

stark die Intensität der <strong>Gewalt</strong> ist, wie stark die <strong>Gewalt</strong> scheinbar oder wirklich ist;<br />

auf der anderen Seite die vertikale Linie, wo wir unterscheiden können, wie ein <strong>Kind</strong> oder<br />

ein Jugendlicher jeweils die unterschiedliche <strong>Gewalt</strong> erlebt, denn das ist ja nicht immer<br />

das Gleiche.<br />

Wenn man das dann in einem einfachen Schema auflöst, ergeben sich ganz grob und<br />

ganz unscharf vier unterschiedliche Handlungsfelder für Entlastungsstrukturen.<br />

Und diese vier Handlungsfelder sind:<br />

zum einen jener Bereich (1, rechts oben), in dem es eine hohe Intensität von <strong>Gewalt</strong> gibt<br />

(wie auch immer die ausgesehen hat). Und auf der anderen Seite ist jener Bereich, wo<br />

ein starkes subjektives Erleben stattgefunden hat, wo <strong>Kind</strong>er, Jugendliche entsprechend<br />

stark reagieren, in welche Richtung auch immer. Das ist der Bereich, den wir uns in den<br />

heutigen Referaten schon vielfach angeschaut haben, wo es Behandlung, Schutz,<br />

Maßnahmen auf allen Ebenen braucht, wo es sehr intensive Hilfs- und Helfermaßnahmen<br />

braucht.<br />

Der zweite Bereich (2, rechts unten), in dem viel <strong>Gewalt</strong> aufscheint und viel <strong>Gewalt</strong> vorhanden<br />

ist, in dem aber <strong>Kind</strong>er, Jugendliche wenig oder sichtbar nicht besonders darauf<br />

reagieren.<br />

Das ist jener Bereich, wo wir all jene Maßnahmen und Handlungen setzen müssen, bei<br />

denen es darum geht, zu beobachten, zu begleiten, Sorge und Sicherung zu gewährleisten.<br />

Hier müssen wir genau schauen, ob diese subjektive Bewältigung nur eine scheinbare<br />

oder eine wirkliche ist. Vielleicht wird hier etwas nur versteckt und kommt dann später<br />

in einer anderen Form wieder hoch.<br />

Das ist jener Bereich, wo gerade auch die Mitarbeit von Pädagogen und Pädagoginnen,<br />

Eltern, anderen Berufen wie <strong>Kind</strong>ergärtner/innen usw. gefordert sind, weil wir – die<br />

Spezialist/innen – in verschiedenen Situationen nicht anwesend und in vielen<br />

Lebensbezügen nicht nahe genug „dran“ sind.<br />

Der dritte Bereich (3, links oben) ist jener, in dem Menschen subjektiv sehr intensiv auf<br />

irgendwelche Dinge reagieren, die mit <strong>Gewalt</strong> zus<strong>am</strong>menhängen, wo aber auf der anderen<br />

Seite der Zus<strong>am</strong>menhang mit der <strong>Gewalt</strong> – mit dem, was tatsächlich passiert ist<br />

– noch nicht oder nicht eindeutig festgestellt werden kann.<br />

Auch das kennen Sie wahrscheinlich aus Ihrer Arbeit – und gerade hier ist es wichtig –<br />

hier sind vor allem die <strong>am</strong>bulanten Dienste und Angebote gefragt –, das sehr ernst zu<br />

nehmen und den Menschen die Möglichkeit zu geben, in Kontakt mit sich, mit ihrem<br />

Erleben und ihrem Erfahren zu kommen; das ist eine ganz andere Form der<br />

Unterstützung in diesem Bereich.<br />

Und viertens jener Bereich (4, links unten), wo es um die scheinbaren Alltagssituationen<br />

geht, wo es darum geht, im präventiven Sinn, im pädagogischen Sinn, im Sinn von<br />

Erziehung, im Sinn von Sozial- und Gesellschaftspolitik sensibel zu werden. Sensibel zu<br />

werden überhaupt im Umgang mit dem Thema <strong>Gewalt</strong> mit- und untereinander.<br />

Das also sind die vier Handlungsfelder.<br />

Ich werde im Folgenden zwei Bereiche zum Thema „Entlastungsstrukturen“ ausführen<br />

und dann noch einen kleinen dritten Punkt zum Thema „Alltagssituationen und<br />

Prävention“.<br />

Auch die Kuh muss ins Zimmer<br />

Die erste Frage ist: „Was müssen wir tun, d<strong>am</strong>it wir bei <strong>Kind</strong>ern, Jugendlichen, die im<br />

<strong>Gewalt</strong>kontext mit <strong>Gewalt</strong> konfrontiert waren, eine Entlastung erreichen?“<br />

Ich möchte diese Frage sehr bewusst immer wieder so stellen, weil wir als Profis nicht<br />

nur darauf schauen dürfen „Was ist die richtige Methode? Was muss man tun? Was ist 97


98<br />

Oft können wir<br />

erst helfen, wenn<br />

<strong>Gewalt</strong> eskaliert.<br />

Vorschrift?“ usw., sondern eben immer wieder darauf schauen müssen: „Was können wir<br />

tun, d<strong>am</strong>it der oder die Betroffene auch tatsächlich etwas spürt und tatsächlich etwas in<br />

ihm/in ihr bewirkt wird?“<br />

Was braucht es, d<strong>am</strong>it <strong>Kind</strong>er und Jugendliche Entlastung erleben?<br />

Wir haben es da mit einem schwierigen und komplexen Thema zu tun, und das möchte<br />

ich mit einer kleinen Geschichte noch etwas verdeutlichen.<br />

Ein Mann kommt zum Meister und sagt: „Meister, ich brauche dringend Hilfe, sonst werde<br />

ich verrückt. Ich lebe mit meiner Frau, den <strong>Kind</strong>ern und Schwiegereltern in einem einzigen<br />

Raum. Wir sind mit unseren Nerven <strong>am</strong> Ende, wir brüllen uns an und schreien uns<br />

an. Es ist die Hölle. Was soll ich nur tun?“<br />

„Versprichst du alles zu tun, was ich dir sage?”, fragt der Meister.<br />

„Ich schwöre, ich werde es tun“, antwortet der verzweifelte Mann.<br />

„Gut. Wie viele Haustiere hast du?“<br />

„Eine Kuh, eine Ziege und 10 Hühner.“<br />

„Gut, nimm sie alle zu dir ins Zimmer, dann komm in einer Woche wieder“.<br />

Der Hilfesuchende war entsetzt, aber er hatte versprochen zu gehorchen. Also nahm er<br />

die Tiere ins Haus. Eine Woche später k<strong>am</strong> er wieder, ein Bild des J<strong>am</strong>mers.<br />

Er stöhnte: „Ich bin ein Wrack; der Schmutz, der Gestank, der Lärm, wir sind alle <strong>am</strong> Rand<br />

des Wahnsinns.”<br />

„Nun geh nach Hause“, sagte der Meister „und bring jetzt die Tiere wieder nach draußen.“<br />

Der Mann rannte den ganzen Heimweg und k<strong>am</strong> <strong>am</strong> nächsten Tag freudestrahlend zum<br />

Meister zurück.<br />

„Wie schön ist das Leben. Die Tiere sind draußen, die Wohnung ein Paradies, so ruhig,<br />

so sauber, so viel Platz.“<br />

Ich hab das Beispiel nicht darum gebracht, weil man uns Helfern oft vorwirft, dass wir bestenfalls<br />

die Probleme lösen, die wir selber verursachen.<br />

Ich habe es deswegen gebracht, weil wir uns oft und gerade bei diesem Thema in der<br />

schwierigen Situation befinden, abwarten zu müssen, bis <strong>Gewalt</strong> eskaliert. Erst dann<br />

können wir helfen.<br />

Wir müssen wie im Bild dieser Geschichte noch die Kuh und die Ziegen hineinstellen,<br />

um überhaupt etwas tun zu können.<br />

Das trifft vor allem oft die Helfer im öffentlichen Bereich, aber manchmal auch im freiwilligen<br />

