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Fatima ist Fatima - Die Imame

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<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong><br />

Geschrieben von Ali Schariati<br />

Im Namen Gottes<br />

Einleitung<br />

<strong>Die</strong> im folgenden veröffentliche Rede, die Ali Schariati vor nun mehr zehn<br />

Jahren über das Leben <strong>Fatima</strong>s, der Tochter des Propheten, gehalten hat,<br />

markiert einen Wendepunkt in der jüngsten Frauenbewegung Irans innerhalb der<br />

Islamischen Revolution.<br />

<strong>Die</strong>se nicht zuletzt wegen ihrer späteren Auswirkungen bekannt gewordene<br />

Rede stellt eine leidenschaftliche Anklage der Gesellschaftsverhältnisse, die zur<br />

Unterdrückung der iranischen Frau sowie zu ihrem Identitätsverlust geführt<br />

haben, dar. Schariati zeichnet ein düsteres Bild der iranischen Frau, die entweder<br />

oder einer verfälschten und starres Tradition verhaftet geblieben oder einem von<br />

außen aufgezwungenen Modernismus verfallen <strong>ist</strong>.<br />

Ohne Geschichtsbewusstsein und jeder eigenen Initiative beraubt, wird sie daran<br />

gehindert, ihre Persönlichkeit auf der Grundlage der eigenen Kultur zu entfalten.<br />

Schariati begnügt sich nicht mit der Beschreibung der Zustände, die sich auf die<br />

Selbstverwirklichung der iranischen Frau hemmend ausgewirkt haben, sondern<br />

wiederholt vielmehr die Frage vieler Frauen dieser in Bewegung geratenen<br />

Gesellschaft: „Wie soll ich sein?“ und versucht, darauf eine Antwort zu finden.<br />

Auf der Suche nach dem Idealtyp der islamischen Frau entrollt er ein<br />

anschauliches Bild von Leben und Wirken <strong>Fatima</strong>s, das die Prophetentochter<br />

aus einem Blickwinkel zeigt, den manche Geschichtsschreiber wegen peinlicher<br />

Schlussfolgerungen lieber unerwähnt ließen.<br />

<strong>Fatima</strong> war die erste islamische Frau, die die unrechtmäßige Führung des<br />

Kalifen verurteilte, sich gegen sie auflehnte und ihr bis zu ihrem Tode jede<br />

Anerkennung verweigerte.<br />

Den Geschichtsschreibern der ersten Zeit passte nicht ins Bild, die geliebte<br />

Prophetentochter in der Rolle der Anführerin der Rebellion gegen das Kalifat zu<br />

sehen. <strong>Die</strong> späteren Hofberichterstatter dann hatten sich bereits zu sehr an das<br />

Bild der passiven Frau gewöhnt und waren nicht bereit, ihr eine aktive Rolle<br />

zuzugestehen, auch dann nicht, wenn es sich um die Tochter des Propheten<br />

handelte.


Auch als es mancherorts nicht mehr lebensgefährlich war, die Nachkommen<br />

Mohammads und ihre Tapferkeit zu rühmen, wurde <strong>Fatima</strong> wegen der ihr<br />

widerfahrenen Ungerechtigkeit nur beweint; ihre aktive und kämpferische Rolle<br />

in der islamischen Bewegung aber wurde verkannt, und ihre Botschaft konnte an<br />

die kommenden Generationen nicht weitergegeben werden.<br />

Schariati geht mit dieser Geschichtsauffassung hart ins Gericht; er räumt mit<br />

überholten Rücksichten gegenüber den alten und neuen Machthabern auf, zeigt<br />

<strong>Fatima</strong> von ihrer kämpferischen Seite und empfiehlt sie als Vorbild für die<br />

iranische Frau.<br />

Er weiß, warum er auf diese Tatsache hinweisen muss, denn angesichts der<br />

herrschenden sozialen Ungerechtigkeit wäre es unverantwortlich, die Frau<br />

weiterhin in ihrer politischen Passivität verharren zu lassen.<br />

Wie bereits erwähnt, war ein Teil der Frauen aus falsch verstandenem<br />

Sittlichkeitsdenken zu Gefangen einer überholten Tradition geworden, während<br />

andere in einer imitierten Scheinwelt ohne soziales und kulturelles Bewusstsein<br />

lebten.<br />

<strong>Die</strong> iranische Frau musste aus dieser Passivität heraustreten. Dem Vorbild, dem<br />

sie nacheifern sollte, durfte weder die Untätigkeit der einen noch die unsinnige<br />

Geschäftigkeit der anderen eigen sein.<br />

<strong>Die</strong>ses Vorbild fand Schariati in der Persönlichkeit <strong>Fatima</strong>s. Sein Idealtyp <strong>ist</strong><br />

also kein Phantasiegebilde und er wurde im Laufe der islamischen Geschichte<br />

durch verschiedene weitere Frauengestalten repräsentiert; unter ihnen nimmt<br />

<strong>Fatima</strong> eine herausragende Stellung ein.<br />

Es <strong>ist</strong> das Verdienst Schariatis, mit dazu beigetragen zu haben, der iranischen<br />

Frau schon vor dem Siege der Islamischen Revolution das Bewusstsein zu<br />

vermitteln, bei ihrem Kampf gegen das herrschende System fest in der Tradition<br />

der Prophetentochter zu stehen.<br />

Mit seiner Anklage gegen die Hofgelehrten und die traditionellen<br />

Geschichtsschreiber hat er den Versuch unternommen, die Emanzipation der<br />

islamischen Frau auf ihrem eigenen kulturellen Boden zu bewirken. <strong>Die</strong>s könne<br />

aber nur gelingen, wenn die unbequemen Persönlichkeiten der Geschichte ohne<br />

Rücksicht auf das religiöse Empfinden derer, die an falschen, überkommenden<br />

Traditionen festhalten, dargestellt werden könnten.<br />

<strong>Die</strong> Lebensgeschichte <strong>Fatima</strong>s war der zündende Funke, der die islamische<br />

Frauenbewegung bereits vor dem Siege der Revolution entfachte.


Schariati sprach vom Kampf <strong>Fatima</strong>s an der vordersten Front der islamischen<br />

Bewegung, von ihrem Widerstand gegen Unterdrückung, Folter und Verfolgung<br />

sowie von ihrer Auflehnung gegen den Missbrauch der Staatsgewalt.<br />

Er schrieb ihren Leidensweg während der Zeit der Verfolgung, aber auch ihren<br />

erbitterten Widerstand an der Seite ihres Vaters gegen die Feinde des Islam.<br />

<strong>Fatima</strong> war das Symbol des vorrevolutionären Kampfes gegen die etablierte<br />

Macht, und Schariati appellierte an die iranische Frau, ihren Weg fortzusetzen;<br />

nur so könne die eine aus ihrer Passivität und die andere aus ihrer<br />

Orientierungslosigkeit herauskommen.<br />

<strong>Die</strong> Frage nach dem „Wie“ versucht er, mit der Lebensgeschichte <strong>Fatima</strong>s zu<br />

beantworten. Er zeigt auf, wie die Frauen ihrem sinnlosen Dasein entrinnen<br />

können, ohne dabei den trügerischen Idolen der westlichen Welt nachzueifern,<br />

denn eine fruchtbare Begegnung mit der abendländischen „Zivilisation“ könne<br />

sich nur auf der festen Grundlage der eigenen Kultur vollziehen.<br />

Wenn die islamische Frau sich ohne Selbst- und Geschichtsbewusstsein dieser<br />

Herausforderung stelle, stehe sie auf verlorenem Posten; sie müsse annehmen,<br />

was ihr unter dem Deckmantel des „Fortschritts“ angeboten werde- tatsächlich<br />

fehle ihr jedoch jede Unterscheidungsgrundlage.<br />

Schariatis These, die islamische Frau müsse sich nach Vorbild fortschrittlicher<br />

und kämpferischer Frauen aus der eigenen Geschichte orientieren, stieß in der<br />

vorrevolutionären Ära in Iran auf fruchtbaren Boden. Seine berühmt gewordene<br />

Rede war für viele junge Iranerinnen, die seine Gedanken weiterentwickelten<br />

und in die Gesellschaft hineintrugen, ein Denkanstoß.<br />

<strong>Die</strong> anfängliche Aufklärungsarbeit wuchs unter der Führung Imam Khomeinis<br />

und der kämpfenden Ge<strong>ist</strong>lichkeit zu einer gewaltigen Frauenbewegung, die zur<br />

Speerspitze der Revolution wurde.<br />

<strong>Die</strong> Bewegung kam für das Regime unerwartet und zwar in ihrer Art<br />

unberechenbar, hatten doch die Machthaber versucht, diese aus dem Schlaf der<br />

Jahrhunderte erwachende Kraft durch Konsumanreize zu kanalisieren und in<br />

andere Bahnen zu lenken.<br />

<strong>Die</strong> oberflächliche Nachahmung der westlichen Frau sollte zum Lebensinhalt<br />

der sich im ge<strong>ist</strong>igen Vakuum bewegenden orientalischen Frau werden. Dem<br />

Anschein nach sprach alles dafür, das dies in der iranischen Gesellschaft<br />

gelungen war; umso überraschter war das Regime, als die Frauen bei Ausbruch<br />

der Revolution aktiv für die Unterdrückten Partei ergriffen.


Sie taten dies in der Überzeugung, das ihre Probleme von den Fragen dieser<br />

Gesellschaft nicht isoliert betrachtet werden können und nach einer<br />

Grundlegenden Veränderung der sozialen Verhältnisse im Einklang mit den<br />

Prinzipien des Islam gelöst werden müssen.<br />

<strong>Die</strong> islamische Frauenbewegung Irans hatte am Erfolg der Revolution tätigen<br />

Anteil.<br />

<strong>Die</strong> Diskussion über die Rolle der Frau in einer islamischen Gesellschaft in<br />

dauert in Iran noch an. Wie bereits erwähnt, vollzog sich die Integration der<br />

iranischen Frau in die Gesellschaft zum Teil während des gemeinsamen<br />

Kampfes gegen das Schah-Regime.<br />

Nach dem Sieg der Revolution geht es nun mehr um die Frage, wie diese<br />

Integration ausgebaut und die neugewordene Solidarität der Geschlechter für<br />

den Aufbau der Gesellschaft nutzbar gemacht werden können.<br />

(Der Herausgeber Dezember 1981)<br />

Einige Worte an den Leser<br />

<strong>Die</strong>se Schrift <strong>ist</strong> der Text einer Rede, die ich in Husseiniye-ye Erschad (1)<br />

gehalten habe. Ich hatte die Absicht, für die Studenten meiner<br />

Islamwissenschaftlichen Vorlesungen in Erschad über die Forschungsarbeit von<br />

Herrn Professor Louis Massignon über die Persönlichkeit und den<br />

komplizierten Lebenslauf <strong>Fatima</strong>s, besonders über den tiefen und revolutionären<br />

Einfluss, den ihre Lebensweise auf die islamische Gesellschaften und die<br />

Entwicklungen der islamischen Geschichte gehabt hatte, zu referieren.<br />

Als ich mir dann die Versammlung ansah, fiel mir auf, das außer meinen<br />

Studenten noch viele andere Zuhörer gekommen waren. <strong>Die</strong> Zusammensetzung<br />

der Versammlung machte eine eindringliche Fragestellung erforderlich. Daher<br />

entschloss ich mich zu versuchen, auf eine unter den Frauen unserer<br />

Gesellschaft vorherrschende Frage eine Antwort zu finden.<br />

Sie lautet: Wie sollen wir werden?<br />

Den Frauen, die den alten Traditionen verhaftet geblieben sind, stellt sich diese<br />

Frage überhaupt nicht; für diejenigen. <strong>Die</strong> eingeführte Lebensformen<br />

übernommen haben, <strong>ist</strong> sie schon beantwortet.<br />

Aber zwischen diesen beiden Gruppen von „schematisierten“ Frauen gibt es<br />

andere, die weder bereit sind, die alte und überlieferte Form zu akzeptieren noch<br />

sich der neuen, aufgezwungenen Form zu unterwerfen.<br />

Was sollen wir also tun?


Sie möchten selber ihre Wahl treffen und sich frei entfalten. Sie brauchen ein<br />

Musterbeispiel, ein Idealbild. <strong>Die</strong> Frage, die sie beschäftigt, lautet:<br />

„Wie soll ich werden?“<br />

<strong>Fatima</strong> mit ihrem „Sein“ <strong>ist</strong> die Antwort auf diese Frage.<br />

Ich wollte mich mit einer analytischen Beschreibung der Persönlichkeit <strong>Fatima</strong>s<br />

begnügen, musste aber einsehen, das unsere Gebildeten und Intellektuellen ihren<br />

Lebenslauf nicht kennen, sogar die religiöse Bevölkerungsschicht hatte nur<br />

Gejammer über sie gehört. So versuchte ich gezwungenermaßen. <strong>Die</strong>se Lücke,<br />

soweit es in meinen Kräften stand, zu schließen.<br />

Daher befasst sich diese Abhandlung - welche den Wortlaut der Rede mit einem<br />

erweiterten zweiten Abschnitt wiedergibt - mit dem Lebenslauf dieser geliebten,<br />

aber unbekannten oder falsche verstandenen Persönlichkeit.<br />

In diesem Lebenslauf stütze ich mich hauptsächlich auf alte h<strong>ist</strong>orische Quellen,<br />

wo es ausschließlich um die Glaubenssätze der Schia ging, habe ich die<br />

sunnitischen Quellen benutzt, denn die Schia, die aus sunnitischen Quellen<br />

belegt werden kann, <strong>ist</strong> aus wissenschaftlichen und h<strong>ist</strong>orischer Sicht nicht<br />

umstritten.<br />

<strong>Die</strong> unterdrückte und protestierende Gestalt <strong>Fatima</strong>s- ein Spiegelbild der Partei<br />

Alis- <strong>ist</strong> in den Augen der sich der Wahrheit nicht verschließende Sunna und<br />

eines jeden wahrheitssuchenden Skeptikers eine unbestreitbare Tatsache.<br />

Was Sie im folgenden lesen, <strong>ist</strong> eine Rede, die in einer bestimmten Atmosphäre<br />

aus dem Stegreif gehalten wurde; die Biographie; die ihr hinzugeführt wurde, <strong>ist</strong><br />

in kürzester Zeit- in einer Nacht_ geschrieben worden. Es sollen keinen<br />

größeren Erwartungen daran geknüpft werden, als ein Vortrag erfüllen kann.<br />

Daher kann ich auch nicht behaupten, das sie keiner Kritik bedarf, im Gegenteil,<br />

sie <strong>ist</strong> nötig und wird von wohlmeinenden Sachverständigen, die einen guten Rat<br />

aus Freude an der Sache, nicht aber aus Lust an Feindseeligkeit,<br />

Beschimpfungen und Verleumdungen erteilen, erwartet.<br />

(Ali Schariati, Juli 1971)


<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong><br />

Es war nicht geplant, das ich an so einem geheiligten Abend hier spreche. Da ich<br />

aber durch meinen kleinen Anteil an der umfangreichen Forschungsarbeit des<br />

hervorragenden Islamwissenschaftlers Professor Louis Massignon als Student<br />

mit seinen Studien über <strong>Fatima</strong> in Berührung gekommen war, wurde ich<br />

gebeten, über diese Arbeit zu berichten.<br />

Durch seine Forschung durfte ich vieles über das Leben und die Persönlichkeit<br />

<strong>Fatima</strong>s, insbesondere über ihren fortdauernden Einfluss in der islamischen<br />

Geschichte für die Erhaltung des Gerechtigkeitssinnes und des Willens zum<br />

Kampf gegen Unterdrückung und Diskriminierung in der islamischen<br />

Gesellschaft und vor allem über ihr Leben als Vorbild auf dem Wege der<br />

Verwirklichung der islamischen Botschaft erfahren.<br />

Zu Beginn der Arbeit durfte ich bei der Sammlung und Sichtung aller<br />

Dokumente und Informationen, die im Laufe von vierzehn Jahrhunderten in<br />

allen Sprachen und Dialekten der islamischen Länder, angefangen von einem<br />

geschichtlichen Hinweis bis zu einem Volkslied über <strong>Fatima</strong>,<br />

zusammengekommen sind, mitarbeiten.<br />

Da diese Arbeit noch nicht veröffentlicht worden <strong>ist</strong> und aufgrund des Todes des<br />

Forschers noch nicht vollendet werden konnte, <strong>ist</strong> sie weder den me<strong>ist</strong>en<br />

europäischen Islamwissenschaftlern noch unseren gewöhnlich mit europäischen<br />

Forschungsarbeiten über den Islam vertrauten Wissenschaftlern bekannt. Daher<br />

nahm ich diese Einladung an.<br />

Ich beabsichtige, meinen Studenten, die meine Vorlesungen über „Geschichte<br />

und Religionswissenschaft“, „Religionssoziologie“ und „Islamwissenschaft“ in<br />

Erschad besuchten, eine Zusammenfassung der Forschungsarbeit und ihre<br />

wichtigsten Ergebnisse vorzutragen.<br />

Nun fällt mir auf, das die hier Anwesenden nicht nur meine islamwissenschaftlichen<br />

Studenten sind. <strong>Die</strong> Versammlung eignet sich auch nicht für eine<br />

Predigt oder Ansprache.<br />

<strong>Die</strong> anwesenden Herrschaften sind Intellektuelle, Akademiker und Vertreter der<br />

heutigen Generation. Sie sind weder gekommen, um über <strong>Fatima</strong> zu weinen (2),<br />

noch erwarten sie von dieser Versammlung eine Totenehrung für ihre<br />

Verstorbenen. Sie sind auch nicht gekommen, um eine streng wissenschaftliche<br />

Vorlesung über h<strong>ist</strong>orische Forschungsarbeit zu hören.


Es gibt eine dringendere und lebenswichtige Frage, auf die sie eine Antwort<br />

erwarten, auf die Frage, die unmittelbar mit ihrem Schicksal zusammenhängt:<br />

„Wie soll ich sein“?<br />

In unserer Gesellschaft ändern sich die Frauen rapide. Zeit und Umstände sowie<br />

der Einfluss der Institutionen entfernen sie von dem, „was sie sind“ und<br />

berauben sie ihrer traditionellen Eigenschaften und Werte, um aus ihnen das zu<br />

machen, „was sie Wollen“ ; wir sehen, haben sie Erfolg damit.<br />

Daher lautet in dieser Zeit die kritischste Frage einer selbstbewussten Frau:<br />

„Wie soll ich sein“? Denn sie weiß wohl, das sie nicht so bleiben kann, wie sie<br />

<strong>ist</strong>. Sie bleibt nicht so und kann auch nicht so bleiben, weil man sie nicht lässt.<br />

Anderseits möchte sie die moderne Maske, mit der sie ihre alte Erscheinung<br />

überdecken soll, nicht akzeptieren. Sie möchte selbst entscheiden, ihre neue<br />

Identität selbst wählen. Sie möchte ihr neues Gesicht selbstbewusst, unabhängig<br />

und echt schminken. Sie weiß aber nicht, wie. Sie weiß zwar, das ihr<br />

menschliches Antlitz weder das überlieferte Aussehen <strong>ist</strong> noch die gezwungene<br />

und nachgeahmte Schminkmaske, weiß aber nicht, wie sie aussehen soll.<br />

Eine zweite Frage ergibt sich aus folgender Überlegung:<br />

Wir sind Moslems; die Frau in unserer Gesellschaft, die ihre Unabhängigkeit<br />

erlangen will, um eine eigene Wahl zu treffen, <strong>ist</strong> mit einer Geschichte, Kultur,<br />

Religion und Gesellschaft verbunden, die ge<strong>ist</strong>ig vom Islam beeinflusst worden<br />

sind.<br />

Eine Frau, die in dieser Gesellschaft ihre Identität bewahren und sich frei<br />

entfalten möchte, die in ihrer Widergeburt ihre eigene Geburtshelferin, aber kein<br />

Produkt der Überlieferung und Nachahmung sein möchte, kann dem Islam<br />

gegenüber nicht gleichgültig bleiben. Es <strong>ist</strong> ganz natürlich, das sie sich darüber<br />

Gedanken macht.<br />

Unser Volk hat schon immer über <strong>Fatima</strong> gesprochen. Jährlich beweint man sie<br />

tagelang und veranstaltet in Erinnerung an sie Hunderttausende von Sitzungen,<br />

Predigten, Trauerveranstaltungen und Feiern. Lobpreisungen, Ehrerbietungen,<br />

Verherrlichungen und Beschreibungen ihrer Wundertaten sind an der<br />

Tagesordnung.<br />

Ihre Peiniger werden verflucht. Und trotzdem <strong>ist</strong> sie unbekannt geblieben.


Das einzige, was unser Volk von dieser großen Persönlichkeit kennt, sind einige<br />

banale Geschichten, die von Generation zu Generation überliefert und immer<br />

wieder erzählt werden:<br />

„Der Erzengel Gabriel erscheint dem Propheten und sagt zu ihm: „Sei gegrüßt<br />

vom Erhabenen, er befiehlt Dir, Dich von Khadija (3) zu entfernen und nicht<br />

mehr zu ihr zu gehen“.<br />

Nach 40 Tagen bringt er dem Propheten eine Speise aus dem Paradies und<br />

befielt ihm, Khadija herbeizuholen.<br />

Khadija erzählt: „ich hab Tag und Nacht allein zu Hause verbracht, die Tür<br />

angeschlossen und weinend gewartet. Eines Nachts klopfte es; ich öffnete die<br />

Tür und erblickte den Gesandten Gottes. Er kam herein. Gewöhnlich betete er<br />

im Ramadan zuerst, nahm dann das Abendmahl ein und kam dann ins<br />

Schlafgemach. Aber an jenem Abend kam er direkt zu mir und nahm mich<br />

sofort ins Bett. Ich empfing das Licht <strong>Fatima</strong>s. Seitdem sprach <strong>Fatima</strong> aus<br />

meinem Leib zu mir. Ich war nicht mehr allein.“<br />

Nach ihrer Geburt <strong>ist</strong> über <strong>Fatima</strong> bis zu ihrem Tode nichts mehr zu erfahren.<br />

„Nach dem Tode des Propheten nahm ihr Abu Bakr das Ackerland Fadak (4)<br />

weg, und Omar überfiel ihr Haus mit einer Gruppe seiner Männer; dabei wurde<br />

sie gegen die Tür geschleudert, ein <strong>Die</strong>ner Omars verprügelte sie so, das die im<br />

6. Monat schwangere Frau eine Fehlgeburt erlitt. Nach diesem Ereignis<br />

verbrachte sie ihre Tage damit, ihre Kinder bei der Hand zu nehmen und sie<br />

außerhalb der Stadt in eine Ruine namens „Haus der Sorgen“ zu bringen, zu<br />

weinen und die Usurpatoren von Fadak zu verfluchen.<br />

Sie verharrte Stundenlang in dieser Position; so verbrachte sie ihr kurzes Leben<br />

mit Weinen und Verfluchen, bis sie starb. In ihrem Testament bestimmte sie,<br />

man möge sie nachts begraben, um eine Leichenschändung durch jene, die sie<br />

gehasst hatten, zu verhindern.“<br />

Nirgends erfährt man z.B. etwas über das, was man von <strong>Fatima</strong> lernen kann;<br />

auch nicht darüber, welche Rolle sie im Leben und Schicksal ihrer Anhänger<br />

gespielt hat. Alles dreht sich um Fürsprache beim Jüngsten Gericht und<br />

Geschichten wie diese:<br />

„Dann ruft der Herold vom Throne Gottes den Völkerscharen zu:Wendet Euren<br />

Blick von <strong>Fatima</strong>, der Tochter des Auserwählten Gottes, und lasst sie zu ihrem<br />

Schloss! Dann geht meine Tochter <strong>Fatima</strong> im grünen Doppelgewand vorüber<br />

und 70 000 Engel werden um sie sein.“


Im Namen des Erhabenen wird dann verkündet: „Ich werde meine Geschöpfe<br />

wegen Deiner Leiden solange nicht zur Rechenschaft ziehen, bis Du in den<br />

Himmel gekommen b<strong>ist</strong>. Du, Deine Kinder, Deine Anhänger und diejenigen.<br />

<strong>Die</strong> Dir eine Wohltat erwiesen haben, werden in den Himmel kommen, bevor<br />

Gott, der Erhabene, seine <strong>Die</strong>ner zur Rechenschaft zieht.“<br />

Das sind die einzigen Informationen, die unter dem Volk über diese große<br />

Persönlichkeit ex<strong>ist</strong>ieren. Trotzdem hat es ihre Größe und Würde aus tiefster<br />

Seele anerkannt und sich ihr mit unerschütterlichen Glauben und grenzenloser<br />

Ergebenheit, zu denen ein Volk jemals fähig sein kann, gewidmet.<br />

Genialität und Wahrheitsliebe<br />

Meines Erachtens begründet sich die Ehre, die unserem Volke im Laufe seiner<br />

Geschichte zuteil wurde und worauf es mit Recht stolz sein kann, darauf, das es<br />

sich in den schwärzesten und schwersten Stunden der Geschichte für Ali<br />

entschied.<br />

Sie legte ein beredtes Zeugnis von dem Genie und der Wachsamkeit dieses<br />

Volkes ab und <strong>ist</strong> ein Beweis für sein Urteilsvermögen und den starken Willen,<br />

der Gewalt und Unterdrückung zu wiederstehen, den Betrug und die Lüge<br />

anzuprangern. Den ausbeutischen Verräter bloßzustellen, sich gegen das<br />

herrschende System aufzulehnen, keiner Propaganda der regimeabhängigeren<br />

Religion und Ge<strong>ist</strong>lichkeit zu erliegen und das unbekannte, fremde, schwache<br />

und versteckte Recht hinter dem dunklen, bekannten und starken Vorhang des<br />

Unrechtes zu entdecken.<br />

Unser Volk wurde durch die Kalifen islamisiert. <strong>Die</strong>se, die Dynastien der<br />

Umayyaden (5) und der Abbasieden, die türkischen, arabischen, mongolischen<br />

und iranischen Khane wurden ihm als Vertreter des Islam. Der Herrschaft des<br />

Koran, der Tradition des Propheten, des Lagers der Rechten und der Religion<br />

der Wahrheit vorgezeigt.<br />

Unser Volk hat den Islam und alle neuen Anschauungen und Erkenntnisse<br />

präsentiert bekommen: Kanzel, Altar, Koran, Exegese, Tradition, Predigt,<br />

Moschee, Islamschule, Der Imam, der Kadi, der Theologe, der Philosoph, der<br />

Dichter, der H<strong>ist</strong>oriker, der Religionskämpfer, der Gefährte und der Anhänger<br />

des Propheten dienten dazu, das Regime des Kalifats und der Sultane als die<br />

„offiziellen Nachfolger“ des Propheten und den gesetzlichen Imam der<br />

islamischen Gemeinde sowie die Herrschaft des Koran und der Tradition zu<br />

rechtfertigen.


Sie alle waren Mittel und Zweck, wie es heute bei Rundfunk, Film und<br />

Fernsehen, Presse, Propagand<strong>ist</strong>en und den Theoretikern der herrschenden<br />

Klasse der Fall <strong>ist</strong>.<br />

<strong>Die</strong>ses fremde Volk, das nicht einmal die Sprache des Islam kannte, erkannte<br />

jedoch trotz ständiger Propaganda hinter den schwarzen Wolken der gelenkten<br />

Wissenschaften der Theologie, Philosophie, Religion, Kultur, Geschichte,<br />

Tradition und Exegese, die im <strong>Die</strong>nste des Kalifats standen und den bestehenden<br />

Zustand zu rechtfertigen und zu institutionalisieren suchten, das dies alles Lügen<br />

sind. Es erkannte trotz der lautstarken Propaganda, das das Recht nicht auf der<br />

Seite dieser prächtigen Gestalten steht.<br />

Es erkannte, das das Recht auf der Seite des Mannes steht, der eine Ecke der<br />

Moschee des Propheten bewohnt und Gefangener der Ignoranz seines Volkes<br />

und Opfer der Politik der großen Prophetengefährten und Vorkämpfer des Islam<br />

geworden <strong>ist</strong>.<br />

Es fand abseits des grünen Schlosses in Damaskus und der Tausendundeine-<br />

Nacht des Kalifaten-Sitzes in Bagdad die verlassene Lehmhütte <strong>Fatima</strong>s und<br />

erkannte, das der Islam in dieser sorgenvollen, verlassenen und stillen Hüte<br />

fortlebt.<br />

<strong>Die</strong>ses fremde Volk, das durch die Schwerter der Kalifen und den Aufruf der<br />

offiziellen Ge<strong>ist</strong>lichkeit des Kalifats den Islam angenommen hatte, konnte das<br />

sehen, was die Bevölkerung von Medina, die Araber und die Gefährten des<br />

Propheten nicht sahen oder nicht sehen wollten.<br />

Es erkannte eine Tatsache, die von großen Schulen und Universitäten in<br />

Damaskus und Bagdad nicht erkannt wurde.<br />

Es war eine schwere und erstaunliche Entscheidung; sie manifestierte<br />

gleichzeitig das geniale Denken und die ungewöhnliche Wachsamkeit, die<br />

ge<strong>ist</strong>ige Unabhängigkeit, die Wahrheitsliebe und den Mut dieses Volkes, sich<br />

gegen die Geschichte aufzulehnen und die Weltherrschaft der Kalifen, die mehr<br />

als alle herrschenden Systeme der Geschichte über eine erdrückende politische<br />

und militärische Macht, ein großes religiöses Glaubenskapital und ein<br />

unendliches Reservoir an Kultur, Literatur und Wissenschaft verfügte,<br />

abzulehnen.<br />

<strong>Die</strong>ses fremde Volk hörte und erkannte mitten im Getümmel des Krieges, des<br />

heiligen Kampfes, der Eroberungen. Niederlagen, Unterdrückungen, dem<br />

Geschrei nach Fortschritt, Wissenschaft, Philosophie, Kultur, Zivilisation und<br />

Revolution und anderen Auseinandersetzungen der Welt und der Religion den<br />

leidvollen Ruf eines in seiner eigenen Stadt fremden Mannes, der abseits der


Städte und einsam vor der Widerbelebung der Lüge, der Obrigkeit und der<br />

Ausbeutung warnt und weiß, das Lüge und Betrug, die in den Gestalten der<br />

Kaiser und Könige angeprangert und verurteilt wurden, nun die Gestalt der<br />

Frömmigkeit und Religion annehmen und Gottes Geschöpfe jahrhundertlang<br />

weiter betrügen werden.<br />

Wie viel Blut muss fließen, welche Anstrengungen werden nötig sein, ehe sie in<br />

dieser neuen heiligen und schönen Aufmachung wieder bloßgestellt werden<br />

können! Wie wir sehen, sind die ersten Opfer dieser neuen Verdummung und<br />

Ausbeutung im Islam die Bevölkerung und ihre Schicksale. Ein Symbol dieses<br />

Opfers <strong>ist</strong> Ali, vor ihm seine Frau und in den nachfolgenden Generationen seine<br />

Nachkommen.<br />

Zweifellos <strong>ist</strong> diese Entscheidung und Erkenntnis in den schwersten und<br />

dunkelsten Stunden der Geschichte unserem Volk nicht leichtgefallen. Sie zeugt<br />

von Reife, Unabhängigkeit, Mut, Liebe zu Wahrheit und Menschlichkeit,<br />

ge<strong>ist</strong>iger Größe sowie der Fähigkeit, den tieferen Sinn der Dinge zu erfassen, die<br />

höheren Werte zu erkennen und die Wahrheit allen Schwierigkeiten zum Trotz<br />

zu suchen.<br />

<strong>Die</strong>se vielseitigen Fähigkeiten waren notwendig, um eine andere Meinung zu<br />

fassen, anstatt das Urteil der Geschichte zu übernehmen und als Antwort auf die<br />

Propaganda der Minarette, Altäre und Kanzeln angesichts der großen Gefährten<br />

des Propheten, der Gelehrten, der Richter, der offiziellen <strong>Imame</strong> (6) und ihrer<br />

blutbefleckten Schwerter, die im Westen und Osten, Tag und Nacht, ein „ja“ im<br />

Chor verlangten, „nein“ zu sagen.<br />

Dennoch fordert der Glaube nicht nur Genialität und Ge<strong>ist</strong>, sondern auch Opfer.<br />

Für den Sieg des Rechtes wurden Aufopferung, Mut, Aufrichtigkeit,<br />

Leidensfähigkeit und die Bereitschaft verlangt, Folter, Verleumdung, Leid,<br />

Gefangenschaft, Flucht, Einsamkeit und Verrat zu ertragen, fromm, hilfsbereit<br />

und geduldig zu sein und sich selbst von Profitsucht, Angst, Lüge,<br />

Scheinheiligkeit und Besserwisserei zu befreien. Das sind Grundsätze die die<br />

Geschichte der Schia bestimmen.<br />

Damit meine ich die Schia Alis, nicht die Safawiden (7) oder die des Schah<br />

Abbas.<br />

Eine Schia, die der Unterdrückung und Gewalt in der Geschichte den Kampf<br />

ansagte, nicht eine, die selbst zum Unterdrücker und Gewalttäter wird; die<br />

Religion der Gerechtigkeit und die Herrschaft des Gerechten, nicht aber eine<br />

Sammlung geschichtlicher verdrängter Komplexe, völkischer Rachegelüste,<br />

verbaler und suggestiver Hassgefühle gegen die Person des Kalifen anstatt


gegen das Kalifat, nur vergangenheitsbezogen anstatt gegenwartsorientiert, nur<br />

jenseitsorientiert statt diesseits.<br />

Gemeint <strong>ist</strong> jener auf Ali zurückgehende Führungsauftrag, der die Schia aus den<br />

Fesseln der Herrschaft der Unterdrückung, Gewalt und Unwissenheit befreit,<br />

nicht aber die Führungsbefugnis der der Gotteslästerung verfallenen Sufis (8),<br />

die weder Gott noch seinen Geschöpfen dienen können.<br />

Jene Schia <strong>ist</strong> nichts anderes als der Islam; nicht etwa, wie uns eingeredet wird,<br />

„Islam und andere Dinge“.<br />

Nein, die Schia <strong>ist</strong> der reine Islam, Islam minus Kalifat, Pseudo- Arabertum und<br />

Ar<strong>ist</strong>okratie. Nicht die Schia hat dem Islam die beiden Grundsätze Gerechtigkeit<br />

und Imamat (Führungsauftrag) hinzugefügt.<br />

Islam ohne Gerechtigkeit und Imamat <strong>ist</strong> wie die Religion ohne Islam, d.h. nur<br />

Religion, wie es in der chr<strong>ist</strong>lichen, jüdischen, zoroastrischen (9),<br />

buddh<strong>ist</strong>ischen, tao<strong>ist</strong>ischen und vedaischen Religion der Fall <strong>ist</strong>.<br />

In der „neuen Epoche der Ignoranz“ wurden dem Islam die Begriffe „Herrschaft,<br />

Rasse und Klasse“ hinzugefügt. <strong>Die</strong> Auseinandersetzungen zwischen Schia und<br />

Sunna war eine Auseinandersetzung zwischen Imamat und Gerechtigkeit<br />

einerseits und Despotie und Unterdrückung anderseits. Alle anderen<br />

glaubensbezogenen, Interpretationsmäßigen, geschichtlichen, philosophischen<br />

und religiösen Meinungsverschiedenheiten resultieren daraus.<br />

Ali wurde Mohammad nicht zugeführt. Wir halten uns an Ali , um Mohammad<br />

nicht zu verlieren; denn Muawiye (10), Marwan (11) , Mutiwakkil (12), Harun<br />

(13) – welche die Kaiser und Pharaonen ihrer Zeit und Erben Abu Djahls (14)<br />

und Abu Sufians (15) waren – sprachen auch von Mohammad.<br />

Wir haben weder die Traditionen des Propheten durch die Familie des Ali<br />

ersetzt, noch haben wir ihr etwas hinzugefügt. Es <strong>ist</strong> seine eigene Familie, wir<br />

fragen ganz einfach und offen, was er gesagt, getan und gewollt habe.<br />

Im Gegensatz zu den Behauptungen der Feinde und Freunde <strong>ist</strong> die Schia die<br />

traditional<strong>ist</strong>ische aller islamischen Glaubensrichtungen. Der Unterschied<br />

besteht überhaupt darin, das Ali und seine echte und kundigen Anhänger von<br />

Anfang an versuchten, der Häresie zu widerstehen und der Tradition des<br />

Propheten treu zu bleiben.<br />

Nun sehen wir, wie alles ins Gegenteil verkehrt wird. In den schwarzen und<br />

blutigen Jahrhunderten, als der Islam der Unterdrückung und des Kalifats seine


Herrschaft in der Welt ausdehnte, wälzte sich der Islam der Gerechtigkeit und<br />

des Imamat in seinem Blut, im Blut des Märtyrertums.<br />

<strong>Die</strong> Schia hat ebenfalls dieses Martyrium auf sich genommen und die Gewalt<br />

abgelehnt. <strong>Die</strong>se Entscheidung fiel ihr nicht leicht.<br />

In der Geschichte des Islam war es nicht leicht, von Ali und <strong>Fatima</strong> zu sprechen.<br />

In diesem Zusammenhang erfahren die Worte des Dichters dieser kämpfenden<br />

Familie eine besondere Bedeutung, wenn er sagt: „seit 50 Jahren trage ich mein<br />

Kreuz au meinem Rücken“.<br />

Ein engagierter Dichter, der die Worte zum Schwert des heiligen Kampfes<br />

umformt. So verläuft das Leben aller Frauen und Männer, die mit ihren Taten<br />

die Geschichte dieser Religion geschrieben haben, eine Geschichte, die mit dem<br />

Blut der Märtyrer geschrieben worden <strong>ist</strong>.<br />

<strong>Die</strong> mutigen Vorkämpfer der Schia kannten die Philosophie, die später für uns<br />

zurechtgeschustert wurde, nicht: Habt Geduld, er wird kommen (gemeint <strong>ist</strong> der<br />

12. Imam (16) ) und alles in Ordnung bringen“. Er solle selber kommen und die<br />

Religion seiner Ahnen wieder aufleben lassen. Wir hätten keine andere Wahl als<br />

unsere Gesinnung zu verheimlichen (17) und uns in Geduld zu üben.<br />

Ibn Sakit war ein bedeutender Literat und Sprachkenner. Er war kein Kämpfer;<br />

er sympathisierte heimlich mit der Schia. Der Kalif Mutiwakkil wählte ihn aus,<br />

um seine Kinder zu unterrichten. Nach und nach bemerkte er, das seine Kinder<br />

eine Zuneigung zu Ali und seiner Familie gefasst hatten. Seine Agenten<br />

berichteten ihm, das diese Zuneigung auf den Einfluss des Lehrers<br />

zurückzuführen sei. Eines Tages betrat der Kalif unangemeldet das<br />

Klassenzimmer; er setzte sich, lobte den Lehrer und drückte seine Zufriedenheit<br />

über die Fortschritte seiner Kinder aus.<br />

Während des Gespräches fragte er beiläufig:<br />

„Was hältst Du von meinen Kindern?“<br />

Darauf lobte Ibn Sakit die Kinder.<br />

Plötzlich fragte der Kalif ihn: „Sind Dir meine Mutazz und Muayyad lieber oder<br />

Alis Kinder Hassan und Hussein?“<br />

Ibn Sakit musste sich entscheiden.<br />

Hier käme eine Verheimlichung der Gesinnung der Niederträchtigkeit und dem<br />

Verrat gleich.<br />

<strong>Die</strong> Schia Alis aber kennt keine Verheimlichung der religiösen Gesinnung; diese<br />

Verheimlichung war damals eine Taktik zur Erhaltung des Glaubens; nicht wie


heute, zum Schutze des Gläubigen. Wo es um Glauben geht, <strong>ist</strong> eine<br />

Verheimlichung der Gesinnung verboten- komme , was wolle.<br />

Deshalb zögerte Ibn Sakit nicht und antwortete ebenso geläufig:<br />

„Qanbar, der <strong>Die</strong>ner Alis, <strong>ist</strong> mir lieber als Du und Deine beiden Kinder“.<br />

Mutiwakkil befahl, ibn Sakits Zunge auf der Stelle herauszureißen.<br />

Es waren diese scharfen Zungen, die den Unterdrückern der Geschichte das<br />

Leben schwer machten. Wenn es auch nicht möglich war, politische Despotie,<br />

Ausbeutung der unteren Klassen und religiöse Verdummung zu beseitigen, so<br />

war es doch möglich, sie zu enttarnen und zu verurteilen.<br />

Es wurde erreicht, das der Wunsch nach Gerechtigkeit, Aufklärung und<br />

revolutionärer Führung und der Wille zur Bekämpfung eines auf Macht,<br />

Vermögen und Pharisäertum aufgebauten Systems erhalten blieben und nicht in<br />

Vergessenheit gerieten.<br />

Fiese heilige Flamme konnte im Verlaufe der Geschichte nicht ausgelöscht und<br />

aus dem Bewusstsein der Massen verdrängt werden.<br />

Das Volk und die Gelehrten<br />

Beide Gruppen hatten diese große und schwere Verantwortung zu tragen. Sie<br />

trugen ihr Kreuz seit Jahrhunderten auf dem Rücken. <strong>Die</strong> aufgeklärten und<br />

kämpferischen schiitischen Gelehrten, die das Imamat (den Führungsauftrag)<br />

nach den Grundsätzen der Schia als Fortführung des Prophetentums und die<br />

Wissenschaft als Fortsetzung des Imamat betrachteten, bildeten die eine Gruppe;<br />

<strong>Die</strong> anderen waren die aufrichtigen und gläubigen Volksmassen, deren kühnes<br />

Schweigen die Folterknechte der arabischen Kalifen und der türkischen und<br />

persischen Sultane in Verzweiflung versetzte, deren blutüberströmte und ruhige<br />

Gesichter ihre Scharfrichter in Verlegenheit brachten. Sie widerstanden wie ein<br />

Fels den Peitschen der Herrschenden, als ob sie keinen Schmerz mehr<br />

empfinden könnten.<br />

Vernunft und Liebe<br />

Jede Religion, Denkschule, Bewegung oder Revolution wird von zwei<br />

Determinatenten bestimmt; Vernunft und Liebe. <strong>Die</strong> eine <strong>ist</strong> das Licht und die<br />

andere Bewegung; die eine verleiht Verstand und Erkenntnis, die andere Kraft,<br />

Bege<strong>ist</strong>erung und Bewegung.


Nach den Worten von Alexis Carrel: „Vernunft <strong>ist</strong> wie der Scheinwerfer eines<br />

Automobils, der den Weg we<strong>ist</strong>; Liebe <strong>ist</strong> wie der Motor, der es in Bewegung<br />

setzt. Jeder von ihnen <strong>ist</strong> ohne den anderen unvollkommen. Insbesondere ein<br />

Motor ohne Scheinwerfer <strong>ist</strong> wie die blinde Liebe lebensgefährlich und<br />

katastrophal“.<br />

In einer Gesellschaft, in einer ge<strong>ist</strong>igen bzw. revolutionären Bewegung haben<br />

die Gelehrten und die engagierten Intellektuellen die Aufgabe, den Weg zu<br />

weisen und dem Volk die Denk- und Bewegungsrichtung zu zeigen ; das Volk<br />

hat die Verantwortung, der Bewegung Kraft und Leben zu verleihen.<br />

<strong>Die</strong> Volksbewegung <strong>ist</strong> wie ein menschlicher Organismus: sie denkt mit den<br />

Köpfen der Gelehrten und liebt mit dem Herzen des Volkes.<br />

Mangelt es in einer Gesellschaft an Überzeugung, Aufrichtigkeit, Liebe und<br />

Aufopferung, so <strong>ist</strong> das Volk dafür verantwortlich.<br />

Mangelt es in an richtiger Erkenntnis, Aufgeklärtheit, Selbstbewusstsein,<br />

Vertrautheit mit den Inhalten und Zielen der Denkschule, so sind die Gelehrten<br />

daran schuld.<br />

Insbesondere in bezug auf Religion sind beide Gruppen aufeinander<br />

angewiesen; denn die Religion <strong>ist</strong> eine Art selbstbewusste Hingabe oder ein<br />

hingebungsvolles Selbstbewu0tsein. Bege<strong>ist</strong>erung und Überzeugung bedürfen<br />

der Erkenntnis; Vernunft und Gefühl sind unteilbar.<br />

Mehr als jede andere Religion richtet sich der Islam nach diesen Grundsätzen.<br />

Er <strong>ist</strong> die Religion des Buches und des Kampfes, die Religion des Denkens und<br />

des Liebens.<br />

Daher erkennt man im Koran nie die Grenze zwischen Vernunft und Glauben.<br />

Der Märtyrertod wird als das ewiges Leben betrachtet. Es wird auf die<br />

Schreibfeder geschworen. Unter den Gefährten des Propheten kann man den<br />

Asketen und den Kämpfer und diese und den Verkünder der Religion nicht<br />

auseinanderhalten.<br />

<strong>Die</strong> Schia, insbesondere wegen ihre Geschichte und Kultur, <strong>ist</strong> ein Nährboden<br />

für Liebe, Bege<strong>ist</strong>erung, Blut und Märtyrertum.<br />

Sie <strong>ist</strong> der Mittelpunkt der entflammten und freigesetzten Gefühle; sie <strong>ist</strong> aber<br />

gleichzeitig eine Art Meditation und Erkenntnis wissenschaftlicher und<br />

rationeller Kultur und eine gewaltige ge<strong>ist</strong>ige Bewegung.


Sie <strong>ist</strong> die Chronik der Erkenntnis, Zuneigung und Wahrheitsliebe in der<br />

Geschichte des Menschen, die auf den Namen Ali und sein Wesen zurückgeht;<br />

denn die Wahrheit ohne Liebe <strong>ist</strong> Philosophie und Wissenschaft und Liebe ohne<br />

Wahrheit <strong>ist</strong> Götzenverehrung und Leidenschaft.<br />

Tränen als Zeugen der Liebe<br />

So wurde die Schia in der Geschichte geboren und so lebte sie fort. <strong>Die</strong><br />

schiitischen Denker und Wissenschaftler waren Symbole des Kampfes, des<br />

Nachdenkens und der Forschung. Sie erforschten die logischen Zusammenhänge<br />

und den tieferen Sinn der Begriffswelt.<br />

Sie erkannten die sich in der Entwicklung befindenden Glaubenssätze und die<br />

islamischen Prinzipien und bewahrten den wahren Gehalt des ursprünglichen<br />

Islam im schwindelerregenden und verführerischen Getümmel der Philosophie,<br />

Mystik, Wissenschaft, Literatur, Askese und der Einflüsse der griechischen und<br />

östlichen Gedanken.<br />

Andererseits war die Volksmasse das Symbol für Treue, Aufrichtigkeit, Liebe,<br />

Bege<strong>ist</strong>erung und Aufopferung auf dem Wege zu Ali und bei der Fortsetzung<br />

seines Weges. Sie änderten diese Haltung auch dann nicht, als Gewalt, Folter<br />

und Massenmord das Leben der Massen bestimmten und jeder es mit seinem<br />

Leben bezahlen musste, wenn er nur seinen Namen erwähnte; in einer Zeit, als<br />

die Erwähnung der Familie des Propheten von den Stellvertretern des Propheten<br />

mit Enthäutung und Verbrennung beantwortet wurde.<br />

Noch heute bringt die Masse unseres Volkes diesem Haus viel Liebe entgegen.<br />

Sie <strong>ist</strong> ihm treu geblieben. Noch heute, nach vielen Jahrhunderten, nach dem<br />

Entstehen und Vergehen vieler neuer Glaubensrichtungen und Gedanken, hat sie<br />

sich von diesem Haus nicht abgewandt, um neue Schlösser, Gebetshäuser und<br />

Gebetsrichtungen zu suchen.<br />

Wir sehen, das sie noch immer den Weg zu <strong>Fatima</strong>s Haus findet und über ihre<br />

Leiden Tränen vergießt. Jede Träne <strong>ist</strong> Ausdruck der aufrichtigen und treuen<br />

Liebe, die unser Volk von jeher diesem Haus entgegengebracht hat.<br />

Das <strong>ist</strong> die Sprache der Massen. Welche Sprache wäre aufrichtiger und reiner als<br />

die Sprache, die weder in Worten noch in Schriftzeichen, sondern mit Tränen<br />

ausdrückt? Jeder Satz dieser Sprache <strong>ist</strong> ein Aufschrei des Herzens und<br />

Ausdruck der liebevollen Sehnsucht. Spricht denn das Auge nicht aufrichtiger<br />

als die Zunge?


Ist die Träne nicht das schönste Gedicht, die ungeduldigste Liebe und der tiefste<br />

Glauben? Drückt sie denn nicht die Gefühle, die Sehnsüchte und die Liebe am<br />

schönsten aus? <strong>Die</strong> Träne <strong>ist</strong> eine Mischung all dieser Gefühle, die aus dem<br />

Herzen kommen.<br />

Wie wir sehen, redet unser Volk, und es redet gut. Sie werden sich wundern,<br />

wieso ich das Weinen verteidige, wo ich doch des öfteren das Beweinen des<br />

Märtyrertods und Veranstaltungen dieser Art kritisiert habe. Hier liegt nur ein<br />

scheinbarer Widerspruch; das Weinen als eine Art Arbeit, schlicht Mittel zum<br />

Zweck, als ein Grundsatz und Auftrag <strong>ist</strong> nicht zu vergleichen mit dem Weinen<br />

zum Ausdruck eines natürlichen Gefühles und des Kummers aus Liebe und<br />

Sehnsucht.<br />

Der bekannte französische Revolutionär Regis Debray, der in Lateinamerika lebt<br />

und ein Kampfgefährte Che Guevaras war, sagt:“ Ein Mensch, der nicht weint<br />

und nicht weinen kann, besitzt kein Gefühl der Menschlichkeit“. Er <strong>ist</strong> aus Stein,<br />

ohne Herzensbildung und Seele. Tränen , die im Herzen wachsen, langsam<br />

hochsteigen , das Atmen erschweren und plötzlich ausbrechen, sind aufrichtiger<br />

und natürlicher Ausdruck der Bege<strong>ist</strong>erung, des Leidens und der Liebe des<br />

Menschen.<br />

Derjenige aber, der das Weinen vorplant und darin eine Art Zeremonie,<br />

Tradition, religiöse Pflicht oder eine Hauptaufgabe zu einem nützlichen Zweck<br />

oder einer Wiedergutmachung in Erwartung einer Belohnung sieht, <strong>ist</strong> ein<br />

sorgloser Betrüger.<br />

Wer verliebt <strong>ist</strong> und von der Geliebten getrennt wurde, wer um den Verlust einer<br />

Geliebten trauert, weint, weil er traurig <strong>ist</strong>. Jedes Mal wenn er an sie denkt oder<br />

auf sie zu sprechen kommt, schmerzt ihm das Herz, das Auge reflektiert den<br />

Schmerz und die Tränen steigen hoch. Das sind die zarten und reinen Symbole<br />

des tiefen Glaubens und der wahren Liebe.<br />

Wir sehen Sie haben einen Menschen, der von morgens bis mittags im Basar auf<br />

der Jagd nach Profit <strong>ist</strong> oder im Amt die Zeit totschlägt, ein heuchlerisches<br />

Leben führt, dem Vorgesetzten schmeichelt, Untergebenen und dem Publikum<br />

gegenüber hochnäsig <strong>ist</strong>, mittags nach einer üppigen Mahlzeit ein Schläfchen<br />

hält und abends seinen „gesunden“ und undurchsichtigen Vergnügungen<br />

nachgeht, sich dann aber nach den Daten des Kalenders mit vorheriger<br />

Verabredung nach alter Sitte von 18.30 bis 21.00 Uhr am <strong>Die</strong>nstag eines<br />

bestimmten Monats hinsetzt, „trauert“, sich einredet, traurig zu sein und sich alle<br />

Mühe gibt, einige Tränen zu vergießen, nach dem Ablauf des Programms der<br />

„Sicht-Sorgen-Machen-Veranstaltung“ Tee und Kaffee trinkt, eine Wasserpfeife<br />

raucht und dann mit erleichtertem Gewissen und in dem Bewusstsein, eine


wichtige Arbeit gele<strong>ist</strong>et und einen großen Schritt auf dem Wege des Glaubens<br />

vorwärts getan zu haben, wieder bis zur nächsten Saison seinem täglichen Leben<br />

nachgeht, die ebenso Weinen und Trauern nach einem vorgebenden Plan<br />

vorsieht wie die vergangene? Ich sehe ihn auch nicht viel anders!<br />

Ein Weinen, das weder Engagement noch Selbstbewusstsein noch Verständnis<br />

für den Geliebten noch Überzeugung verrät, dient nur zur Reinigung der Augen<br />

vom Schmutz der Strassen.<br />

Wir sollten nicht vergessen, das der erste, der das Schicksal des großen Hussein<br />

(18) beweinte, Omar Sa´ad war; die erste, die dieses Beweinen kritisierte, war<br />

die große Zeinab (19); die erste Trauerfeier wurde am Hofe Yazid (20)<br />

veranstaltet.<br />

Unser Volk aber weint aus wahrer Liebe, denn zum Ausdruck dieser tiefen<br />

Verbundenheit mit dem Hause des Geliebten, das ein wahres Pantheon und ein<br />

Olymp <strong>ist</strong>, in dem die wahren Götter wohnen, gibt es keine andere Sprache als<br />

die der Tränen.<br />

<strong>Die</strong> Masse besteht weder aus Gelehrten noch Philosophen, sie braucht Glauben,<br />

Gefühl und Opferbereitschaft und bat sie Genüge.<br />

Keine andere Religion und keine andere Nation können sich der Zugehörigkeit<br />

zu solch einem Hause rühmen; ein Haus, in dem ein Vater wie Ali, eine Mutter<br />

wie <strong>Fatima</strong>, ein Sohn wie Hussein und eine Tochter wie Zeinab leben , alle unter<br />

einem Dach, zur selben Zeit und in der selben Familie.<br />

Keinem anderen Haus wurde je von einer Nation so viel aufrichtiger Liebe,<br />

Treue und Opferbereitschaft entgegengebracht.<br />

Unser Volk hat um das `Haus <strong>Fatima</strong>s eine neue Kultur entstehen lassen; eine<br />

Geschichte voller Leidenschaft, Bewegung, Mut und Tugend nimmt ihren<br />

Verlauf aus diesem Haus, sie <strong>ist</strong> wie ein reiner, lebensspendender Fluss, der alle<br />

Generationen unseres Volkes ernährt hat und noch heute in dem tiefen<br />

Bewusstsein der Volksmassen fließt.<br />

Sie <strong>ist</strong> die einzige Nation der Menschheitsgeschichte, die in Sorge um das<br />

geliebte Haus und in Erinnerung an ihren Freiheitshelden im Laufe ihrer langen<br />

Geschichte immer getrauert und die Verletzung der menschlichen Tugenden, die<br />

Verfälschung der Wahrheit und Einrichtung der Gewaltherrschaft trotz der<br />

Kontinuität dieses Systems in ihrer Geschichte niemals vergessen hat.


