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<strong>Die</strong> <strong>anarchistische</strong> <strong>Perspektive</strong> - Plädoyer für eine<br />

libertäre Ausrichtung der radikalen Kriminologie<br />

Autor: Pelters, K. Olaf<br />

Quelle: http://<strong>www</strong>.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/IKS/<br />

quellenundlinks/ki2-95.htm<br />

Download 2008/08/11<br />

Vorab: Es scheint vielen Leuten Angst <strong>zu</strong> machen, sich mit dem<br />

Anarchismus <strong>zu</strong> beschäftigen. Selbst radikale Kriminologen haben die<br />

<strong>anarchistische</strong> Gesellschaftstheorie weitestgehend ignoriert. Denn wie<br />

sonst ist es <strong>zu</strong> erklären, daß anscheinend lediglich Cesare Lombroso!<br />

(Er widmete den Anarchisten ein ganzes Buch) in vorausgesetzt<br />

bekannter, radikaler Manie, sich des Themas bediente. Über<br />

Jahrhunderte wurden die Anarchisten und ihre Lehre durch die<br />

öffentliche Meinung diskreditiert, was Gaston Leval (1969), einen<br />

französischen Anarchisten, da<strong>zu</strong> veranlaßte, es als 'monumentalen<br />

Irrtum' <strong>zu</strong> bezeichnen, die Idee von einer libertären Gesellschaft mit<br />

dem Etikett Anarchie <strong>zu</strong> belegen.<br />

Lombrosos Psychopathisierung der Anarchisten wurde abgelöst durch<br />

den Topos Anarchist = Terrorist, die rudimentäre Verkörperung<br />

dessen, was gemeinhin noch heute unter Anarchismus verstanden wird.<br />

Plädiert man also für eine Renaissance <strong>anarchistische</strong>r Theoreme für<br />

die radikale Kriminologie (was ich hiermit tue), so ist <strong>zu</strong>allererst der<br />

Mangel an Kenntnis der tragenden Elemente der <strong>anarchistische</strong>n Lehre<br />

(n) <strong>zu</strong> beseitigen. Daher an dieser Stelle einige Worte über<br />

Anarchismus, Anarchie und die Menschen, die sich dem schönen<br />

Traum der Anarchie verpflichtet fühlen. Anschließend soll<br />

exemplarisch die Forderung nach 'autonomer Konfliktregelung' und<br />

Auflösung der Kategorie 'Kriminalität' als einer der vielen<br />

Wahlverwandtschaften zwischen Anarchismus und Abolitionismus<br />

erörtert werden.<br />

Etymologisch ist das Wort Anarchie abgeleitet aus dem griechischen<br />

anarchja, was soviel bedeutet wie 'ohne Herrschaft'. Eine Existenz von<br />

Gesellschaft als Konglomerat sozialer Beziehungen, ohne "das


Dazwischentreten einer Macht, die 'leitet, schulmeistert und<br />

bestraft' (R‚clus) war schon Aristoteles (384-322 v.Chr.) höchst<br />

suspekt, er hielt Anarchie schlechthin für den 'Zustand der Sklaven<br />

ohne Herrn'. Thomas Hobbes (1651) verglich die Anarchie mit dem<br />

Natur<strong>zu</strong>stand des Menschen. <strong>Die</strong>ser bedeute bekannterweise den<br />

'Krieg aller gegen alle'. Moses Mendelssohn (1729 - 1786) bezeichnete<br />

Anarchie als 'Geist des Widerspruchs', als 'positive Urform von<br />

Gemeinschaft und Gesellschaft', als 'Stütze der Freiheit'. Kant (1798)<br />

definierte Anarchie als 'Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt'. Kant<br />

assoziierte mit dem Zustand der Herrschaftslosigkeit also nicht den<br />

völligen Zerfall einer Gesellschaft, den Krieg aller gegen alle, sondern<br />

er sah durchaus die Existenz von gesellschaftlichen Regeln unabhängig<br />

von Herrschaft. Kants und Mendelssohns Vorstellungen kommen<br />

denen der Anarchisten schon sehr nahe, sie skizzieren essentielle<br />

Wesensmerkmale der <strong>anarchistische</strong>n Theorie. Heut<strong>zu</strong>tage wird<br />

