Fatima ist Fatima - Die Imame
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<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong><br />
Geschrieben von Ali Schariati<br />
Im Namen Gottes<br />
Einleitung<br />
<strong>Die</strong> im folgenden veröffentliche Rede, die Ali Schariati vor nun mehr zehn<br />
Jahren über das Leben <strong>Fatima</strong>s, der Tochter des Propheten, gehalten hat,<br />
markiert einen Wendepunkt in der jüngsten Frauenbewegung Irans innerhalb der<br />
Islamischen Revolution.<br />
<strong>Die</strong>se nicht zuletzt wegen ihrer späteren Auswirkungen bekannt gewordene<br />
Rede stellt eine leidenschaftliche Anklage der Gesellschaftsverhältnisse, die zur<br />
Unterdrückung der iranischen Frau sowie zu ihrem Identitätsverlust geführt<br />
haben, dar. Schariati zeichnet ein düsteres Bild der iranischen Frau, die entweder<br />
oder einer verfälschten und starres Tradition verhaftet geblieben oder einem von<br />
außen aufgezwungenen Modernismus verfallen <strong>ist</strong>.<br />
Ohne Geschichtsbewusstsein und jeder eigenen Initiative beraubt, wird sie daran<br />
gehindert, ihre Persönlichkeit auf der Grundlage der eigenen Kultur zu entfalten.<br />
Schariati begnügt sich nicht mit der Beschreibung der Zustände, die sich auf die<br />
Selbstverwirklichung der iranischen Frau hemmend ausgewirkt haben, sondern<br />
wiederholt vielmehr die Frage vieler Frauen dieser in Bewegung geratenen<br />
Gesellschaft: „Wie soll ich sein?“ und versucht, darauf eine Antwort zu finden.<br />
Auf der Suche nach dem Idealtyp der islamischen Frau entrollt er ein<br />
anschauliches Bild von Leben und Wirken <strong>Fatima</strong>s, das die Prophetentochter<br />
aus einem Blickwinkel zeigt, den manche Geschichtsschreiber wegen peinlicher<br />
Schlussfolgerungen lieber unerwähnt ließen.<br />
<strong>Fatima</strong> war die erste islamische Frau, die die unrechtmäßige Führung des<br />
Kalifen verurteilte, sich gegen sie auflehnte und ihr bis zu ihrem Tode jede<br />
Anerkennung verweigerte.<br />
Den Geschichtsschreibern der ersten Zeit passte nicht ins Bild, die geliebte<br />
Prophetentochter in der Rolle der Anführerin der Rebellion gegen das Kalifat zu<br />
sehen. <strong>Die</strong> späteren Hofberichterstatter dann hatten sich bereits zu sehr an das<br />
Bild der passiven Frau gewöhnt und waren nicht bereit, ihr eine aktive Rolle<br />
zuzugestehen, auch dann nicht, wenn es sich um die Tochter des Propheten<br />
handelte.
Auch als es mancherorts nicht mehr lebensgefährlich war, die Nachkommen<br />
Mohammads und ihre Tapferkeit zu rühmen, wurde <strong>Fatima</strong> wegen der ihr<br />
widerfahrenen Ungerechtigkeit nur beweint; ihre aktive und kämpferische Rolle<br />
in der islamischen Bewegung aber wurde verkannt, und ihre Botschaft konnte an<br />
die kommenden Generationen nicht weitergegeben werden.<br />
Schariati geht mit dieser Geschichtsauffassung hart ins Gericht; er räumt mit<br />
überholten Rücksichten gegenüber den alten und neuen Machthabern auf, zeigt<br />
<strong>Fatima</strong> von ihrer kämpferischen Seite und empfiehlt sie als Vorbild für die<br />
iranische Frau.<br />
Er weiß, warum er auf diese Tatsache hinweisen muss, denn angesichts der<br />
herrschenden sozialen Ungerechtigkeit wäre es unverantwortlich, die Frau<br />
weiterhin in ihrer politischen Passivität verharren zu lassen.<br />
Wie bereits erwähnt, war ein Teil der Frauen aus falsch verstandenem<br />
Sittlichkeitsdenken zu Gefangen einer überholten Tradition geworden, während<br />
andere in einer imitierten Scheinwelt ohne soziales und kulturelles Bewusstsein<br />
lebten.<br />
<strong>Die</strong> iranische Frau musste aus dieser Passivität heraustreten. Dem Vorbild, dem<br />
sie nacheifern sollte, durfte weder die Untätigkeit der einen noch die unsinnige<br />
Geschäftigkeit der anderen eigen sein.<br />
<strong>Die</strong>ses Vorbild fand Schariati in der Persönlichkeit <strong>Fatima</strong>s. Sein Idealtyp <strong>ist</strong><br />
also kein Phantasiegebilde und er wurde im Laufe der islamischen Geschichte<br />
durch verschiedene weitere Frauengestalten repräsentiert; unter ihnen nimmt<br />
<strong>Fatima</strong> eine herausragende Stellung ein.<br />
Es <strong>ist</strong> das Verdienst Schariatis, mit dazu beigetragen zu haben, der iranischen<br />
Frau schon vor dem Siege der Islamischen Revolution das Bewusstsein zu<br />
vermitteln, bei ihrem Kampf gegen das herrschende System fest in der Tradition<br />
der Prophetentochter zu stehen.<br />
Mit seiner Anklage gegen die Hofgelehrten und die traditionellen<br />
Geschichtsschreiber hat er den Versuch unternommen, die Emanzipation der<br />
islamischen Frau auf ihrem eigenen kulturellen Boden zu bewirken. <strong>Die</strong>s könne<br />
aber nur gelingen, wenn die unbequemen Persönlichkeiten der Geschichte ohne<br />
Rücksicht auf das religiöse Empfinden derer, die an falschen, überkommenden<br />
Traditionen festhalten, dargestellt werden könnten.<br />
<strong>Die</strong> Lebensgeschichte <strong>Fatima</strong>s war der zündende Funke, der die islamische<br />
Frauenbewegung bereits vor dem Siege der Revolution entfachte.
Schariati sprach vom Kampf <strong>Fatima</strong>s an der vordersten Front der islamischen<br />
Bewegung, von ihrem Widerstand gegen Unterdrückung, Folter und Verfolgung<br />
sowie von ihrer Auflehnung gegen den Missbrauch der Staatsgewalt.<br />
Er schrieb ihren Leidensweg während der Zeit der Verfolgung, aber auch ihren<br />
erbitterten Widerstand an der Seite ihres Vaters gegen die Feinde des Islam.<br />
<strong>Fatima</strong> war das Symbol des vorrevolutionären Kampfes gegen die etablierte<br />
Macht, und Schariati appellierte an die iranische Frau, ihren Weg fortzusetzen;<br />
nur so könne die eine aus ihrer Passivität und die andere aus ihrer<br />
Orientierungslosigkeit herauskommen.<br />
<strong>Die</strong> Frage nach dem „Wie“ versucht er, mit der Lebensgeschichte <strong>Fatima</strong>s zu<br />
beantworten. Er zeigt auf, wie die Frauen ihrem sinnlosen Dasein entrinnen<br />
können, ohne dabei den trügerischen Idolen der westlichen Welt nachzueifern,<br />
denn eine fruchtbare Begegnung mit der abendländischen „Zivilisation“ könne<br />
sich nur auf der festen Grundlage der eigenen Kultur vollziehen.<br />
Wenn die islamische Frau sich ohne Selbst- und Geschichtsbewusstsein dieser<br />
Herausforderung stelle, stehe sie auf verlorenem Posten; sie müsse annehmen,<br />
was ihr unter dem Deckmantel des „Fortschritts“ angeboten werde- tatsächlich<br />
fehle ihr jedoch jede Unterscheidungsgrundlage.<br />
Schariatis These, die islamische Frau müsse sich nach Vorbild fortschrittlicher<br />
und kämpferischer Frauen aus der eigenen Geschichte orientieren, stieß in der<br />
vorrevolutionären Ära in Iran auf fruchtbaren Boden. Seine berühmt gewordene<br />
Rede war für viele junge Iranerinnen, die seine Gedanken weiterentwickelten<br />
und in die Gesellschaft hineintrugen, ein Denkanstoß.<br />
<strong>Die</strong> anfängliche Aufklärungsarbeit wuchs unter der Führung Imam Khomeinis<br />
und der kämpfenden Ge<strong>ist</strong>lichkeit zu einer gewaltigen Frauenbewegung, die zur<br />
Speerspitze der Revolution wurde.<br />
<strong>Die</strong> Bewegung kam für das Regime unerwartet und zwar in ihrer Art<br />
unberechenbar, hatten doch die Machthaber versucht, diese aus dem Schlaf der<br />
Jahrhunderte erwachende Kraft durch Konsumanreize zu kanalisieren und in<br />
andere Bahnen zu lenken.<br />
<strong>Die</strong> oberflächliche Nachahmung der westlichen Frau sollte zum Lebensinhalt<br />
der sich im ge<strong>ist</strong>igen Vakuum bewegenden orientalischen Frau werden. Dem<br />
Anschein nach sprach alles dafür, das dies in der iranischen Gesellschaft<br />
gelungen war; umso überraschter war das Regime, als die Frauen bei Ausbruch<br />
der Revolution aktiv für die Unterdrückten Partei ergriffen.
Sie taten dies in der Überzeugung, das ihre Probleme von den Fragen dieser<br />
Gesellschaft nicht isoliert betrachtet werden können und nach einer<br />
Grundlegenden Veränderung der sozialen Verhältnisse im Einklang mit den<br />
Prinzipien des Islam gelöst werden müssen.<br />
<strong>Die</strong> islamische Frauenbewegung Irans hatte am Erfolg der Revolution tätigen<br />
Anteil.<br />
<strong>Die</strong> Diskussion über die Rolle der Frau in einer islamischen Gesellschaft in<br />
dauert in Iran noch an. Wie bereits erwähnt, vollzog sich die Integration der<br />
iranischen Frau in die Gesellschaft zum Teil während des gemeinsamen<br />
Kampfes gegen das Schah-Regime.<br />
Nach dem Sieg der Revolution geht es nun mehr um die Frage, wie diese<br />
Integration ausgebaut und die neugewordene Solidarität der Geschlechter für<br />
den Aufbau der Gesellschaft nutzbar gemacht werden können.<br />
(Der Herausgeber Dezember 1981)<br />
Einige Worte an den Leser<br />
<strong>Die</strong>se Schrift <strong>ist</strong> der Text einer Rede, die ich in Husseiniye-ye Erschad (1)<br />
gehalten habe. Ich hatte die Absicht, für die Studenten meiner<br />
Islamwissenschaftlichen Vorlesungen in Erschad über die Forschungsarbeit von<br />
Herrn Professor Louis Massignon über die Persönlichkeit und den<br />
komplizierten Lebenslauf <strong>Fatima</strong>s, besonders über den tiefen und revolutionären<br />
Einfluss, den ihre Lebensweise auf die islamische Gesellschaften und die<br />
Entwicklungen der islamischen Geschichte gehabt hatte, zu referieren.<br />
Als ich mir dann die Versammlung ansah, fiel mir auf, das außer meinen<br />
Studenten noch viele andere Zuhörer gekommen waren. <strong>Die</strong> Zusammensetzung<br />
der Versammlung machte eine eindringliche Fragestellung erforderlich. Daher<br />
entschloss ich mich zu versuchen, auf eine unter den Frauen unserer<br />
Gesellschaft vorherrschende Frage eine Antwort zu finden.<br />
Sie lautet: Wie sollen wir werden?<br />
Den Frauen, die den alten Traditionen verhaftet geblieben sind, stellt sich diese<br />
Frage überhaupt nicht; für diejenigen. <strong>Die</strong> eingeführte Lebensformen<br />
übernommen haben, <strong>ist</strong> sie schon beantwortet.<br />
Aber zwischen diesen beiden Gruppen von „schematisierten“ Frauen gibt es<br />
andere, die weder bereit sind, die alte und überlieferte Form zu akzeptieren noch<br />
sich der neuen, aufgezwungenen Form zu unterwerfen.<br />
Was sollen wir also tun?