<strong>Die</strong>se Liebe <strong>ist</strong> unfruchtbar geblieben. <strong>Die</strong> Tränen glichen einem Regen in der<br />

Salzwüste. Kein grünes Pflänzchen <strong>ist</strong> in dieser Wüste gewachsen, alle Opfer an<br />

Menschen, Material und Zeit sind vergeudet worden.<br />

Wer <strong>ist</strong> daran Schuld? Der Gelehrte, der seiner Verantwortung gegenüber der<br />

Volksmasse nicht nachkommt. Er hätte das Volk aufklären, ihm Erkenntnisse<br />

vermitteln und Denkrichtungen näher bringen müssen. Statt dessen überließ er<br />

das Volk und die Religion ihrem Schicksal.<br />

So <strong>ist</strong> es einer Nation voller Überzeugung und Liebe ergangen, die zwar den<br />

Koran und Nadj al-Balagha (Sammlung der Aussprüche, Predigten und Briefe<br />

Imam Alis)vorweisen kann, Ali, <strong>Fatima</strong>, Hussein und Zeinab hervorgebracht<br />

hat, die eine rote Geschichte, aber auch ein schwarzes Schicksal hat. Sie besitzt<br />

zwar die Kultur und Religion des Märtyrertums, <strong>ist</strong> aber trotzdem tot.<br />

Daher inspiriert Jeanne d`Arc, ein gefühlvolles und träumerisches Mädchen, das<br />

die Vision hatte, die Monarchie retten zu müssen, seit Jahrhunderten die<br />

Intellektuellen und Progressiven Frankreichs zu revolutionären Taten und<br />

Befreiungsbewegungen , während Zeinab, die einen schwereren Auftrag als<br />

Hussein hatte und die Bewegung von Karbala (21) gegen Verbrechen, Lüge,<br />

Terror und Unterdrückung fortführen musste- gerade in einer Zeit, als die<br />

Helden der Revolution und Vorkämpfer des Islam schon gestorben waren- bei<br />

uns zu einer „weinenden Schwester wird, die wiederum selbst beweint werden<br />

müsste“.<br />

Ich höre eine zornige und tadeldene Stimme, die sich an die Gelehrten wendet,<br />

die verantwortlich für den Glauben des Volkes sind und ihren Auftrag vom<br />

Islam des Mohammad und der Schia erhalten hatte. Es <strong>ist</strong> die tadelnde Stimme<br />

Alis; sie mag auch aus dem Bewusstsein des Volkes kommen. Sie fragt:<br />

„Womit beschäftigt ihr euch? Wovon redet ihr eigentlich, warum seit ihr<br />

stumm? Warum habt ihr in all den Jahren kein einziges Buch geschrieben, um<br />

dem Volk zu erklären, was im Koran steht? Warum habt ihr, statt meine Worte<br />

zu verkünden, so viele Lobpreisungen, Gedichte, Klagen und Liebeslieder<br />

geschrieben? Warum kennt ein Mensch, der die persische Sprache spricht,<br />

meine Worte nicht?“<br />

Alle Gedichte Lamartines sind ins Persische übertragen worden. All die<br />

Liebeslieder des Griechen Bilitis, über deren Moral man zweierlei Meinung sein<br />

kann, sind in schönsten Worten übertragen worden, nicht aber Alis Worte und<br />

Predigten.<br />

Wo kann man nur eine kleine und richtige Abhandlung über den Lebenslauf der<br />

<strong>Imame</strong>, deren Wundertaten so hervorgehoben und deren Geburts- und Todestage<br />

von Euch so oft gefeiert werden, finden; wo ein kleines Büchlein, das der Schia


des Ali zeigen kann, wer Ali und <strong>Fatima</strong> waren, wie ihre Kinder lebten, wie sie<br />

dachten und was sie zustande brachten?<br />

Unsere Bevölkerung, die den schiitischen <strong>Imame</strong>n ihr Leben lang Liebe<br />

entgegenbracht, ihr Unglück beweint, keine Mühe zur Erhaltung ihres Ruhmes<br />

gescheut und große Entbehrungen auf sich genommen hat, kennt ihre <strong>Imame</strong> nur<br />

der Reihenfolge nach, statt sie nach ihren Gedanken, Sprüchen, Taten und<br />

Lebensauffassungen zu kennen und zu erfahren, warum sie dies Martyrium auf<br />

sich genommen haben, um für ihr eigenes Leben Schlüsse daraus zu ziehen.<br />

Wer <strong>ist</strong> Schuld, wenn die Männer, die sogar bereit sind, sich am Todestag von<br />

Hussein zum Zeichen der Liebe und Trauer mit einem Schwert den Kopf zu<br />

verwunden, ihn und die Ereignisse Karbala falsch verstehen? Wer <strong>ist</strong> Schuld,<br />

wenn die Frauen, die das Schicksal <strong>Fatima</strong>s und Zeinabs traurigen Herzens<br />

beweinen und ihr Leben für sie geben würden, sie nicht kennen. Keinen einzigen<br />

Satz ihrer Sprüche beherrschen und keine Zeile ihres Lebenslaufes gelesen<br />

haben?<br />

Von <strong>Fatima</strong> wissen sie lediglich, das sie in ihrem Haus gegen die Tür<br />

geschleudert wurde- von Zeinab kennen sie nur die Geschichte, wie sie im<br />

Kampf von Karbala von einem Zelt zum anderen ging und die Märtyrer<br />

betreute; hiervon kennen sie auch nur die Ereignisse bis zum Mittag des letzten<br />

Kampftages. Ihre Kenntnisse über Zeinab hören dort auf, wo ihr wahrer<br />

Auftrag, die Fortführung des Kampfes des Hussein, beginnt.<br />

Wenn schon intellektuelle und gebildete Frauen und Männer nicht wissen, wozu<br />

eine Religion des Weinens, des Klagens und des Trauerns gut sein soll, wie<br />

kann ein unterentwickeltes und unfreies Land, dessen Bevölkerung aufgeklärt<br />

werden muss, um sich gegen Unterdrückung und Bevormundung zu erheben,<br />

seine Schwierigkeiten mit Klageliedern über Hussein, <strong>Fatima</strong> und Zeinab<br />

überwinden wollen? Nun, wer <strong>ist</strong> an diesem Zustand schuld?<br />

Wenn die freiheitsliebenden Intellektuellen, die unter der Rückständigkeit ihres<br />

Volkes leiden und sich um seine Aufklärung bemühen, aber selbst die eigene<br />

Gesellschaft und Geschichte nicht kennen, unsere Religion nicht in Medina, im<br />

Hause <strong>Fatima</strong>s und an den Schauplätzen des Märtyrertums, sondern in Esfahan,<br />

Teheran, Maschad, Ghom und anderen Schauplätzen der schiitischen<br />

Passionsfeiern suchen, sind sie selber schuld.<br />

Sie sollten statt dessen laut fragen, was diese Religion der alten Sorgen und<br />

Leiden, die Religion der geschichtlichen Feindseeligkeiten und die Religion der<br />

Liebe und des Hasses, die zweckentfremdet wird, den ungebildeten und<br />

entrechteten Frauen, die befreit und aufgeklärt werden sollen, heute noch


einbringt, außer das ihre Gefühle über vergangene Ereignisse in fremden<br />

Ländern in falsche Bahnen gelenkt werden.<br />

Sie werden mit diesen Gedanken beschäftigt, damit sie sich ihrer eigenen<br />

Unterdrückung nicht bewusst werden. Sie sollen sich über eine Unterdrückung,<br />

die der Kalif eines fremden Landes in der Vergangenheit auf das Volk ausübte,<br />

erzürnen und mit einem Schwert den eigenen Kopf verwunden, um ihr Gewissen<br />

zu reinigen, damit ihnen ihre Sünden vergeben werden. Sie sollen sich damit der<br />

Last ihrer Verantwortung entledigen, die Gerechtigkeit Gottes verfälschen, um<br />

die Bilanz ihrer Taten für das Jüngste Gericht zu „frisieren“.<br />

Es bedarf also diesen kleinen Eingriffes, um ein anderer Mensch zu sein, rein<br />

und unschuldig wie ein neugeborenes Kind, auch wenn man bis dahin ein<br />

unwürdiges Dasein geführt hat.<br />

Man wäre sogar berechtigt, Ansprüche zu stellen. Daher haben diejenigen, die<br />

die Verantwortung für die Förderung des Guten und die Bekämpfung des Bösen<br />

sowie den Heiligen Kampf, das Märtyrertum, die Wohltätigkeit, Aufopferung,<br />

Gerechtigkeit, Aufklärung, Entwicklung, Einigkeit und Tat durch Weinen,<br />

Wehklagen, Trauern, Verheimlichung der religiösen Gesinnung, unberechtigte<br />

Fürsprache, falsche Gefühle, Beschimpfung, Fluch. Lobpreisung und Heuchelei<br />

ersetzt haben, deren Anführer nur um den Preis der Erniedrigung ihrer Anhänger<br />

bereit sind, sie – und das auch nur im Jenseits- zu unterstützen, unser Volk zum<br />

Untergang, Aberglauben, zu Schwächen und Unterwürfigkeit verurteilt.<br />

Sie haben das Volk dazu erzogen, sich zu unterwerfen, sie haben es seiner<br />

Tatkraft beraubt und ihm jede Hoffnung auf Widerstand genommen.<br />

Wer <strong>ist</strong> daran Schuld, wenn die Masse unseres Volkes noch heute glaubt, das<br />

allein der Glaube an Ali und seinen Führungsauftrag ohne die Erkenntnis seiner<br />

tiefen Bedeutung Wunder bewirken und Gott nach dem Gebot des Koran<br />

„ihre schlechten Taten gegen gute eintauschen werde“ (Koran 25/70) ?<br />

Mit anderen Worten, der Verrat, den ihr im <strong>Die</strong>sseits begeht, soll im Jenseits als<br />

<strong>Die</strong>nst anerkannt werden, d.h. jede hier begangene Sünde soll dort belohnt<br />

werden.<br />

Wer <strong>ist</strong> daran schuld, das der Führungsauftrag Alis, der jahrhundertlang dazu<br />

diente, die Freiheitsbewegung und den Kampf gegen Unterdrückung und<br />

Despotie zu begründen, die Völker aufzuklären, sie für die Unabhängigkeit und<br />

Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft zu motivieren und die<br />

revolutionäre, engagierte und selbstbewusste Führung der Gesellschaft zu<br />

garantieren, heute nur darauf beschränkt worden <strong>ist</strong>, nach dem Tode im Jenseits<br />

etwas zu erreichen?


Wer <strong>ist</strong> daran schuld, das das Bündnis unserer Väter mit diesem Haus keinen<br />

Einfluss auf ihre Lebens- und Denkweise, auf ihre Zeit und Gesellschaft hatte<br />

und daraufhin unsere Generation mit dieser Religion und dem Hause Alis<br />

gebrochen hat?<br />

Unsere Gesellschaft, eine islamisch- religiöse Gesellschaft, glaubt an das Haus<br />

des Propheten, den Führungsauftrag Alis und die Führungsbefugnis seiner<br />

Nachfolger, <strong>ist</strong> aber trotzdem zivilisatorisch, kulturell, materiell und ge<strong>ist</strong>ig<br />

rückständiger als viele andere Gesellschaften, gleichgültig, ob diese religiös<br />

oder material<strong>ist</strong>isch, islamisch oder nicht- islamisch sind, und das, obwohl sie<br />

ebenfalls gegen Kolonialismus, Despotismus und Verfallerscheinungen in der<br />

Gesellschaft nicht minder hart zu kämpfen hatten als wir.<br />

Sie haben ihre Schwierigkeiten bewusster, besser und fortschrittlicher geme<strong>ist</strong>ert<br />

als wir und stehen uns im Hinblick auf Gerechtigkeit, soziale Führung,<br />

allgemeine Moral, ge<strong>ist</strong>igen Fortschritt, Wahrheitsliebe, Wissenschaft,<br />

Rechtsordnung, Reinheit der Gedanken und individuelle und gesellschaftliche<br />

Vorrausetzungen für ein besseres materielles und ge<strong>ist</strong>iges Leben in keiner<br />

Weise nach, obwohl sie die Liebe zu Ali, die Trauer um Hussein und die<br />

Erwartung des verheißenen Rechtgeleiteten, die dschafaridische Rechtsschule<br />

(22), die Verheimlichung der religiösen Gesinnung, religiöse Nachahmung und<br />

dergleichen nicht kannten.<br />

Wer <strong>ist</strong> an diesem Zustand schuld?<br />

Das Haus Alis, die Intellektuellen oder das Volk?<br />

Hat das Haus Alis tatsächlich seine Wirkung verloren?<br />

Urteilen die junge Generation und die Intellektuellen falsch?<br />

Wurde die religiöse Masse ihrer Aufgabe nicht gerecht?<br />

Ali <strong>ist</strong> die personifizierte Wahrheit und das Symbol einer der fortschrittlichsten<br />

Denkschulen. Er <strong>ist</strong> eine sagenhafte Tatsache, ein Idealbild des Menschen.<br />

Seine Frau <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> eine hervorragende Gestalt, nachahmenswert und<br />

unerreichbar. <strong>Die</strong> Geschw<strong>ist</strong>er Hussein und Zeinab haben mit ihrer großen<br />

Revolution in der Geschichte die Freiheit erst ersterbenswert, Despotismus und<br />

Volksverdummung aber verdammenswert gemacht.<br />

<strong>Die</strong>ses Haus <strong>ist</strong> eine Kaaba (23), wo die Kinder und Erben Abrahams wohnen.<br />

<strong>Die</strong> Kaaba in Mekka <strong>ist</strong> ein Sinnbild, das Haus des Propheten <strong>ist</strong> eine Tatsache.<br />

Das Haus <strong>ist</strong> aus Stein gebaut, während mit jener die Menschen gemeint sind;<br />

das Haus <strong>ist</strong> ein Prozessionsrot für die Moslems, während jene ein Wallfahrtsort<br />

für alle Herzen <strong>ist</strong>, die die Schönheit lieben, die Erhabenheit des Menschen<br />

schätzen und sich für Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe, Aufrichtigkeit,


Frömmigkeit, den heiligen Kampf für die Befreiung der Menschen und den<br />

Märtyrertod zur Erhaltung des Lebens einsetzen.<br />

Andererseits hat unser treues, die Tugenden schätzendes Volk in den Wellen der<br />

Geschichte aus vielen Palästen und Kaisern, die von Geschichtsschreibern in<br />

höchsten Tönen beschrieben wurden und im Mittelpunkt der Kultur,<br />

Zivilisation, Religion, Wissenschaft, Kunst, und Literatur standen, dieses<br />

verratene und der Ungerechtigkeit preisgegebene Haus ausgewählt und ihm<br />

ewige Treue gelobt.<br />

Es bestimmt die Überzeugung, Ideale, Gedanken und Gefühle unseres Volkes,<br />

dessen Herz noch immer für dieses Haus schlägt und dessen Sprache voller<br />

Lobpreisungen <strong>ist</strong>. Es <strong>ist</strong> bereit, alles für diese Ideale zu opfern.<br />

Wenn sie sich nur diese arme und hungernde Bevölkerung ansehen, werden Sie<br />

verstehen, welch großes Opfer sie bringen muss, um ihren Gefühlen und ihre<br />

Überzeugung den Mitgliedern dieses geliebten Hauses gegenüber Ausdruck zu<br />

verleihen.<br />

Als Beweis des Glaubens und der Aufrichtigkeit <strong>ist</strong> manchmal eine fromme<br />

Gabe überzeugender als ge<strong>ist</strong>ige Hingabe. Überlegen Sie sich, welche Ausmaße<br />

die Spenden annehmen. In einer Zeit, wo die Religion durch Materialismus<br />

verdrängt wird und wirtschaftliches Vorwärtskommen die größte<br />

Anziehungskraft hat, in einer Zeit, wo die Kluft zwischen Arm und Reich immer<br />

größer wird und die arme Bevölkerungsschicht ums überleben kämpft,<br />

beobachten wir, das an den für dieses Haus veranstalteten Gedenktagen Feiern<br />

stattfinden, an denen Millionen teilnehmen, wovon 150 000 Ayatollahs,<br />

Vorbeter, Prediger und 700 000 Seyyeds, Lobpreiser, Trauerredner und<br />

dergleichen ihren Lebensunterhalt bestreiten.<br />

<strong>Die</strong> Beträge, die für die Veranstaltung von Passions- und Trauerfeiern, für die<br />

Beköstigungen und zur Zahlung der Vermögenssteuer, Anteile des Imam,<br />

Spenden und zu anderen Wohltätigkeitszwecken ausgegeben werden, sind kaum<br />

zu schätzen. Nun müssen wir bedenken, das es sich hierbei um ein<br />

unterentwickeltes Land handelt; das Pro-Kopf-Einkommen <strong>ist</strong> unbedeutend,<br />

besonders wenn man in Betracht zieht, das die Klassenunterschiede in dieser<br />

islamischen Gesellschaft so groß sind, das sich die Hälfte des<br />

Nationalvermögens im Besitz einiger Tausend Menschen befindet- über zwei<br />

Drittel der gesamten Vermögenswerte verfügt nur ein Zehntel der Bevölkerung.<br />

<strong>Die</strong> Großgrundbesitzer und Geschäftsleute des Basar haben einem neuen Typ<br />

des Kapital<strong>ist</strong>en Platz machen müssen; eine neue Gruppe von Industriellen,<br />

moderner Bourgeoisie, Händler der europäischen Waren und Konsumförderer<br />

haben das Geschäft übernommen. Das Kapital <strong>ist</strong> aus den Lagern der Dörfer,<br />

den Geschäftshäusern der Basare, den Läden der Geldwechsler und Werkstätten


des traditionellen Hanfwerks in die Banken, Börsen, Gesellschaften,<br />

Vertretungen, Unternehmungen und Fabriken geflossen.<br />

<strong>Die</strong> neue Klasse <strong>ist</strong> modern<strong>ist</strong>isch, europäisiert und areligiös. Und selbst wenn<br />

einige von ihnen noch religiöse Erinnerungen und Neigungen haben sollten, so<br />

bringen sie sie sehr vornehm, formell, zeitgemäß und westlich zum Ausdruck.<br />

Nach den Worten von Sayyed Ghotb <strong>ist</strong> ihr Islam sogar eine Art<br />

„amerikanischer Islam“, eine Religion, die keine Verantwortung verlangt und<br />

weder Geld noch Mühe kostet. Sie wird aufgefasst als eine Art intellektuelle<br />

Beschäftigung, die ihnen nicht viel abverlangt.<br />

Ihre Töchter und Söhne haben mehrere Jahre in den Seebädern und Tanzcafes<br />

Europas und Amerikas Erfahrungen gesammelt; sie selbst fahren ein- oder<br />

zweimal im Jahr mit vollen Portemonnaies dorthin, um ihr Geld in Kaufhäuser<br />

und Varietes auszugeben und in die Taschen der Kapital<strong>ist</strong>en, Betrüger und<br />

Bauernfänger zu füllen, die doch nur auf solche Neureichen lauern, die glauben,<br />

mit Geld ihre Mängel, Schwächen, Rückständigkeit und Komplexe loswerden<br />

zu können. Sie kehren mit leeren Taschen , aber stolzem Blick in die Arme der<br />

lieben Landsleute zurück, um für das nächste „süße Leben“ die hiesigen Kühe<br />

wieder zu melken.<br />

Das alles tun sie ganz natürlich, ohne Bedenken, mit Stolz und einer Arroganz,<br />

als ob sie der Bevölkerung damit einen großen Gefallen erweisen. Sie halten<br />

ihre Handlungsweise für Fortschrittlichkeit, moderne Lebensweise und<br />

Vertrautheit mit der Zivilisation.<br />

Gleichzeitig treten Mekka- und Karbala-Pilger, die gewöhnlich Bauern,<br />

Handwerker und einfache Geschäftsleute sind, einmal in ihrem Leben eine Reise<br />

an, die ihnen Ruhe, Abwechslung, Tour<strong>ist</strong>ik und Auslandserfahrung bietet,<br />

wobei sie die geschichtlichen Stätten ihres Glaubens und ihrer Kultur besuchen,<br />

die eigene alte Tradition kennenlernen, moralische Stärkung erfahren und ihre<br />

religiöse Pflicht erfüllen können.<br />

Sie haben nur 5000 Toman zur Verfügung, von denen sie allein 3000 für die<br />

Flugreise und den Pass hinblättern müssen. Für weitere 1000 Toman kaufen sie<br />

Geschenke und bringen sie nach Hause. Der Rest <strong>ist</strong> für eine bescheidene<br />

Unterkunft in einem Gasthaus oder in einem Zelt, für Busfahrten und einige<br />

Mahlzeiten bestimmt.<br />

Das ganze kostet nicht soviel wie eine Flasche Champagner, die die<br />

Herrschaften im „Lido“ trinken, oder ein Kaviarfrühstück, das sie im Hotel<br />

„Georges V“ zu sich nehmen. Sobald aber die aufgeklärten Augen der<br />

Neureichen und der modern<strong>ist</strong>ischen Intellektuellen diesen nicht klagenden


Basari oder Bauern erblicken, propagieren sie in solchem Maße menschliche<br />

Gefühle, Klassenbewusstsein, Patriotismus, Engagement, soziale Solidarität,<br />

Nationalstolz, Bildung über Nationalökonomie und Kapitalflucht,<br />

fortschrittliche Gedanken und intellektuelles Handeln, das nicht einmal ein Che<br />

Guevara es mit ihnen aufnehmen kann.<br />

Eine Analyse der heutigen Situation zeigt, das die beiden traditionellen Klassen,<br />

die der Religion weiterhin treu geblieben sind, entweder dem wirtschaftlichen<br />

Niedergang ausgesetzt sind oder ihre Position weitgehend geschwächt wird. Das<br />

sie trotzdem die schwere finanzielle Last der religiösen Verpflichtungen tragen<br />

und die traditionellen Veranstaltungen, religiösen Institutionen und die<br />

islamischen Lehranstalten fördert, <strong>ist</strong> ein Beweis dafür, das die ge<strong>ist</strong>ige<br />

Verbundenheit unseres Volkes mit diesem Haus sehr tief verwurzelt und sein<br />

Glaube daran sehr stark und unerschütterlich <strong>ist</strong>.<br />

Spätestens an diesem Punkt müssten wir uns eine schmerzliche Frage stellen.<br />

Wenn wir die Entwicklung bis jetzt genauestens überprüft haben, müssten wir<br />

uns darüber Gedanken machen:<br />

Einerseits glauben wir an den Islam, an die letzte und vollständigste<br />

Religionsschule der Geschichte. Mohammad, der Koran, die Gefährten des<br />

Propheten und die Geschichte des Islam haben uns leben gelehrt, uns eine große<br />

Zivilisation, Gesetzt, Kultur und Macht gebracht, sie haben uns die Einheit<br />

Gottes, die Einheit der Gesellschaft und die Einheit der Menschheit gelehrt, sie<br />

haben uns angewiesen, uns für Gerechtigkeit einzusetzen und eine Gemeinschaft<br />

zu schaffen, in der jeder einzelne ein Märtyrer des Volkes <strong>ist</strong>.<br />

Anderseits glauben wir an die Schia, an die Denkschule der <strong>Imame</strong> und der<br />

Gerechtigkeit. Wir glauben an Ali, seine Nachkommen, an die Geschichte ihres<br />

Kampfes für Freiheit und Gerechtigkeit, an ihren unerschütterlichen Widerstand<br />

gegen Unterdrückung, Diskriminierung, Versklavung und Unterwerfung, wir<br />

lehnen jede Verletzung des Rechtes, Verschleierung der Wahrheit, politische<br />

Versklavung, wirtschaftliche Ausbeutung und die Despotie der Ge<strong>ist</strong>lichkeit ab.<br />

Wir glauben an die Führung des Gerechten, an Gelehrsamkeit, Tatkraft,<br />

Märtyrertum und die innere Bereitschaft und erwarten den Aufstand der Massen<br />

für Gerechtigkeit und Gleichheit nach der Wiederkehr des rechtgeleiteten Imam.<br />

Was unser Volk betrifft, so erwe<strong>ist</strong> es diesem Hause eine liebevolle Ergebenheit,<br />

wie sie von keiner religiösen und weltanschaulichen Überzeugung verlangt wird.<br />

<strong>Die</strong> bloße Erwähnung der Namen der Angehörigen dieses Hauses beseelt das<br />

Volk, und die Erinnerung an ihr Martyrium bringt sein Blut in Wallung. Erfüllt<br />

von dem Schmerz und Sehnsucht am Jahrestag des blutigen Geschehens und<br />

verwundet sich zum Zeichen seiner Trauer mit dem Schwert. Jedes Jahr gedenkt<br />

es der Schicksale der Familie des Propheten , teilt ihre Trauer und pre<strong>ist</strong> ihre


Würde und Tugenden; ein Volk voller Liebe und Trauer, opferbereit, ungeduldig<br />

und aufgewühlt durch eine unendliche Zuneigung.<br />

Da gibt es noch die Intellektuellen und die erwachte Generation, welche die<br />

Welt und die eigene Gesellschaft kennen, die Erfordernisse ihrer Zeit verstehen,<br />

an Freiheit, Gleichheit und Aufklärung der Massen denken und eine Bewegung<br />

zur Erweckung des Selbst- und Verantwortungsbewusstseins des Volkes in<br />

Gang setzen möchten.<br />

Unsere heutigen Intellektuellen sind nicht mehr wie die früheren verwestlicht<br />

und dem Volk entfremdet.<br />

Sie sind heute nicht mehr stolz darauf, das sie die persische Sprache<br />

vollkommen vergessen haben oder sie – wenn überhaupt – mit einem<br />

europäischen Akzent sprechen. Das <strong>ist</strong> nicht die Generation Mirza Malkom<br />

Khan und Seyyed Hassan Taghizadehs, welche die Saat der Idee säten, das „wir<br />

von Kopf bis Fuß europäisch werden müssten“. <strong>Die</strong> Saat des Verrates ging auf,<br />

wurde mit Blut und Erdöl bewässert und brachte dem Kolonialismus die<br />

gewünschten Früchte ein.<br />

<strong>Die</strong> heutigen Intellektuellen werden nicht mehr von Djamalzadeh, sondern von<br />

Djalal vertreten. Sie verlangen nicht wie Taghizadeh, das das Volk sich<br />

europäischer Kultur unterwirft. Im Gegenteil, sie fordern es auf, sich gegen die<br />

Verwestlichung aufzulehnen, zur islamischen Kultur zurückzukehren und sich<br />

wieder auf die eigene Zivilisation zu besinnen. Unsere heutigen Intellektuellen<br />

haben bewiesen, das sie sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst<br />

sind und danach handeln.<br />

Es fragt sich nun, warum diese Faktoren, von denen jeder einzelne eine Nation<br />

zu großen Taten hätte bewegen können, keinen Einfluss auf unsere Nation<br />

hatten. Warum haben Liebe und Treue zu diesen Gestalten der Menschenwürde<br />

und der Glaube unseres Volkes an ihre Taten nichts genutzt?<br />

Wer <strong>ist</strong> schuld, das die Religion der Erlösung, die Lehre der Gerechtigkeit, der<br />

verantwortungsbewusste Intellektuelle und das überzeugte Volk nicht<br />

weiterkamen? <strong>Die</strong> Antwort heißt mit einem Wort: <strong>Die</strong> Gelehrten.<br />

Denn der Grund, warum unser Glaube an den Islam, an Mohammad, Alis Lehre<br />

und Husseins Taten keine Früchte getragen hat, liegt darin, das wir sie nicht<br />

kennen. Wir lieben sie zwar, verstehen sie aber nicht; eine Liebe ohne<br />

Erkenntnis.<br />

Worin liegt das Geheimnis des Rätsels, das eine lebensbejahende Religion uns<br />

zu keinem neuen Leben erwecken kann?


Es liegt darin, das wir zwar an sie glauben, sie aber nicht kennen.<br />

Wer hätte und die Bedeutung und die Lehre Alis erklären müssen?<br />

Der Gelehrte!<br />

Er hätte und die Bedeutung und die die Lehre Alis erklären müssen. Ein<br />

Gelehrter ohne Verantwortungsbewusstsein, ausgestattet mit bloßem Wissen, <strong>ist</strong><br />

dem Islam fremd. Wissenschaft <strong>ist</strong> nicht nur eine Anhäufung von Bildung und<br />

Fachwissen, sondern eine Erleuchtung im Herzen. Der Ausdruck „göttliche<br />

Erleuchtung“, den der Prophet gebracht, <strong>ist</strong> kein geheimnisvoller<br />

metaphysischer Begriff. Es handelt sich nicht um Allwissenheit und um<br />

sogenannte verborgene und mystische Wissenschaften. Es geht nicht um Physik,<br />

Chemie, Geschichte, Geographie, Rechtsphilosophie und Logik; das sind<br />

wissenschaftliche Kenntnisse, aber keine Erleuchtung. <strong>Die</strong> Wissenschaft, die<br />

Erleuchtung bringt, <strong>ist</strong> eine engagierte Wissenschaft, eine führende<br />

Wissenschaft, eine Ideologie, die in der Sprache des Koran „figh“ genannt wird<br />

und heute als islamisches Recht bekannt <strong>ist</strong>.<br />

Aber der Gelehrte, dessen wir bedürfen, arbeitet nicht in der Dunkelheit. Er<br />

erhellt die Hintergründe und we<strong>ist</strong> den rechten Weg. Er <strong>ist</strong> kein Professor der<br />

Studenten und kein Lehrme<strong>ist</strong>er der Auserwählten; er <strong>ist</strong> ein Lehrer des Volkes.<br />

Seine Wissenschaft <strong>ist</strong> nicht die Wissenschaft der platonischen Akademie, sie <strong>ist</strong><br />

der Auftrag des Propheten. Das sind die Gelehrten, die „Erben des Propheten“<br />

genannt worden sind.<br />

<strong>Die</strong> Verantwortung eines schiitischen Gelehrten <strong>ist</strong> größer und definitiver. Er <strong>ist</strong><br />

Stellvertreter des Imam. Mit seiner Wissenschaft hat er die Verantwortung des<br />

Imamat (Führungsauftrages) und mit dem Imamat die Verantwortung der<br />

Botschaft des Propheten übernommen.<br />

Der schiitische Gelehrte, der die Vertretung des Imam übernommen hat, in<br />

dieser Eigenschaft die für den Imam bestimmten Zuwendungen erhält und den<br />

Auftrag hat, die Botschaft des Propheten zu verkünden und die Führung im<br />

Auftrag Alis zu übernehmen, hat natürlich auch die Pflicht, dem Volk zumindest<br />

zu erklären, was ein Imam <strong>ist</strong>, wer die <strong>Imame</strong> waren, wie sie dachten, wie sie<br />

lebten, welche Rolle sie in der Geschichte spielten, welche Denkrichtung sie<br />

vertraten, mit welchen Gedanken, Systemen und Regimen sie konfrontiert<br />

waren, was sie von uns wollten und was wir zur Verwirklichung ihrer Ideen zu<br />

tun haben.<br />

Wenn dieser Tatsache zum Trotz in der Sprache des Volkes mehr Bücher über<br />

europäische Schauspieler geschrieben werden als über die schiitischen <strong>Imame</strong>,<br />

dann sind die Gelehrten daran schuld. Wenn der schiitische Gebildete heute


mehr Bücher in schönster Dichtung über die Liebesaffären einer griechischen<br />

Lebedame der Antike vorfinden kann als über Alis Nahj al-Balagha, dann sind<br />

die Gelehrten schuld.<br />

Wenn unser Volk nur einige Namen seiner religiösen Führer kennt und sie nur<br />

mit Wundertaten und Lobpreisungen in Verbindung bringen kann, wenn es von<br />

ihrem Leben nur die Geburts -und Todestage kennt, dann sind die Gelehrten<br />

daran schuld.<br />

Ali <strong>ist</strong> der Befreier, sein Volk <strong>ist</strong> ihm treu ergeben. <strong>Die</strong>ses Volk <strong>ist</strong> jedoch<br />

rückständig und schwach; der intellektuelle kennt diese Schwäche und die<br />

Verfallerscheinungen der Gemeinde Alis. Der wahre Grund für diesen<br />

Widerspruch liegt in der Unkenntnis. Glaube und Liebe ohne Erkenntnis sind<br />

wert- und wirkungslos.<br />

Ein Koran, der weder gelesen noch verstanden wird, <strong>ist</strong> ein Buch wie jedes<br />

andere, ein unbeschriebenes Blatt. Daher gibt man sich so viel Mühe, uns davon<br />

abzuhalten, ihn zu lesen, zu verstehen und darüber nachzudenken. Wir würden<br />

ihn nicht verstehen, weil er so kompliziert sei, die rationale Interpretation des<br />

Koran sei verboten. Um diesen Gedanken vorzubeugen, wird im Koran<br />

ausdrücklich betont:<br />

„Macht Ihr Euch denn keine Gedanken über den Koran?“<br />

Als Antwort auf feindlich gesinnte Fürsprecher, die ihn als schwer verständlich<br />

hinstellen, um das Volk doch den Koran zu entfremden, wird entgegnet:<br />

„Und wir haben doch den Koran leicht verständlich gemacht zur Mahnung. Aber<br />

gibt es überhaupt jemanden, der sich mahnen lässt?“ (Koran 54/17,22,32 und<br />

40)<br />

Ali kann seinen Anhängern nur dann Einsicht, Größe , Würde und Freiheit<br />

vermitteln, wenn sie ihn kennen.<br />

Was nützen Zuneigung und Lobpreisung, wenn in unserer Sprache kein<br />

lesenswertes Buch ex<strong>ist</strong>iert, das seine Persönlichkeit beleuchtet; wenn seine<br />

Sprüche dem Volk von keiner ordentlichen Kanzlei aus erklärt werden?<br />

Liebe und Glaube können dann eine positive Ge<strong>ist</strong>eshaltung und Bewegung<br />

bewirken und konstruktiv sein, wenn sie auf Erkenntnis beruhen.<br />

Was <strong>Fatima</strong> betrifft, so <strong>ist</strong> ihre Gestalt hinter den ständigen Lobpreisungen und<br />

Wehklagen ihrer Anhänger verborgen geblieben.


Drei Frauentypen<br />

In der islamischen Gesellschaft und Kultur gibt es drei Frauentypen: Den Typ<br />

der traditionellen und frömmelnden Frau, den Typ der modern<strong>ist</strong>ischen und<br />

Europhylen Frau, deren Zahl in letzter Zeit zugenommen hat und schließlich den<br />

Typ der Frau, die dem Vorbild <strong>Fatima</strong>s nacheifert.<br />

<strong>Die</strong>ser letzte Typ hat weder Ähnlichkeit noch Gemeinsamkeiten mit dem<br />

sogenannten traditionellen Frauentyp, wie er in der Vorstellung unserer<br />

Gesellschaft von einer religiösen Frau ex<strong>ist</strong>iert. <strong>Die</strong>ser Typ <strong>ist</strong> mit dem Vorbild<br />

<strong>Fatima</strong>s ebenso unvereinbar wie der Typ der modernen Frau.<br />

Im Orient, besonders in der islamischen und iranischen Gesellschaft, sind wir<br />

mit einem Antagonismus konfrontiert. Im individuellen und sozialen Verhalten<br />

sowie in der Denkweise der Menschen gibt es eine krisenhafte Veränderung und<br />

einen verwirrenden Zusammenbruch der Werte, die dazu geführt haben, das ein<br />

besonderer Typ von intellektuellen, gebildeten Frauen und Männer und<br />

Modern<strong>ist</strong>en entstanden <strong>ist</strong>, der einen Gegensatz zu dem traditionellen Typ der<br />

Frauen und Männer bildet.<br />

<strong>Die</strong> Entstehung dieses Gegensatzes war unvermeintlich und keiner hätte sie<br />

verhindern können. Damit soll diese Veränderung weder bejaht noch verneint<br />

werden. Nicht hierin <strong>ist</strong> das Problem zu sehen. Es geht viel mehr darum, das das<br />

Leben einer Frau von den Veränderungen der Gesellschaftsstruktur und der<br />

Denk- und Lebensweise des Mannes nicht unberührt bleibt. Sie kann sich nicht<br />

ewig in ein überholtes Schema fügen.<br />

In früheren Generationen war der Sohn häuslich, nach dem Muster des Vaters<br />

geschnitten; der Vater brauchte sich keine Sorgen zu machen, das der Sohn eine<br />

besondere neue und unbekannte Form annehmen würde, so das zwischen Vater<br />

und Sohn keine Gemeinsamkeiten vorhanden wären und keine Verständigung<br />

möglich wäre. Es wäre unvorstellbar gewesen, das sie nicht mehr die gleichen<br />

Gefühle besäßen und nicht eine Minute ohne Kritik, Argwohn und Streit<br />

miteinander verbringen könnten.<br />

Heute <strong>ist</strong> das anders, es <strong>ist</strong> ein sowohl im Osten als auch im Westen<br />

wahrzunehmendes Charakter<strong>ist</strong>ikum unseres Jahrhunderts, das zwischen zwei<br />

Generationen ein Abgrund entstanden <strong>ist</strong>, ein zeitlicher Abstand, der nach dem<br />

Kalender dreißig Jahre, nach dem sozialen Verhalten jedoch dreißig<br />

Jahrhunderte ausmacht.<br />

Gestern war die Gesellschaft beinahe statisch, die gesellschaftlichen Werte und<br />

Verhaltensmuster unveränderlich. Im Laufe von ein-zwei oder dreihundert


Jahren veränderte sich nicht viel. Gesellschaftlicher Unterbau,<br />

Produktionsverhältnisse, Konsumverhalten; Gesellschaftsverhältnisse,<br />

Herrschaftssysteme, religiöse Verhalten, Sitten und Gebräuche, positive und<br />

negative Werte, Kunst, Literatur, Sprache und dergleichen waren zu Lebzeiten<br />

unserer Väter und Großväter dieselben wie zu Lebzeichen ihrer Kinder und<br />

Enkelkinder.<br />

Bekannt und fremd<br />

In solch einer statischen Gesellschaft, in der die Zeit stehen geblieben war, war<br />

die Tochter natürlich das Ebenbild der Mutter. Meinungsverschiedenheiten<br />

zwischen Mutter und Tochter- wenn sie überhaupt vorkamen- waren<br />

nebensächlich und eher zufällig, oder sie bestrafen die individuellen<br />

Abweichungen und Verirrungen, die von allen Gruppen der Gesellschaft<br />

übereinstimmend als solche anerkannt werden; eine Verhaltensweise wurde<br />

indes niemals- wie es heute der Fall <strong>ist</strong>- von einer Gruppe als sittenwidrig und<br />

von einer anderen als korrekt bezeichnet.<br />

In der heutigen Gesellschaft entfremdet sich die Tochter- auch ohne eigenes<br />

Verschulden- der Mutter. Ein Altersunterschied von zwanzig oder dreißig Jahren<br />

macht Mutter und Tochter zu Menschen, die zwei verschiedenen Gesellschaften,<br />

geschichtlichen, kulturellen, sprachlichen und weltanschaulichen Epochen<br />

angehören. Ihre Bindungen bestehen nur auf der Geburtsurkunde: die einzige<br />

Gemeinsamkeit ihres Lebens <strong>ist</strong> die gemeinsame Adresse.<br />

<strong>Die</strong>sen Antagonismus und geschichtlichen Abstand zweier Generationen und<br />

zweier Menschentypen erleben wir ebenfalls im sozialen Leben: Eine<br />

Schafherde verirrt sich z.B. auf die asphaltierten Straßen von Teheran; vor den<br />

Augen der Bevölkerung melkt der Hirte die Schafe, um dem Milchbedarf der<br />

Hauptstadt nachzukommen. Gleichzeitig gibt es aber auch pasteurisierte<br />

Milchprodukte. Ebenso kann man hier ein Kamel neben einem Sportwagen der<br />

Marke Jaguar bewundern- ein Unterschied von Adams Zeiten bis zum<br />

elektronischen Zeitalter. Auf diesen Strassen bewegen sich Schulter an Schulter<br />

Mütter und Töchter, die in Wirklichkeit auch Jahrhunderte voneinander trennen.<br />

Religion und Tradition<br />

<strong>Die</strong> Einheit dieser Gegensätze <strong>ist</strong> keine natürliche und bleibende Einheit. Es <strong>ist</strong><br />

offensichtlich, das von diesen beiden Typen der eine (Mutter) dem Untergang<br />

geweiht <strong>ist</strong> und sich gerade noch mit der Kraft und nach alter Gewohnheit am<br />

Leben hält. Der andere (die Tochter) beginnt gerade die ersten Tage des Lebens.


Sicherlich wird jene in der nächsten Generation schon der Vergangenheit<br />

angehören und diese selbst Mutter sein, ohne in die alte Lebensweise der<br />

vergangenen Generationen zurückzufallen zu müssen. In der nächsten<br />

Generation werden Mutter und Tochter wieder einheitlich. Der speziale und<br />

zeitliche Vorsprung wird ausgeglichen wie zu Zeiten der Mutter und<br />

Großmutter. <strong>Die</strong> Tochter <strong>ist</strong> wieder das Kind der Familie, eine Kopie, die mit<br />

dem Original übereinstimmt. <strong>Die</strong>ser Entwicklungsprozess <strong>ist</strong> unvermeidlich.<br />

Wer diese Tatsache- ob sie ihm gefällt oder nicht- nicht anerkennt und die<br />

betreffenden Personen beschimpft, verleumdet, beleidigt, verprügelt,<br />

unterdrückt, ins Gefängnis wirft und ein gewaltiges Palaver macht, um die<br />

Entwicklung der Dinge anzuhalten, müht sich umsonst. Damit erreicht er nur<br />

das Gegenteil; denn ein solches Verhalten beschleunigt erfahrungsgemäß den<br />

Lauf der Veränderungen.<br />

<strong>Die</strong>jenigen, die als Führer und Denker und im Namen des Glaubens, der<br />

Überzeugung, Religion und Sittigkeit alte Sitten und Gebräuche nur deswegen<br />

rechtfertigen und heilig sprechen, weil sie der Lebensweise und den Traditionen<br />

der Väter und der früheren Generationen entsprechen, und versuchen, sie zu<br />

konservieren, verwechseln die Religion mit dem Althergebrachten. Daher<br />

bezeichnen sie auch jede Art von Veränderung, sogar in der Kleidung und<br />

Schminke, als Gotteslästerung.<br />

Sie verwechseln den Konservatismus, den Traditionalismus, die Nostalgie, die<br />

Furcht vor Erneuerung und die Abneigung gegen Reformen und<br />

Modernisierung, die die Symptome der Resignation sind, mit dem Islam.<br />

Von der Frau erwarten sie, das sie so bleibt, wie sie <strong>ist</strong>, weil sie schon immer so<br />

gewesen <strong>ist</strong>, weil sie sich daran gewöhnt haben und weil dieser Zustand mit<br />

ihren Interessen übereinstimmen. <strong>Die</strong> Frau soll ewig so bleiben weil der Islam es<br />

so gewollt habe. <strong>Die</strong> Religion habe dieses Verhältnis geschaffen und daran<br />

dürfte bis zum Jüngsten Tag nichts verändert werden. <strong>Die</strong> Welt verändert sich,<br />

alles verändert sich, Vater und Sohn haben sich verändert. <strong>Die</strong> Frau jedoch<br />

müsse in ihrem alten Zustand verharren; der Prophet habe nur dem Frömmler<br />

zuliebe der Frau diese endgültige Lebensform befohlen.<br />

<strong>Die</strong>se Argumentation <strong>ist</strong> irreführend und schädlich. Man kann den<br />

Entwicklungsprozess nicht anhalten; die Frau will und muss sich verändern,<br />

weil die Zeiten anders geworden sind. <strong>Die</strong> Gesellschaft <strong>ist</strong> in der Umwandlung<br />

begriffen, Sitten und Gebräuche nehmen andere Formen an. <strong>Die</strong> unverfälschte<br />

Wahrheit bleibt im Grunde immer bestehen. Nur die Formen der Wahrheit sind<br />

vergänglich.<br />

Wenn wir Unklugerweise darauf bestehen, die Formen beizubehalten, wird die<br />

Bewegung der Zeit uns überrollen und Form und Inhalt gemeinsam zerstören.


Es <strong>ist</strong> also eine sinnlose Argumentation, der die Gesellschaft weder folgen kann<br />

noch wird. Sie setzt die vergänglichen Sitten und Traditionen mit der Religion<br />

gleich und versucht, sie mit ihrer Hilfe zu erhalten. Dadurch haftet der Religion<br />

der Ruf der Abgenutztheit und Vergänglichkeit an, der dazu führt, das sie<br />

ebenso wie die Tradition verloren geht.<br />

Wenn wir die Religion mit der Tradition gleichsetzen, den unvergänglichen<br />

Islam zum Wächter über die vergänglichen Formen des Lebens und der<br />

Gesellschaft machen und die Religion mit den überlieferten völkerischen<br />

Meinungen, kulturellen und geschichtlichen Erscheinungen verwechseln,<br />

brauchen wir uns nicht zu wundern, das die Religion und der Islam von den<br />

Veränderungen der Zeit, die alten Sitten, Gebräuche, Traditionen,<br />

Lebensformen, Gesellschaftsverhältnisse und völkerischen und geschichtlichen<br />

Überlieferungen erfassen, nicht verschont bleiben.<br />

Erleben wir denn diese Fehler nicht oft genug in unserer Zeit?<br />

Sunna des Propheten<br />

<strong>Die</strong> Sunna des Propheten, der im Islam eine große Bedeutung beigemessen wird,<br />

sind Worte und Willensäußerungen des Propheten, die den Inhalt der als Hadis<br />

bezeichneten Überlieferung bilden. Darüber hinaus gibt es Überlieferungen über<br />

die Handlungen, die entweder vom Propheten gutgeheißen oder geduldet<br />

wurden, oder aber von ihm selber vollzogen wurden. Sie bilden den Inhalt der<br />

als Taghir bezeichneten Überlieferungen.<br />

Mit Sunna bezeichnet man also die Aussagen und Handlungen des Propheten.<br />

Daraus <strong>ist</strong> zu folgern, das es im Islam ebenfalls zwei Arten von Geboten gibt:<br />

1. Gebote, die vor dem Islam bestanden und von dem Propheten bestätigt<br />

wurden.<br />

2. Gebote, die vom Islam eingeführt wurden.<br />

Ich meine, neben diesen beiden Grundsätzen, d.h. dem Grundsatz der bestätigten<br />

oder eingeführten Gebote und dem der Aussagen und Handlungen des<br />

Propheten, noch einen dritten Grundsatz erkennen zu können, der meines<br />

Erachtens noch bedeutender <strong>ist</strong> als die beiden anderen, und zwar die<br />

Arbeitsmethode des Propheten, d.h. die Methode, die Taktik und die Strategie,<br />

die er bei der Erfüllung seines Auftrages anwandte.


Besondere Methode des Propheten<br />

Wenn der Prophet mit einer reformbedürftigen sozialen Lebensform konfrontiert<br />

wurde, wandte er eine Methode an, die heute zur Lösung mancher sozialer<br />

Probleme für uns beispielhaft sein kann, auch wenn zwischen den Problemen<br />

seiner Zeit und unseren heutigen Problemen keine Ähnlichkeiten bestehen. Trotz<br />

der besonderen Bedeutung dieses Punktes begnüge ich mich aus Zeitmangel mit<br />

nur einem Beispiel:<br />

In vorislamischer Zeit ex<strong>ist</strong>ierte der Brauch der als Ghosl bezeichneten rituellen<br />

Waschung. Er beruhte auf einem Aberglauben. <strong>Die</strong> vorislamischen Araber<br />

glaubten, das der unreine Mensch von Dämonen und dem Teufel besessen sei,<br />

das sein Körper, sein Blick und seine Seele solange unrein und besessen blieben,<br />

bis er sich ins Wasser begeben habe. Wenn also der vorislamische Araber die<br />

rituelle Waschung vornahm, so geschah dies in der Absicht, den Teufel<br />

auszutreiben.<br />

Drei Verfahrensweisen<br />

Zur Bekämpfung solcher Schwierigkeiten und Reformierung der Gesellschaft<br />

gibt es je nach Weltanschauung und ideologischer Schule drei<br />

Verfahrensweisen:<br />

1. Das traditionelle und konservierende Verfahren (Traditionalismus und<br />

Konservatismus) Der konservative Führer schützt den oben erwähnten<br />

Brauch, auch wenn er auf Aberglauben beruht, weil er eine Tradition sei;<br />

der Konservative und der Traditional<strong>ist</strong> seien aufgerufen, die Tradition zu<br />

schützen, weil sie den Zusammenhalt der Nation gewährle<strong>ist</strong>e.<br />

2. Revolutionäres Verfahren (Revolutionismus) Der revolutionäres<br />

Verfahren bricht abrupt und entschieden mit diesen Bräuchen, weil sie auf<br />

reaktionären und dekadenten Traditionen beruhen.<br />

3. Das reformierende und fortentwickelte Verfahren (Reformismus und<br />

Evelutionismus) Der Reform<strong>ist</strong> versucht, eine Tradition allmählich zu<br />

verändern, indem er schrittweise die gesellschaftlichen Möglichkeiten<br />

dafür schafft, also ein Mittelweg zwischen den beiden anderen Wegen.<br />

Der Prophet wendet jedoch ein anderes Verfahren an. Er lässt die Tradition, die<br />

in der Gesellschaft tiefe Wurzeln geschlagen hat und an die sich die Menschen<br />

seit Generationen gewöhnt haben, weiterbestehen, verbessert die Form und<br />

ändert den Inhalt und den Ge<strong>ist</strong> dieser dem Aberglauben entsprungenen<br />

Tradition auf revolutionäre Weise.


Der Konservative begründet sein Verfahren folgendermaßen: Wenn wir die<br />

Tradition verändern, werden die Gesellschaftsverhältnisse, die durch die<br />

Traditionen erhalten geblieben sind und den Körper der Gesellschaft wie das<br />

Nervensystem funktionsfähig halten, auseinanderbrechen und die Gesellschaft<br />

werde plötzlich von einer gefährlichen Unordnung erfasst. Anarchie oder<br />

Diktatur seien die unvermeidlichen Folgen der Revolution; denn eine<br />

revolutionäre Abschaffung der sozialen und kulturellen Traditionen bringe die<br />

Gesellschaft aus dem Gleichgewicht. <strong>Die</strong> Folgen stellten sich ein, nachdem die<br />

Revolution abgeebbt sei.<br />

Der Revolutionär argumentiert wiederum anders: Wenn wir die alten<br />

Traditionen bestehen lassen, reden wir der Fortschrittsfeindlichkeit und dem<br />

Stillstand das Wort. Daher sei der echte Führer derjenige, der uns von allen<br />

schablonenhaften Denkstrukturen, die auf unserer Denkweise und<br />

Weltanschauung lasten, befreit, unsere Verbindungen mit alten Sitten und<br />

Gebräuchen unterbricht und sie durch neue Regeln ersetzt; sonnst würde er eine<br />

dekadente, reaktionäre und unbewegliche Gesellschaft geduldet haben.<br />

Der Reformator, der die Fehler der revolutionären und der traditional<strong>ist</strong>ischen<br />

Methode vermeiden möchte, geht einen dritten Weg, indem er die Entwicklung<br />

ruhig und schrittweise vorantreibt und sich des öfteren mit der äußerlichen<br />

Verbesserung einer unangenehmen Sache begnügt, statt sie schnell und<br />

unmittelbar zu beseitigen und durch andere zu ersetzen.<br />

<strong>Die</strong>se Methode versucht, die Gesellschaft vom Stillstand und von verkrusteten<br />

traditionellen Strukturen zu befreien. Um jedoch kein Chaos in der Gesellschaft<br />

entstehen zu lassen, versucht sie, die gesellschaftlichen und ge<strong>ist</strong>igen<br />

Vorrausetzungen schrittweise zu schaffen, um das Bestehen zu reformieren und<br />

die Gesellschaft durch Evolution zum Ziel zu führen. Sie vermeidet<br />

grundlegende Umwälzungen und beabsichtigt, langfr<strong>ist</strong>ig mit einem Stufenplan<br />

das Ziel zu erreichen. <strong>Die</strong> schrittweise fortschreitenden Reformen haben jedoch<br />

me<strong>ist</strong>ens den Nachteil, das sie in der langen Zeit ihrer Durchführung den<br />

reaktionären und feindlichen Widerständen von innen und außen ausgesetzt und<br />

zweckentfremdet, gestoppt oder sogar rückgängig gemacht werden.<br />

Wenn wir z.B. das moralische Verhalten der Jugend und die Denkweise der<br />

gesamten Bevölkerung allmählich verändern wollen, könnte es uns passieren,<br />

das uns die die Gesellschaft beherrschenden dekadenten und demagogisch<br />

ausgerichteten Kräfte aus dem Wege räumen, bevor wir unser Ziel erreicht<br />

haben. <strong>Die</strong> Führer, die an allmähliche Reformen der Gesellschaft über einen<br />

relativ großen Zeitraum glauben, mögen logisch gedacht haben. Was sie aber in<br />

ihr Kalkül nicht einbeziehen, sind die gegen die Reformen gerichteten Kräfte,<br />

die schon immer die lange Zeit, die ihnen die allmählichen Reformen


naturgemäß lassen, genutzt haben, um die Reformen zu verhindern und<br />

rückgängig zu machen.<br />

Der Prophet aber hatte eine besondere Methode für seinen sozialen Kampf und<br />

die Durchführung seines Führungsauftrages entwickelt, die keine der<br />

Schwächen der drei üblichen Methoden aufwies und ihn bei der Bekämpfung<br />

der negativen und lähmenden Traditionen schneller zum Ziel führte: Er ließ die<br />

Formen der Tradition bestehen, veränderte aber ihren Inhalt grundlegend.<br />

Was die rituelle Waschung anbetrifft- sie war, wie schon erwähnt, eine auf<br />

Aberglauben beruhte Tradition der vorislamischen Araber – , so würde die<br />

traditionelle Methode sie erhalten, die revolutionäre Methode sie mit Gewalt<br />

verbieten und die reform<strong>ist</strong>ische Methode versuchen, die Menschen allmählich<br />

so weit aufzuklären, das sie nicht mehr an Zauberkräfte, Besessenheit vom<br />

Teufel und Dämonen und die Unreinheit des Blickes und der Seele glauben. Der<br />

Prophet aber hat durch die Verbesserung ihrer Form und die grundlegende<br />

Veränderung ihres Inhaltes ohne große Mühe daraus eine hygienische Tradition<br />

gemacht.<br />

Er hat die Wallfahrt nach Mekka, die in vorislamischer Zeit und nach Abraham<br />

zu einer rass<strong>ist</strong>isch-arabischen Tradition des Aberglaubens verkommen war und<br />

zum Götzendienst wowie dem wirtschaftlichen Vorteil des Stammes der<br />

Quraisch genutzt wurde, im Islam nicht abgeschafft. Aufgrund der dieser<br />

Tradition innewohnenden Möglichkeiten – nämlich ihre Zurückführung auf<br />

Abraham als Erbauer der Kaaba- hat sie der Prophet nach einer grundlegenden<br />

inhaltlichen Veränderung in den <strong>Die</strong>nst seiner Sache gestellt. Er hat die<br />

Wallfahrt nach Mekka, die zu einem gesellschaftlichen und traditionellen<br />

Instrument zur Wahrung der Interessen der Quraisch und Mekkaner geworden<br />

war, in eine umfassende und schöne Tradition des Monotheismus und der<br />

Einheit der Menschen verwandelt.<br />

Der Prophet hat mit einer revolutionären Tat die auf Götzendienst<br />

zurückgehende, rass<strong>ist</strong>ische Tradition der Wallfahrt in eine inhaltliche<br />

gegensätzliche Tradition umgewandelt. Trotz dieser revolutionären und<br />

sprunghaften Veränderung hatten die Araber weder das Gefühl, das ihre Welt in<br />

Unordnung sei, noch das Gefühl, mit ihren geheiligten Wertvorstellungen<br />

gebrochen zu haben.<br />

Im Gegenteil, sie waren der Meinung, nach dieser Reinigung und Läuterung<br />

ihrer Tradition sie eher wiederbelebt und erst richtig ausgeübt zu haben. Von der<br />

Götzenverehrung zum Monotheismus <strong>ist</strong> ein Entwicklungsprozess von mehreren<br />

Jahrhunderten und geschichtlichen Epochen notwendig.


Der Prophet bewältigte diesen zeitlichen Abstand schneller und abrupter als jede<br />

kulturelle und ge<strong>ist</strong>ige Revolution, ohne in der Gesellschaft das Gefühl zu<br />

hinterlassen, das er mit der Vergangenheit gebrochen und alle Institutionen<br />

zerschlagen habe. <strong>Die</strong>se Methode des Propheten bei seiner Gesellschaftsarbeit<br />

kann man „innere Umwälzung der Tradition unter Bewahrung ihrer verbesserten<br />

Form“ nennen.<br />

Ich hoffe, mit diesen Beispielen zur Erläuterung dieser Frage beigetragen zu<br />

haben, obwohl ich dabei in Kauf nehmen muss, das das Beispiel der Wallfahrt<br />

nach Mekka einigen missfallen wird. Der Konservative versucht also, die<br />

Tradition um jeden Preis zu erhalten. Er <strong>ist</strong> sogar bereit, sich ohne andere dafür<br />

zu opfern.<br />

Der Revolutionär hingegen möchte alles auf einen Schlag umwälzen und<br />

zerstören. Er wagt einen weiten Sprung nach vorn, auch dann, wenn die<br />

Gesellschaft darauf nicht vorbereitet <strong>ist</strong> und dagegen Widerstand le<strong>ist</strong>et. Der<br />

Revolutionär <strong>ist</strong> möglicherweise gezwungen, nicht nur gegen Feinde des<br />

Volkes, sondern auch gegen die Volksmassen hart durchzugreifen,<br />

Massenvernichtungen durchführen zu lassen und grausam zu handeln.<br />

Der Reformator gibt dem Missetäter Gelegenheit zur Reaktion. Der Prophet<br />

jedoch wendet eine Methode an, die, wird sie richtig verstanden, eindeutige<br />

Anweisungen enthält. Unter Anwendung dieser Methode <strong>ist</strong> es möglich, sich<br />

gegen die alte Tradition, die toten Kulturen, entstellte und betäubende<br />

Religionen und in der Gesellschaft tief verwurzelt reaktionäre Ideen zu<br />

behaupten und revolutionäre Ziele zu erreichen, ohne die unangenehmen Folgen<br />

einer revolutionären Methode in Kauf nehmen zu müssen, mit den alten<br />

Glaubensgrundsätzen der Gesellschaft in Konflikt zu geraten, sich dem Volk zu<br />

entfremden und von ihm verurteilt zu werden.<br />

Realismus im <strong>Die</strong>nste des Idealismus<br />

Es <strong>ist</strong> bezeichnend für den Islam, das er sich auf die objektiven und zwingenden<br />

Gegebenheiten der Gesellschaft einstellt und sie nicht leugnet. Er vertritt auch<br />

hier eine besondere Anschauung. In einer ideal<strong>ist</strong>ischen Anschauung dienen die<br />

höchsten und idealisierten Werte als Maßstab. Gegebenheiten, die mit ihnen<br />

nicht übereinstimmen, werden nicht geduldet, sondern verdammt, verleugnet<br />

und vernichtet. Empörung, Rachegefühl, Sexualität, Vergnügungs- und<br />

Habsucht sind nun einmal objektiv gegeben.


Der moralische Idealismus (Askese) und der religiöse Idealismus (Chr<strong>ist</strong>entum)<br />

wollen sie ignorieren, ihre Ex<strong>ist</strong>enz verleugnen und sie unter allen Umständen<br />

verurteilen.<br />

Im Gegensatz dazu nimmt die real<strong>ist</strong>ische Anschauung alle Tatsachen<br />

(Realitäten) als gegeben hin und akzeptiert sie, wie z.B. die Homosexualität in<br />

England oder die Aggression in Palästina. <strong>Die</strong> Katholische Kirche verbietet zur<br />

Erhaltung der Familie die Scheidung mit der Begründung, das die Treue<br />

zueinander und die Aufrechterhaltung der Familien- und Ehegemeinschaften ein<br />

heiliges Ideal seien. Tatsächlich aber können nicht alle Menschen unter allen<br />

Umständen diese heilige Bindung aufrechterhalten und einander treu bleiben. Es<br />

kommt vor, das sich zwei Menschen im Laufe ihres gemeinsamen Lebens<br />

entfremden und unglücklich nebeneinander leben, jedoch notgedrungen<br />

zusammenbleiben.<br />

Aber nicht das Band der Liebe, sondern das Band der Religion hält sie<br />

zusammen! Sie, die gezwungenermaßen miteinander leben, könnten getrennt<br />

voneinander, gemeinsam mit anderen, glücklicher sein. Das <strong>ist</strong> eine Realität, die<br />

schon immer ex<strong>ist</strong>iert hat. Jeder, ob zivilisiert oder nicht- zivilisiert, religiös<br />

oder areligiös, kann sich damit konfrontiert sehen. <strong>Die</strong> Stat<strong>ist</strong>iken legen<br />

beredtes Zeugnis von dieser Realität ab. Das Chr<strong>ist</strong>entum jedoch verleugnet sie<br />

im Namen der heiligen Bande der Ehe. Es hält in manchen Häusern, in denen im<br />

Inneren die Hölle los <strong>ist</strong> oder sich Verbrechen, Verrat und Unsittlichkeit<br />

eingen<strong>ist</strong>et haben, gewaltsam die Türen von außen verschlossen. <strong>Die</strong> Tür zur<br />

Scheidung bleibt verschlossen, aber hundert unerlaubte Fensterchen sind<br />

geöffnet.<br />

Das Konkubinat<br />

<strong>Die</strong> Realitäten der Gesellschaft suchen sich ihren Weg durch die Hintertür, wenn<br />

man ihnen die Eingangstür versperrt. Daher führt das Verbot der Scheidung zu<br />

Konkubinat und außerehelichen Zusammenleben. Männer und Frauen, denen ein<br />

Zusammenleben mit ihren angetrauten Ehepartnern unmöglich geworden <strong>ist</strong>,<br />

trennen sich von ihnen, ohne sich jedoch scheiden zu lassen, und leben mit<br />

anderen Frauen bzw. Männern unter einem Dach.<br />

Erschreckende Stat<strong>ist</strong>iken zeigen, das die Kinder dieser natürlichen, aber nichtehelichen<br />

Paare in den me<strong>ist</strong>en Fällen psychisch krank, kriminell und<br />

gesellschaftsfeindlich werden. Nicht selten gelangen Ehepartner zu der Einsicht<br />

das sie sich einander derart entfremdet haben, das sie nicht einmal mehr<br />

imstande sind, ein gutnachbarliches Leben miteinander zu führen, geschweige<br />

denn ein Ehe- und Sexualleben.