Bereich. Die Menschen müssen oft erst so viel Druck, so viel Belastung haben,<br />

dass sie dann auch Hilfe suchen und Hilfe annehmen.<br />

Im unten stehenden Schaubild sind 4 Dimensionen skizziert, die beschreiben, welche<br />

Art von Hilfe bei oder nach <strong>Gewalt</strong>erfahrungen entlastend wirkt:<br />

Entlastung bei/nach <strong>Gewalt</strong><br />

rasch, konkret, spürbar (multi-)professionell<br />

klar wertend ganzheitlich


1) <strong>Gewalt</strong> fordert: rasches konkretes Handeln<br />

Entlastung nach <strong>Gewalt</strong> braucht zum einen rasches, konkretes für den oder die<br />

Betroffenen spürbares Handeln.<br />

Sie wissen, <strong>Gewalt</strong> ist häufig etwas, das unmittelbar erfolgt, das unmittelbar erlebt wird,<br />

das zumeist ungeplant und unvorbereitet kommt, und Menschen, die deshalb Hilfe suchen,<br />

brauchen ganz rasch etwas ganz Konkretes.<br />

Um zu entlasten, müssen wir also rasch konkrete Schritte vor- und wahrnehmen.<br />

Solche Schritte sind: Überlegen: Was tut wer? Was geschieht als Nächstes? Was mache<br />

ich?<br />

All das ist auch mit dem betroffenen <strong>Kind</strong> oder Jugendlichen zu kommunizieren.<br />

Auch wenn <strong>Kind</strong>er das vielleicht noch nicht ganz verstehen, so spüren sie dann doch,<br />

dass da jetzt etwas geschieht.<br />

Hilfe, Entlastung erfordert also rasches, konkretes, eben für die Betroffenen spürbares<br />

Handeln.<br />

Ein Beispiel: In einer kleinen Gemeinde wurde eine Missbrauchsituation bekannt.<br />

Ein junger Erwachsener lockte immer wieder jugendliche Burschen, die er über seine<br />

Arbeit als Jugendführer kennen gelernt hatte, zu sich nach Hause. Dort zeigte er ihnen<br />

pornografische Videos usw. und missbrauchte die Jugendlichen zum Teil auch.<br />

Schon als die ersten Erhebungen und Ermittlungen liefen, wurde die „Geschichte“ öffentlich.<br />

Medien hatten irgendwie Wind davon bekommen und berichteten darüber. Und<br />

das zu einem Zeitpunkt, als ein Teil der betroffenen Eltern noch gar nichts davon wusste.<br />

Es wurde öffentlich, bevor einige der betroffenen <strong>Kind</strong>er und Jugendlichen überhaupt<br />

gewusst haben, dass ihre Erfahrungen jetzt an die Öffentlichkeit kommen werden.<br />

In dieser Situation war (und ist) es ganz besonders wichtig, so rasch wie möglich alle<br />

Beteiligten und Betroffenen zus<strong>am</strong>menzuholen. Es muss mit den Eltern und soweit möglich<br />

mit den <strong>Kind</strong>ern, den Lehrer/innen, mit dem Pfarrer, mit dem Arzt/der Ärztin, also wirklich<br />

mit allen Beteiligten darüber gesprochen werden, was jetzt geschehen wird, wer was<br />

tun wird etc.<br />

Da geschah plötzlich etwas ganz Interessantes: Am ersten Tag sind die Zeitungen voll<br />

mit „Missbrauch in der Gemeinde X“ und „Jugendführer missbraucht <strong>Kind</strong>er“ usw. Zum<br />

Teil wurden in den Zeitungen Bilder gezeigt, die zur Folge hatten, dass sich die <strong>Kind</strong>er<br />

nicht mehr aus dem Haus trauten, auch die, die gar nichts d<strong>am</strong>it zu tun hatten. Es wurde<br />

also nochmals und ganz massiv psychische <strong>Gewalt</strong> ausgeübt.<br />

Am nächsten Tag jedoch waren die Medien plötzlich voll von Berichten wie „Hilfe in der<br />

Gemeinde X“.<br />

Das war der erste Schritt, um die Situation zu deeskalieren. Man sprach nicht mehr nur<br />

über die Dr<strong>am</strong>atik der Geschehnisse, sondern über den Weg, wie man jetzt möglichst<br />

allen Beteiligten weiterhelfen kann.<br />

2) <strong>Gewalt</strong> fordert: werten, ohne zu entwerten<br />

Ein zweiter Punkt: Im Umgang mit <strong>Gewalt</strong> sind wir als Helfer gefordert, klar zu werten.<br />

Und das ist durchaus etwas anderes als das, was wir in anderen Bereichen lernen; wo<br />

wir als Helfer nämlich gefordert sind, neutral, objektiv oder einfach zuhörend zu sein.<br />

In der Arbeit mit dem Thema <strong>Gewalt</strong> sind wir gefordert, klar zu werten, nicht abzuwerten<br />

und nicht andere schlecht zu machen, aber doch deutlich annehmend, unterstützend,<br />

akzeptierend zu sagen „Das ist falsch. Das ist ein Verhalten, das nicht in Ordnung ist“<br />

und dem <strong>Kind</strong>, dem Jugendlichen so auch quasi diesen Part zu verstärken oder eine Zeit<br />

lang auch abzunehmen.<br />

Die schwierigste Arbeit ist diejenige mit Opfern, die sagen: „Da war doch nichts. Der hat<br />

doch nix gemacht. Den darf man doch nicht verurteilen.“<br />

Um zu entlasten,<br />

müssen wir rasch<br />

konkrete Schritte<br />

vor- und wahrnehmen.<br />

Missbrauchsituation<br />

in einem kleinen<br />

Dorf – Medien<br />

üben psychische<br />

<strong>Gewalt</strong> aus.<br />

Normalerweise<br />

sollen Helfer/innen<br />

neutral, objektiv<br />

oder einfach zuhörend<br />

sein. Hier müssen<br />

sie klar werten.<br />

99


Wir müssen der<br />

skeptischen Öffentlichkeit<br />

deutlich<br />

machen, dass gerade<br />

mit Hilfe unserer<br />

Disziplinen Entlastung<br />

gebracht<br />

werden kann.<br />

Das soziale Umfeld,<br />

die Beziehung zu<br />

den Täter/innen,<br />

alles muss mit<br />

einbezogen werden.<br />

Sichern die Strukturen,<br />

dass das,<br />

worum es geht, im<br />

Mittelpunkt der<br />

Aufmerks<strong>am</strong>keit<br />

steht?<br />

100<br />

Ihnen in langer Arbeit deutlich zu machen, dass ihr subjektive Erleben, das vielleicht<br />

zwiespältig ist, etwas anderes ist als ein objektives „Richtig“ oder „Falsch“ und dass es<br />

eben Situationen gibt, die so nicht richtig sind, die also Übergriffe sind, ist eine schwierige<br />

Aufgabe.<br />

Ich denke, Entlastung braucht dieses klar Wertende, ohne dass wir dadurch abwerten,<br />

ohne dass wir dadurch den Anderen schlecht machen, ohne dass wir dadurch etwas<br />

kaputt machen.<br />

3) <strong>Gewalt</strong> braucht: multiprofessionelles Handeln<br />

Ein dritter Punkt: Entlastung bei/nach <strong>Gewalt</strong> braucht professionelles oder zum Teil multiprofessionelles<br />

Handeln.<br />

Gerade in einer Zeit, wo das Soziale mehr mit Sozialschmarotzer assoziiert ist als mit<br />