Anarchie jedoch günstigstenfalls als eine temporäre Erscheinung<br />

diskutiert, im Sinne eines Automatismus, als die Zeit des Übergangs<br />

zwischen der Auflösung überkommener Herrschaft und der<br />

Herausbildung neuer Herrschaftsformen.<br />

Anarchismus ist die Lehre von der Herrschaftslosigkeit. Man könnte<br />

den Anarchismus als Inbegriff aller Argumente und Postulate, aller<br />

Haltungen und Handlungen bezeichnen, welche die Herrschaft als<br />

solche ablehnen, sofern ihr Menschen unterworfen sind, und zwar<br />

ohne Rücksicht auf die jeweilige Form des Machtgebildes. Der<br />

Anarchismus stellt die individuelle Freiheit des Menschen in den<br />

Mittelpunkt seiner Überlegungen <strong>zu</strong>r Konzeptualisierung von<br />

Gesellschaft. Das langfristige Ziel der Anarchisten war und ist die<br />

Abschaffung des Staates, der als höchste Organisationsform von<br />

Herrschaft die freie Entfaltung von Individuum und Gesellschaft<br />

untergräbt und stattdessen die Umklammerung der Menschen 'von der<br />

Wiege bis <strong>zu</strong>r Bahre' (Kropotkin 1972) vollzieht. Darüberhinaus wird<br />

die Notwendigkeit eines positiven Rechtssystems abgelehnt.<br />

Traditionen, Sitten und Gebräuche, also naturrechtliche Essentials sind<br />

bei der Gestaltung einer pazifistisch ausgerichteten Gesellschaft, die ein<br />

maximales Quantum an Pluralismus und Individualität bereithält,<br />

effektiver als geschriebenes Recht.<br />

Heut<strong>zu</strong>tage ist unverkennbar, daß Anarchisten die Utopie einer


Nivellierung des Leviathans in den Hintergrund rücken, <strong>zu</strong>gunsten<br />

einer mehr pragmatischen Ausrichtung, die überall da sichtbar wird,<br />

wo 'die Ausdehnung des Raumes für freie Handlungen' (Paul<br />

Goodman) betrieben wird. <strong>Die</strong>s wiederum ist überall da der Fall, wo<br />

autonomes Leben nach dem <strong>anarchistische</strong>n Prinzip 'Try and Error'<br />

probiert und mehr Unabhängigkeit vom Staat erreicht wird. Staatliche<br />

Defizite, vor allem im sozialen Bereich, werden oftmals kompensiert<br />

durch die Eigeninitiative von Individuen, Gruppen (z.B. durch die<br />

Gründung von Elterninitiativen, freien Schulen, selbstverwalteten<br />

Betrieben etc). Nahe<strong>zu</strong> für jedes Anliegen gibt es heut<strong>zu</strong>tage<br />

Verbände, Vereine und Initiativen, die ihre Interessen selbst in die<br />

Hand nehmen, da sie 'die Schnauze voll haben' von staatlichen<br />

Direktiven, die all<strong>zu</strong>oft nur un<strong>zu</strong>reichend Bedürfnisbefriedigung in<br />

Aussicht stellen. <strong>Die</strong>jenigen, die initiativ werden, würden sich zwar in<br />

der Mehrzahl nie als Anarchisten bezeichnen, dieses sogar entrüstet<br />

ablehnen. Das ändert aber nichts daran, daß sie <strong>anarchistische</strong> Werte<br />

(Individualität, Spontanität, Mut <strong>zu</strong>m Risiko und vor allem die<br />

Ablehnung von Herrschaft) umsetzen.<br />

Ist der Anarchismus wohl die radikalste der existierenden<br />

Gesellschaftstheorien, da er mit dem Staat nichts am Hut hat, so stellt<br />

der Abolitionismus die radikalste Strömung innerhalb der Kriminologie<br />

dar. <strong>Die</strong> Abolitionisten sehen ihre Aufgabe nicht darin, der Utopie<br />

einer Überwindung des 'Kriminalitätsproblems' hinterher<strong>zu</strong>laufen,<br />

sondern Konstruktionsskizzen einer Gesellschaft bereit<strong>zu</strong>stellen, die<br />

gerechtere Sozialstrukturen aufweist und so in der Lage ist,<br />

Kriminalität, subsumiert unter die Kategorie 'Konflikte'(vgl.Hanak/<br />

Stehr/Steinert 1989), im Interesse der jeweiligen Konfliktparteien<br />

gewaltarm <strong>zu</strong> regeln. Der Topos 'Nullum crimen sine lege' bedeutet aus<br />

abolitionistischer Sicht die (herrschaftssichernde) Funktion des<br />

positiven (Straf-) Rechtssystems und seine oft blessurenreiche<br />

Auswirkung auf deviante Individuen/Gruppen bloß<strong>zu</strong>legen. Devianz<br />