Es <strong>ist</strong> nur zu natürlich, das sie im Verlaufe ihres weiteren Lebens andere Partner<br />

finden und mit ihnen ein neues Leben beginnen; Partner, die ihnen aus<br />

gesellschaftlichen oder sexuellen Gründen besser zusagen. Auf den Ruinen eines<br />

Hauses entstehen zwei neue.<br />

Das ideal<strong>ist</strong>ische Chr<strong>ist</strong>entum akzeptiert diese Realitäten, die von den<br />

Ehepartnern nicht verhindert werden konnten, nicht. Es verschließt die Augen<br />

vor den Tatsachen. Es erkennt nur jedes schon längst zerstörte und nur in der<br />

Einbildung weiterex<strong>ist</strong>ierende Haus an, dessen Materialien inzwischen zum<br />

Aufbau eines anderen Hauses verwendet worden sind. <strong>Die</strong> beiden objektiv<br />

ex<strong>ist</strong>ierenden natürlichen Familien werden jedoch verleugnet.<br />

Hier erkennt man deutlich eine Diskrepanz zwischen den Geboten der Religion<br />

und der Realität. Folglich wird eine nicht-ex<strong>ist</strong>ente Familie als eine chr<strong>ist</strong>liche<br />

Familie anerkannt, während eine reale und natürliche Familie als nicht-ex<strong>ist</strong>ent<br />

angesehen und als ein Herd der Unzucht und Sünde betrachtet wird.<br />

<strong>Die</strong>ser Ablehnung <strong>ist</strong> es zu verdanken, das die nachfolgenden Familien nicht<br />

ehelich sind und die Kinder, die aus diesem natürlichen Zusammenleben der<br />

sich vertragenden und treuen Partner hervorgehen, in einer religiösen<br />

Gesellschaft als Bastarde und Kriminelle angesehen werden.<br />

<strong>Die</strong>se Menschen, denen die Zuneigung der Gesellschaft und die Reinheit der<br />

Familien vorenthalten und die als Kinder der Sünde betrachtet werden,<br />

bekommen Komplexe, die sie mit unvorstellbaren Verbrechen an der<br />

Gesellschaft abreagieren.<br />

Einer der Gründe, warum in Europa, insbesondere aber in Amerika, so viele<br />

Verbrechen geschehen, die in rückständigen und unzivilisierten Gesellschaften<br />

nicht vorkommen, liegt darin, das diese Gesellschaften zwar Zivilisation, Kultur,<br />

Moral, Bildung sowie individuelle und soziale Freiheiten besitzen, ihre junge<br />

Generation jedoch derart mit Komplexen beladen <strong>ist</strong>, das sie sich an der<br />

Gesellschaft aufs Grausamste rächen will.<br />

Ein junger Engländer hatte einen kleinen Apparat gebaut, mit dem man winzige<br />

Pfeile abschießen konnte. Er hatte ihn unter seinem Bauchladen angebracht und<br />

schoss die nadeldünnen Pfeile in die Menge, während er seine Zigaretten in<br />

Kinos und auf dichtbelebten Strassen verkaufte. <strong>Die</strong> giftigen Pfeile ließen die<br />

Menschen erblinden oder töteten sie. <strong>Die</strong> Polizei konnte den Mörder nicht<br />

finden, weil er ihn unter den Feinden der Ermordeten suchte. Der Mörder aber<br />

hatte überhaupt keine Verbindung zu den Ermordeten. Er tötete, weil die<br />

Getöteten Mitglieder einer Gesellschaft waren, die ihn verstoßen hatte.


<strong>Die</strong>se Art Verbrechen bedarf natürlich einer grundlegenden soziologischen<br />

Analyse. Sie sind zum Teil Folgen gestauter Komplexe, welche die Kirche<br />

mitverursacht hat, indem sie die Augen vor den Realitäten der Gesellschaft<br />

verschloss. Glücklicherweise sind solche Komplexe bei uns noch unbekannt. Da<br />

wir die Scheidung akzeptieren, gibt es in unsere Gesellschaft keine<br />

außerehelichen Familienbildung. Es gibt keine verdammten Familien, aber auch<br />

keine mit aller Gewalt und aus religiöser Notwendigkeit aneinandergeketteten<br />

Familienmitglieder.<br />

Bei manchen Kleinkindern macht man die Beobachtung, das sie die Augen<br />

schließen, wenn sie auf ihrem Weg auf Hindernisse stoßen. In ihrer Phantasie<br />

ex<strong>ist</strong>ieren die Hindernisse auf diese Weise nicht mehr; sie glauben, sie<br />

überwunden zu haben. Der Ideal<strong>ist</strong> gleicht einem Kind, das die Realität nicht<br />

sieht. Er will sie nicht sehen. Er verschließt die Augen vor dem Unliebsamen<br />

und Unerwünschten, und weil er sie nicht sieht, bildet er sich ein, das sie nicht<br />

ex<strong>ist</strong>ieren.<br />

Der Real<strong>ist</strong> verhält sich umgekehrt: Er akzeptiert alle Realitäten, so hässlich und<br />

schmutzig sie auch sein mögen, nur weil sie objektiv ex<strong>ist</strong>ieren; er fasst<br />

Zuneigung zu ihnen und glaubt an sie. Andererseits lehnt er jede Schönheit,<br />

Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit nur deswegen ab, weil sie mit den objektiven<br />

Gegebenheiten nicht übereinstimmen. Er verdrängt sie, weil sie ideal<strong>ist</strong>isch sind.<br />

Einer meiner Studenten, der zu der Sorte von Pseudo-Intellektuellen gehört, die<br />

zur Zeit in unserem Lande weitverbreitet sind, wusste auf alle von mir erörterten<br />

Themen nur die eine Erklärung, das er Anhänger des dialektischen<br />

Materialismus sei, ich dagegen ein religiösen Moslem. Er lehnte daher getreu<br />

dieser vorgefassten Meinung alles ab, was ich sagte. <strong>Die</strong> vom Marxismus<br />

übernommenen Thesen, die er nach obiger Aufgabeneinteilung eigentlich hätte<br />

akzeptieren müssen, stießen ebenfalls auf seine Ablehnung, weil ich sie vortrug<br />

und nicht erwähnt hatte, von wem sie stammten.<br />

Eines Tages behandelte ich in der islamischen Geschichte die Verbrechen der<br />

Umayyaden, die Klassengegensätze der damaligen Gesellschaft, die politische<br />

Unterdrückung und die Art und Weise, auf die man die Religion dazu benutzte,<br />

die bestehenden Ordnung zu rechtfertigen und den Glauben an göttliche<br />

Vorsehung zu verbreiten, um die Herrschaft der Umayyaden als eine von Gott<br />

gewollte und vorbestimmte Ordnung hinzustellen; dabei wurde erwähnt, wer<br />

sich gegen diese Ordnung erhoben und dagegen Widerstand gele<strong>ist</strong>et hatte.<br />

Mir fiel plötzlich auf, das den besagten Studenten etwas störte: Ich kritisierte die<br />

Umayyaden und erwähnte lobend <strong>Fatima</strong>, Ali, Abu Zar (14), Hadjar und<br />

Hussein als Führer einer Bewegung für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.<br />

<strong>Die</strong> Diskussion wurde nicht einmal unter Berücksichtigung religiöser,<br />

theologischer oder metaphysischer Kriterien geführt, sondern aufgrund


soziologisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse und klassenorientierter,<br />

progressiver Ideologie.<br />

Was hätte er nun als progressiver Intellektueller tun können?<br />

Sollte er meine Worte akzeptieren?<br />

Wie hätte er mich akzeptieren können?<br />

Dann fand er aber doch eine wissenschaftlichen-ideologische Lösung und schrie<br />

auf: „Das war eine h<strong>ist</strong>orische Notwendigkeit!“<br />

Mit anderen Worten, dieser h<strong>ist</strong>orische Prozess hätte sich nach der<br />

marx<strong>ist</strong>ischen Geschichtsphilosophie vollziehen müssen. Er wäre eine objektive<br />

h<strong>ist</strong>orische Realität. Ali, Hussein und Abu Zar wären demnach Ideal<strong>ist</strong>en, die<br />

sich gegen den unaufhaltsamen Entwicklungsprozess der Geschichte gestellt<br />

hätten.<br />

„Welch ein Intellektueller!“, sagte ich „das bestärkt mich in der Meinung:<br />

„Wenn Denkweise einer Gesellschaft einmal oberflächlich <strong>ist</strong>, so <strong>ist</strong> sie auch<br />

dann oberflächlich, gleichgültig, ob es sich um religiöse oder areligiöse,<br />

progressive oder reaktionäre, gelehrte oder ungebildete Menschen handelt“.<br />

Ist der Mensch religiös, so glaubt er an die göttliche Vorherbestimmung und<br />

daran, das alles, was geschieht, von Gott gewollt <strong>ist</strong>. Ist der Marx<strong>ist</strong>, so glaubt er<br />

an h<strong>ist</strong>orische Vorherbestimmung und daran, das alles, was geschieht, durch<br />

wissenschaftliche Ursachen und logische Determinanten der Umwelt, die sich<br />

dem Einfluss des Menschen entziehen, bewirkt wird. Da es sich hierbei um<br />

Realitäten handelt, sind sie annehmbar.<br />

Es <strong>ist</strong> erstaunlich, das die Umayyaden im Namen der Religion die Idee des<br />

Determinismus zu ihrer eigenen Rechtfertigung propagierten. Nun, dieser<br />

Pseudo-Intellektuelle will die Umayyaden mit dem h<strong>ist</strong>orischen Determinismus<br />

im Namen der Wissenschaft rechtfertigen.<br />

„Es war kein h<strong>ist</strong>orischer Prozess, der damals den Gang der Ereignisse<br />

bestimmte, sondern das Schwert,“ erwiderte ich ihm.<br />

Viele dieser Halbgebildeten verwechseln die Gewalt mit der h<strong>ist</strong>orischen<br />

Notwendigkeit. Wie wir sehen, nehmen die Real<strong>ist</strong>en die Dinge so, wie sie sind,<br />

nicht aber so, wie sie nach ideal<strong>ist</strong>ischem Verständnis sein sollen.<br />

<strong>Die</strong> Gesetzesvorlage über die Päderastie wurde im englischen Parlament damit<br />

verteidigt, das die Homosexualität eine objektive Realität in der Gesellschaft sei,<br />

die gesetzlich erlaubt sein müsse; es sei utopisch und ideal<strong>ist</strong>isch, dagegen<br />

angehen zu wollen.


Sehen Sie nicht, wie die Politiker und Pseudo-Intellektuellen argumentieren, das<br />

Israel eine Realität und die Rückkehr der Palästinenser in ihre von den Israelis<br />

besetzte Heimat eine Utopie sei?<br />

<strong>Die</strong> Tatsache gleichgültig, ob sie unmenschlich oder verbrecherisch sei, bestehe<br />

nun einmal; daher nehmen wir sie hin und erkennen sie an. Kolonialismus <strong>ist</strong><br />

ebenfalls eine Realität, Unterdrückung und Ausbeutung nicht weniger.<br />

Der Real<strong>ist</strong> <strong>ist</strong> ein aufgeklärter und toleranter Mensch, der objektiv und mit<br />

wissenschaftlichem Real<strong>ist</strong>isch, subjektiven und irrealen Gedanken<br />

beeinflussen.<br />

Wie wir sehen, sind die ideal<strong>ist</strong>ischen Denker und Reformatoren sowie die<br />

ideal<strong>ist</strong>ische Partei und Gesellschaft aufgefordert, den hohen, wenn auch<br />

unerreichbaren Idealen nachzueifern. Dabei werden die unangenehmen<br />

Tatsachen, die objektiven Hindernisse und die unvermeidlichen Gegebenheiten<br />

der Gesellschaft ignoriert und auf ungeschickte Weise verdrängt, die hässliche<br />

Realität wird gemieden, eine subjektive, utopische und absolut heile Welt<br />

erdacht.<br />

Der Ideal<strong>ist</strong> weiß es nicht, das er in einer ganz anderen , wirklichkeitsfremden<br />

Welt lebt. Seine Gedanken und Gefühle sind in seiner objektiven Umwelt nicht<br />

mehr ex<strong>ist</strong>ent. Sie sind dort, wo er selbst nicht <strong>ist</strong>. Mit anderen Worten, der<br />

Ideal<strong>ist</strong> lebt zwischen Wirklichkeit und Einbildung. Er <strong>ist</strong> ein revolutionärer<br />

Führer, der zerstört, aber nicht aufbauen kann. Er <strong>ist</strong> der Fortschrittlichste in<br />

seinen Äußerungen und der Rückständigste in seinen Taten. <strong>Die</strong> Gesellschaft,<br />

die er aufbaut, <strong>ist</strong> zwar auf dem Papier vollkommen, taugt aber nicht für die<br />

Menschen. Daher <strong>ist</strong> der Staat Platons vollkommener als der Staat Mohammads.<br />

Er <strong>ist</strong> aber nach den Worten Platons für den Himmel geschaffen, nicht für die<br />

Erde, denn der ideale Staat, die Utopia, ex<strong>ist</strong>iert nur in der Einbildung.<br />

Im Gegensatz dazu verhindert der Realismus den Ge<strong>ist</strong>es- und Gedankenflug,<br />

vereitelt das Streben nach den Idealen und der Vollkommenheit und hält den<br />

Menschen auf dem Boden der Realität im Rahmen der bestehenden Werte<br />

gefangen. Dadurch erlahmt die Kraft zu Kreativität, Auflehnung, tiefgreifenden<br />

Veränderungen im Leben, in der Gesellschaft und in der Denkweise der<br />

Menschen; der Mensch wird dazu erzogen, sich mit den Gegebenheiten<br />

abzufinden und sie so hinzunehmen, wie sie sind.<br />

Der Realismus vergiftet den Hungernden, während der Idealismus ihn<br />

verhungern lässt.


Weder Idealismus noch Realismus, sondern<br />

beide<br />

Was den Islam betrifft, so <strong>ist</strong> er wie ein Licht, das weder östlich noch westlich<br />

ausgerichtet <strong>ist</strong>. (vgl. Koran 24/35: „Sie brennen von einem gesegneten Baum,<br />

einem Ölbaum, der weder östlich noch westlich <strong>ist</strong>.“<br />

Er <strong>ist</strong> gleichsam wie ein guter Baum, dessen Wurzel fest in der Erde sitzt und<br />

dessen Zweige in den Himmel ragen. Im Gegensatz zum Idealismus nimmt er<br />

die bestehenden Realitäten des Alltags, des Ge<strong>ist</strong>eslebens, der<br />

zwischenmenschlichen Beziehungen, der gesellschaftlichen Verhältnisse und<br />

der Geschichte wahr, gibt wie der Realismus ihre Ex<strong>ist</strong>enz zu, erkennt sie aber<br />

im Gegensatz zu letzterem nicht an.<br />

Er verändert sie, er verändert ihr Wesen auf eine revolutionäre Art und Weise<br />

und stellt sie in <strong>Die</strong>nst seiner Ideale, Er benutzt sie als Mittel zum Zweck, um<br />

seine erreichbaren Ideale zu verwirklichen. Er findet sich mit den Realitäten<br />

nicht ab, sondern bedient sich ihrer. Er läuft vor ihnen nicht fort, sondern sucht<br />

und zügelt sie. Realitäten, die sich dem Ideal<strong>ist</strong>en als Hindernisse in den Weg<br />

stellen, werden zu Hilfsinstrumenten umfunktioniert.<br />

Ein Beispiel dafür <strong>ist</strong> das Konkubinat, das in Europa als außereheliches<br />

Zusammenleben verpönt <strong>ist</strong>. Es ex<strong>ist</strong>iert trotzdem noch heute in Europa und<br />

Amerika, sogar unter sehr frommen Gruppen (es kommt bei ihnen sogar<br />

möglicherweise noch häufiger vor). Der Islam hat Scheidung und die erneute<br />

Eheschließung sowie die Ehe auf Zeit (in besonderen individuellen und<br />

gesellschaftlichen Ausnahmefällen) akzeptiert.<br />

Hätte er sie nicht akzeptiert, so würden sie trotzdem praktiziert, allerdings mit<br />

dem Unterschied, das sie dann außer Kontrolle gerieten. Er akzeptiert sie als<br />

natürliche und unvermeidliche Realitäten, gibt ihnen einen gesetzlichen und<br />

religiösen Charakter, kann sie dann aber kontrollieren und mit den eigenen<br />

moralischen und rechtlichen Grundsätzen vereinen. So verpflichtet er beide<br />

Seiten, unterwirft sie den bestehenden Gesetzten, befreit die Männer und Frauen<br />

von dem Schuldgefühl und der Isolierung, festigt ihre Bindungen zu<br />

moralischen und religiösen Grundsätzen durch die Legalisierung ihrer<br />

Handlung, lässt ihre Kinder in einer natürlichen und gesundenden Umwelt<br />

aufwachsen und fordert die Gesellschaft auf, sie nicht als Früchte der Sünde und<br />

Unsittlichkeit zu betrachten.<br />

<strong>Die</strong>se Erfolge verzeichnet der Islam dadurch, das er die Ex<strong>ist</strong>enz einer sozialen<br />

und menschlichen Realität zugibt. Daher <strong>ist</strong> er imstande, die Folgen zu<br />

kontrollieren, ihnen eine gesetzliche Ordnung zu geben, ihre Form zu verbessern


und ihnen sittlich-moralisches Ansehen zu verleihen. Der Realitätssinn gibt uns<br />

daher die Kraft, das Bestehende zu kontrollieren und in die gewünschte<br />

Richtung zu leiten. Wenn wir die Wirklichkeit verleugnen, werden wir von<br />

unserem Ziel abgedrängt. <strong>Die</strong> Real<strong>ist</strong>en kommen zwar über die Beschäftigung<br />

mit der Wirklichkeit nicht hinaus, aber die Ideal<strong>ist</strong>en, die sie erst gar nicht sehen<br />

wollen, werden von ihr noch härter getroffen als die Real<strong>ist</strong>en, weil diese mit<br />

den Tatsachen vertraut sind. Da der Ideal<strong>ist</strong> sie jedoch nicht kennen und sehen<br />

will oder sie unwissend leugnet, <strong>ist</strong> er ihnen schutzlos ausgeliefert und wird von<br />

ihnen vernichtet.<br />

Oft genug haben wir erlebt, wie aus frommen Familien stammende Mädchen,<br />

die zu Hause vor dem männlichen Fisch im Aquarium den Schleier trugen, sich<br />

munter ins Abenteuer stürzten, sobald sie außer Hauses Gelegenheit dazu<br />

bekamen. Sie waren darauf bedacht, alles nachzuholen, was sie versäumt zu<br />

haben glaubten. Wir haben ebenfalls gesehen, wie sich die Herren aus den<br />

frommen und gottesfürchtigen Häusern bei der erstbesten Gelegenheit<br />

abreagierten und mit welcher Bereitwilligkeit die vormals frömmelnden Neo-<br />

Modern<strong>ist</strong>en, die in der ideal<strong>ist</strong>ischen Welt ihrer pseudo-religiösen Umgebung<br />

vom Verbot des Physik- und Chemiestudiums, der Schule und der<br />

Frauenbildung sprachen und darüber diskutierten, wie lang der Bart sein solle,<br />

ob man anstelle der Pferdedroschke ein Taxi nehmen dürfte, ob Gebete bei der<br />

Heilung von Krankheiten wirkungsvoller seien als Medikamente und Krawatte,<br />

langes Haar und die Verbreitung des Koran über Radio und Lautsprecher erlaubt<br />

seien, sich dem modernen Konsum und übertriebenen Luxus hingaben, sobald<br />

sie aus ihrer Scheinwelt gerissen und mit den neuen Realitäten konfrontiert<br />

wurden. Sie wurden sogar zum Gespött der Europäer, die mit diesen Realitäten<br />

lebten. Für sie war nichts Unnatürliches daran. Wir, die sie erst ignoriert hatten<br />

und dann mit ihnen konfrontiert wurden, wussten nicht viel mit ihnen<br />

anzufangen. Wir waren auf diese Konfrontation nicht vorbereitet. Da wir uns auf<br />

die Wirklichkeit nicht einstellen konnten, wurden wir von ihnen beherrscht.<br />

<strong>Die</strong> neue Zivilisation überschritt die Grenzen und riss die Festungen der<br />

Isolation nieder. Renaissance, Aufklärung, die Französische und die industrielle<br />

Revolution überrollten die Welt und veränderten sie. Auch unser Land blieb<br />

davon nicht verschont. Es war eine unabwendbare Notwendigkeit, das<br />

Elektrizität, Maschine, Buchdruck, Universität, Demokratie, Radio, Fernseher<br />

und Kino früher oder später den Weg zu uns fanden. Neue Technologien und<br />

Wissenschaften, Studium, Arbeit, Freiheit, Sozialrecht, Frauenemanzipation,<br />

Aufsässigkeit der neuen Generation, Aufhebung der völkischen und der<br />

Standesunterschiede, Entstehung von Banken und Verwaltungsorganisationen,<br />

Ausbreitung des Kapitalismus, Verdrängung der Traditionen, Erschütterung in<br />

der Klassengesellschaft, Verfall der alten Werte, Veränderung des<br />

gesellschaftlichen Verhaltens, Aufkommen der neuen Konsumverhaltens,<br />

Auseinandersetzung der westlichen Ideologien mit dem Islam, Gefährdung der


Welt durch Entstehung neuer Konfrontationen und vieles andere mehr haben die<br />

westliche Welt verändert.<br />

<strong>Die</strong> Führer des Volkes und die Wächter über Moral und Leben der Gesellschaft,<br />

deren Herzen immer noch an den alten und subjektiven Idealen hingen,<br />

verschlossen die Augen vor diesen unleugbaren Realitäten und versuchten, mit<br />

der Begründung, das die ersteren den Ungläubigen gehören, anstatt mit dem<br />

Taxi mit der Pferdedroschke zu fahren und neben der Elektrizität das Talglicht<br />

beizubehalten.<br />

„Willst Du Dich etwas über das Talglicht lustig machen?“ wurde empört<br />

gefragt, „bei diesem Licht haben Männer wie Koleini, Tusi, Seyyed Razi und<br />

Madjlesi ihre großen Werke geschaffen.“<br />

Welche Mittel und Pläne haben wir aufzubieten, um diesem Angriff zu<br />

widerstehen und von der schnelllebigen Zeit nicht überrollt zu werden?<br />

Ist es etwa damit getan, das wir die Augen verschließen oder nur rückwärts<br />

schauen und dann jammern und fluchen?<br />

Von den Höhen der Zivilisation, der Macht und der westlichen Politik raste die<br />

Walzmaschine des Modernismus auf die mittelalterlichen und rückständigen<br />

Täler zu, wo wir in tiefen Schlaf versunken waren. Unsere Beschützer und<br />

Verantwortlichen haben die Gefahr entweder nicht gesehen und uns weiterhin in<br />

den Schlaf gewiegt, oder aber sie haben sie gesehen und ihr dadurch begegnen<br />

wollen, das sie nur zurückschauten und unser Volk und seine Religion mit der<br />

Parole „Besinnt Euch auf die Religion“ in eine falsche Richtung getrieben.<br />

Sie bildeten sich ein, die Gefahr dadurch abwenden zu können, das sie ihr den<br />

Rücken zukehrten. Sie blieben stehen und wurden von dieser schnellen und<br />

schrecklichen Maschine erfasst, die das Leben und den Glauben des Volkes<br />

niederwalzte.<br />

Wir haben uns Unklugerweise geweigert, darauf zu fahren und wurden deshalb<br />

von ihr überrollt. Wir wollten in dieser Zeit und angesichts dieser Gefahr<br />

weiterhin auf einem Esel reiten und kamen unter die Räder. Wir wurden- sehr<br />

zum Vergnügen ihrer Erfinder- buchstäblich durch die Maschine gedreht.<br />

<strong>Die</strong> Verantwortlichen hatten wohl erkannt und vorausgesehen, das diese neuen<br />

Realitäten und ihr Angriff auf unsere Kultur die echten und ideellen Werte, die<br />

moralischen und Glaubensgrundsätze und die ge<strong>ist</strong>ige und kulturelle<br />

Unabhängigkeit dieser Gesellschaft in Frage stellen und das Volk ins Verderben<br />

stürzen würden. Auf diese gewaltige Kraft, welche die Regeln des Spiels<br />

bestimmte, neue Gesellschaftsverhältnisse aufzwang und sich selbst bei den<br />

entlegensten Stämmen und mitten in der Wüste ausbreitete, kannten sie indes<br />

nur eine Antwort : „Es <strong>ist</strong> Sünde!“


Radio? Kauft es nicht! Film und Fernsehen? Seht nicht zu! Lautsprecher? Hört<br />

nicht zu! Universität? Geht nicht hin! Neue Wissenschaft? Lernt nicht! Zeitung?<br />

Lest nicht! Stimme? Gebt nicht ab! Verwaltungsarbeit? Tut nicht! Frau?<br />

Erwähnt das Wort nicht!<br />

Sie stehen einem reißenden Strom der weltverändernden Industrie und einem<br />

Kapitalismus gegenüber, der sogar den Eskimos Kühlschränke verkauft, und<br />

wollen den alten Zustand ohne Abstriche verteidigen. Dem Angriff des Westens<br />

haben sie zwei Worte entgegenzusetzen: „Verboten“ und „Nein“!<br />

Zu welchem Ergebnis führte dies? Zudem, was wir heute sehen. <strong>Die</strong> Realitäten<br />

haben uns eingeholt, die Mauern heruntergerissen und die Schützengräben über<br />

ihren Verteidigern zerstört. Unsere Städte, Dörfer, Basare, Moscheen und Ernten<br />

wurden geplündert. In Abänderung der Worte des zerstörten Mannes aus<br />

Buchara, der über den Mongoleneinfall berichtete: „sie kamen, töteten,<br />

verbrannten und verschleppten“, muss man noch hinzufügen:“.. und blieben“.<br />

Warum? Weil sie von keinem gesehen wurden. <strong>Die</strong> Beschützer und Wächter<br />

unserer Grenzen konnten sie nicht leiden; sie hassten sie dermaßen, das sie nicht<br />

bereit waren, sie zu sehen. Sie waren nicht bereit, abzuwägen, zu verbessern, sie<br />

auf unsere Gegebenheiten einzustimmen, auszulesen, zu kontrollieren und für<br />

ihre Zwecke zu benutzen. Sie standen mitten auf der Strasse vor einem nichtbremsenden<br />

Wagen und ließen sich überfahren.<br />

So hilflos handelten unsere Väter. Daher müssen heute ihre verschleierten<br />

Töchter bei der Geburt ihres Kindes protestierend fragen, warum es nur<br />

männliche Frauenärzte gibt. Ihre Kinder müssen beim Besuch der Universität<br />

erstaunt fragen, ob sie sich bei der ge<strong>ist</strong>eswissenschaftlichen Fakultät nicht doch<br />

um eine Modenschau handelt. Ist das die Universität einer islamischen<br />

Gesellschaft?<br />

Findet man bei dieser Schule Anzeichen für islamische Moral?<br />

Ist das der Rundfunk eines islamischen Landes oder ein Leierkasten?<br />

Sind das Fernsehen, Presse und Parlament?<br />

Was sind das für Gesetze, die sie verabschieden?<br />

Sind diese Wucherzinsen verlangenden Geldinstitute Banken einer islamischen<br />

Nation?<br />

Was sind das für Übersetzungen, Filme, Theaterstücke, was <strong>ist</strong> das für Kunst,<br />

was für eine Zivilisation?<br />

Auf diese Proteste- so berechtigt sie auch sein mögen- muss man erwidern:<br />

„Wir haben kein Recht zu protestieren“.


In Abänderung der Worte von Hafez, wo es heißt: „Da unser Schicksal ohne<br />

unser Zutun vorherbestimmt wurde, klage nicht, wenn manches nicht nach<br />

Wunsch verläuft“.<br />

Als die neuen Realitäten entstanden und sich auswirkten, warst Du abwesend.<br />

Du liefst davon. Wenn Du Dich als Mann Gottes, als Mann der Religion, der<br />

Moral und des Islam, als der Verantwortliche für den Ge<strong>ist</strong> und die Denkweise<br />

einer islamischen Gesellschaft gekränkt in eine Ecke verkriechst, brauchst Du<br />

Dich nicht zu wundern, wenn durch Mirza Malkom Khan die neue Zivilisation,<br />

Industrie und Wissenschaft in unserer Gesellschaft eingebracht wird.<br />

Wenn sich der verantwortliche islamische Gelehrte vom Schlachtfeld „ der Zeit<br />

und des Lebens“ zurückzieht und in einem Winkel verkriecht, wenn er das Volk<br />

in Elend seinem Schicksal überlässt und in der Zurückgezogenheit seiner<br />

gemütlichen Ecke glaubt, den Himmel allein für sich verdienen zu wollen,<br />

diesseits Mühe in Amt und Würden sein zu können und jenseits zur ewigen<br />

Seligkeit bestimmt zu sein, braucht er sich nicht zu wundern, wenn schlaue<br />

Söldner und Kolonial<strong>ist</strong>en seine Stelle einnehmen und alles nach eigener<br />

Interessenlage gestalten.<br />

Wenn gerade in Entscheidenenden und schicksalhaften Zeiten die Stellvertreter<br />

des Imam (25) plötzlich wie der Imam selbst der Öffentlichkeit entrücken und<br />

ihren besonderen oder allgemeinen Vertretern die wichtige Verantwortung der<br />

Führung, der Aufklärung, der Verteidigung und der Fragen des Glaubens und<br />

des Kampfes überlassen, <strong>ist</strong> es nicht verwunderlich, wenn Männer wie Seyyed<br />

Kazim Raschti (26), Mirza Ali Mohammad Bab und Mirza Hossein Ali Baha<br />

(27)die Reformierung der Religion, Mirza Malkom Khan Latari und Führer der<br />

Freimaurer die modern<strong>ist</strong>ische und progressive Bewegung und Agha Djamal,<br />

Seyyed Hassan Taghizadeh, „Ein du-Doule (28), Mozaffareddin Schah (29) und<br />

Prinz Azdol Molk die polische und soziale Revolution in Iran anführen.<br />

Gerade zu der Zeit, als der Islam mit dem Westen und dem westlichen<br />

Kolonialismus konfrontiert war, waren wir- die Gruppe, die die islamische Front<br />

mit Verantwortung aufbauen sollte- vom Ort des Geschehens abwesend. In einer<br />

Epoche, als Mirza Ali Mohammad, Mirza Hossein Ali, Mirza Malkom Khan<br />

und Seyyed Hassan Taghizadeh in der Beeinflussung der Religion, der Politik<br />

und der Verwestlichung der Gesellschaft von allen Seiten tatkräftig unterstützt<br />

wurden, haben wir Seyyed Djamal (30), den Islam und das Volk allein gelassen-<br />

Wir haben Seyyed Djamal sogar verleumdet, aus der Gemeinschaft der<br />

Gläubigen ausgeschlossen, ihn „europhil“, „Material<strong>ist</strong>“, „Kirchendiener“ und<br />

„Bolschewik“ geschimpft und den rachsüchtigen Kolonial<strong>ist</strong>en und ihren<br />

Söldner überlassen, damit diese sich wegen der Belebung der islamischen und<br />

koranischen Parolen an ihm rächen und für die Zukunft ein Exempel statuieren.


Um den Lauf der Ereignisse zu beeinflussen und den Entwicklungsprozess der<br />

Gesellschaft in richtige Bahnen zu lenken, bedarf es großer und bewusster<br />

Anstrengungen.<br />

Wer dem Volk einredet, das Unhaltbare halten und das Unheilbare heilen zu<br />

können, wer ihm die Gefahren verschweigt und es überredet, das Unannehmbare<br />

anzunehmen, verführt die Massen und will die Gesellschaft in ihrer<br />

Rückständigkeit, Schwäche und Unterwürfigkeit konservieren.<br />

Wer aber eine dynamische Gesellschaft fordert und auf das Wohl der Menschen<br />

bedacht <strong>ist</strong>, wird nicht das Unhaltbare verteidigen und das Volk aus Furcht vor<br />

Prestigeverlust irreführen. Er wird nicht in den allgemeinen Lobgesang für die<br />

„Mode des Tages“ Miteinstimmen, um als „Mann des Tages“ anerkannt zu<br />

werden. Er sieht die Realitäten- ob sie ihm gefallen oder nicht- so, wie sie in<br />

unserer Gesellschaft ex<strong>ist</strong>ieren; er will die Ursachen der Krankheit erkennen, um<br />

sie heilen zu können.<br />

Er <strong>ist</strong> ein Mensch, der weiß, das die Zeit nicht stillsteht. Er weiß, das unsere<br />

traditionelle Gesellschaft der Erneuerung bedarf. Er spürt, ,das die Großmächte<br />

uns verändern wollen.<br />

Er <strong>ist</strong> weder so gleichgültig, alles ruhig Mitansehen zu können, noch so<br />

unverschämt, selbst Handlanger einer anderen Macht zu werden; er <strong>ist</strong> auch<br />

nicht unwissend, das er in das Hinterzimmer seines Hauses kriecht, wenn die<br />

ganze Stadt überschwemmt <strong>ist</strong>, denn er weiß, das es heute keine geschlossenen<br />

Familien und Gesellschaften gibt. Auch wenn man seine Tochter im<br />

Hinterzimmer einsperrt, wird sie dort vom Fernsehen erreicht und bekommt die<br />

neuesten Mitternachtsprogramme der Night Clubs zu sehen.<br />

Zwei Typen von Menschen<br />

In unserer Gesellschaft gibt es zwei Typen von Menschen: Einmal den<br />

fanatischen Typen, der seinen Mitmenschen im Namen der Religion und Moral<br />

und unzeitgemäß die veralteten Traditionen aufzwingen möchte, und, obwohl er<br />

weiß, das es ihm nicht gelingen wird, darauf besteht, sie bei der jüngeren<br />

Generation durchzusetzen.<br />

Der andere Typ, der sich als aufgeklärt, modern und freiheitsliebend versteht,<br />

glaubt, sich in den Angelegenheiten der jüngeren Generation zurückhalten zu<br />

müssen, um von ihr nicht der Rückständigkeit und Frömmigkeit bezichtigt zu<br />

werden; daher spielt er die progressive Rolle des Nichtstuns D.h. die Kinder<br />

handeln, während ihnen die Eltern, um als aufgeklärt zu gelten, die


Möglichkeiten dazu einräumen. <strong>Die</strong>se Zurückhaltung beruht weder auf<br />

Überzeugung noch auf Aufklärtheit. Sie <strong>ist</strong> vielmehr ein Zeichen der Schwäche,<br />

denn sie wissen, das ihnen auch noch der letzte Rest des äußerlichen Respekts<br />

verweigert wird, wenn sie sich einmischen.<br />

<strong>Die</strong>se beiden Typen sind an zwei verschiedenen Orten geformt worden: Einer in<br />

der Straße Tschahar Bagh in Esfahan , ungehobelt, hässlich, unnütz und verfault;<br />

der andere in den europäischen Gießereien, aalglatt, zierlich, vergänglich und<br />

hohl.<br />

<strong>Die</strong>se Typen beschreiten zwei Wege, falsche Typen auf dem Holzwege. Denn<br />

vor den Realitäten des Lebens steht der eine mitten im reißenden Strom und will<br />

ihn mit bloßen Händen aufhalten; weil es ihm aber nicht gelingt, schreit er<br />

weinend, verfluchend und anklagend. Der andere liegt regungslos neben dem<br />

Strom und <strong>ist</strong> ein unwürdiger Zuschauer. Er <strong>ist</strong> eben ein solcher „Papi“ oder eine<br />

„Mami“ neueren Zuschnitts, ein treues, stummes und gehorsames Arbeitspferd<br />

für „Jojo“ und „Logo“, ein Typ, der von morgens bis abends im Schweiße seines<br />

Angesichts lügt und betrügt, schmeichelt und tausenderlei Verrenkungen macht,<br />

um seine Taschen zu füllen, damit die „Kinderchen“ mit dem bescheidenen<br />

Ertrag den westlichen Geschäftsmachern entgegeneilen können.<br />

Beide Typen, der jammernde und verfluchende, der den Strom anhalten will,<br />

ebenso wie der andere, der regungslos zuschaut, erreichen dasselbe. Der<br />

reißende Strom sicht sich seinen Weg ungehindert durch die Stadt, zerstört alles<br />

und verwandelt sie in einen Sumpf. Beide Typen werden darin begraben.<br />

<strong>Die</strong> iranische Frau wurde erst einige Jahrhunderte später vom Schicksal der<br />

europäischen Frauen heimgesucht, natürlich mit einigen zusätzlichen Schlägen.<br />

<strong>Die</strong> europäische Frau, die wir in Iran kennen, ex<strong>ist</strong>iert in Europa nicht. Es gibt<br />

sie nur in Iran, und zwar nicht etwa auf der Straße, sondern im Fernsehen,<br />

Radio, in Frauenzeitschriften, im „Organ der Prostituierten“ und in der Sprache<br />

der europäischen angehauchten Modern<strong>ist</strong>en. <strong>Die</strong> europäische Frau, die wir<br />

kennen, <strong>ist</strong> „Made in Iran“, eine eigene Montage.<br />

<strong>Die</strong> Frauen, die wir auf den iranischen Frauenzeitschriften abgebildet sehen, gibt<br />

es natürlich auch in Europa, aber an besonderen Orten als Amüsierdamen. Sie<br />

sind für die europäische Frau nicht repräsentativ. Ebenso wenig repräsentativ für<br />

die iranischen Frauen sind jene Frauen, die sozusagen international sind.<br />

Wir dürfen allerdings nur einen besonderen Typ der europäischen Frau kennen<br />

lernen, nämlich den Typ, den uns Sexfilme, Zeitschriften, Fernsehsendungen<br />

und Romane als den eigentlichen Typ der europäischen Frau beschreiben.


Wir dürfen nicht den Typ der europäischen Frau kennen lernen, die mit 16<br />

Jahren in die Wüsten Afrikas und Australien fährt, ihr ganzes Leben in einer<br />

gefährlichen Umgebung zubringt und deren Tochter ihre Arbeit in der zweiten<br />

Generation fortsetzt, um im Alter von fünfzig Jahren nach Frankreich<br />

zurückzukehren und in der Universität sagen zu können, sie habe die Sprache<br />

der Ameisen entdeckt und einige ihrer Zeichen entschlüsselt.<br />

Wir dürfen nicht Madame Goichant kennen lernen, die ihr ganzes Leben dazu<br />

verwandt hat, den Ursprung der philosophischen Gedanken von Avicenna (31) ,<br />

Averroes, Molla Sadra und Molla Hadi Sabzewari in der griechischen<br />

Philosophie und den Werken des Ar<strong>ist</strong>oteles zu suchen, sie miteinander zu<br />

vergleichen und aufzuzeigen, was unsere Philosophen von ihnen übernommen,<br />

was sie falsch verstanden und falsch übersetzt haben und wie diese Fehler<br />

auszumerzen sind.<br />

Wir dürfen nicht Madame de la Vida aus Italien kennen lernen, die u.a.<br />

Avicennas „Nafsaniyat“ mit dem gleichlautenden Werk Ar<strong>ist</strong>oteles verglichen<br />

und vervollständigt hat. Wir dürfen auch nicht Madame Curie, die Entdeckerin<br />

von Quantum und Radiaktivität, kennen lernen oder Rosace de la Chapelle, das<br />

schöne Mädchen aus Schweden, das mehr als jeder andere islamische und<br />

schiitische Gelehrte, der sich der Vertretung Alis rühmt und sich als sein Kenner<br />

ausgibt, für die Ali-Forschung getan hat. Sie widmete ihr ganzes Leben der<br />

Erforschung einer islamischen Persönlichkeit, die durch rachsüchtige<br />

Anfeindungen der Gegner und sinnlose Lobpreisungen der Freunde unbekannt<br />

geblieben <strong>ist</strong>. Sie erkannte die Persönlichkeit Alis und den tiefen Sinn seiner<br />

hohen Gedanken am besten. Sie konnte seine Schmerzen, Ängste und Nöte und<br />

seine Einsamkeit nachempfinden. Sie hat nicht nur den Ali von Uhud (32) Badr<br />

und Hunain (33) entdeckt, sondern auch den Ali der Kanzel und der Einsamkeit.<br />

Sie hat seine Sprüche- von denen die arabischen Moslems nur einige<br />

ausgewählte literarische Texte und die schiischen Moslems nur einige Texte aus<br />

unsicheren Quellen kennen- aus allen nur möglichen Quellen<br />

zusammengetragen, gelesen, übersetzt, interpretiert und das schönste Werk, das<br />

jemals über Ali aus einer Feder geflossen <strong>ist</strong>, geschaffen. Sie hat seit<br />

zweiundvierzig Jahren unermüdlich über ihn nachgedacht, gearbeitet und<br />

geforscht. Wir dürfen Mademoiselle Michan nicht kennen lernen, eine Frau, die<br />

nach der Besetzung von Paris durch die Nazis aus der französischen Res<strong>ist</strong>ance<br />

das Hitler-Regime so bekämpfte, das man sie zweimal in Abwesenheit zum<br />

Tode verurteilte; eine Frau, die wegen ihrer hohen menschlichen und<br />

freiheitlichen Ideale in den Reihen der palästinensischen Fedayin gegen den<br />

Zionismus kämpfte, obwohl sie jüdischer Abstammung war.<br />

Wir dürfen Tausende von Pariserinnen nicht kennen lernen, die Schulter an<br />

Schulter mit algerischen Mudjahidin ohne Gegenle<strong>ist</strong>ung in den geheimen<br />

Organisationen in den Bergen, Wälder- von der algerischen Wüste bis zu den


Unterschlüpfen des Sündenbabels Paris- gegen den französischen Kolonialismus<br />

und Gewalttäter wie General de Gaulle, Soustelle, Salan und Argod kämpften<br />

und bei der Befreiung eines fremden Volkes weder Folter noch Tod scheuten.<br />

Wir dürfen nicht erfahren, das die europäische Frau gar nicht so <strong>ist</strong>, wie uns die<br />

Herren Mas´udi und Faramarzi (34) in ihren Frauenzeitschriften einreden<br />

wollen: eine Puppe in den Händen von Don Juans, eine Sklavin des Geldes und<br />

des Luxus und eine moderne Sklavin, die nur solange interessiert <strong>ist</strong>, wie sie die<br />

sexuellen Bedürfnisse des Mannes befriedigt, und die danach wie eine<br />

ausgediente Maschine aussortiert wird. Wir dürfen nicht erfahren, das sie dort<br />

für die hohe Ideale einer Nation kämpft und das Symbol der Befreiung und<br />

Stolzes einer Rasse geworden <strong>ist</strong>, Wir dürfen nur „Twiggys“ als das hohe Ideal<br />

der europäischen Frau kennen lernen und neben ihnen Jacqueline Onassis, für<br />

die Geld alles bedeutet, so wie die B:B:, die Fürstin von Monaco und die<br />

Revolverheldinnen um James Bond, mit anderen Worten, Fleischbeschau,<br />

Puppenspiele und Aufziehpuppen der kapital<strong>ist</strong>ischen Gesellschaft; die<br />

Sklavinnen der neuen Zivilisation für die Unterhaltung der modernen Eunuchen<br />

sind für uns gerade noch gut genug. Nur sie, deren ganzen Verdienst darin<br />

besteht, ihre Kleider und schönen Körperteile zur Schau zu stellen, dürfen wir<br />

Iraner als Symbol der zivilisierten europäischen Frau kennen lernen.<br />

Ich habe kein einziges Mal erlebt, das Bilder über Universitäten wie Cambridge,<br />

die Sorbonne oder Harvard, wo sich Studentinnen über europäische<br />

Handschriften aus früheren Jahrhunderten, zwei- bis dreitausend Jahre alte<br />

Chinesische Inschriften, über seine Handschrift des Koran oder Handschriften<br />

aus lateinischen und griechischen Büchern, über eine Keilschrift oder eine<br />

Schrift in Sanskrit beugen, sich von morgens bis abends nicht von Fleck rühren<br />

und solange daran sitzen bleiben, bis der Bibliothekar sie nach Hause schickt,<br />

gezeigt werden. Ebenfalls nicht gezeigt wird jene junge Amerikanerin, Deutsche<br />

oder Französin, die in den Universitäten, Bibliotheken, Museen,<br />

Forschungsgruppen und Laboratorien so hart wie ihre ältere Lehrer, die in der<br />

Wissenschaft aufgehen und jegliche weltliche Leidenschaft in sich getötet<br />

haben, arbeitet. <strong>Die</strong> neue Verdummungskampagne stellt sie als Callgirls billige<br />

Prostituierte dar, die mit einem Augenzwinkern auf der Straße oder einer Tasse<br />

Kaffee zu erobern sind, um unseren zivilisierten Mädchen zu zeigen, wie eine<br />

gebildete Frau von heute auszusehen habe. Alles andere sei Fanatismus,<br />

Rückständigkeit und mittelalterliche Kultur,<br />

<strong>Die</strong> neue Verdummungskampagne, die den Boden für Neo-Kolonialismus<br />

vorbereitet- wie die alte Verdummungskampagne, die im Sinne des alten<br />

Kolonialismus bemüht war, die Frau in ihrer traditionellen Unwissenheit und in<br />

gesellschaftlicher Dekadenz zu halten- redet nicht über sie, denn der<br />

Kolonialismus will nicht, das unsere Mädchen europäisch denken und arbeiten,<br />

das sie frei denken und schaffen. Er versucht, Barmädchen aus ihnen zu machen,


damit sie für ihn zwei wichtige Rollen in der traditionellen, nicht-europäischen<br />

Gesellschaft übernehmen. Einerseits soll die iranische Frau die Gedanken,<br />

Gefühle und das Interesse der jüngeren Generation auf die Bereiche unterhalb<br />

der Gürtellinie konzentrieren und die sexuelle Freiheit in einer Art und Weise<br />

propagieren, das alle kulturellen Bindungen, d.h. alles, was unsere nationale,<br />

religiöse und geschichtliche Identität ausmacht, auseinanderbrechen und alle<br />

menschlichen Freiheiten, auf die das Interesse der jüngeren Generation der<br />

afrikanischen, asiatischen und unter ihnen der islamischen Völker konzentriert<br />

sein soll, ad absurdum geführt werden. Andererseits sollen sie nicht nur selber<br />

wie Konsumgüter behandelt werden, sondern auch noch den Konsum anheizen.<br />

Zu diesem Zweck sollen die Mädchen der „Dritten Welt“ die Zivilisation als<br />

Modernismus begreifen und die moderne Frau mit der Barfrau verwechseln.<br />

Jawohl, sie dürfen die eigentliche europäische Frau nicht kennen lernen. Sie<br />

dürfen den Michans, den de la Vidas, also der modernen, zivilisierten<br />

europäischen Frau nicht nacheifern. Sie sollen entweder der alten oder der neuen<br />

Verdummungskampagne als Opfer dienen. <strong>Die</strong> sogenannte Religion macht aus<br />

ihnen Trauermädchen, die sogenannte Zivilisation Barmädchen.<br />

Zusammenarbeit der Reaktion und des<br />

Kolonialismus<br />

Wie wir sehen, arbeiten der ignorante Traditional<strong>ist</strong> und der progressive<br />

Modern<strong>ist</strong> Hand in Hand, um unsere Welt zu zerstören, uns zu gehorsamen und<br />

sklavenhaften Verbrauchern und unsere Mädchen zu Schaufensterpuppen zu<br />

machen, die weder östlich noch westlich sind, hohle, geschminkte europäische<br />

Puppen, die weder die Empfindungen der östlichen Frau von gestern noch den<br />

Verstand der westlichen Frau von heute besitzen. Sie sind wie Aufziehpuppen,<br />

die weder Eva noch Adam sind, weder Ehefrau noch Geliebte, weder Hausfrau<br />

noch Beschäftigte, sie fühlen weder Verantwortung für das eigene Kind noch für<br />

andere Menschen. Sie taugen weder für die eine noch die andere Aufgabe.<br />

Es sind eigens erfundene Frauen, die in fleißiger Heimarbeit zu Hause<br />

geschaffen und mit europäischer Marke versehen worden sind. Sie sind wie die<br />

europäischen Waren, die für den Verbrauch auf östlichen und islamischen<br />

Märkten bestellt und entworfen worden sind. Sie werden nach alter und neuer<br />

Verdummungsstrategie der Gehirnwäsche unterzogen, ihrer Kultur und ihren<br />

ge<strong>ist</strong>igen Traditionen entfremdet und in den Menschenfabriken, wo neue<br />

Generationen und Nationen im <strong>Die</strong>nste des Neo-Kolonialismus entstehen, zu<br />

neuen Menschen geformt und als „Tagessklavinnen“ für das „Nachtleben“ oder<br />

als „Luxusmannequins“ zu Konsumzwecken zur Schau gestellt.


Der ignorante Traditional<strong>ist</strong> und der modern<strong>ist</strong>ische Kapital<strong>ist</strong> arbeiten im<br />

Grunde zusammen, damit solch ein Typ zustande kommt; der eine im Namen<br />

der Moral und Religion und der andere im Namen der Freiheit und des<br />

Fortschritts. Der ignorante Traditional<strong>ist</strong> geißelt und plagt die Frau durch<br />

Fanatismus und Reaktion und behandelt sie so grausam, das sie in ihrer<br />

Verzweiflung blindlings diesem ungehobelten fanatischen und bärtigen<br />

Ungeheuer wegläuft, um sich dem zärtlichen, freundlich lächelnden und<br />

ordentlichen angezogenen Gentleman an den Hals zu werfen.<br />

<strong>Die</strong> europäische Frau, die wir kennen, die Frau der neuen Epoche, <strong>ist</strong> ein<br />

Produkt des Mittelalters. Sie <strong>ist</strong> eine Reaktion auf die unmenschliche<br />

Behandlung, die sie im Namen Jesu Chr<strong>ist</strong>i und der Religion während der<br />

Machtausübung der Ge<strong>ist</strong>lichkeit von den reaktionären Priester erfahren hatte.<br />

Sie erniedrigten die Frau, versklavten sie und beraubten sie ihres Rechtes auf<br />

wirtschaftliche Unabhängigkeit, Eigentum, Erziehung ihrer eigenen Kinder und<br />

sogar auf ihren eigenen Namen. <strong>Die</strong> von ihnen dargestellte Frau wurde von Gott<br />

verabscheut, stiftet Unheil und war die eigentliche Ursache für die Vertreibung<br />

Adams aus dem Paradies.<br />

Wenn i Mittelalter ein Priester gefragt worden wäre, ob ein Fremder in ein von<br />

einer Frau bewohntes Haus Zutritt habe, würde er geantwortet haben, niemals,<br />

denn selbst wenn der Fremde nach seinem Eintritt die Frau nicht zu Gesicht<br />

bekomme, habe er trotzdem sündhaft gehandelt.<br />

Mit anderen Worten, selbst wenn er die zweite Etage eines Hauses, dessen<br />

Keller eine Frau bewohne, betrete, habe er sündhaft gehandelt. Als ob die bloße<br />

Ex<strong>ist</strong>enz einer Frau die Ursache der Sünde sei!<br />

Der heilige Thomas von Aquin war der Ansicht, das der bloße Anblick eines<br />

Mannes, der aus Liebe zu einer Frau- auch wenn sie seine eigene <strong>ist</strong>- erröte, den<br />

Zorn Gottes hervorrufe, denn keine andere Liebe als die Liebe zu Gott dürfte<br />

von seinem Herzen Besitz ergreifen. Chr<strong>ist</strong>us war unverheiratet und chr<strong>ist</strong>lich<br />

könne nur derjenige handeln, der den Frauen fernbliebe.<br />

<strong>Die</strong> katholischen Pr<strong>ist</strong>er bleiben bis zum Ende ihres Lebens unverheiratet, weil<br />

die Ehe eine Verbindung sei, die den Zorn Gottes hervorrufe. <strong>Die</strong>se Verbindung<br />

dürfe man nur mit Gott und Jesus eingehen, denn das Herz hätte nur Platz für<br />

eine Liebe; daher könne nur der Ge<strong>ist</strong>licher- Träger des Heiligen Ge<strong>ist</strong>es- sein,<br />

der unverheiratete sei.<br />

Nach dem Verständnis dieser Lehre begeht der Mann als Nachkomme Adams<br />

erneut diese erste Sünde, wenn er sich mit einer Frau- auch wenn sie seine<br />

eigene <strong>ist</strong>, wie Eva Adams Frau war- abgibt und auf diese Weise die Sünde und<br />

Rebellion Adams im Angesicht Gottes wiederholt.