Solidarität, sollten wir, die Professionellen in diesem Bereich, auch deutlich machen, dass<br />

es hier Fachkompetenz braucht, um <strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen zu helfen.<br />

Wir machen uns durch unsere – berechtigten – Zweifel oft schlechter, als wir sind.<br />

Die professionellen Hickhacks oder die öffentlichen Diskussionen unter verschiedenen<br />

Berufsgruppen bzw. Repräsentant/innen von unterschiedlichen Institutionen tun uns<br />

keinen guten Dienst.<br />

Wir sollten viel mehr einer doch sehr skeptischen Öffentlichkeit deutlich machen, dass<br />

unsere Disziplinen – die pädagogischen, die sozialarbeiterischen, die psychologischen<br />

und alle anderen – ganz wichtige Bestandteile für eine Entlastung bringen können und<br />

müssen.<br />

4) <strong>Gewalt</strong> braucht: ganzheitliche Betrachtung<br />

Und schließlich als Viertes: Es ist wichtig, im Sinne der Entlastung auch ganzheitlich hinzusehen.<br />

Ganzheitlich meine ich hier in dem besonderen Sinn, dass man sich vergegenwärtigen<br />

und wissen muss, dass das <strong>Kind</strong> in einem spezifischen Umfeld lebt, dass das <strong>Kind</strong> möglicherweise<br />

in <strong>am</strong>bivalenten Beziehungen mit den Tätern konfrontiert ist, und im Sinn von<br />

Entlastung gibt es immer nur eine ganzheitliche Weiterentwicklung und nicht nur einen<br />

Teil daraus. Da sind oft Zwischenschritte notwendig, es braucht Zeit und Reifung.<br />

So weit zum ersten Teil, zur Entlastung.<br />

Als Geschäftsführer frage ich mich weiters: Wie muss ich Organisationen organisieren,<br />

Systeme und Arbeitsstrukturen organisieren, d<strong>am</strong>it es uns eher gelingt, Entlastung auch<br />

tatsächlich in Bewegung zu bringen?<br />

Organisation der Organisation<br />

Sie kennen vielleicht folgende Geschichte.<br />

Gott betrachtete nach der Erschaffung der Welt zufrieden sein Werk. Und auch der Teufel<br />

betrachtet die Schöpfung mit Wohlgefühl, auf seine Weise natürlich.<br />

Als er ein Wunder nach dem anderen begutachtete, da rief er immer wieder „Wie gelungen<br />

ist das alles. Lasst es uns organisieren und d<strong>am</strong>it alle Freude nehmen.”<br />

Wir haben mittlerweile ein paar tausend Jahre Erfahrung mit der Frage der Organisation<br />

und der Struktur und haben gelernt, wie man auch Strukturen so organisieren kann, dass<br />

sie etwas zielorientierter sind und nicht nur destruktiv.<br />

Und wenn Sie Ihre eigenen Arbeitsstrukturen – seien es Ihre Organisationen oder das<br />

Ges<strong>am</strong>tsystem anschauen – betrachten Sie diese immer unter zwei Aspekten:


l Zum einen nach der Frage „Sichern die Strukturen, dass das, worum es geht, im<br />

Mittelpunkt der Aufmerks<strong>am</strong>keit steht?”<br />

Viele Strukturen sind so konstruiert, dass dem nicht so ist. Da stehen dann Dinge<br />

wie, dass richtig abgerechnet ist, dass man keinen Schilling zu viel ausgibt im<br />

Mittelpunkt. Also organisieren Sie Strukturen so, dass das im Zentrum der Aufmerks<strong>am</strong>keit<br />

steht, was aus unser Perspektive im Zentrum stehen soll: dass es uns<br />

gelingt, <strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen bei und nach <strong>Gewalt</strong> zu helfen!<br />

l Zweitens. Stellen Sie sich die Frage: „Tragen die Strukturen dazu bei, dass es den<br />

Mitarbeiter/innen leicht gemacht wird, das zu tun, wofür sie angestellt sind?“<br />

Auch hier muss ich mich manchmal selbstkritisch fragen und beobachten, dass es<br />

oft in Organisationen, in Te<strong>am</strong>s, in Bereichen um ganz andere Dinge geht.<br />

Aber eine Organisation hat ausschließlich den Zweck, Rahmenbedingungen dafür<br />

zu schaffen, dass die Menschen, die darin arbeiten, das tun können, wofür sie bezahlt<br />

werden.<br />

Auch da könnten wir eine ganze Menge weiterentwickeln.<br />

Der Teufel steckt – in der Struktur<br />

Fragen wir uns weiter: Wo ist der Teufel bei den Strukturen <strong>am</strong> Werk?<br />

Nur zwei Aspekte dazu. Zum einen führen wir immer wieder Ablenkungs- und<br />

Dauerbrennerdiskussionen, die nichts bringen. Fragen wie „Was ist besser, privat oder<br />

öffentlich, GmbH oder Verein?“ kennen Sie. Ich glaube, aus dem Aspekt der Hilfe<br />

heraus sollten wir nur darauf schauen, was sind die Stärken und die spezifischen<br />

Bedingungen von einem Bereich, und was kann jemand besonders gut.<br />

Diese Fragen kann man auf anderer Ebene diskutieren, wenn man viel Zeit hat. Da gäbe<br />

es viel dazu zu sagen, aber im Sinne der Hilfe sollten wir Folgendes in den Mittelpunkt<br />

stellen: Was können wir besonders gut im Hinblick auf diese <strong>Kind</strong>er, Jugendlichen, die<br />

uns brauchen?<br />

Zum Zweiten achten Sie auf Krisensymptome von Institutionen oder Organisationen.<br />

Zum Beispiel, wenn es zu viele Hierarchieebenen gibt, die für einen einzelnen „Fall“<br />

zuständig sind oder wenn es zu viele unterschiedliche Bereiche gibt, die zus<strong>am</strong>menarbeiten<br />

müssen, d<strong>am</strong>it man dann effektiv etwas tun kann; oder auch wenn viele<br />

Besprechungen mit vielen Menschen notwendig sind, d<strong>am</strong>it man in einer konkreten<br />

Situation etwas tun kann. Das alles sind Hinweise, dass man strukturell im Sinne der<br />

Zielsetzung etwas besser machen könnte.<br />

Worum geht es bei den Strukturen? Das folgende Diagr<strong>am</strong>m soll wiederum vier<br />

Dimensionen aufzeigen:<br />

Zugänglichkeit sichern<br />

Klienten- und Prozessorientierung<br />

ermöglichen<br />

Strukturen sollen<br />

professionelle Arbeit<br />

ermöglichen<br />

Schutz bieten<br />

Tragen die Strukturen<br />

dazu bei, dass<br />

es den Mitarbeiter/innen<br />

leicht gemacht<br />

wird, das zu tun,<br />

wofür sie bezahlt<br />

werden?<br />

Wenn es zu viele<br />

Hierarchieebenen<br />

gibt, die für einen<br />

einzelnen „Fall“<br />

zuständig sind; wenn<br />

es zu viele unterschiedliche<br />

Bereiche<br />

gibt, die zus<strong>am</strong>menarbeiten<br />

müssen, d<strong>am</strong>it<br />

man effektiv etwas<br />

tun kann; wenn<br />

viele Besprechungen<br />

mit vielen Menschen<br />

notwendig sind,<br />

dann sollte strukturell<br />

dringend etwas<br />

geändert werden.<br />

101


Wir müssen lernen,<br />

die Sprache unserer<br />

Klienten und<br />

Klientinnen zu<br />

sprechen.<br />

Wir müssen so<br />

präsent sein, dass<br />

alle, die uns brauchen,<br />

auch wissen,<br />

dass es uns gibt.<br />

102<br />

Struktur muss<br />

Professionalität<br />

sichern.<br />

ad 1) Die Tür offen halten<br />

Strukturen sollen so wirken, dass sie für alle jene, die Hilfe brauchen – in diesem Fall<br />