Sie möchten selber ihre Wahl treffen und sich frei entfalten. Sie brauchen ein<br />
Musterbeispiel, ein Idealbild. <strong>Die</strong> Frage, die sie beschäftigt, lautet:<br />
„Wie soll ich werden?“<br />
<strong>Fatima</strong> mit ihrem „Sein“ <strong>ist</strong> die Antwort auf diese Frage.<br />
Ich wollte mich mit einer analytischen Beschreibung der Persönlichkeit <strong>Fatima</strong>s<br />
begnügen, musste aber einsehen, das unsere Gebildeten und Intellektuellen ihren<br />
Lebenslauf nicht kennen, sogar die religiöse Bevölkerungsschicht hatte nur<br />
Gejammer über sie gehört. So versuchte ich gezwungenermaßen. <strong>Die</strong>se Lücke,<br />
soweit es in meinen Kräften stand, zu schließen.<br />
Daher befasst sich diese Abhandlung - welche den Wortlaut der Rede mit einem<br />
erweiterten zweiten Abschnitt wiedergibt - mit dem Lebenslauf dieser geliebten,<br />
aber unbekannten oder falsche verstandenen Persönlichkeit.<br />
In diesem Lebenslauf stütze ich mich hauptsächlich auf alte h<strong>ist</strong>orische Quellen,<br />
wo es ausschließlich um die Glaubenssätze der Schia ging, habe ich die<br />
sunnitischen Quellen benutzt, denn die Schia, die aus sunnitischen Quellen<br />
belegt werden kann, <strong>ist</strong> aus wissenschaftlichen und h<strong>ist</strong>orischer Sicht nicht<br />
umstritten.<br />
<strong>Die</strong> unterdrückte und protestierende Gestalt <strong>Fatima</strong>s- ein Spiegelbild der Partei<br />
Alis- <strong>ist</strong> in den Augen der sich der Wahrheit nicht verschließende Sunna und<br />
eines jeden wahrheitssuchenden Skeptikers eine unbestreitbare Tatsache.<br />
Was Sie im folgenden lesen, <strong>ist</strong> eine Rede, die in einer bestimmten Atmosphäre<br />
aus dem Stegreif gehalten wurde; die Biographie; die ihr hinzugeführt wurde, <strong>ist</strong><br />
in kürzester Zeit- in einer Nacht_ geschrieben worden. Es sollen keinen<br />
größeren Erwartungen daran geknüpft werden, als ein Vortrag erfüllen kann.<br />
Daher kann ich auch nicht behaupten, das sie keiner Kritik bedarf, im Gegenteil,<br />
sie <strong>ist</strong> nötig und wird von wohlmeinenden Sachverständigen, die einen guten Rat<br />
aus Freude an der Sache, nicht aber aus Lust an Feindseeligkeit,<br />
Beschimpfungen und Verleumdungen erteilen, erwartet.<br />
(Ali Schariati, Juli 1971)
<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong><br />
Es war nicht geplant, das ich an so einem geheiligten Abend hier spreche. Da ich<br />
aber durch meinen kleinen Anteil an der umfangreichen Forschungsarbeit des<br />
hervorragenden Islamwissenschaftlers Professor Louis Massignon als Student<br />
mit seinen Studien über <strong>Fatima</strong> in Berührung gekommen war, wurde ich<br />
gebeten, über diese Arbeit zu berichten.<br />
Durch seine Forschung durfte ich vieles über das Leben und die Persönlichkeit<br />
<strong>Fatima</strong>s, insbesondere über ihren fortdauernden Einfluss in der islamischen<br />
Geschichte für die Erhaltung des Gerechtigkeitssinnes und des Willens zum<br />
Kampf gegen Unterdrückung und Diskriminierung in der islamischen<br />
Gesellschaft und vor allem über ihr Leben als Vorbild auf dem Wege der<br />
Verwirklichung der islamischen Botschaft erfahren.<br />
Zu Beginn der Arbeit durfte ich bei der Sammlung und Sichtung aller<br />
Dokumente und Informationen, die im Laufe von vierzehn Jahrhunderten in<br />
allen Sprachen und Dialekten der islamischen Länder, angefangen von einem<br />
geschichtlichen Hinweis bis zu einem Volkslied über <strong>Fatima</strong>,<br />
zusammengekommen sind, mitarbeiten.<br />
Da diese Arbeit noch nicht veröffentlicht worden <strong>ist</strong> und aufgrund des Todes des<br />
Forschers noch nicht vollendet werden konnte, <strong>ist</strong> sie weder den me<strong>ist</strong>en<br />
europäischen Islamwissenschaftlern noch unseren gewöhnlich mit europäischen<br />
Forschungsarbeiten über den Islam vertrauten Wissenschaftlern bekannt. Daher<br />
nahm ich diese Einladung an.<br />
Ich beabsichtige, meinen Studenten, die meine Vorlesungen über „Geschichte<br />
und Religionswissenschaft“, „Religionssoziologie“ und „Islamwissenschaft“ in<br />
Erschad besuchten, eine Zusammenfassung der Forschungsarbeit und ihre<br />
wichtigsten Ergebnisse vorzutragen.<br />
Nun fällt mir auf, das die hier Anwesenden nicht nur meine islamwissenschaftlichen<br />
Studenten sind. <strong>Die</strong> Versammlung eignet sich auch nicht für eine<br />
Predigt oder Ansprache.<br />
<strong>Die</strong> anwesenden Herrschaften sind Intellektuelle, Akademiker und Vertreter der<br />
heutigen Generation. Sie sind weder gekommen, um über <strong>Fatima</strong> zu weinen (2),<br />
noch erwarten sie von dieser Versammlung eine Totenehrung für ihre<br />
Verstorbenen. Sie sind auch nicht gekommen, um eine streng wissenschaftliche<br />
Vorlesung über h<strong>ist</strong>orische Forschungsarbeit zu hören.
Es gibt eine dringendere und lebenswichtige Frage, auf die sie eine Antwort<br />
erwarten, auf die Frage, die unmittelbar mit ihrem Schicksal zusammenhängt:<br />
„Wie soll ich sein“?<br />
In unserer Gesellschaft ändern sich die Frauen rapide. Zeit und Umstände sowie<br />
der Einfluss der Institutionen entfernen sie von dem, „was sie sind“ und<br />
berauben sie ihrer traditionellen Eigenschaften und Werte, um aus ihnen das zu<br />
machen, „was sie Wollen“ ; wir sehen, haben sie Erfolg damit.<br />
Daher lautet in dieser Zeit die kritischste Frage einer selbstbewussten Frau:<br />
„Wie soll ich sein“? Denn sie weiß wohl, das sie nicht so bleiben kann, wie sie<br />
<strong>ist</strong>. Sie bleibt nicht so und kann auch nicht so bleiben, weil man sie nicht lässt.<br />
Anderseits möchte sie die moderne Maske, mit der sie ihre alte Erscheinung<br />
überdecken soll, nicht akzeptieren. Sie möchte selbst entscheiden, ihre neue<br />
Identität selbst wählen. Sie möchte ihr neues Gesicht selbstbewusst, unabhängig<br />
und echt schminken. Sie weiß aber nicht, wie. Sie weiß zwar, das ihr<br />
menschliches Antlitz weder das überlieferte Aussehen <strong>ist</strong> noch die gezwungene<br />
und nachgeahmte Schminkmaske, weiß aber nicht, wie sie aussehen soll.<br />
Eine zweite Frage ergibt sich aus folgender Überlegung:<br />
Wir sind Moslems; die Frau in unserer Gesellschaft, die ihre Unabhängigkeit<br />
erlangen will, um eine eigene Wahl zu treffen, <strong>ist</strong> mit einer Geschichte, Kultur,<br />
Religion und Gesellschaft verbunden, die ge<strong>ist</strong>ig vom Islam beeinflusst worden<br />
sind.<br />
Eine Frau, die in dieser Gesellschaft ihre Identität bewahren und sich frei<br />
entfalten möchte, die in ihrer Widergeburt ihre eigene Geburtshelferin, aber kein<br />
Produkt der Überlieferung und Nachahmung sein möchte, kann dem Islam<br />
gegenüber nicht gleichgültig bleiben. Es <strong>ist</strong> ganz natürlich, das sie sich darüber<br />
Gedanken macht.<br />
Unser Volk hat schon immer über <strong>Fatima</strong> gesprochen. Jährlich beweint man sie<br />
tagelang und veranstaltet in Erinnerung an sie Hunderttausende von Sitzungen,<br />
Predigten, Trauerveranstaltungen und Feiern. Lobpreisungen, Ehrerbietungen,<br />
Verherrlichungen und Beschreibungen ihrer Wundertaten sind an der<br />
Tagesordnung.<br />
Ihre Peiniger werden verflucht. Und trotzdem <strong>ist</strong> sie unbekannt geblieben.
Das einzige, was unser Volk von dieser großen Persönlichkeit kennt, sind einige<br />
banale Geschichten, die von Generation zu Generation überliefert und immer<br />
wieder erzählt werden:<br />
„Der Erzengel Gabriel erscheint dem Propheten und sagt zu ihm: „Sei gegrüßt<br />
vom Erhabenen, er befiehlt Dir, Dich von Khadija (3) zu entfernen und nicht<br />
mehr zu ihr zu gehen“.<br />
Nach 40 Tagen bringt er dem Propheten eine Speise aus dem Paradies und<br />
befielt ihm, Khadija herbeizuholen.<br />
Khadija erzählt: „ich hab Tag und Nacht allein zu Hause verbracht, die Tür<br />
angeschlossen und weinend gewartet. Eines Nachts klopfte es; ich öffnete die<br />
Tür und erblickte den Gesandten Gottes. Er kam herein. Gewöhnlich betete er<br />
im Ramadan zuerst, nahm dann das Abendmahl ein und kam dann ins<br />
Schlafgemach. Aber an jenem Abend kam er direkt zu mir und nahm mich<br />
sofort ins Bett. Ich empfing das Licht <strong>Fatima</strong>s. Seitdem sprach <strong>Fatima</strong> aus<br />
meinem Leib zu mir. Ich war nicht mehr allein.“<br />
Nach ihrer Geburt <strong>ist</strong> über <strong>Fatima</strong> bis zu ihrem Tode nichts mehr zu erfahren.<br />
„Nach dem Tode des Propheten nahm ihr Abu Bakr das Ackerland Fadak (4)<br />
weg, und Omar überfiel ihr Haus mit einer Gruppe seiner Männer; dabei wurde<br />
sie gegen die Tür geschleudert, ein <strong>Die</strong>ner Omars verprügelte sie so, das die im<br />
6. Monat schwangere Frau eine Fehlgeburt erlitt. Nach diesem Ereignis<br />
verbrachte sie ihre Tage damit, ihre Kinder bei der Hand zu nehmen und sie<br />
außerhalb der Stadt in eine Ruine namens „Haus der Sorgen“ zu bringen, zu<br />
weinen und die Usurpatoren von Fadak zu verfluchen.<br />
Sie verharrte Stundenlang in dieser Position; so verbrachte sie ihr kurzes Leben<br />
mit Weinen und Verfluchen, bis sie starb. In ihrem Testament bestimmte sie,<br />
man möge sie nachts begraben, um eine Leichenschändung durch jene, die sie<br />
gehasst hatten, zu verhindern.“<br />
Nirgends erfährt man z.B. etwas über das, was man von <strong>Fatima</strong> lernen kann;<br />
auch nicht darüber, welche Rolle sie im Leben und Schicksal ihrer Anhänger<br />
gespielt hat. Alles dreht sich um Fürsprache beim Jüngsten Gericht und<br />
Geschichten wie diese:<br />
„Dann ruft der Herold vom Throne Gottes den Völkerscharen zu:Wendet Euren<br />
Blick von <strong>Fatima</strong>, der Tochter des Auserwählten Gottes, und lasst sie zu ihrem<br />
Schloss! Dann geht meine Tochter <strong>Fatima</strong> im grünen Doppelgewand vorüber<br />
und 70 000 Engel werden um sie sein.“
Im Namen des Erhabenen wird dann verkündet: „Ich werde meine Geschöpfe<br />
wegen Deiner Leiden solange nicht zur Rechenschaft ziehen, bis Du in den<br />
Himmel gekommen b<strong>ist</strong>. Du, Deine Kinder, Deine Anhänger und diejenigen.<br />
<strong>Die</strong> Dir eine Wohltat erwiesen haben, werden in den Himmel kommen, bevor<br />
Gott, der Erhabene, seine <strong>Die</strong>ner zur Rechenschaft zieht.“<br />
Das sind die einzigen Informationen, die unter dem Volk über diese große<br />
Persönlichkeit ex<strong>ist</strong>ieren. Trotzdem hat es ihre Größe und Würde aus tiefster<br />
Seele anerkannt und sich ihr mit unerschütterlichen Glauben und grenzenloser<br />
Ergebenheit, zu denen ein Volk jemals fähig sein kann, gewidmet.<br />
Genialität und Wahrheitsliebe<br />
Meines Erachtens begründet sich die Ehre, die unserem Volke im Laufe seiner<br />
Geschichte zuteil wurde und worauf es mit Recht stolz sein kann, darauf, das es<br />
sich in den schwärzesten und schwersten Stunden der Geschichte für Ali<br />
entschied.<br />
Sie legte ein beredtes Zeugnis von dem Genie und der Wachsamkeit dieses<br />
Volkes ab und <strong>ist</strong> ein Beweis für sein Urteilsvermögen und den starken Willen,<br />
der Gewalt und Unterdrückung zu wiederstehen, den Betrug und die Lüge<br />
anzuprangern. Den ausbeutischen Verräter bloßzustellen, sich gegen das<br />
herrschende System aufzulehnen, keiner Propaganda der regimeabhängigeren<br />
Religion und Ge<strong>ist</strong>lichkeit zu erliegen und das unbekannte, fremde, schwache<br />
und versteckte Recht hinter dem dunklen, bekannten und starken Vorhang des<br />
Unrechtes zu entdecken.<br />
Unser Volk wurde durch die Kalifen islamisiert. <strong>Die</strong>se, die Dynastien der<br />
Umayyaden (5) und der Abbasieden, die türkischen, arabischen, mongolischen<br />
und iranischen Khane wurden ihm als Vertreter des Islam. Der Herrschaft des<br />
Koran, der Tradition des Propheten, des Lagers der Rechten und der Religion<br />
der Wahrheit vorgezeigt.<br />
Unser Volk hat den Islam und alle neuen Anschauungen und Erkenntnisse<br />
präsentiert bekommen: Kanzel, Altar, Koran, Exegese, Tradition, Predigt,<br />
Moschee, Islamschule, Der Imam, der Kadi, der Theologe, der Philosoph, der<br />
Dichter, der H<strong>ist</strong>oriker, der Religionskämpfer, der Gefährte und der Anhänger<br />
des Propheten dienten dazu, das Regime des Kalifats und der Sultane als die<br />
„offiziellen Nachfolger“ des Propheten und den gesetzlichen Imam der<br />
islamischen Gemeinde sowie die Herrschaft des Koran und der Tradition zu<br />
rechtfertigen.
