Der verhinderte Olympiasieger - Handballworld

Porträt – Wolfgang Böhme
> INTERVIEW
«Ein Exempel statuiert»
Vier Fragen an Wolfgang Böhme
HAndBall: Herr Böhme, wie war es für Sie,
Ihre Geschichte zusammen mit Buchautor
Erik Eggers aufzuarbeiten?
Wolfgang Böhme: Dass es überhaupt dazu
kam, war eher ein Zufall, ich hatte das nicht gesucht.
Bei einem Symposium bin ich mit einigen
ehemaligen Weggefährten zusammen gesessen
und wir haben die alten Zeiten durchdiskutiert.
Da sass Erik Eggers in der Nähe und
bekam einiges davon mit. Er hat mich dann angefragt,
ob er das als Buch aufarbeiten dürfe.
Ich hab zugesagt und ihm meine Tagebücher
anvertraut, zumal meine Geschichte ja schon
eine gewisse Einmaligkeit aufweist. Mir selber
war meine Vergangenheit zwar bewusst, ich
habe sie aber irgendwie verdrängt. Erst im Nachhinein
wurde mir auch bewusst, dass ich wohl
in meiner Jugend mal ganz gut gewesen sein
muss.
Mit welchen Gefühlen lesen Sie selber Ihr
eigenes Buch?
Es ist schon komisch, ein Buch über sich
selbst zu lesen. Es ist ja mein Leben und was
1980 passiert ist, war ein tiefer Einschnitt.
Aber das ist Vergangenheit. Ich bin heute
knapp 60, arbeite also noch etwa 5 bis 6 Jahre
bis zu meiner Pensionierung. Und ich bin
glücklich darüber, was ich erreicht habe. Ich
habe eine liebe Frau, die 15 Jahre jünger ist
als ich, und wir haben eine tolle Tochter. Dazu
bin ich zweifacher Opa. Ich glaube, sagen zu
dürfen, dass ich mein Leben ganz gut gepackt
habe.
Welche Funktionen üben Sie heute im Handball
aus?
Als Sportlehrer betreue ich das Nachwuchs-
Förderprojekt «Handball intensiv» an der Basler
Bäumlihof-Schule. Zudem trainiere ich die
Basel Titans in der U21-Elite.
Was würden Sie heute anders machen,
wenn Sie die Zeit auf 1979 zurückdrehen
könnten?
Ich wurde schon häufiger gefragt, ob ich denn
die Spitzeleien der Stasi nicht bemerkt hätte.
Sagen wir mal so: Wenn du 10 Jahre lang
Schlangen in deinem Schlafzimmer hast und
nie etwas passiert, dann vergisst du diese
Gefahr irgendwann. Genau so ging es mir
auch. Ich hätte doch nie gedacht, dass
irgendwelche Äusserungen oder Handlungen
plötzlich so drastische Folgen haben könnten.
Ich habe mir meine Stasi-Akte einmal bestellt
und angesehen. Es war schon erstaunlich,
was da alles gesammelt worden war. Aber
man hat an mir schliesslich ein Exempel
statuiert. Wahrscheinlich sagten die sich:
«Wir schmeissen jetzt mal einen raus, der
einen Namen hat.»
Roland Marti
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haben sie geschasst, weil er 100 000 Mark
West genommen hat», kursieren Gerüchte am
Tresen des «Szczecin». Böhme steht unerkannt
daneben. Wehrlos gegen den Tratsch.
Als hätte er nie existiert
Genährt wird der Mythos auch durch verwirrende
Berichte in der Bundesrepublik.
Knapp ein Jahr später, im April 1981, als
Empor Rostock im Finale gegen den TuS Nettelstedt
um den Europapokal der Pokalsieger
kämpft, will die Bild erfahren haben, Böhme
sei wegen Schmuggels aussortiert worden.
Noch heute, gut ein Vierteljahrhundert
später, weiss kaum jemand Näheres darüber,
weshalb dieser Superhandballer urplötzlich
ausradiert wurde.