<strong>Kind</strong>er und Jugendliche – zugänglich sind.<br />

Wie können wir unser Angebot so strukturieren, dass alle jene, die unsere Hilfe brauchen,<br />

also die betroffenen <strong>Kind</strong>er und Jugendlichen, dieses Angebot auch annehmen<br />

können? Wie organisieren wir Niederschwelligkeit?<br />

Welche Sprache sprechen wir, wenn wir an unsere Klientinnen und Klienten herangehen?<br />

Auf viele der Prospekte und Folder, die wir erstellen, können wir zweifelsohne stolz<br />

sein. Aber die, die diese Folder eigentlich brauchen, verstehen sie nicht.<br />

Wie können wir die Öffentlichkeitsarbeit so gestalten, dass wir so präsent sind, dass die,<br />

die uns brauchen, auch wissen, dass es uns gibt?<br />

Ich weiß, das kostet Geld. Da müssen wir mit unseren Geldgebern diskutieren, gut argumentieren,<br />

denn Geld für Öffentlichkeitsarbeit ist nicht selbstverständlich. Aber unter<br />

dem Aspekt der Hilfe ist das ein ganz wichtiger Punkt.<br />

In diesem Zus<strong>am</strong>menhang sollten wir uns auch überlegen, mit welchem Image wir arbeiten<br />

und uns präsentieren möchten. Ich glaube, das Image „Wir sind arm, krank und<br />

haben mit allen Problemen der Welt zu tun“ ist überholt.<br />

Wir sollten uns vielmehr selbstbewusst präsentieren und in der Öffentlichkeit transportieren,<br />

dass wir verantwortungsbewusst und professionell Hilfe zur Selbsthilfe anbieten.<br />

ad 2) Der Struktur den Teufel austreiben<br />

Wie schon oben aufgezeigt, eine Struktur soll Professionalität sichern, soll sichern, dass<br />

die Profis, die angestellt sind, die entsprechenden Rahmenbedingungen haben, um auch<br />

effektiv arbeiten zu können.<br />

Zweitens. Die Struktur soll so sein, dass die Mitarbeiter/innen Reflexionen machen,<br />

lernen können, sich weiterentwickeln können.<br />

Die Struktur soll die höchste Verantwortung bei den Menschen lassen und belassen, welche<br />

die konkrete Arbeit mit <strong>Kind</strong>ern und Jugendlichen machen. Hierarchie kann das nicht<br />

sichern.<br />

ad 3) Sich an den Klienten orientieren<br />

Wir sollten darauf achten, wie wir uns organisieren und an wem (an wessen Zielen und<br />

Vorgaben) wir uns orientieren.<br />

Wir bieten keine Produkte an. Wenn wir sagen, wir machen Mediation, wir machen<br />

Psychotherapie in dieser und dieser Form, so denke ich, ist das eine Überbrückungshilfe,<br />

die wir brauchen.<br />

Das, was wir in der Arbeit erreichen können, ist das, was in der Interaktion zwischen<br />

Klient/Klientin und Helfer/Helferin entsteht. Und alle Methoden, die wir mit einbringen,<br />

sind unser Rüstzeug, aber nicht das Produkt, das wir „verkaufen“. Und <strong>Kind</strong>er/Jugendliche<br />

sind die – wichtigsten – Beteiligten an diesem Prozess. Sie gestalten ihn mit und<br />

machen ihn einmalig.<br />

ad 4) Auch die Helfer/innen schützen<br />

Viertens. Schließlich müssen Strukturen Schutz bieten. Schutz heißt auch Zeit, heißt<br />

auch Anonymität, Schutz vor Bekanntheit usw., und wir müssen auch darauf achten, dass<br />

wir uns selber als Helferinnen und Helfer schützen. Ich glaube, dass das eine wichtige<br />

Aufgabe von Organisationen in diesem Bereich ist. Auch Helfer/innen sind immer wieder<br />

von <strong>Gewalt</strong> bedroht, von Diff<strong>am</strong>ierung und dem Öffentlich-verurteilt-Werden.


Conklusio<br />

Vor etwa 2000 Jahren ist ein Paradigmenwechsel im Umgang mit <strong>Gewalt</strong> im christlichen<br />

Abendland vor sich gegangen.<br />

Im Alten Test<strong>am</strong>ent lautete die Botschaft „Auge und Auge, Zahn um Zahn“.<br />

Das neue Test<strong>am</strong>ent brachte dann eine neue Botschaft und verbreitete sie in der Welt:<br />

„Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halte ihm auch die rechte Wange<br />

hin“.<br />

Wir haben es 2000 Jahre mit diesem System probiert. Ich glaube nicht, dass das der<br />

Weisheit letzter Schluss ist, und denke, wir sollten das weiterentwickeln.<br />

Ich habe bei der letzten Enquete die Frage gestellt, was denn das Gegenteil von <strong>Gewalt</strong><br />

sei. Ich glaube nicht, dass das die <strong>Gewalt</strong>losigkeit und das ewige Glück sind, das können<br />

wir höchstens in einer anderen Welt erreichen.<br />

Ich glaube, dass das Gegenteil von <strong>Gewalt</strong> etwas ganz Banales ist: Wir sollten uns<br />

bemühen, unsere Unterschiedlichkeiten, unser Anderssein und unsere Verschiedenheit<br />

zu ertragen!<br />

Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte schließen:<br />

Ein paar Jäger haben zur Büffeljagd ein Flugzeug gechartert. Der Pilot setzt sie ab, und<br />

es wird vereinbart, wann er die Jagdgesellschaft wieder abholen wird.<br />

Nach den vereinbarten Tagen kommt er mit dem Flugzeug wieder zum Treffpunkt.<br />

Der Pilot wirf einen Blick auf die erlegten Büffel und sagt zu den Jägern: „Mit der<br />

Maschine kann ich aber nicht mehr als einen Büffel transportieren. Die anderen müssen<br />

Sie leider zurücklassen.”<br />

Da antworten die Jäger: „Im letzten Jahr erlaubte uns der Pilot, zwei Tiere in einer<br />

Maschine dieser Größe mitzunehmen.“<br />

Der Pilot ist zwar skeptisch, sagt aber schließlich: „O.k., wenn Sie es voriges Jahr so gemacht<br />

haben, können wir es vermutlich wieder probieren.“<br />

Die Maschine hebt ab, aber mit den Jägern und den zwei Büffeln an Bord kann sie kaum<br />

an Höhe gewinnen, und so prallt sie gegen eine nahe gelegenen Berg.<br />

Die Männer klettern aus dem Wrack heraus, blicken sich um, und ein Jäger sagt zu den<br />

anderen: „Was glaubt ihr, wo wir sind?”<br />

Da erwidert einer: „Ich glaube, wir befinden uns ungefähr zwei Kilometer links von der<br />

Stelle, an der wir letztes Jahr abgestürzt sind.“<br />

„Da steh ich nun, ich armer Tor“ war der Übertitel meines Referates. Wie können wir erreichen,<br />

dass es uns immer ein bisschen mehr gelingt, das Anderssein des Anderen zu<br />

ertragen?<br />

Ich glaube, wir könnten das erreichen, wenn wir das tun, was der Pilot hätte tun sollen,<br />

nämlich den Mut zu haben, <strong>am</strong> richtigen Ort „ja“ und <strong>am</strong> richtigen Ort „nein“ zu sagen.<br />

Wir könnten das erreichen, wenn wir das tun, was die Jäger hätten tun sollen, nämlich<br />

aus der eigenen Erfahrung, aus der Erfahrung der Anderen und aus der Geschichte im<br />