Sie alle waren Mittel und Zweck, wie es heute bei Rundfunk, Film und<br />
Fernsehen, Presse, Propagand<strong>ist</strong>en und den Theoretikern der herrschenden<br />
Klasse der Fall <strong>ist</strong>.<br />
<strong>Die</strong>ses fremde Volk, das nicht einmal die Sprache des Islam kannte, erkannte<br />
jedoch trotz ständiger Propaganda hinter den schwarzen Wolken der gelenkten<br />
Wissenschaften der Theologie, Philosophie, Religion, Kultur, Geschichte,<br />
Tradition und Exegese, die im <strong>Die</strong>nste des Kalifats standen und den bestehenden<br />
Zustand zu rechtfertigen und zu institutionalisieren suchten, das dies alles Lügen<br />
sind. Es erkannte trotz der lautstarken Propaganda, das das Recht nicht auf der<br />
Seite dieser prächtigen Gestalten steht.<br />
Es erkannte, das das Recht auf der Seite des Mannes steht, der eine Ecke der<br />
Moschee des Propheten bewohnt und Gefangener der Ignoranz seines Volkes<br />
und Opfer der Politik der großen Prophetengefährten und Vorkämpfer des Islam<br />
geworden <strong>ist</strong>.<br />
Es fand abseits des grünen Schlosses in Damaskus und der Tausendundeine-<br />
Nacht des Kalifaten-Sitzes in Bagdad die verlassene Lehmhütte <strong>Fatima</strong>s und<br />
erkannte, das der Islam in dieser sorgenvollen, verlassenen und stillen Hüte<br />
fortlebt.<br />
<strong>Die</strong>ses fremde Volk, das durch die Schwerter der Kalifen und den Aufruf der<br />
offiziellen Ge<strong>ist</strong>lichkeit des Kalifats den Islam angenommen hatte, konnte das<br />
sehen, was die Bevölkerung von Medina, die Araber und die Gefährten des<br />
Propheten nicht sahen oder nicht sehen wollten.<br />
Es erkannte eine Tatsache, die von großen Schulen und Universitäten in<br />
Damaskus und Bagdad nicht erkannt wurde.<br />
Es war eine schwere und erstaunliche Entscheidung; sie manifestierte<br />
gleichzeitig das geniale Denken und die ungewöhnliche Wachsamkeit, die<br />
ge<strong>ist</strong>ige Unabhängigkeit, die Wahrheitsliebe und den Mut dieses Volkes, sich<br />
gegen die Geschichte aufzulehnen und die Weltherrschaft der Kalifen, die mehr<br />
als alle herrschenden Systeme der Geschichte über eine erdrückende politische<br />
und militärische Macht, ein großes religiöses Glaubenskapital und ein<br />
unendliches Reservoir an Kultur, Literatur und Wissenschaft verfügte,<br />
abzulehnen.<br />
<strong>Die</strong>ses fremde Volk hörte und erkannte mitten im Getümmel des Krieges, des<br />
heiligen Kampfes, der Eroberungen. Niederlagen, Unterdrückungen, dem<br />
Geschrei nach Fortschritt, Wissenschaft, Philosophie, Kultur, Zivilisation und<br />
Revolution und anderen Auseinandersetzungen der Welt und der Religion den<br />
leidvollen Ruf eines in seiner eigenen Stadt fremden Mannes, der abseits der
Städte und einsam vor der Widerbelebung der Lüge, der Obrigkeit und der<br />
Ausbeutung warnt und weiß, das Lüge und Betrug, die in den Gestalten der<br />
Kaiser und Könige angeprangert und verurteilt wurden, nun die Gestalt der<br />
Frömmigkeit und Religion annehmen und Gottes Geschöpfe jahrhundertlang<br />
weiter betrügen werden.<br />
Wie viel Blut muss fließen, welche Anstrengungen werden nötig sein, ehe sie in<br />
dieser neuen heiligen und schönen Aufmachung wieder bloßgestellt werden<br />
können! Wie wir sehen, sind die ersten Opfer dieser neuen Verdummung und<br />
Ausbeutung im Islam die Bevölkerung und ihre Schicksale. Ein Symbol dieses<br />
Opfers <strong>ist</strong> Ali, vor ihm seine Frau und in den nachfolgenden Generationen seine<br />
Nachkommen.<br />
Zweifellos <strong>ist</strong> diese Entscheidung und Erkenntnis in den schwersten und<br />
dunkelsten Stunden der Geschichte unserem Volk nicht leichtgefallen. Sie zeugt<br />
von Reife, Unabhängigkeit, Mut, Liebe zu Wahrheit und Menschlichkeit,<br />
ge<strong>ist</strong>iger Größe sowie der Fähigkeit, den tieferen Sinn der Dinge zu erfassen, die<br />
höheren Werte zu erkennen und die Wahrheit allen Schwierigkeiten zum Trotz<br />
zu suchen.<br />
<strong>Die</strong>se vielseitigen Fähigkeiten waren notwendig, um eine andere Meinung zu<br />
fassen, anstatt das Urteil der Geschichte zu übernehmen und als Antwort auf die<br />
Propaganda der Minarette, Altäre und Kanzeln angesichts der großen Gefährten<br />
des Propheten, der Gelehrten, der Richter, der offiziellen <strong>Imame</strong> (6) und ihrer<br />
blutbefleckten Schwerter, die im Westen und Osten, Tag und Nacht, ein „ja“ im<br />
Chor verlangten, „nein“ zu sagen.<br />
Dennoch fordert der Glaube nicht nur Genialität und Ge<strong>ist</strong>, sondern auch Opfer.<br />
Für den Sieg des Rechtes wurden Aufopferung, Mut, Aufrichtigkeit,<br />
Leidensfähigkeit und die Bereitschaft verlangt, Folter, Verleumdung, Leid,<br />
Gefangenschaft, Flucht, Einsamkeit und Verrat zu ertragen, fromm, hilfsbereit<br />
und geduldig zu sein und sich selbst von Profitsucht, Angst, Lüge,<br />
Scheinheiligkeit und Besserwisserei zu befreien. Das sind Grundsätze die die<br />
Geschichte der Schia bestimmen.<br />
Damit meine ich die Schia Alis, nicht die Safawiden (7) oder die des Schah<br />
Abbas.<br />
Eine Schia, die der Unterdrückung und Gewalt in der Geschichte den Kampf<br />
ansagte, nicht eine, die selbst zum Unterdrücker und Gewalttäter wird; die<br />
Religion der Gerechtigkeit und die Herrschaft des Gerechten, nicht aber eine<br />
Sammlung geschichtlicher verdrängter Komplexe, völkischer Rachegelüste,<br />
verbaler und suggestiver Hassgefühle gegen die Person des Kalifen anstatt
gegen das Kalifat, nur vergangenheitsbezogen anstatt gegenwartsorientiert, nur<br />
jenseitsorientiert statt diesseits.<br />
Gemeint <strong>ist</strong> jener auf Ali zurückgehende Führungsauftrag, der die Schia aus den<br />
Fesseln der Herrschaft der Unterdrückung, Gewalt und Unwissenheit befreit,<br />
nicht aber die Führungsbefugnis der der Gotteslästerung verfallenen Sufis (8),<br />
die weder Gott noch seinen Geschöpfen dienen können.<br />
Jene Schia <strong>ist</strong> nichts anderes als der Islam; nicht etwa, wie uns eingeredet wird,<br />
„Islam und andere Dinge“.<br />
Nein, die Schia <strong>ist</strong> der reine Islam, Islam minus Kalifat, Pseudo- Arabertum und<br />
Ar<strong>ist</strong>okratie. Nicht die Schia hat dem Islam die beiden Grundsätze Gerechtigkeit<br />
und Imamat (Führungsauftrag) hinzugefügt.<br />
Islam ohne Gerechtigkeit und Imamat <strong>ist</strong> wie die Religion ohne Islam, d.h. nur<br />
Religion, wie es in der chr<strong>ist</strong>lichen, jüdischen, zoroastrischen (9),<br />
buddh<strong>ist</strong>ischen, tao<strong>ist</strong>ischen und vedaischen Religion der Fall <strong>ist</strong>.<br />
In der „neuen Epoche der Ignoranz“ wurden dem Islam die Begriffe „Herrschaft,<br />
Rasse und Klasse“ hinzugefügt. <strong>Die</strong> Auseinandersetzungen zwischen Schia und<br />
Sunna war eine Auseinandersetzung zwischen Imamat und Gerechtigkeit<br />
einerseits und Despotie und Unterdrückung anderseits. Alle anderen<br />
glaubensbezogenen, Interpretationsmäßigen, geschichtlichen, philosophischen<br />
und religiösen Meinungsverschiedenheiten resultieren daraus.<br />
Ali wurde Mohammad nicht zugeführt. Wir halten uns an Ali , um Mohammad<br />
nicht zu verlieren; denn Muawiye (10), Marwan (11) , Mutiwakkil (12), Harun<br />
(13) – welche die Kaiser und Pharaonen ihrer Zeit und Erben Abu Djahls (14)<br />
und Abu Sufians (15) waren – sprachen auch von Mohammad.<br />
Wir haben weder die Traditionen des Propheten durch die Familie des Ali<br />
ersetzt, noch haben wir ihr etwas hinzugefügt. Es <strong>ist</strong> seine eigene Familie, wir<br />
fragen ganz einfach und offen, was er gesagt, getan und gewollt habe.<br />
Im Gegensatz zu den Behauptungen der Feinde und Freunde <strong>ist</strong> die Schia die<br />
traditional<strong>ist</strong>ische aller islamischen Glaubensrichtungen. Der Unterschied<br />
besteht überhaupt darin, das Ali und seine echte und kundigen Anhänger von<br />
Anfang an versuchten, der Häresie zu widerstehen und der Tradition des<br />
Propheten treu zu bleiben.<br />
Nun sehen wir, wie alles ins Gegenteil verkehrt wird. In den schwarzen und<br />
blutigen Jahrhunderten, als der Islam der Unterdrückung und des Kalifats seine
Herrschaft in der Welt ausdehnte, wälzte sich der Islam der Gerechtigkeit und<br />
des Imamat in seinem Blut, im Blut des Märtyrertums.<br />
<strong>Die</strong> Schia hat ebenfalls dieses Martyrium auf sich genommen und die Gewalt<br />
abgelehnt. <strong>Die</strong>se Entscheidung fiel ihr nicht leicht.<br />
In der Geschichte des Islam war es nicht leicht, von Ali und <strong>Fatima</strong> zu sprechen.<br />
In diesem Zusammenhang erfahren die Worte des Dichters dieser kämpfenden<br />
Familie eine besondere Bedeutung, wenn er sagt: „seit 50 Jahren trage ich mein<br />
Kreuz au meinem Rücken“.<br />
Ein engagierter Dichter, der die Worte zum Schwert des heiligen Kampfes<br />
umformt. So verläuft das Leben aller Frauen und Männer, die mit ihren Taten<br />
die Geschichte dieser Religion geschrieben haben, eine Geschichte, die mit dem<br />
Blut der Märtyrer geschrieben worden <strong>ist</strong>.<br />
<strong>Die</strong> mutigen Vorkämpfer der Schia kannten die Philosophie, die später für uns<br />
zurechtgeschustert wurde, nicht: Habt Geduld, er wird kommen (gemeint <strong>ist</strong> der<br />
12. Imam (16) ) und alles in Ordnung bringen“. Er solle selber kommen und die<br />
Religion seiner Ahnen wieder aufleben lassen. Wir hätten keine andere Wahl als<br />
unsere Gesinnung zu verheimlichen (17) und uns in Geduld zu üben.<br />
Ibn Sakit war ein bedeutender Literat und Sprachkenner. Er war kein Kämpfer;<br />
er sympathisierte heimlich mit der Schia. Der Kalif Mutiwakkil wählte ihn aus,<br />
um seine Kinder zu unterrichten. Nach und nach bemerkte er, das seine Kinder<br />
eine Zuneigung zu Ali und seiner Familie gefasst hatten. Seine Agenten<br />
berichteten ihm, das diese Zuneigung auf den Einfluss des Lehrers<br />
zurückzuführen sei. Eines Tages betrat der Kalif unangemeldet das<br />
Klassenzimmer; er setzte sich, lobte den Lehrer und drückte seine Zufriedenheit<br />
über die Fortschritte seiner Kinder aus.<br />
Während des Gespräches fragte er beiläufig:<br />
„Was hältst Du von meinen Kindern?“<br />
Darauf lobte Ibn Sakit die Kinder.<br />
Plötzlich fragte der Kalif ihn: „Sind Dir meine Mutazz und Muayyad lieber oder<br />
Alis Kinder Hassan und Hussein?“<br />
Ibn Sakit musste sich entscheiden.<br />
Hier käme eine Verheimlichung der Gesinnung der Niederträchtigkeit und dem<br />
Verrat gleich.<br />
<strong>Die</strong> Schia Alis aber kennt keine Verheimlichung der religiösen Gesinnung; diese<br />
Verheimlichung war damals eine Taktik zur Erhaltung des Glaubens; nicht wie
heute, zum Schutze des Gläubigen. Wo es um Glauben geht, <strong>ist</strong> eine<br />
Verheimlichung der Gesinnung verboten- komme , was wolle.<br />
Deshalb zögerte Ibn Sakit nicht und antwortete ebenso geläufig:<br />
„Qanbar, der <strong>Die</strong>ner Alis, <strong>ist</strong> mir lieber als Du und Deine beiden Kinder“.<br />
Mutiwakkil befahl, ibn Sakits Zunge auf der Stelle herauszureißen.<br />
Es waren diese scharfen Zungen, die den Unterdrückern der Geschichte das<br />
Leben schwer machten. Wenn es auch nicht möglich war, politische Despotie,<br />
Ausbeutung der unteren Klassen und religiöse Verdummung zu beseitigen, so<br />
war es doch möglich, sie zu enttarnen und zu verurteilen.<br />
Es wurde erreicht, das der Wunsch nach Gerechtigkeit, Aufklärung und<br />
revolutionärer Führung und der Wille zur Bekämpfung eines auf Macht,<br />
Vermögen und Pharisäertum aufgebauten Systems erhalten blieben und nicht in<br />
Vergessenheit gerieten.<br />
Fiese heilige Flamme konnte im Verlaufe der Geschichte nicht ausgelöscht und<br />
aus dem Bewusstsein der Massen verdrängt werden.<br />
Das Volk und die Gelehrten<br />
Beide Gruppen hatten diese große und schwere Verantwortung zu tragen. Sie<br />
trugen ihr Kreuz seit Jahrhunderten auf dem Rücken. <strong>Die</strong> aufgeklärten und<br />
kämpferischen schiitischen Gelehrten, die das Imamat (den Führungsauftrag)<br />
nach den Grundsätzen der Schia als Fortführung des Prophetentums und die<br />
Wissenschaft als Fortsetzung des Imamat betrachteten, bildeten die eine Gruppe;<br />
<strong>Die</strong> anderen waren die aufrichtigen und gläubigen Volksmassen, deren kühnes<br />
Schweigen die Folterknechte der arabischen Kalifen und der türkischen und<br />
persischen Sultane in Verzweiflung versetzte, deren blutüberströmte und ruhige<br />
Gesichter ihre Scharfrichter in Verlegenheit brachten. Sie widerstanden wie ein<br />
Fels den Peitschen der Herrschenden, als ob sie keinen Schmerz mehr<br />
empfinden könnten.<br />
Vernunft und Liebe<br />
Jede Religion, Denkschule, Bewegung oder Revolution wird von zwei<br />
Determinatenten bestimmt; Vernunft und Liebe. <strong>Die</strong> eine <strong>ist</strong> das Licht und die<br />
andere Bewegung; die eine verleiht Verstand und Erkenntnis, die andere Kraft,<br />
Bege<strong>ist</strong>erung und Bewegung.