wird somit nicht als primäres Wesensmerkmal amoralischer Subjekte<br />

gesehen, sondern ist Prüfstein für die Funktionalität von Rechtsregeln<br />

und <strong>zu</strong>gleich auch Indikator des gesellschaftlichen status quo. Es geht<br />

also nicht um Plädoyers für mehr 'Weißmacher' und Terminatoren, für<br />

eine mit allen technischen Raffinessen ausgestattete brillierende Polizei,<br />

die den Kriminalitätssumpf ein für alle mal trockenlegt, sondern um die


Erkenntnis, daß (nicht erst seit Durkheim) Abweichung - welcher Art<br />

auch immer - <strong>zu</strong>m normalen Handlungsrepertoire des Menschen gehört<br />

und eine Bereicherung (im Sinne von mehr Individualität) jeder<br />

Gesellschaft sein kann. Auf der Grundlage eines antizipierten neutralen<br />

Menschenbildes verlangt der Abolitionismus nach der Möglichkeit,<br />

Konflikte aus dem Strafrecht heraus<strong>zu</strong>katapultieren und - im Sinne von<br />

mehr Gerechtigkeit für Täter und Opfer - autonom <strong>zu</strong> regeln. Mit der<br />

Zeit können sich ungeahnte Erfahrungsschätze auftun, die helfen, in<br />

Zukunft Konflikte <strong>zu</strong> vermeiden oder aber pazifistischer <strong>zu</strong> regeln als<br />

es eine abstrakte Strafmaschinerie des Staates je tun kann. Daß<br />

verantwortliches Handeln aller Beteiligten eines Konfliktes die<br />

natürliche Grenze eindimensionaler Racheakte darstellt, belegen nicht<br />

nur ethnokriminologische Studien.<br />

Zentrales Anliegen der <strong>anarchistische</strong>n Theorie ist die Forderung nach<br />

der Autonomie des Subjektes und der Gesellschaft. Damit verbunden<br />

ist auch die Rückgabe der Konflikte und ihrer Regelung an die<br />

Individuen auf der Basis einer konfliktheoretischen Konzeption von<br />

Gesellschaft. Ebenso wie radikale Kriminologen weisen Anarchisten<br />

Kriminalität als gesellschaftsimmanentes und herrschaftsbezogenes<br />

Phänomen aus. <strong>Die</strong> gemeinsame Erkenntnis des staatlichen<br />

Mißbrauchs von Kriminalität <strong>zu</strong>r Aufrechterhaltung des status quo<br />

erlaubt es, das Phänomen Kriminalität <strong>zu</strong> funktionalisieren und in den<br />

<strong>Die</strong>nst einer anarchistisch-kriminologischen Gesellschaftstheorie <strong>zu</strong><br />

stellen. Kriminalität ist etwas 'Staatsgemachtes', ist ein Produkt von<br />

Zuschreibungsprozessen. Nimmt man das Diktum "Nullum crimen sine<br />

lege" ernst, so ist jedes Verbrechen, als ein Rechtsbruch gegen den<br />

Staat gerichtet und nicht, wie behauptet, gegen die Gesellschaft.<br />

Kriminalität hört auf, wenn zentral gesetztes positives Recht<br />

abgeschafft ist und die Legitimationsgrundlage für die Schutzmacht<br />

'Staat' nicht mehr existiert. Was bleibt, das sind problematische<br />

Situationen zwischen Individuen oder Gruppen. Als Resultante auf<br />

Kriminalität und problematische Situationen lassen sich zwei Arten des<br />

Konflikts erkennen. Der eine entspringt dem Verhältnis Individuum -<br />

Staat, der andere ist Ergebnis des Widerspruchs zwischen Individuum<br />

und Gesellschaft. Anarchistische Kriminologie untersucht die<br />

unterschiedlichen Bedingungen von Konflikten mit dem Ziel, <strong>zu</strong><br />

Aussagen und Forderungen <strong>zu</strong> kommen, die eine Befriedung der


Gesellschaft in Aussicht stellen. Hierbei geht es nicht um die<br />

Abschaffung von Konflikten, sondern um die Abschaffung von<br />

Bedingungen, die für die Ausprägung und Eskalierung der<br />

Gewaltanteile eines<br />

Konflikts verantwortlich sind. Namentlich sind dies die Existenz von<br />

Herrschaftsformen, die ein Monopol auf Definition, Sanktion und<br />

Behandlung abweichenden Verhaltens haben. Das Produkt einer<br />

gewaltsamen Befriedung der Gesellschaft kann eben nicht<br />

Gerechtigkeit sein, denn Gewalt provoziert immer Gegengewalt.<br />

Allerdings wäre es verfehlt, Gewalt an sich als einen nurmehr<br />

negativen Begriff im Rahmen einer <strong>anarchistische</strong>n Kriminologie <strong>zu</strong><br />