Leben und in der Welt zu lernen.<br />

Und wir könnten das Aushalten unserer Unterschiedlichkeit und Vielseitigkeit erreichen,<br />

wenn wir das tun, was die Büffel hätten tun sollen, nämlich <strong>am</strong> Leben zu bleiben und uns<br />

selber zuzugestehen, dass wir verschieden und anders sein dürfen. Dann halten wir das<br />

auch bei den anderen besser aus, und das ist die beste Prävention von <strong>Gewalt</strong>.<br />

Das Gegenteil von<br />

<strong>Gewalt</strong> ist nicht<br />

<strong>Gewalt</strong>losigkeit.<br />

Wir müssen den<br />

Mut aufbringen,<br />

<strong>am</strong> richtigen Ort<br />

„ja“ und <strong>am</strong> richtigen<br />

Ort „nein“ zu<br />

sagen.<br />

103


Ein Mädchen wurde<br />

im Alter von einem<br />

Jahr fremduntergebracht,<br />

das andere<br />

Mädchen lebt heute<br />

noch bei seiner<br />

F<strong>am</strong>ilie.<br />

Mutter: 30 Jahre,<br />

geistig behindert, hat<br />

einen Sachwalter.<br />

Vater: 40 Jahre,<br />

keine geregelte<br />

Arbeit, da er an<br />

Depressionen leidet.<br />

104<br />

„Das Gute liegt uns oft so fern“<br />

„Prognose versus Vorurteil: Stolperstein der Prävention“<br />

Referentin: Dr. Eva Traindl<br />

Kann eine Prognose gleichs<strong>am</strong> zu einem Vorurteil und so zum Stolperstein der<br />

Prävention werden?<br />

Die folgenden zwei Fälle sollen Ihnen zeigen, welchen Einfluss Prognosen auf die weitere<br />

Entwicklung eines <strong>Kind</strong>es haben können. Urteilen Sie selbst, ob die Prognose hier<br />

zu einem Stolperstein der Prävention geworden ist.<br />

Die Geschichten von „Anna“ und „Berta“<br />

Auch wenn ich jetzt von den beiden Fällen parallel berichte, lagen zwischen den beiden<br />

Geschichten Jahre.<br />

Am Anfang verlaufen die beiden Fälle fast ident, erst im Verlauf entwickeln sie sich dr<strong>am</strong>atisch<br />

auseinander.<br />

Ich stelle Ihnen also zwei F<strong>am</strong>ilien vor: F<strong>am</strong>ilie A. mit ihrer Tochter Anna und F<strong>am</strong>ilie B.<br />

mit ihrer Tochter Berta.<br />

Beide <strong>Kind</strong>er, Anna und Berta, habe ich von Geburt an betreut.<br />

Das eine Mädchen wurde im Alter von einem Jahr fremduntergebracht, das andere<br />

Mädchen lebt heute noch bei seiner F<strong>am</strong>ilie.<br />

Ich werde Ihnen jetzt über das erste Lebensjahr dieser <strong>Kind</strong>er berichten.<br />

Sie haben die Gelegenheit zu überlegen, welche Prognosen sich hier als richtig herausgestellt<br />

haben. Welche Vorhersagen – eine Prognose ist eine Vorhersage – wurden<br />

möglicherweise durch Vorurteile beeinflusst, wo wäre Prävention möglich gewesen, und<br />

wo war sie möglich?<br />

Die Vorgeschichte<br />

Ich erzähle Ihnen die Vorgeschichte, soweit sie mir d<strong>am</strong>als bei der Geburt der <strong>Kind</strong>er bekannt<br />

war.<br />

F<strong>am</strong>ilie A.<br />

Anna, das <strong>Kind</strong> der F<strong>am</strong>ilie A., wird nach unauffälliger Schwangerschaft entbunden. Sie<br />

ist unmittelbar nach der Entbindung beschwerdefrei. Annas Mutter ist 30 Jahre alt und<br />

hat eine geistige Behinderung.<br />

Vor ihrer Heirat mit Herrn A. lebte sie in einer Wohngemeinschaft für geistig behinderte<br />

Menschen. Sie hat einen Sachwalter, das heißt, sie ist nur unzureichend im Stande, ihre<br />

eigenen Belange wahrzunehmen.<br />

Ihr Mann, Herr A., ist 40 Jahre alt. Er ist seit längerer Zeit arbeitslos. Er kann keiner<br />

geregelten Arbeit nachgehen, weil er seit Jugendjahren an Depressionen und immer<br />

wiederkehrenden Angstzuständen leidet. Er wohnt – bis zur Geburt seiner Tochter – bei<br />

seiner Mutter.<br />

Ich erfahre von dem Fall durch die zuständige Sozialarbeiterin, die mich informiert und<br />

bittet, die medizinische Betreuung des <strong>Kind</strong>es zu übernehmen. Es besteht eine Auflage,<br />

welche die Eltern verpflichtet, das <strong>Kind</strong> regelmäßig zu kinderärztlichen Untersuchungen<br />

zu bringen.


F<strong>am</strong>ilie B.<br />

Auch Berta wird nach unauffälliger Schwangerschaft entbunden und ist nach der<br />

Entbindung beschwerdefrei.<br />

Bertas Mutter ist 30 Jahre alt und hat eine geistige Behinderung. Sie arbeitete in einer<br />

geschützten Werkstätte und besuchte die Sonderschule.<br />

Sie wohnt bis zur ihrer Heirat bei ihrer Herkunftsf<strong>am</strong>ilie. Auch sie hat einen Sachwalter,<br />

da sie nicht im Stande ist, eigene Belange wahrzunehmen.<br />

Herr B., ihr Mann, ist 42 Jahre alt. Er ist seit einem Arbeitsunfall Frührentner und leidet<br />

seit diesem Unfall an epileptischen Anfällen.<br />

Auch in diesem Fall wurde ich vom zuständigen Jugend<strong>am</strong>t – es war ein anderes<br />

Jugend<strong>am</strong>t als bei der F<strong>am</strong>ilie A. – informiert, und die Sozialarbeiterin hat mich gebeten,<br />

die medizinische Betreuung zu übernehmen; das vor allem deshalb, weil ich Bertas<br />

Mutter schon von einer früheren Schwangerschaft und von einer früheren Geburt her gekannt<br />

habe.<br />

Sie werden jetzt nach diesen Erstvorstellungen wahrscheinlich nicht wissen, welches<br />

<strong>Kind</strong> in der Folge fremduntergebracht werden musste und welches nicht.<br />

Das erste Gespräch<br />

Ich lerne die Eltern von Anna und die Eltern von Berta kennen, als sie zu mir in die<br />

Ordination bzw. zu mir in die Elternberatung kommen.<br />

Ich gebe Ihnen eine Beschreibung der Eltern, d<strong>am</strong>it Sie sich vorstellen können, wie sie<br />

ausgesehen und wie sie sich verhalten haben.<br />

Annas Eltern<br />

Annas Mutter, Frau A. ist sehr groß. Sie hat auffällige Gesichtsmissbildungen. Sie hat<br />

sehr starke Zahnfehlstellungen. Sie kann ihren Mund nicht schließen und speichelt sehr<br />

stark beim Sprechen. Ihre Kleidung ist vernachlässigt.<br />

Herr A. ist ebenfalls sehr groß. Er wirkt sehr ungepflegt. Er trägt seinen sehr langen<br />

Vollbart, der voller Essensreste ist.<br />

Im Gespräch macht Herr A. einen sehr höflichen und gebildeten Eindruck.<br />

Seine Frau antwortet auf Fragen mit stereotypen Sätzen oder Satzteilen, z.B. Oijoijoi oder<br />