Nach den Worten von Alexis Carrel: „Vernunft <strong>ist</strong> wie der Scheinwerfer eines<br />
Automobils, der den Weg we<strong>ist</strong>; Liebe <strong>ist</strong> wie der Motor, der es in Bewegung<br />
setzt. Jeder von ihnen <strong>ist</strong> ohne den anderen unvollkommen. Insbesondere ein<br />
Motor ohne Scheinwerfer <strong>ist</strong> wie die blinde Liebe lebensgefährlich und<br />
katastrophal“.<br />
In einer Gesellschaft, in einer ge<strong>ist</strong>igen bzw. revolutionären Bewegung haben<br />
die Gelehrten und die engagierten Intellektuellen die Aufgabe, den Weg zu<br />
weisen und dem Volk die Denk- und Bewegungsrichtung zu zeigen ; das Volk<br />
hat die Verantwortung, der Bewegung Kraft und Leben zu verleihen.<br />
<strong>Die</strong> Volksbewegung <strong>ist</strong> wie ein menschlicher Organismus: sie denkt mit den<br />
Köpfen der Gelehrten und liebt mit dem Herzen des Volkes.<br />
Mangelt es in einer Gesellschaft an Überzeugung, Aufrichtigkeit, Liebe und<br />
Aufopferung, so <strong>ist</strong> das Volk dafür verantwortlich.<br />
Mangelt es in an richtiger Erkenntnis, Aufgeklärtheit, Selbstbewusstsein,<br />
Vertrautheit mit den Inhalten und Zielen der Denkschule, so sind die Gelehrten<br />
daran schuld.<br />
Insbesondere in bezug auf Religion sind beide Gruppen aufeinander<br />
angewiesen; denn die Religion <strong>ist</strong> eine Art selbstbewusste Hingabe oder ein<br />
hingebungsvolles Selbstbewu0tsein. Bege<strong>ist</strong>erung und Überzeugung bedürfen<br />
der Erkenntnis; Vernunft und Gefühl sind unteilbar.<br />
Mehr als jede andere Religion richtet sich der Islam nach diesen Grundsätzen.<br />
Er <strong>ist</strong> die Religion des Buches und des Kampfes, die Religion des Denkens und<br />
des Liebens.<br />
Daher erkennt man im Koran nie die Grenze zwischen Vernunft und Glauben.<br />
Der Märtyrertod wird als das ewiges Leben betrachtet. Es wird auf die<br />
Schreibfeder geschworen. Unter den Gefährten des Propheten kann man den<br />
Asketen und den Kämpfer und diese und den Verkünder der Religion nicht<br />
auseinanderhalten.<br />
<strong>Die</strong> Schia, insbesondere wegen ihre Geschichte und Kultur, <strong>ist</strong> ein Nährboden<br />
für Liebe, Bege<strong>ist</strong>erung, Blut und Märtyrertum.<br />
Sie <strong>ist</strong> der Mittelpunkt der entflammten und freigesetzten Gefühle; sie <strong>ist</strong> aber<br />
gleichzeitig eine Art Meditation und Erkenntnis wissenschaftlicher und<br />
rationeller Kultur und eine gewaltige ge<strong>ist</strong>ige Bewegung.
Sie <strong>ist</strong> die Chronik der Erkenntnis, Zuneigung und Wahrheitsliebe in der<br />
Geschichte des Menschen, die auf den Namen Ali und sein Wesen zurückgeht;<br />
denn die Wahrheit ohne Liebe <strong>ist</strong> Philosophie und Wissenschaft und Liebe ohne<br />
Wahrheit <strong>ist</strong> Götzenverehrung und Leidenschaft.<br />
Tränen als Zeugen der Liebe<br />
So wurde die Schia in der Geschichte geboren und so lebte sie fort. <strong>Die</strong><br />
schiitischen Denker und Wissenschaftler waren Symbole des Kampfes, des<br />
Nachdenkens und der Forschung. Sie erforschten die logischen Zusammenhänge<br />
und den tieferen Sinn der Begriffswelt.<br />
Sie erkannten die sich in der Entwicklung befindenden Glaubenssätze und die<br />
islamischen Prinzipien und bewahrten den wahren Gehalt des ursprünglichen<br />
Islam im schwindelerregenden und verführerischen Getümmel der Philosophie,<br />
Mystik, Wissenschaft, Literatur, Askese und der Einflüsse der griechischen und<br />
östlichen Gedanken.<br />
Andererseits war die Volksmasse das Symbol für Treue, Aufrichtigkeit, Liebe,<br />
Bege<strong>ist</strong>erung und Aufopferung auf dem Wege zu Ali und bei der Fortsetzung<br />
seines Weges. Sie änderten diese Haltung auch dann nicht, als Gewalt, Folter<br />
und Massenmord das Leben der Massen bestimmten und jeder es mit seinem<br />
Leben bezahlen musste, wenn er nur seinen Namen erwähnte; in einer Zeit, als<br />
die Erwähnung der Familie des Propheten von den Stellvertretern des Propheten<br />
mit Enthäutung und Verbrennung beantwortet wurde.<br />
Noch heute bringt die Masse unseres Volkes diesem Haus viel Liebe entgegen.<br />
Sie <strong>ist</strong> ihm treu geblieben. Noch heute, nach vielen Jahrhunderten, nach dem<br />
Entstehen und Vergehen vieler neuer Glaubensrichtungen und Gedanken, hat sie<br />
sich von diesem Haus nicht abgewandt, um neue Schlösser, Gebetshäuser und<br />
Gebetsrichtungen zu suchen.<br />
Wir sehen, das sie noch immer den Weg zu <strong>Fatima</strong>s Haus findet und über ihre<br />
Leiden Tränen vergießt. Jede Träne <strong>ist</strong> Ausdruck der aufrichtigen und treuen<br />
Liebe, die unser Volk von jeher diesem Haus entgegengebracht hat.<br />
Das <strong>ist</strong> die Sprache der Massen. Welche Sprache wäre aufrichtiger und reiner als<br />
die Sprache, die weder in Worten noch in Schriftzeichen, sondern mit Tränen<br />
ausdrückt? Jeder Satz dieser Sprache <strong>ist</strong> ein Aufschrei des Herzens und<br />
Ausdruck der liebevollen Sehnsucht. Spricht denn das Auge nicht aufrichtiger<br />
als die Zunge?