Man solle Gott aber an die Sünde Adams nicht erinnern. <strong>Die</strong> Frau <strong>ist</strong> in der<br />

mittelalterlichen Denkweise verhasst, unfähig und ihres Eigentumsrechtes<br />

beraubt, d.h. das eine begüterte Frau beim Betreten des Hauses des Ehemannes<br />

ihre Eigentumsrechte verlor. <strong>Die</strong>se wurden gezwungenermaßen dem Ehemann<br />

übertragen. <strong>Die</strong> Überreste dieser Denkweise sind im zivilisierten Europa noch<br />

heute vorhanden. Sie <strong>ist</strong> für uns ganz und gar unannehmbar, obwohl unsere<br />

Gesellschaft zum Teil von der sassanidischen (35) Tradition, der nicht-<br />

islamischen Askese beeinflusst worden <strong>ist</strong>.<br />

Noch heute ändert die Frau ihren Namen, sobald sie heiratet. Sie verliert ihren<br />

Familiennamen. <strong>Die</strong>se Namensänderung wird nicht nur zu Hause oder in der<br />

Öffentlichkeit, sondern auch auf Dokumenten, Ausbildungszeugnissen,<br />

Ausweisen usw. durchgeführt.<br />

Überall wird der Familienname der Frau durch den Familiennamen des Mannes<br />

ersetzt. <strong>Die</strong> Frau ex<strong>ist</strong>iert nicht mehr als eine unabhängige Identität. Sie <strong>ist</strong> nur<br />

in Zusammenhang mit einem anderen Wesen vorhanden. Solange sie im Hause<br />

des Vaters lebt, identifiziert sie sich mit ihm, dem alten Besitzer; wechselt sie in<br />

das Haus des Ehemannes über, so nimmt sie die Identität des neuen Besitzers an.<br />

Ihre Persönlichkeit reicht für einen eigenen Namen nicht aus.<br />

<strong>Die</strong>ser Brauch hat sich auch in Iran durchsetzen können, weil er eine<br />

europäische Tradition <strong>ist</strong> und von „besseren“ Menschen gepflegt wird. Das er<br />

eine Tradition der Sklavenzeit, ein Aberglaube und eine widerwärtige<br />

Handlungsweise <strong>ist</strong>, stört unsere nachahmenden Modern<strong>ist</strong>en keineswegs; er<br />

trägt ja schließlich eine europäische Marke.<br />

Der Nachahmer- ob Modern<strong>ist</strong> oder Traditional<strong>ist</strong>- benutzt weder seine<br />

Urteilsfähigkeit, um das Gute vom Bösen zu unterscheiden, noch seinen Willen,<br />

um eine eigene Wahl zu treffen. Er handelt nach dem Motto: „Ein Laster, das<br />

dem Sultan nicht missfällt, <strong>ist</strong> eine Tugend“. Dabei geht er so weit, das er bereit<br />

<strong>ist</strong>, „am Tage nach Sternen zu suchen, wenn der Sultan die Nacht befiehlt“, wie<br />

es in einem persischen Sprichwort sinngemäß heißt.<br />

In den Ausweispapieren der verheirateten europäischen Frauen werden zwei<br />

Namen eingetragen, der jetzige Name und der Geburtsname. Lebt sie beim<br />

Vater, hieß sie nach ihm; lebt sie beim Ehemann, trägt sie seinen Namen. Mit<br />

anderen Worten, die Frau <strong>ist</strong> das Eigentum des Hausherren, auch wenn das Haus<br />

vermögensrechtlich ihr gehört. Da sie eine Frau <strong>ist</strong>, <strong>ist</strong> sie keine Hausherrin. So<br />

war es beim Vater, und so bleibt es beim Ehemann.<br />

Unsere Modern<strong>ist</strong>en haben neuerdings diesen europäischen Brauch entdeckt und<br />

ändern nach der Heirat ihren Namen. <strong>Die</strong>ses lächerliche Spiel <strong>ist</strong> nur ein<br />

weiteres Beispiel dafür, wie unsere Pseudo-Europäer die „höhere Rasse“


nachahmen. Sie ahmen alles nach, ohne nach dem Sinn und der Bedeutung einer<br />

Handlung zu fragen, weil sie nicht nach dem Verstand handeln. Da sie den Sinn<br />

einer Sache nicht erkennen, sind sie in ihrer Nachahmung ungeschickt, machen<br />

alles falsch und geben sich der Lächerlichkeit preis. Daher müssen wir die<br />

Erfahrung machen, das in unserer modern<strong>ist</strong>ischen Gesellschaft Pseudo-<br />

Europäer herangezogen werden, die keinem Europäer ähnlich sind. Es <strong>ist</strong> ein<br />

europäisierter Menschentyp, der in Europa nicht vorkommt.<br />

Nach den zur Zeit geltenden französischen Gesetzen hat die Frau nach der<br />

Scheidung kein Anrecht auf ihre eigenen Kinder, während sie im Islam- im<br />

reinen Islam der ersten Zeit, nicht im heutigen bunten Sammelsurium- eine so<br />

große persönliche und rechtliche Unabhängigkeit besitzt, das sie berechtigt <strong>ist</strong>,<br />

für das Stillen des eigenen Kindes von dem Ehemann Lohn zu verlangen.<br />

Sie kann ohne Mitwirkung des Ehemannes Handel treiben, arbeiten und ihr<br />

Vermögen unabhängig und direkt in einer produktiven Arbeit investieren, mit<br />

anderen Worten besitzt sie also die vollständige wirtschaftliche Unabhängigkeit.<br />

<strong>Die</strong> unmenschliche und pseudo-religiöse Unterdrückung der Frau im Namen der<br />

Religion hat zu der heute in Europa erkennbaren Reaktion geführt. Es <strong>ist</strong> die<br />

Reaktion auf die Diskriminierung der Frau im Mittelalter, an welche die<br />

Erinnerung im Bewusstsein der heutigen Frau lebendig geblieben <strong>ist</strong>. Noch<br />

heute werden in Italien und Spanien, wo der Einfluss der Religion stark <strong>ist</strong>, trotz<br />

Menschenrechtsdeklarationen der Frau viele Menschenrechte vorenthalten.<br />

Damit meine ich die menschlichen Freiheiten und sozialen Rechte, nicht etwa<br />

sexuelle Freiheiten, die in schwindelerregender Geschwindigkeit verbreitet<br />

werden. Gegen Rohstoffe der „Dritten Welt“, wie z.B. Erdöl, Diamanten;<br />

Kautschuk, Jute, Kupfer, Kaffee und Uranium. <strong>Die</strong> billig nach Europa<br />

eingeführt werden, erhält die von Hunger geplagte und ausgeplünderte „Dritten<br />

Welt“ gratis und in großzügigen Umfang „Fachliteratur“ über die Freiheit,<br />

Kultur, Technik und Kunst des Sex-Lebens. <strong>Die</strong> Massenmedien und die<br />

sozialen, technischen und kulturellen Einrichtungen des „in einem Zustand der<br />

Rückständigkeit gehaltenen Landes“ werden zur Verbreitung und Rechtsfertigen<br />

dieser Lebensweise zur Verfügung gestellt.<br />

Das <strong>ist</strong> alles andere als Menschenrechte und Freiheiten. Sexuelle Befreiung <strong>ist</strong><br />

eine der zahlreichen Verführungsmethoden der neuen Verdummungsstrategie<br />

des westlichen kapital<strong>ist</strong>ischen Systems in Ost und West. Sie wird so praktiziert,<br />

das die Ausbeutung der westlichen Bevölkerung und die Kolonialisierung der<br />

östlichen Länder in Frieden und Sicherheit vonstatten gehen können. Sie zielt<br />

besonders auf die neue Generation, die aufsässig und ungeduldig geworden <strong>ist</strong>,<br />

die die Einschränkungen der wie Opium wirkenden Religion und die Fesseln der<br />

überlieferten Traditionen abschütteln will und sich sehr leicht gegen die


estehende Ordnung erheben könnte, ab. <strong>Die</strong>se neue Generation wird mit der<br />

billigen europäischen Liebe und der Freiheit a la Kapitalismus derart in Trab<br />

gehalten, das sie kaum erfährt, was in der Welt geschieht. Sie wird damit derart<br />

übersättigt, das sie ihre eigenen Armut und Unfreiheit nicht spürt.<br />

Aus diesem Grunde werden die in Asien, Afrika und Lateinamerika vom<br />

westlichen Kapitalismus gewährten sexuellen Freiheiten und Rechte von den<br />

Vertretern der örtlichen Diktatur mit allen Mitteln und Möglichkeiten gefördert.<br />

Der aufmerksame Beobachter kann hinter der schönen Maske der<br />

Sexualrevolution die Gesichter der „Dreifaltigkeit“, nämlich Ausbeutung,<br />

Kolonialismus und Diktatur, wiedererkennen. Sie haben Freud zu einem<br />

falschen Propheten gemacht, seine Lehre zu einer wissenschaftlichen und<br />

menschlichen Religion, die Sexualität zu einem moralischen Gewissen und<br />

Rechtssystem und die Sinnlichkeit zu einem Tempel, dessen erstes Opfer die<br />

Frau war.<br />

<strong>Die</strong> kulturelle und soziale Rolle der Frau in der<br />

Neuzeit<br />

Nach der Renaissance und dem Ende der traditionell-religiösen Epoche wurden<br />

auf intuitiven Empfindungen und religiöser Autorität beruhende Anschauungen<br />

durch Descartes´schen Rationalismus und analytische Logik ersetzt. Ebenso<br />

ersetzt wurden der Sozialismus im Sinne Durkheims durch den Individualismus<br />

im Sinne der Unabhängigkeit des Individuums gegenüber der Gesellschaft<br />

(Familie, Sippe, Volk usw.) Wertdenken durch Profitdenken, Idealismus durch<br />

Realismus, Subjektivismus durch Objektivismus, Verzicht, Streben nach<br />

Vollkommenheit und Tugendhaftigkeit durch Streben nach Wohlstand,<br />

seelische, literarische, intuitive und nicht erklärbare Bindungen durch<br />

vernünftige, logische, bewusste Beziehungen, inspirative, unwillkürliche,<br />

unbeschreibliche, metaphysische, mit logischen Kategorien nicht erfassbare,<br />

platonische und unsichtbare Phänomene durch bekannte, den Interesse dienende,<br />

willkürliche, durch rationale Analyse erklärbare, relative, veränderliche und<br />

irdische Phänomene, die das objektive Leben in der Welt bestimmen; und<br />

schließlich wurden Metaphysik durch Natur, Offenbarung durch Wissenschaft ,<br />

Sittlichkeit durch Sinnlichkeit, Vollkommenheit durch Glück, Tugendhaftigkeit<br />

durch Wohlstand und nach den Worten Franci Bacons Wahrheit durch Macht<br />

ersetzt.<br />

<strong>Die</strong>se veränderte Ge<strong>ist</strong>eshaltung zu moralischen Werten, zu Kultur,<br />

Wissenschaft, Leben, Familie, Liebe, Beziehung der Geschlechter, Stellung der


Frau in der Gesellschaft sowie im Leben, in der Literatur und in der Kunst hat<br />

grundlegende Spuren hinterlassen.<br />

<strong>Die</strong> rational<strong>ist</strong>ische Wissenschaft hat versucht, alle ethischen Grundsätze, die für<br />

den Menschen metaphysische und göttliche Werte besaßen, wie Gegenstände zu<br />

analysieren. <strong>Die</strong> Frau und die Liebe, die schon immer von einer Aura des<br />

Geheimnisvollen umgeben waren, die Dichter inspirierten und die Phantasie der<br />

Menschen beflügelten, wurden auf dem Operativtisch anatomisch genau<br />

analysiert. Claude Bernhard betrachtete den Menschen als eine seelenlose Hülle,<br />

Freud sah die Seele als ein krankes Schwein an; beide genossen die<br />

Unterstützung der Bourgeoisie, die den Sinn des Lebens im Geldverdienen sah.<br />

Wir haben gesehen, wohin diese Art von Forschungen führt. <strong>Die</strong> chr<strong>ist</strong>lichen<br />

„Mollas“ und die Kirche wussten nur mit Exkommunikation darauf zu<br />

antworten. <strong>Die</strong>se Waffe war aber schon längst stumpf geworden. Angesichts der<br />

objektiven Beweisführung der anderen Seite blieben Hirtenbriefe und<br />

Drohungen mit Höllenfeuer wirkungslos. <strong>Die</strong> Frau, die in der Vergangenheit nur<br />

als Mitglied der Familie betrachtet wurde und keine eigene Identität besaß,<br />

erlangte allmählich wirtschaftliche Unabhängigkeit und suchte sich im Laufe der<br />

industriellen und sozialen Entwicklung außerhalb des Hauses eine<br />

Beschäftigung.<br />

Soziale Unabhängigkeit war die Folge der wirtschaftlichen Unabhängigkeit.<br />

Jetzt <strong>ist</strong> die Frau schon vor der Gründung der Familie unabhängig. Da sie die<br />

rationale Entwicklung durchgemacht hat, <strong>ist</strong> ihr Verhalten anderer, z.B. ihrem<br />

Ehemann, Geliebten, Vater oder der Familie gegenüber nicht mehr von<br />

Gefühlen, Intuitionen und unbewussten Trieben bestimmt, sondern von<br />

rationaler Berechnung und genauer Interessenabwägung. Berechnung,<br />

Realismus, analytisches Denken, Ichsucht, individuelle Interessenabwägung,<br />

Vergnügungssucht, Wohlstandsdenken und Streben nach individuellen Glück<br />

befreiten die Frau von vielen gesellschaftlichen, familiären und religiösen<br />

Beschränkungen, machten sie jedoch gleichzeitig um etliche tiefe menschliche<br />

und irrationale Gefühle ärmer. Sie wurde einsam, weil sie unabhängig wurde.<br />

Durkheim hat bewiesen, das der Kollektivge<strong>ist</strong> in der Vergangenheit viel stärker<br />

war. Je mehr sich Vernunft, wirtschaftliche Unabhängigkeit und Individualismus<br />

durchsetzten , umso brüchiger wurden die verwandtschaftlichen,<br />

gefühlsmäßigen, religiösen und ge<strong>ist</strong>igen Bindungen. <strong>Die</strong> Unabhängigkeit<br />

brachte viele Vorteile.<br />

Ein achtzehnjähriges Mädchen darf eine eigene Wohnung beziehen und von<br />

Führung und Einmischung von oben ihr eigenes Leben gestalten. <strong>Die</strong> Frau<br />

genießt in der Familie viele Freiheiten, weil sie wirtschaftlich unabhängig <strong>ist</strong><br />

und rational handelt, <strong>ist</strong> sie nicht bereit, nötigenfalls Opfer zu bringen, aus Liebe<br />

zu einem Mann auf ihre Ruhe, ihr Vergnügen, ihren Wohlstand und ihre


Gesundheit zu verzichten oder aus Respekt und Treue und, um ein gegebenes<br />

Wort einzuhalten, Entbehrungen hinzunehmen; denn Begriffe wie Treue,<br />

Opferbereitschaft, Dankbarkeit, Respekt und Liebe sind ge<strong>ist</strong>ige und moralische<br />

Begriffe, die mit Vernunft und Logik nicht erfasst werden können.<br />

Ich soll mein Leben opfern, damit ein anderer weiterleben kann. Ich soll leiden,<br />

damit der andere Ruhe findet. <strong>Die</strong>se Rechnung kann wohl nicht aufgehen. Ich<br />

brauche ihn doch nicht. Warum soll ich mich opfern und ihm treu bleiben, weil<br />

er mich braucht? Soll ich etwa einen hässlichen und schwachen Mann ertragen,<br />

nur weil ich ihm irgendwann einmal, als er noch gutaussehend und stark war<br />

oder als einziger um mich warb, mein Wort gegeben habe, und Auf den anderen<br />

gutaussehenden Mann, der nur jetzt begegnet <strong>ist</strong> und mich befriedigt,<br />

verzichten?<br />

Jean Paul Sarte geht ebenfalls auf dieses Problem ein: Wenn eine Frau mit<br />

einem Mann verheiratet <strong>ist</strong>, der auf sie nicht anziehend wirkt, und sich in einen<br />

anderen attraktiven Mann verliebt, sollten da nach vernünftiger Berechnung<br />

keine Unklarheiten entstehen. Beide brauchen sie, der eine als Ehemann und der<br />

andere als Geliebter. <strong>Die</strong> Frau braucht nicht den ersten, sondern den zweiten.<br />

Bleibt sie dem Ehemann treu, so enttäuscht sie zwei Erwartungen, verlässt sie<br />

ihn, so bleibt nur eine Erwartung unerfüllt. Der Fall <strong>ist</strong> also klar: die Vernunft<br />

gebietet, mathematisch genau zu handeln. <strong>Die</strong> Motive, welche die Frau<br />

veranlassen könnten, zwei menschliche Erwartungen einer einzigen zu opfern,<br />

können sicherlich Nicht rational und logisch sein. Weder Descartes noch Freud<br />

würden verstehen. Eine vernünftige Frau handelt logisch und mit kühler<br />

Berechnung. Wirtschaftliche Unabhängigkeit und soziale Rechte geben ihr die<br />

Möglichkeit, so zu handeln.<br />

<strong>Die</strong> Geburt eines Kindes bedeutet für die Eltern Einschränkungen in ihrer<br />

Bewegungsfreiheit. Nach den Regeln der Vernunft <strong>ist</strong> es unzumutbar, das zwei<br />

Menschen ihre Ruhe und ihren Frieden wegen eines einzigen opfern. Entweder<br />

wird also die Geburt verhindert oder das Kind einer Kinderfrau oder in einem<br />

Heim übergeben. Alle unpraktischen Bindungen, unlogischen Gefühle und<br />

moralischen und traditionellen Einschränkungen, die die Frau festhielten,, sie in<br />

der Familie aufgehen ließen und mit hundert unsichtbaren, irrationalen und<br />

geheimnisvollen Fäden an Mann, Kinder, Familie und Verwandte banden, sind<br />

heute nicht mehr gegeben.<br />

<strong>Die</strong> wirtschaftliche und gesellschaftliche Unabhängigkeit, der Sieg der Vernunft<br />

über die Gefühle, des Realismus über den Idealismus haben den Kollektivge<strong>ist</strong><br />

verdrängt und das Individuum unabhängig gemacht. Im gleichen Maße, wie das<br />

Individuum ausgedehnte Freiheiten und soziale Möglichkeiten genießt, isoliert<br />

es sich von anderen und wird einsam.


Einsamkeit<br />

Einsamkeit <strong>ist</strong> die größte Tragödie unseres Jahrhunderts. Einige europäischen<br />

Wissenschaftler haben sich mit dem Selbstmord aus der Sicht der Soziologie<br />

befasst. Selbstmord kommt im Orient nur in seltenen Ausnahmefällen vor.<br />

In Europa <strong>ist</strong> er jedoch kein Ereignis, sondern eine soziale Erscheinung, die<br />

ständig gegenwärtig <strong>ist</strong> und an Boiden gewinnt. Auch dort kommt er in<br />

rückständigen Gebieten, wie z.B. in Spanien, vergleichsweise weniger vor als in<br />

Nordeuropa und Nordamerika.<br />

Und auch da gibt es wiederum Unterschiede zwischen ländlichen und<br />

städtischen Gebieten, wirtschaftlich fortgeschrittenen und rückständigen<br />

Gegenden, zwischen den von der Religion abgewandten modernen sowie den<br />

alten, religiösen Menschen usw. Der Grund liegt darin, das die Menschen<br />

einsam geworden sind.<br />

<strong>Die</strong> Menschen verband einst die gemeinsame Religion. Sie schuf eine<br />

gemeinsame Ge<strong>ist</strong>eshaltung unter den Gläubigen. Jedes Individuum suchte<br />

zumindest Zuflucht bei Gott. Verwandtschaftliche, familiäre, bekanntschaftliche<br />

und völkische Bindungen sorgten für zwischenmenschliche Beziehungen.<br />

Wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit jedoch machten die Menschen<br />

voneinander unabhängig. <strong>Die</strong> Gesellschaft schützte nicht mehr wie früher die<br />

Sippe, Familie, Eltern, Kinder, Freunde und Verwandte, sondern das Individuum<br />

und befriedigte seine materiellen und ge<strong>ist</strong>igen Bedürfnisse. Rationalismus,<br />

kühle Berechnung. Materialismus und Wohlstandsdenken zerstören allmählich<br />

diese irrationalen ge<strong>ist</strong>igen Bindungen und machten den Menschen selbständig,<br />

ichbezogen, von den anderen unabhängig und einsam. Jeder sucht den anderen<br />

nur in bestimmter Ansicht und Erwartung auf. Das Individuum lebt auf seiner<br />

einsamen Insel und wird von Selbstmordgedanken heimgesucht, denn der<br />

nächste Nachbar der Einsamkeit <strong>ist</strong> der Selbstmord. Der Mann und die Frau<br />

suchen sich gegenseitig aus. <strong>Die</strong>se selbständigen und unabhängigen Menschen<br />

finden nicht wegen Sex, Zuneigung, Liebe, Brauch, Gewohnheit,<br />

Zusammengehörigkeit, sozialer Bindung und anderer unbeschreiblicher<br />

Anziehungskräfte zueinander, sondern aus vernünftiger Berechnung,<br />

gesetzmäßiger Notwendigkeit und aus einem Zwang heraus.<br />

<strong>Die</strong> sexuelle Freiheit, die gesetzlich nach der Volljährigkeit, praktisch jedoch<br />

jederzeit beginnt, hat zu der irrigen Auffassung geführt, das es zur Befriedigung<br />

des sexuellen Triebes- so schwach er auch sein mag- zunächst einmal ausreiche,<br />

seiner habhaft zu werden. Sei er zu schwach, könne dem mit Geld leicht<br />

abgeholfen werden; nur mit Geld könne man den geschlechtlichen Trieb auf<br />

allen Ebenen befriedigen. Man könne in jedem Alter ein Don Juan oder ein


Onassis sein. <strong>Die</strong> First Lady von Amerika habe auch ihren Preis. Da die<br />

Geschlechter sexuelle Freiheiten genießen , halten sie es nicht für opportun, sich<br />

auf der Höhe ihrer sexuellen Treibkraft für ihr ganzes Leben zu binden. Logik,<br />

Vernunft, Berechnung, Vergnügungssucht, Wohlstandsdenken, Individualismus,<br />

Realismus und dergleichen wiederum verbieten, das der Mensch seine<br />

vielfältigen Freiheiten, seinen Anteil an den unendlichen Schönheiten nur auf<br />

eine einzige Person beschränkt.<br />

Gründung der Familie<br />

Mann und Frau vertreiben sich auf der Höhe ihrer geschlechtlichen<br />

Le<strong>ist</strong>ungsfähigkeit ihre Zeit in Tanzlokalen, auf Vergnügungsveranstaltungen<br />

und bei Reisen, bis die Frau erwacht und feststellt, das es um sie still geworden<br />

<strong>ist</strong>. Keiner fragt nach ihr, und wenn doch, dann nur, um alte Erinnerungen<br />

aufzufrischen. Der Mann hat die Erfahrung der sexuellen Freizügigkeit hinter<br />

sich, <strong>ist</strong> in der Welt der Liebe weit herumgekommen und alles hat für ihn an<br />

Reit verloren. Der sexuelle Trieb <strong>ist</strong> von Ergeiz und Gewinnsucht verdrängt<br />

worden. Nun möchte er eine Familie gründen.<br />

<strong>Die</strong> Frau, alleingelassen und von Einsamkeit geplagt, begegnet einem Mann,<br />

der, seiner diversen Liebschaften müde, am Ende eines langen Weges eine<br />

Familie gründen möchte.<br />

<strong>Die</strong> Familie wird gegründet; die Motive, die dazu geführt haben, das sie unter<br />

einem Dach zusammenleben, sind Torschlusspanik bei der Frau und<br />

Übersättigung bei dem Mann. Das Zusammensein <strong>ist</strong> für sie keine aufregende<br />

und gefühlvolle Angelegenheit. <strong>Die</strong> Liebe und die Zärtlichkeit sind der<br />

Langeweile und dem Überdruss gewichen. Für sie gibt es nichts Neues mehr.<br />

Sie wissen über alles und nichts Bescheid.<br />

Es gibt nichts Aufregendes für sie. Sie wissen , warum sie sich gefunden haben<br />

und was sie voneinander erwarten. Sie sind ganz bewusst und mit voller<br />

Berechnung aufeinander zugekommen und jeder weiß, was der andere mit der<br />

Liebeserklärung im Sinn hatte; jeder <strong>ist</strong> zur Befriedigung der sexuellen<br />

Bedürftigkeit des anderen da, und sie machen sich keine Illusionen über die<br />

Bedeutung der Liebe.<br />

Am Hochzeitstag füllt sich die Stadthalle (in die Kirche dürfen sie nicht gehen).<br />

Ein Vertreter der Stadt- ein Beamter, kein Ge<strong>ist</strong>licher- lässt die Paare der Reihe<br />

nach vortreten, liest die Namen von der L<strong>ist</strong>e ab, lässt die Paare einander ihr Ja-<br />

Wort geben, die Gebühren werden bezahlt und die L<strong>ist</strong>en unterschrieben. Alles<br />

läuft nach einem vorgezeichneten Schema ab. Merkwürdigerweise wollen von


dreihundert Bräuten nur dreißig ein Hochzeitkleid tragen; der Rest hält es in<br />

dem Alter für unangebracht.<br />

Dann gehen Mann und Frau wieder ihrer Arbeit nach; mittags treffen sie sich<br />

mit Freunden in einem Restaurant, um zu feiern. <strong>Die</strong>s geschieht aber nur dann,<br />

wenn die Hochzeit für sie ihren Reit noch nicht ganz verloren hat. Sonnst bleibt<br />

alles beim alten. Es werden Paare getraut, die sowieso seit Jahren miteinander<br />

oder mit anderen gelebt haben. Sie werden sich wahrscheinlich nach der<br />

staatlichen Trauung vor dem Standesamt fragen, was das Ganze eigentlich<br />

bedeute. Wo sollen sie hin? Verreisen? Das haben sie schon des öfteren getan.<br />

Sich lieben? Das haben sie noch häufiger getan, so das sie dem auch keinen Reiz<br />

mehr abgewinnen können. Nach Hause gegen? Von dort kommen sie ja gerade.<br />

Was reizt sie überhaupt noch, was beflügelt ihre Phantasie? Nichts! Dann<br />

können sie ha auch ebenso gut ihrer Arbeit nachgehen, wie sie es täglich tun. So<br />

werden Familien gegründet. Mann und Frau suchen und finden sich nach einer<br />

genauen Berechnung und gehen eine Partnerschaft auf wirtschaftliche Basis ein<br />

oder aber sie heiraten unter dem Druck des Gesetzes, wenn ein Kind geboren<br />

wird und seine Eltern zum Brautpaar macht. Beide fügen sich ohne<br />

Bege<strong>ist</strong>erung, Leidenschaft und gegenseitige Gefühle füreinander ins<br />

gemeinsame Leben, brauchen einander jedoch nicht. Sie suchen weder<br />

Geborgenheit noch den geheimnisvollen Reiz des Fremden beieinander. Ihr<br />

Vereintsein <strong>ist</strong> weder von Erregung noch von Herzklopfen oder einem Lächeln<br />

begleitet. So wird eine Familie auf schwachen Fundamenten aufgebaut, die<br />

Kinder wachsen in einer Umgebung ohne Zuneigung und Nestwärme heran, die<br />

Eltern sind es nicht gewohnt, ihre Freiheit einzuschränken, deshalb lassen sie<br />

ihre Kinder gegen Bezahlung in einem Internat aufwachsen, während sie selbst<br />

in Freiheit leben. Und so, wie sie nach den Gesetzen der Logik und Berechnung<br />

eine Partnerschaft eingegangen sind, trennen sie sich auch voneinander, und die<br />

Familie geht zugrunde, denn dieselbe Anschauung, dieselbe Logik und derselbe<br />

Ge<strong>ist</strong> herrscht immer noch. Denn wie kann eine leidenschaftslose, erfahrende<br />

Frau, deren me<strong>ist</strong>erhafte Beherrschung der Liebesspiele geradezu abstoßend <strong>ist</strong>,<br />

einen Mann befriedigen, der unzählige Affären mit viel jüngeren Frauen gehabt<br />

hat? Soll er sie halten? Nach welcher Logik? Umgekehrt stellt auch die Frau, die<br />

von der Erinnerung an unzählige Liebesdienste lebt, Vergleiche an. Es dürfte<br />

klar sein, das der abgewirtschaftete Mann, den sie derzeit in den Armen hält,<br />

diesem Vergleich nicht standhalten kann. Außerhalb dieses reiz- und<br />

leidenschaftslosen Hauses strecken sich ihnen offene Arme entgegen, die sie zu<br />

Rendezvous und Zusammenkünften einladen. Es wäre wiederum irrational, der<br />

Einladung nicht Folge zu le<strong>ist</strong>en und zu Hause zu bleiben.


<strong>Die</strong> Frau in der Konsumgesellschaft-<br />

Sexualität anstelle von Liebe<br />

Eine Gesellschaft, die sich in einem Kreis von „Produktion und Konsum“ und<br />

„Konsum und Produktion“ bewegt, kann die Vernunft, den Sinn der<br />

Handlungen, nur nach ihrer Wirtschaftlichkeit beurteilen. Demnach <strong>ist</strong> die Frau<br />

nicht mehr das Geschöpf, das die Phantasie beflügelt, die Empfindungen<br />

anspricht, das Ideal aller Liebenden, Mutter, Gefährtin, Mittelpunkt der Familie<br />

und ein Symbol der Geborgenheit <strong>ist</strong>, sondern eine Ware , die nach ihren<br />

sexuellen Reizen beurteilt und für den Handel freigegeben wird.<br />

Der Kapitalismus erwartet von der Frau, das sie in ihrer freien Zeit nicht darüber<br />

grübelt, welches Schicksal die Bourgeoisie ihr zugedacht hat, wie sie<br />

ausgebeutete wird und wie sinn- und ziellos ihr Leben gestaltet wird. Sie soll<br />

nicht fragen, warum sie arbeitet, lebe und weshalb sie so leiden müsse.<br />

Unter dem Vorwand, die Frau besitze als einziges Geschöpf Sexualität, wird sie<br />

zur Unterhaltung der Arbeiter, Angestellten und Intellektuellen abgestellt, damit<br />

sie keine Gelegenheit findet, in ihrer Freizeit klassenkämpferische und antikapital<strong>ist</strong>ische<br />

Gedanken zu hegen. Sie dient der Gesellschaft als Lückenbüßer.<br />

Nach den Empfehlungen des Kapitalismus und der Bourgeoisie hat die Kunst<br />

alles daran gesetzt, ihre Motive, die bis dahin Schönheit, Gefühl und Liebe<br />

waren, in Sex umzuwandeln. Sie hat den Vulgärfreudeismus und die<br />

widerwärtige Sexanbieterei als philosophische Anschauung des aufgeklärten<br />

Menschen und als Realismus propagiert. Phantasie, Dichtung und ideal<strong>ist</strong>ische<br />

Gefühle seien sinnlos, Sexualität sei das einzige Motiv der neuen Kunst.<br />

Daher dreht sich in Malerei, Dichtung, Prosa, Kino und Theater alles um<br />

Sexualität.<br />

Andererseits bedient sich der Kapitalismus der Frau als Sexobjekt zur<br />

Steigerung der Konsumabhängigkeit der Menschen, sie wird wie ein<br />

eindimensionales Lebewesen in die Werbung aufgenommen, um neue Werte<br />

und Bedürfnisse zu schaffen. Sie soll die Aufmerksamkeit auf neue Produkte<br />

lenken und künstliche Gefühle hervorrufen. <strong>Die</strong> Frau soll die Gefühle töten<br />

helfen, die diesen Interessen im Wege stehen. Sie soll bei der Vernichtung der<br />

ge<strong>ist</strong>igen Werte, die dem Kapitalismus hinderlich sind, mithelfen.<br />

<strong>Die</strong> Sexualität verdrängt die Liebe, und die Frau, die Geliebte, die „Gefangene“<br />

des Mittelalters, wurde zur „freien Gefangenen“ der Neuzeit. <strong>Die</strong> Frau, die in<br />

früheren Kulturen und fortschrittlichen Religionen eine erhabene Stellung in der<br />

Liebe, Kunst und der Gefühlswelt einnahm, wurde zu einem Gegenstand im<br />

<strong>Die</strong>nste der wirtschaftlichen und sozialen Zielvorstellungen, einem Mittel zur


Zerstörung der hohen moralischen Werte und der Umwandlung einer<br />

traditionellen bzw. ge<strong>ist</strong>ig-moralischen in eine sinnlose Konsum-Gesellschaft.<br />

Sie dient der Kunst- die früher die höchste Offenbarung der ge<strong>ist</strong>igen Arbeit<br />

war- als Sexobjekt, um den Menschentyp zu verändern.<br />

Im Orient<br />

Im Orient hatte man ein leichtes Spiel. Im Westen, insbesondere in Schweden,<br />

Norwegen, sogar in Frankreich und Deutschland macht sich der<br />

Geschlechtstrieb der Jungen relativ spät bemerkbar, so das sie sich mit 17 oder<br />

18 Jahren von Frauen noch nicht angezogen fühlen. <strong>Die</strong> Mädchen aber sind in<br />

diesem Alter auf dem Höhepunkt ihrer Geschlechtsreife. Daher wird der Mann<br />

von seiner Altersgenossin in Defensive gedrängt. <strong>Die</strong>s erzeugt in ihm<br />

Abwehrreaktionen, die er auch später nicht ablegen kann. Aus diesem Grunde<br />

haben nordeuropäische Soziologen und Psychologen zahlreiche Arbeiten<br />

darüber geschrieben, wie man den Geschlechtlieb des jungen Europäers<br />

künstlich oder aber natürlich durch Frauen stimulieren kann.<br />

<strong>Die</strong>se Schwierigkeit besteht im Orient nicht. Der junge Orientale wird vor der<br />

Volljährigkeit geschlechtsreif. <strong>Die</strong> geschlechtliche Frühreife stellt die<br />

orientalischen Soziologen und Physiologen vor große Probleme. Wer möchte<br />

sich schon der Sache dieser Generation annehmen und über ihre Probleme<br />

nachdenken?<br />

Denn hier geht es um die Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen, um ganz<br />

verschiedene Dinge. Es geht u die Mode, Geschmacksrichtungen, Gewohnheiten<br />

und besondere Verhaltensweisen. Menschliche Probleme ex<strong>ist</strong>ieren weder für<br />

die Anhänger des Althergebrachten noch des Modernen. Ein Streit <strong>ist</strong> zwischen<br />

Modern<strong>ist</strong>en und Rückständigen aufgeflammt. Weder der Sieg des einen noch<br />

des anderen nützt irgend jemanden. Der eine nennt sich fromm und<br />

rechtschaffen, der andere zivilisiert. Sie sind jedoch weder das eine noch das<br />

andere. Sie haben weder Beziehungen zur Zivilisation noch zur Religion. Für<br />

die eine Gruppe stellen <strong>Fatima</strong> und Zeinab, für die anderen die europäische Frau<br />

das Idealbild dar. Sie beleidigen damit beide, sie lügen entweder oder haben<br />

keine rechte Vorstellung von ihrem Ideal.<br />

Der Europäer möchte die orientalische Gesellschaft verändern, um sie<br />

auszuplündern und ihre Gedanken zu beherrschen. Er will sie um ihr tägliches<br />

Brot bringen und ihre Lebensauffassung und moralischen Werte völlig<br />

verändern; denn ohne diese Veränderung wäre er nicht imstande, sie<br />

auszuplündern.


Wir sollen bar unserer eigenen Identität alle menschlichen Werte vergessen, mit<br />

den Traditionen, die uns moralischen Halt bieten, brechen und zu Menschen<br />

ohne Denkvermögen, mit einem kranken Ge<strong>ist</strong> und aller Kreativität entblößt<br />

werden, wie leere Töpfe oder Abfalleimer, die man beliebig leeren oder mit<br />

Unnützen Dingen füllen kann.<br />

So wird in das Ge<strong>ist</strong>esleben des Orientalen eingegriffen. Wenn sein<br />

Ge<strong>ist</strong>esleben jeglicher Substanz beraubt <strong>ist</strong>, wenn er nicht mehr glauben und<br />

erkennen kann, keinen sittlichen Halt mehr hat und nichts mehr besitzt, worauf<br />

er stolz sein kann, wenn er glaubt, das seine Vergangenheit schmachvoll und<br />

wertlos, seine Religion sinnlos und phantastisch, seine ge<strong>ist</strong>ige Welt reaktionär<br />

und sein Leben hässlich und widerwärtig sind und er sich selbst, seine<br />

Vorfahren und seine ge<strong>ist</strong>ige Welt nicht oder nur ungenügend kennt, gleicht er<br />

einem in der Wüste Verdursteten. Es <strong>ist</strong> ihm gleich, womit sein Durst gestillt<br />

wird. Er hat weder die Wahl noch den Willen zu einer Differenzierung.<br />

Daher braucht man zur Ausplünderung des Orients die ge<strong>ist</strong>ige<br />

Selbstentfremdung. Für Moslems, Buddh<strong>ist</strong>en, Hindus, Iraner, Türken, Araber,<br />

Schwarz und Weiß gibt es nur einheitliche Parolen, damit sie zu<br />

eindimensionalen Menschen und Verbrauchern der wirtschaftlichen und<br />

ge<strong>ist</strong>igen Waren des Westens werden, ohne eigene Gedanken zu entwickeln.<br />

Aber Gemeinschaftssinn, menschliche Werte, Tradition und Religion und ihre<br />

Persönlichkeiten stolz waren. Sie hielten die Abendländer für neureich,<br />

kritisierten sie, traten ihnen entgegen und verwiesen sie in ihre Schranken. Das<br />

Abendland drang mit L<strong>ist</strong> und Tücke in diese Festung ein, überfiel den<br />

Orientalen und heimlichen Krankheiten, fraß sich allmählich von innen durch<br />

und vernichtete all jene Widerstandskräfte. <strong>Die</strong> stolzen Menschen, die<br />

Geschichte gemacht hatten, hießen demütig und leidenschaftslos den Feind<br />

willkommen, nahmen alles an, was ihnen angeboten wurde und taten alles, was<br />

ihnen angeboten wurde und taten alles, was der Abendländer zu wünschen<br />

beliebte.<br />

<strong>Die</strong> Rolle der Frau während des Überfalls<br />

In den islamischen Ländern spielte die Frau eine bedeutende Rolle bei der<br />

Veränderung der Sitten und Gebräuche, der alten Gesellschaftsordnung, der<br />

Gesellschaftsverhältnisse, der ge<strong>ist</strong>igen Werte und- noch wichtiger- der<br />

Konsumgewohnheiten (ebenso, wie sie bei ihrer Erhaltung eine bedeutende<br />

Rolle gespielt hatte), denn sie <strong>ist</strong>- besonders im Orient- gefühlsbetont und eher<br />

bereit, die neuen pseudo-zivilisatorischen Phänomene wie z.B. das neue<br />

Konsumangebot zu akzeptieren, zumal, wenn sie auf der einen Seite der


ständigen und verblendenden Ausstrahlung der Schönheit ausgesetzt <strong>ist</strong> und auf<br />

der anderen Seite nur der Hässlichkeit begegnet.<br />

In der Kolonialzeit ging der Europäer in betrügerischer Absicht zu den<br />

schwächsten Stämmen und bot den Eingeborenen farbigen Glasschmuck an, der<br />

viel schöner war als der echte. Abvisiert waren Häuptlinge, Grundbesitzer und<br />

Viehzüchter der primitiven Stämme, die – wie psychologisch erwiesen <strong>ist</strong>,<br />

waren sie umso mehr dem Luxus verfallen, je primitiver sie waren- sich zu ihren<br />

Festen mit dem unechten Schmuck behingen. Als Gegenle<strong>ist</strong>ung bekamen die<br />

Europäer Schafe, Grundstücke oder Konzessionen für Diamantenminen oder<br />

zum Anpflanzen von Kaffee. Bei diesem Geschäft spielt die modern<strong>ist</strong>ische, von<br />

Komplexen geplagte, auf das Äußere bedachte afrikanisch Frau eine besondere<br />

Rolle.<br />

In einer Pseudo-islamischen Gesellschaft wie der unsrigen leidet andererseits die<br />

orientalische Frau im Namen der Religion und der Tradition mehr denn je. Ihr<br />

werden das Recht auf Ausbildung, Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer<br />

ge<strong>ist</strong>igen Fähigkeiten sowie viele andere gesellschaftlichen Rechte vorenthalten.<br />

Nicht selten werden ihr im Namen des Islam Rechte und Möglichkeiten streitig<br />

gemacht, die ihr erst der Islam zugesprochen hatte. Ihre gesellschaftliche Rolle<br />

beschränkt sich auf die Funktion einer Waschmaschine und als Mensch <strong>ist</strong> sie<br />

nur Mutter der Kinder. Man schämt sich sogar, ihren Namen zu erwähnen und<br />

nennt sie mit dem Namen der Kinder, auch wenn diese Jungen sind.<br />

Unterdrücker und Unterdrückte<br />

„An einer Unterdrückung sind mindestens zwei Seiten beteiligt: Unterdrücker<br />

und Unterdrückte!“, hat einst Ali festgestellt. Unterdrückung einsteht nur durch<br />

dieses Zusammenwirken. Sie kann nicht einseitig zustande kommen. Es muss<br />

auch jemand da sein, der sich dem Willen des Unterdrückers beugt.<br />

Nicht nur an der Unterdrückung, sondern auch an der Korruption, dem<br />

moralischen Verfall, an Versagen und Niederlagen sind immer zwei Seiten<br />

beteiligt. Bei der Niederlage einer Gemeinschaft gibt es nicht nur einen Sieger,<br />

sondern auch einen Besiegten. Es war nicht Dschingis Khan, der uns im 7.<br />

Jahrhundert (nach islamischer Zeitrechnung = 13. Jahrhundert n Chr. )<br />

unterwarf, sondern es war unsere im Inneren zerfallenen Gesellschaft, die diesen<br />

Niedergang herbeiführte. Wir hatten uns seit dem %.Jahrhundert (11.<br />

Jahrhundert n.Chr.) auf die Niederlage vorbereitet. Dschingis Khan brauchte<br />

diesem verfallenen Gebäude nur einen Stoß zu versetzen. Wenn ein äußerlich<br />

mächtiger Baum durch einen Windstoß zu Boden fällt, hat dies weniger mit dem


Wind zu tun als mit der inneren Beschaffenheit des morschen Baumes, denn der<br />

Wind hat schon immer geweht.<br />

Wenn die südländische Frau von heute darauf besessen <strong>ist</strong>, die Farbe zu<br />

wechseln und zu einer europäischen Puppe (nicht zu einer europäischen Frau) zu<br />

werden, müssen wir die Schuld nicht nur auf der anderen Seite der Grenze beim<br />

fremden Kolonialismus suchen, sondern ebenfalls auf dieser Seite bei uns selber.<br />

Denn auch wir haben dazu in großem Maße beigetragen. Wir haben die Frau<br />

vergrault und sie dem Abendländer in die Arme getrieben.<br />

Wir nannten sie „schwaches Geschlecht“, „Klotz am Bein“, „Sklavin des<br />

Ehemannes“, „Mutter der Kinder“, „Weibsstück“, „Frauenzimmer“,<br />

„Weibsbild“ usw. Ihre Schöpfungsgeschichte trennten wir von der des<br />

Menschen. Wir diskutierten darüber, ob die Frau schreiben lernen dürfe und<br />

waren dagegen, weil wir fürchteten, sie könnte Briefe an fremde Männer<br />

schreiben (mit demselben Argument hätten wir ihr ebenfalls das Augenlicht<br />

verbieten können; auf diese Weise wäre der eifersüchtige Ehemann bis zum<br />

Ende seines Lebens seiner Sache sicher und brauchte die Untreue des<br />

„schwachen Geschlechtes“ nicht zu fürchten). Auf diese Weise sollten die<br />

Tugend und die sittliche Reinheit der Frau geschützt werden, und zwar durch<br />

Mauern und Ketten, nicht aber durch Erkenntnis und Bildung, wie es einem<br />

Menschen zusteht. Wir behandelten sie als ein wildes Tier, das man nicht<br />

erziehen und zähmen kann; sie wurde zu Hause festgehalten, um zu verhindern,<br />

das sie wegläuft. Ihre Sittsamkeit verglichen wir mit Tau, der keinen<br />

Sonnenschein verträgt. Sie glich einer Gefangenen, der der Zutritt zu Schulen,<br />

Bibliotheken und der Gesellschaft verwehrt blieb. Wie die Unberührbaren zählte<br />

sie in der Gesellschaft nicht zu den Menschen. Wir glaubten zwar, das der<br />

Mensch ein soziales Wesen sei, hielten die Frau aber von der Gesellschaft fern.<br />

Der Spruch des Propheten:<br />

„Jeder Moslem, ob Frau oder Mann, <strong>ist</strong> verpflichtet zu lernen.“, wurde zwar bei<br />

jeder Gelegenheit von der Kanzel herab verkündet und man sprach den ganzen<br />

Monat Ramadan darüber, aber wenn es darauf ankam, hatte nur der Mann das<br />

Recht zu lernen. Der Frau, abgesehen von einigen reichen Familien, die sich<br />

Privatlehrer le<strong>ist</strong>en konnten, blieb das Recht auf Bildung verwehrt. Sie durfte<br />

dieses Gebot der Religion nicht erfüllen.<br />

An religiösen Aktivitäten und Vorlesungen über den Koran, die Exegese, die<br />

Tradition des Propheten, Philosophie, Mystik und Geschichte durfte sie nicht<br />

teilhaben. Ihr wurde nur zugestanden, bei Trauerversammlungen einsam in einer<br />

Ecke zu sitzen und für sich allein zu weinen. Am Anfang einer Trauerrede gab<br />

der Prediger Wissenswertes zum Besten. Der Hauptadressat war hierbei der<br />

Mann, denn die Frau besaß als Analphabetin keine Allgemeinbildung und<br />

konnte die tiefsinnigen Worte nicht verstehen. <strong>Die</strong> Frauen wurden nicht


angesprochen, sondern mit den Worten „sei ruhig, Du Schwachkopf! Benimm<br />

Dich, lass Dein Kind nicht so schreien!“ angeschrieen. Angeschrienen wurde die<br />

Frau und angeredet der Mann. Wenn dann gegen Ende einer Trauerrede der<br />

Prediger zu der Stelle kam, wo geweint werden sollte, pflegte er sich an die<br />

Frauen zu wenden und sie erst jetzt mit gebührendem Respekt zum Weinen zu<br />

ermutigen, damit seine Trauerversammlung in Schwung käme.<br />

<strong>Die</strong> Frau produzierte zu Hause Kinder und in der Gesellschaft Tränen; nur so<br />

weit reichten ihre Produktivkräfte.<br />

Ist <strong>Fatima</strong> der Idealtyp dieser Frauen?<br />

Sie erzog eine Tochter wie Zeinab, die sich nach der Ermordung ihrer Familie,<br />

unter anderem zweier ihrer Brüder, in die Hauptstadt des Schreckens begab, den<br />

mächtigen Umayyaden- Herrscher als Mörder zur Rede stellte und ihm in aller<br />

Ruhe sagte, sie sei darauf stolz, das der göttliche Segen ihrer Familie zuteil<br />

geworden sei. Ist eine solche Erhabenheit und ge<strong>ist</strong>ige Größe das Ideal der<br />

Frauen, die sich vor Spinnen fürchten?<br />

Der Frau wurde alles vorenthalten, sogar der Islam. Sie durfte nicht einmal ihre<br />

eigene Religion kennen lernen. Einer ge<strong>ist</strong>igen Beschäftigung konnte sie nicht<br />

nachgehen, weil sie keine Bildung besaß. Daher redete sie zum Zeitvertreib über<br />

andere Leute. Da sie keine kulturellen und religiösen Veranstaltungen besuchen<br />

durfte, organisierte sie selbst Trauersitzungen. Man hielt sie dem Manne ge<strong>ist</strong>ig<br />

mit der Begründung nicht für ebenbürtig, das sich die Frau nicht wie der Mann<br />

täglich in vielen Veranstaltungen weiterbilden könne. Man könnte ebenso gut<br />

jemanden die Hand abhacken und ihn von allen Aktivitäten mit der Begründung<br />

ausschließen, er sei den anderen nicht ebenbürtig. So willkürlich <strong>ist</strong> die<br />

Behandlung der Frau in unserer Gesellschaft. Aberglaube, Ignoranz,<br />

Rückständigkeit, überholte Bräuche, Hypotheken der primitiven und<br />

patriarchalischen Gesellschaft sowie sexuelle und psychische Komplexe bilden<br />

ein Spinnennetz, worin sich die Frau verfangen hat. Es <strong>ist</strong> umso bedauerlicher,<br />

als sie in ihrem Gefängnis im Namen des Islam, der Tradition und als Ebenbild<br />

<strong>Fatima</strong>s festgehalten wird.<br />

All das wird sowohl mit sittlicher Reinheit als auch damit gerechtfertigt, das die<br />

Frau ihre Kinder zu erziehen und unfähig bezeichnet und von jeglicher Bildung,<br />

Erziehung und kulturellen, ge<strong>ist</strong>igen und gesellschaftlichen Tätigkeit<br />

ausgeschlossen werden, die Generation von morgen erziehen? Vielleicht meint<br />

man damit auch „Kinder züchtigen“.<br />

Von einem schwachen, hausgebundenen, ge<strong>ist</strong>ig zurückgehaltenen und ohne<br />

Erziehung herangewachsenen Geschöpf kann man nicht erwarten, das es sich in<br />

die empfindsame kindliche Psyche hineindenkt. <strong>Die</strong> Frau kann das Kind stillen


und trockenlegen, sonnst nichts. Seine Erziehung wird sie mit Schimpfen und<br />

weinen, Schreien und Fluchen und wenn ihre körperlichen Kräfte dazu<br />

ausreichen, mit Prügel versuchen. Wenn alles nicht fruchtet, wird sie die <strong>Die</strong>nste<br />

der „Dschinnen“ , des Todesengels, von Schreckengespenstern und des<br />

„schwarzen Mannes“ in Anspruch nehmen, um dem Kind Angst einzujagen. Das<br />

sind die Mittel und Wege im Erziehungssystem einer Frau, die selbst nicht<br />

erzogen wurde und daher ihren speziellen Auftrag nicht erfüllen kann.<br />

In unserer traditionellen und rückständigen Gesellschaft wurde die Frau, die<br />

unter dem Scheinschutz der Religion stand, nur „gemästet“. Sie wurde<br />

volljährig, ohne ein einziges Mal an die frische Luft zu kommen. Gegen eine<br />

bestimmte Summe, die zwischen Verkäufer und Käufer ( ihren vorherigen und<br />

späteren Besitzern) vereinbart wurde, kam sie in das Haus , war sie, wie die<br />

Besitzurkunde sie arbeits- und wertmäßig einstufte, eine ehrbare <strong>Die</strong>nerin (daher<br />

nannte man den verheirateten Mann, „Besitzer einer <strong>Die</strong>nerschaft“) .Sie<br />

übernahm die Hausarbeit, kochte, stillte die Kinder, passte auf sie auf, putzte das<br />

Haus und führte den Haushalt. Sie war <strong>Die</strong>nerin und Krankenpflegerin, da sie<br />

jedoch dafür nicht entlohnt wurde, diente sie im Namen der Religion und das<br />

Gesetzes. Sie war außerdem noch Ehefrau, weil ihr Herr und Besitzer<br />

gleichzeitig ihr Ehemann war. Man nannte sie Mutter, weil sie die Kinder ihres<br />

Ehemannes pflegte, sie war jedoch bestenfalls Haushälterin und Amme, denn für<br />

eine andere Rolle war sie nicht erzogen worden. Ganz besonders möchte ich hier<br />

das Verhalten der reichen Väter und Ehemänner rügen , die ihren Töchter und<br />

Ehefrauen im Namen der Religion das Recht auf Bildung und Erziehung<br />

vorenthalten haben, nur weil sie Frauen sind, und dies, obwohl viele Frauen in<br />

der islamischen Geschichte hohe wissenschaftliche Würden erlangt hatten, in<br />

der Lehre und Forschung tätig gewesen waren und viele wertvolle<br />

wissenschaftliche und philosophische Werke verfasst hatten. <strong>Die</strong> Mädchen und<br />

Frauen, die nicht über die finanziellen Möglichkeiten verfügten, sich<br />

auszubilden zu lassen, und im Hause ihrer Väter und Ehemänner arbeiten,<br />

verdienen unsere Anerkennung.<br />

Lächerlich sind jene oberflächlichen Frauen, die sich Hausfrauen nennen. <strong>Die</strong>se<br />

Sorte <strong>ist</strong> eine unerträgliche Erscheinung. Sie ähnelt weder der eben<br />

geschilderten Frau noch der Nomaden- und Bauersfrau auf dem Lande, die<br />

zusammen mit ihrem Mann Ackerbau und Viehzucht betreibt, an Arbeit und<br />

Verdienst beteiligt <strong>ist</strong>, Unkraut jätet, das Vieh füttert, die Ernte einbringt, die<br />

Kühe und Ziegen melkt, Milchprodukte für den Eigenbedarf und zum Verkauf<br />

hergestellt, die Wolle verarbeitet und spinnt, Kleider näht, die Kinder stillt,<br />

kocht und den Haushalt führt. Sie <strong>ist</strong> Ehefrau, Mutter, Arbeiterin, Künstlerin,<br />

Haushälterin und Pflegerin zugleich. Sie wächst so frei wie die Pflanzen auf<br />

dem Felde. Ihre Liebe <strong>ist</strong> so rein wie die der Turteltauben in den Steppen,<br />

zärtlich gebiert und pflegt sie ihre Kinder und bleibt wie die Tauben ihrem Nest<br />

treu. Ihre Verbundenheit zu ihrem Haus wird nicht mit Mauern und Ketten


erzwungen, sie gibt ihre Freiheit aus Liebe zur Familie auf. Sie kann sie<br />

verschenken, weil sie ihr nicht genommen wurde. <strong>Die</strong> andere Frau will<br />

weglaufen, ihre Freiheit erlangen, weil sie keine hatte.<br />

Unsere oberflächliche Hausfrau ähnelt auch nicht der europäischen Frau, welche<br />

i einer Familie eine gleichberechtigte Partnerin <strong>ist</strong>. Beide arbeiten sowohl<br />

draußen als auch zu Hause, erziehen ihre Töchter genauso frei wie ihre Söhne,<br />

die Mädchen dürfen ihre Persönlichkeit in der Gesellschaft frei entfalten, ihre<br />

eigenen Erfahrungen sammeln, lernen, das Gute vom Bösen zu unterscheiden,<br />

die Tücken und Rätsel des Lebens kennen lernen, sich wie die Männer<br />

vergnügen, studieren, die Gedanken- und Fachwelt kennen lernen,<br />

gesellschaftliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangen und schließlich<br />

den zukünftigen Partner ihres Lebens selbst auswählen.<br />

Unsere oberflächliche Frau <strong>ist</strong> in Wirklichkeit nicht einmal Hausfrau. Sie sitzt<br />

zwar zu Hause, hätte die Hausarbeit le<strong>ist</strong>en können, tut es jedoch nicht, weil sie<br />

die finanziellen Möglichkeiten besitzt, <strong>Die</strong>ner, Köche und Kinderfrau<br />

einzustellen. <strong>Die</strong>se führen den Haushalt und versorgen die Kinder, sie aber<br />

bleibt eine Hausfrau ohne Hausarbeit. Sie arbeitet nicht auf dem Felde, weil sie<br />

keine Bäuerin <strong>ist</strong>; sie betreibt keine Viehzucht, weil sie nichts davon versteht;<br />

sie geht keiner Beschäftigung nach, weil sie keine Europäerin <strong>ist</strong>; sie le<strong>ist</strong>et<br />

keine ge<strong>ist</strong>ige Arbeit, weil sie keine Bildung besitzt; sie liest keine Bücher, weil<br />

sie Analphabetin <strong>ist</strong>.<br />

Was <strong>ist</strong> das für ein seltsames Geschöpf?<br />

Was tut sie eigentlich?<br />

Welche Rolle spielt sie in dieser Welt?<br />

Überhaupt keine!<br />

Ist es möglich, das ein Typ Frau keinem der im Osten und Westen bekannten<br />

alten und neuen Frauentypen entspricht?<br />

Keine der Frauen auf dem Felde, im Amt, am Fließband, in der Schule, im<br />

Krankenhaus, in Kunst, Wissenschaft, im Haushalt und nicht einmal auf den<br />

Zeitschriften entspricht diesem Frauentyp.<br />

Wollen Sie wissen, was diese Frauen eigentlich tun?<br />

Wie sie sich die Zeit vertreibt?<br />

Im Grunde genommen sind sie beschäftigt, mehr als jene fleißige Bäuerin auf<br />

dem Felde. Üble Nachrede, Neid, Rivalität, Verleumdung, Lüge,<br />

Zurschaustellung, Koketterie und Getändel dürften nicht weniger Zeit in<br />

Anspruch nehmen.


<strong>Die</strong> „Hausfrau“ dieser Art wusste schon immer, wie sie sich die Zeit vertreiben<br />

konnte. Auch in früheren Zeiten, als noch die alten Gesellschaftsverhältnisse<br />

herrschten, wussten sie schon, wie sie die erschreckende ge<strong>ist</strong>ige Leere ihres<br />

Daseins ausfüllen konnte.<br />

Das öffentliche Frauenbad, wohin sie sich einmal pro Woche Begab, glich<br />

einem Seminar, an dem honorige Herrinnen der Gesellschaft teilnahmen, deren<br />

gemeinsame Merkmale Müßiggang, Sorglosigkeit und Wohlstand waren. Sie<br />

erzählten mit Stolz bewegende Geschichten aus ihrem Leben, ließen ihrer<br />

Phantasie freien Lauf und reagierten somit ihre psychischen Komplexe ab.<br />

Seltsamerweise wusste jede, das die Geschichten erfunden waren, hörte aber<br />

dennoch mit Bewunderung, gespannt und aufmerksam zu, um die Rednerin für<br />

die eigene Zurschaustellung als Zuhörerin zu gewinnen, denn auch sie bedurfte<br />

der Gelegenheit, ihre Komplexe, die sich infolge eines unerfüllten, einsamen,<br />

unbewegten und sinnlosen Lebens angestaut hatten, durch Getue,<br />

Geschwätzigkeit, Phantasterei und persönliche Racheakte abzureagieren.<br />

<strong>Die</strong> Frauen der Wohlstandsklasse suchen heutzutage keine öffentlichen Bäder<br />

mehr auf. Der Modernismus hat ihnen das eigene Badezimmer zu Hause<br />

beschert und verbietet ihnen, aus gesellschaftlichen Gründen öffentliche<br />

Badehallen für diesen Zweck aufzusuchen. Statt dessen sind Frauenclubs<br />

eröffnet worden, welche die honorigen Hausherrinnen zu ihrem wöchentlichen<br />

Plausch einladen.<br />

<strong>Die</strong> alten religiösen oder pseudo-religiösen Partys gehören der Vergangenheit<br />

an. Das Festmahl zum Einlösen eines Gelübdes, die saisonale Trauerfeier, das<br />

Opferfest, die Brautschau, die Verkuppelung usw., die unter dem Deckmantel<br />

der Religion und des Brauchtums veranstaltet wurden und dazu beitrugen, die<br />

Einsamkeit und Langeweile zu überwinden und der Frau ein falsches Gefühl der<br />

Aktivität und Verantwortung und des Zielbewusstseins zu geben, wobei sie<br />

Gelegenheit bekam, ihre Schönheit, ihre Kleider und ihren Schmuck zur Schau<br />

zu stellen, sind inzwischen passee. Junge Frauen nehmen nur widerwillig und<br />

den Eltern zuliebe an diesen Versammlungen teil. In einer solchen Umgebung<br />

fühlen sie sich befangen und fremd und möchten bei der ersten Gelegenheit<br />

fortlaufen.<br />

Ihre Töchter wiederum, die einer anderen Generation angehören, leben zwischen<br />

zwei Welten. <strong>Die</strong> Welt ihrer Großmutter besteht ihrer Ansicht nach aus<br />

überlieferter Dummheit und erdrückend hässlichem Aberglaube.<br />

Religiöse Versammlungen und Festmähler wollen sie in der Vergangenheit<br />

festhalten. Sie dagegen fühlen sich von Büchern, Übersetzungen, Romanen.<br />

Literarischen und künstlerischen Werken der Gegenwart angezogen. Sie haben


den Ge<strong>ist</strong> ihrer Zeit ihrer Zeit mehr oder weniger erfasst und sind in der Schule<br />

mit der Wissenschaft oberflächlich in Berührung gekommen. Daher flüchten sie<br />

aus diesen Trauerversammlungen, wo in den me<strong>ist</strong>en Fällen ungebildete<br />

Prediger langweilige und unerträgliche Geschichten erzählen.<br />

Wohin wollen sie aber?<br />

<strong>Die</strong> Aufforderung, die sie von der anderen Seite erhalten, kommt von obskuren<br />

Party- und Tanzveranstaltungen und verrufenen Bars und Nachtlokalen, wo sie<br />

nur als Sex-Objekt betrachtet werden.<br />

Sie wollen ihre Menschenwürde bewahren und ihrem Glauben und ihrer Moral<br />

treu bleiben. Was ihnen aber von ihren Eltern, von der Familie und dem<br />

örtlichen Ge<strong>ist</strong>lichen im Namen der Religion, Moral, Sittlichkeit und<br />

Frömmigkeit als Alternative angeboten wird, <strong>ist</strong> eine Anhäufung von negativen<br />

Aufforderungen wie: Geh nicht, tu nicht, lese nicht, sehe nicht, sage nicht, lerne<br />

nicht, schreibe nicht, wünsche nicht und verstehe nicht.<br />

Wir sehen, lebt die Mutter in einem sinnlosen und absurden Wohlstand; sie hat<br />

weder ein Ziel noch eine Verantwortung oder eine Lebensphilosophie. Sie<br />

verfügt zwar über Geld und <strong>ist</strong> sorgenfrei, aber sie hat keine Aufgabe, um die<br />

Eintönigkeit ihres Lebens zu überwinden. So sucht sie Abwechslung beim<br />

Einkauf; herausgeputzt und übertrieben mit Schmuck unter dem Schleier<br />

beladen geht sie hinaus und versucht, mit dem Einkauf von teuren Gegenständen<br />

Spannungen in ihr Leben zu bringen.<br />

Ihre Tochter bleibt von dieser Art Spannung unberührt. Sie atmet zwar den<br />

Ge<strong>ist</strong> der Gegenwart, <strong>ist</strong> aber zwischen zwei Welten hin- und hergerissen. Einer<br />

solchen Zerreißprobe kann sie nicht standhalten. Ihr Herz hängt an den<br />

romantischen Träumen der Jugend, den Ausstrahlungen der Liebe und der<br />

Freizügigkeit, an sexuellen Versuchungen und phantasievollen Vorstellungen<br />

von einer neuen Welt, deren Grenzen sie gerade erreicht hat und in die sie mit<br />

verstohlenen Blicken verwundert hineinschaut. Ihr Körper hat sich jedoch im<br />

Netz der elterlichen Gebote und Verbote verfangen. Sie hat das Gefühl, das sie<br />

aufgrund ihres weiblichen Geschlechtes als Schmuggelware betrachtet wird und<br />

daher solange in ihrem Versteck ausharren muss, bis ein vertrauenswürdiger<br />

Schmuggler kommt und sie in sein Frauengemach einführt. Ihr einziges<br />

Betätigungsfeld <strong>ist</strong> bislang die Strecke zwischen Küche und Bett, denn der Leib<br />

und Unterleib des „Herren der Schöpfung“ verleihen ihr erst ihre<br />

Ex<strong>ist</strong>enzberechtigung und ihren Lebensauftrag. Er lässt sie nicht einmal an<br />

seinem an seinen religiösen Empfindungen und Versammlungen teilhaben.<br />

Sogar die Religion wurde weiblich und männlich; religiöse Belehrungen,<br />

Klagelieder, Trauerversammlungen und das Einlösen religiöser Gelübde sind die<br />

Religion der Frau- Bildung, Predigt, Bibliothek. Lehre, Diskussion und<br />

Vorlesungen die Religion des Mannes.