Jajaja.<br />

Bei der Nachbesprechung mit der Sozialarbeiterin meint diese, dass die Mutter kaum in<br />

der Lage sein werde, Anna zu versorgen. Von einer Fremdunterbringung hat das<br />

Jugend<strong>am</strong>t nur deshalb bis jetzt Abstand genommen, weil der Vater sehr ernsthaft versprochen<br />

hat, seine Frau zu unterstützen. Außerdem findet die F<strong>am</strong>ilie noch<br />

Unterstützung durch die väterliche Großmutter, bei der sie einstweilen wohnen können.<br />

Die <strong>Kind</strong>erpflegerin wird bei Bedarf vorbeikommen und den Eltern helfen.<br />

Man wird aber – und Sie sehen hier die erste Prognose – um eine Fremdunterbringung<br />

nicht herumkommen.<br />

Nun zur Erstvorstellung von Berta.<br />

Bertas Eltern<br />

Bertas Mutter ist mir – das habe ich schon erwähnt – von früher her bekannt. Bertas<br />

Mutter hat bereits eine Geburt hinter sich. Sie hat ihr <strong>Kind</strong> einige Jahre großgezogen, bis<br />

es fremduntergebracht wurde.<br />

Dieses <strong>Kind</strong> wurde fremduntergebracht, weil es, ebenso wie Frau B., eine Behinderung<br />

hatte. Es handelte sich um eine geistige Behinderung, die zunehmend schwer wiegender<br />

geworden ist. Weiters bestand bei diesem ersten <strong>Kind</strong> der Verdacht, dass die mütterliche<br />

Großmutter das <strong>Kind</strong> misshandelt hat. Das war aber nur ein Verdacht. Das <strong>Kind</strong> wurde<br />

Mutter: 30 Jahre,<br />

geistig behindert, hat<br />

einen Sachwalter.<br />

Vater: 42 Jahre,<br />

Frührentner, leidet<br />

an epileptischen<br />

Anfällen.<br />

Frau A. hat<br />

Gesichtsmissbildung,<br />

Zahnfehlstellung,<br />

speichelt stark beim<br />

Sprechen.<br />

Herr A. wirkt sehr<br />

ungepflegt, jedoch<br />

höflich und gebildet<br />

Sozialarbeiterin:<br />

„Man wird um eine<br />

Fremdunterbringung<br />

des <strong>Kind</strong>es nicht<br />

herumkommen.“<br />

105


Frau B.s erstes <strong>Kind</strong><br />

wurde fremduntergebracht.<br />

Unglücklich<br />

über diesen Verlust,<br />

will sie unbedingt<br />

noch ein <strong>Kind</strong>: Berta.<br />

Herr B. ist sehr<br />

aggressiv; hat Angst,<br />

dass sein <strong>Kind</strong><br />

ebenso wie das erste<br />

<strong>Kind</strong> seiner Frau<br />

fremduntergebracht<br />

werden wird.<br />

Beide <strong>Kind</strong>er<br />

bleiben in ihrer<br />

Entwicklung zurück<br />

Annas Eltern suchen<br />

die Entwicklungs<strong>am</strong>bulanz<br />

auf. Bertas<br />

Eltern lehnen alles,<br />

was vom „Amt“<br />

kommt, als Kontrollversuch<br />

ab.<br />

Beide Mädchen<br />

beginnen eine<br />

Physiotherapie.<br />

Auch Bertas<br />

Sozialarbeiterin<br />

meint, dass sie um<br />

eine Fremdunterbringung<br />

nicht herumkommen<br />

werde.<br />

Annas Eltern freuen<br />

sich über jeden<br />

Fortschritt. Bertas<br />

Eltern brechen den<br />

Kontakt zu Ärzte<br />

und Ärztinnen,<br />

Institut und<br />

Jugend<strong>am</strong>t ab.<br />

106<br />

.<br />

fremduntergebracht, und Bertas Mutter, Frau B., war sehr unglücklich über den Verlust<br />

des ersten <strong>Kind</strong>es. Bei ihr hat ein sehr starker <strong>Kind</strong>erwunsch bestanden. Sie hat mehrmals<br />

versucht, das <strong>Kind</strong> aus dem Pflegeheim, in dem es untergebracht war, zu entführen.<br />

Als sie gesehen hat, dass das keinen Sinn hat, und da sie zu dieser Zeit Herrn B. kennen<br />

gelernt hat, ist sie wieder schwanger geworden – mit Berta.<br />

Herr B. wirkt in diesem ersten Kontakt auf mich ängstlich aber auch sehr aggressiv. Sein<br />

Arbeitsunfall liegt schon lange zurück. Epileptische Anfälle bekommt er nur dann, wenn<br />

er seine Medik<strong>am</strong>ente nicht regelmäßig einnimmt. Bei oder nach diesen epileptischen<br />

Anfällen ist es aber auch schon vorgekommen, dass er aggressiv geworden ist.<br />

Herr B. äußert sehr aggressiv und sehr ängstlich seine Befürchtungen, dass dieses –<br />

sein – <strong>Kind</strong> so wie das erste <strong>Kind</strong> seiner Frau in ein Heim kommen könnte. Er hofft aber,<br />

dass jetzt alles in Ordnung kommt, weil er steht auf dem Standpunkt, „wozu hätte er denn<br />

die Frau überhaupt geheiratet, wenn sich jetzt wieder das Amt in alles einmischt“. Er versteht<br />

die Auflage nicht.<br />

Die ersten Lebensmonate<br />

Ich erzähle Ihnen jetzt von den ersten Monaten im Leben von Anna und Berta.<br />

Es ergibt sich ein wesentlicher Punkt bei beiden <strong>Kind</strong>ern. Beide <strong>Kind</strong>er bleiben in ihrer<br />

Entwicklung zurück. Das wird schon in den ersten Lebenswochen auffällig. Beide <strong>Kind</strong>er<br />

zeigen kaum Blickkontakt, sind in ihren Bewegungsmustern auffällig, und ich empfehle<br />

bei beiden <strong>Kind</strong>ern – und bespreche das auch mit der Sozialarbeiterin – eine zusätzliche<br />

Diagnostik und Therapie in einer Entwicklungs<strong>am</strong>bulanz.<br />

Die Eltern gehen mit diesem Problem unterschiedlich um.<br />

Annas Eltern sind dem gegenüber positiv eingestellt. Sie suchen die Ambulanz für<br />

Entwicklungskontrolle und Therapie auf und beginnen eine Physiotherapie mit Anna.<br />

Bertas Eltern haben das Gefühl, dass sie in dieser – es wird in Wien als Sondermutterberatung<br />

bezeichnet – Beratungsstelle vom Jugend<strong>am</strong>t zusätzlich noch kontrolliert werden.<br />

Der Vater sagt mir in der Ordination, er werde nichts annehmen, was von irgendwelchen<br />

Ämtern ausgeht, da er doch mit Ämtern so schlechte Erfahrungen gemacht hat.<br />

Ich bespreche mit der Sozialarbeiterin die Möglichkeit, dass man Bertas Eltern in ein<br />

Institut für Entwicklungsdiagnostik und -therapie zuweist, d<strong>am</strong>it sich die Eltern selbst melden<br />

können. Und das funktioniert dann auch. Bertas Eltern melden sich selbst dort und<br />

beginnen ebenfalls mit Berta eine Physiotherapie.<br />

Die Sozialarbeiterin war in diesem Fall der Ansicht, dass auch diese Eltern um eine<br />

Trennung von ihrem <strong>Kind</strong> nicht herumkommen werden, vor allem auf Grund dessen,<br />

dass schon ein <strong>Kind</strong> fremduntergebracht ist und auch, weil sich der Vater den Sozialarbeiterinnen<br />

<strong>am</strong> Jugend<strong>am</strong>t gegenüber ausgesprochen aggressiv benimmt.<br />