Die Stuttgarter Zeitung spekuliert kurz darauf,
Böhmes Frau, die Rodlerin Ute Rührold,
eine Vorzeigesportlerin des Arbeiter- und
Bauernstaates, habe davon Wind bekommen
und Anzeige gegen ihn erstattet. Danach
gerät er, der grosse Linkshänder der 1970er
Jahre, allmählich in Vergessenheit – weil das
DDR-System es so will. Weil die sozialistischen
Medien nun das betreiben, was die
Historiker «damnatio memoriae» nennen,
eine Austilgung aus der Geschichte. Es
ist, als hätte er nie existiert. So weiss noch
heute, gut ein Vierteljahrhundert später,
kaum jemand Näheres darüber, weshalb
dieser Superhandballer urplötzlich ausradiert
wurde.
Erst eine Berliner Podiumsdiskussion zur
deutsch-deutschen Handballgeschichte
macht wieder auf das Schicksal Böhmes aufmerksam.
Im Februar 2007 entlarven die
drei Protagonisten Böhme, Kurt Klühspies und
Ingolf Wiegert dabei viele Klischees der
deutsch-deutschen Handballgeschichtsschreibung:
In den vielen heissen Duellen, die
sich die beiden deutschen Handballnationalmannschaften
damals lieferten, sind auch
Freundschaften entstanden. Wer hätte
beispielsweise gedacht, dass Handballer
aus beiden Lagern zusammen feierten am
6. März 1976 in Karl-Marx-Stadt, der in der
Literatur als einer der Höhepunkte des
Kalten Krieges auf dem Handballfeld dargestellt
wird? Mittendrin Böhme, der sich mit
Klühspies anfreundete. In einem denkwürdigen
Spiel schlugen die DDR-Asse damals
ihre ungeliebten Brüder aus der Bundesrepublik
zwar 11:8, schieden aber trotzdem
in der Ausscheidung um einen Olympiaplatz
aus.
Tagebuch wird zum Zeitdokument
Was Böhme für den Handballhistoriker so interessant
macht, ist das Tagebuch, das er lange
geführt hat. Dieses Tagebuch zählt zu den
vielleicht spannendsten Quellen zur deutschen
Handballgeschichte, weil Böhme darin
auf sehr private Weise seinen Werdegang
als Leistungshandballer erzählt. Alle Etappen
seines steilen Aufstieges in die Nationalmannschaft
sind hier penibel notiert: Die Zeit
als Turner in der Kinder- und Jugendsport-
DDR-Kapitän Wolfgang Böhme bei der Ehrung durch Roland Weissig, Präsident des Deutschen Handball-Verbundes,
nach dem Gewinn des Ostseepokalturniers gegen die UdSSR. Bild: Rainer Schulz
schule in Rostock, die er wegen einer
Verletzung abbrechen musste; die Jahre als
jugendlicher Handballer in Heringsdorf, wo
die Talentesucher des DDR-Handballs früh auf
ihn aufmerksam wurden; die energischen Bemühungen
des SC Empor Rostock, ihn aus der
Matrosenlehre herauszuziehen, um ihn im
Sportclub zu einem Profisportler reifen zu lassen;
schliesslich der rasend schnelle Durchbruch
des Linkshänders in der Oberliga-
Mannschaft des SC Empor. Wie konsequent
Sichtungssystem und Trainingslehre der
DDR schon in den späten 1960er Jahren
vorging und so einen bemerkenswerten Vorsprung
gegenüber dem bundesdeutschen
Handball erarbeitete – dafür liefert dieses
Tagebuch ein spektakuläres Fallbeispiel.
Regelmässiger Anabolika-Konsum
Gleichzeitig beschreiben die privaten Aufzeichnungen
Böhmes auch die Schattenseiten
dieses Systems. So berichtet Böhme
Nach einem Tipp geriet er in das Visier
der Fahnder. Jeder Brief, den Böhme
danach schrieb, wurde durchleuchtet.
ausführlich darüber, in welcher Dosis er
bereits als 19-Jähriger das berüchtigte
Anabolikum Oral-Turinabol verabreicht bekam.
«Habe gestern die Tabletten bekommen.