Der Ruf des Kolonialismus<br />

Der Kolonialismus stößt hier auf fruchtbaren Boden. Sein Ruf findet Widerhall.<br />

Er fordert sie auf, sich zu befreien.<br />

Wovon befeien?<br />

Einfach von allem. Du erstickst, hast keine Rechte, Dir wird alles vorenthalten.<br />

Wer unter einer Last erdrückt wird und kaum noch atmen kann, denkt an erster<br />

Stelle daran, sich so schnell wie möglich von dieser Last zu befreien; auf das<br />

„Wie“ kommt es dabei nicht an. <strong>Die</strong> Frau wird frei, aber nicht durch Wissen,<br />

Kultur, Aufklärung, Erkenntnis und Weltanschauung, sondern durch die Schere!<br />

Nur der Schleier wird abgeschnitten.<br />

Plötzlich <strong>ist</strong> die Frau aufgeklärt. <strong>Die</strong> Komplexe der islamischen und<br />

orientalischen Frau dienten den Psychologen und Soziologen dazu, im <strong>Die</strong>nste<br />

der Weltwirtschaft und des Kolonialismus die Neigung der Frau zum Kaufen als<br />

ein unterscheidendes Merkmal der Frau gegenüber dem Mann hervorzuheben. In<br />

Anänderung der Ar<strong>ist</strong>otelischen Definition des Menschen , „er sei ein redendes<br />

Tier“, wird nun behauptet, die Frau sei ein „kaufendes Tier“, als ob sie zu nichts<br />

anderem fähig wäre, keine Gefühle hätte, keine andere Rolle im Leben spielte<br />

und weder Ziel- noch Wertvorstellungen hätte.<br />

Eine für die orientalischen Frauen bestimmte Zeitschrift schrieb, das in Teheran<br />

in den Jahren 1956/66 der Verbrauch von Kosmetika um das Fünfhundertfache<br />

und die Zahl der Kosmetikinstitute gleichermaßen gestiegen sei. Das <strong>ist</strong> eine<br />

stolze Zahl, vielleicht beispiellos in der Geschichte der Menschheit. Der<br />

Verbrauch einer Ware steigt normalerweise bestenfalls um 10 oder 20% , nicht<br />

aber um 50.000%. <strong>Die</strong>s <strong>ist</strong> ein symbolischer Verbrauch. Wenn vor zehn Jahren<br />

Teheran 100.000 Toman für Puder, Lippenstift und falsche Wimpern<br />

ausgegeben wurden, so sind es heute 50 Millionen. Wurden vor zehn Jahren 10<br />

Millionen ausgegeben, so sind es heute 50 Milliarden Toman.<br />

<strong>Die</strong> Veränderung einer Konsumgewohnheit zieht andere Veränderungen nach<br />

sich. Kleide ich mich veranlasst, mein Schuhwerk und meine Mütze ebenfalls<br />

nach westlichen Muster zu ändern. Auch die Einrichtung meines Hauses bleibt<br />

davon nicht verschont.<br />

Wenn der Abendländer in einer fremden Gesellschaft einen neuen Artikel<br />

einführt, ebnet er damit den Weg für die anderen Waren. <strong>Die</strong> Veränderung der<br />

Konsumgewohnheit <strong>ist</strong> ein Indiz dafür, das der Verbraucher sich ebenfalls


verändert, denn es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem<br />

Verbraucher und seiner Gewohnheit.<br />

Der Veränderung des Konsumverhaltens muss eine grundlegende<br />

Umorientierung der Anschauung, des Geschmacks und des<br />

Geschichtsverständnisses vorrausgegangen sein. In den islamischen Ländern soll<br />

die Frau nicht nur zu einem Verbraucher der westlichen Waren umerzogen<br />

werden, sondern sie soll außerdem aufgrund ihrer Fähigkeit, durch die Familie<br />

auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Generationen von heute und morgen,<br />

die Gesellschaftsordnung, die moralischen Werte, die Weltanschauung, Literatur<br />

und Kunst Einfluss nehmen zu können, aktiviert werden.<br />

<strong>Die</strong> Erfordernisse der Zeit, die Kultur, die gesellschaftlichen Möglichkeiten, die<br />

moderne Wirtschaft, die veränderten Gesellschaftsverhältnisse und neue Ideen<br />

verändern zwangsläufig den Menschentyp und seine Gewohnheiten. <strong>Die</strong> Frau<br />

ändert ebenfalls die Form und den Inhalt ihrer Lebensweise, denn die<br />

Lebensbedingungen der Vergangenheit wären für die Frau von heute unmöglich<br />

und unzureichend.<br />

Da diese Veränderung unvermeidlich sind und sich die Denker und<br />

Aufgeklärten der Gesellschaft äußerst ungeschickt verhalten, fällt dem<br />

Kapital<strong>ist</strong>en die Aufgabe zu, dieser Frau, die gerade aus ihrer traditionellen<br />

Schale herausgeschlüpft <strong>ist</strong>, eine eigene Aufmachung anzubieten, ihr die<br />

gewünschte Form zu geben und sie damit zu beauftragen, die Gesellschaft nach<br />

seiner Vorstellung umzugestalten und mit den Worten Francos, „eine fünfte<br />

Kolonne im Inneren zu schaffen“.<br />

Was sollen wir tun?<br />

Wie sollen wir auf erzwungene ge<strong>ist</strong>ige Veränderungen reagieren?<br />

Wer hat hier den Auftrag, dagegen etwas zu unternehmen?<br />

Weder die der Tradition und Vergangenheit verhaftete Frau noch die neue, nach<br />

den Vorstellungen des Gegners geformte Puppe können jedoch bei der Lösung<br />

dieses Problems eine Rolle spielen.<br />

Sie <strong>ist</strong> vielmehr eine Frau, die mit den starren alten Traditionen- welche die<br />

reaktionäre Denk- und Verhaltensweise im Namen der Religion in der<br />

Gesellschaften erhalten sollen- bricht und neue menschliche Eigenschaften<br />

annimmt. <strong>Die</strong>se Rolle muss vielmehr von einer Frau übernommen werden, die<br />

sich weder mit den überlieferten und toten Gedanken der Vergangenheit noch<br />

mit den verführerischen, eingeführten Parolen zufrieden gibt. Sie erkennt hinter


der Maske der Freiheit das hässliche Gesicht der Unmenschlichkeit, der<br />

ge<strong>ist</strong>igen Abhängigkeit und der Diskriminierung der Frau.<br />

Nur sie weiß, wer seine Hände im Spiel hat, wenn uns eine andere Lebensweise<br />

angeboten oder aufgezwungen wird. Aufgeputzte Puppen, denen es an<br />

Empfindungen, Verstand, Verständnis, Verantwortungsgefühl und menschlichen<br />

Gefühlen fehlt, sind der Frauentyp, der uns angeboten wird. Sie wissen wohl,<br />

wes Ge<strong>ist</strong>es Kind dieser Typ <strong>ist</strong>. Sie wollen weder das eine noch das andere. Für<br />

sie geht es um das „Wie“. Sie wollen sich die Wahl nicht nehmen lassen und<br />

sich weder dem Vergangenen noch dem Gegenwärtigen unterordnen. Sie suchen<br />

ein Vorbild, dem sie nachstreben können.<br />

Wen?<br />

<strong>Fatima</strong><br />

<strong>Fatima</strong> war die vierte und jüngste Tochter des Propheten. Sie wurde als letztes<br />

Kind einer Familie geboren, die keinen Sohn mehr hatte und in einer<br />

Gesellschaft, in der der Wert einer Familie nach der Zahl ihrer Söhne beurteilt<br />

wurde.<br />

<strong>Die</strong> arabischen Stämme hatten bis zur vorislamischen Zeit die martialische<br />

Gesellschaftsordnung hinter sich gelassen. Ihr Leben wurde von der<br />

patriarchalischen Gesellschaftsordnung bestimmt. Götter wurden männlich,<br />

Götzen und Engel weiblich. Der Stamm wurde von den „Ältesten“ (Scheichs)<br />

regiert, in der Familie und Großfamilie herrschte der Großvater. <strong>Die</strong> Religion<br />

war die Tradition der Väter. <strong>Die</strong> Anschauungen der Vorfahren dienten als<br />

Maßstäbe in Glaubensdingen. Alle im Koran erwähnten Propheten lehnten sich<br />

gegen die Religion der Vorfahren auf. Ihr Volk le<strong>ist</strong>ete Widerstand gegen diese<br />

Auflehnung und die Rückkehr zu den Ursprüngen der Religionen. Es wollte die<br />

Tradition der Väter aufrechterhalten. <strong>Die</strong>s war eine traditional<strong>ist</strong>ische Reaktion<br />

aufgrund des Patriarchentums, das andere ein bewusster, revolutionärer Auftrag<br />

auf der Basis des Monotheismus.<br />

Außerdem räumte das Stammesleben unter den harten Bedingungen der Wüste<br />

und mit Rücksicht auf feindselige Beziehungen der Stämme untereinander, die<br />

sich me<strong>ist</strong>ens in Angriff und Verteidigung erschöpften, dem Sohn eine<br />

Sonderstellung ein, die nur mit der Nützlichkeit seiner militärischen Le<strong>ist</strong>ungen<br />

zu rechtfertigen war. Da aber nach einem allgemeingültiges Gesetz der<br />

Soziologie die Nützlichkeit mit der Zeit den Wert ersetzt, hielt man den Sohn<br />

der Familie an sich für etwas Besseres; man schrieb ihm größere ge<strong>ist</strong>ige<br />

Fähigkeiten und höheres moralisches Ansehen in der Gesellschaft zu. Im


gleichen Maße wurde die Tochter der Familie herabgewürdigt, gedemütigt und<br />

ihre Stellung geschwächt. Der Demütigung folgte die Gefangenschaft und die<br />

Gefangenschaft minderte ihren Wert. Sie wurde zum Besitz des Mannes, zu<br />

einer Schande für den Vater und zum sexuellen Objekt des Ehemannes.<br />

Sie wurde zum Schreckengespenst für jeden eifersüchtigen Ehemann, der darauf<br />

bedacht war, das sie ihm keine Schande mache. Sicherer wäre es natürlich<br />

gewesen, sie noch als Kind lebendig zu begraben, damit die Ehre der Männer<br />

der Familie nicht befleckt werde, nach den Worten Ferdousis (36):<br />

„Frau und Drache gehören unter die Erde, wenn man die Welt von ihrer Schande<br />

befreien möchte.“<br />

Mit dieser Absicht <strong>ist</strong> er in bester Gesellschaft mit jenem arabischen Dichter, der<br />

gesagt hat:<br />

„Jeder Vater, der seine Tochter am Leben lassen will, denke an drei Bräutigame<br />

für sie: der erste <strong>ist</strong> das Haus, in dem er sie versteckt, der zweite der Ehemann,<br />

der sie aufnimmt und der dritte das Grab, das sie bedeckt. Das Grab aber <strong>ist</strong> der<br />

beste Bräutigam für sie.“<br />

<strong>Die</strong>se Vorstellung schien im Ge<strong>ist</strong>e aller eifersüchtiger Männer zu ex<strong>ist</strong>ieren.<br />

Jeder Vater oder Bruder, der wert auf die Ehre seiner Familie und Ahnen legte<br />

und etwas von Ruhm und Schande verstand, wartete sehnsüchtig darauf, das<br />

seine Tochter bzw. seine Schwester die Ehe mit dem Tod, diesem schrecklichen<br />

Bräutigam, einging, mit anderen Worten, sie wünschten den besten Bräutigam<br />

für sie, denn nach einem arabischen Spruch galt es als edle Tat, ein Mädchen<br />

lebendig zu begraben.<br />

Daher tadelt der Koran diese eifersüchtigen Wilden mit den Worten:<br />

„Wenn einem von ihnen die Geburt eines weiblichen Wesens angesagt wird,<br />

blickt er ständig finster drein und grollt.“<br />

<strong>Die</strong> islamische Schriftstellerin Dr. Aishe Abd al-Rahman Binti Shatti macht<br />

aufgrund ihrer Koranuntersuchungen die bedeutende Feststellung, das diese<br />

tragische Handlungsweise wirtschaftliche Gründe hatte und die Angst vor<br />

Armut die vorislamische arabische Gesellschaft dazu veranlasste. Das bestätigt<br />

die von den me<strong>ist</strong>en Soziologen vertretene Ansicht, das die moralischen und<br />

ideellen Begriffe über die Frage der Geschlechter und Empfindungen wie Ehre<br />

und Stolz bei der Geburt der Tochter und Bedenken, das die Frauen während<br />

eines Krieges in Gefangenschaft geraten könnten, sekundäre Erscheinungen sind<br />

und auf Ursachen wirtschaftlicher Natur beruhen, die im Laufe der Zeit solche<br />

Formen angenommen haben. Wie schon oben erwähnt, erforderten die


Gesellschaftsordnung der Stämme, die harten Lebens- und Produktionsbedingungen<br />

(besonders in der arabischen Wüste) und die ständigen<br />

Stammesfehden einen besonderen, harten Menschentyp. Aus diesem Grunde<br />

wurde der Mann zwangsläufig aus wirtschaftlichen Klassenunterschied.<br />

Der Mann gehörte der herrschenden und besitzenden, die Frau der beherrschten<br />

und besessenen Klasse an. Ihre Beziehung zueinander war die eines Herren zu<br />

seinem Untertanen. <strong>Die</strong> wirtschaftlich unterschiedliche Stellung der<br />

Geschlechter hatte zur Folge, das sie auch moralisch und ge<strong>ist</strong>ig mit zweierlei<br />

Maß gemessen wurden. <strong>Die</strong>se Entwicklung kann man ebenfalls bei den<br />

besitzenden Familien beobachten, die durch ihre wirtschaftliche Macht zu<br />

moralischem und ge<strong>ist</strong>igem Ansehen gelangen und erbliche Tugenden, noble<br />

Charakterzüge, natürliche Vornehmheit und blaues Blut zugebilligt bekommen.<br />

<strong>Die</strong> Armut dagegen macht das alles zunichte.<br />

Daher wird die Geburt einer Tochter als Schmach und Schande empfunden, weil<br />

die Eltern u.a. befürchten müssen , das sie eventuell nicht standesgemäß<br />

verheiratet werden kann. Meines Erachtens hat diese Befürchtung, die ja auf<br />

moralischen Bedenken beruht, einen handfesten wirtschaftlichen Hintergrund,<br />

Es soll nämlich gewährle<strong>ist</strong>et sein, das Eigentum ungeteilt auf die nächste<br />

Generation der Familie übergeht. Daher wird in der patriarchalischen<br />

Gesellschaftsordnung der älteste Sohn als Alleinerbe eingesetzt. Er erbt alles,<br />

auch die Aufsichtspflicht über die Frauen des Vaters, also auch über die eigene<br />

Mutter. <strong>Die</strong> Töchter werden vom Erbe ausgeschlossen, damit das Vermögen des<br />

Vaters nicht geteilt wird und durch die Heirat der Tochter auf andere Familien<br />

übergeht. Aus diesem Grunde ex<strong>ist</strong>iert noch heute in alten iranischen<br />

Adelsfamilien der Brauch, das Ehen nur innerhalb der Großfamilien geschlossen<br />

werden. <strong>Die</strong>se Ehen unter Vettern und Kusinen seien im „Himmel“ geschlossen<br />

worden; natürlich will man dadurch verhindern, das sie auf dem „Standesamt“<br />

mit einem Fremden die Ehe eingehen und der Familie mit dem Austritt der<br />

Kusine aus der Familie ein Teil des Vermögens verloren geht.<br />

Sowohl die alten Geschichtsschreiber als auch die neuen Religionswissenschaftler<br />

fanden für das Lebendigbegraben der Mädchen in der<br />

vorislamischen Zeit viele Erklärungen. Sie versuchten, es mit Begriffen wie<br />

„angst vor Schande“, „Ehrgefühl“ und „Abneigung gegen nicht-standesgemäße<br />

Heirat der Mädchen“ zu erklären.<br />

Einige Oriental<strong>ist</strong>en und Religionsh<strong>ist</strong>oriker hielten es für die Fortsetzung jenes<br />

Brauches in den primitiven Religionen, nach dem die Mädchen den Gottheiten<br />

geopfert wurden. Der Koran macht in diesem Punkt eine richtige und klare<br />

Feststellung:


Hier wird Armut als Ursache genannt, also der wirtschaftliche Faktor. Alles<br />

andere sind leere Redensarten. Der koranische Ausdruck will nicht nur der<br />

Sache auf den Grund gehen, sondern in aller Offenheit diejenigen anprangern,<br />

die für das Begraben ihrer Töchter bei lebendigem Leibe moralische und<br />

ehrenhafte Motive gelten machen wollten und versuchten, ihre unmenschliche<br />

Grausamkeit, die sie aus niederen Beweggründen, Angst vor Armut und<br />

Besitzgier an den Tag legten, mit schönen Worten wie Ehrgefühl, Familienstolz,<br />

Sittlichkeit und Reinheit zu rechtfertigen.<br />

„Und Ihr sollt Eure Kinder nicht wegen Verarmung töten. Wir bescheren ihnen<br />

und Euch den Lebensunterhalt.“ (Koran 6/151)<br />

„Und tötet nicht Eure Kinder aus Furcht vor Verarmung, wir bescheren ihnen<br />

und Euch den Lebensunterhalt. Sie zu töten, <strong>ist</strong> eine schwere Verfehlung.“<br />

(Koran 17/31)<br />

Wie schon erwähnt, bin ich der Meinung, das mit der Wiederholung der<br />

koranischen Feststellung „wir bescheren ihnen und Euch den Lebensunterhalt“,<br />

also tötet sie nicht aus Furcht vor „Verarmung“, beabsichtigt wird, erstens die<br />

tiefgehende Ursache dieser Tragödie aufzuzeigen und die Menschen darüber<br />

aufzuklären, und zweitens, alle eigens dafür erfundenen moralischen und<br />

menschlichen Rechtfertigungen Lügen strafen. Hier wird in aller Offenheit<br />

erklärt, das diese Tat mit Moral und Ehre nichts zu tun hat, sondern aus<br />

Besitzgier, Schwäche und Angst herrührt und ganz und gar wirtschaftlich<br />

begründet <strong>ist</strong>. Das subjektive Empfinden der Allgemeinheit war sich dieser<br />

Tatsache allerdings nicht bewusst. <strong>Die</strong>ses Verhalten wurde allgemein als<br />

Zeichen des wachen Gewissens, des Ehrgefühls, des Familienstolzes und der<br />

Kühnheit gewertet; denn alle menschlichen Werte wurden dem Sohn<br />

zugesprochen, während der Tochter alle menschlichen Tugenden aberkannt<br />

wurden. Der Sohn half, das Vermögen des Vaters zu vermehren, beschützte die<br />

Familie und begründete Ruhm des Vaters und der Familie in Stammesfehden. Er<br />

erbte die Familienehre und alle Auszeichnungen seines Geschlechtes und<br />

sicherte den Fortbestand der Familie und ihres Namen nach dem Tode des<br />

Vaters.<br />

<strong>Die</strong> Tochter war nur eine Belastung für die Familie und ein lebendiger<br />

Haushaltsgegenstand. Sie gab ihre Identität in einem fremden Haus auf und<br />

wurde zum Gegenstand des anderen Hauses, wo sie nicht einmal ihren Namen<br />

behalten durfte. Ihre Kinder gehörten einem Fremden und trugen den Namen<br />

und die Bezeichnung eines fremden Geschlechtes. Aus diesem Grunde war der<br />

Sohn Symbol der wirtschaftlichen Macht, die gesellschaftliche Stütze, der<br />

Kriegskamerad, die Lebensfreude, die Würde und das Ansehen des Vaters und<br />

ein Garant für den Fortbestand der Familie und ihrer zukünftigen Macht. <strong>Die</strong><br />

Tochter aber stellte nichts dar, Sie war einfach die „Blöße“ der Familie, die es


zu verstecken galt. Wegen ihrer Schwäche musste sie immer behütet werden.<br />

Sie war die Achilles-Ferse des Krieges, schränkte seine Bewegungsfreiheit beim<br />

Angriff ein und bereitete im Sorgen bei der Verteidigung, weil er befürchten<br />

musste, das sie durch ein Versäumnis in Gefangenschaft geraten konnte und den<br />

tapferen Kriegern des Stammes eine ewige Schande bereiten würde. In<br />

Friedenszeiten mussten die eifrigen Herren darum zittern, das sie die Familie<br />

bloßstellen könnte, oder sich darüber ärgern, das sie nach soviel Mühen und<br />

Kosten anderen gehören und als reife Frucht von Fremden gepflückt würde.<br />

<strong>Die</strong> einfachste Lösung war also, sie schon im Mutterschoß in den Tod zu<br />

schicken und – wie es so schön heißt – mit dem kalten Grab zu vermählen.<br />

Einen Mann, der keinen Sohn hatte, nannte man „gestutzt“. Er galt als<br />

unfruchtbar, weil er keinen männlichen Nachkommen hatte. Dem Propheten<br />

wurde von den Ungläubigen ebenfalls der Beiname „gestutzt“ gegeben. Daher<br />

wurde ihm die frohe Botschaft Gottes offenbart, er werde eine große<br />

Nachkommenschaft haben.<br />

<strong>Die</strong>s geschah in einer Zeit und Umgebung, als das Schicksal heimlich eine<br />

Umwälzung in diesem ruhigen und verpesteten Sumpf vorbereitete, um das<br />

Machwerk aus den Fugen zu heben.<br />

<strong>Die</strong>se ehrenvolle und schwere Aufgabe wurde zwei Persönlichkeiten zuteil:<br />

einem Vater und seiner Tochter.<br />

Mohammad sollte als Vater die schwere Bürde tragen und neue und<br />

revolutionäre Werte schaffen, <strong>Fatima</strong> als Tochter sie in die Tat umsetzten.<br />

Wie ?<br />

Der Stamm der Qureisch war der größte arabische Stamm. Er hatte sich religiöse<br />

und soziale Verdienste erworben und stellte die Ar<strong>ist</strong>okratie der Gesellschaft.<br />

<strong>Die</strong> Familie Bani Umayya und Bani Haschem verstanden sich als Bewahrer<br />

dieser ehrenhaften Tradition. <strong>Die</strong> Bani Umayya besaßen ein größeres<br />

Vermögen, während die Bani Haschem mehr Ansehen besaßen, denn letzteres<br />

wurden als Wächter der Kaaba in Mekka eingesetzt. Abd al-Mutalleb (37) , der<br />

Scheich des Stammes der Qureisch, entstammte diesem Geschlecht.<br />

Sein Sohn und der Nachfolger Abu Taleb (38) besaß nicht die Macht und den<br />

Einfluss des Vaters. Im Geschäftsleben gescheitert, hinterließ er seinen Kindern<br />

Armut. Zwischen den beiden Großfamilien herrschte eine starke Rivalität. <strong>Die</strong><br />

Bani Umayya versuchten, die Macht an sich zu reißen und das Ansehen der Bani<br />

Haschem zu untergraben. <strong>Die</strong> einzige Familie aus dem Geschlecht der Bani


Haschem, die zu jener Zeit neues Ansehen erworben hatte, war die Familie<br />

Mohammads. Mohammad, der Enkel Abd al-Mutallebs, hatte durch seine Heirat<br />

mit Khadija, einer bekannten und reichen Persönlichkeit aus Mekka, seine<br />

soziale Stellung gefestigt.<br />

Das große Ansehen, das Mohammad unter dem Volk, insbesondere bei den Bani<br />

Haschem und Qureisch aufgrund seiner starken Persönlichkeit und<br />

Zuverlässigkeit genoss, hatte alle hoffen lassen, das er die stolze Tradition Abd<br />

al-Manafs (39) und der Ar<strong>ist</strong>okratie der Bani Haschem weiterführen und das<br />

Ansehen Abd al-Mutallebs wiederherstellen würde, denn Hamza (40) war nur<br />

ein Kämpfer, Abu Lahab genoss kein Ansehen, Abbas besaß zwar Geld, jedoch<br />

keine Persönlichkeit, Abu Taleb war eine große Persönlichkeit, besaß aber kein<br />

Geld. Mohammad war der einzige, der trotz seiner jungen Jahre wie seine Frau<br />

eine einnehmende Persönlichkeit war und ein beträchtiges Vermögen besaß. Es<br />

lag also nahe, das die Nachkommen der Familie der Bani Haschem von diesem<br />

Hause aus ihren Einfluss auf Mekka ausbreiten würden.<br />

Starke Männer sollten aus diesem Hause stammen und der Familie Abd al-<br />

Mutallebs und Mohammads Macht, Ansehen und eine starke Stellung verleihen.<br />

Das erste Kind Mohammads war ein Mädchen: Zeinab. <strong>Die</strong> Familie hatte aber<br />

einen Jungen erwartet. Auch das zweite Kind war ein Mädchen: Rughiya. <strong>Die</strong><br />

Erwartung wurde größer und die Not stärker. Das dritte Kind war ebenfalls ein<br />

Mädchen: Umm-i Kultum. Darauf wurden zwei Jungen geboren: Ghasem und<br />

Ibrahim. Durch ihren früheren Tod wurden jedoch die großen Hoffnungen, die<br />

sie geweckt hatten, enttäuscht.<br />

Nun gab es noch drei Kinder in diesem Haus, und alle drei waren Mädchen. <strong>Die</strong><br />

Mutter war schon sechzig Jahre alt; der Vater; obwohl seinen Töchtern<br />

besonders zugetan, teilte die Gefühle, Nöte und Erwartungen seiner<br />

Verwandten. <strong>Die</strong> Hoffnung, Khadija könne im hohen Alter noch ein Kind<br />

gebären, war sehr gering.<br />

Noch einmal jedoch sollte die gespannte Erwartung in diesem Haus ihren<br />

Höhepunkt erreichen: eine letzte Chance für die Familie Abd al-Mutallebs: aber<br />

wieder wurde es ein Mädchen. Sie wurde <strong>Fatima</strong> genannt.<br />

Nun konzentrierten sich die hoffnungsvollen Erwartungen auf die Bani Umayya.<br />

<strong>Die</strong> Schadenfreude drückte sich in Beschimpfungen und Beleidigungen aus:<br />

Mohammad sei gestutzt (unfruchtbar), er sei das letzte Kettenglied des<br />

Familienstammes und Oberhaupt einer „Vier-Mädchen“ Familie.<br />

Das Schicksal aber hatte ein wundervolles Spiel vorbereitet: das Leben geht<br />

weiter, Mohammad wird von inneren Stürmen, die sein Sendungsbewusstsein


geschärft haben, ergriffen. Er wird Prophet, erobert Mekka, unterwirft die<br />

Qureisch und alle anderen Stämme; sein Einfluss erstreckt sich auf die ganze<br />

arabische Halbinsel. Sein Schwert kratzt den Weltreichen den Putz vom Gesicht,<br />

ein Prophet mit weltlicher Macht, dessen Ruhm mit der Vorstellungskraft der<br />

Bani Umayya und Bani Haschem nicht zu erfassen <strong>ist</strong>, eine Pflanze, die keinen<br />

Stamm der Familien Abd al-Manaf, Haschem oder Abd al-Mutalleb entsprungen<br />

<strong>ist</strong>, sondern in der Wüste gewachsen und mächtig geworden <strong>ist</strong> und seiner<br />

ganzen Umgebung, ja der ganzen Welt Schatten spendet. Auf der Höhe seiner<br />

Macht und Ausstrahlung hält er sich in Medina auf.<br />

Er hatte vier Töchter. Drei von ihnen starben schon vor ihm. Zuletzt blieb ihm<br />

nur noch ein einiges Kind, seine jüngste Tochter <strong>Fatima</strong>.<br />

<strong>Fatima</strong><br />

Sie <strong>ist</strong> Erbin aller ruhmvollen Eigenschaften ihrer Familie, Erbin einer neuen<br />

Elite, die ihr Selbstverständnis nicht auf Gut und Blut zurückführt, sondern auf<br />

göttliche Offenbarung. Sie <strong>ist</strong> ein Kind des Glaubens, des Kampfes, der<br />

Revolution, des ge<strong>ist</strong>igen Reichtums, der Menschlichkeit und aller hohen<br />

ge<strong>ist</strong>igen Werte. In seiner Botschaft fühlt sich Mohammad nicht mit Abd al-<br />

Mutalleb, Abd al-Manaf, den Qureisch und den Arabern verbunden, sondern mit<br />

der Geschichte der Menschheit. Er führt die Traditionen Abrahams, Noahs,<br />

Moses und Jesus fort; <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> seine Alleinerbin.<br />

„Wir haben Dir die Fülle gegeben, bete darum zu Deinem Herrn und opfere. Ja,<br />

Dein Hasser <strong>ist</strong> es, der gestutzt <strong>ist</strong>“. (Koran 101/1,2,3,)<br />

Der eine, mit zehn Söhnen, <strong>ist</strong> gestutzt. Er <strong>ist</strong> unfruchtbar, ohne Anhang und<br />

Nachkommen. Dir haben wir die Fülle gegeben, <strong>Fatima</strong>. So kommt eine<br />

revolutionäres Umdenken im tiefen Bewusstsein der Zeit in Gang.<br />

Nun wird eine Tochter zum Prüfstein der Wertvorstellungen des Vaters. Sie <strong>ist</strong><br />

Erbin einer ruhmvollen Vergangenheit und muss eine Tradition fortführen,<br />

deren Begründer Adam war und die von allen Führern, die sich im Laufe der<br />

menschlichen Geschichte für Freiheit und Aufklärung eingesetzt hatten,<br />

getragen wurde und von Abraham, Moses und Jesus an Mohammad<br />

weiterüberliefert wurde.<br />

Das letzte Glied der Kette der göttlichen Gerechtigkeit und der Wahrhaftigkeit<br />

<strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong>, die letzte Tochter einer Familie, die auf einen Sohn gewartet hatte.<br />

Mohammad weiß, was das Schicksal für ihn vorgesehen hat, und auch <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong><br />

sich ihrer Stellung bewusst.


<strong>Die</strong> Revolution, die Freiheit der Frau konnte nur aus dieser Religion<br />

hervorgehen, <strong>ist</strong> es dich die Religion Abrahams und sie sind seine Erben.<br />

Tote dürfen nicht in der Moschee begraben werden. <strong>Die</strong> größte Moschee des<br />

Landes <strong>ist</strong> die Masdjid al-Haram (41) : die Kaaba. Sie <strong>ist</strong> das Haus Gottes, die<br />

Gebetsrichtung für alle Betenden, ein Haus, das auf Gottes Geheiß von Abraham<br />

erbaut wurde. Dem Propheten wurde der ehrenvolle Auftrag erteilt, die Kaaba<br />

zu befreien, die Prozession um sie anzuführen und sie zur Gebetsrichtung zu<br />

bestimmen. Alle großen Propheten haben diesem Haus gedient; keiner von<br />

ihnen darf jedoch darin begraben werden. Abraham hat es zwar erbaut, indes<br />

ebenfalls seine letzte Ruhestätte nicht darin gefunden. Mohammad hat es befreit,<br />

<strong>ist</strong> jedoch auch nicht dort begraben worden; im Laufe der Geschichte <strong>ist</strong> diese<br />

Ehre nur einem einzigen Menschen zuteil geworden, nur ein Mensch wurde<br />

ausversehen, im Hause Gottes, in der Kaaba, begraben zu werden.<br />

Wer? Eine Frau, eine Sklavin, Hadjar.<br />

Gott befahl Abraham. Das größte Gebetshaus, das Gotteshaus, neben Hadjars<br />

Haus zu bauen. Alle Menschen sollten um dieses Haus herumziehen.<br />

Abrahams Gott wählte seinen unbekannten Soldaten aus der Mitte dieser großen<br />

Gemeinschaft aus, er wählte eine Frau, eine Mutter, die außerdem noch Sklavin<br />

<strong>ist</strong>; einen Menschen, dem in der damaligen Gesellschaftsordnung jedes Recht<br />

vorenthalten wird.<br />

Ja, diese Weltanschauung führt die Revolution herbei, diese Religion befreit die<br />

Frauen. Sie bedeutet Anerkennung der Stellung der Frau.<br />

Abrahams Gott hat nun <strong>Fatima</strong> ausersehen. In ihrer Person nimmt nun die<br />

„Tochter“ als Erbin der ruhmreichen Tradition ihrer Familie, Bewahrerin der<br />

hohen Werte ihres Geschlechtes und Fortführerin des väterlichen Auftrages die<br />

Stellung des „Sohnes“ ein.<br />

In einer Gesellschaft, in der man glaubte, das nur das Grab die Schande der<br />

Geburt einer Tochter bedecken würde, weil das Grab der besten Bräutigam sei,<br />

den jeder Vater sich für seine Tochter wünschen könne, ahnte Mohammad<br />

schon, welches Spiel das Schicksal mit ihm trieb und auch <strong>Fatima</strong> war sich ihrer<br />

Rolle in diesem Spiel bewusst.<br />

Mohammads Verhalten seiner Tochter gegenüber, die Art, wie er mit ihr redet<br />

und wie er sie behandelt, versetzt alle in Erstaunen. <strong>Fatima</strong> und ihr Mann sind<br />

die einzigen, die zusammen mit ihm im selben Haus, in der Moschee des<br />

Propheten , wohnten. <strong>Die</strong> Wohnungen sind durch einen 2 Quadratmeter großen<br />

Hof voneinander getrennt. Zwei gegenüberliegende Fenster verbinden die


eiden Wohnungen miteinander. Jeden Morgen öffnet der Vater das Fenster und<br />

begrüßt seine jüngste Tochter.<br />

Bevor er eine Reise antritt, klopft er bei ihr an und verabschiedet sich. <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong><br />

die letzte, von der er sich verabschiedet und die erste, die er aufsucht, wenn er<br />

von der Reise heimkehrt.<br />

Manche Geschichtsschreiber erwähnen ausdrücklich, das der Prophet ihr<br />

Gesicht und Hände küsste.<br />

<strong>Die</strong>ses Verhalten bedeutete mehr als väterliche Zuneigung und Zärtlichkeit der<br />

Tochter gegenüber. Das ein Vater seiner jüngeren Tochter die Hände küsst, war<br />

ein revolutionärer Schlag gegen die unmenschlichen Verhältnisse jener<br />

Gesellschaft.<br />

„Der Prophet küsst <strong>Fatima</strong> <strong>Die</strong> Hand“! <strong>Die</strong>se Handlungsweise öffnet den<br />

kurzsichtigen Politikern und der islamischen Gemeinschaft um den Propheten<br />

die Augen und macht sie auf die Stellung <strong>Fatima</strong>s aufmerksam. <strong>Die</strong>ses<br />

Verhalten des Propheten lehrt aber auch die anderen Menschen, wie sie sich von<br />

ihrer traditionellen Vorurteilen befreien können. Es lehrt den Mann, sich nicht<br />

aufs hohe Ross zu setzten und die Frau von oben herab zu behandeln. Es<br />

empfiehlt der Frau, von den Niederrungen des Lebens, wo sie nur zum Spielball<br />

geworden <strong>ist</strong>, zu den Höhen der menschlichen Würde hinaufzusteigen.<br />

Der Prophet spricht daher nicht nur aufgrund väterlicher Zuneigung, sondern<br />

auch im Hinblick auf die bevorstehende schwere Aufgabe voller Respekt über<br />

<strong>Fatima</strong> und sagt:<br />

„-Vier Frauen sind die besten der Welt: Maria ,Asia (42), Khadija und <strong>Fatima</strong>.<br />

- Deine Zufriedenheit <strong>ist</strong> Gottes Zufriedenheit, und Dein Zorn <strong>ist</strong> Gottes<br />

Zorn.<br />

- <strong>Fatima</strong>s Zufriedenheit <strong>ist</strong> meine Zufriedenheit, ihr Zorn <strong>ist</strong> mein Zorn.<br />

Wer meine Tochter <strong>Fatima</strong> liebt, liebt mich. Wer <strong>Fatima</strong> zufrieden stellt,<br />

stellt mich zufrieden. Wer sie zornig macht, erregt meinen Zorn.<br />

- <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> mein Fleisch und Blut, wer sie quält, quält mich. Wer mich<br />

quält, quält Gott.<br />

Wozu diese Wiederholungen?<br />

Warum besteht der Prophet darauf, das alle seine Tochter verehren?<br />

Warum legt er solch einen Wert darauf, sie vor anderen zu loben und alle seine<br />

außerordentliche Zuneigung zu ihr wissen zu lassen?<br />

Und schließlich, warum hebt er die Zufriedenheit und den Zorn <strong>Fatima</strong>s hervor<br />

und wiederholt das Wort „quälen“ in bezug auf sie?


<strong>Die</strong>se kritischen Fragen hat die Geschichte klar beantwortet. <strong>Die</strong> Zukunft, das<br />

kurze Leben <strong>Fatima</strong>s nach dem Tode des Vaters haben gezeigt, das seine Sorgen<br />

nicht unbegründet waren.<br />

Mutter ihres Vaters<br />

<strong>Die</strong> Geschichte beschäftigt sich immer mit den „Großen“ und Erwachsenen; die<br />

Kinder werden dabei jedenfalls vergessen.<br />

<strong>Fatima</strong> war die jüngste der Familie. Ihre Kindheit verbrachte sie in einer<br />

unruhigen Zeit. Über ihr Geburtsdatum gibt es verschiedene Ansichten. Tabari,<br />

Ibn Eshagh und Ibn Hisham (43) geben das fünfte Jahr vor der Berufung<br />

Mohammads als ihr Geburtsjahr an. Mas´udi spricht dagegen vom fünften Jahr<br />

nach der Berufung. Der Geschichtsschreiber Jaghubi nennt eine ungenaue Zeit<br />

dazwischen und sagt: „Nach der Offenbarung“. <strong>Die</strong>se Unterschiede in der<br />

Überlieferung haben dazu geführt, das die Sunniten das fünfte Jahr vor der<br />

Berufung Mohammads zum Propheten geboren wurde, <strong>ist</strong> dabei gleichgültig.<br />

Sicher <strong>ist</strong>, das <strong>Fatima</strong> als Jüngste in Mekka allein in der Familie lebte. Ihre<br />

beiden Brüder starben im Kindesalter; ihre älteste Schwester Zeinab, die wie<br />

eine junge Mutter um sie besorgt war, heiratete in die Familie Abu Al-As ein.<br />

Ihr Fortgang war eine bittere Erfahrung für <strong>Fatima</strong>. Rughiya und Umm-i Kultum<br />

wurden mit den Söhnen Abu Lahabs verheiratet und <strong>Fatima</strong> blieb allein. So<br />

dürfte es ihr ergangen sein, wenn wir davon ausgehen, das sie fünft Jahre vor der<br />

Berufung des Propheten geboren wurde.<br />

Sollte das zweite Datum zutreffen, <strong>ist</strong> anzunehmen, das sie seit ihrer Geburt<br />

allein zu Hause war. Jedenfalls fällt der Anfang ihres Lebens mit dem Beginn<br />

der Berufung des Propheten und dem Höhepunkt seiner Kämpfe und seines<br />

Martyriums zusammen. Dem Vater wurde mit dem Auftrag, das Volk<br />

aufzuklären, eine schwere Bürde auferlegt. <strong>Die</strong> Mutter sorgte für den geliebten<br />

Lebensgefährten. <strong>Fatima</strong> machte ihre ersten kindlichen Erfahrungen mit der<br />

Welt und ihrem Leid- und sorgenvollen Leben. Da sie noch sehr jung war,<br />

durfte sie sich frei bewegen. Sie nutzte diese Gelegenheit und begleitete ihren<br />

Vater. Sie wusste, das er sie aufgrund seines unruhigen Lebens nicht zu<br />

Spaziergängen auf den Strassen und in die Basare der Stadt mitnehmen wollte;<br />

lieber wollte er allein ausgehen, weil er ständig gegen Hass und<br />

Feindseeligkeiten anzukämpfen hatte. Überall lauerten Gefahren. Das kleine<br />

Mädchen aber kannte das Schicksal des Vaters und wollte ihn nicht allein<br />

lassen.


Des öfteren sah sie, wie er im Basar mitten im Menschengewühl die Leute<br />

freundlich ansprach und wie sie ihn verspotteten, beschimpften und fortjagten.<br />

Wenn er allein blieb, begab er sich ruhig und gelassen zu einer anderen Gruppe<br />

und richtete das Wort an diese. Schließlich kam er müde und erfolglos wie<br />

andere Väter, die von der Arbeit zurückkehren, nach Hause, um sich<br />

auszuruhen.<br />

<strong>Die</strong> Geschichtsschreiber berichten, das <strong>Fatima</strong> eines Tages aus nächster Nähe<br />

miterleben musste, wie ihr Vater in der Masdjid al-Haram beschimpfte und<br />

verprügelt wurde.<br />

An einem anderen Tag, als er sich in der Masdjid al-Haram zum Gebet geneigt<br />

hatte, wurden ihm die Eingeweide eines Schafes auf den Kopf geworfen. <strong>Die</strong><br />

kleine <strong>Fatima</strong> lief zum Vater, entfernte sie, wischte sein Gesicht ab und brachte<br />

ihn nach Hause.<br />

<strong>Die</strong> Leute, die dieses hagere Mädchen ständig mit ihrem heldenmütigen und<br />

einsamen Vater zusammen sahen und beobachten konnten, wie das Kind um den<br />

Vater besorgt war und ihm mit Worten und Taten bei seiner schwierigen<br />

Mission zur Seite stand, gaben ihr den Beinamen : <strong>Die</strong> Mutter ihres Vaters.<br />

Dann brachen Hungerjahre und schwere Zeiten in Abu Talebs Tal an. <strong>Die</strong><br />

Familie Haschem und Abd al-Mutalleb (außer der Familie Abu Lahab, die sich<br />

mit dem Feinde arrangiert hatte) blieben in diesen trockenen und heißen Tal<br />

eingesperrt. Im Namen aller Honoratioren des Stammes der Qureisch wurde von<br />

Abu Djahl ein Erlass abgefasst und in der Kaaba ausgehängt. <strong>Die</strong>ser Erlass<br />

untersagte die Kontaktaufnahme zu den Familien Haschem und Abd al-<br />

Mutalleb, mit ihnen Geschäfte zu tätigen und in diese Familie einzuheiraten.<br />

Man hatte sie solange in ihrem natürlichen Gefängnis eingesperrt zu halten, bis<br />

sie von Hunger und Armut zur Kapitulation vor ihren Widersachern und ihren<br />

Götzen getrieben würden. Alle hätten zu leiden, sowohl diejenigen, die den<br />

neuen Glauben angenommen hätten, als auch jene, die Mohammad wegen seiner<br />

Tugenden, Rechtschaffenheit und Menschenliebe verteidigten. Der Be<strong>ist</strong>and<br />

letzterer war wertvoller als die Erkenntnis jener ängstlichen und konservativen<br />

Gebildeten wie Ali ibn Umayya, die zwar gegen die Reaktion waren, die neue<br />

fortschrittliche und revolutionäre Ideologie begriffen hatten und die dekadente<br />

ar<strong>ist</strong>okratische Klassengesellschaft der Araber mit islamischer Weltoffenheit<br />

analysierten, aber bei Abu Djahl und Abu Lahab blieben, um ihre Erbschaft,<br />

Familienehre, gesellschaftliche Stellung und Sicherheit nicht zu gefährden. Sie<br />

sahen sich das Martyrium ihrer Gesinnungsgenossen wie Bilal (44), Ammar<br />

(45), Yasir (46) und seiner Mutter Sammiya ohne ein Wort des Protestes an.<br />

Sie ließen in den schweren Jahren die Glaubensgefährten und Mitkämpfer in<br />

ihrer Isolation allein und lebten ihr Leben in der Stadt und zu Hause


unbekümmert weiter. Sie sprachen die Sprache der Ungläubigen und<br />

Verbrecher, ja, sie machten gemeinsame Sache mit ihnen. Damit begründeten<br />

sie eine Tradition und ebneten ihr den Weg , so das ihre Anhängerschaft später<br />

viel größer war als die Zahl der wahren Anhänger des Propheten und der<br />

Parteigänger Alis, Abu Zars, Ammars, <strong>Fatima</strong>s, Husseins, Zeinabs und alle<br />

anderen Gefährten des Propheten. Sie waren die ersten die ersten Moslems, die<br />

ihre religiöse Gesinnung auch dann verheimlichten, als der Prophet die Fr<strong>ist</strong><br />

dieser aus taktischen Gründen erlaubten Verheimlichung für beendet erklärte.<br />

Der Mensch <strong>ist</strong> ein erstaunliches Geschöpf: Wenn die Herzen für einen neuen<br />

Glauben Feuer fangen und in der Gesellschaft eine neue Bewegung entsteht,<br />

sieht sich jeder veranlasst, mit sich ins Gericht zu gehen und sich über die<br />

eigenen Gefühle Klarzuwerden. Es <strong>ist</strong> eine Prüfung, die jeder durchzumachen<br />

hat. Dabei tritt Erstaunliches über den ge<strong>ist</strong>igen Wert eines Menschen zutage.<br />

Ge<strong>ist</strong>ige Größe, Niedertracht, Edelmut oder Gemeinheit eines jeden Menschen<br />

werden sichtbar.<br />

Während der schrecklichen Hungerjahre der Isolation kämpfen auch Nicht-<br />

Moslems auf der Seite der göttlichen Revolution. Sie sind Kampfgefährten<br />

Mohammads, Alis und ihrer Anhänger in der kritischen Zeit der islamischen<br />

Geschichte. In der Stadt der Freuden und des Vergnügens, in der Dekrazenz und<br />

Reaktion zu Hause sind, gibt es Menschen, die sich Moslem nennen, sich<br />

jedoch für Wohlstand und Sicherheit für jede Schandtat hergeben und dieses<br />

Unglück dulden oder Mitverursachen, obwohl sie irgendwo in ihrem Inneren<br />

religiös denken, den Gläubigen gegenüber Zuneigung empfinden und tatsächlich<br />

„aufgeklärt“ sind. In ihrer Isolation sind die Familien Bani Haschem und Bani<br />

Abd al-Mutalleb vom Leben in der Stadt, von der Freiheit, ja sogar vom<br />

täglichen Brot ausgeschlossen. Nur im Schutze der Dunkelheit wagt der eine<br />

oder andere, sich heimlich und unentdeckt von den Agenten der Qureisch aus<br />

dem Tal herauszustehlen, um für die Hungrigen Nahrung zu besorgen;<br />

manchmal hilft auch ein Verwandter oder Freund mit etwas Brot aus. Der<br />

Hunger will sie langsam in den schwarzen Tod treiben; aber dem le<strong>ist</strong>en sie<br />

geduldig Widerstand, weil sie sich auf den roten Tod vorbereitet haben.<br />

Sa´ad Ibn Abi Waghas, der selbst dort eingeschlossen war, soll gesagt haben:<br />

„Eines Nachts in der Dunkelheit zertrat ich etwas Weiches auf der Erde. Der<br />

Hunger quälte mich dermaßen, das ich diesen Gegenstand aufhob und<br />

herunterschluckte. Ich frage mich noch heute, was es gewesen sein mag.“<br />

Man kann sich gut vorstellen, wie es der Familie des Propheten unter diesen<br />

Umständen ergangen <strong>ist</strong>. <strong>Die</strong> anderen haben all dies Leid und diese Qualen<br />

dieser Familie zuliebe auf sich genommen. Der Prophet fühlt sich für jeden<br />

einzelnen von ihnen verantwortlich, für die vor Hunger weinenden Kinder, die<br />

Kranken, die ohne Medizin und Nahrung leiden, die Alten, die diesen harten


Lebensbedingungen nicht mehr standhalten können, und für all diejenigen, die<br />

jahrelang Hunger gelitten, seelische Grausamkeit und das harte Leben in jenem<br />

unfruchtbaren Tal ertragen haben und trotzdem versuchten, die Spuren ihres<br />

Leides vor Mohammads Augen zu verbergen. <strong>Die</strong>se Zeichen der Treue und<br />

Liebe, des Großmutes und der Überzeugungskraft bewegten ihn zutiefst .<br />

Nahrungsmittel, die die Eingeschlossenen in der Dunkelheit erreichten, wurden<br />

den Propheten zur Verteilung überlassen. Sich selbst, seiner Frau und seinen<br />

Töchtern teilte er die kleinste Ration zu; und wäre es nicht um ihr Leben oder<br />

ihren Tod gegangen, so hätte er ihnen überhaupt nichts zugestanden.<br />

Während der Belagerung bestand die Familie Mohammads aus Khadija, der<br />

jüngsten Tochter <strong>Fatima</strong> und den beiden anderen Töchtern Umm-i Kulthum und<br />

Rughiya, die in die Familie Abu Lahabs eingeheiratet hatten. Um den Propheten<br />

nach seiner Berufung zu demütigen, hatte Abu Lahab seinen beiden Söhnen<br />

befohlen sich scheiden zu lassen. Darauf heiratetet Osman, ein junger und<br />

gutaussehender Ar<strong>ist</strong>okrat, Rughiya und erteilte Abu Lahab somit eine<br />

gesellschaftliche Lektion. Umm-i Kulthum jedoch hatte ihr Eheleben verwirkt<br />

und bezahlte für ihre Überzeugung mit ihrem Glück. Sie hatte den Hunger in der<br />

Belagerung dem lasterhaften Glück und Wohlstand in der Familie Abu Lahabs<br />

neben ihrem missgünstigen und reaktionären Mann vorgezogen, um im Kampf<br />

für Glauben und Freiheit ihrem großen Vater treu zu bleiben.<br />

<strong>Die</strong> Familie des Propheten nimmt in dieser Gesellschaft eine besondere Stellung<br />

ein. Der Familienvater trägt die ganze Last des schweren Schicksals der<br />

Gemeinschaft. <strong>Die</strong> Tochter Umm-i Kulthum hat ihre Familie verloren und <strong>ist</strong> in<br />

das Haus des Vaters zurückgekehrt. <strong>Die</strong> jüngste Tochter <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> noch<br />

minderjährig, schwach, sensibel und sehr ängstlich. <strong>Die</strong> Mutter Khadija <strong>ist</strong><br />

siebzig Jahre alt und gebrechlich. Verfolgungen, denen ihr Mann während der<br />

zehn Jahre seit der Verkündung der göttlichen Offenbarung ausgesetzt war, drei<br />

Jahre Isolation und Hunger, die Leiden ihrer Töchter und der Tod ihrer beiden<br />

Söhne haben zwar ihren Willen nicht gebrochen, aber tiefe gesundheitliche<br />

Spuren hinterlassen. Ihre letzte Stunde rückt stetig näher.<br />

Der Hunger wird in Mohammads Haus immer unerträglicher. <strong>Die</strong> alte und<br />

kranke Khadija, die ein Leben lang in Wohlstand gelebt und nun ihr Vermögen<br />

wegen Mohammad verloren hat, kaut an einen Stück nassens Leders, um ihren<br />

Hunger zu unterdrücken.<br />

<strong>Die</strong> kleine <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> besorgt um ihre Mutter und die Mutter um sie, ihre jüngste<br />

und schwache Tochter, deren Liebe zu ihren Eltern in aller Munde <strong>ist</strong>.


An einem der letzten Tage der Belagerung spürt Khadija ihren Tod nahen.<br />

<strong>Fatima</strong> und Umm-i Kulthum sitzen um ihr Bett. Der Vater <strong>ist</strong> hinausgegangen,<br />

um die Lebensrationen zu verteilen.<br />

Khadija spürt, wie sie unter den harten Bedingungen des Lebens immer<br />

schwächer wird. Schwermütig sagt sie:<br />

„Ich wünschte, ich könnte noch erleben, das die schweren Tage vorbei sind,<br />

damit ich leichten Herzens sterben kann.“<br />

„Es <strong>ist</strong> nichts, Mutter, mach Dir keine Sorgen“, sagt Umm-i Kulthum weinend.<br />

„Bei Gott, es geht mir nicht um mich; meinetwegen mache ich mir keine<br />

Sorgen. Keine Frau der Qureisch hat ein so erfülltes Leben gehabt wie ich,<br />

keiner der Frau der Welt wurde diese Gnade zuteil. Mir genügt es in diesem<br />

Leben vollkommen, das ich die geliebte Frau des Gesandten Gottes bin, und es<br />

reicht mir zur Ehre, das ich als erste zu seinem Glauben übergetreten und Mutter<br />

der Gläubigen bin.“<br />

Dann spricht sie flüsternd weiter:<br />

„lieber Gott, ich kann nicht alle mir erwiesenen Gnaden aufzählen. Ich bin nicht<br />

darüber betrübt, das Du mich zu Dir rufst; ich möchte mich aber Deiner Gnade<br />

würdig erweisen“.<br />

Im Schatten des Todes herrschen Sorgen und Stille in dem Haus, als der Prophet<br />

frohen Mutes hereinkommt und das Ende der dreijährigen Isolation, der<br />

seelischen Grausamkeit und des Hungers verkündet. Aus dieser Prüfung gehen<br />

sie alle in ihrem Glauben gestärkt hervor.<br />

<strong>Die</strong> schweren Jahre der Belagerung waren zu Ende. Khadija durfte die<br />

Befreiung der Moslems und die Freiheit ihres geliebten Mannes und ihrer treuen<br />

Töchter miterleben, und der Prophet trug seinen ersten großen Sieg über die<br />

Qureisch davon.<br />

Aber das Schicksal lässt diesen Mann, der einen geschichtlichen Auftrag zu<br />

erfüllen hat, nicht zur Ruhe kommen. Zwei harte Schläge folgen aufeinander.<br />

Abu Taleb und Khadija sterben nacheinander kurze Zeit nach der Befreiung.<br />

Abu Taleb hatte das Waisenkind Mohammad großgezogen. Es war Mohammad<br />

in Liebe zugetan und versuchte, ihm die Eltern und den gütigen Großvater Abd<br />

Al-Mutalleb zu ersetzen. Er unterstützte den jungen Mohammad, fand eine<br />

Stelle für ihn bei Khadija und übernahm Vaterstelle bei seiner Heirat mit ihr. Er<br />

schützte den Propheten vor Angriffen und bot seinen ganzen Einfluss und sein


gesellschaftliches Ansehen auf, um ihn zu unterstützen. Er erduldete während<br />

der Belagerung sogar drei Jahre der Isolation und des Hungers und blieb bei<br />

ihm. Seinetwegen wurde Mohammads Leben geschont. Auch blieb er von all<br />

den schrecklichen Folterungen, denen seine Anhänger ausgesetzt waren,<br />

aufgrund des Be<strong>ist</strong>andes Abu Talebs verschont. In Abu Taleb verliert er seinen<br />

größten, ja einzigen starken Beschützer in einer Stadt voller Hass und Gefahren.<br />

Khadija war der einzige Lichtblick im entbehrungsreichen Privatleben des<br />

jungen Mohammad. Der fünfundzwanzigjährige hatte bis dahin nur das Leben<br />

eines Waisenkindes und Hirtenjungen in Armut kennergelernt. Nun hatte er eine<br />

Lebensgefährtin, die vierundvierzigjährige reiche Khadija, gefunden. Sie<br />

schenkte ihm die Liebe einer Frau und den Glauben einer Gesinnungsgenossin.<br />

Sie gewährte ihm Schutz vor Armut, war eine vertrauensvolle Freundin und gab<br />

ihm die nie gekannte Muterliebe.<br />

Als er zum Propheten berufen wurde und ihm eine Welle des Hasses, der<br />

Feinseeligkeit und des Verrates entgegenschlug und das harte, gefahrvolle und<br />

einsame Leben für ihn anfing, war Khadija vom ersten Tage der Offenbarung<br />

bis zum Ende ihres Lebens an seiner Seite, begleitete ihn mit Liebe, Vertrauen<br />

und Opferbereitschaft und übertrug ihm ihr ganzes Vermögen, als er sich in<br />

großer Not befand.<br />

Nun hat Mohammad seine Beschützerin, Gefährtin, Leidesgenossin und den<br />

ersten Menschen, der ihm im Glauben folgte, die Muter seiner <strong>Fatima</strong> verloren.<br />

<strong>Die</strong> Verfolgungen nahmen an Härte zu. Abu Taleb war verstorben und der<br />

Prophet war schutzlos den Anfeindungen ausgeliefert. <strong>Die</strong> Geduld und<br />

Standhaftigkeit Mohammads und seinen Anhänger machten die Hasserfüllten<br />

Gegner nur noch unversöhnlicher und gnadenloser. Der Prophet wurde einsam.<br />

Es gab in der Stadt keinen Abu Taleb und zu Hause keine Khadija mehr.<br />

<strong>Fatima</strong> empfindet die Bedeutung ihres seltsamen Beinamens mehr denn je. Als<br />

ihre Schwestern heirateten, soll sie sich an die Schürze der Mutter geklammert<br />

und erklärt haben:<br />

„Mutter, ich werde kein anderes Haus diesem Haus vorziehen. Ich werde mich<br />

niemals von Euch trennen.“<br />

Khadija soll mit einem anerkennenden Lächeln geantwortet haben:<br />

„das sagen alle Mädchen, wir haben es auch gesagt, mein Kind. Warte nur, bis<br />

es soweit <strong>ist</strong>“.<br />

Und <strong>Fatima</strong> soll beharrlich geantwortet haben:


„ich werde meinem Vater niemals verlassen. Keiner wird mich von ihm<br />

trennen.“<br />

Darauf soll die Mutter geschwiegen haben.<br />

Nun <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong> sich dieser Berufung bewusst. Ihr Gelübde war kein kindliches<br />

Verhalten. <strong>Die</strong> Überzeugung von ihrer Berufung wird noch unerschütterlicher,<br />

wenn sie hört, wie ihr Vater die Menschen zum Glauben bekehrt. Sie hörte ihn<br />

sagen:<br />

„Angehörige der Qureisch“ Kauft Eich frei! Ich kann Eich von keiner<br />

Verpflichtung gegenüber Gott dem Erhabenen freisprechen. Söhne des Abd al-<br />

Manaf! Ich kann euch von keiner Verpflichtung gegenüber Gott dem Erhabenen<br />

freisprechen. Abbas Ibn al-Mutaleb, ich kann Dich von keiner Verpflichtung....<br />

<strong>Fatima</strong>, Du kannst von mir alles verlangen, verlange aber nicht von mir, das ich<br />

Dich von Deinen Verpflichtungen gegenüber Gott dem Erhabenen freispreche.“<br />

<strong>Fatima</strong> soll voller Freude und Standhaftigkeit gesagt haben:<br />

„Ja, mein lieber Vater, höchster aller Bekehrer.“<br />

Es <strong>ist</strong> sonderbar, das sie, ein minderjähriges Mädchen, in Anwesenheit der<br />

großen Persönlichkeiten der Qureisch und der Familien Bani Haschem und Bani<br />

Abd al-Manaf als einzige aus der Familie vom Propheten namentlich<br />

angesprochen wird. Kindliche Gefühle und liebevolle Zuneigung der Tochter,<br />

die des öfteren wiederholt hatte, das sie niemals heiraten und ihren Vater allein<br />

lassen würde, nehmen die Form eines bewussten und ernsthaften<br />

Vermächtnisses an. Daraus erwächst ihr Verantwortung für ihren Auftrag.<br />

<strong>Die</strong> ersten Jahre ihres Lebens werden von den Härten und Qualen der ersten<br />

Berufungsjahre begleitet. Mehr als alle anderen Kinder des Propheten <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong><br />

prädestiert, die Bürde des harten Lebens, die dem Propheten mit seiner Berufung<br />

auferlegt wurde, mitzutragen. Sie und ihre Eltern sind sich dieses Schicksals<br />

bewusst.<br />

Als Khadija das Ende ihres Lebens nahen sah, sagte sie eines Tages zu <strong>Fatima</strong>:<br />

„Nach meinem Tod wirst Du vieles im Leben erdulden müssen. Mein Leben <strong>ist</strong><br />

bald zu Ende, Deine beiden Schwestern Zeinab und Rughiya haben mit ihren<br />

Männern ein gesichertes Leben und Umm-i Kulthum <strong>ist</strong> eine reife Frau,<br />

ihretwegen mache ich mir keine Sorgen; Du aber wirst es im Leben schwer<br />

haben und mit vielen Schicksalsschlägen fertig werden müssen“.