verwenden. Negativ und gefährlich ist allein die Monopolisierung von<br />

Gewalt. Ansonsten ist jede Veränderung ohne ein gewisses Quantum<br />

an Gewalt undenkbar. So setzt beispielsweise der Prozeß der<br />

Etablierung einer neuen gesellschaftlichen Moral voraus, daß<br />

überkommene Werte verneint und abgeschafft werden. Gesetze jedoch<br />

schreiben den status quo fest und kontrastieren jede Entwicklung.<br />

Abschaffung, Zerstörung oder Subversion hat notwendig<br />

Gewaltanteile, nur ist diese "natürliche Gewalt" im Gegensatz von<br />

herrschaftlicher Gewalt kreativ. Sie schafft etwas Neues, und solange<br />

die Aufspaltung von Macht gelingt, ist das Resultat nicht für die<br />

Ewigkeit konstruiert : "So befremdlich der Ausdruck auch klingen<br />

mag, so müssen wir doch von "natürlicher Gewalt" sprechen - ...",<br />

"<strong>Die</strong> "Gewaltlosigkeit" der dogmatischen Pazifisten ist unnatürlich und<br />

sogar irgendwie bösartig,..." "Für mich ist das, was im allgemeinen als<br />

"Gewaltlosigkeit" gilt, boshafter Vorwand für eine Verschärfung der<br />

Schuldgefühle. Zorn ist schließlich verbindend; und es scheint falsch,<br />

Zorn <strong>zu</strong> unterdrücken. Es ist interessant <strong>zu</strong> sehen, wie gewöhnlich der<br />

eine Schlag oder Schlagabtausch unter vernünftigen<br />

Menschen der letzte ist, da er die Kommunikation wiederhergestellt<br />

hat" (Goodman 1980). Unnatürliche Gewalt ist immer verbunden mit<br />

der Ausübung von Herrschaft, und im Kriegsfall erreicht sie durch<br />

institutionalisierte Tötung ihren Höhepunkt. <strong>Die</strong> Institutionalisierung<br />

von Gewalt beraubt die Individuen, indem große Bereiche natürlicher<br />

Gewalt als einem originärem Teil menschlicher Handlungsressourcen<br />

<strong>zu</strong>r Aufdeckung und Regelung von Konflikten als illegal erklärt und<br />

unter Strafe gestellt werden. <strong>Die</strong> gewaltsame Pazifizierung der Bürger


eines Staates suggeriert nicht nur Gewalt als negativ, sondern<br />

entfremdet sie darüberhinaus. In staatenlosen Gesellschaften ist der<br />

Gebrauch von Gewalt immer auch moralischen Kriterien unterworfen,<br />

die ihre Begren<strong>zu</strong>ng determinieren. <strong>Die</strong>ses Gefühl für<br />

Schadensbegren<strong>zu</strong>ng geht dort verloren, wo Konflikte geraubt und<br />

Moral institutionalisiert (in der Form kodifizierter Rechtsnormen) wird.<br />

Individuelle Moral ist ohne sozialen Kontext nicht denkbar. Derjenige<br />

freie Mensch, der gewaltsam die Befriedigung seiner Bedürfnisse <strong>zu</strong><br />

erlangen sucht, handelt zwar verantwortungslos gegen das Opfer; das<br />

entbindet ihn jedoch nicht davon, die Konsequenzen seiner Tat <strong>zu</strong><br />

tragen. Im Gegensatz <strong>zu</strong>r abstrakten Strafjustiz des Staates, sind jedoch<br />

die Beziehungen zwischen Täter, Opfer, und all denen, die ein<br />

Interesse (unter Umständen können dies auch Strafbedürfnisse sein) an<br />

dem Vorkommnis haben, nicht aufgelöst. <strong>Die</strong> Rollen der Täter, Opfer,<br />

Vermittler oder Sanktionierer sind nicht juristisch fixiert und ihr Status<br />

ist weiterhin verletzbar. <strong>Die</strong> Entfremdung, die das Gesetz leistet, betont<br />

die Gewaltanteile des Konflikts zwischen Tätern, Opfern und<br />

Regeldurchsetzern und raubt individuelle Pazifizierungsstrategien, die<br />

oftmals der "Menschlichkeit" und "Vergebung" Priorität einräumen,<br />

anstatt Vergeltung <strong>zu</strong> fordern (vgl. Christie 1986). Reziprozität läßt<br />

sich nicht durch Konformitätsdruck erzwingen, sie muß immer wieder<br />

neu erarbeitet werden. Konflikte zwischen Individuen sind Wegbereiter<br />

von Würde und Respekt. Würde und Respekt aber lassen sich nicht<br />

kodifizieren, sondern erkennen das 'Recht auf Abweichung' (Ward<br />

1978) als Ausdruck von Individualität an. Achtung vor sich selbst und<br />

vor dem Mitmenschen wird nur erreicht, indem das <strong>anarchistische</strong><br />