Ist die Träne nicht das schönste Gedicht, die ungeduldigste Liebe und der tiefste<br />
Glauben? Drückt sie denn nicht die Gefühle, die Sehnsüchte und die Liebe am<br />
schönsten aus? <strong>Die</strong> Träne <strong>ist</strong> eine Mischung all dieser Gefühle, die aus dem<br />
Herzen kommen.<br />
Wie wir sehen, redet unser Volk, und es redet gut. Sie werden sich wundern,<br />
wieso ich das Weinen verteidige, wo ich doch des öfteren das Beweinen des<br />
Märtyrertods und Veranstaltungen dieser Art kritisiert habe. Hier liegt nur ein<br />
scheinbarer Widerspruch; das Weinen als eine Art Arbeit, schlicht Mittel zum<br />
Zweck, als ein Grundsatz und Auftrag <strong>ist</strong> nicht zu vergleichen mit dem Weinen<br />
zum Ausdruck eines natürlichen Gefühles und des Kummers aus Liebe und<br />
Sehnsucht.<br />
Der bekannte französische Revolutionär Regis Debray, der in Lateinamerika lebt<br />
und ein Kampfgefährte Che Guevaras war, sagt:“ Ein Mensch, der nicht weint<br />
und nicht weinen kann, besitzt kein Gefühl der Menschlichkeit“. Er <strong>ist</strong> aus Stein,<br />
ohne Herzensbildung und Seele. Tränen , die im Herzen wachsen, langsam<br />
hochsteigen , das Atmen erschweren und plötzlich ausbrechen, sind aufrichtiger<br />
und natürlicher Ausdruck der Bege<strong>ist</strong>erung, des Leidens und der Liebe des<br />
Menschen.<br />
Derjenige aber, der das Weinen vorplant und darin eine Art Zeremonie,<br />
Tradition, religiöse Pflicht oder eine Hauptaufgabe zu einem nützlichen Zweck<br />
oder einer Wiedergutmachung in Erwartung einer Belohnung sieht, <strong>ist</strong> ein<br />
sorgloser Betrüger.<br />
Wer verliebt <strong>ist</strong> und von der Geliebten getrennt wurde, wer um den Verlust einer<br />
Geliebten trauert, weint, weil er traurig <strong>ist</strong>. Jedes Mal wenn er an sie denkt oder<br />
auf sie zu sprechen kommt, schmerzt ihm das Herz, das Auge reflektiert den<br />
Schmerz und die Tränen steigen hoch. Das sind die zarten und reinen Symbole<br />
des tiefen Glaubens und der wahren Liebe.<br />
Wir sehen Sie haben einen Menschen, der von morgens bis mittags im Basar auf<br />
der Jagd nach Profit <strong>ist</strong> oder im Amt die Zeit totschlägt, ein heuchlerisches<br />
Leben führt, dem Vorgesetzten schmeichelt, Untergebenen und dem Publikum<br />
gegenüber hochnäsig <strong>ist</strong>, mittags nach einer üppigen Mahlzeit ein Schläfchen<br />
hält und abends seinen „gesunden“ und undurchsichtigen Vergnügungen<br />
nachgeht, sich dann aber nach den Daten des Kalenders mit vorheriger<br />
Verabredung nach alter Sitte von 18.30 bis 21.00 Uhr am <strong>Die</strong>nstag eines<br />
bestimmten Monats hinsetzt, „trauert“, sich einredet, traurig zu sein und sich alle<br />
Mühe gibt, einige Tränen zu vergießen, nach dem Ablauf des Programms der<br />
„Sicht-Sorgen-Machen-Veranstaltung“ Tee und Kaffee trinkt, eine Wasserpfeife<br />
raucht und dann mit erleichtertem Gewissen und in dem Bewusstsein, eine
wichtige Arbeit gele<strong>ist</strong>et und einen großen Schritt auf dem Wege des Glaubens<br />
vorwärts getan zu haben, wieder bis zur nächsten Saison seinem täglichen Leben<br />
nachgeht, die ebenso Weinen und Trauern nach einem vorgebenden Plan<br />
vorsieht wie die vergangene? Ich sehe ihn auch nicht viel anders!<br />
Ein Weinen, das weder Engagement noch Selbstbewusstsein noch Verständnis<br />
für den Geliebten noch Überzeugung verrät, dient nur zur Reinigung der Augen<br />
vom Schmutz der Strassen.<br />
Wir sollten nicht vergessen, das der erste, der das Schicksal des großen Hussein<br />
(18) beweinte, Omar Sa´ad war; die erste, die dieses Beweinen kritisierte, war<br />
die große Zeinab (19); die erste Trauerfeier wurde am Hofe Yazid (20)<br />
veranstaltet.<br />
Unser Volk aber weint aus wahrer Liebe, denn zum Ausdruck dieser tiefen<br />
Verbundenheit mit dem Hause des Geliebten, das ein wahres Pantheon und ein<br />
Olymp <strong>ist</strong>, in dem die wahren Götter wohnen, gibt es keine andere Sprache als<br />
die der Tränen.<br />
<strong>Die</strong> Masse besteht weder aus Gelehrten noch Philosophen, sie braucht Glauben,<br />
Gefühl und Opferbereitschaft und bat sie Genüge.<br />
Keine andere Religion und keine andere Nation können sich der Zugehörigkeit<br />
zu solch einem Hause rühmen; ein Haus, in dem ein Vater wie Ali, eine Mutter<br />
wie <strong>Fatima</strong>, ein Sohn wie Hussein und eine Tochter wie Zeinab leben , alle unter<br />
einem Dach, zur selben Zeit und in der selben Familie.<br />
Keinem anderen Haus wurde je von einer Nation so viel aufrichtiger Liebe,<br />
Treue und Opferbereitschaft entgegengebracht.<br />
Unser Volk hat um das `Haus <strong>Fatima</strong>s eine neue Kultur entstehen lassen; eine<br />
Geschichte voller Leidenschaft, Bewegung, Mut und Tugend nimmt ihren<br />
Verlauf aus diesem Haus, sie <strong>ist</strong> wie ein reiner, lebensspendender Fluss, der alle<br />
Generationen unseres Volkes ernährt hat und noch heute in dem tiefen<br />
Bewusstsein der Volksmassen fließt.<br />
Sie <strong>ist</strong> die einzige Nation der Menschheitsgeschichte, die in Sorge um das<br />
geliebte Haus und in Erinnerung an ihren Freiheitshelden im Laufe ihrer langen<br />
Geschichte immer getrauert und die Verletzung der menschlichen Tugenden, die<br />
Verfälschung der Wahrheit und Einrichtung der Gewaltherrschaft trotz der<br />
Kontinuität dieses Systems in ihrer Geschichte niemals vergessen hat.
<strong>Die</strong>se Liebe <strong>ist</strong> unfruchtbar geblieben. <strong>Die</strong> Tränen glichen einem Regen in der<br />
Salzwüste. Kein grünes Pflänzchen <strong>ist</strong> in dieser Wüste gewachsen, alle Opfer an<br />
Menschen, Material und Zeit sind vergeudet worden.<br />
Wer <strong>ist</strong> daran Schuld? Der Gelehrte, der seiner Verantwortung gegenüber der<br />
Volksmasse nicht nachkommt. Er hätte das Volk aufklären, ihm Erkenntnisse<br />
vermitteln und Denkrichtungen näher bringen müssen. Statt dessen überließ er<br />
das Volk und die Religion ihrem Schicksal.<br />
So <strong>ist</strong> es einer Nation voller Überzeugung und Liebe ergangen, die zwar den<br />
Koran und Nadj al-Balagha (Sammlung der Aussprüche, Predigten und Briefe<br />
Imam Alis)vorweisen kann, Ali, <strong>Fatima</strong>, Hussein und Zeinab hervorgebracht<br />
hat, die eine rote Geschichte, aber auch ein schwarzes Schicksal hat. Sie besitzt<br />
zwar die Kultur und Religion des Märtyrertums, <strong>ist</strong> aber trotzdem tot.<br />
Daher inspiriert Jeanne d`Arc, ein gefühlvolles und träumerisches Mädchen, das<br />
die Vision hatte, die Monarchie retten zu müssen, seit Jahrhunderten die<br />
Intellektuellen und Progressiven Frankreichs zu revolutionären Taten und<br />
Befreiungsbewegungen , während Zeinab, die einen schwereren Auftrag als<br />
Hussein hatte und die Bewegung von Karbala (21) gegen Verbrechen, Lüge,<br />
Terror und Unterdrückung fortführen musste- gerade in einer Zeit, als die<br />
Helden der Revolution und Vorkämpfer des Islam schon gestorben waren- bei<br />
uns zu einer „weinenden Schwester wird, die wiederum selbst beweint werden<br />
müsste“.<br />
Ich höre eine zornige und tadeldene Stimme, die sich an die Gelehrten wendet,<br />
die verantwortlich für den Glauben des Volkes sind und ihren Auftrag vom<br />
Islam des Mohammad und der Schia erhalten hatte. Es <strong>ist</strong> die tadelnde Stimme<br />
Alis; sie mag auch aus dem Bewusstsein des Volkes kommen. Sie fragt:<br />
„Womit beschäftigt ihr euch? Wovon redet ihr eigentlich, warum seit ihr<br />
stumm? Warum habt ihr in all den Jahren kein einziges Buch geschrieben, um<br />
dem Volk zu erklären, was im Koran steht? Warum habt ihr, statt meine Worte<br />
zu verkünden, so viele Lobpreisungen, Gedichte, Klagen und Liebeslieder<br />
geschrieben? Warum kennt ein Mensch, der die persische Sprache spricht,<br />
meine Worte nicht?“<br />
Alle Gedichte Lamartines sind ins Persische übertragen worden. All die<br />
Liebeslieder des Griechen Bilitis, über deren Moral man zweierlei Meinung sein<br />
kann, sind in schönsten Worten übertragen worden, nicht aber Alis Worte und<br />
Predigten.<br />
Wo kann man nur eine kleine und richtige Abhandlung über den Lebenslauf der<br />
<strong>Imame</strong>, deren Wundertaten so hervorgehoben und deren Geburts- und Todestage<br />
von Euch so oft gefeiert werden, finden; wo ein kleines Büchlein, das der Schia
des Ali zeigen kann, wer Ali und <strong>Fatima</strong> waren, wie ihre Kinder lebten, wie sie<br />
dachten und was sie zustande brachten?<br />
Unsere Bevölkerung, die den schiitischen <strong>Imame</strong>n ihr Leben lang Liebe<br />
entgegenbracht, ihr Unglück beweint, keine Mühe zur Erhaltung ihres Ruhmes<br />
gescheut und große Entbehrungen auf sich genommen hat, kennt ihre <strong>Imame</strong> nur<br />
der Reihenfolge nach, statt sie nach ihren Gedanken, Sprüchen, Taten und<br />
Lebensauffassungen zu kennen und zu erfahren, warum sie dies Martyrium auf<br />
sich genommen haben, um für ihr eigenes Leben Schlüsse daraus zu ziehen.<br />
Wer <strong>ist</strong> Schuld, wenn die Männer, die sogar bereit sind, sich am Todestag von<br />
Hussein zum Zeichen der Liebe und Trauer mit einem Schwert den Kopf zu<br />
verwunden, ihn und die Ereignisse Karbala falsch verstehen? Wer <strong>ist</strong> Schuld,<br />
wenn die Frauen, die das Schicksal <strong>Fatima</strong>s und Zeinabs traurigen Herzens<br />
beweinen und ihr Leben für sie geben würden, sie nicht kennen. Keinen einzigen<br />
Satz ihrer Sprüche beherrschen und keine Zeile ihres Lebenslaufes gelesen<br />
haben?<br />
Von <strong>Fatima</strong> wissen sie lediglich, das sie in ihrem Haus gegen die Tür<br />
geschleudert wurde- von Zeinab kennen sie nur die Geschichte, wie sie im<br />
Kampf von Karbala von einem Zelt zum anderen ging und die Märtyrer<br />
betreute; hiervon kennen sie auch nur die Ereignisse bis zum Mittag des letzten<br />
Kampftages. Ihre Kenntnisse über Zeinab hören dort auf, wo ihr wahrer<br />
Auftrag, die Fortführung des Kampfes des Hussein, beginnt.<br />
Wenn schon intellektuelle und gebildete Frauen und Männer nicht wissen, wozu<br />
eine Religion des Weinens, des Klagens und des Trauerns gut sein soll, wie<br />
kann ein unterentwickeltes und unfreies Land, dessen Bevölkerung aufgeklärt<br />
werden muss, um sich gegen Unterdrückung und Bevormundung zu erheben,<br />
seine Schwierigkeiten mit Klageliedern über Hussein, <strong>Fatima</strong> und Zeinab<br />
überwinden wollen? Nun, wer <strong>ist</strong> an diesem Zustand schuld?<br />
Wenn die freiheitsliebenden Intellektuellen, die unter der Rückständigkeit ihres<br />
Volkes leiden und sich um seine Aufklärung bemühen, aber selbst die eigene<br />
Gesellschaft und Geschichte nicht kennen, unsere Religion nicht in Medina, im<br />
Hause <strong>Fatima</strong>s und an den Schauplätzen des Märtyrertums, sondern in Esfahan,<br />
Teheran, Maschad, Ghom und anderen Schauplätzen der schiitischen<br />
Passionsfeiern suchen, sind sie selber schuld.<br />
Sie sollten statt dessen laut fragen, was diese Religion der alten Sorgen und<br />
Leiden, die Religion der geschichtlichen Feindseeligkeiten und die Religion der<br />
Liebe und des Hasses, die zweckentfremdet wird, den ungebildeten und<br />
entrechteten Frauen, die befreit und aufgeklärt werden sollen, heute noch
einbringt, außer das ihre Gefühle über vergangene Ereignisse in fremden<br />
Ländern in falsche Bahnen gelenkt werden.<br />
Sie werden mit diesen Gedanken beschäftigt, damit sie sich ihrer eigenen<br />
Unterdrückung nicht bewusst werden. Sie sollen sich über eine Unterdrückung,<br />
die der Kalif eines fremden Landes in der Vergangenheit auf das Volk ausübte,<br />
erzürnen und mit einem Schwert den eigenen Kopf verwunden, um ihr Gewissen<br />
zu reinigen, damit ihnen ihre Sünden vergeben werden. Sie sollen sich damit der<br />
Last ihrer Verantwortung entledigen, die Gerechtigkeit Gottes verfälschen, um<br />
die Bilanz ihrer Taten für das Jüngste Gericht zu „frisieren“.<br />
Es bedarf also diesen kleinen Eingriffes, um ein anderer Mensch zu sein, rein<br />
und unschuldig wie ein neugeborenes Kind, auch wenn man bis dahin ein<br />
unwürdiges Dasein geführt hat.<br />
Man wäre sogar berechtigt, Ansprüche zu stellen. Daher haben diejenigen, die<br />
die Verantwortung für die Förderung des Guten und die Bekämpfung des Bösen<br />
sowie den Heiligen Kampf, das Märtyrertum, die Wohltätigkeit, Aufopferung,<br />
Gerechtigkeit, Aufklärung, Entwicklung, Einigkeit und Tat durch Weinen,<br />
Wehklagen, Trauern, Verheimlichung der religiösen Gesinnung, unberechtigte<br />
Fürsprache, falsche Gefühle, Beschimpfung, Fluch. Lobpreisung und Heuchelei<br />
ersetzt haben, deren Anführer nur um den Preis der Erniedrigung ihrer Anhänger<br />
bereit sind, sie – und das auch nur im Jenseits- zu unterstützen, unser Volk zum<br />
Untergang, Aberglauben, zu Schwächen und Unterwürfigkeit verurteilt.<br />
Sie haben das Volk dazu erzogen, sich zu unterwerfen, sie haben es seiner<br />
Tatkraft beraubt und ihm jede Hoffnung auf Widerstand genommen.<br />
Wer <strong>ist</strong> daran Schuld, wenn die Masse unseres Volkes noch heute glaubt, das<br />
allein der Glaube an Ali und seinen Führungsauftrag ohne die Erkenntnis seiner<br />
tiefen Bedeutung Wunder bewirken und Gott nach dem Gebot des Koran<br />
„ihre schlechten Taten gegen gute eintauschen werde“ (Koran 25/70) ?<br />
Mit anderen Worten, der Verrat, den ihr im <strong>Die</strong>sseits begeht, soll im Jenseits als<br />
<strong>Die</strong>nst anerkannt werden, d.h. jede hier begangene Sünde soll dort belohnt<br />
werden.<br />
Wer <strong>ist</strong> daran schuld, das der Führungsauftrag Alis, der jahrhundertlang dazu<br />
diente, die Freiheitsbewegung und den Kampf gegen Unterdrückung und<br />
Despotie zu begründen, die Völker aufzuklären, sie für die Unabhängigkeit und<br />
Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft zu motivieren und die<br />
revolutionäre, engagierte und selbstbewusste Führung der Gesellschaft zu<br />
garantieren, heute nur darauf beschränkt worden <strong>ist</strong>, nach dem Tode im Jenseits<br />
etwas zu erreichen?