<strong>Fatima</strong>, die sich berufen fühlt, dem Vater die schwere Bürde seiner Mission zu<br />

erleichtern, antwortete:<br />

„Mach Dir meinetwegen keine Sorgen, sei versichert, das diese Götzendiener<br />

der Qureisch das Stammesvolk zum Aufruhr treiben werden. Sie werden in ihrer<br />

Grausamkeit bei der Unterdrückung der Moslems noch viel weiter gehen. Aber<br />

die Moslems werden dieses Martyrium bereitwillig auf sich nehmen. <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong><br />

würdiger als alle anderen, diese Qualen durchzumachen, in dem Maße, wie sie<br />

für würdig befunden wurde, die Tochter des Propheten zu sein und sich seiner<br />

großen Zuneigung zu erfreuen.“<br />

Nach dem Tode Abu Talebs erreichten Feindseeligkeiten und Rachesucht ihren<br />

Höhepunkt. Einige nahe Verwandte und Gefährten des Propheten suchten in<br />

Abessinien Zuflucht. Andere waren weiterhin Repressionen ausgesetzt. Armut,<br />

Not und Elend der Anhänger nahmen zu. Mohammad war inzwischen fünfzig<br />

Jahre alt geworden und hatte viele Schicksalsschläge erdulden müssen. Er lebte<br />

mit seiner mitfühlenden kleinen Tochter <strong>Fatima</strong> zusammen. Das Schicksal<br />

bescherte aber diesem Haus einen Sohn. Ali, den Sohn Abu Talebs.<br />

Ali war es nicht beschieden, im Hause des Vaters aufzuwachsen. Er sollte von<br />

Kind an in der Nähe <strong>Fatima</strong>s sein und im Hause ihres Vaters seine<br />

Persönlichkeit entfalten. Das Schicksal dieses Kindes war in sonderbarer Weise<br />

mit dem des Vaters und der Tochter verbunden.<br />

<strong>Die</strong> Geschichte nimmt einen geheimnisvollen Verlauf. Ein Sturm zieht herauf,<br />

um die Götzen und ihre ar<strong>ist</strong>okratischen Bewacher zu vernichten, die Dämme<br />

der Rassen- und Klassenunterschiede herunterzureißen, das Lügenfeuer der<br />

Hofge<strong>ist</strong>lichen in den Tempeln Persiens zu löschen, das Riesenschloss des<br />

Schreckens in Ktesiphon (47) zu verwüsten, das Imperium der Wollust und<br />

Unfreiheit in Rom in die Enge zu treiben und vor allem die Gedanken und<br />

Herzen von den Fesseln der Sitten und Gebräuche, der Finsternis und des<br />

Aberglaubens, der trügerischen Vorstellungen, des Fanatismus und der<br />

menschenunwürdigen Ideen zu befreien, die Wertvorstellungen zu<br />

revolutionieren, in einer Umwelt, in der unglaubliche Geschichten über<br />

Herkunft, Abstammung, ar<strong>ist</strong>okratische Ehren zur Verherrlichung der Macht<br />

und Grausamkeit und Rechtfertigung des Feudalismus und des adligen<br />

Geschlechtes kursieren, eine Welle der Freiheit und Gleichheit und<br />

Gerechtigkeit auszulösen, in unbekannte, sich keiner edlen Herkunft bewusste<br />

Masse gegen die Götter der Erde aufzubringen, anstelle der Geschichte, der<br />

verfaulten Knochen, der verfallenen Gräber und der Dynastien des Schwertes<br />

und des Goldes die Geschichte des Blutes, des Lebens und der<br />

Volkverhetzungen zu schreiben, um eine Dynastie der Erben dieses letzten<br />

„auserwählten Hirten“ deren jeder mit einem Märtyrergewand bekleidet <strong>ist</strong>, die<br />

Krone der Armut trägt, sein Leben entweder im Kampf oder mit der Aufklärung


des Volkes oder aber im Gefängnis der Unterdrücker zubringt, zu begründen.<br />

Bei diesem geschichtlichen Auftrag <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong> der Anfang und zu seiner<br />

Erfüllung hat die Vorsehung Ali bestimmt.<br />

Daher sollte das Kind Abu Talebs schon zu Lebzeiten des Vaters in das Haus<br />

des Vetters kommen, um nicht in Ignoranz aufzuwachsen, und um von dem<br />

Augenblick an, als der Prophet die Offenbarung empfängt, anwesend zu sein. Es<br />

soll die Berufung des Propheten miterleben und in harten Zeiten heranreifen,<br />

damit es seiner großen Verantwortung gerecht werden und den Sieg der<br />

Islamischen Revolution auf den Kriegsschauplätzen von Badr, Uhud, Khaibar,<br />

Fath und Hunein garantieren kann; es soll in der Nähe <strong>Fatima</strong>s aufwachsen, um<br />

mit ihr die „vorbildliche Familie“ der Menschheit gründen und die Arbeit<br />

Abrahams in der Geschichte fortführen zu können.<br />

Auswanderung (Hidjra)<br />

Dreizehn Jahre der Entbehrung in der Isolation und der Verfolgungen in Mekka<br />

gingen zu Ende. Schon als kleines Kind war <strong>Fatima</strong> zusammen mit ihrem Vater<br />

in der Stadt, zu Hause und während der Belagerung Racheakten ausgesetzt und<br />

hatte die Härten des Kampfes in einer unzivilisierten Umwelt der vorislamischen<br />

Teit ertragen müssen.<br />

<strong>Die</strong> Auswanderung der Moslems nach Medina begann. <strong>Fatima</strong>s Schwester<br />

Rughiya und deren Mann Osman, die nach Abessinien ausgewandert waren,<br />

begaben sich ebenfalls dorthin. Schließlich verließen auch der Prophet und Abu<br />

Bakr heimlich Mekka. Als <strong>Fatima</strong> und ihre Schwester Umm-i- Kulthum Mekka<br />

verlassen wollten, überfiel sie ein Mitglied des Stammes Qureisch, das sich<br />

schon bei der Verfolgung des Propheten einen Namen gemacht hatte, und riss<br />

sie vom Pferd zu Boden. <strong>Fatima</strong>, die ohnehin eine schwache Konstruktion besaß<br />

und gesundheitlich unter den Folgen der dreijährigen Belagerung im Tal litt,<br />

trug schwere Verletzungen davon und wurde unterwegs von Schmerzen<br />

gepeinigt.<br />

<strong>Die</strong>se Niederträchtigung von Howeiras Ibn Naghida hat die Moslems,<br />

insbesondere den Propheten und Ali, derart getroffen, das sie auch acht Jahre<br />

später, bei der Eroberung von Mekka, seine Tat noch nicht vergessen hatten und<br />

ihn auf die L<strong>ist</strong>e derjenigen setzten, deren Blut zu vergießen freigegeben worden<br />

war, obwohl die Moslems jegliches Blutvergießen in Mekka vermeiden wollten.<br />

Es <strong>ist</strong> kein Zufall, das es Ali war, der dieses Urteil vollstreckte.


Nun waren sie also in Medina. Der Prophet hatte seine Moschee aufgebaut und<br />

daneben sein Haus, das er aus Lehm und Palmenzweigen- und blättern errichtet<br />

hatte, und dessen Eingang durch die Moschee zu erreichen war.<br />

Danach führte der Prophet das „Brüderschaftsgelübde“ ein:<br />

„Schließt zu zweit auf dem Wege Gottes Brüderschaft“.<br />

„Djafar ibn Abu Taleb <strong>ist</strong> der Bruder von Muas ibn Djabal, abu Bakr <strong>ist</strong> der<br />

Bruder von Kharija ibn Zuhair, Omar ibn Khattab <strong>ist</strong> der Bruder von Atban ibn<br />

Malik, und Oslam <strong>ist</strong> der Bruder von Ous ibn Thabet.“<br />

„Und ich“?<br />

„Das <strong>ist</strong> mein Bruder !“<br />

„ Mohammad <strong>ist</strong> der Bruder von Ali!“<br />

Einmal mehr steht Ali vor aller Augen an der Seite Mohammads. Er nähert sich<br />

Mohammad einen weiteren Schritt. Ali „Mutter“ <strong>Fatima</strong> hatte für Mohammad<br />

gesorgt. Sein Vater Abu Taleb war Mohammads Beschützer. Mohammad wuchs<br />

im Hause Alis auf und Ali im Hause Mohammads zusammen mit <strong>Fatima</strong>,<br />

Mohammads Tochter, und unter der Fürsorge Khadijas, <strong>Fatima</strong>s Mutter.<br />

Er war Mohammads Vetter und wie ein Sohn zu ihm, und nun wurde er sein<br />

Bruder.<br />

Ali war noch einen Schritt von seinem Endziel, das ihm in der Lebensgeschichte<br />

Mohammads und im Islam bestimmt worden war, entfernt.<br />

<strong>Fatima</strong> war ihrem Wort treu geblieben. Sie lebte allein und zurückgezogen im<br />

Hause des Vaters. Seitdem der Prophet die Heiratsanträge Omars und Abu Bakrs<br />

entschieden abgelehnt hatte, wussten alle Gefährten, das <strong>Fatima</strong> eine besondere<br />

Zukunft bestimmt war. Sie nahmen zur Kenntnis, das der Prophet sich zu<br />

keinem Heiratsantrag äußerte, ehe er mit seiner Tochter nicht gesprochen hatte.<br />

<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> zusammen mit Ali aufgewachsen. Zu ihr <strong>ist</strong> er wie ein lieber Bruder,<br />

und ihrem Vater <strong>ist</strong> er bis zur Selbstverleugnung ergeben. <strong>Die</strong> Schicksale dieser<br />

Kinder sind eng miteinander verbunden. Keines von ihnen hat ge<strong>ist</strong>ige<br />

Bindungen zur vorislamischen Zeit, beide sind in der stürmischen Zeit der<br />

Berufung aufgewachsen und von der Offenbarung des göttlichen Wortes geprägt<br />

worden.<br />

Was empfindet <strong>Fatima</strong> für Ali?<br />

Welche Gefühle bewegen das mutige und liebevolle Herz Alis?


Man kann es sich vielleicht vorstellen, aber nicht beschreiben. Wie soll auch ein<br />

kompliziertes Geflecht aus Glauben, Liebe, Respekt, Verehrung, gemeinsamer<br />

Überzeugung, ge<strong>ist</strong>iger Verwandtschaft, gemeinsamen Erlebnissen des harten<br />

Schicksals, gemeinsamen Weg im Laufe ihres ganzen bisherigen Lebens und<br />

derselbigen Erziehung beschrieben werden?<br />

Warum ergreift Ali nicht die Initiative?<br />

Er <strong>ist</strong> 25 Jahre alt, und auch <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> im heiratsfähigen Alter. Alis Bedenken<br />

sind meines Erachtens einleuchtend:<br />

<strong>Fatima</strong> widmet sich vollkommen dem Propheten. Sie bemuttert ihren Vater und<br />

führt ihm den Haushalt.<br />

Wie kann Ali eine Tochter, die so innig mit ihrem Vater verbunden <strong>ist</strong>, von ihm<br />

trennen und in ein anderes Haus führen?<br />

Soll er Mohammad darum bitten?<br />

Er teilt ja <strong>Fatima</strong>s Gefühle für Mohammad!<br />

Plötzlich änderte sich die Situation. Aishe kam ins Haus des Propheten. Der<br />

Prophet hatte zum ersten und letzten Mal in seinem Leben eine junge Frau, die<br />

voller Freude und Lebenslust <strong>ist</strong>.<br />

<strong>Fatima</strong> spürte allmählich, das die junge Frau des Vaters Khadija und sie in<br />

diesem Hause ersetzte, sicherlich nicht im Herzen des Vaters, aber im Haushalt.<br />

Auch Ali ahnte das Nahen einer schicksalhaften Stunde. Er besaß aber kein<br />

Vermögen. Seit seiner Kindheit lebte er bei Mohammad. Seine jungen Jahre<br />

hatte er im Kampf für seine Überzeugung verbracht und keine Gelegenheit<br />

gehabt, an die Zukunft zu denken. Seine ständige Opferbereitschaft für<br />

Mohammad und dessen Glaube war das einzige Kapital, das er in dieser Welt<br />

anzubieten hatte. Er besaß weder ein Haus noch die Einrichtung für einen<br />

einfachen Haushalt. Er besaß gar nichts.<br />

Nun erfahren wir, das er den Propheten trotzdem aufsuchte, sich zu ihm setzte,<br />

den Kopf als Zeichen der Demut neigte und versuchte, in der Sprache des<br />

Schweigens mit ihm zu reden.<br />

„Was hast Du auf dem Herzen, Sohn Abu Talebs?“ fragte der Prophet.<br />

Schüchtern erwähnte Ali den Namen <strong>Fatima</strong>s.<br />

„Sei willkommen“, antwortete der Prophet ohne Zögern.<br />

Am anderen Tage fragte er Ali in der Moschee:


„Besitzt Du etwas?“<br />

„Nichts Gesandther Gottes:“<br />

„Wo <strong>ist</strong> das Kettenhemd, was ich Dir im Badr-Krieg gab?“<br />

„Das hab ich noch, Gesandther Gottes.“<br />

„Dann gib es mir.“<br />

Ali ging eilig nach Hause, holte das Kettenhemd und gab es dem Propheten. Der<br />

Prophet wies ihn an, es auf dem Markt zu verkaufen und mit dem Erlös ein<br />

neues Leben zu beginnen. Osman kaufte es für 47 Drachmen.<br />

Der Prophet lud seine Gefährten zur feierlichen Eheschließung ein, sprach die<br />

Trauungsformel und betete um rechtschaffende Nachkommen für das Brautpaar.<br />

Danach wurden Datteln serviert. Das war die ganze Hochzeitsfeier.<br />

<strong>Fatima</strong>s Aussteuer bestand aus einer Handmühle, einer Holzschüssel und einem<br />

Teppich.<br />

Zu Beginn des Monats Muharram im zweiten Jahr nach der Auswanderung fand<br />

Ali außerhalb Medinas ein Haus und brachte <strong>Fatima</strong> dorthin.<br />

Hamza, der größte Kämpfer der Glaubenskriege, ein Onkel des Propheten und<br />

Alis, ließ zwei Kamele schlachten und gab für die Bewohner Medinas ein<br />

Festmahl. Der Prophet bat Umm-i Salma, die Braut zu Alis Haus zu begleiten.<br />

Er selber suchte sie nach dem Abendgebet auf, bat um eine Schüssel Wasser und<br />

gab der Braut und dem Bräutigam davon zu trinken, während er Verse aus dem<br />

Koran rezitierte. Danach nahm er die rituelle Waschung für das Gebet mit<br />

demselben Wasser vor und goss den Rest über ihre Köpfe. Als er nach Hause<br />

zurückkehren wollte, begann <strong>Fatima</strong> bitterlich an zu weinen, denn es war das<br />

erste Mal, das sie sich von ihrem Vater trennen sollte.<br />

Der Prophet versuchte, sie mit diesen Worten zu beruhigen:<br />

„Ich habe Dich einem Manne anvertraut, der den stärksten Glauben, ein<br />

umfassendes Wissen und die höchste Moral besitzt.“


<strong>Fatima</strong> als Ehefrau<br />

Nun begann die Anvertraute Mohammads den zweiten Abschnitt ihres Lebens,<br />

und das Schicksal hielt neue Entbehrungen für sie bereit.<br />

Zeinab lebte im Hause Abu al-As, dem Geschäftsmann aus Mekka; Rughiya und<br />

Ummi-i Kulthum, die früher bei den Abu Lahab in Wohlstand lebten, gingen<br />

nacheinander zu dem reichen Osman Sahabi, und <strong>Fatima</strong>, die von Anfang an<br />

beim Vater in Armut gelebt hatte, war zu Ali, der außer Liebe nichts zu geben<br />

hatte, gezogen. Nun begann das harte und spartische Leben erst recht in diesem<br />

Haus. <strong>Die</strong> Aufgaben von einst hatte <strong>Fatima</strong> weiterhin, aber jetzt fühlte sie sich<br />

auch für Ali verantwortlich. Früher sah sie in ihm den Bruder, heute <strong>ist</strong> er ihr<br />

Ehemann. <strong>Fatima</strong> weiß, das Ali seine Lebensweise nicht ändern wird. Seine<br />

Gedanken werden durch den heiligen Kampf für Gott und die Menschen<br />

bestimmt.<br />

Er wird nie mit vollen Händen nach Hause kommen. Fatime trägt hier eine<br />

größere Verantwortung als im Hause ihres Vaters, denn die Verantwortung für<br />

solch einen Man <strong>ist</strong> wichtiger als das Glück und größer als das Leben.<br />

<strong>Fatima</strong> mahlt mit der Handmühle Getreide, backt Brot, arbeitet zu Hause und<br />

holt Wasser vom Brunnen. Ali bewundert die ge<strong>ist</strong>ige Größe seiner Frau und<br />

liebt sie über alle Maßen. Er weiß, das das harte Leben während ihrer Kindheit<br />

ihre Gesundheit geschwächt hat und sie sich zuviel zumutet. Darum sagt er eines<br />

Tages mitfühlend zu ihr:<br />

„Es tut mir weh zuzusehen, wie schwer Du arbeitest. Gehe doch zum Gesandten<br />

Gottes und bitte ihn, eine <strong>Die</strong>nerin in Deinen <strong>Die</strong>nst zu stellen.“<br />

<strong>Fatima</strong> ging zum Vater.<br />

„Was wünschst Du, meine Töchterchen?“<br />

„Ich wollte Dich nur sehen.“<br />

Sie kam zurück und erzählte Ali, das sie sich geschämt habe, dem Vater ihre<br />

Bitte vorzutragen. Ali war sehr erregt. Er wollte <strong>Fatima</strong> unbedingt helfen. Er<br />

begleitete sie zum Propheten und trug an ihrer Stelle die Bitte vor. Der Prophet<br />

antwortete unverzüglich und entschieden:<br />

„Bei Gott, die Leute von Soffa hungern und ich kann ihnen nichts geben, Ihr<br />

aber bittet mich um eine <strong>Die</strong>nerin..“


Es wurde Nacht und die Eheleute begaben sich in ihrem ärmlichen Haus zur<br />

Ruhe. Bevor sie einschliefen, dachten sie beide an die Bitte, die sie an den<br />

Propheten gerichtet hatten; auch der Prophet dachte den ganzen Tag über die<br />

Antwort nach, die er seinen Lieben gegeben hatte.<br />

Plötzlich öffnete sich die Tür und der Prophet trat ein. Ali und <strong>Fatima</strong> zitterten<br />

in der Kälte der Nacht. Er sah, das sie sich mit einem dünnen, kurzen Tuch<br />

zugedeckt hatten, das gerade groß genug war, entweder ihre Füße oder ihre<br />

Köpfe zu bedecken. Mit liebevoller Nachsicht bedeutete er ihnen,<br />

liegenzubleiben. Dann fügte er hinzu:<br />

„Soll ich Euch über Dinge berichten, die viel wichtiger sind als das was Ihr von<br />

mir verlangt habt?“<br />

„Ja Gesandther Gottes.“<br />

„Es sind die Worte, die mich der Erzengel Gabriel gelehrt hat:<br />

Preiset Gott nach jedem Gebet zehnmal, dankt ihm und ruft Allah-u Akbar (Gott<br />

<strong>ist</strong> der Größte), und wenn Ihr Euch zur Ruhe begebt, wiederholt dies<br />

vierunddreißigmal.“<br />

<strong>Fatima</strong> wurde auf diese Weise noch einmal belehrt. Mit einem sanften Hinweis,<br />

der sie bis zum Grund ihrer Seele aufwühlte, wurde ihr noch einmal bedeutet,<br />

das sie „<strong>Fatima</strong>“ <strong>ist</strong>.<br />

Das hat sie zwar schon als Kind erkannt, aber solche Erkenntnisse müssen<br />

immer wieder aufs neue erworben werden. Sie sind kein „Wissen“ sondern ein<br />

„Werden“.<br />

Es <strong>ist</strong> nicht leicht „<strong>Fatima</strong>“ zu werden. Sie <strong>ist</strong> ein treues Wesen, das den<br />

ge<strong>ist</strong>igen Höhenflug an der Seite Alis Schritt für Schritt Mitvollziehen und seine<br />

Größe und seine Leiden mit ihm teilen muss. Sie trägt eine große Verantwortung<br />

in der Geschichte der Freiheit, des Kampfes und der Menschlichkeit und <strong>ist</strong> so<br />

das Bindeglied in einer langen Kette, die Abraham und Mohammad mit dem<br />

rächenden Erlöser der Geschichte verbindet. Sie verbindet das Prophetentum mit<br />

dem Imamat.<br />

Das sind <strong>Fatima</strong>s Aufgaben und Verantwortungen. Aber die Eigenschaften, die<br />

sie besitzen muss, um „<strong>Fatima</strong>“ zu werden, sind derart, das sich der Prophet<br />

veranlasst sieht, mit dieser „besonderen Schülerin und Gefährtin“ streng zu<br />

verfahren. Kein Augenblick der Ruhe soll sie davon abhalten, auf dem Wege des<br />

Werdens fortzuschreiten. Mühsal und Entbehrungen sind die notwendige<br />

Nahrung für diese im Lichte der Offenbarung wachsende und für Freiheit und


Gerechtigkeit Früchte tragende Pflanze. Sie soll gleichsam wie ein guter Baum<br />

sein, dessen Wurzel fest in der Erde auf ihren Schultern zu tragen.<br />

Für <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> der Prozess des Lernens unendlich, wie die Nahrungsaufnahme<br />

für die Pflanze.<br />

Worte anstatt <strong>Die</strong>ner! Nur dieses wunderbare Paar kann begreifen, das man mit<br />

Worten glücklich sein und ein erfülltes Leben führen kann.<br />

Worte müssen auf sie regnen, damit diese edlen Pflänzchen sie aufsaugen und<br />

heranwachsen. Der plötzliche Ruf Mohammads in jener dunklen und stillen<br />

Nacht war der Beginn dieses lebenspendenen Regens.<br />

Kein Wunder, das Ali, der ein Mann der Tat <strong>ist</strong> – und mit der ständigen<br />

Wiederholung der Gebetsformel nichts im Sinn hat – 25 Jahre nach diesem<br />

Ereignis gesagt haben soll:<br />

„Seitdem er mich diese Übung gelehrt hat, habe ich sie kein einziges Mal<br />

unterlassen.“<br />

Auf die Frage, ob er es auch in der Nacht von Siffin (48) nicht vergessen habe,<br />

soll Ali nachdrücklich geantwortet haben:<br />

„Nicht einmal dann“.<br />

<strong>Fatima</strong> lebte nach diesem Gebot bis zu ihrem Tode. <strong>Die</strong>se Lobpreisungen Gottes<br />

waren für sie bestimmt. Erhabene Worte, die ihr anstelle eines <strong>Die</strong>ners im Leben<br />

helfen sollten; Worte anstelle eines Hochzeitsgeschenkes.<br />

Der Prophet war mit seiner geliebten Tochter sehr streng. In diesem Verhalten<br />

folgte er Gott, dem Allmächtigen. Kein Prophet <strong>ist</strong> im Koran so getadelt und<br />

kritisiert worden wie Mohammad, und doch war keiner Gott so nahe und dem<br />

Volke so verpflichtet wie er.<br />

Nach den Worten von Professor Chandel:<br />

„Liebe und Glaube sind ihrem Höhepunkt über jede Verirrung erhaben. In dieser<br />

Erhabenheit erscheint die Geliebte dem Liebenden tadelswert. Hier verwirkt sie<br />

das Recht auf Vergebung.“<br />

Eines Tages betritt der Prophet <strong>Fatima</strong>s Haus, wird auf einen bemalten Vorhang<br />

aufmerksam, zieht erstaunt die Augenbrauen hoch und kehrt wortlos um, ohne<br />

sich hingesetzt zu haben.


<strong>Fatima</strong> ahnt sofort, was sie falsch gemacht hat und weiß auch schon, wie sie es<br />

wiedergutmachen kann. Unverzüglich nimmt sie den Vorhang ab und schickt<br />

ihn dem Vater, damit er ihn verkaufen und den Erlös unter den Bedürftigen von<br />

Medina verteilen kann.<br />

Warum bei ihr diese Härte und Strenge?<br />

Zeinab lebte im Hause Abu al-As in Wohlstand und Luxus. <strong>Die</strong> anderen<br />

Schwestern Rughiya und Umm-i Kulthum lebten schon immer im Reichtum,<br />

zuerst bei dem Geschäftsmann Abu Lahab und später bei den Ar<strong>ist</strong>okraten<br />

Osman. <strong>Fatima</strong> hatte aber noch nie gehört, das die wesendlich älteren<br />

Schwestern wegen ihres Reichtums getadelt worden wären. Das Verhalten des<br />

Propheten gegenüber <strong>Fatima</strong> macht deutlich, das er zwischen <strong>Fatima</strong> und seinen<br />

anderen Töchtern unterscheidet.<br />

„<strong>Fatima</strong> arbeite hart, denn ich kann morgen nichts mehr für Dich tun.“<br />

Sehen Sie, wie weit der wahre Islam von dem entfernt <strong>ist</strong>, den wir sonnst kennen<br />

lernen:<br />

„Eine Träne um Hussein löscht das Feuer der Hölle, erlöst jeden von seinen<br />

Sünden, auch wenn sie so zahlreich sind wie der Sand am Meer und die Sterne<br />

am Himmel. <strong>Die</strong> Sünden der Freunde Alis werden im Jenseits als gute Taten<br />

angesehen.“ (Betrogen sind also diejenigen, die in dieser Welt zu wenig oder gar<br />

keine Sünden begehen, denn in diesem Tauschgeschäft haben sie ja zu wenig<br />

oder gar nichts anzubieten).<br />

Damit jedoch nicht genug. Da soll Gott den schrecklichen Spruch getan haben:<br />

„<strong>Die</strong> Freunde Alis kommen in den Himmel, auch wenn sie sich gegen mich<br />

erheben und seine Feinde kommen in die Hölle, auch wenn sie mir gehorchen.“<br />

Als wenn da für verschiedene Betriebe jeweils unterschiedliche Bücher geführt<br />

werden!<br />

Ali wirkte nicht auf eigene Rechnung. <strong>Die</strong> Angelegenheit war recht ernst. Der<br />

Prophet macht nicht einmal <strong>Fatima</strong> Hoffnung, beim Jüngsten Gericht für sie<br />

einzutreten. Er kann auch sie nicht davor bewahren, sich alleine vor dem<br />

Jüngsten Gericht verantworten zu müssen. Da nutzt es ihr nicht, das sie die<br />

Tochter des Propheten <strong>ist</strong>. Er kann ihr nur dabei helfen, ihre Persönlichkeit zu<br />

entwickeln und „<strong>Fatima</strong>“ zu werden. Das <strong>ist</strong> der Sinn der Fürbitte, nicht etwa die<br />

Verfälschung der Le<strong>ist</strong>ungen angesichts der Gerechtigkeit Gottes, Begünstigung<br />

der Freunde und Verwandten und Öffnung einer heimlichen Hintertür zum<br />

Himmel für die eigenen Anhänger!


<strong>Fatima</strong> weiß das; auch das hat sie der Prophet gelehrt. <strong>Die</strong>se Art Fürbitten,<br />

welche die Verantwortung für die eigenen Taten – wofür die Religion eintreten<br />

– überflüssig macht, sind Bräuche der Götzendiener. <strong>Die</strong>se betrachteten die<br />

Götzen als ihre Fürsprecher bei Gott. Sie begingen Verbrechen, erlaubten sich<br />

jeglichen Fehltritt, gelobten aber, den großen und kleinen Götzen ein Kamel als<br />

Opfer darzubringen, und baten sie dann mit schmeichelhaften, flehentlichen und<br />

hingebungsvollen Worten um Fürbitte.<br />

In meiner Art glaube ich nicht nur an die Fürbitte des Propheten, sondern an die<br />

der <strong>Imame</strong>, der Rechtgeleiteten und der großen Kämpfer. Ich glaube sogar, das<br />

Pilgerfahrten zu dem Grab Husseins den Sünderern Erleichterungen bringen<br />

können. D.h. ihr tiefer Einblick in das Leben dieser vorbildlichen Menschen<br />

wühlt den Grund ihrer Seele derart auf, das sie andere Menschen werden, ihre<br />

Schwächen, Ängste und Neigungen zum Bösen, zur Förderung des<br />

Personenkultes und der sklavenhaften Anerkennung der Macht überwinden, sich<br />

von diesen Quellen der Erkenntnis, des Glaubens und der Tugend zu einer<br />

kämpferischen Haltung und ge<strong>ist</strong>igen Größe inspirieren lassen, aus<br />

menschlichen Ideen und Wertvorstellungen neue Kraft schöpfen und die<br />

Schwächen des Willens und des Instinktes, die zur Sünde führen, bekämpfen<br />

und zu großen Menschen werden können. Natürlich gehören früher begangene<br />

Fehler der Vergangenheit an.<br />

Hurr (49), der Held von Karbala, befreite sich durch die Fürbitte Husseins aus<br />

der Gefolgschaft eines verbrecherischen und repressiven Apparates und<br />

erreichte mit diesem Schritt den Gipfel der Freiheit, Wahrhaftigkeit und<br />

Menschlichkeit.<br />

Auch <strong>Fatima</strong> wurde durch die Fürbitte Mohammads zu dem, was sie war. Im<br />

Islam soll die Fürbitte den Menschen dazu motivieren, sich durch seine Taten<br />

die Erlösung zu verdienen; sie <strong>ist</strong> aber kein Mittel zur unverdienten Erlösung.<br />

Der Mensch soll die Fürbitte empfangen und danach seine Lebensweise<br />

verändern. Da kann sich kein Unwürdiger mit Hilfe von Tricks durchmogeln, es<br />

sei denn, er hätte gelernt, sich durch Fleißarbeit um diese Welt verdient zu<br />

machen, und das kann er unter anderem vom Fürsprechern lernen.<br />

Hussein spricht nur für denjenigen, der sich aus Liebe und Überzeugung seine<br />

Lebensweise zum Vorbild nimmt und für die und für die Gerechtigkeit kämpft.<br />

Sein Vorbild wird ihm helfen, den Irrweg der Ignoranz zu verlassen, den<br />

Freuden der Welt zum Wohle des Nächsten zu entsagen und die Weggefährten<br />

anzuführen, denn Tränen allein dürfen keine chemischen Einwirkungen auf die<br />

Sünden der Menschen haben. Sie nutzen auch sonnst nichts, wenn sie nicht von<br />

Erkenntnis und Einsicht begleitet sind.


<strong>Fatima</strong> arbeite hart, denn morgen kann ich nichts mehr für Dich tun!<br />

Da gleichen sich Vater und Tochter. Von Gerechtigkeit Gottes und dem<br />

islamischen Gesetz <strong>ist</strong> nicht einmal Mohammad ausgenommen; auch er wird<br />

sich für seine Worte und Taten verantworten müssen.<br />

Eine Frau aus dem Stamme Qureisch, die gerade zum Islam übergetreten war,<br />

hatte <strong>Die</strong>bstahl begangen. Der Prophet befahl, ihr die Hand abzuschlagen. Viele<br />

Menschen hatten Mitleid mit ihr. <strong>Die</strong> großen Familien des Stammes der<br />

Qureisch, eines der angesehensten Stämme, betrachteten es als eine Schmach,<br />

die ihnen immer anhängen würde. Darum baten sie den Propheten um<br />

Fürsprache zur Milderung des göttlichen Urteils.<br />

Er lehnte ab! Sie wandten sich an Samar Ibn Seid. Samar war der Sohn des<br />

Adoptivkindes des Propheten und stand dem Propheten wegen seiner Treue und<br />

Opferbereitschaft sehr nahe. Er bat den Propheten, der Frau im Namen der<br />

Qureisch und in seinem Namen ihren „Fehltritt“ zu vergeben und Fürbitte für sie<br />

einzulegen. Der Prophet antwortete vorwurfsvoll und entschieden:<br />

„Genug der vielen Worte! Solange ich das Gesetz durchzuführen habe, gibt es<br />

kein Entrinnen. Wäre sie Mohammads Tochter <strong>Fatima</strong>, ließe ich trotzdem ihre<br />

Hand abschlagen!“<br />

Warum wird unter so vielen lieben Verwandten die Tochter als Beispiel genannt<br />

und warum <strong>Fatima</strong>?<br />

<strong>Die</strong> Antwort <strong>ist</strong> nicht schwer zu erraten. Hatte er nicht bei seiner Berufung zum<br />

Propheten aus der Mitte seiner Familienmitglieder gerade die jüngste Tochter,<br />

die noch ein Kind war, ausgewählt und darauf angesprochen, zum Islam<br />

überzutreten?<br />

Nach seinen Worten <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong> neben Maria, Asia und Khadija eine der vier<br />

auserwählten Frauen der menschlichen Geschichte. Er nennt <strong>Fatima</strong> an letzter<br />

Stelle, da – wie in jedem Entwicklungsprozess- die höchste Entwicklungsstufe<br />

immer am Schluss folgt. So <strong>ist</strong> es in der Natur, in der Entwicklungsgeschichte,<br />

in der Geschichte der Propheten und schließlich bei den vorbildlichen Frauen.<br />

Es <strong>ist</strong> das Verdienst Marias, Jesus geboren und erzogen zu haben. Das Verdienst<br />

Asias (der Frau des Pharao) besteht darin, für Moses gesorgt und ihn geschützt<br />

zu haben. Khadija hat sich um Mohammad verdient gemacht und <strong>ist</strong> die Mutter<br />

<strong>Fatima</strong>s.<br />

Und worin besteht das Verdienst <strong>Fatima</strong>s?


Darin, das sie zu Khadija, Mohammad, Ali, Hussein und Zeinab gehört, oder<br />

darin, das sie „<strong>Fatima</strong>“ <strong>ist</strong>?<br />

Ali und <strong>Fatima</strong> lebten weit vom Leben und Treiben der Stadt entfernt in dem<br />

Dorf Ghaba, 8 km südlich von Medina, in einem Haus an der Moschee. In<br />

diesem Ort hielt sich der Prophet eine Woche lang während der Auswanderung<br />

auf, ehe er in die Stadt zog. Ali, der Mekka drei Tage nach dem Propheten<br />

verlassen hatte, holte ihn in Ghaba ein. Von Ghaba aus betrat der Prophet zum<br />

erstenmal Medina. Hier gründete er die freie islamische Gemeinde, baute die<br />

Moschee, das Haus für Gott und die Menschen, und leitete die Geschichte des<br />

Islam ein.<br />

Welch ein Zufall, das Ali und <strong>Fatima</strong> auch in Ghaba wieder an der Moschee, der<br />

ersten in der islamischen Zeit erbauten Moschee, lebten. Sie bauten dort ihr<br />

„Itra“ genantes Haus. Ihr gemeinsames Leben fing dort an, wo der Islam seinen<br />

Ursprung hatte. Später zogen sie in die Stadt und bewohnten an der Moschee des<br />

Propheten ein Haus in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. <strong>Die</strong> Ähnlichkeit<br />

zwischen diesen beiden Anhängern und die Duplizität der Ereignisse sind für<br />

jeden, der den Islam und die wahre Schia kennt, aufregend. Es <strong>ist</strong> ein<br />

aufregendes Gefühl, das mit der Vernunft nicht zu erfassen <strong>ist</strong>.<br />

Es fiel dem Propheten schwer, Ali und <strong>Fatima</strong> nicht an seiner Seite zu sehen.<br />

<strong>Die</strong> Trennung von Ali fiel ihm deshalb schwer, weil Ali in seinem Hause<br />

aufgewachsen war. Und nun lebten die beiden Menschen, die früher sein Haus<br />

mit Leben erfüllt hatten, weit von ihm entfernt am Rande der Stadt, in Armut<br />

und in Liebe und Vertrauen zueinander. Ali <strong>ist</strong> seit seiner Kindheit in Armut und<br />

Einsamkeit, in einer Hasserfüllten Umgebung und einer Atmosphäre des<br />

Kampfes und des Widerstandes aufgewachsen; er <strong>ist</strong> äußerst ernst und fromm,<br />

ohne jeden Sinn für die Freuden des Lebens, für Wohlstand und Vermögen. Er<br />

<strong>ist</strong> an harte Arbeit, Einsamkeit, Beten, Grübeln und Kämpfen gewöhnt.<br />

Entbehrung, Frömmigkeit und Armut haben auch <strong>Fatima</strong>s Leben bestimmt. <strong>Die</strong><br />

Jahre der Verfolgung in Mekka haben tiefe gesundheitliche Spuren hinterlassen.<br />

<strong>Die</strong>se schwache und empfindsame junge Frau führt das harte Leben auch im<br />

Hause Alis weiter. Weder <strong>ist</strong> Ali in der Verfassung, Freude und Leben in dieses<br />

Haus zu bringen, noch <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong> in der Lage, durch die anfänglichen Freuden<br />

des neuen Ehelebens Ali auf den Boden des alltäglichen Lebens zu holen und<br />

ihn von seiner harten Schale zu befreien. Nur der Prophet kann mit seinen<br />

zärtlichen und liebevollen Worten neue Hoffnungen in ihnen wecken und sie<br />

aufmuntern. Er kennt die Not dieser treuen Seelen, die nur von der Liebe zu ihm<br />

lebten.<br />

„Wer ihn liebt, hat kein Leben, denn ihn lieben <strong>ist</strong> das Leben selbst.“ (Einleitung<br />

zu Bucharis Kommentar)


Er holt Ali und <strong>Fatima</strong> zu sich und lässt sie, wie er selbst, ein Lehmhaus mit der<br />

Eingangstür zur Moschee und seinem Fenster mit Blick auf das Fenster seines<br />

Hauses bewohnen. <strong>Die</strong>se sich gegenüberliegenden und gegeneinander öffnenden<br />

Fenster sind symbolisch für zwei Herzen, die einander aufgeschlossen<br />

gegenüberstehen.<br />

Das sind die Fenster, von denen die Geschichtsschreiber sprechen.<br />

Von dort aus grüßt er jeden Tag <strong>Fatima</strong> und erkundigt sich nach ihrem Befinden.<br />

Warum hat von allen Gefährten, Verwandten und Töchtern nur das Haus<br />

<strong>Fatima</strong>s an der Moschee neben seinem Haus stehen müssen, als ob es nur ein<br />

Haus wäre?<br />

Ja, es <strong>ist</strong> nur ein Haus. Mohammads Haus <strong>ist</strong> ein Haus, in dem Ali der Vater,<br />

<strong>Fatima</strong> die Mutter, Hussein der Sohn und Zeinab die Tochter <strong>ist</strong>.<br />

Mit Itra (Hausangehörige) und Ahl-al-Bait (Leute des Hauses), die im Koran<br />

und der Tradition des Propheten erwähnt werden, sind dieses Haus und diese<br />

Familie gemeint. Wer dieses Haus kennt, braucht keine auf Tradition gestützte<br />

Beweisführung und theologische Argumentation, um das zu begreifen. Das wäre<br />

auch ohne jegliche Überlieferungen vernunftmäßig zu erfassen.<br />

Nun <strong>ist</strong> dieses Haus in Medina in unmittelbarer Nachbarschaft von Aishes Haus<br />

an der Moschee erbaut worden. <strong>Die</strong> Früchte dieser glücklichen Verbindung sind:<br />

Hassan, Hussein, Zeinab und Umm-i-Kultum.<br />

Mit diesen Sternen, die am Himmel des Islam aufgegangen sind, beginnt eine<br />

neue Geschichte; neue Horizonte werden sichtbar.<br />

Im dritten Jahr nach der Auswanderung und eineinhalb Jahre nach der<br />

Eheschließung wird Hassan geboren. Medina feiert diesen Tag, an dem die<br />

Erwartung des Propheten in Erfüllung gegangen <strong>ist</strong>.<br />

Sechszehn Jahre lang hatte er nur Nachrichten über Hass und Verrat, Verfolgung<br />

und Mord gehört. Nun hört er zum erstenmal die frohe Botschaft über die<br />

Geburt von Hassan und genießt die Freuden des Lebens.<br />

Freudestrahlend eilt er zu <strong>Fatima</strong>, nimmt das neugeborene Kind in die Arme,<br />

rezitiert den Gebetsruf und verteilt Silber unter die Armen von Medina.<br />

Ein Jahr später wird Hussein geboren. Der Prophet hat noch zwei Söhne<br />

gefunden. Das Schicksal wollte es, das er seine eigenen Söhne Ghasem und<br />

Ibrahim verlor, um durch <strong>Fatima</strong> andere zu bekommen. Das Geschlecht des<br />

Propheten sollte über <strong>Fatima</strong> fortgeführt werden.


Und Ali?<br />

In dieser Linie, die mit Mohammad anfängt, sollte er nicht fehlen. Ali bürgt für<br />

die Kontinuität seines Weges und <strong>ist</strong> sein ge<strong>ist</strong>iger Erbe. Er sollte auch diese<br />

Linie seines Geschlechtes fortführen. Sie sind in den nachfolgenden<br />

Generationen ineinander aufgegangen. In der Nachkommenschaft Mohammads<br />

lebt Ali weiter, in Alis der Prophet.<br />

Mohammad findet in diesen beiden Kindern Ali, <strong>Fatima</strong> und sich selber wieder.<br />

Er <strong>ist</strong> seinem Schicksal dankbar, das er für seine beiden verstorbenen Söhne<br />

zwei andere bekommen hat. Sie sind die Früchte der glücklichen Verbindung<br />

zwischen Ali und <strong>Fatima</strong>:<br />

<strong>Fatima</strong>, die man weiterhin „die Mutter ihres Vaters“ nennt, <strong>ist</strong> seine jüngste und<br />

liebste Tochter; und Ali, den er wie ein Sohn großgezogen hat, <strong>ist</strong> ihm ans Herz<br />

gewachsen. Vieles verbindet sie miteinander:<br />

Beide sind Abd al-Mutallebs Enkel. Alis Mutter hatte Mohammad seit seinem 8.<br />

Lebensjahr großgezogen. Sein Vater Abu Taleb war wie ein Vater zu<br />

Mohammad. Bis zu seinem 25. Lebensjahr lebte er in diesem Haus. Umgekehrt<br />

lebte Ali seit seiner Kindheit im Hause Mohammads, bis er 25 Jahre alt war.<br />

Khadija war wie eine Mutter zu ihm und der Prophet wie ein Vater.<br />

Welche Parallelen bei diesen Verbindungen und Verwandtschaften!<br />

Der eine <strong>ist</strong> das Ebenbild des anderen.<br />

Ali war der erste, der zum Islam übertrat und Mohammad folgte. In der Fremde<br />

und Einsamkeit le<strong>ist</strong>ete er als erster den Treueid und hat seitdem in der vorderen<br />

Linie der Gefahren gestanden und bis zum Ende seiner Tage ein hartes Leben<br />

auf sich genommen. Vor der Berufung, als Ali gerade 6 oder 7 Jahre alt war,<br />

nahm ihn der Prophet mit sich nach Hara, eine Höhle in der Nähe Mekkas und<br />

ließ ihn seinen Gebeten und Meditationen in den einsamen Tagen und Nächten<br />

beiwohnen.<br />

In der Stille der Nächte des Fastenmonats Ramadan kam ein Mann nach Hara,<br />

ging langsamen Schrittes und hob seinen Kopf gegen den Himmel, als ob er auf<br />

etwas Unsichtbares blickte oder auf etwas Unbestimmtes warte. Ihm folgte wie<br />

ein Schatten ein Kind.<br />

Ali war 8 oder 10 Jahre alt, als er eines Nachts in die Wohnung seiner<br />

Pflegeeltern Mohammad und Khadija kam und sah, wie sie niederknieten , sich


aufrichteten und gleichzeitig etwas vor sich hin sagten. Ihn beachteten sie nicht.<br />

Er fragte verwundert:<br />

„Was macht ihr denn?“<br />

Mohammad antwortete:<br />

„Wir beten. Ich bin beauftragt worden, den Menschen die Botschaft des Islam zu<br />

verkünden und sie aufzufordern, an einen einzigen Gott und an meine Mission<br />

zu glauben. Ali, ich fordere auch Dich dazu auf.“<br />

Ali <strong>ist</strong> zwar noch ein Kind, lebt in Mohammads Haus und fühlt sich ihm wegen<br />

seiner Liebe und Großzügigkeit besonders verbunden, <strong>ist</strong> aber nun einmal Ali.<br />

Er kann nicht bestimmen, ohne darüber nachgedacht zu haben. Der Glaube muss<br />

den Weg über die Vernunft zu seinem Herzen finden. Er spricht trotzdem die<br />

Sprache seines Alters:<br />

„ Erlaubt mir, mich mit meinem Vater, Abu Taleb, zu beraten und dann zu<br />

entscheiden „.<br />

Unmittelbar darauf begibt er sich in sein Zimmer.<br />

<strong>Die</strong> Aufforderung lässt Ali jedoch trotz seiner Jugend bis zum Morgengrauen<br />

keine Ruhe finden. Keiner weiß, was im Kopf dieses großartigen Kindes<br />

vorgeht. Am nächsten Morgen sieht man ihn erleichtert und entschlossen<br />

hineintreten. Er steht an der Tür und sagt in der Sprache der Kinder, aber mit der<br />

Logik eines Alis:<br />

„Ich habe es mir vergangene Nacht überlegt. Ich denke, das Gott meinen Vater<br />

Abu Taleb bei meiner Schöpfung nicht um Rat gefragt hat. Nun, warum sollte<br />

ich ihn jetzt um Rat fragen? Erkläre mir den Islam.“<br />

Nachdem der Prophet Ali den Islam erklärt hatte, sagte Ali:<br />

„Ich akzeptiere es“.<br />

Seit jenem Tag bis zum Ende seines Lebens war er ein leuchtendes Vorbild in<br />

der Verehrung Gottes, der Treue zu Mohammad und der Liebe zu den<br />

Menschen. Er war ge<strong>ist</strong>ig und gefühlsmäßig mit Mohammad verbunden; das<br />

war allgemein bekannt, und er fühlte es selbst auch am besten. Eines Tages war<br />

er über die Freundlichkeit, die der Prophet ihm gewährte, derart gerührt, das er<br />

dem Wunsch nicht widerstehen konnte, ihn zu fragen:


„Wen hat der Gesandte Gottes lieber, seine Tochter <strong>Fatima</strong> oder deren Ehemann<br />

Ali?“<br />

Der Prophet war mit einer schweren Frage konfrontiert. Während er darüber<br />

lächelte, wie er mit dieser Frage vor eine unmögliche Wahl gestellt wurde,<br />

beantwortete er sie getreu seinem Gefühl:<br />

„<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> mir lieber als Du, und Du b<strong>ist</strong> mir teurer als <strong>Fatima</strong>“:<br />

Seine Enkelkinder Hassan und Hussein sind also die Früchte einer Verbindung<br />

zwischen zwei Menschen, die ihm lieb und teuer sind.<br />

Der Prophet, von dessen Willens- und Entschlusskraft in der Geschichte des<br />

öfteren die Rede <strong>ist</strong>, dessen Schwert und Zorn die Kaiser, Könige und<br />

Mächtigen der Welt in Angst und Schrecken versetzten, <strong>ist</strong> gleichzeitig ein<br />

empfindsamer Mensch, der für Freundlichkeit und Aufrichtigkeit besonders<br />

empfänglich <strong>ist</strong>. In dem schrecklichen Krieg von Hunain hatten sich die Feinde<br />

verbündet, um ihn zu vernichten. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob sie damit<br />

Erfolg haben würden. Als sich das Kriegsgeschehen zugunsten der Moslems<br />

wendete und sie 6000 Gefangene und 40 000 Tiere Kriegsbeute machen<br />

konnten, kam ein Krieger aus dem feindlichen Lager zu ihm und sagte:<br />

„Mohammad, unter den Gefangenen gibt es Menschen, die Deine Onkel und<br />

Tanten sind, Hätten wir Numan ibn Munzar und ibn Abi Shimr gestellt, hätten<br />

wir auch von ihnen Großmut erwartet. Du b<strong>ist</strong> großzügiger als alle, die wir bis<br />

jetzt in unserer Sippe großgezogen haben“.<br />

Daraufhin brachten sie eine Frau, die laut ausrief:<br />

„Ich bin die Schwester Eures Propheten!“<br />

„Wie kannst Du das beweisen?“ fragte der Prophet.<br />

„Damit!“ sagte sie und zeigte auf eine Narbe auf ihrer Schulter.<br />

„Das hast Du getan, als ich Dich auf meinem Rücken trug und Du zornig<br />

wurdest.“<br />

<strong>Die</strong>se Worte riefen in ihm Kindheitserinnerungen wach, als er in der Wüste<br />

unter diesem Volk bei seiner lieben Amme und deren Töchtern lebte, und<br />

rührten ihn zu Tränen. Er sagte:<br />

„Auf meinen Anteil und auf den der Kinder von Abd al-Mutalleb verzichte ich<br />

sofort. Kommt morgen in die Moschee und wiederholt Eure Bitte nach dem<br />

Gebet laut vor der Versammlung, damit ich meinen Entschluss und den meiner


Verwandten auf Eure Bitte bekannt gebe; vielleicht mir darin noch einige andere<br />

Familien“.<br />

Am nächsten Tag geschah es so, wie er es vorausgesehen hatte. Auf diese Weise<br />

konnte er sie alle befreien. Einige, die auf ihre Anteile nicht verzichten wollten,<br />

wurden mit Versprechungen auf die Zukunft abgefunden.<br />

Zu Hause und in der Familie verhält sich der Prophet auch nicht anders. Ist er<br />

draußen der Staatsmann und unbeugsame Befehlshaber, so <strong>ist</strong> er zu Hause ein<br />

liebender Vater und sanftmütiger Ehemann, so das in einer Zeit, als die Logik<br />

der Männer den Frauen gegenüber nur in der Prügelstrafe bestand, seine Frauen<br />

frech zu ihm wurden und ihn quälten, weil er in seinem ganzen Leben niemals<br />

die Hand gegen sie erhoben hatte. Nur ein einziges Mal bestrafte er sie auf seine<br />

Art, weil sie ihm seine Armut vorwarfen und sagten, das ein Leben unter diesen<br />

Umständen in seinem Hause unerträglich sei. Er war ihnen gram, besuchte sie<br />

nicht mehr in ihrem Haus und schlief in einem Getreidelager auf dem nackten<br />

Boden. Er hatte seinen Frauen freigestellt, sich für die Scheidung und das gute<br />

Leben oder aber für ihn und die Armut zu entscheiden. Seine Frauen, die ihn<br />

liebten, gaben nach einem Monat reumütig auf und entschieden sich mit einer<br />

Ausnahme für den von ihm gewählten Weg.<br />

Er hat niemals versucht, sich als geheimnisvolles und übernatürliches Wesen<br />

dazustellen, im Gegenteil, er war besonders auf seine Natürlichkeit bedacht. Er<br />

führte nicht nur den koranischen Spruch:<br />

„Sag: Ich bin nur ein Mensch wie Ihr, einer, dem als Offenbarung eingegeben<br />

wird“ (Koran 41/6) als Beweis an, sondern gab jederzeit freimütig zu, das er<br />

nicht Wahrsagen könne und nur das wisse, was ihm offenbart werde. Er war<br />

stets darauf bedacht, das seine Worte und Taten nicht als übernatürlich<br />

bezeichnet werden und versuchte, den Menschen die ehrfurchtvolle Scheu vor<br />

seiner Stelle zu nehmen.<br />

Eines Tages kam eine alte Frau, um ihn etwas zu fragen. Sie hatte so viel über<br />

seine ungewöhnliche Persönlichkeit gehört, das sie vor ihm zu stottern und zu<br />

zittern begann. Der Prophet, der den Grund ihrer Verlegenheit ahnte, ging auf<br />

sie zu, legte seine Hand auf ihre Schulter und sagte mit aufrichtiger Sanftmut:<br />

„Was hast Du, Mütterchen? Ich bin der Sohn jener Melkerin aus dem Stamme<br />

der Qureisch.“<br />

Mohammad <strong>ist</strong> erstaunlich zartfühlend und einfühlsam. Zu Hause <strong>ist</strong> er so<br />

demütig, das es der neunjährigen Aishe nicht schwer fällt, an ihn<br />

heranzukommen. <strong>Fatima</strong> küsste er die Hände. Sein liebevolles Wesen zeigt sich<br />

auch in seiner Ausdrucksweise:


„Ammar <strong>ist</strong> die Haut zwischen meinen beiden Augen, Ali <strong>ist</strong> von mir und ich<br />

bin von Ali, <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> ein Teil von mir...“<br />

Nun sind Hassan und Hussein da. Mohammad geht in seinen beiden<br />

Enkelkindern auf. Er <strong>ist</strong> kinderlieb. Obwohl er seine Töchter mit Liebe und<br />

Respekt überhäuft- was noch heute seinesgleichen sucht- hat er sich doch schon<br />

immer auch Söhne gewünscht. Das Schicksal wollte es jedoch, das nur seine<br />

Töchter am Leben blieben.<br />

So hat er auf diese Weise seine beiden Söhne wieder, und darum <strong>ist</strong> es nur<br />

natürlich, das er sie so sehr liebt. Trotzdem versetzt seine Zuneigung zu diesen<br />

Kindern alle in Erstaunen:<br />

Eines Tages kommt er, wie er es gewöhnlich jeden Tag seit der Geburt der<br />

Kinder tut, zu <strong>Fatima</strong>. Er sieht, das <strong>Fatima</strong> und Ali eingeschlafen sind und<br />

Hassan vor Hunger weint. Er bringt es nicht übers Herz, seine Lieben zu<br />

wecken, melkt ein im Hof stehendes Schaf und gibt dem Kind die Milch.<br />

Ein anderes Mal, als er an <strong>Fatima</strong>s Tür vorbeigeht, hört er Hussein weinen, tritt<br />

ein und sagt vorwurfsvoll:<br />

„Du weißt doch, das ich ihn nicht weinen sehen kann.“<br />

Usama ibn Zaid ibn Harisa berichtet: Einmal suchte ich den Propheten wegen<br />

einer Angelegenheit auf. Ich klopfte an die Tür, er kam heraus. Während ich mit<br />

ihm sprach, wurde ich auf seine Kleidung aufmerksam. Mir schien, das er etwas<br />

darunter verbarg, was er nur mit Mühe festhalten konnte. Nachdem unser<br />

Gespräch beendet war, fragte ich ihn:<br />

„Was hast Du da Gesandter Gottes?“<br />

Seine Augen leuchteten vor Freude und Aufregung auf, er schob sein Gewand<br />

zurück und ich sah, das er Hassan und Hussein darunter im Arm hielt; als ob er<br />

sein ungewöhnliches Verhalten rechtfertigen wollte, sagte er in einem Ton, der<br />

jedem Verständnis abnötigte, wie in einem Selbstgespräch:<br />

„Das sind meine beiden Söhne, die Söhne meiner Tochter“:<br />

Dann fuhr er fort:<br />

„Allmächtiger Gott, ich habe sie ins Herz geschlossen, lass ihnen und<br />

denjenigen, die sie lieben, Deine Liebe zuteil werden!“


Nach den Worten von Dr. Aishe al-Rahman Binti Shatti:<br />

„Hätte man Mohammad die freie Wahl gelassen zu bestimmen, welche seiner<br />

Töchter sein Geschlecht fortführen und welcher seiner Schwiegersöhne Vater<br />

dieser erwürdigen Hauses sein solle, hätte er keine bessere Wahl treffen können,<br />

als diese von Gott getroffene.“<br />

<strong>Die</strong> Kinder Alis und <strong>Fatima</strong>s sehen in Mohammad den Großvater, Vater,<br />

Freund, Verwandter, das Familienoberhaupt und den Spielkameraden. Sie<br />

kannten ihn besser als ihre Eltern und fühlten sich bei ihm freier.<br />

Als sich der Prophet eines Tages zum Gebet neigte und lange in dieser Stellung<br />

verharrte, gab er Anlass zur Verwunderung, denn normalerweise verrichtete er<br />

sein Gebet schnell, weil er auf die Schwächeren Rücksicht nahm. Daher glaubte<br />

man, das etwas Ungewöhnliches passiert sei oder er eine Offenbarung<br />

empfangen habe. Nach dem Gebet wurde er nach dem Grund der Verzögerung<br />

gefragt. Er sagte:<br />

„Als wir uns zum Gebet geneigt hatten, kletterte Hussein auf meinen Rücken,<br />

wie er es von zu Hause aus gewohnt <strong>ist</strong>. Ich wollte ihn nicht verwirren und<br />

wartete, bis er mich von selbst losließ. Daher dauerte mein Gebet so lange.“<br />

Steckt da nicht gleichzeitig die Absicht dahinter, den Menschen, insbesondere<br />

seinen Gefährten, zu zeigen, wie sehr er diese Kinder und ihre Eltern liebt, weit<br />

mehr, als ein Mensch sonnst fähig <strong>ist</strong>?<br />

Weshalb behandelt er <strong>Fatima</strong> in aller Öffentlichkeit ehrerbietig, küsst ihre<br />

Hände, lobt ihre Tugenden in der Moschee und zeigt seine ungewöhnliche enge<br />

innere Bindung an diese Familie von der Kanzel aus? Warum fügt er seinen<br />

anerkennenden Worten über Hassan, Hussein, Ali und <strong>Fatima</strong> jedes Mal noch<br />

hinzu:<br />

„Allmächtigern Gott, lass ihnen Deine Liebe zuteil werden, denn ihre<br />

Zufriedenheit <strong>ist</strong> meine Zufriedenheit, und meine Zufriedenheit <strong>ist</strong> Deine<br />

Zufriedenheit. Wer sie quält , der quält auch mich. Und wer mich quält, hat Dich<br />

gequält..“?<br />

Warum diese Worte, weshalb diese Zuneidung zu dieser besonderen Familie?<br />

<strong>Die</strong> Zukunft hat diese Fragen beantwortet. Das Schicksal dieser Familie, das<br />

Schicksal jedes einzelnen Mitgliedes der Familie war die Antwort auf diese<br />

Fragen; sie wurden nach dem Tode des Propheten beantwortet. <strong>Fatima</strong> war das<br />

erste Opfer, ihr folgte Ali, dann Hassan, auf ihn Hussein und schließlich Zeinab.


Im 5. Jahr, ein Jahr nach Hussein, wird ein Mädchen geboren; sie wird Zeinab<br />

genannt. Zwei Jahre nach ihr wird Umm-i Kulthum geboren. Auch die Töchter<br />

des Propheten hießen Zeinab und Umm-i Kulthum. Ja, <strong>Fatima</strong> bedeutete für<br />

Mohammad alles. Seine Töchter sind tot. Ihm sind nur <strong>Fatima</strong> und ihre Kinder<br />

geblieben. Das <strong>ist</strong> „Ahl al-Beit“, die „Familie des Propheten“.<br />

Seine Liebe zu Hassan und Hussein wird immer stärker. <strong>Die</strong> beiden Kinder<br />

füllen sein Leben aus. Wenn er auf die Strasse und auf dem Marktplatz von<br />

Medina spazieren geht, trägt er eins der Kinder auf seinen Schultern.<br />

Als er einmal in der Moschee von der Kanzel aus predigt, sieht er von dort aus<br />

seine Enkelkinder, die gerade erst laufen lernen, auf dem Hof spielen. Sie<br />

stolpern immer wieder über ihre Füße und fallen zu Boden. Der Prophet, der<br />

seinen Blick von ihnen nicht abwenden kann, unterbricht seine Predigt, eilt zu<br />

ihnen, nimmt sie auf den Arm und besteigt wieder die Kanzel. <strong>Die</strong> Leute<br />

beobachten ihn. Sie sind über die Unruhe dieser starken Persönlichkeit erstaunt.<br />

Er spürt, was in ihnen vorgeht. Während er die Kinder vorsichtig hinsetzt, sagt<br />

er entschuldigend:<br />

„Euer Vermögen und Eure Kinder sind euch eine Versuchung...“ (Koran 64/15)<br />

„Ich sah plötzlich diese Kinder, die stolperten und fielen, konnte mich nicht<br />

beherrschen und habe die Predigt unterbrochen, um sie aufzuheben.“.<br />

Es scheint, das seine Zuneigung zu Hussein eine andere Qualität besitzt. Sie<br />

übertrifft jede Vorstellung. Er spielt mit ihm, singt mit ihm, liegt ihm zu Füßen,<br />

bedeckt sein Gesicht mit Küssen und betet mit Inbrunst:<br />

„Allmächtiger Gott, sei gnädig zu ihm, denn ich hab ihn lieb.“<br />

Eines Tages war er mit einigen Gefährten unterwegs, um einen Besuch zu<br />

machen. Auf dem Marktplatz bemerkte er plötzlich Hussein, der mit seinen<br />

Kameraden spielte. Er wollte sein Enkelkind in die Arme schließen. Das Kind<br />

lief beim Spiel von einem Ort zum anderen, und der Prophet folgte ihm lachend,<br />

bis er es einholte. Er legte die Hand auf seinem Kopf, drückte ihm zärtlich einen<br />

Kuss auf die Wange und sagte:<br />

„Ich gehöre Hussein und Hussein gehört zu mir. Lieber Gott, sei gnädig zu allen,<br />

die lieb zu meinem Hussein sind.“<br />

<strong>Die</strong> Begleiter schauten ihn erstaunt an. Einer sagte zum anderen:<br />

„Sieh nur, was der Prophet mit seinem Enkelkind anstellt. Ich habe meinen Sohn<br />

noch nie geküsst.“


Der Prophet, dem seine Lieblosigkeit und Verschlossenheit missfielen,<br />

antwortete:<br />

„Wer keine Liebe empfindet, dem wird auch keine entgegengebracht.“<br />

<strong>Fatima</strong> führt ein glückliches Leben, und die bittere Erinnerung an die Zeit der<br />

Verfolgung und Armut verblassen allmählich.<br />

Nach dem Khaibar- Krieg schenken die Juden dem Propheten das Ackerland<br />

Fadak. Er überließ es <strong>Fatima</strong>; dies half ihr, die inzwischen vier Kindern das<br />

Leben geschenkt hatte, über die Härten des enterungsreichen Lebens<br />

hinwegzukommen.<br />

Mekka wurde erobert, und <strong>Fatima</strong> zog in Begleitung ihres siegreichen Vaters<br />

und heldenmütigen Mannes, der das Adler-Banner trug, in Mekka ein. Sie<br />

erlebte den größten Sieg des Islam, besuchte ihre Geburtsstätte und frischte gute<br />

und böse Erinnerungen an ihr Leben in Mekka auf:<br />

Masdjid al-Haram und die dortigen Ereignisse, des Vaters Haus und das Leben<br />

an der Seite ihrer Schwester, ihr Geburtshaus, das Abu Taleb-Tal. Das Grab Abu<br />

Talebs und das Grab ihrer Mutter....<br />

Siegreiche und ehrenvolle Rückkehr in Zufriedenheit und Glück.<br />

Der Vater wird nicht mehr von der Rachsucht seiner Feinde verfolgt; sein<br />

Einfluss erstreckt sich auf die ganze Halbinsel. Der Ehemann hat Badr, Uhud,<br />

Khandagh, Khairbar, Mekka, Hunain und Jemen Taten vollbracht, die<br />

verdienstvoller sind als alles Beten der Menschen von der Schöpfung bis zur<br />

Auferstehung. Und ihre Kinder sind Früchte eines entbehrungsreichen, aber<br />

glücklichen Lebens; sie sind das Herz der Familie, der Mittelpunkt des<br />

ehrwürdigen Hauses des Propheten und seine Nachkommen.<br />

<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> für all ihr Leiden und Tugenden belohnt worden.<br />

Umso glücklicher <strong>ist</strong> sie, wenn sie immer wieder feststellt, das ihre Kinder dem<br />

Propheten unendliche Freude bereitet. Sie hat es geschafft, ihrem geliebten<br />

Vater, der außer ihr alle Kinder verloren und ein Leben lang gelitten hatte, in<br />

seinem hohen Alter, als er die Kinder mehr denn je brauchte, die Freuden des<br />

Lebens zu schenken.<br />

Ihr Leben <strong>ist</strong> leichter geworden. Das Glück <strong>ist</strong> ihr hold. Ihr Haus <strong>ist</strong> umgeben<br />

von Segen und Glückseeligkeit. <strong>Die</strong> unbeschreibliche Zuneigung des Vaters, die<br />

ruhmreichen Taten des Ehemannes und die Bege<strong>ist</strong>erungsfähigkeit der Kinder<br />

haben ihre Träume von einem glücklichen Leben wahr werden lassen.