Prinzip, das 'principle of diversity' (Holterman 1984), maßgeblich ist.<br />

Ansonsten droht Gesichtslosigkeit und Atomisierung der Menschen:<br />

"Ein Glaube, ein Gott, eine Idee, ein Hut für alle! Würden alle unter<br />

einen Hut gebracht, so brauchte freilich keiner vor dem anderen den<br />

Hut noch ab<strong>zu</strong>nehmen" (Stirner 1986). Fest<strong>zu</strong>stellen ist, daß der<br />

Mensch den 'Hut für alle' nicht freiwillig erwirbt, denn: "Jeden Tag<br />

werden Millionen von Übereinkommen ohne die Intervention der<br />

Regierung geschlossen...." (Kropotkin 1972). Konfliktregelung<br />

zwischen Individuen geht vielfältige Wege und unterliegt<br />

Gesetzmäßigkeiten, die manchmal 'unbegreiflich erscheinen', wie<br />

Tolstoj es sagt, und doch <strong>zu</strong> durchaus befriedigenden Resultaten für


eide Parteien führen. "Legalität" hingegen ist "...in Wirklichkeit<br />

Verrat gegen unsere natürliche Gesellschaftsstruktur", ..." dann<br />

nämlich, wenn sie uns in Situationen verwickelt, in denen wir<br />

aufhören, persönliche Verantwortung für die Konsequenzen <strong>zu</strong><br />

tragen" (Goodman 1980). Einer Kriminologie, die anarchistisch sein<br />

will, geht es darum, die Konflikte, die sich notwendig aus dem<br />

Widerspruch Individuum - Gesellschaft ergeben, ernst <strong>zu</strong> nehmen. Das<br />

bedeutet, daß die kreativen Anteile eines Konflikts herausgearbeitet<br />

werden. <strong>Die</strong>s wiederum führt da<strong>zu</strong>, gängige Mythen über die Art der<br />

menschlichen Natur <strong>zu</strong> neutralisieren, ohne einen neuen Mythos <strong>zu</strong><br />

schaffen: "Unser Verständnis der Natur des Menschen oder auch der<br />

Vielfalt möglicher Gesellschaftsformen ist gewiß noch so rudimentär,<br />

daß jedes weiterreichende Theorem mit großer Skepsis <strong>zu</strong> betrachten<br />

ist, ebenso wie Skepsis auch am Platze ist, wenn wir hören, daß die<br />

'menschliche Natur' oder die 'Erfor- dernisse des Fortschritts' oder die<br />

'Komplexität des modernen Lebens' diese oder jene Form von<br />

Unterdrückung und autokratischer Herrschaft erfordern" (Chomsky<br />

1987, 11). Wenn mit statischen Definitionen, Theorien und<br />

Fragestellungen Gesellschaftsanalyse vorbereitet wird, ist das Produkt<br />

absehbar: die Genese einer Gesellschaft, die, welchem politischen<br />

System sie sich auch immer verpflich- tet fühlt, als neuerliches<br />

Korrektiv für menschliche Un<strong>zu</strong>länglichkeit herhalten muß. <strong>Die</strong>ses <strong>zu</strong><br />

verhindern ist die Aufgabe einer <strong>anarchistische</strong>n Kriminologie, deren<br />

Grundlegung ein politisches Selbstverständnis sein muß, das den<br />

zentralen Begriffen gesellschaftlicher Veränderung - Chance und<br />

Risiko - Vorrang einräumt, Hierarchie und Herrschaft aber ersatzlos<br />

streicht. Eine radikale Kriminologie, die die <strong>anarchistische</strong> <strong>Perspektive</strong><br />

nicht vernachlässigt, könnte beginnen "nach einer weniger gefährlichen<br />

Sicherheitsgarantie als ausgerechnet derjenigen durch den Gewalt-<br />

Staat" <strong>zu</strong> suchen (Scheerer 1984).<br />

Pelters, K. Olaf Der Artikel basiert auf: 'Anarchismus und<br />

Kriminologie'(wiss. Arbeit z. Erlangung d. akad. Gr. d. Diplom-<br />

Kriminologen), Hamburg 1994.

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