Wer <strong>ist</strong> daran schuld, das das Bündnis unserer Väter mit diesem Haus keinen<br />
Einfluss auf ihre Lebens- und Denkweise, auf ihre Zeit und Gesellschaft hatte<br />
und daraufhin unsere Generation mit dieser Religion und dem Hause Alis<br />
gebrochen hat?<br />
Unsere Gesellschaft, eine islamisch- religiöse Gesellschaft, glaubt an das Haus<br />
des Propheten, den Führungsauftrag Alis und die Führungsbefugnis seiner<br />
Nachfolger, <strong>ist</strong> aber trotzdem zivilisatorisch, kulturell, materiell und ge<strong>ist</strong>ig<br />
rückständiger als viele andere Gesellschaften, gleichgültig, ob diese religiös<br />
oder material<strong>ist</strong>isch, islamisch oder nicht- islamisch sind, und das, obwohl sie<br />
ebenfalls gegen Kolonialismus, Despotismus und Verfallerscheinungen in der<br />
Gesellschaft nicht minder hart zu kämpfen hatten als wir.<br />
Sie haben ihre Schwierigkeiten bewusster, besser und fortschrittlicher geme<strong>ist</strong>ert<br />
als wir und stehen uns im Hinblick auf Gerechtigkeit, soziale Führung,<br />
allgemeine Moral, ge<strong>ist</strong>igen Fortschritt, Wahrheitsliebe, Wissenschaft,<br />
Rechtsordnung, Reinheit der Gedanken und individuelle und gesellschaftliche<br />
Vorrausetzungen für ein besseres materielles und ge<strong>ist</strong>iges Leben in keiner<br />
Weise nach, obwohl sie die Liebe zu Ali, die Trauer um Hussein und die<br />
Erwartung des verheißenen Rechtgeleiteten, die dschafaridische Rechtsschule<br />
(22), die Verheimlichung der religiösen Gesinnung, religiöse Nachahmung und<br />
dergleichen nicht kannten.<br />
Wer <strong>ist</strong> an diesem Zustand schuld?<br />
Das Haus Alis, die Intellektuellen oder das Volk?<br />
Hat das Haus Alis tatsächlich seine Wirkung verloren?<br />
Urteilen die junge Generation und die Intellektuellen falsch?<br />
Wurde die religiöse Masse ihrer Aufgabe nicht gerecht?<br />
Ali <strong>ist</strong> die personifizierte Wahrheit und das Symbol einer der fortschrittlichsten<br />
Denkschulen. Er <strong>ist</strong> eine sagenhafte Tatsache, ein Idealbild des Menschen.<br />
Seine Frau <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> eine hervorragende Gestalt, nachahmenswert und<br />
unerreichbar. <strong>Die</strong> Geschw<strong>ist</strong>er Hussein und Zeinab haben mit ihrer großen<br />
Revolution in der Geschichte die Freiheit erst ersterbenswert, Despotismus und<br />
Volksverdummung aber verdammenswert gemacht.<br />
<strong>Die</strong>ses Haus <strong>ist</strong> eine Kaaba (23), wo die Kinder und Erben Abrahams wohnen.<br />
<strong>Die</strong> Kaaba in Mekka <strong>ist</strong> ein Sinnbild, das Haus des Propheten <strong>ist</strong> eine Tatsache.<br />
Das Haus <strong>ist</strong> aus Stein gebaut, während mit jener die Menschen gemeint sind;<br />
das Haus <strong>ist</strong> ein Prozessionsrot für die Moslems, während jene ein Wallfahrtsort<br />
für alle Herzen <strong>ist</strong>, die die Schönheit lieben, die Erhabenheit des Menschen<br />
schätzen und sich für Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe, Aufrichtigkeit,
Frömmigkeit, den heiligen Kampf für die Befreiung der Menschen und den<br />
Märtyrertod zur Erhaltung des Lebens einsetzen.<br />
Andererseits hat unser treues, die Tugenden schätzendes Volk in den Wellen der<br />
Geschichte aus vielen Palästen und Kaisern, die von Geschichtsschreibern in<br />
höchsten Tönen beschrieben wurden und im Mittelpunkt der Kultur,<br />
Zivilisation, Religion, Wissenschaft, Kunst, und Literatur standen, dieses<br />
verratene und der Ungerechtigkeit preisgegebene Haus ausgewählt und ihm<br />
ewige Treue gelobt.<br />
Es bestimmt die Überzeugung, Ideale, Gedanken und Gefühle unseres Volkes,<br />
dessen Herz noch immer für dieses Haus schlägt und dessen Sprache voller<br />
Lobpreisungen <strong>ist</strong>. Es <strong>ist</strong> bereit, alles für diese Ideale zu opfern.<br />
Wenn sie sich nur diese arme und hungernde Bevölkerung ansehen, werden Sie<br />
verstehen, welch großes Opfer sie bringen muss, um ihren Gefühlen und ihre<br />
Überzeugung den Mitgliedern dieses geliebten Hauses gegenüber Ausdruck zu<br />
verleihen.<br />
Als Beweis des Glaubens und der Aufrichtigkeit <strong>ist</strong> manchmal eine fromme<br />
Gabe überzeugender als ge<strong>ist</strong>ige Hingabe. Überlegen Sie sich, welche Ausmaße<br />
die Spenden annehmen. In einer Zeit, wo die Religion durch Materialismus<br />
verdrängt wird und wirtschaftliches Vorwärtskommen die größte<br />
Anziehungskraft hat, in einer Zeit, wo die Kluft zwischen Arm und Reich immer<br />
größer wird und die arme Bevölkerungsschicht ums überleben kämpft,<br />
beobachten wir, das an den für dieses Haus veranstalteten Gedenktagen Feiern<br />
stattfinden, an denen Millionen teilnehmen, wovon 150 000 Ayatollahs,<br />
Vorbeter, Prediger und 700 000 Seyyeds, Lobpreiser, Trauerredner und<br />
dergleichen ihren Lebensunterhalt bestreiten.<br />
<strong>Die</strong> Beträge, die für die Veranstaltung von Passions- und Trauerfeiern, für die<br />
Beköstigungen und zur Zahlung der Vermögenssteuer, Anteile des Imam,<br />
Spenden und zu anderen Wohltätigkeitszwecken ausgegeben werden, sind kaum<br />
zu schätzen. Nun müssen wir bedenken, das es sich hierbei um ein<br />
unterentwickeltes Land handelt; das Pro-Kopf-Einkommen <strong>ist</strong> unbedeutend,<br />
besonders wenn man in Betracht zieht, das die Klassenunterschiede in dieser<br />
islamischen Gesellschaft so groß sind, das sich die Hälfte des<br />
Nationalvermögens im Besitz einiger Tausend Menschen befindet- über zwei<br />
Drittel der gesamten Vermögenswerte verfügt nur ein Zehntel der Bevölkerung.<br />
<strong>Die</strong> Großgrundbesitzer und Geschäftsleute des Basar haben einem neuen Typ<br />
des Kapital<strong>ist</strong>en Platz machen müssen; eine neue Gruppe von Industriellen,<br />
moderner Bourgeoisie, Händler der europäischen Waren und Konsumförderer<br />
haben das Geschäft übernommen. Das Kapital <strong>ist</strong> aus den Lagern der Dörfer,<br />
den Geschäftshäusern der Basare, den Läden der Geldwechsler und Werkstätten
des traditionellen Hanfwerks in die Banken, Börsen, Gesellschaften,<br />
Vertretungen, Unternehmungen und Fabriken geflossen.<br />
<strong>Die</strong> neue Klasse <strong>ist</strong> modern<strong>ist</strong>isch, europäisiert und areligiös. Und selbst wenn<br />
einige von ihnen noch religiöse Erinnerungen und Neigungen haben sollten, so<br />
bringen sie sie sehr vornehm, formell, zeitgemäß und westlich zum Ausdruck.<br />
Nach den Worten von Sayyed Ghotb <strong>ist</strong> ihr Islam sogar eine Art<br />
„amerikanischer Islam“, eine Religion, die keine Verantwortung verlangt und<br />
weder Geld noch Mühe kostet. Sie wird aufgefasst als eine Art intellektuelle<br />
Beschäftigung, die ihnen nicht viel abverlangt.<br />
Ihre Töchter und Söhne haben mehrere Jahre in den Seebädern und Tanzcafes<br />
Europas und Amerikas Erfahrungen gesammelt; sie selbst fahren ein- oder<br />
zweimal im Jahr mit vollen Portemonnaies dorthin, um ihr Geld in Kaufhäuser<br />
und Varietes auszugeben und in die Taschen der Kapital<strong>ist</strong>en, Betrüger und<br />
Bauernfänger zu füllen, die doch nur auf solche Neureichen lauern, die glauben,<br />
mit Geld ihre Mängel, Schwächen, Rückständigkeit und Komplexe loswerden<br />
zu können. Sie kehren mit leeren Taschen , aber stolzem Blick in die Arme der<br />
lieben Landsleute zurück, um für das nächste „süße Leben“ die hiesigen Kühe<br />
wieder zu melken.<br />
Das alles tun sie ganz natürlich, ohne Bedenken, mit Stolz und einer Arroganz,<br />
als ob sie der Bevölkerung damit einen großen Gefallen erweisen. Sie halten<br />
ihre Handlungsweise für Fortschrittlichkeit, moderne Lebensweise und<br />
Vertrautheit mit der Zivilisation.<br />
Gleichzeitig treten Mekka- und Karbala-Pilger, die gewöhnlich Bauern,<br />
Handwerker und einfache Geschäftsleute sind, einmal in ihrem Leben eine Reise<br />
an, die ihnen Ruhe, Abwechslung, Tour<strong>ist</strong>ik und Auslandserfahrung bietet,<br />
wobei sie die geschichtlichen Stätten ihres Glaubens und ihrer Kultur besuchen,<br />
die eigene alte Tradition kennenlernen, moralische Stärkung erfahren und ihre<br />
religiöse Pflicht erfüllen können.<br />
Sie haben nur 5000 Toman zur Verfügung, von denen sie allein 3000 für die<br />
Flugreise und den Pass hinblättern müssen. Für weitere 1000 Toman kaufen sie<br />
Geschenke und bringen sie nach Hause. Der Rest <strong>ist</strong> für eine bescheidene<br />
Unterkunft in einem Gasthaus oder in einem Zelt, für Busfahrten und einige<br />
Mahlzeiten bestimmt.<br />
Das ganze kostet nicht soviel wie eine Flasche Champagner, die die<br />
Herrschaften im „Lido“ trinken, oder ein Kaviarfrühstück, das sie im Hotel<br />
„Georges V“ zu sich nehmen. Sobald aber die aufgeklärten Augen der<br />
Neureichen und der modern<strong>ist</strong>ischen Intellektuellen diesen nicht klagenden
Basari oder Bauern erblicken, propagieren sie in solchem Maße menschliche<br />
Gefühle, Klassenbewusstsein, Patriotismus, Engagement, soziale Solidarität,<br />
Nationalstolz, Bildung über Nationalökonomie und Kapitalflucht,<br />
fortschrittliche Gedanken und intellektuelles Handeln, das nicht einmal ein Che<br />
Guevara es mit ihnen aufnehmen kann.<br />
Eine Analyse der heutigen Situation zeigt, das die beiden traditionellen Klassen,<br />
die der Religion weiterhin treu geblieben sind, entweder dem wirtschaftlichen<br />
Niedergang ausgesetzt sind oder ihre Position weitgehend geschwächt wird. Das<br />
sie trotzdem die schwere finanzielle Last der religiösen Verpflichtungen tragen<br />
und die traditionellen Veranstaltungen, religiösen Institutionen und die<br />
islamischen Lehranstalten fördert, <strong>ist</strong> ein Beweis dafür, das die ge<strong>ist</strong>ige<br />
Verbundenheit unseres Volkes mit diesem Haus sehr tief verwurzelt und sein<br />
Glaube daran sehr stark und unerschütterlich <strong>ist</strong>.<br />
Spätestens an diesem Punkt müssten wir uns eine schmerzliche Frage stellen.<br />