Das alles war jedoch nur die Ruhe vor dem Sturm, der umso heftiger und<br />

verheerender kam und ihr Heim zerstörte. Der Prophet wurde bettlägig und<br />

konnte nicht wieder aufstehen. Plötzlich fallen die Masken. In der reinen und<br />

guten Stadt Medina breiten sich Angst und Hass aus. <strong>Die</strong> Politik vertreibt den<br />

Glauben und die Aufrichtigkeit aus der Stadt Mohammads, die brüderliche<br />

Bindungen werden zerrissen und alte Stammesbindungen neu geknüpft.<br />

Der Prophet gibt keine Anweisungen mehr; er schickt nach Ali. Aber Aischa<br />

und Hafaza holen ihre Väter. An einem Tag hört <strong>Fatima</strong> Omar in der<br />

Gebetsnische ihres Vaters als Vorbeter beten, am anderen Tage Abu Bakr.<br />

<strong>Die</strong> von Usama (50) befehligte Armee bleibt in Djorf und rückt trotz dringender<br />

Anordnungen des Propheten nicht an. Es werden Stimmen laut, die gegen die<br />

Ernennung von Usama, dem ihr Vater selbst die Fahne überreicht hatte,<br />

protestiert. An einem Donnerstag gibt der Vater mit Tränen in den Augen die<br />

Anweisung:<br />

„Bringt mir Feder und Schreibtafel, ich möchte etwas aufschreiben, damit ihr<br />

nicht irregeführt werdet.!“<br />

Seinem Wunsch wird nicht entsprochen, sie sagen, er phantasiere; er brauche<br />

nicht zu schreiben, das Buch Gottes reiche aus!<br />

- Nun sagt mein Vater nichts mehr. Er liegt im Hause Aishes, Ali sitzt an seinem<br />

Bett, seine Lippen bewegen sich nicht mehr. Er redet nur noch mit den Augen.<br />

Ich kann dieses Unglück kaum ertragen. Er <strong>ist</strong> mein Vater, ich war wie eine<br />

Mutter zu ihm. Wenn er mich nun mit diesen Menschen in dieser Stadt allein<br />

lässt?<br />

Er wendet keinen Blick von mir, er <strong>ist</strong> um mich besorgt. An meinem<br />

Gesichtsausdruck erkennt er, wie sehr ich leide. Seine kleine <strong>Fatima</strong> tut ihm<br />

leid. Mit einem Augenzwinkern gibt er mir zu verstehen, das er mich sprechen<br />

möchte. Ich beuge mich zu ihm nieder, er flüstert mir ins Ohr:<br />

„<strong>Die</strong>se Krankheit wird mit dem Tode enden, ich verlasse Dich.“<br />

Ich hebe den Kopf und spüre, wie mir die Kräfte unter der Last des nahenden<br />

Unglücks schwinden, des Unglücks, nach dem Tode des Vaters weiterleben zu<br />

müssen. Warum gibt er mir allein die Nachricht?<br />

Ich kann sie doch am wenigsten ertragen. Er lässt seinen Blick auf mir ruhen<br />

und zeigt Mitleid mit seiner jüngsten Tochter, die ihn weiterhin wie ein Kind<br />

braucht. Dann gibt er mir ein weiteres Zeichen:


„Meine Tochter, Du b<strong>ist</strong> die erste aus meiner Familie, die mir folgen wird.“<br />

Darauf fügt er hinzu:<br />

„<strong>Fatima</strong>, b<strong>ist</strong> Du denn nicht zufrieden, das Du die Frauen dieser Gemeinschaft<br />

anführst?“<br />

Welch ein Trost! Welch andere frohe Botschaft hätte mich sonnst in meinem<br />

Unglück trösten können?<br />

Ja, Vater, Du weißt wie Du Deine <strong>Fatima</strong> trösten sollst. Du wusstest schon,<br />

warum Du ausgerechnet mir diese Nachricht übermitteltest. Nun habe ich die<br />

Kraft zu weinen und zu trauern.<br />

„Ein weiser Mann, dessen erleuchtetes Gesicht das Wasser in den Wolken sucht,<br />

ein Mann, der die Hoffnung der Waisen und der Beschützer der Witwen <strong>ist</strong>.“<br />

Plötzlich öffnet mein Vater die Augen:<br />

„<strong>Fatima</strong>, das <strong>ist</strong> das Lobgedicht von Abu Taleb über mich. Meine Tochter, sage<br />

jetzt keine Gedichte auf, rezitiere lieber aus dem Koran die Stelle: ´Und<br />

Mohammad <strong>ist</strong> nur ein Gesandter. Es hat schon vor ihm Gesandte gegeben.<br />

Würdet Ihr denn eine Kehrtwendung vollziehen, wenn er stirbt oder getötet<br />

wird?`“<br />

Und dann sagte er:<br />

„Gott verfluche die Völker, die die Gräber ihrer Propheten zu Gebetsstätten<br />

machen.“<br />

Und als ob er ein Selbstgespräch führe:<br />

„Gehören denn nicht die selbstherrlichen Despoten in die Hölle?“<br />

Danach fährt er fort:<br />

„<strong>Die</strong> andere Welt <strong>ist</strong> nur für diejenigen geschaffen, die in dieser Welt keine<br />

Unterdrückung und Gemeinheit dulden, suchen oder ausüben.“<br />

<strong>Die</strong> Politiker, die ihn nicht hatten schreiben lassen wollen, forderten ihn jetzt auf<br />

, es mündlich zu sagen. Er sah sie mitleidig an und sagte:<br />

„Was ich vorhabe, <strong>ist</strong> besser als das, wozu Ihr mich verleiten wollt.“


Auf ihre beharrlichen Fragen, was er habe schreiben wollen, erklärte er:<br />

„Hört meinen letzten Willen! Ich möchte Euch drei Ratschläge erteilen:<br />

1. Vertreibt die Ungläubigen aus der arabischen Halbinsel.<br />

2. Empfangt die Abordnungen der Stämme, wie ich sie empfangen habe.<br />

3. .....“<br />

Es folgt ein Schweigen. Alle sahen plötzlich Ali an. Er war in Gedanken<br />

versunken und litt schweigend. Der Vater schwieg ebenfalls. Sein Schweigen<br />

währte lange. Er schaute mit tränengetrübten Augen in die Ferne. Sie gingen<br />

hinaus.<br />

Ich stöhnte vor Schmerz: „Vater, ich bin so unglücklich über Deinen Kummer.“<br />

Er antwortete unverzüglich in einem befreienden und beruhigten Ton:<br />

„Ab heute wird mein Zustand Dich nicht mehr bekümmern.“<br />

Seine Lippen bewegten sich nicht mehr; Lippen , die die Offenbarung verkündet<br />

hatten. Sein Blick ruhte eine Zeitlang auf uns, dann schlossen sich seine Augen.<br />

Aus seinem Hals Quoll Blut hervor. Sein Kopf ruhte auf Alis Brust. Ali<br />

verharrte in einem tödlichen und tiefen Schweigen, als ob er vor dem Propheten<br />

gestorben wäre. Aishe beugte sich über den Vater, andere Frauen taten es ihr<br />

gleich.<br />

Ja, ja.... Ein Augenblick des Schweigens. Plötzlich fielen seine Hände, die als<br />

Zeichen des Gebets auf dem Kopf Usama ruhten, zur Seite, seine Lippen<br />

bewegten sich:<br />

„Auf zum erhabenen Freund.“<br />

Alles <strong>ist</strong> zu Ende.<br />

Mein Vater, oh mein Vater!<br />

Gott erhöre sein Gebet!<br />

Wir vertrauen ihn Gabriel an.<br />

Draußen wurde es laut. <strong>Die</strong> Stadt weinte aus Angst und Sorge. Ich hörte Omar<br />

sagen:<br />

„Nein der Prophet <strong>ist</strong> nicht gestorben; er <strong>ist</strong> wie Jesus in den Himmel gefahren<br />

und wird wieder zurückkehren. Wer behauptet , er sei gestorben, <strong>ist</strong> ein<br />

Unheilstifter und verwirkt seinen Kopf.“


Nach einigen Stunden war alles ruhig. Ich sah Abu Bakr und Omar eintreten.<br />

Abu Bakr deckte das Gesicht des Vaters auf, weinte und verließ das Haus<br />

wieder. Omar folgte ihm.<br />

Ali kümmerte sich um das Leichentuch und die rituelle Waschung. Ich<br />

beobachtete meinem Mann, wie er den Vater wusch und weinte. <strong>Die</strong> Leute<br />

hatten ihren Propheten verloren, die Schutzsuchenden ihren Beschützer und die<br />

Gefährten ihren geliebten Führer, aber Ali und ich hatten alles verloren“<br />

Plötzlich spürte ich, das wir beide Fremde in dieser Stadt und in dieser Welt<br />

geworden sind.<br />

Alles änderte sich, auch die Gesichter änderten sich. Der Schrecken breitete sich<br />

aus. <strong>Die</strong> Politik hatte die Aufrichtigkeit verdrängt.<br />

<strong>Die</strong> Brüder, die sich beim Bruderschaftsgelübde die Hand zur Treue gereicht<br />

hatten, entfernten sich von einander, und der Standesdünkel der Sippschaften<br />

lebte wieder auf, noch ehe der Prophet des einfachen Mannes begraben worden<br />

war.<br />

Während Ali und ich an nichts anderes denken konnten als an unseren<br />

schmerzlichen Verlust, waren in Medina Verschwörungen und<br />

Auseinandersetzungen im Gange, Um Mohammads Nachfolger zu bestimmen.<br />

Unsere heile Welt war zusammen gebrochen.<br />

Plötzlich betrat unser Großonkel Abbas mit bekümmerten Gesicht das Haus und<br />

sagte in einem vielsagenden und besorgniserregenden Ton zu Ali:<br />

„Strecke Deine Hand aus, ich möchte Dir meinen Treueid le<strong>ist</strong>en, damit die<br />

anderen sagen, das der Onkel des Propheten dessen Vetter gehuldigt habe. Dann<br />

werden auch andere Mitglieder der Familie Dir huldigen und kein anderer kann<br />

danach..“<br />

Ali unterbrach ihn:<br />

„Weshalb? Haben noch andere Ansprüche angemeldet?“<br />

„Du wirst es morgen erfahren!“<br />

Ali spürte das Unheil. Aber das Gefühl ging vorüber, denn viel zu groß war sein<br />

innerer Schmerz. Mohammad war sein Verwandter, Vater, Erzieher, Bruder,<br />

Freund und sein Prophet. Es war der Sinn seines Lebens. Was sich draußen<br />

abspielte, konnte seine Gedanken augenblicklich nicht beschäftigen. Er hielt das<br />

kostbare Gut seines Lebens in seinen kalten, zittrigen Händen.


Er war mit dem Propheten beschäftigt und mit unseren Kindern. Hassan war 7<br />

Jahre alt, Hussein 6, Zeinab 5 und Umm-i Kulthum 3 Jahre; nach seinem Tod<br />

wird man diesen Kindern nur mit Hass begegnen.<br />

Außerhalb der Stadt, in Saghifa (51) waren die medinensischen Gefährten des<br />

Propheten zusammengekommen, um seinen Nachfolger zu wählen. Sie ahnten,<br />

das die Mekkanischen Einwanderer eigene Pläne schmiedeten.<br />

Abu Bakr, Omar und Abu Ubaida eilten zu ihnen und überzeugten sie davon,<br />

das der Prophet gesagt habe, die Führer müssten vom Stamme der Qureisch sein.<br />

Sie argumentierten, das der Nachfolger des Propheten sein Verwandter sein<br />

müsse. Schließlich wurde Abu Bakr in Saghifa gewählt.<br />

<strong>Fatima</strong> befand sich in einer unbeschreiblichen inneren Verfassung. Sie war nicht<br />

nur die Tochter des Propheten, sondern sie hatte wie eine Mutter für ihn gesorgt<br />

und war zu Hause, in der Fremde, im Krieg und im Frieden seine ständige<br />

Gefährtin gewesen . Sie war seine jüngste Tochter und gegen Ende seines<br />

Lebens das einzige Kind, das ihm geblieben war. Sie sollte sein Geschlecht<br />

fortführen.<br />

Als sie das Licht der Welt erblickte, besaß die Mutter ihr Vermögen längst nicht<br />

mehr; das ruhige Leben des Vaters hatte sich gewandelt und die älteren<br />

Schwestern hatten ihre kindliche Fröhlichkeit verloren. Mit 65 Jahren war die<br />

Mutter alt und gebrechlich, und das Leben in Glück und Wohlstand war einem<br />

Leben in Armut, hasserfüllter Umgebung und Verrat gewichen.<br />

Khadija war nicht nur Mutter und Ehefrau, sondern an erster Stelle Gefährtin<br />

und Leidensgenossin eines Mannes, der die schwere Bürde seiner Mission zu<br />

tragen hatte und ausgezogen war, die Menschen die Botschaft Gottes zu lehren<br />

und sie aus den Fesseln einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu<br />

befreien, die sie zu Sklaven und Götzendienern machte.<br />

<strong>Fatima</strong>s Mutter widmete sich voll und ganz Mohammad, in dessen Innerem ein<br />

sonderbarer Sturm der Empfindung tobte und in dessen Umgebung ein Feuer<br />

des Materialismus und der Feindseligkeit ausgebrochen war. Sie begleitete<br />

Mohammad auf seinem Leidensweg und kümmerte sich um ihn, während er mit<br />

sich selbst, seiner Revolution und der Botschaft Gottes an die Menschen<br />

beschäftigt war.<br />

In den Jahren, als <strong>Fatima</strong> auf die Liebe der Eltern angewiesen war, spürte sie,<br />

das ihre Eltern ihrer kindlichen Fürsorge bedurften. <strong>Die</strong> Liebe zu ihnen ,die aus<br />

Liebe gelitten hatten, und ihr gemeinsames Leben mit ihnen, das ein Leben der<br />

Einsamkeit war, hatten ihre Denkweise geprägt, und sie sagte:


„Freunde, die ihre Sorgen und Leiden miteinander teilen, verbindet eine so tiefe<br />

und aufrichtige Zuneigung, wie sie bei einem gemeinsamen Erlebnis des Glücks<br />

nicht zustande kommt.“<br />

Wer aus Liebe und Überzeugung dem Freund sein Leben opfert, empfindet eine<br />

Zuneigung für ihn, die der Freund in dieser Erhabenheit nicht spüren kann.<br />

<strong>Die</strong> Liebe <strong>Fatima</strong>s zu ihrem Vater war über die töchterliche Zuneigung hinaus<br />

eine aufrichtige und unerschüttliche Bindung zu ihm, die aus den gemeinsamen<br />

Erlebnissen der harten Verfolgungsjahre gewachsen war. Es war ihr bewusst,<br />

welchen Opfergang er angetreten hatte:<br />

Er war in seiner eigenen Stadt zu einem Fremden geworden und vereinsamte in<br />

einer Gemeinschaft, die seine Sprache nicht verstanden. Er musste an mehreren<br />

Fronten Auseinandersetzungen austragen und war mit der Ignoranz der<br />

Götzendiener, der Feindseligkeit der ungebildeten Scheichs, der<br />

Niederträchtigkeit der Ar<strong>ist</strong>okratie und der Rachsucht der Sklavenhändler<br />

konfrontiert.<br />

Er musste die schwere Bürde seiner göttlichen Mission auf seinem langen Weg<br />

von der Sklaverei zur Freiheit, von den Niederungen des dunklen Tales um<br />

Mekka bis auf den Gipfel des Lichtberges allein tragen, während er von Hass,<br />

Verrat, Engstirnigkeit und Niedertracht begleitet wurde.<br />

Er wurde ausgerechnet von dem Volk gequält und verfolgt, zu dessen Erlösung<br />

er berufen worden war. Seine nächsten Verwandten peinigten ihn am me<strong>ist</strong>en;<br />

sie behandelten ihn wie einen Fremden.<br />

Allein gelassen, getrieben vom Fieber der Offenbarung, dem Sturm der Liebe<br />

und Überzeugung, geplagt von der Feindseeligkeit seines Stammes, der<br />

Dummheit seines Volkes, gebückt unter der Last seines Auftrages, gegeißelt von<br />

ununterbrochenen Worten der Offenbarung, trug er jeden Tag das in seinem<br />

Inneren entfachte Feuer der Erleuchtung unter das Volk; auf seinem Weg, auf<br />

dem Hügel von Soffa in Mekka, warnte er die ignoranten und sorglosen<br />

Menschen und verkündete seine Botschaft. Auf dem Hof der Masdji al-Haram<br />

und am Dar al-Nodva, dem Versammlungsort der Oberschicht der Qureisch, und<br />

vor 330 vom Volke erwählten stummen und seelenlosen Götzen rief er zu<br />

Wachsamkeit und Freiheit auf.<br />

Erschöpft vor Müdigkeit, verletzt und geschmäht, machte er sich jeden Abend<br />

auf den Heimweg; ihm folgte eine Schar von Menschen, die ihn beschimpften<br />

und verspotteten.


Vor ihm lag ein stilles Haus, in dem eine liebevolle, gebrechliche Frau auf ihn<br />

wartete.<br />

<strong>Fatima</strong>, das kleine schwache Mädchen, folgte dem Vater Schritt für Schritt auf<br />

den mit Hass erfüllten Strassen der Stadt in die Masdji al-Haram, um dort<br />

wiederum beschimpft, verspottet, beleidigt und gequält zu werden. Wie ein<br />

Vogel, der seine aus dem Nest fallenden Jungen unter seine schützenden Fittiche<br />

nimmt, war sie immer zur Stelle, wenn der Vater angegriffen wurde, wischte<br />

ihm das Blut vom Gesicht, verband seine Wunden, tröstete den Verkünder der<br />

göttlichen Wortes mit kindlichen Worten und brachte den großen einsamen<br />

Mann nach Hause.<br />

Sie erfüllte die Herzen der kränklichen Mutter und des leidenden Vaters durch<br />

ihre Zärtlichkeit mit Liebe und Freude.<br />

Bei der blutigen Rückkehr des Vaters aus Ta´if lief sie alleine ihm entgegen,<br />

bemühte sich, seine Sorgen zu zerstreuen, ihn abzulenken und ihm durch ihre<br />

Zärtlichkeit neuen Lebensmut zu geben,. Während der Belagerung verharrte sie<br />

3 Jahre lang am Bett ihrer alten Mutter und erduldete gemeinsam mit ihrem<br />

Vater die Härten der Hungerjahre und der Einsamkeit.<br />

Der Tod der Mutter und des Großonkels hatte im Leben des Vaters, der plötzlich<br />

zu Hause und draußen einsam geworden war, eine schmerzliche Lücke<br />

hinterlassen. Mit Liebe und Fürsorge versuchte <strong>Fatima</strong>, diese Lücke auszufüllen.<br />

Sie widmete jede Stunde ihres Lebens dem Vater, bestärkte ihn durch ihre<br />

Frömmigkeit und ihren Glauben an seine Botschaft in seiner Überzeugung, gab<br />

ihm Hoffnung auf eine bessere Zukunft durch ihre Heirat mit Ali und schenkte<br />

ihm Enkelkinder, nachdem er seine eigenen Söhne und Töchter frühzeitig<br />

verloren hatte.<br />

Das sind Erlebnisse, die im Laufe ihres ganzen Lebens Bindungen zu ihrem<br />

Vater geschaffen haben, die stärker als jede Liebe, Freundschaft, Ergebenheit<br />

und Glauben sind.<br />

Es <strong>ist</strong> das Geflecht aller Ereignisse, das im Laufe der Jahre im tiefen<br />

Bewusstsein <strong>Fatima</strong>s gewachsen <strong>ist</strong> und sie mit ihrem Vater innerlich verbindet.<br />

Nun sind diese Bindungen mit einem Schlag gerissen. Ohne ihn soll sie „ sein“<br />

und „ leben“. Welch ein harter und schwerer Schlag für diese feinfühlige Frau,<br />

die aus dem Glauben an den Vater und der Liebe zu ihm Lebensmut schöpfte.<br />

Es war kein Zufall, das der Prophet sich auf dem Sterbebett veranlasst sah, sie<br />

als einzige zu trösten, damit sie die Kraft habe, dem Tod des Vaters zu ertragen.


<strong>Die</strong> Nachricht über ihren bevorstehenden Tod und die Hoffnung ihm bald folgen<br />

zu können, gaben ihr Kraft und Mut.<br />

Nicht genug damit, das <strong>Fatima</strong> mit diesem harten Schicksalsschlag tief ins<br />

Unglück gestützt war; der nächste Schlag folgte unmittelbar darauf. Wenn er<br />

auch nicht hart war wie der Tod des Vaters, so ging er doch in seinen<br />

Konsequenzen viel weiter.<br />

Ein anderer war zum Nachfolger des Propheten gewählt worden!<br />

Welchen Unterschied macht es schon, ob Abu Bakr der Nachfolger wurde oder<br />

ein anderer?<br />

Ali war es auf jedenfalls nicht!<br />

Nun wird klar, warum der Prophet bei der Rückkehr von der<br />

Abschiedspilgerfahrt nach Mekka in Qadir Khum, dem Ort, an dem sich die<br />

Wege der Pilger trennten, Ali der Gemeinschaft vorstellte und sich von ihr<br />

bestätigen ließ, das Ali sein Nachfolger sein, warum eine Gruppe von 12<br />

Personen sich an einer Biegung des gebirgigen Weges versteckt hatte, um auf<br />

ihn – vielleicht ja auch auf Ali – einen Anschlag zu verüben.<br />

<strong>Die</strong>se Verschwörung nachdem Ereignis von Qadir Khum steht im<br />

unmittelbarem Zusammenhang damit, denn Vorfälle dieser Art ereignen sich bei<br />

Wahlen selten zufällig.<br />

Nun wird auch klar, warum die Namen der Verschwörer nie bekannt gegeben<br />

wurden, nachdem der Prophet rechtzeitig von ihrem Vorhaben erfahren und die<br />

Anweisung gegeben hatte, sie aus dem Weg zu räumen.<br />

Es handelte sich hier nicht um einen unbedeutenden Vorfall, insbesondere wenn<br />

man die Tatsache berücksichtigt, das die Geschichtsschreiber Aufgrund der<br />

großen Zuneigung der Gefährten des Propheten zu ihm sogar die Unbedeutesten<br />

Ereignisse seines Lebens von ihnen erfahren und genauestens Berichten<br />

konnten.<br />

Warum zog der Prophet trotz seines hohen Alters in Begleitung seiner großen<br />

und ebenfalls betagten Gefährten, die keine Krieger waren und politische<br />

Aufgaben erfüllten, persönlich in seinen letzten Krieg in Tubuk gegen die<br />

mächtigen Römer und scheute seinen Wunsch davon aus und ließ ihn mit dem<br />

Worten :<br />

„Ich lasse Dich hier zum Schutze dessen, was ich hier in Medina veranlassen<br />

habe, zurück.


Möchtest Du nicht zu mir stehen, wie Aron zu Mose stand, obwohl es nach mir<br />

keinen Propheten geben wird?“<br />

In Medina zurück, obwohl Ali, ein Mann des Schwertes, ein anerkannter Held<br />

der großen Schlachten und der Fahnenträger der Armee des Propheten war?<br />

Warum schickte der todkranke seine Armee in einen Krieg gegen Rom, der<br />

weder für die Verteidigung noch aus anderen Gründen notwendig war?<br />

Warum ließ er Abu Bakr, Omar und die anderen großen und einflussreichen<br />

Politiker in den Krieg ziehen?<br />

Warum waren diese großen Persönlichkeiten, die von einem 18 Jahre jungen<br />

Mann befehligt wurden, einfache Soldaten?<br />

Warum ließ der Prophet die Kritik nicht gelten, das er für diese Aufgabe zu jung<br />

sei, und entgegnete, nicht das Alter, vielmehr die Fähigkeit sei wichtig?<br />

Warum bestand er noch auf dem Sterbebett darauf, das die Armee sich in<br />

Bewegung setzten, die Honoratioren ebenfalls in den Krieg ziehen, aber Ali in<br />

Medina zurück lassen sollten?<br />

Warum verlangte er in dem letzten Augenblick seines Lebens nach Feder und<br />

Schreibtafel und sagte:<br />

„Um etwas aufzuschreiben, damit ihr niemals irregeleitet werdet....?“<br />

Er sagte, er möchte als letzten Willen drei Ratschläge erteilen.<br />

Warum schwieg er als er zu seinem dritten Ratschlag kam?<br />

Als Bilal zum Gebet rief, konnte er nicht aufstehen. Er sagte:<br />

„Lasst Ali kommen.“<br />

<strong>Die</strong> beiden anderen erfuhren es von ihren Töchtern und erscheinen ebenfalls.<br />

Als der Prophet alle drei vor sich sah, entließ er sie, ohne etwas zu sagen.<br />

Warum?<br />

Der Prophet zeigte in den härtesten Kriegen, während der Einsamkeit, ja sogar<br />

bei Überlegenheit des Feindes Willenskraft und Optimismus.<br />

Weshalb war er in den letzten Tagen seines Lebens, auf der Höhe seiner Macht,<br />

so besorgt um die Zukunft?


Warum ging er in jener Nacht, als die Krankheit anfing, mit seinem <strong>Die</strong>ner zum<br />

Friedhof, betete still für die Verstorbenen und sagte schwermütig:<br />

„Ruhet in Frieden, euch geht es besser als diesem Volk..“?<br />

Warum wiederholte er, je mehr den Tod heran nahen fühlte, um so öfter den<br />

Satz:<br />

„<strong>Die</strong> Verschwörungen kommen eine nach der anderen wie die schwarze<br />

Nacht..“?<br />

Ja, alle diese Fragen werden nun beantwortet.<br />

<strong>Die</strong> schwarzen Nächte kommen nacheinander. Ali hat den Propheten begraben<br />

und die großen Gefährten das Recht.<br />

Sie sind aus Saghifa in die Moschee gekommen, damit der Kalif mit einer<br />

Predigt die Nachfolge des Propheten antritt. Ali verlässt das leere Haus des<br />

Propheten um in das Haus <strong>Fatima</strong>s zurück zu kehren und 25 Jahre lang in<br />

schweigen und schmerzlicher Zurückgezogenheit zu leben.<br />

Und <strong>Fatima</strong> muss die unbarmherzigen Schicksalsschläge weiterhin ertragen. Ihr<br />

Vater, ihre Stütze im Leben, <strong>ist</strong> von ihr gegangen, Ali, ihr Bruder, Ehemann,<br />

Freund und einziger mitfühlender Verwandter, <strong>ist</strong> traurig, gebrochen und<br />

einsam, als ob sie in einigen Stunden Fremde geworden sind.<br />

Medina kennt sie nicht mehr.<br />

Und der Islam?<br />

Für ihn hat <strong>Fatima</strong> seit ihrer Kindheit trotz ihrer schwachen Gesundheit an der<br />

Seite des Vaters gekämpft. Sie hat gemeinsam mit dem ersten Kämpfern die<br />

Härten durchgestanden, die Armut, Belagerung und Verfolgung auf sich<br />

genommen, ihre Kindheit und Jugend zu seiner Verbreitung geopfert, an der<br />

Spitze der ersten Kämpfer und der wahren Auswanderer den Weg geebnet, mit<br />

ihrer ganzen Überzeugungskraft versucht, die Botschaft des Vaters in dieser<br />

Gemeinschaft durchzusetzen, für Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit, Freiheit,<br />

Frömmigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit eine bleibende Grundlage zu<br />

schaffen und diese junge und schwache Gemeinschaft, die den Keim des<br />

Untergangs in sich trug, durch Wissenschaft, Aufklärung, Gerechtigkeit und<br />

Stilligkeit auf den Weg zu leiten, den der Prophet des Volkes empfohlen hat.<br />

Nun <strong>ist</strong> alles zusammengebrochen, wofür sie ein Leben lang gekämpft hatte.


Über das Schicksal des Islam wird in Saghifa in Abwesenheits Alis, Salmans<br />

(52), Abu Zars, Ammars, Meghdads und einiger anderer mehr entschieden. Jetzt<br />

sind sie alle bei <strong>Fatima</strong> versammelt, traurig und zornig.<br />

Warum sind gerade diese Menschen Ali treu geblieben?<br />

Weil sie weder der Ar<strong>ist</strong>okratie der Stämme Qus und Khazradj, die in Medina<br />

ansässig sind, noch den ersten Familien des Stammes der Qureisch, die aufgrund<br />

ihrer adeligen Abstammung und ihres Standesbewusstseins Anspruch auf die<br />

Nachfolge des Propheten erhoben hatten und die vom Glanz der Notabeln<br />

verblendete Masse auf sich einigten, angehörten. Stammeszugehörigkeit,<br />

Standesdünkel, Blutsverwandtschaft und Interessengemeinschaft waren keine<br />

Maßstäbe, die sie an politirische und soziale Gruppierungen hätten binden<br />

können.<br />

Sie sind entweder Fremde wie Salman, der aus Iran gekommen <strong>ist</strong>, Abu Zar, der<br />

aus der Wüste stammt, und Ammar, dessen Mutter eine afrikanische Sklavin<br />

und dessen Vater ein jemenitischer Beduine war, oder Menschen einfacher<br />

Abstammung ohne Macht und Vermögen wie der Dattelverkäufer Meisam.<br />

Dem Propheten waren sie lieb und teuer. Nun <strong>ist</strong> er von ihnen gegangen und sie<br />

wurden in ihr Elend zurückgestoßen. <strong>Die</strong> Werte wurden umgekehrt.<br />

Nur bei Ali können sie Zuflucht suchen. Ihm selbst geht es in Medina, wo die<br />

alten Werte wieder neu belebt werden, auch nicht anders.<br />

Im Vergleich zu den älteren Honoratioren <strong>ist</strong> er ein junger Mann, arm, ohne<br />

jegliche Verbindung zu politischen und familiären Gruppierungen.<br />

<strong>Die</strong> Werte , die er gelten lässt, sind Frömmigkeit, Wissen, Mut, Standhaftigkeit<br />

bei der Durchsetzung einer großen Idee, Selbstbewusstsein und Macht des<br />

Wortes und des Schwertes. Ihm sind nur die Erinnerungen an die Zeit geblieben,<br />

als er in treuer Gefolgschaft des Propheten keine Gefahr scheute und für die<br />

Unterwerfung der damaligen Feinde des Islam- der heutigen besiegten Freunde-<br />

kämpfte.<br />

Seine Tugenden haben – bewusst oder unbewusst- den Neid der Freunde erregt.<br />

Seine Opferschaft und sein Mut haben seine Feinde unversöhnlich gemacht und<br />

sie darin geeinigt, Ali zu verurteilen, zu verleumden, zu erniedrigen,<br />

auszuschließen und ihn allein zu lassen.<br />

Wenn die Gedanken eines Menschen seiner Zeit voraus sind und von seinen<br />

Zeitgenossen nicht erfasst werden können, vereinsamt er. Sein erfülltes,<br />

wertvolles und ansehnliches Dasein wertet zwangsläufig das Hässliche und<br />

Wertlose ab, so bescheiden er auch sein mag. Freund und Feind finden sich- mit


oder ohne Absicht- in seiner Ablehnung, bei der Verunglimpfung seiner<br />

Persönlichkeit und der Verweigerung seines Rechtes zu einer<br />

Interessengemeinschaft zusammen.<br />

Dann versucht der Freud und Gesinnungsgenosse, dessen Ge<strong>ist</strong>esarmut und<br />

Banalität im Vergleich zu dessen Größe zutage getreten sind, ihn durch<br />

Leugnung seiner Tugenden und Erniedrigung seiner Persönlichkeit zu sich<br />

herabzuziehen, um den Unterschied auf diese Weise zu beheben. Wenn er ihn<br />

schon nicht erreichen kann, so kann er ihn wenigstens so weit zurückdrängen,<br />

das kein Abstand mehr vorhanden <strong>ist</strong>. Bei diesem Bemühen wird er zum<br />

Weggefährten des Feindes, weil er den Feind braucht, um ihn auszuschalten;<br />

und so wird er zum Spielzeug des Feindes und der billigen Handlanger und<br />

freiwilligen <strong>Die</strong>ner der Unterdrückung.<br />

Daher musste Ali erniedrigt werden.<br />

Und aus diesem Grunde propagierten auch die Umayyaden, die jedem der<br />

Gefährten des Propheten, ob er nun Ali oder Omar hieß, gleichermaßen<br />

feindlich gesinnt waren, das Ali Abu Taleb sei, nicht beten würde, das der<br />

Bewahrer des Koran der Vetter und Verwandte des Propheten, Bani Umayya,<br />

sei. <strong>Die</strong> Mutter der Gläubigen sei die Tochter des Abu Sufian, das Haus Sufians<br />

sei aus der Sicht des Propheten wie das Haus Gottes in Mekka unantastbar und<br />

ei Zufluchtsort für die Verfolgten...<br />

Ali soll in der Gebetsnische der Moschee getötet worden sein.<br />

Was soll das bedeuten?<br />

Was hat Ali in der Moschee zu suchen?<br />

Was macht er in der Gebetsnische?<br />

Wollte er etwa beten?<br />

Jeder weiß, das dieser ungewöhnliche Hass, der ihm entgegenschlug, aufgrund<br />

seiner Heldentaten in denn Schlachten von Badr und Khandagh entstanden und<br />

im Herzen genährt worden <strong>ist</strong>.<br />

Warum spricht auch der Freund, der in Badr und Khandagh gemeinsam gegen<br />

die Bani Umayya in den Krieg gezogen war, deren Sprache?<br />

<strong>Die</strong> Antwort dürfte klar sein.


Als im Krieg von Khandagh die großen Gefährten längst resigniert hatten, führte<br />

der 27 jährige Ali den Gegenanschlag gegen die Feinde und versetzte sie<br />

dermaßen in Panik, das die Moslems ihm von ganzem Herzen:<br />

„Allah-u Akbar“<br />

zuriefen. Der Prophet lobte ihn mit den Worten:<br />

„ Alis Schlag in Khandagh <strong>ist</strong> höher zu bewerten als jedes Gebet.“<br />

<strong>Die</strong>jenigen aber, die von ganzen Herzen „Allah-u Akbar“ gerufen hatten, und<br />

die anderen, die damals von seinen Taten bege<strong>ist</strong>ert waren, fühlten sich von<br />

diesen Worten gedemütigt und waren in ihrem Unterbewusstsein von einem<br />

Neid erfüllt, der an ihrer Seele nagte und später ungewollt zutage trat.<br />

In Badr und Uhud unternimmt Ali jede Anstrengung und bildet in dem Chaos<br />

der drohenden Niederlage eine neue Front, während die großen Gefährten, die<br />

aufgrund ihres Alters und sozialen Ansehens für sich einen höheren Rang<br />

beansprucht haben, entweder geflüchtet sind oder hoffnungslos und verängstigt<br />

zusammensitzen.<br />

In Fath <strong>ist</strong> er Fahnenträger. Während in Hunain die großen und einflussreichen<br />

Männer über den Pass fliehen und Abu Sufian ihnen mit spöttischem Gelächter<br />

nachruft:<br />

„So schnell wie sie fliehen, werden sie das Rote Meer erreichen.“<br />

Steht Ali felsenfest am Eingang des Passes und verteidigt ihn. Sein Schwert<br />

erfüllt den Feind mit Hass und den Mitkämpfer mit Neid und<br />

Minderwertigkeitskomplexen.<br />

Daher stehen jetzt Freund und Feind Seite an Seite, wenn es um die<br />

Persönlichkeit und die Tugenden Alis geht; daher braucht der Freund den Feind.<br />

<strong>Die</strong> großen Taten Alis sollen durch seine Erniedrigung zunichte gemacht<br />

werden, seine Tugenden sollen erwähnt bleiben oder gar als Schwächen<br />

dargestellt werden- man will die Gemeinheit auf die Spitze treiben.<br />

Demgegenüber gab es auch Menschen, die zwar Alis Rechte anerkannten,<br />

jedoch glaubten, ihm diese Rechte aus Gründen der Staatsraison vorenthalten zu<br />

müssen:<br />

„Ali? Ja, aber er <strong>ist</strong> noch zu jung, er braucht noch einige Jahre“.


„Ali, ja, er <strong>ist</strong> ein Mann des Schwertes und des Wissens; er <strong>ist</strong> gottesfürchtig,<br />

aber von der Politik versteht er nichts. Er <strong>ist</strong> zwar mutig, aber von der<br />

Kriegsführung versteht er nichts.“<br />

„Ali? Ach was, er macht Spaß!“<br />

„Ali? Ja, aber augenblicklich liegt das nicht im Interesse des Islam. Er hat viele<br />

Feinde. Zur Zeit des Propheten hat er viele Männer aus großen und<br />

einflussreichen Familien im Krieg getötet, die Erinnerung daran <strong>ist</strong> noch zu<br />

frisch!“<br />

„Ali? Er lobt sich selbst zu sehr.“ (Minderwertigkeitskomplexe treten hier<br />

deutlich zutage!“<br />

„Ali? Ja, er wird die Zügel fest in der Hand halten, wenn er Kalif geworden <strong>ist</strong>,<br />

aber...er hat ein zu starkes Verlangen danach.“<br />

Das alles weiß <strong>Fatima</strong> nur zu genau; sie sitzt nicht ahnungslos zu Hause.<br />

Schon als Kind hat sie ihre ersten Schritte im Kampf geübt und ihre ersten<br />

Worte galten der Verbreitung des Islam. Sie hat ihre Kindheit in der stürmischen<br />

Zeit einer gewaltigen Bewegung verbracht und in ihrer Jugend Erfahrungen mit<br />

der Politik ihrer Zeit gesammelt. Sie war ein wahrer Moslem: Ihre moralische<br />

Sittsamkeit entbindet sie nicht von ihrer sozialen Verantwortung.<br />

Seit der Beerdigung des Propheten sind einige Stunden vergangen, und Ali und<br />

einige ihm treue Gefährten des Propheten sind in ihrem Haus versammelt. Sie<br />

lehnen die Entscheidung von Saghifa ab und möchten den Treueid verweigern.<br />

Der Kalif hat mit einer Predigt in der Moschee die Nachfolge angetreten und die<br />

Huldigung der Bevölkerung entgegengenommen. Omar hat die Angelegenheit in<br />

die Hand genommen und bemüht sich intensiv, die Hindernisse aus dem Weg zu<br />

räumen.<br />

<strong>Die</strong> Lage der Stämme <strong>ist</strong> noch unklar. Obwohl noch die Möglichkeit besteht, das<br />

sie das Kalifat von Abu Bakr nicht anerkennen, droht die eigentliche Gefahr<br />

vom Hause <strong>Fatima</strong>s .<br />

Ja, <strong>Fatima</strong>s Haus wird seitdem zu einer ständigen Gefahr für die Regierenden.<br />

Omar <strong>ist</strong> über dieses einzige Widerstandsnest sehr aufgebracht. Er hat Abu Bakr<br />

zur Macht verholfen und alle Hindernisse beseitigt. Er kann es nicht dulden, das<br />

sich eine Gruppe in diesem Haus trifft, um den Gehorsam zu verweigern und ein<br />

Zentrum des Widerstandes zu bilden, ausgerechnet in einem Gebäude der<br />

Moschee, die gleichzeitig Parlament und Regierungssitz <strong>ist</strong>, im Hause der<br />

Prophetentochter, durch Leute, die bis gestern als beliebteste und aufrichtigste<br />

Anhänger des Propheten galten.


<strong>Fatima</strong>, die von zwei Schicksalsschlägen, dem Tode des Propheten und der<br />

Niederlage Alis, hart getroffen wurde, sitzt da wie ein verwundeter Vogel und<br />

denkt an die Vergangenheit und die Sorgen des Vaters um die Zukunft der<br />

Religion, der Gerechtigkeit und der Führung. Liebe und bittere Erinnerungen,<br />

die tief in die Vergangenheit zurückreichen, werden wieder wach.<br />

Sie vergisst einige Augenblicke lang ihr Unglück. Plötzlich wird es laut in der<br />

Moschee. Im Stimmengewirr hört sie deutlich die Wutausbrüche Omars.<br />

Sie sind näher gekommen. Ihre Haustür geht zur Moschee auf. Es wird heftig an<br />

der Tür gerüttelt und lautes Rufen wird vernehmbar:<br />

„Ali, komm heraus!“<br />

Plötzlich <strong>ist</strong> die klagende Stimme <strong>Fatima</strong>s hinter der Tür zu hören:<br />

„Oh, mein Vater, Gesandter Gottes, welches Leid muss ich erdulden, nachdem<br />

Du von uns gegangen b<strong>ist</strong>!“<br />

Omars Begleiter treten einige Schritte zurück. Sie hören die geliebte Tochter des<br />

Propheten zornig weinen.<br />

Einige können die Tränen nicht zurückhalten, andere stehen regungslos und<br />

verwirrt an der Tür; dann ziehen sie sich beschämt zurück.<br />

Bald bleibt Omar allein an der Tür zurück; er bleibt eine Zeitlang<br />

unentschlossen stehen, dann geht er zu Abu Bakr. Alle haben sich um Abu Bakr<br />

versammelt; man hat ihm das Ereignis schon berichtet. Einige sprechen von<br />

einem Unglück.<br />

Omar kehrt ein zweites Mal in Begleitung von Abu Bakr zu <strong>Fatima</strong>s Haus<br />

zurück. <strong>Die</strong>ses Mal gehen sie behutsam vor; Abu Bakr hat die Initiative<br />

ergriffen.<br />

<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> in ihrem Leben Kummer gewohnt. Sie <strong>ist</strong> kampferfahren und will<br />

sich, trotz ihrer schwachen Gesundheit, der Gewalt nicht beugen. Sie steht allein<br />

an der Tür, als ob sie das Haus und Ali, der alleine zurückgeblieben war,<br />

verteidigen will.<br />

Sie bitten um Erlaubnis, eintreten zu dürfen, <strong>Fatima</strong> gestattet es ihnen nicht. Mit<br />

unbeschreiblicher Geduld kommt Ali heraus und bittet <strong>Fatima</strong>, ihnen Einlass zu<br />

gewähren. Vor ihm le<strong>ist</strong>et sie keinen Widerstand. Sie schweigt zornig. Ali bittet


sie herein, sie treten ein und grüßen <strong>Fatima</strong>, die sich zornig abwendet und<br />

zurückzieht. Abu Bakr spürt, wie heftig ihr Zorn und ihr Hass sind.<br />

Er weiß nicht wie er anfangen soll. Sie schweigen beide, die Würdenträger des<br />

Islam. Es fällt ihnen schwer, in diesem Augenblick vor Ali und <strong>Fatima</strong> zu<br />

erscheinen. Ali sitzt schweigsam neben ihnen, als ob er nur ein Gastgeber sei.<br />

<strong>Fatima</strong> hat sich vor ihnen hinter einer Wand versteckt, um sie nicht zu sehen.<br />

Abu Bakr versucht, Ruhe zu bewahren und in dieser gespannten Atmosphäre<br />

reden zu können. Einige Augenblicke vergehen in Schweigen, dann beginnt Abu<br />

Bakr mit trauriger, beherrschter und freundlicher Stimme zu reden:<br />

„Geliebte Tochter des Propheten, ich schwöre bei Gott, das mir die Verwandten<br />

des Propheten lieb und teuer sind, mehr als meine eigenen Verwandten. Du b<strong>ist</strong><br />

mir lieber als meine eigene Tochter Aishe. Als Dein Vater starb, wünschte ich,<br />

ich wäre auch tot. Du siehst, ich kenne Dich und erkenne Deine Tugenden an.<br />

Wenn ich Dich um Dein Erbe gebracht haben sollte, geschah es deshalb weil ich<br />

ihn habe sagen hören: ´Wir Propheten vererben nichts; was wir hinterlassen,<br />

gehört den Armen.´“<br />

Dann schweigt Abu Bakr. Omar hat noch kein Wort gesagt. Er wartete die<br />

Reaktion <strong>Fatima</strong>s auf die anerkennenden und beschwichtigen Worte Abu Bakrs<br />

ab. <strong>Die</strong> Antwort <strong>Fatima</strong>s lässt nicht lange auf sich warten. Sie hat ihre Ruhe<br />

wiedergewonnen und sagt argumentierend:<br />

„Werdet Ihr die Worte des Propheten anerkennen und danach handeln, wenn ich<br />

sie hier zitiere?“<br />

Beide antworteten übereinstimmend mit „Ja“.<br />

Dann sagte sie:<br />

„Schwöret beim erhabenen Gott, das Ihr den Gesandten Gottes habt sagen<br />

hören: `<strong>Fatima</strong>s Zufriedenheit <strong>ist</strong> meine Zufriedenheit, ihr Zorn <strong>ist</strong> mein Zorn;<br />

wer <strong>Fatima</strong> liebt, liebt mich, wer ihr Freude macht, macht mir Freude, wer sie<br />

verärgert, verärgert mich.“<br />

Sie antworteten :<br />

„Ja, diese Worte haben wir von ihm gehört.“<br />

Abu Bakr beginn zu weinen; ihm fehlt die Kraft zu reden, <strong>Fatima</strong> kann das alles<br />

nicht mehr hören. Er eilt, gefolgt von Omar, zur Moschee. Verwirrt und weinend<br />

schreit er die Leute zornig an, das er...


Aber die wohlgesonnenen <strong>Die</strong>ner des Machtapparates überzeugen ihn, das es<br />

nicht im Interesse der islamischen Gemeinschaft sei, zurückzutreten.<br />

Wiederwillig und schweren Herzens akzeptiert er ihre wohlgemeinten<br />

Ratschläge und geht daran, wie er glaubt, den Sieg des Islam und die Tradition<br />

des Propheten abzusichern.<br />

Seine erste Entscheidung <strong>ist</strong> dann die Enteignung von Fadak. Auf dieser Weise<br />

wird Ali die Ex<strong>ist</strong>enzgrundlage entzogen, um ihn von seinem Gehalt aus der<br />

Staatskasse abhängig zu machen.<br />

Ali wurde sich selbst überlassen, arm und einsam. <strong>Die</strong> Leute, die um ihn<br />

versammelt waren, zerstreuten sich entweder freiwillig oder<br />

gezwungenermaßen. Alis Weigerung, den Treueid zu le<strong>ist</strong>en, bedeutete keine<br />

Gefahr und keine Meuterei mehr, zumal sie wussten, das von ihm keine<br />

Huldigung zu erwarten war, solange <strong>Fatima</strong> lebte.<br />

Ali konnte den Eid nicht le<strong>ist</strong>en, weil <strong>Fatima</strong> auf keinen Fall bereit war, sich<br />

einer Macht, die sie nicht als rechtens anerkannte, zu beugen. Sie gab diese<br />

entschiedene und ablehnende Haltung niemals auf, solange sie lebte.<br />

Der Prophet starb, Ali wurde zum Nichtstun verurteilt, <strong>Fatima</strong>s Erbschaft- das<br />

Ackerland Fadak-, die die einzige Einkommensquelle der Familie war, wurde<br />

ihr aberkannt, Abu Bakr und Omar ergriffen die Macht, das Schicksal des Islam<br />

und der Moslems wurde der Politik überlassen. Ali blieb zu Hause und<br />

sammelte aus Sorge um die Zukunft die Korantexte. Bilal verließ Medina, ließ<br />

sich in Damaskus nieder und schwieg für immer. Den erfolgreichen<br />

Rückkehrern aus Saghifa sagte Salman in einer zweideutigen Anspielung auf<br />

Persisch:<br />

„Ihr habt alles und doch nichts getan.“<br />

Dann ging er nach Iran und lebte zurückgezogen in Ktesiphon.<br />

Abu Zar, der Vertraute des Propheten, und Ammar, der Liebling des Propheten ,<br />

wurden ausgeschaltet.<br />

<strong>Fatima</strong> aber gab nicht auf. Trotz der tiefen Trauer, die auf ihrer Seele lastete,<br />

setzte sie den Kampf gegen das, wie sie meinte, unrechtmäßige Kalifat und den<br />

Kalifen, den sie für unfähig hielt, fort.<br />

Sie hörte nicht auf, Fadak zurückzufordern. Sie griff mit kritischen Worten an<br />

und versuchte zu beweisen, das diese Maßnahme des Kalifen ein politischer<br />

Racheakt war, um Ali finanziell zu ruinieren. Fadak war nur ein kleines<br />

Ackerland, und normalerweise hätte <strong>Fatima</strong> auch dann nicht darum gestritten,


wenn es ein größeres gewesen wäre. <strong>Die</strong>se Handlungsweise war aber für sie ein<br />

Zeichen der Willkür- und Gewaltherrschaft. Sie warf die Frage der Enteignung<br />

auf, um die Regierung zu verurteilen und zu beweisen, das die Regierenden die<br />

Wahrheit verschleierten, wenn es um ihre eigenen Interessen ging. Fadak wurde<br />

zum Politikum und Symbol des Kampfes, und zwar nicht aufgrund seines<br />

wirtschaftlichen Wertes, wie einige schlaue Feinde und dumme Freunde <strong>Fatima</strong>s<br />

zu wissen glaubten.<br />

Obwohl die großen Gefährten des Propheten (sowohl die Mekkaanischen<br />

Auswanderer als auch die medinensischen Helfer) abgesehen von einigen<br />

wenigen den neuen Kalifen anerkannt und den Wahlstreich von Saghifa<br />

akzeptiert hatten, gibt <strong>Fatima</strong> trotz großer Schwierigkeiten auch nach dem Tode<br />

des Propheten den Kampf nicht auf.<br />

Sie hat zwar keine Hoffnung, einen Machtwechsel herbeiführen zu können, weiß<br />

aber, das Ali seine Rechte nicht mehr geltend machen kann. <strong>Die</strong> mächtigen<br />

Wahlhelfer, die den Plan von langer Hand vorbereitet hatten, sind Her der Lage.<br />

<strong>Die</strong> Etablierung der Macht und das Schweigen der Bevölkerung können sie<br />

nicht von ihrer Verpflichtung, gegen das Unrecht zu kämpfen, abhalten.<br />

Sie muss trotz schwindender Hoffnung auf einen Sieg die herrschende Ordnung<br />

bekämpfen. Wenn sie auch nicht siegen kann, so kann sie es doch enthüllen.<br />

Wenn sie dem Recht keine Geltung verschaffen kann, so kann sie zumindest das<br />

Rechtsempfinden schärfen. <strong>Die</strong> Leute sollen wissen, das die Herrschenden zu<br />

Unrecht regieren und das die Verbannten für Recht, Gerechtigkeit und Freiheit<br />

gerade stehen.<br />

Zu dieser Zeit spielt sich in Medina eine erstaunliche Szene ab.<br />

An der Moschee des Propheten setzt ein Mann seine Frau mitten in der Nacht<br />

aufs Pferd und führt sie durch die leeren Straßen der Stadt. Der Fußgänger <strong>ist</strong><br />

Ali und die Reiterin die Tochter des Propheten, <strong>Fatima</strong>. Jede Nacht verlassen sie<br />

auf diese Weise ihr Haus und besuchen die Ansar (die medinensischen Helfer<br />

des Propheten). Das sind aufrichtige und unparteiische Leute. <strong>Die</strong><br />

Mekkanischen Einwanderer sind vom Stamme der Qureisch und halten<br />

zusammen. Eine alte politische Ordnung verbindet sie miteinander.<br />

Der Kalif stammt aus ihrer Mitte, und sie werden an der Regierung beteiligt.<br />

Dagegen sind die medinensischen Helfer von einer Regierungsbeteiligung<br />

ausgeschlossen; ihr Kandidat Sa´ad Ibn Obada hatte Medina verlassen und<br />

wurde auf dem Wege nach Damaskus Opfer eines Anschlages. Sie folgten den<br />

Argumenten Abu Bakrs, der ihnen erklärte, das der Prophet gesagt habe, sein<br />

Nachfolger müsse aus dem Stamme der Qureisch hervorgegangen und sein<br />

Verwandter sein. Sie respektierten den Wunsch des Propheten, verzichteten auf


das Kalifat und überlassen Abu Bakr die Regierung, weil er aus demselben<br />

Stamm wie der Prophet kam und sein Schwiegervater war. Sie übten<br />

aufrichtigen Gehorsam. Sie alle sind Medinenser, bilden also die Mehrheit der<br />

Bevölkerung.<br />

Nun sucht <strong>Fatima</strong> sie persönlich auf. Jede Nacht geht sie in Begleitung Alis zu<br />

ihren Versammlungen und spricht mit ihnen. Sie zählt die Tugenden Alis auf,<br />

erinnert sie an die Empfehlungen des Propheten und we<strong>ist</strong> aufgrund ihrer<br />

genauen Kenntnisse der islamischen Lehre und ihre Zielvorstellungen sowie<br />

ihres logischen Denkvermögens Ali Ansprüche und die Ungültigkeit der<br />

durchgesetzten Wahlen nach. Sie führt ihnen vor Augen, wie sie betrogen<br />

wurden und welche Folgen ihre unüberlegte Handlungsweise haben wird. Sie<br />

warnt sie vor einer unsicheren Zukunft, die auf die islamische Gemeinschaft<br />

zukommen wird.<br />

Keiner der Geschichtsschreiber, die über diese Ereignisse berichten, erwähnt je<br />

einen Fall von Widerstand gegen <strong>Fatima</strong>s Auffassung.<br />

Alle geben ihr Recht.<br />

Sie geben ihren Fehler zu und erkennen Alis Fähigkeit an. <strong>Fatima</strong> fordert sie<br />

nachdrücklich auf, Ali dabei zu helfen, seine Rechte geltend zu machen.<br />

Sie entschuldigen sich mit den Worten:<br />

„Wir haben Abu Bakr Treue geschworen, diese Angelegenheit <strong>ist</strong> schon erledigt.<br />

Wenn Dein Mann Ali eher gekommen wäre und sich geäußert hätte, hätten wir<br />

ihm niemanden vorgezogen..“<br />

Ali antwortet erstaunt und protestierend:<br />

„Hätte ich den Gesandten Gottes alleine zu Hause lassen, ihn nicht beerdigen<br />

und mich um die Regierung streiten sollen?“<br />

<strong>Fatima</strong> sieht, das Ali auch dieses Mal Opfer seiner Treue zum Propheten<br />

geworden <strong>ist</strong> und entgegnet:<br />

„Ali hat das getan, was getan werden musste, und Ihr habt etwas getan, wofür<br />

Ihr euch vor Gott zur Rechenschaft gezogen werdet.“<br />

Nun <strong>ist</strong> doch alles zu Ende. <strong>Fatima</strong> macht sich mit dem Gedanken an den Tod<br />

vertraut. Sie fühlt sich unbeschreiblich einsam. <strong>Die</strong> vertrauten Gesichter um<br />

ihren Vater sind ihr fremd geworden, seine Gefährten gehen jetzt andere Wege.<br />

Medina <strong>ist</strong> nicht mehr die Stadt des Propheten. Politik und Herrschaft sind in die


Stadt des Glaubens eingezogen. <strong>Die</strong> große und überagende zwischen<br />

Persönlichkeit, die bei den arabischen Beduinen den Sinn der Opferbereitschaft,<br />

Gerechtigkeit, Wahrheitsliebe, Anerkennung der menschlichen Tugenden und<br />

Kampf für die Mitmenschen und die Überzeugung erweckt, alte Ideen über<br />

Blutsverwandtschaft, Stammeszusammengehörigkeit, Standesdünkel, Gruppenbildung<br />

und Interessengemeinschaft verworfen und die Verantwortung des<br />

einzelnen und der Gesellschaft zur Förderung der ge<strong>ist</strong>igen Entfaltung des<br />

Menschen hervorgehoben hatte, liegt inzwischen unter der Erde. Seine treuen<br />

Gefährten, die keiner privilegierten Familie oder Klasse angehören und ihr<br />

großes Ansehen beim Propheten ihrer Überzeugungskraft, Aufrichtigkeit, ihrem<br />

Selbstbewusstsein und ihrem Kampfge<strong>ist</strong> verdankten, genießen kein Ansehen<br />

bei den neuen Machthabern.<br />

<strong>Die</strong> Ohren sind derart vom Lärm der Macht und Herrschaft betäubt, das sie die<br />

schwachen Stimmen der Freundschaft und der Aufrichtigkeit nicht wahrnehmen<br />

können.<br />

<strong>Die</strong> Persönlichkeit des Abu Bakr, die Unbeugsamkeit des Omar, das Schwert<br />

des Khalid und das Genie des Amr As bilden eine undurchdringliche Mauer um<br />

die Masse, die entweder verängstigt oder von ihnen hingerissen <strong>ist</strong>. Auch die<br />

Gefährten des Propheten befinden sich – gewollt oder ungewollt- darunter.<br />

<strong>Fatima</strong> bleibt außerhalb der Mauer, ihre Stimme konnte sie nicht durchdringen.<br />

<strong>Die</strong> hiesigen Feinde sind stärker als die Mekkanischen. Der Vater kämpfte allein<br />

in Mekka. Er hatte keinen Begleiter und keinen Beschützer außer seiner Tochter,<br />

In Masdjid al-Haram,. Dem Machtzentrum des Feindes, das gegenüber von Dar-<br />

al Nodva, dem Senat der Qureisch, lag, bezeichnetet er die 33 Götzen der<br />

Qureisch und aller Araber als stumme Steine, die er mit Hilfe Gottes<br />

zerschmettern werde. Er bezichtigte seine Ahnen der Dummheit und nannte ihre<br />

Überzeugung Aberglauben.<br />

Ein Mann, der sich durch Machtbewusstsein und Bestimmtheit auszeichnete und<br />

sagte:<br />

„Wehe dem Volk, das wir angreifen!“ (überfall auf das Khaibar -Tal)<br />

war auf dem Gipfel seiner Macht, seiner Popularität und seines Einflusses nicht<br />

imstande, die Armee von Usama trotz wiederholter Anweisungen von seinem<br />

Sterbebett aus dazu zu bewegen, die Stadt zu verlassen; sie blieb im Stützpunkt<br />

Djazaf in der Gegend von Medina und setzte sich nicht in Bewegung.<br />

Es war nicht einmal imstande, im eigenen Haus unter seine Gefährten einen<br />

Brief zu schreiben, um seinen letzten Willen kundzutun. Was er sagte, blieb<br />

nicht unverfälscht.