Therapieverlauf<br />

Annas Therapie<br />

Bei Anna wird mit der Physiotherapie begonnen. Die Eltern freuen sich über jeden<br />

Fortschritt. Allerdings beginnen sich Herrn A.s Depressionen zu verstärken, und er muss<br />

seiner Depressionen und seiner eigenen körperlichen Beschwerden wegen selbst sehr<br />

viele ärztliche Termine wahrnehmen.<br />

Er wünscht sich daher, dass die Auflage geändert wird, d.h. dass er nicht mehr so oft mit<br />

seiner Tochter zur Kontrolle kommen muss bzw. dass sie gelockert wird.<br />

Bertas Therapie<br />

Bertas Eltern besuchten freiwillig mehrmals das Institut für Entwicklungsdiagnostik. Auch<br />

mit Berta wurde eine Physiotherapie begonnen. Aber dann hat man ihnen vom Amt aus


noch zusätzlich eine Intensivbetreuung empfohlen. Auf Grund dieser zusätzlichen<br />

F<strong>am</strong>ilienintensivbetreuung haben sich Bertas Eltern dazu entschlossen, den Kontakt zu<br />

dem behandelnden Arzt und Betreuungspersonal im Institut für Entwicklungsdiagnostik<br />

und auch zum Jugend<strong>am</strong>t überhaupt abzubrechen („Es wird uns zuviel!“).<br />

Bertas Vater hat mir noch einmal gesagt, er wäre der Meinung, man würde ihm nur deshalb<br />

so viele Therapien aufbrummen, d<strong>am</strong>it man endlich einen Beweis findet, d<strong>am</strong>it man<br />

ihm das <strong>Kind</strong> wegnehmen kann.<br />

Ich habe mich sehr bemüht, dass er das nicht so sieht, aber er ist bei seiner Meinung geblieben.<br />

Paradoxon<br />

Bei Anna konnte die Auflage geändert werden. Anna musste nur mehr einmal monatlich<br />

von mir untersucht werden, und jetzt passiert das Paradoxe in Annas Fall. Wir haben ein<br />

Übereinkommen getroffen, dass sie nicht mehr so oft zu einer Kontrolle in die<br />

Elternberatung und in meine Ordination zu kommen brauchen, sondern dass die Eltern<br />

ihre Energien dafür aufwenden sollen, die Physiotherapie im Institut für Entwicklungsdiagnostik<br />

mit Anna durchzuziehen.<br />

Und da haben die Eltern ganz anders reagiert als erwartet. Sie brachten das <strong>Kind</strong> sogar<br />

öfter zu uns als vorher. Sie suchten uns auf, teilweise, um uns etwas zu erzählen, etwas<br />

zu zeigen oder uns um Rat zu fragen. Sie k<strong>am</strong>en sowohl öfters in die Ordination als auch<br />

in die Elternberatung, und ihre Termine im Institut für Entwicklungsdiagnostik hielten sie<br />

ebenfalls ein. Wir hatten das Gefühl, ihr Vertrauen gewonnen zu haben.<br />

Bertas Weg<br />

Bei Berta war es dann so, dass die Eltern wirklich alle Therapien und alle Kontakte abgebrochen<br />

haben. Ich sah den Vater noch einmal, als er mich bat, ihm eine Bestätigung<br />

zu schreiben, dass ich das <strong>Kind</strong> regelmäßig gesehen hätte. D<strong>am</strong>it würde er in der<br />

Gerichtsverhandlung einen Beweis haben, dass er die Auflage erfüllt hätte.<br />

Ich kann die Eltern nicht davon überzeugen, dass das nicht ausreicht, und ich erfahre<br />

dann in einem Folgegespräch mit der Sozialarbeiterin, dass den Eltern bereits vor einigen<br />

Wochen mitgeteilt worden war, dass sie das <strong>Kind</strong> nicht behalten können.<br />

Annas Weg<br />

Bei Anna zeigt sich im 10. und 12. Lebensmonat ein deutlicher Entwicklungsschub. Da<br />

die Eltern von Anna nicht in der Lage sind, die Therapien zu Hause durchzuführen – die<br />

Physiotherapeutin, die mit Anna arbeitet, sagt, sie hat das Gefühl, die Eltern arbeiten<br />

zwar im Institut mit, würden aber die gezeigten Übungen zu Hause nicht anwenden können<br />

– wird für Anna zusätzlich eine mobile Frühförderung empfohlen.<br />

Erstmals sind die Eltern nicht einverstanden.<br />

Daraufhin versuchen wir in einem Gespräch ihre Ängste zu besprechen. Dabei zeigt sich,<br />

dass die Eltern zum Beispiel Angst davor haben, aus irgendeinem Grund gleichzeitig einen<br />

anderen Termin wahrnehmen zu müssen. Dann wären sie womöglich nicht zu<br />

Hause, wenn die Frühförderin kommt, und dann würden sie als unverlässlich gelten.<br />

Außerdem wollen sie keine Frühförderin ins Haus lassen, da sie sonst regelmäßig „zus<strong>am</strong>menräumen“<br />

müssten.<br />

Wir beschließen Folgendes: Wir vereinbaren mit den Eltern eine Bedenkzeit und sagen,<br />

sie sollen selbst entscheiden, so wie andere Eltern auch, ob sie eine zusätzliche<br />

Förderung für ihr <strong>Kind</strong> in Anspruch nehmen wollen oder nicht. Sie haben ja schon einmal<br />

eine Förderung in Anspruch genommen. Sie haben sozusagen schon bewiesen,<br />

dass sie für ihr <strong>Kind</strong> etwas tun wollen. Ob sie zusätzlich etwas tun wollen, das überlassen<br />

wir ihnen.<br />

Trotz Lockerung der<br />

Auflagen kommen<br />

Annas Eltern öfter<br />

in Ordination und<br />

Beratung.<br />

Berta wird fremduntergebracht.<br />

Annas Eltern sind<br />

gegen die mobile<br />

Frühförderung.<br />

Nach der Bedenkzeit<br />

entscheiden sich<br />

Annas Eltern für die<br />

Frühförderung.<br />

Niemand spricht<br />

mehr von Fremdunterbringung.<br />

107


Wie hätte Ihre<br />

Prognose ausgeschaut?<br />

Hätten Sie<br />

<strong>am</strong> Anfang der<br />

Geschichte gewusst,<br />

welches Mädchen<br />

fremduntergebracht<br />

wurde?<br />

Auch Therapeuten<br />

und Therapeutinnen<br />

sind nicht vorurteilsfrei!<br />

Wir müssen uns<br />

bemühen, für die<br />

Sichtweise des<br />

Anderen offen zu<br />

sein; nicht nur für<br />

die Sichtweise der<br />

Eltern, sondern auch<br />

für die der anderen<br />

Therapeuten und<br />

Therapeutinnen.<br />

108<br />

Kurz vor Annas erstem Geburtstag haben sich die Eltern dann entschieden, die mobile<br />

Frühförderung für ihre Tochter in Anspruch zu nehmen. Herr A. sagt, er wolle nicht Schuld<br />

sein, dass sein <strong>Kind</strong> sich nicht gut entwickelt, und immerhin wäre er ja der Vater und d<strong>am</strong>it<br />

in erster Linie für seine Tochter verantwortlich. Im Schutze des vertrauensvollen<br />

Umganges miteinander war er fähig geworden, sich auch selbst Verantwortung zuzutrauen.<br />