Wenn wir die Entwicklung bis jetzt genauestens überprüft haben, müssten wir<br />
uns darüber Gedanken machen:<br />
Einerseits glauben wir an den Islam, an die letzte und vollständigste<br />
Religionsschule der Geschichte. Mohammad, der Koran, die Gefährten des<br />
Propheten und die Geschichte des Islam haben uns leben gelehrt, uns eine große<br />
Zivilisation, Gesetzt, Kultur und Macht gebracht, sie haben uns die Einheit<br />
Gottes, die Einheit der Gesellschaft und die Einheit der Menschheit gelehrt, sie<br />
haben uns angewiesen, uns für Gerechtigkeit einzusetzen und eine Gemeinschaft<br />
zu schaffen, in der jeder einzelne ein Märtyrer des Volkes <strong>ist</strong>.<br />
Anderseits glauben wir an die Schia, an die Denkschule der <strong>Imame</strong> und der<br />
Gerechtigkeit. Wir glauben an Ali, seine Nachkommen, an die Geschichte ihres<br />
Kampfes für Freiheit und Gerechtigkeit, an ihren unerschütterlichen Widerstand<br />
gegen Unterdrückung, Diskriminierung, Versklavung und Unterwerfung, wir<br />
lehnen jede Verletzung des Rechtes, Verschleierung der Wahrheit, politische<br />
Versklavung, wirtschaftliche Ausbeutung und die Despotie der Ge<strong>ist</strong>lichkeit ab.<br />
Wir glauben an die Führung des Gerechten, an Gelehrsamkeit, Tatkraft,<br />
Märtyrertum und die innere Bereitschaft und erwarten den Aufstand der Massen<br />
für Gerechtigkeit und Gleichheit nach der Wiederkehr des rechtgeleiteten Imam.<br />
Was unser Volk betrifft, so erwe<strong>ist</strong> es diesem Hause eine liebevolle Ergebenheit,<br />
wie sie von keiner religiösen und weltanschaulichen Überzeugung verlangt wird.<br />
<strong>Die</strong> bloße Erwähnung der Namen der Angehörigen dieses Hauses beseelt das<br />
Volk, und die Erinnerung an ihr Martyrium bringt sein Blut in Wallung. Erfüllt<br />
von dem Schmerz und Sehnsucht am Jahrestag des blutigen Geschehens und<br />
verwundet sich zum Zeichen seiner Trauer mit dem Schwert. Jedes Jahr gedenkt<br />
es der Schicksale der Familie des Propheten , teilt ihre Trauer und pre<strong>ist</strong> ihre
Würde und Tugenden; ein Volk voller Liebe und Trauer, opferbereit, ungeduldig<br />
und aufgewühlt durch eine unendliche Zuneigung.<br />
Da gibt es noch die Intellektuellen und die erwachte Generation, welche die<br />
Welt und die eigene Gesellschaft kennen, die Erfordernisse ihrer Zeit verstehen,<br />
an Freiheit, Gleichheit und Aufklärung der Massen denken und eine Bewegung<br />
zur Erweckung des Selbst- und Verantwortungsbewusstseins des Volkes in<br />
Gang setzen möchten.<br />
Unsere heutigen Intellektuellen sind nicht mehr wie die früheren verwestlicht<br />
und dem Volk entfremdet.<br />
Sie sind heute nicht mehr stolz darauf, das sie die persische Sprache<br />
vollkommen vergessen haben oder sie – wenn überhaupt – mit einem<br />
europäischen Akzent sprechen. Das <strong>ist</strong> nicht die Generation Mirza Malkom<br />
Khan und Seyyed Hassan Taghizadehs, welche die Saat der Idee säten, das „wir<br />
von Kopf bis Fuß europäisch werden müssten“. <strong>Die</strong> Saat des Verrates ging auf,<br />
wurde mit Blut und Erdöl bewässert und brachte dem Kolonialismus die<br />
gewünschten Früchte ein.<br />
<strong>Die</strong> heutigen Intellektuellen werden nicht mehr von Djamalzadeh, sondern von<br />
Djalal vertreten. Sie verlangen nicht wie Taghizadeh, das das Volk sich<br />
europäischer Kultur unterwirft. Im Gegenteil, sie fordern es auf, sich gegen die<br />
Verwestlichung aufzulehnen, zur islamischen Kultur zurückzukehren und sich<br />
wieder auf die eigene Zivilisation zu besinnen. Unsere heutigen Intellektuellen<br />
haben bewiesen, das sie sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst<br />
sind und danach handeln.<br />
Es fragt sich nun, warum diese Faktoren, von denen jeder einzelne eine Nation<br />
zu großen Taten hätte bewegen können, keinen Einfluss auf unsere Nation<br />
hatten. Warum haben Liebe und Treue zu diesen Gestalten der Menschenwürde<br />
und der Glaube unseres Volkes an ihre Taten nichts genutzt?<br />
Wer <strong>ist</strong> schuld, das die Religion der Erlösung, die Lehre der Gerechtigkeit, der<br />
verantwortungsbewusste Intellektuelle und das überzeugte Volk nicht<br />
weiterkamen? <strong>Die</strong> Antwort heißt mit einem Wort: <strong>Die</strong> Gelehrten.<br />
Denn der Grund, warum unser Glaube an den Islam, an Mohammad, Alis Lehre<br />
und Husseins Taten keine Früchte getragen hat, liegt darin, das wir sie nicht<br />
kennen. Wir lieben sie zwar, verstehen sie aber nicht; eine Liebe ohne<br />
Erkenntnis.<br />
Worin liegt das Geheimnis des Rätsels, das eine lebensbejahende Religion uns<br />
zu keinem neuen Leben erwecken kann?
Es liegt darin, das wir zwar an sie glauben, sie aber nicht kennen.<br />
Wer hätte und die Bedeutung und die Lehre Alis erklären müssen?<br />
Der Gelehrte!<br />
Er hätte und die Bedeutung und die die Lehre Alis erklären müssen. Ein<br />
Gelehrter ohne Verantwortungsbewusstsein, ausgestattet mit bloßem Wissen, <strong>ist</strong><br />
dem Islam fremd. Wissenschaft <strong>ist</strong> nicht nur eine Anhäufung von Bildung und<br />
Fachwissen, sondern eine Erleuchtung im Herzen. Der Ausdruck „göttliche<br />
Erleuchtung“, den der Prophet gebracht, <strong>ist</strong> kein geheimnisvoller<br />
metaphysischer Begriff. Es handelt sich nicht um Allwissenheit und um<br />
sogenannte verborgene und mystische Wissenschaften. Es geht nicht um Physik,<br />
Chemie, Geschichte, Geographie, Rechtsphilosophie und Logik; das sind<br />
wissenschaftliche Kenntnisse, aber keine Erleuchtung. <strong>Die</strong> Wissenschaft, die<br />
Erleuchtung bringt, <strong>ist</strong> eine engagierte Wissenschaft, eine führende<br />
Wissenschaft, eine Ideologie, die in der Sprache des Koran „figh“ genannt wird<br />
und heute als islamisches Recht bekannt <strong>ist</strong>.<br />
Aber der Gelehrte, dessen wir bedürfen, arbeitet nicht in der Dunkelheit. Er<br />
erhellt die Hintergründe und we<strong>ist</strong> den rechten Weg. Er <strong>ist</strong> kein Professor der<br />
Studenten und kein Lehrme<strong>ist</strong>er der Auserwählten; er <strong>ist</strong> ein Lehrer des Volkes.<br />
Seine Wissenschaft <strong>ist</strong> nicht die Wissenschaft der platonischen Akademie, sie <strong>ist</strong><br />
der Auftrag des Propheten. Das sind die Gelehrten, die „Erben des Propheten“<br />
genannt worden sind.<br />
<strong>Die</strong> Verantwortung eines schiitischen Gelehrten <strong>ist</strong> größer und definitiver. Er <strong>ist</strong><br />
Stellvertreter des Imam. Mit seiner Wissenschaft hat er die Verantwortung des<br />
Imamat (Führungsauftrages) und mit dem Imamat die Verantwortung der<br />
Botschaft des Propheten übernommen.<br />
Der schiitische Gelehrte, der die Vertretung des Imam übernommen hat, in<br />
dieser Eigenschaft die für den Imam bestimmten Zuwendungen erhält und den<br />
Auftrag hat, die Botschaft des Propheten zu verkünden und die Führung im<br />
Auftrag Alis zu übernehmen, hat natürlich auch die Pflicht, dem Volk zumindest<br />
zu erklären, was ein Imam <strong>ist</strong>, wer die <strong>Imame</strong> waren, wie sie dachten, wie sie<br />
lebten, welche Rolle sie in der Geschichte spielten, welche Denkrichtung sie<br />
vertraten, mit welchen Gedanken, Systemen und Regimen sie konfrontiert<br />
waren, was sie von uns wollten und was wir zur Verwirklichung ihrer Ideen zu<br />
tun haben.<br />
Wenn dieser Tatsache zum Trotz in der Sprache des Volkes mehr Bücher über<br />
europäische Schauspieler geschrieben werden als über die schiitischen <strong>Imame</strong>,<br />
dann sind die Gelehrten daran schuld. Wenn der schiitische Gebildete heute
mehr Bücher in schönster Dichtung über die Liebesaffären einer griechischen<br />
Lebedame der Antike vorfinden kann als über Alis Nahj al-Balagha, dann sind<br />
die Gelehrten schuld.<br />
Wenn unser Volk nur einige Namen seiner religiösen Führer kennt und sie nur<br />
mit Wundertaten und Lobpreisungen in Verbindung bringen kann, wenn es von<br />
ihrem Leben nur die Geburts -und Todestage kennt, dann sind die Gelehrten<br />
daran schuld.<br />
Ali <strong>ist</strong> der Befreier, sein Volk <strong>ist</strong> ihm treu ergeben. <strong>Die</strong>ses Volk <strong>ist</strong> jedoch<br />
rückständig und schwach; der intellektuelle kennt diese Schwäche und die<br />
Verfallerscheinungen der Gemeinde Alis. Der wahre Grund für diesen<br />
Widerspruch liegt in der Unkenntnis. Glaube und Liebe ohne Erkenntnis sind<br />
wert- und wirkungslos.<br />
Ein Koran, der weder gelesen noch verstanden wird, <strong>ist</strong> ein Buch wie jedes<br />
andere, ein unbeschriebenes Blatt. Daher gibt man sich so viel Mühe, uns davon<br />
abzuhalten, ihn zu lesen, zu verstehen und darüber nachzudenken. Wir würden<br />
ihn nicht verstehen, weil er so kompliziert sei, die rationale Interpretation des<br />
Koran sei verboten. Um diesen Gedanken vorzubeugen, wird im Koran<br />
ausdrücklich betont:<br />
„Macht Ihr Euch denn keine Gedanken über den Koran?“<br />
Als Antwort auf feindlich gesinnte Fürsprecher, die ihn als schwer verständlich<br />
hinstellen, um das Volk doch den Koran zu entfremden, wird entgegnet:<br />
„Und wir haben doch den Koran leicht verständlich gemacht zur Mahnung. Aber<br />
gibt es überhaupt jemanden, der sich mahnen lässt?“ (Koran 54/17,22,32 und<br />
40)<br />
Ali kann seinen Anhängern nur dann Einsicht, Größe , Würde und Freiheit<br />
vermitteln, wenn sie ihn kennen.<br />
Was nützen Zuneigung und Lobpreisung, wenn in unserer Sprache kein<br />
lesenswertes Buch ex<strong>ist</strong>iert, das seine Persönlichkeit beleuchtet; wenn seine<br />
Sprüche dem Volk von keiner ordentlichen Kanzlei aus erklärt werden?<br />
Liebe und Glaube können dann eine positive Ge<strong>ist</strong>eshaltung und Bewegung<br />
bewirken und konstruktiv sein, wenn sie auf Erkenntnis beruhen.<br />
Was <strong>Fatima</strong> betrifft, so <strong>ist</strong> ihre Gestalt hinter den ständigen Lobpreisungen und<br />
Wehklagen ihrer Anhänger verborgen geblieben.