Und ihr Ehemann Ali war der Held seiner Zeit. Im Khandagh-Krieg, als die<br />

feindlichen Stämme gemeinsam Medina überfielen und die Parteigänger der<br />

Gottlosigkeit und die der Religion, d.h. Araber und Juden, eine gemeinsame<br />

Front bildeten, um die neue islamische Bewegung zu vernichten und den<br />

Stützpunkt der Revolution Mohammads zu zerstören, konnte er als 25 jähriger<br />

mit einem einzigen Angriff die sichere Niederlage abwenden.<br />

Im Uhud. Krieg, als die Qureischiten das Tal beherrschten, die Moslems vor den<br />

anrückenden Feinden flüchteten, die großen Gefährten sich versteckt hielten und<br />

den verwundeten Propheten allein und schutzlos zurückgelassen hatten.<br />

Übernahm er gleichzeitig den Schutz des Propheten, während er hin und wieder<br />

den Feind angriff und daran hinderte, den Standort des Propheten zu erreichen;<br />

nach jedem erfolgreichen Gegenangriff suchte er Mohammad auf, um danach<br />

wieder in eine andere Richtung den flüchtenden feindlichen Soldaten den Weg<br />

zu versperren. Er sammelte die eigenen flüchtenden Soldaten um sich und zog<br />

eine neue Verteidigungslinie. <strong>Die</strong> Qureischiten, die von der Falschmeldung über<br />

den Tod des Propheten und den Anblick der zahlreichen gefalleneren Moslems<br />

berauscht waren, zwang er schließlich, den Angriff aufzugeben.<br />

Er machte die schmähliche Niederlage von Uhud wieder gut. Der Sieg von<br />

Khaibar war ihm zu verdanken.<br />

Ein Mann, dessen Schwert das Kriegsgeschehen bestimmt hatte, sitzt nun still<br />

und traurig in einer Ecke des Hauses und wird von beängstigten Vorahnungen<br />

geplagt. Seine Gedanken schweifen zu unheilvollen Horizonten ab.<br />

Was <strong>ist</strong> mit ihrem Mann geschehen, was <strong>ist</strong> aus seinem berühmten Schwert, das<br />

er ihr nach jedem Kampf stolz zu waschen gab, geworden?<br />

Ist er nach 10 Jahren ins Bett gekrochen?<br />

Sein Haus wird angegriffen, und er kommt nicht einmal aus seiner Ecke heraus.<br />

Wie kann <strong>Fatima</strong> einen Kampf bestehen, dem der Prophet nicht gewachsen war<br />

und den sein siegreicher Fahnenträger, der Held und die Seele aller<br />

Glaubenskriege, verloren hatte?<br />

Es war schon immer schwerer, den Kampf gegen die inneren Feinde zu<br />

gewinnen.<br />

<strong>Die</strong> Schlacht, die jetzt begonnen hat, <strong>ist</strong> mit den Kämpfen von damals nicht zu<br />

vergleichen, als die Feinde Abu Lahab, Abu Djahl, Abu Sufian und seine Frau<br />

Hind, Hutaibar, Umayya Ibn Khalaf und Akraba hießen.


<strong>Die</strong>se Menschen waren als niederträchtig und ungläubig bekannt, sie hatten<br />

keine ehrenhaften und menschlichen Zielvorstellungen und kämpften<br />

ausschließlich zur Erhaltung ihrer Macht und ihrer materiellen Interessen sowie<br />

zur Sicherung der Handelswege und des Sklavenhandels.<br />

Es war ein Kampf der Reaktion gegen die Revolution, der Sklaverei gegen die<br />

Freiheit, der Gefangenschaft gegen die Befreiung und der Gemeinheit gegen die<br />

Menschlichkeit.<br />

Wie sieht es jetzt aus?<br />

Auf der einen Seite Ali und <strong>Fatima</strong>, wie es in Mekka, Badr, Uhud, Khaibar, Fath<br />

und Hunain der Fall war, auf der anderen Seite Abu Bakr, der als erster<br />

außerhalb der Familie dem Propheten folgte, sein Weggefährte in Mekka und<br />

während der Auswanderung war und sein Schwiegervater wurde.<br />

Ein Mensch, der den Propheten in seiner Einsamkeit und in der<br />

Fremdeunterstützte, sein ganzes Vermögen für seinen Glauben opferte und in<br />

Medina derart in Armut geriet, das er bei den Juden und anderen fremden<br />

Menschen für seinen Lebensunterhalt arbeiten musste; ein Mann, den die<br />

Menschen 23 Jahre lang vom ersten Jahr der Berufung des Propheten bis zu<br />

seinem Tode an seiner Seite gesehen hatten.<br />

Omar, war der 40., der im Versteck des Propheten zum Islam übertrat. Er und<br />

Hamza, der Onkel des Propheten, verstärkten durch ihren Übertritt die<br />

islamische Gruppe derart, das sie ihr Versteck verlassen konnte. Er tat alles in<br />

seiner Macht stehende, um der islamischen Bewegung zum Erfolg zu verhelfen.<br />

Er gehörte zum engsten Kreis der Prophetengefährten und zu den bedeutenden<br />

Gestalten der Auswanderungsgruppe um den Propheten. Er war als einer der<br />

großen Führer der islamischen Gemeinschaft anerkannt.<br />

An ihrer Seite stehen der große Pionier der islamischen Bewegung, Abu Ubaida,<br />

und Osman, der zweimal wegen seines Glaubens auswandern musste und<br />

zweimaliger Schwiegersohn des Propheten war und denn beiden renommierten<br />

Familien des Stammes der Qureisch angehörte und dank seines großen<br />

Vermögens den armen Anhängern des Propheten wohltätig zur Seite Stand und<br />

unter der Bevölkerung als einer der ältesten Gefährten des Propheten und seiner<br />

engsten Verwandten betrachtet wurde.<br />

Auf ihrer Seite stand ebenfalls Khalid Ibn Walid, der im Kampf gegen die<br />

Feinde des Islam große Heldentaten vollbracht hatte.


In der Schlacht von Muta zerbrach er neun Schwerter im Kampf gegen die<br />

Römer und bekam den Beinamen Saifallah (das Schwert Gottes), als er noch ein<br />

einfacher Soldat war.<br />

Da gab es noch Amr As, der zu den vier großen arabischen Genies gehörte; er<br />

hatte sich seit Jahren den Moslems angeschlossen und an den nördlichen<br />

Grenzen den Islam gegen das Römische Reich verteidigt.<br />

Der andere war Sa´ad Ibn Abi Waghas. Er war der erste Moslem, der einen Pfeil<br />

gegen die Feinde abschoss und eine Periode ankündigte, in der die Moslems aus<br />

der Defensive in die Offensive übergingen. Als der Prophet in der Schlacht von<br />

Uhud allein geblieben war, verteidigte er ihn mit großer Treffsicherheit. Der<br />

Prophet zeichnete ihn mit anerkennenden Worten aus.<br />

Dazu kam noch die Bestätigung durch Mekkanische Einwanderer,<br />

medinensische Helfer, große islamische Führer und Pioniere sowie Gefährten<br />

des Propheten.<br />

Und ihre Parolen?<br />

Sie plädierten nicht etwa für Götzendienst, Vielgötterei, Erhaltung der<br />

Handelsprivilegien der Qureisch oder Stammesunterschiede, sondern für<br />

Monotheismus, Islam. Koran, Tugendhaftigkeit, Geringschätzung der<br />

materiellen Werte, Hilfsbereitschaft, Erfüllung der göttlichen Gebote und der<br />

religiösen Verpflichtungen, Wiederbelebung der Tradition des Propheten und,<br />

wichtiger noch, Erhaltung der Einheit der Moslems.<br />

Wenn dabei das Recht des einzelnen mit Füßen getreten werde, geschehe dies<br />

einzig und allein im Interesse der islamischen Gemeinschaft, um der Gefahr der<br />

inneren Zerstrittenheit der Moslems und des äußeren Eingreifens der Feinde zu<br />

begegnen.<br />

Ali sei noch zu jung und radikal, es gebe noch viele Menschen, die ihm nicht<br />

wohlgesonnen seien. Er habe einflussreiche Persönlichkeiten vieler<br />

renommierter Familien, die zur Zeit das Sagen hätten, gegen sich aufgebracht.<br />

Ali habe noch Zeit, und es liege zur Zeit nicht im Interesse des Islam.<br />

„Das Interesse!“<br />

Ja, man hat schon immer versucht, mit diesem Begriff die Wahrheit zu<br />

verschleiern. <strong>Die</strong> Wahrheit wurde mit diesem zweischneidigen Messer getreu<br />

dem religiösen Ritus im Namen Gottes geopfert.


In aller Stille, ohne jedes Aufheben, wurde sie zu grabe getragen. Es durfte kein<br />

Aufsehen erregt werden. Keiner durfte die Wahrheit unter dem Schleier<br />

„Interesse des Islam“ erkennen. Keiner sollte versuchen, seine Stimme gegen die<br />

„Interessensabwägung“ und Wahrheitsverschleierung zu erheben; auch dann<br />

nicht, wenn er <strong>Fatima</strong> hieß.<br />

Wenn die Gewalt sich die Maske der Frömmigkeit aufsetzt, entstehen große<br />

Tragödien in der Geschichte.<br />

<strong>Fatima</strong> spürte, das sie das Unheil nicht mehr abwenden konnte. Plötzlich<br />

überfiel sie die Müdigkeit eines lebenslangen Kampfes voller Qualen,<br />

Verfolgungen, Entbehrungen und Bitterkeit. Ihr wurde bewusst, das alles<br />

verloren war. Sie wusste, das auch sie nichts mehr tun konnte, nachdem der<br />

Prophet und Ali gescheitert waren.<br />

Dunkle Wolken zogen am Horizont auf. Es kamen jene „dunklen Nächte“, die<br />

ihr Vater in den letzten Tagen seines Lebens vorahnend verkündet hatte.<br />

Was wird morgen, was wird aus dem Werk ihres Vaters in einer Umgebung, wo<br />

die „Interessen“ großgeschrieben werden?<br />

Wer wird die Zukunft dieser jungen Gemeinschaft und das Schicksal dieser<br />

Volksmasse bestimmen, die schon immer Opfer der diskriminierenden Politik<br />

der Großfamilien und Klassen war?<br />

Standesdünkel und Familienstolz werden wieder gepflegt.<br />

Wie können die Stimmen der Stämme Ous und Kazradj, die für ihren<br />

Stammesführer votierten, und die Stimmen der Qureisch, die ihren Scheich<br />

wählten, das Wort des Propheten ersetzen?<br />

<strong>Die</strong>se Leute hatten doch zuerst in Saghafi Sa´ad gewählt. Ein Satz von Abu Bakr<br />

konnte sie derart umstimmen, das sie sich auf ihn einigten.<br />

Besaßen sie denn so viel politisches Bewusstsein, das der Prophet nicht<br />

einzugreifen brauchte?<br />

Das sind Leute aus der Umgebung des Propheten. Sie haben an seiner Seite<br />

gelebt und gekämpft und wurden von ihm in der islamischen Lehre unterwiesen.<br />

Es sind Männer wie Abu Bakr und Omar.<br />

Was wird erst, wenn Medina nicht mehr der Mittelpunkt des Islam <strong>ist</strong> und diese<br />

Generation nicht mehr lebt?


Welche Rolle wird diese „Huldigung“ bei der zukünftigen Führung des Volkes<br />

spielen?<br />

Wer wird wählen und wer wird gewählt werden?<br />

Wenn die tapferen und opferbereiten Gefährten und Helfer des Propheten schon<br />

in der ersten Generation Ali wegen ihrer eigeneren Interessen Zur Seite<br />

schieben, wie wird erst die Generation von morgen, die nicht von dem Kampf<br />

um den Glauben geprägt <strong>ist</strong>, mit meinen Kindern verfahren?<br />

Sie konnte schon jetzt das Schicksal von Hassan, Hussein und Zeinab mit<br />

Gewissheit Vorrausehen.<br />

Der Ausschluss von Ali war der Anfang einer blutigen Geschichte.<br />

Der Huldigung von Saghifa, die in aller Stille umsichtig durchgeführt wurde,<br />

sollte eine Reihe anderer blutiger Huldigungen folgen.<br />

<strong>Die</strong> Enteignung von Fadak war der Anfang größerer Enteignungen und<br />

Unterdrückungen von morgen. <strong>Die</strong> Ereignisse kündigten eine unheilvolle,<br />

beängstigte und blutige Zukunft an, die von Plünderung, Mord und Verfolgung<br />

geprägt sein wird. <strong>Die</strong> Kalifate von morgen sollten ein großes Unglück für den<br />

Islam und ein folgenschweres Verhängnis für die gesamte Menschheit werden.<br />

Was kann man jetzt dagegen unternehmen?<br />

<strong>Fatima</strong> hatte alles in ihrer Macht stehende getan, um zu verhindern, das diese<br />

Ordnung von Anfang an auf schiefe Fundamente gebaut wurde. <strong>Die</strong> Stadt des<br />

Propheten reagierte weder auf die Klagen <strong>Fatima</strong>s noch auf das Schweigen Alis.<br />

Jeder, der Ali und die Erfordernisse seiner Zeit kannte, hätte sich davon<br />

betroffen fühlen müssen.<br />

Wie hart und erbarmungslos sind doch die Selbstsüchtigen, besonders, wenn sie<br />

ihre Taten mit Allgemeinwohl und Glaubensüberzeugter Gefährten des<br />

Propheten bereit, das Recht mit Füßen zu treten, auch wenn es sich um die<br />

Rechte Alis handelt.<br />

<strong>Fatima</strong> hatte ein Leben lang an der Last mitgetragen, die dem Propheten nach<br />

seiner Berufung aufgebürdet wurde. Sie musste einen Kampf voller Gefahren,<br />

Entbehrungen und Anstrengungen durchstehen – erschöpft von allen<br />

Anstrengungen, in tiefer Trauer um den Tod des Vaters und enttäuscht über das<br />

Schicksal Alis, der ausgerechnet Opfer einer Macht wird, die er nach einem<br />

lebenslangen Kampf durch Überzeugungskraft, Opferbereitschaft, Aufrichtigkeit<br />

und nicht zuletzt durch den Einsatz seines Schwertes erkämpft hatte. Nach ihrer


letzten vergeblichen Anstrengung, Ali zu seinem Recht zu verhelfen, gibt sie<br />

den Kampf verzweifelt auf.<br />

Sie kann nicht mehr aufhalten, was zu stürzen droht. Sie hat nicht mehr die<br />

Kraft, alles durchzustehen.<br />

Was außerhalb des Hauses vor sich geht, <strong>ist</strong> ihr ebenso unerträglich wie das<br />

Bild, das sie zu Hause vor Augen hat: eine schweigende Gestalt.<br />

Das Haus nebenan <strong>ist</strong> ebenfalls in Schweigen gehüllt. Eines der Fenster, die sich<br />

jeden Tag öffneten, bleibt verschlossen: das Fenster, das <strong>Fatima</strong>s bescheidene<br />

Haus mit Liebe und Hoffnung erfüllt. Das Fenster ihrer Hoffnung <strong>ist</strong><br />

verschlossen durch den Tod, die Tür ihres Hauses durch die Politik. Das Haus<br />

wird zu ihrem Gefängnis, ein Haus, in dem Ali kummervoll schweigt, als ob er<br />

das lodernde Feuer eines tätigen Vulkans in seinem Inneren unter Gewalt hielte,<br />

und in dem die Enkelkinder des Propheten auf eine unglückliche und traurige<br />

Zukunft warten.<br />

Jetzt hat sie keine Kraft mehr weiterzuleben.<br />

<strong>Die</strong> Bürde des Lebens <strong>ist</strong> für die erschöpfte und schmächtige <strong>Fatima</strong> zu schwer<br />

geworden; zu schmerzvoll vergehen die Augenblicke dieses Lebens.<br />

Ihr einziger Trost sind nun das Grab des Vaters und seine hoffnungsvollen<br />

Worte:<br />

„Aus meiner Familie wirst Du die erste sein, die mir folgen wird.“<br />

Aber wann?<br />

Wie lange muss sie noch warten?<br />

Der Kummer lastet schwer auf ihre ungeduldige Seele. Sie fühlt sich wie ein<br />

verwunderter Vogel in einem Käfig. Wenn es ihr unerträglich schwer ums Herz<br />

wird, wenn sie spürt, das sie den Trost des Vaters braucht, eilt sie zu seinem<br />

Grab. Sie starrt mit verweinten Augen auf das Grab; plötzlich beginnt sie von<br />

neuem zu weinen und zu klagen, als ob die die Nachricht über den Tod des<br />

Vaters eben erst vernommen hätte.<br />

Mit zittrigen Fingern greift sie in die Erde, nimmt eine Handvoll davon, legt sie<br />

auf ihr Gesicht und riecht liebevoll daran. Sie beruhigt sich, als ob sie den<br />

erwarteten Trost gefunden habe. Sie lässt die geweihte Erde durch ihre<br />

verkrampften Finger rieseln und starrt in schmerzlicher Verwunderung darauf.<br />

Dann versinkt sie in Schweigen, als ob sie, wie die Geschichtsschreiber bildhaft<br />

berichten, „diese Welt verlassen und ihre Ruhe gefunden habe“.


Jeden Tag beweint sie den Tod ihres Vaters genauso wie am ersten Tage nach<br />

seinem Tode. <strong>Die</strong> Frauen von Ansar (der medinensischen Helfer des Propheten)<br />

kommen zu ihr und trauern mit ihr. Sie klagen ihnen ihr Leid und erinnern sie an<br />

das Unrecht, das sie begangen haben.<br />

Zu tief <strong>ist</strong> ihre Trauer, als das sie jemanden trösten könnte.<br />

<strong>Die</strong> Zeit vergeht, die Gefährten des Propheten sind mit der Erweiterung ihrer<br />

Macht, der Verteilung der Beute und weiteren Eroberungen beschäftigt. Ali lebt<br />

zurückgezogen und <strong>Fatima</strong> wartet auf den Tod. Sie wartet ungeduldig auf die<br />

Erlösung, die der Vater ihr verheißen hat. Mit jedem Tag wird sie ungeduldiger.<br />

Der Tod <strong>ist</strong> die einzige Erlösung für sie aus diesem Leben. Sie hofft, mit all<br />

ihren Leiden bei ihrem Vater Zuflucht zu finden und bei ihm ruhen zu dürfen.<br />

Sie braucht in mehr denn je.<br />

<strong>Die</strong> Zeit wird ihr zu lang. 95 Tage sind vergangen, seit der Vater ihren baldigen<br />

Tod angekündigt hatte.<br />

Doch heute <strong>ist</strong> der Tag, Montag, der 3. Djamadi al-Sani. Man zählt das 11. Jahr<br />

der Auswanderung, das Jahr, in dem der Vater starb.<br />

Sie küsste ihre Kindern einzeln, Hassan 7, Hussein 6, Zeinab 5 und Umm-i<br />

Kulthum 3 Jahre alt. Nun <strong>ist</strong> es an der Zeit, schweren Herzens von Ali Abschied<br />

zu nehmen.<br />

Er muss noch weitere 30 Jahre in dieser Welt bleiben. Sie lässt Umm-i Rafi´, die<br />

<strong>Die</strong>nerin des Propheten, kommen und sagt: „Teure <strong>Die</strong>nerin Gottes, schütte<br />

Wasser über mich, damit ich mich waschen kann.“<br />

Mit bewundernswerter Sorgfalt und Ruhe beendet sie die rituelle Waschung und<br />

zieht statt ihres Trauerkleides ein neues an, als ob die Trauerzeit zu Ende sei und<br />

sie ihren Vater besuchen ginge.<br />

Sie bittet Umm-i Rafi´, ihre Matratze in der Mitte des Zimmers auszubreiten.<br />

Dann legt sie sich ruhig und erleichtert nieder, wendet ihr Gesicht nach Mekka<br />

und wartet. Einige Augenblicke vergehen; plötzlich werden weinerliche<br />

Stimmen im Hause laut.<br />

Sie schließt ihre Augen und begibt sich auf den Weg zu ihrem geliebten Vater,<br />

der auf sie wartet. Das leidvolle Leben erlischt wie eine Kerze. Ali bleibt mit<br />

den Kindern allein.


Sie hatte Ali gebeten, sie in der Nacht zu begraben, damit keiner ihr Grab kennt<br />

und die beiden Herren ihren Leichnam nicht begleiten. Ali handelte danach.<br />

Keiner weiß, wie!<br />

Es <strong>ist</strong> noch heute nicht bekannt, wo sie begraben liegt – zu Hause oder auf dem<br />

Friedhof Baghi.<br />

Den unermesslichen Schmerz Alis kann man nur ahnen. Medina liegt in der<br />

Dunkelheit, die Moslems schlafen. <strong>Die</strong> Stille der Nacht wird nur durch ein<br />

Flüstern Alis unterbrochen. Seine Einsamkeit <strong>ist</strong> nun vollständig, in der Stadt<br />

und zu Hause.<br />

Wie ein Häufchen Elend sitzt er nun stundenlang auf dem Grab <strong>Fatima</strong>s;<br />

klagend richtet er seine Worte an den Propheten :<br />

„Sei gegrüßt, Gesandter Gottes, von mir und von Deiner Tochter, die zu Dir<br />

eilte. Deine Lebensgeschichte hatte uns schon viel Geduld und Kraft abverlangt.<br />

<strong>Die</strong> Trennung von Dir <strong>ist</strong> aber noch härter. Auf meinen Händen tatest Du den<br />

letzten Atemzug; auf meinen Händen trug ich Dich zu Grabe.<br />

`Wir gehören Gott und zu Ihm kehren wir zurück `(Koran 2/156)<br />

Meine Sorgen finden kein Ende, meine Nächte sind schlaflos. Ich werde keine<br />

Ruhe finden, bis der allmächtige Gott mich zu sich befiehlt. Deine Tochter wird<br />

Dir erzählen, welches Unrecht ihr von Deinem Volk widerfahren <strong>ist</strong>. Lass Dir<br />

erzählen, welches Unrecht ihr von Deinem Volk widerfahren <strong>ist</strong>. Lass Dir<br />

erzählen, wie das alles geschah, als die Erinnerung an Deine Zeit noch lebendig<br />

war.<br />

Seid beide gegrüßt von einem Mann, der sich ohne Zorn und Verzweiflung<br />

verabschiedet.“<br />

Er schweigt einen Augenblick; plötzlich verspürt er die Müdigkeit seines ganzen<br />

Lebens auf seiner Seele, als ob er mit jedem Wort, das er aus tiefster Seele<br />

sprach, ein Stück seines Lebens verbraucht habe.<br />

Unentschlossen steht er da und weiß nicht, was er tun soll; soll er zurückkehren?<br />

Wie soll er alleine nach Hause zurückkehren?<br />

<strong>Die</strong> Stadt sieht wie ein Ungeheuer aus, das in einem Hinterhalt voller<br />

Verschwörung und Verrat auf ihn lauert.<br />

Wie soll er dort bleiben?


<strong>Die</strong> Kinder?<br />

<strong>Die</strong> Leute?<br />

<strong>Die</strong> Wahrheit?<br />

<strong>Die</strong> Aufgaben, die auf ihn warten, und der Auftrag, dessen Erfüllung er gelobt<br />

hat?<br />

Er <strong>ist</strong> von grauenhaften seelischen Schmerz überwältigt. Zweifel nagen an<br />

seinem Herzen.<br />

Soll er gehen oder bleiben?<br />

Er fühlt sich durch keiner Entscheidung fähig. Er versucht, es <strong>Fatima</strong> zu<br />

erklären:<br />

„Ich bin Deiner nicht überdrüssig, wenn ich von Dir gehe. Ich ziehe auch nicht<br />

die Worte Gottes über geduldige Menschen in Zweifel, wenn ich bei Dir bleibe.“<br />

Dann steht er auf und wendet sich zum Hause des Propheten, als ob er sagen<br />

will:<br />

Ich geh zurück, was Du mir anvertraut hast. Höre, was sie Dir zu sagen hat. Sie<br />

soll Dir beschreiben, was sie nach Deinem Tod erlebt hat.<br />

Nach ihrem Tode lebte <strong>Fatima</strong> in der Geschichte fort.<br />

Sie wurde zur Symbolfigur unter den Opfern der Gewaltherrschaft,<br />

Unterdrückung und Ausbeutung in der islamischen Geschichte. <strong>Die</strong> Erinnerung<br />

an <strong>Fatima</strong> wurde dank der bewundernswerten Überzeugungskraft der Frauen<br />

und Männer, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpften, durch Jahrhunderte<br />

hindurch liebevoll gepflegt, unter den grausamen und blutigen Peitschen der<br />

ungerechten und unrechtmäßigen Herrschaft der Kalifen überliefert und hat die<br />

empfindsamen Herzen der Entrechteten gerührt.<br />

Sie war in der islamischen Geschichte für die entrechteten Massen das Symbol<br />

für Freiheit und Gerechtigkeit. Ihr Leben inspirierte sie zum Kampf gegen<br />

Unterdrückung, Tyrannei und Diskriminierung.<br />

Es <strong>ist</strong> schwer, der Persönlichkeit <strong>Fatima</strong>s gerecht zu werden.


Sie war eine Frau im Sinne des Islam. <strong>Die</strong> Umgebung des Propheten prägte ihre<br />

Persönlichkeit und die nachhaltigen Erlebnisse eines lehrreichen Lebens im<br />

Kampf formten ihren Charakter.<br />

Sie war in allem eine vorbildliche Frau.<br />

Sie war vorbildlich als Tochter ihrem Vater gegenüber, vorbildlich als Ehefrau<br />

ihrem Mann gegenüber, vorbildlich als Mutter ihren Kindern gegenüber und<br />

schließlich vorbildlich als eine kämpferische und verantwortungsbewusste Frau<br />

angesichts der Erfordernisse ihrer Zeit und Gesellschaft.<br />

Sie <strong>ist</strong> selbst ein „Imam“, ein Vorbild, ein idealer Typ und ein Leitbild aller<br />

Frauen, die für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit eintreten.<br />

Sie gibt durch ihre erstaunliche Kindheit, ihren ständigen Kampf an zwei<br />

Fronten, ihr Leben im Hause des Vaters, des Ehemannes und in der Gesellschaft<br />

sowie durch ihre Denk- und Handlungsweise die Antwort darauf, wie eine Frau<br />

sein soll.<br />

Meine Bewunderung gilt ihr nicht zuletzt deshalb, weil sie Lebens- und<br />

Kampfgefährtin einer so überragenden Persönlichkeit einer so überragenden<br />

Persönlichkeit wie Ali war.<br />

An seiner Seite war sie nicht nur Ehefrau. Nach ihr hatte Ali auch andere<br />

Ehefrauen. Er betrachtete sie als seine Freundin, die für seine großen Ideale<br />

Verständnis aufbrachte, seine Überzeugungen teilte und seine einsamen Tage<br />

erträglich machte. Daher hatte Ali eine besondere Beziehung zu ihr und ihren<br />

Kindern.<br />

Nach <strong>Fatima</strong> heiratete Ali andere Frauen, die ihm weitere Kinder gebaren.<br />

<strong>Fatima</strong>s Kinder nahmen eine Sonderstellung ein; er nannte sie „<strong>Fatima</strong>s<br />

Kinder“, die anderen hießen „Kinder von Ali“.<br />

Es erstaunt, das ein Vater, insbesondere Ali, seine Kinder nach der Mutter<br />

benennt.<br />

Wie schon erwähnt, hatte auch der Prophet eine besondere Beziehung zu ihr.<br />

Nur mit ihr verfuhr er so streng. Nur auf sie verließ er sich. Sie bekehrte er<br />

schon im Kindesalter zum Islam.<br />

Ich weiß nicht, was ich sonnst über sie sagen soll und wie.<br />

Ich wollte zuerst dem französischen Kanzlerredner Bossuet nachtun, der einmal<br />

in Anwesenheit Ludwig XIV. folgendes über Maria gesagt haben soll:


„1700 Jahre haben Redner der Welt über Maria gesprochen,<br />

1700 Jahre haben Philosophen und Denker des Ostens und Westens die<br />

Tugenden Marias aufgezählt,<br />

1700 Jahre haben die Dichter der Welt mit all ihrem schöpferischen Können<br />

Maria gepriesen,<br />

1700 Jahre haben Künstler, Maler und Bildhauer bei der Darstellung Marias<br />

bewundernswerte künstlerische Werke erschaffen.“<br />

Doch all diese Worte, Gedanken und künstlerischen Werke zusammen können<br />

die Erhabenheit Marias nicht so ausdrücken wie diese Worte:<br />

„Maria <strong>ist</strong> die Muter Jesu.“<br />

Ich habe versucht, <strong>Fatima</strong> in dieser Art zu beschreiben; es war mir nicht<br />

möglich.<br />

Ich wollte sagen, sie sei die Tochter der großen Khadija, musste aber einsehen,<br />

das dies nicht <strong>Fatima</strong> war.<br />

Ich wollte sagen, sie sei die Tochter Mohammads, aber auch das war nicht<br />

<strong>Fatima</strong>.<br />

Ich wollte sagen, sie sei die Frau Alis, das war ebenfalls nicht <strong>Fatima</strong>.<br />

Ich wollte sagen, sie sei die Mutter Hassans und Husseins, auch das war nicht<br />

<strong>Fatima</strong>.<br />

Ich wollte sagen, sie sei die Mutter Zeinabs, aber auch das war nicht <strong>Fatima</strong>.<br />

Sie <strong>ist</strong> das alles – doch das alles <strong>ist</strong> nicht <strong>Fatima</strong>.<br />

„<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong>“


Anmerkungen<br />

1) Als Husseiniye werden die Plätze bezeichnet, auf denen sich die Schiiten vor allem im<br />

Monat Muharram versammeln. Um in Trauerfeiern der im Widerstand gegen<br />

Ungerechtigkeit und Tyrannei gefallenen Märtyrer zu gedenken. Ali Schariati hielt die<br />

me<strong>ist</strong>en seiner Vorträge in Husseiniye-ye Erschad in Teheran.<br />

2) Für das unterdrückte iranische Volk, das seine Leiden mit denen <strong>Fatima</strong>s identifiziert,<br />

verkörpert die Tochter des Propheten ein Symbol des Kampfes für Freiheit und<br />

Gerechtigkeit. <strong>Die</strong> gleiche Bedeutung wird den alljährlichen Trauerfeiern zum<br />

Gedenken an den Märtyrertod Imam Husseins und seiner Gefährten in Karberla<br />

beigemessen.<br />

3) Khadija, die spätere Frau des Propheten, eine reiche Witwe aus einer Mekkanischen<br />

Adelsfamilie, betrieb in Mekka ein gutgehendes Handelsgeschäft. Sie nahm den für<br />

seine Zuverlässigkeit bekannte Mohammad zunächst als Verwalter in ihre <strong>Die</strong>nste. Im<br />

Alter von 25 Jahren heiratete Mohammad die nunmehr 44 jährige Khadija. Nach der<br />

Berufung Mohammads zum Propheten war Khadija die erste, die zum Islam übertrat.<br />

Sie verteilte ihr gesamtes Vermögen unter die Armen uns Sklaven sowie unter<br />

diejenigen, die aufgrund ihres Glaubens verfolgt wurden und schwere Folterungen<br />

erdulden mussten. Khadija hat Mohammad sechs Kinder geborgen, zwei Söhne, die<br />

bereits im Kindesalter starben, sowie vier Töchter, deren jüngste <strong>Fatima</strong> war.<br />

4) Fadak, ein kleines Stück Ackerland in der Nähe Medinas, das einige Juden dem<br />

Propheten zum Zeichen ihrer Freundschaft und ihres guten Willens gegenüber dem<br />

Islam und dem Propheten geschenkt hatten, war das einzige persönliche Eigentum, das<br />

der Prophet seiner Tochter und Erbin <strong>Fatima</strong> bei seinem Tode hinterließ. Da Imam Ali<br />

und <strong>Fatima</strong> den Kalifen als Nachfolger des Propheten nicht anerkannt hatten, nahm er<br />

ihnen dieses Stückchen Land, aus dessen Ertrag sie ihren Lebensunterhalt bestritten<br />

hatten, um sie zum Gehorsam zu zwingen, denn die Enteignung machte sie von<br />

Zahlungen aus der Staatskasse abhängig, die wiederum absoluten Gehorsam gegenüber<br />

dem System voraussetzten. <strong>Fatima</strong> hat die Enteignung des Ackerlandes Fadak immer als<br />

Beispiel für die islamwidrige und ungerechte Handlungsweise des Kalifen gegenüber<br />

den Moslems angeführt.<br />

5) <strong>Die</strong> Kalifen der Umayyaden-Dynastie (661-759n.Chr) sind aus der Adelsfamilie der<br />

Bani Umayya, die als Großkaufleute in Mekka lebten, hervorgegangen. Nach der<br />

Eroberung Mekkas unterwarfen sich Abu Sufian, Oberhaupt der Familie (vgl. Anm.15),<br />

und sein Sohn Muawiya (vgl. Anm 10)dem Propheten Nach dem Tode Mohammads<br />

trachten die Bani Umayya mehr und mehr danach, die Macht an sich zu reißen; unter<br />

dem 3. Kalifen Osman, der ebenfalls aus der Familie Bani Umayya hervorgegangen<br />

war, erreichten diese Bestrebungen einen Höhepunkt. Ein Volksaufstand gegen die<br />

Willkürherrschaft des Kalifen, die ständige Unterdrückung und Ausbeutung des Volkes<br />

und die wachsende Abweichung der Herrschenden vom Islam führte schließlich zum<br />

Sturz Osmans, und Imam Ali trat als 4. Kalif die Nachfolge des Propheten an.<br />

6) <strong>Die</strong> „offiziellen“ Vorbeter (<strong>Imame</strong>) waren von den Kalifen und Königen beauftragte<br />

Ge<strong>ist</strong>liche, deren Aufgabe darin bestand, die Gewalttaten und Willkür der herrschenden<br />

Cliquen unter Berufung auf den Islam zu rechtfertigen. So hatten sie durch Manipulation<br />

des Volkes dafür Sorge zu tragen, das es sich der ihm im Namen des Islam zugeführten<br />

Ungerechtigkeiten nicht bewusst wurde.<br />

7) Im 16. und 17. Jahrhundert regierte in Iran die Dynastie der Safawiden. Der<br />

bedeutendste, aus dieser Dynastie hervorgegangene Herrscher war Schah Abbas der<br />

Große (1587-1629n.Chr.) <strong>Die</strong> Safawiden zählten sich zu den Anhängern Imam Alis;<br />

erstmalig wurde die Schia zur offiziellen Staatsreligionen erhoben, und diese


Entwicklung führte bald zum Konflikt mit dem sunnitischen Osmanischen Reich. <strong>Die</strong><br />

Schia, zu der die Safawiden sich bekannten, hatte jedoch mit der Schia, für deren<br />

Verwirklichung die entrechteten Moslems Irans jahrhundertlang gekämpft hatten, nichts<br />

gemein, denn ähnlich den früheren Dynastien haben auch Safawiden den Islam im<br />

Namen der Schia in ihrem Sinne und zu ihrem Vorteil ausgelegt.<br />

8) Gemeint sind jene „islamischen“ Mystiker, die die Vereinigung mit Gott durch Hingabe<br />

und Versenkung des individuellen Seins in das Gottwesen zu erlangen suchten.<br />

9) Der Zoroastrismus, die Religion Zarathustras, des erstmalig wahrscheinlich um das Jahr<br />

600 v. Chr. Auftretenden Propheten und Stifters der altrianischen Glaubenslehre, war bis<br />

zur Eroberung durch die Araber persische Nationalreligion; er <strong>ist</strong> gekennzeichnet durch<br />

den Dualismus von Gut (vertreten durch den `Guten Ge<strong>ist</strong>`, Ahuramazda) und Böse<br />

(vertreten durch den `Bösen Ge<strong>ist</strong>`, Ahirman). Dem Menschen kommt in diesem<br />

ständigen, nach Ansicht der Lehre das All beherrschenden Kampf zwischen Gut und<br />

Böse die Aufgabe zu, Ahuramazada gegen die Angriffe Ahrimans beizustehen.<br />

10) Muawiye, der Sohn Abu Sufians und später Begründer des Umayyaden- Kalifats, war<br />

bereits zu Lebzeiten des 2. Kalifen Omar zum Gouverneur der Provinz Scham (des<br />

heutigen Syrien) ernannt worden. Sein Lebens- und Führungsstil orientierte sich<br />

nunmehr am Vorbild der römischen und persischen König. Sein aufwendiges leben und<br />

die riesige Armee finanzierte er mit Hilfe der in Kriegen erbeuteten Werte sowie aus<br />

Steuergeldern, die er rücksichtslos durch seine Beamten bei den ohnehin verschuldeten<br />

Bauern und Pächtern eintreiben ließ; so wurden die Not des Volkes und die Kluft<br />

zwischen den Gesellschaftsschichten weiter vergrößert, und Unzufriedenheit keimte im<br />

Volke auf, das sich wohl bewusst war, das von einer Gerechtigkeit im Sinne des Islam<br />

längst keine rede mehr sein konnte. Zudem ließ Muawiye unbarmherzig die Gefährten<br />

des Propheten verfolgen und verbannen. Mit dem Sturz des Kalifen Osman wurde<br />

Muawiye seines Amtes als Gouverneur enthoben. Muawiye indessen, der seit einiger<br />

Zeit selbst Vorbereitungen zur Übernahme der Macht getroffen hatte, erklärte Imam Ali<br />

den Krieg.<br />

11) Der letzte Umayyaden- Kalif und Begründer der Dynastie der Marwaniden, Marwan,<br />

war einer der erbittertsten Feinde der Nachkommen des Propheten.<br />

12) Der Abbasiden-Kalif Mutiwakkil (847 – 861 n. Chr.), berüchtigt wegen seiner<br />

feindseligen Haltung und seines Hasses gegenüber den Schiiten, ließ das Mausoleum<br />

Imam Husseins, das für die Schiiten zu einem Symbol das Propheten und zu einem<br />

Wallfahrtsort geworden war, zerstören und anstelle das Grabens einen Acker anlegen.<br />

13) Den Abbasiden-Kalifen Harun ar- Raschid (786 – 809 n. Chr.) kennt man im Abendland<br />

vor allem aus den Erzählungen der „ Tausendund eine Nacht“. Obwohl die Abbasiden<br />

im Namen des Islam regierten, verstärkten sich in zunehmendem Maße die schon unter<br />

den Umayyaden deutlich erkennbaren Abweichung von der Linie der ursprünglichen<br />

Lehre des Islam. <strong>Die</strong> Abbasiden nannten sich zwar „Herrscher aller Gläubigen“ und<br />

„Stellvertreter des Propheten“, verfolgten tatsächlich aber nur ein Ziel: die<br />

Aufrechterhaltung ihrer ausbeuterischen Machtposition und somit ihres Luxuriösen und<br />

ausschweifenden Lebensstil in den Palästen der Hauptstadt Bagdad. <strong>Die</strong> Verfechter des<br />

Islam, insbesondere die Anhänger Imam Alis, wurden verfolgt und in den Verließen der<br />

Paläste der Hauptstadt in Ketten gelegt und gefoltert ; die bekanntesten waren der 6. und<br />

7. Imam der Schiiten, Imam Dschafar al-Sadigh, der Begründer der dschafaridischen<br />

Rechtsschule, und sein Sohn Imam Musa al-Kazim, die nach jahrelangen Leiden in den<br />

Kerkern der Paläste der „Tausendundeine Nacht“ den Märtyrertod fanden, weil sie ihre<br />

Stimme gegen die Tyrannei der Kalifen erhoben hatten.<br />

14) Abu Djahl, ein Onkel des Propheten, lebte als Großkaufmann in Mekka. Erbitterter<br />

Feind des Propheten und des Islam, ließ er die Moslems unnachgiebig verfolgen und<br />

foltern.


15) Abu Sufian, Oberhaupt der Familie Bani Umayya, hatte den Propheten und den Islam<br />

jahrelang bekämpft und die Feinseeligkeiten immer wieder von neuem geschürt, sich<br />

dann aber nach der Eroberung Mekkas durch die Moslems zusammen mit seinem Sohn<br />

Muawiya dem Propheten unterworfen. Angesichts seiner Reue und der Erklärung seiner<br />

Ergebenheit gegenüber dem Islam hatte der Prophet sein Heim zum Zufluchtsort für alle<br />

Mekkaner, die ihrem alten Glauben abgeschworen hatte, erklärt.<br />

16) Nach schiitischer Auffassung <strong>ist</strong> der 12. Imam,. Mohammad al-Mahdi, im Jahre<br />

873.n.Chr. entrückt, und die Schiiten leben in der Erwartung seiner Wiederkehr. Hier<br />

handelt es sich um ein konstruktives Erwarten, das nicht nur mit seiner Person<br />

verbunden <strong>ist</strong>, sondern gleichzeitig als die damit verbundenen Realisierung einer<br />

gerechten und idealen Gesellschaftsordnung verstanden wird. Und hieraus resultiert die<br />

aktive Ablehnung aller repressiven Gesellschaftssysteme. Aufgrund dieser aktiven<br />

Ablehnung und Protesthaltung waren die Schiiten immer wieder Verfolgungen<br />

ausgesetzt und wurden unterdrückt.<br />

17) Zum Schutze und zur Erhaltung ihres Glaubens mussten die Schiiten, die insbesondere<br />

unter der Herrschaft der Umayyaden und Abbasiden der Verfolgung und Unterdrückung<br />

der Kalifen ausgesetzt waren, ihre Aktivitäten verheimlichen. <strong>Die</strong> Notwendigkeit dieser<br />

Verheimlichung wird mit dem Schutzschild des Soldaten, der die Kampfkraft der Armee<br />

aufrechterhält, verglichen; denn könnte der Soldat sein Leben nicht auf diese Weise<br />

schützen, wäre der Kampf, der bald nur noch mit verminderter Kraft fortgeführt werden<br />

können, sinnlos. Hinter der Verheimlichung darf sich also keinesfalls Resignation<br />

verbergen.<br />

18-21) <strong>Die</strong> mit den Prinzipien des Islam nicht in Einklang stehende Herrschaft des 2.<br />

Umayyaden- Kalifenn Yazid (680- 683 n. Chr.) der, wie zuvor auch sein Vater<br />

Muawiye, zwar im Namen des Islam über das „islamische Reich“ herrschte, sich<br />

tatsächlich jedoch immer weiter von den wahren Inhalten der Lehre entfernte bzw.<br />

wusste, sie zu seinen Gunsten auszulegen, ließ allmählich den Protest des unterdrückten<br />

Volkes laut werden, bis es in Irak zum offenen Aufstand kam.<br />

Hussein, der Sohn Imam Alis und <strong>Fatima</strong>s und der 3. Imam der Schiiten, der in Medina<br />

lebte, brach in Begleitung seiner Familie und Gefährten nach Irak auf, um sich an die<br />

Spitze der Widerstandsbewegung gegen die Herrschaft Yazids, zu stellen. Bevor sie<br />

jedoch ihr Ziel erreichten, wurden sie in Karberla am Euphrat, nahe der Stadt Kufa, von<br />

der Armee Yazids, die den Aufstand in Kufa bereits niedergeschlagen hatte,<br />

aufgehalten. Zehn Tage lang blieben Hussein und seine Gefährten eingeschlossen. Es<br />

gab für sie nur zwei mögliche Entscheidungen: einmal die Kapitulation und<br />

Anerkennung der islamwidrigen und rechtmäßigen Herrschaft Yazids - und diese<br />

Anerkennung seiner Herrschaft durch den Enkel des Propheten strebte Yazid an - auf<br />

der anderen Seite weiteren Widerstand unter Einsatz des Lebens, um den Moslems die<br />

wahre Gesinnung Yazids zu enthüllen. Hussein und seine Begleiter entschieden sich für<br />

letzteres. Am 10. Tag des Monats Muharram (Ashura) im Jahre 62 der Hidjra (0 680. n<br />

Chr.) fanden Hussein und seine 72 Begleiter den Märtyrertod.<br />

<strong>Die</strong> Frauen und Töchter der Märtyrer wurden nach Syrien zum Sitz des Kalifen<br />

gebracht, unter ihnen auch die Schwester Imam Husseins, Zeinab. Sie setzte den Kampf<br />

ihres Bruders fort; indem sie nicht aufhörte, die Missetaten Yazids anzuprangern, der<br />

unrechtmäßig im Namen des Islam als Nachfolger des Propheten herrschte und die<br />

Familie Mohammads hatte niedermetzeln lassen, weil sie sich für die Sache der<br />

Unterdrückten unt Entrechteten eingesetzt hatte. Zum Zeichen des Martyriums hat<br />

Zeinab die Rote Fahne Imam Husseins an die kommende Generation weitergegeben und<br />

seine Parole:“... jeder Tag <strong>ist</strong> Ashura (der 10. Muharram ) und jeder Ort <strong>ist</strong> Karbala..“<br />

unter den Moslems bekannt gemacht.


<strong>Die</strong> Schiiten verehren Imam Hussein als Symbol der Auflehnung gegen<br />

Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Der Monat Muharram, insbesondere der 10.Tag<br />

dieses Monats (Ashura), <strong>ist</strong> dem Gedenken an den Widerstand und die Auflehnung<br />

gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt geweiht.<br />

22) <strong>Die</strong> auf den 6. Imam der Schiiten , Dschafar as-Sadigh, zurückgehende islamische<br />

Rechtsschule. Imam Dschafar as-Sadigh war eine anerkannte Autorität auf dem Gebiete<br />

des Hadis (= Überlieferung der Taten und Aussprüche des Propheten und seiner<br />

Gefährten) sowie des islamischen Rechtes. In den Jahren der Kämpfe zwischen der<br />

Umayyaden- Dynastie und den Abbasiden bis zur Gründung der Dynastie der<br />

Abbasiden hatte Imam Dschafar as-Sadigh eine Zeitlang relativ unangefochten die<br />

islamische Lehre verkünden können. Ihm <strong>ist</strong> es zu verdanken, das die Schia einer breiten<br />

Öffentlichkeit bekannt wurde und im Volke eine große Anhängerzahl gewann.<br />

23) vgl. Anm. 41<br />

24) Abu Zar, einer der ersten Gefährten und zuverlässigsten Freunde des Propheten, schloss<br />

sich nach dem Tode Mohammads Ali, den er als Nachfolger des Propheten anerkannte,<br />

an. Sein Leben war dem Kampf gegen die immer deutlicher werdende Abweichung vom<br />

ursprünglichen Islam des Propheten geweiht. In Syrien unterstützte er die Armen und<br />

Entrechteten gegen die Willkürherrschaft Muawiyes und war stets darum bemüht, dem<br />

unterdrückten Volk die Fähigkeit zu erhalten, den wahren und ursprünglichen Islam zu<br />

erkennen. Er wurde verhaftet und nach Medina zurückgeschickt, als Muawiye erkannte,.<br />

Das seine Position durch das Wirken Abu Zars ins Wanken geriet.<br />

Aber auch in Medina schwieg Abu Zar nicht. Sein Protest richtete sich gegen die<br />

islamwidrige Politik des Kalifen, der die Koranische Lehre zu seinem eigenen Vorteil<br />

interpretierte, wie auch Muawiye immer versucht hatte, die Armut des Volkes z.B. als<br />

Fügung des Schicksals darzustellen. Mit der Zeit wurde Abu Zar, dessen aufklärerisches<br />

Schaffen im Volke eine ernste Bedrohung für die Herrschenden und den Fortbestand<br />

ihrer Macht bildete, für den Kalifen untragbar; er starb in der Verbannung. Man schreibt<br />

ihm die Worte zu: „Ich werde im Antlitz aller Entrechteten und Unterdrückten wieder<br />

sichtbar; wenn meine Feinde mich nicht erkennen, werden sie vernichtet werden.“<br />

25) Höchste religiöse Autorität, die bis zur Wiederkehr des 12. Imam stellvertretend dessen<br />

Aufgaben und Verpflichtungen wahrnimmt.<br />

26-27) Gegen Ende des 19. Jahrhunderts versuchten die Länder Asiens in zunehmendem<br />

Maße, sich vom Joch der Kolonialmächte zu befreien.<br />

<strong>Die</strong> infolge dieser Entwicklung ihre Machtposition bedrohende Gefahr erkennend,<br />

förderten die Kolonialmächte in diesen Ländern, deren Gesellschaften vorwiegend von<br />

religiösen Überlegungen und Bindungen bestimmt wurden, die Entstehung von sich an<br />

den religiösen Vorstellungen der jeweiligen Völker orientierenden Pseudo-Religionen.<br />

Mit Hilfe der daraus resultierenden religiösen Auseinandersetzungen innerhalb der<br />

Völker sollten diese von einem weiteren Engagement für die antikolonial<strong>ist</strong>ischen<br />

Freiheitsbewegungen abgelenkt werden.<br />

<strong>Die</strong> Verkünder der Pseudo-Religionen traten entsprechend den jeweiligen<br />

Nationalreligionen als Propheten, Gottheiten usw.auf. In Iran sind als Beispiel Mirza<br />

Mohammad Ali Bab, ein Schüler Seyyed Kasem Raschtis, sowie Mirza Hossein Ali<br />

Baha zu nennen, die auf Betreiben der Kolonialmächte England und Russland im Volk<br />

als Propheten auftraten; nachdem sie zunächst vorgegeben hatten, mit dem im<br />

Verborgen lebenden 12. Imam Mohammad al-Mahdi in Verbindung zu stehen,<br />

behaupteten sie später sogar, selbst der erwartete Imam zu sein.<br />

28) `Ein u d-Doule, Sproß einer Adelsfamilie, bekleidete in der Zeit vor der Konstitutionellen<br />

Monarchie in Iran das Amt des Kanzler des Schah. Gefürchtet wegen seiner Härte und<br />

Grausamkeit gegenüber den sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts überall in<br />

Iran, insbesondere in Teheran und Tabriz, ausweitenden Freiheitsbewegungen, ernannte


ihn der Schah dennoch nach dem Siege der Konstitutionellen Bewegung erneut zu<br />

seinem Kanzler.<br />

Daß diese zweite Ernennung `Ein u d-Doules möglich wurde, wird allgemein als<br />

Zeichen der Erfolglosigkeit und Preisgabe der Bewegung gewertet.<br />

29) Während der Regierungszeit Mozaffareddin Schahs, des Sohnes des Kadscharen-<br />

Herrschers Nasreddin Schah, kam es im Jahr 1905 in mehreren iranischen Städten zu<br />

massiven Protestbewegungen gegen die Willkürherrschaft der Kadscharen-Dynastie. Im<br />

Jahre 1906 sah Mozaffareddin Schah sich gezwungen, sich dem Willen der<br />

Freiheitskämpfer zu beugen; in der folge wurde die erste Verfassung Irans verabschiedet<br />

und das erste Parlament gewählt.<br />

30) Seyyed Djamaleddin Asadabadi, ein islamischer Rechtsgelehrter, der auch unter dem<br />

Namen Seyyed Djmaleddin al-Afghani bekanntgeworden <strong>ist</strong>, trug im 19. Jahrhundert<br />

zur Zeit der Kadscharen-Herrschaft in Iran maßgeblich zur Bildung eines neuen religiöspolitischen<br />

Bewusstseins in den islamischen Ländern bei .<br />

31) Der im Abendland unter den Namen Avicenna bekannte Ibn Sina zählt zu den<br />

berühmtesten iranischen Gelehrten des 11. Jaghunderts. Als Arzt gleichermaßen wie als<br />

Philosoph hat er sich große Verdienste erworben. Durch seine große Enzyklopädie<br />

„buch der Genesung der Seele“ wirkte er stark auf das chr<strong>ist</strong>liche Abendland.<br />

32) <strong>Die</strong> Schlacht von Uhud, ein kriegerisches Unternehmen zu Lebzeiten des Propheten, bei<br />

dem Hamza, ein Onkel des Propheten, sowie 70 weitere Mosleme fielen und Ali sich<br />

durch große Tapferkeit auszeichnete.<br />

33) In Hunain fanden die heftigsten Kämpfe seit der Eroberung Mekkas zwischen den<br />

Moslems und ihren Gegnern, die verschiedenen Stämmen und Partein angehörten und<br />

hier zur Vernichtung des Islam ein Bündnis eingegangen waren, statt. <strong>Die</strong> Kämpfe<br />

endeten mit dem Sieg der Moslems.<br />

34) Bis zum Siege der islamischen Revolution in Iran beherrschten zwei Namen die Szene<br />

der iranischen Medien: Faramarzi und Mas´udi. Beide strebten die Amerikanisierung<br />

der iranischen Gesellschaft an.<br />

35) Letzte Dynastie des Persischen Reiches in vorislamischer Zeit.<br />

36) 932- 1020 n. Chr. Der persische Dichter wurde berühmt durch sein Werk „Shahnameh“,<br />

das „Königsbuch“, ein Heldengedicht in 60 000 Versen.<br />

37) Abd al-Mutalleb, der Großvater des Propheten, nahm nach dem Tode der Eltern den<br />

Waisen Mohammad bei sich auf. Als Oberhaupt des Stammes der Qureisch und<br />

Schlüsselhalter der Kaaba, die in vorislamischer Zeit für die arabischen Stämme ein<br />

Zentrum der Götzenverehrung gewesen war, genoss Abd al-Mutalleb großes Ansehen.<br />

38) Abu Taleb, der Onkel des Propheten und Vater Alis, nahm seinen 6 jährigen Neffen<br />

Mohammad nach dem Tode des Großvaters in seiner Familie auf.<br />

39) Abd al-Manaf war einer der Führer des Stammes der Qureisch und Vater Abd al-<br />

Mutallebs.<br />

40) Hamza, ein Onkel des Propheten, trat schon früh zum Islam über. Mut und Tapferkeit<br />

zeichneten ihn in mehreren Kämpfen gegen die Feinde des Islam aus. In der Schlacht<br />

von Uhud fand Hamza den Märtyrertod.<br />

41) <strong>Die</strong> Heilige Moschee in Mekka, alljährliches Ziel Hunderttausender moslemischer<br />

Pilger; in ihrem Zentrum befindet sich die Kaaba, das bedeuternste Heiligtum des Islam,<br />

ein steinernes, würfelförmiges Gebäude, in das der „Schwarze Stein“ (Hadjar- al-<br />

Aswad) eingemauert <strong>ist</strong>. Nach islamischer Überlieferung gilt Abraham als ihr Erbauer.<br />

42) Asia, die Frau des Pharao, gewährte nach islamischer Überlieferung dem jungen Moses<br />

Schutz und erzog ihn.<br />

43) Bedeutende islamische Geschichtsschreiber.


44) Bilal, ein afrikanischer Sklave, gehörte zu den ersten Gefährten des Propheten. Bis zum<br />

Tode Mohammads war er Muezzin (Gebetsrufer) und schloss sich dann der Partei Alis<br />

an.<br />

45-46)Ammar war der Sohn des Prophetengefährten Yasir. Er gehörte zu den ersten, die den<br />

Islam annahmen, und auch er musste wegen seines Glaubens grausamste Folterungen<br />

erdulden. Nach dem Tode des Propheten schloss er sich der Partei Alis an und galt als<br />

exzellenter Kenner der Tradition des Propheten.<br />

47) Residenz der Sassaniden in Mesopotamien zur Zeit der Eroberung Persiens durch die<br />

islamische Armee.<br />

48) Nach dem Aufstand des Volkes gegen den 3. Kalifen Osman und dessen Sturz trat Ali<br />

das Amt als rechtmäßiger Nachfolger des Propheten an. Er widmete sich zunächst der<br />

Säuberung des islamischen Staates von korrupten Elementen und enthob all jene, die die<br />

Moslems im Namen des Islam unterdrückt und ausgebeutet hatten, ihres Amtes.<br />

Muawiye aber, der die rechtmäßige Nachfolge für sich beanspruchte, verweigerte,<br />

gleichermaßen von diesen Maßnahmen betroffen, Ali den Gehorsam und erklärte ihm<br />

den Krieg. <strong>Die</strong> Entscheidung fiel in der Schlacht von Siffin.<br />

49) Hurr, eine der bekannteste Persönlichkeiten der schiitischen Geschichte, diente zunächst<br />

als Offizier in der Armee Yazids und war maßgeblich beteiligt an dem Überfall auf<br />

Imam Hussein und seine Gefährten in Karbala, lief dann aber in einer für Imam Hussein<br />

militärisch aussichtslosen Situation zu ihm über. An seiner Seite fand er den<br />

Märtyrertod.<br />

50) Der Prophet ernannte den 19. jährigen Usama, den Sohn Zeids, kurz vor seinem Tode<br />

zum Oberbefehlshaber der islamischen Armee, damit er sie, der nach seinem Willen<br />

auch fast alle seine Gefährten angehören sollten, gegen das Römische Reich führe.<br />

<strong>Die</strong>se Entscheidung des Propheten bedeutete seinen Gefährten, das er auch die jungen<br />

unter ihnen für fähig befand, verantwortungsvolle Aufgaben zu übernehmen.<br />

51) In vorislamischer Zeit versammelten sich der Stammesverband in der Saghifa, um<br />

anstehende Fragen und Probleme zu diskutieren. Entgegen der islamischen Tradition,<br />

die die Moschee als Versammlungsort zur Abhandlung und Lösung aktueller politischer<br />

und religiöser Fragen vorsieht, stimmten die Stammesführer nach dem Tode des<br />

Propheten in der Saghifa der Bani Saide über die Nachfolge ab.<br />

52) Salman gehörte zu den Gefährten des Propheten. In Persien gebürtig, musste er unter<br />

dem letzten Sassaniden-König aufgrund seiner politischen Aktivitäten aus dem Lande<br />

fliehen. Er machte die Bekanntschaft des Propheten und nahm bald den Islam an. Nach<br />

dem Tode des Propheten schloss er sich der Partei Alis an.

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