Zehn Tage muss ich vier Tabletten nehmen
und dann bis zum 4. September zwei am
Tag», notiert er sich am 16. August 1969, da
ist er erstmals zur Nationalmannschaft ge-
Der doppelte Böhme: Wolfgangs um 10 Minuten älterer Zwillingsbruder Matthias (rechts) trainiert die Elitejunioren des
TSV St. Otmar St. Gallen. Bild: Privatarchiv Wolfgang Böhme
stossen. Derartige Einträge zum Dopingmittelmissbrauch
wiederholen sich in dieser
Zeit in regelmässigen Abständen. Konfrontiert
mit diesen Belegen, bestätigen auch
Mannschaftskameraden wie Klaus Langhoff,
Peter Randt oder Peter Larisch diese Praxis.
«Damals sind wir Meerschweinchen gewesen»,
so sieht es Larisch heute.
Das Tagebuch kündet ebenfalls von den
grossen Privilegien, die Leistungssportler
damals in der DDR genossen. Von Extra-
Prämien, die im Geheimen gezahlt wurden.
Erstaunlich genug, dass es den Handballern
damals möglich war, Stereoanlagen oder
Plattenspieler über die innerdeutsche Grenze
zu schmuggeln, wenn sie von deutschdeutschen
Vergleichen zurückkamen. Weniger
tolerant zeigte sich die Staatssicherheit,
wenn sie nicht von den zahlreichen Abwerbungsversuchen
in Kenntnis gesetzt wurden.
Als Böhme während des Ostseepokals im
Januar 1980 zum wiederholten Male von
einem lukrativen Angebot erfuhr, für
150 000 DM und einem Einfamilienhaus beim
THW Kiel anzuheuern, berichtete er dem als
Geheimdienst wirkenden Ministerium für
Staatssicherheit (kurz: Stasi) nicht davon.
Ohne es zu ahnen, begann so sein Absturz:
Nach einem Tipp geriet er in das Visier der
Fahnder. Jeder Brief, den Böhme danach
schrieb, wurde durchleuchtet. Bald erfuhr die
Stasi so von den grossen Problemen Böhmes
mit seiner Ehefrau. Als er die Scheidung wollte,
weil er sich in eine andere Frau verliebt
hatte, schrillten die Alarmglocken beim
Geheimdienst. Mitte März 1980 schliesslich
wurde Böhme aus dem Verkehr gezogen.
Anlass der Ausdelegierung: Ein paar Hundert
Mark, die Böhme von einem Fan aus Minden
erhalten und dafür eine Stereoanlage gekauft
hatte – nur ein Vorwand, wie alle Beteiligten
ahnten.
Das neue Leben
Nach dramatischen Tagen wird Böhme klar:
Seine Karriere ist beendet. Der Sportlehrer
wird abgeschoben auf eine Betriebsschule.
Im Dezember 1987 schliesslich stellt er mit
seiner dritten Ehefrau einen Ausreiseantrag
– Böhme kann die Distanz zu seinem geliebten
Zwillingsbruder Matthias, der auf abenteuerliche
Weise in der Schweiz gelandet ist,
nicht mehr aushalten. Im Sommer 1989, ein
paar Monate vor dem Fall der Mauer, darf
Böhme endlich ausreisen und beginnt in
Ostwestfalen ein neues Leben als Trainer und
Lehrer. Warum Böhme tatsächlich aus dem
Verkehr gezogen wird, kann er nur vermuten;
wahrscheinlich brach ihm ein Brief das
Genick, in dem er drohte, er könne ja auch bei
der nächsten Auslandsreise in Dänemark
bleiben. Doch selbst die Stasi-Akten geben
keinen genauen Aufschluss. Heute lebt der
59-Jährige lebt mit seiner Familie in der
Schweiz, er arbeitet nahe Basel als Sportlehrer
und Trainer der Juniorenmannschaft
des RTV Basel. Und er ist glücklich, dass
sie wieder gewürdigt wird: Seine Geschichte,
die gleichzeitig so viel über den DDR-Handball
erzählt. <
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