„Das Gute liegt uns oft so fern“<br />

Das war der Übertitel dieses Referates, in dem es um Prognosen und um Beeinflussung<br />

durch Vorurteile gehen sollte.<br />

Wo wären Ihre Vorurteile gewesen?<br />

Wie hätten Ihre Prognosen ausgeschaut?<br />

Ich habe diese beiden Fälle für Sie ausgewählt, weil ich es so spannend finde, dass sie<br />

so ähnlich angefangen haben. Beide Mütter sind geistig behindert. Beide <strong>Kind</strong>er bleiben<br />

in ihrer Entwicklung zurück. Beide Väter sind krank. Es ist eine schlechte Ausgangslage,<br />

die es fast unmöglich macht, überhaupt an das Gute zu glauben. Man wird um eine<br />

Fremdunterbringung nicht herumkommen, lautet die Prognose nach der Geburt der<br />

<strong>Kind</strong>er.<br />

Was ist Prävention? Einfach gesprochen ist Prävention das Verhindern, dass etwas<br />

Schlimmeres passiert. Das Schlimme, die weitere Fehlentwicklung des <strong>Kind</strong>es, aber<br />

auch die Trennung des <strong>Kind</strong>es von den Eltern soll verhindert werden. Und genau das<br />

scheint in beiden Fällen <strong>am</strong> Anfang schwierig zu sein; sowohl bei Anna als auch bei<br />

Berta.<br />

Conklusio<br />

Zus<strong>am</strong>menfassend glaube ich, dass folgende Punkte hilfreich waren, dass Annas<br />

Geschichte gut ausgegangen ist.<br />

Alle mit dem Fall betrauten Personen, die Sozialarbeiterin, die <strong>Kind</strong>erpflegerin, die<br />

Physiotherapeutin, die behandelnden Ärzte/Ärztinnen, und das war nicht nur ich, das waren<br />

auch die Ärzte/Ärztinnen im Institut für Entwicklungsdiagnostik, haben ihre<br />

Vorgangsweise bei Bedarf miteinander abgesprochen. Das jetzt nicht so sehr im Sinne<br />

einer Supervision oder im Sinne einer Helferkonferenz, sondern wenn ein Punkt fraglich<br />

war, wenn Fragen aufgetaucht sind, dann haben wir miteinander gesprochen. Wir haben<br />

auch mit den Eltern gesprochen und sie über weitere Schritte informiert. Wir waren offen<br />

für die Sichtweise des Anderen, nicht nur für die Sichtweise der Eltern, sondern auch<br />

offen für die Sichtweise der anderen Therapeuten und Therapeutinnen.<br />

Auch Therapeuten und Therapeutinnen sind nicht vorurteilsfrei! Aber wir haben unseren<br />

Vorurteilen nicht nachgegeben, weil wir uns und den Eltern vertraut haben.<br />

Wir haben nicht an unserer anfänglichen Prognose, d.h. an unserer anfänglichen<br />

Vorhersage festgehalten, sondern wir haben uns überraschen lassen. Wir waren neugierig,<br />

wir waren erwartungsvoll, ob sie unseren Empfehlungen nachkommen können,<br />

und letztendlich sind wir – in Annas Fall – positiv überrascht worden.<br />

Dennoch: Was ich für wesentlich halte: Wir haben den Eltern von Anna von Anfang an<br />

sicherlich mehr (Kompetenz) zugetraut als Bertas Eltern.


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Zumkley-Münkel, C. (1996): <strong>Kind</strong>er brauchen Grenzen! Aber was bedeutet das?<br />

Psychologie in Erziehung und Unterricht, 43, 302-306.


Kurzbiografien<br />

- in alphabetischer Reihenfolge<br />

Allgäuer, Dr. phil. Stefan<br />

Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut;<br />

praktische Arbeit im <strong>Kind</strong>erdorf Vorarlberg und in der Erziehungs- und<br />

Erwachsenenberatung im Institut für Sozialdienste, Supervisor, seit 1995<br />

Geschäftsführer des Institutes für Sozialmedizin in Vorarlberg.<br />

Bogyi, Dr. phil. Gertrude<br />

Klinische Psychologin und Psychotherapeutin an der Universitätsklinik für<br />

Neuropsychiatrie des <strong>Kind</strong>es- und Jugendalters und in freier Praxis.<br />

Präsidentin und Lehranalytikerin im Österreichischen Verein für Individualpsychologie.<br />

Lehrbeauftragte an der Universität Wien<br />

Derschmidt, Dr. phil. Luitgard<br />

Bildungsreferentin des Forums Beziehung, Ehe und F<strong>am</strong>ilie der Katholischen<br />

Aktion Österreich<br />

Erwachsenenbildnerin mit Schwerpunkt Eltern-, Partner- und F<strong>am</strong>ilienbildung,<br />

verheiratet, Mutter dreier erwachsener <strong>Kind</strong>er.<br />

Friedl, Mag. Dagmar<br />

AHS-Lehrerin für Deutsch und Philosophischen Einführungsunterricht;<br />

Studium an der Bundesakademie für Sozialarbeit; seit 1995 Lehrerin in<br />

Mosaikklassen des Rudolf-Ekstein-Zentrums; Psychagogin in Ausbildung.<br />

Leixnering, Dr. med. Werner<br />

Facharzt für Psychiatrie und Neurologie/<strong>Kind</strong>er- und Jugendneuropsychiatrie,<br />

Psychotherapeut;<br />

Leitender Oberarzt des Bereichs Heilpädagogik und Psychosomatik an der<br />

Klinischen Abteilung für Allgemeine Pädiatrie der Universitätsklinik für <strong>Kind</strong>erund<br />

Jugendheilkunde Wien (bis Mai 2001);<br />

Seit Juni 2001 Ärztlicher Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie an<br />

der OÖ Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz<br />

Lehrbeauftragter <strong>am</strong> Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien<br />

Matschnig, Dr. jur. Beate<br />

Richterin des JGH Wien seit April 1978<br />

Befasst mit Pflegschaftssachen und Jugendstrafsachen<br />

Neumayer, Dr. phil. Reinhard<br />

Klinischer und Gesundheitspsychologe<br />

Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Abteilung Jugendwohlfahrt<br />

Leiter des mobilen psychologischen Dienstes<br />

Psychotherapeut (Individualpsychologie) in freier Praxis.<br />

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Schimak Gertraud<br />

Pflichtschullehrerin, Psychagogische Betreuerin an Pflichtschulen,<br />

Psychotherapeutin, systemische Supervisorin;<br />

seit 1994 Leiterin des Rudolf-Ekstein-Zentrums, eines Sonderpädagogischen<br />

Zentrums für integrative Betreuungsformen in Wien mit den Schwerpunkten<br />

Psychagogische Betreuung sowie präventive Hilfestellung für <strong>Kind</strong>er der<br />

Schuleingangsphase (Modell Mosaik)<br />

Traindl, Dr. med. Eva<br />

niedergelassene Fachärztin für <strong>Kind</strong>er- und Jugendheilkunde in Wien;<br />

in der Elternberatung tätig;<br />

Gründungsmitglied, Mitarbeiterin und Konsularärztin des Vereines<br />

„Unabhängiges <strong>Kind</strong>erschutzzentrum Wien“.<br />

Ärztin für psychotherapeutische Medizin in Ausbildung<br />

Werneck, Univ.-Ass. Mag.rer.nat. Dr.phil. Harald<br />

Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe<br />

seit 1993 Universitätsassistent an der Abteilung für Entwicklungspsychologie und<br />

Pädagogische Psychologie (Leiterin: o.Univ.-Prof. Dr. Brigitta Rollett) des Instituts<br />

für Psychologie der Universität Wien; Lehrbeauftragter für Entwicklungspsychologie<br />

und F<strong>am</strong>ilienpsychologie;<br />

Leiter des Forschungsprojektes „F<strong>am</strong>ilienentwicklung im Lebenslauf (FIL)“;<br />

2 Töchter<br />

Nähere Informationen unter: www: http://mailbox.univie.ac.at/harald.werneck

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