Drei Frauentypen<br />
In der islamischen Gesellschaft und Kultur gibt es drei Frauentypen: Den Typ<br />
der traditionellen und frömmelnden Frau, den Typ der modern<strong>ist</strong>ischen und<br />
Europhylen Frau, deren Zahl in letzter Zeit zugenommen hat und schließlich den<br />
Typ der Frau, die dem Vorbild <strong>Fatima</strong>s nacheifert.<br />
<strong>Die</strong>ser letzte Typ hat weder Ähnlichkeit noch Gemeinsamkeiten mit dem<br />
sogenannten traditionellen Frauentyp, wie er in der Vorstellung unserer<br />
Gesellschaft von einer religiösen Frau ex<strong>ist</strong>iert. <strong>Die</strong>ser Typ <strong>ist</strong> mit dem Vorbild<br />
<strong>Fatima</strong>s ebenso unvereinbar wie der Typ der modernen Frau.<br />
Im Orient, besonders in der islamischen und iranischen Gesellschaft, sind wir<br />
mit einem Antagonismus konfrontiert. Im individuellen und sozialen Verhalten<br />
sowie in der Denkweise der Menschen gibt es eine krisenhafte Veränderung und<br />
einen verwirrenden Zusammenbruch der Werte, die dazu geführt haben, das ein<br />
besonderer Typ von intellektuellen, gebildeten Frauen und Männer und<br />
Modern<strong>ist</strong>en entstanden <strong>ist</strong>, der einen Gegensatz zu dem traditionellen Typ der<br />
Frauen und Männer bildet.<br />
<strong>Die</strong> Entstehung dieses Gegensatzes war unvermeintlich und keiner hätte sie<br />
verhindern können. Damit soll diese Veränderung weder bejaht noch verneint<br />
werden. Nicht hierin <strong>ist</strong> das Problem zu sehen. Es geht viel mehr darum, das das<br />
Leben einer Frau von den Veränderungen der Gesellschaftsstruktur und der<br />
Denk- und Lebensweise des Mannes nicht unberührt bleibt. Sie kann sich nicht<br />
ewig in ein überholtes Schema fügen.<br />
In früheren Generationen war der Sohn häuslich, nach dem Muster des Vaters<br />
geschnitten; der Vater brauchte sich keine Sorgen zu machen, das der Sohn eine<br />
besondere neue und unbekannte Form annehmen würde, so das zwischen Vater<br />
und Sohn keine Gemeinsamkeiten vorhanden wären und keine Verständigung<br />
möglich wäre. Es wäre unvorstellbar gewesen, das sie nicht mehr die gleichen<br />
Gefühle besäßen und nicht eine Minute ohne Kritik, Argwohn und Streit<br />
miteinander verbringen könnten.<br />
Heute <strong>ist</strong> das anders, es <strong>ist</strong> ein sowohl im Osten als auch im Westen<br />
wahrzunehmendes Charakter<strong>ist</strong>ikum unseres Jahrhunderts, das zwischen zwei<br />
Generationen ein Abgrund entstanden <strong>ist</strong>, ein zeitlicher Abstand, der nach dem<br />
Kalender dreißig Jahre, nach dem sozialen Verhalten jedoch dreißig<br />
Jahrhunderte ausmacht.<br />
Gestern war die Gesellschaft beinahe statisch, die gesellschaftlichen Werte und<br />
Verhaltensmuster unveränderlich. Im Laufe von ein-zwei oder dreihundert
Jahren veränderte sich nicht viel. Gesellschaftlicher Unterbau,<br />
Produktionsverhältnisse, Konsumverhalten; Gesellschaftsverhältnisse,<br />
Herrschaftssysteme, religiöse Verhalten, Sitten und Gebräuche, positive und<br />
negative Werte, Kunst, Literatur, Sprache und dergleichen waren zu Lebzeiten<br />
unserer Väter und Großväter dieselben wie zu Lebzeichen ihrer Kinder und<br />
Enkelkinder.<br />
Bekannt und fremd<br />
In solch einer statischen Gesellschaft, in der die Zeit stehen geblieben war, war<br />
die Tochter natürlich das Ebenbild der Mutter. Meinungsverschiedenheiten<br />
zwischen Mutter und Tochter- wenn sie überhaupt vorkamen- waren<br />
nebensächlich und eher zufällig, oder sie bestrafen die individuellen<br />
Abweichungen und Verirrungen, die von allen Gruppen der Gesellschaft<br />
übereinstimmend als solche anerkannt werden; eine Verhaltensweise wurde<br />
indes niemals- wie es heute der Fall <strong>ist</strong>- von einer Gruppe als sittenwidrig und<br />
von einer anderen als korrekt bezeichnet.<br />
In der heutigen Gesellschaft entfremdet sich die Tochter- auch ohne eigenes<br />
Verschulden- der Mutter. Ein Altersunterschied von zwanzig oder dreißig Jahren<br />
macht Mutter und Tochter zu Menschen, die zwei verschiedenen Gesellschaften,<br />
geschichtlichen, kulturellen, sprachlichen und weltanschaulichen Epochen<br />
angehören. Ihre Bindungen bestehen nur auf der Geburtsurkunde: die einzige<br />
Gemeinsamkeit ihres Lebens <strong>ist</strong> die gemeinsame Adresse.<br />
<strong>Die</strong>sen Antagonismus und geschichtlichen Abstand zweier Generationen und<br />
zweier Menschentypen erleben wir ebenfalls im sozialen Leben: Eine<br />
Schafherde verirrt sich z.B. auf die asphaltierten Straßen von Teheran; vor den<br />
Augen der Bevölkerung melkt der Hirte die Schafe, um dem Milchbedarf der<br />
Hauptstadt nachzukommen. Gleichzeitig gibt es aber auch pasteurisierte<br />
Milchprodukte. Ebenso kann man hier ein Kamel neben einem Sportwagen der<br />
Marke Jaguar bewundern- ein Unterschied von Adams Zeiten bis zum<br />
elektronischen Zeitalter. Auf diesen Strassen bewegen sich Schulter an Schulter<br />
Mütter und Töchter, die in Wirklichkeit auch Jahrhunderte voneinander trennen.<br />
Religion und Tradition<br />
<strong>Die</strong> Einheit dieser Gegensätze <strong>ist</strong> keine natürliche und bleibende Einheit. Es <strong>ist</strong><br />
offensichtlich, das von diesen beiden Typen der eine (Mutter) dem Untergang<br />
geweiht <strong>ist</strong> und sich gerade noch mit der Kraft und nach alter Gewohnheit am<br />
Leben hält. Der andere (die Tochter) beginnt gerade die ersten Tage des Lebens.
Sicherlich wird jene in der nächsten Generation schon der Vergangenheit<br />
angehören und diese selbst Mutter sein, ohne in die alte Lebensweise der<br />
vergangenen Generationen zurückzufallen zu müssen. In der nächsten<br />
Generation werden Mutter und Tochter wieder einheitlich. Der speziale und<br />
zeitliche Vorsprung wird ausgeglichen wie zu Zeiten der Mutter und<br />
Großmutter. <strong>Die</strong> Tochter <strong>ist</strong> wieder das Kind der Familie, eine Kopie, die mit<br />
dem Original übereinstimmt. <strong>Die</strong>ser Entwicklungsprozess <strong>ist</strong> unvermeidlich.<br />
Wer diese Tatsache- ob sie ihm gefällt oder nicht- nicht anerkennt und die<br />
betreffenden Personen beschimpft, verleumdet, beleidigt, verprügelt,<br />
unterdrückt, ins Gefängnis wirft und ein gewaltiges Palaver macht, um die<br />
Entwicklung der Dinge anzuhalten, müht sich umsonst. Damit erreicht er nur<br />
das Gegenteil; denn ein solches Verhalten beschleunigt erfahrungsgemäß den<br />
Lauf der Veränderungen.<br />
<strong>Die</strong>jenigen, die als Führer und Denker und im Namen des Glaubens, der<br />
Überzeugung, Religion und Sittigkeit alte Sitten und Gebräuche nur deswegen<br />
rechtfertigen und heilig sprechen, weil sie der Lebensweise und den Traditionen<br />
der Väter und der früheren Generationen entsprechen, und versuchen, sie zu<br />
konservieren, verwechseln die Religion mit dem Althergebrachten. Daher<br />
bezeichnen sie auch jede Art von Veränderung, sogar in der Kleidung und<br />
Schminke, als Gotteslästerung.<br />
Sie verwechseln den Konservatismus, den Traditionalismus, die Nostalgie, die<br />
Furcht vor Erneuerung und die Abneigung gegen Reformen und<br />
Modernisierung, die die Symptome der Resignation sind, mit dem Islam.<br />
Von der Frau erwarten sie, das sie so bleibt, wie sie <strong>ist</strong>, weil sie schon immer so<br />
gewesen <strong>ist</strong>, weil sie sich daran gewöhnt haben und weil dieser Zustand mit<br />
ihren Interessen übereinstimmen. <strong>Die</strong> Frau soll ewig so bleiben weil der Islam es<br />
so gewollt habe. <strong>Die</strong> Religion habe dieses Verhältnis geschaffen und daran<br />
dürfte bis zum Jüngsten Tag nichts verändert werden. <strong>Die</strong> Welt verändert sich,<br />
alles verändert sich, Vater und Sohn haben sich verändert. <strong>Die</strong> Frau jedoch<br />
müsse in ihrem alten Zustand verharren; der Prophet habe nur dem Frömmler<br />
zuliebe der Frau diese endgültige Lebensform befohlen.<br />
<strong>Die</strong>se Argumentation <strong>ist</strong> irreführend und schädlich. Man kann den<br />
Entwicklungsprozess nicht anhalten; die Frau will und muss sich verändern,<br />
weil die Zeiten anders geworden sind. <strong>Die</strong> Gesellschaft <strong>ist</strong> in der Umwandlung<br />
begriffen, Sitten und Gebräuche nehmen andere Formen an. <strong>Die</strong> unverfälschte<br />
Wahrheit bleibt im Grunde immer bestehen. Nur die Formen der Wahrheit sind<br />
vergänglich.<br />
Wenn wir Unklugerweise darauf bestehen, die Formen beizubehalten, wird die<br />
Bewegung der Zeit uns überrollen und Form und Inhalt gemeinsam zerstören.
Es <strong>ist</strong> also eine sinnlose Argumentation, der die Gesellschaft weder folgen kann<br />
noch wird. Sie setzt die vergänglichen Sitten und Traditionen mit der Religion<br />
gleich und versucht, sie mit ihrer Hilfe zu erhalten. Dadurch haftet der Religion<br />
der Ruf der Abgenutztheit und Vergänglichkeit an, der dazu führt, das sie<br />
ebenso wie die Tradition verloren geht.<br />
Wenn wir die Religion mit der Tradition gleichsetzen, den unvergänglichen<br />
Islam zum Wächter über die vergänglichen Formen des Lebens und der<br />
Gesellschaft machen und die Religion mit den überlieferten völkerischen<br />
Meinungen, kulturellen und geschichtlichen Erscheinungen verwechseln,<br />
brauchen wir uns nicht zu wundern, das die Religion und der Islam von den<br />
Veränderungen der Zeit, die alten Sitten, Gebräuche, Traditionen,<br />
Lebensformen, Gesellschaftsverhältnisse und völkerischen und geschichtlichen<br />
Überlieferungen erfassen, nicht verschont bleiben.<br />
Erleben wir denn diese Fehler nicht oft genug in unserer Zeit?<br />
Sunna des Propheten<br />
<strong>Die</strong> Sunna des Propheten, der im Islam eine große Bedeutung beigemessen wird,<br />
sind Worte und Willensäußerungen des Propheten, die den Inhalt der als Hadis<br />
bezeichneten Überlieferung bilden. Darüber hinaus gibt es Überlieferungen über<br />
die Handlungen, die entweder vom Propheten gutgeheißen oder geduldet<br />
wurden, oder aber von ihm selber vollzogen wurden. Sie bilden den Inhalt der<br />
als Taghir bezeichneten Überlieferungen.<br />
Mit Sunna bezeichnet man also die Aussagen und Handlungen des Propheten.<br />
Daraus <strong>ist</strong> zu folgern, das es im Islam ebenfalls zwei Arten von Geboten gibt:<br />
1. Gebote, die vor dem Islam bestanden und von dem Propheten bestätigt<br />
wurden.<br />
2. Gebote, die vom Islam eingeführt wurden.<br />
Ich meine, neben diesen beiden Grundsätzen, d.h. dem Grundsatz der bestätigten<br />
oder eingeführten Gebote und dem der Aussagen und Handlungen des<br />
Propheten, noch einen dritten Grundsatz erkennen zu können, der meines<br />
Erachtens noch bedeutender <strong>ist</strong> als die beiden anderen, und zwar die<br />
Arbeitsmethode des Propheten, d.h. die Methode, die Taktik und die Strategie,<br />
die er bei der Erfüllung seines Auftrages anwandte.
Besondere Methode des Propheten<br />
Wenn der Prophet mit einer reformbedürftigen sozialen Lebensform konfrontiert<br />
wurde, wandte er eine Methode an, die heute zur Lösung mancher sozialer<br />
Probleme für uns beispielhaft sein kann, auch wenn zwischen den Problemen<br />
seiner Zeit und unseren heutigen Problemen keine Ähnlichkeiten bestehen. Trotz<br />
der besonderen Bedeutung dieses Punktes begnüge ich mich aus Zeitmangel mit<br />
nur einem Beispiel:<br />
In vorislamischer Zeit ex<strong>ist</strong>ierte der Brauch der als Ghosl bezeichneten rituellen<br />
Waschung. Er beruhte auf einem Aberglauben. <strong>Die</strong> vorislamischen Araber<br />
glaubten, das der unreine Mensch von Dämonen und dem Teufel besessen sei,<br />
das sein Körper, sein Blick und seine Seele solange unrein und besessen blieben,<br />
bis er sich ins Wasser begeben habe. Wenn also der vorislamische Araber die<br />
rituelle Waschung vornahm, so geschah dies in der Absicht, den Teufel<br />
auszutreiben.<br />
Drei Verfahrensweisen<br />
Zur Bekämpfung solcher Schwierigkeiten und Reformierung der Gesellschaft<br />
gibt es je nach Weltanschauung und ideologischer Schule drei<br />
Verfahrensweisen:<br />
1. Das traditionelle und konservierende Verfahren (Traditionalismus und<br />
Konservatismus) Der konservative Führer schützt den oben erwähnten<br />
Brauch, auch wenn er auf Aberglauben beruht, weil er eine Tradition sei;<br />
der Konservative und der Traditional<strong>ist</strong> seien aufgerufen, die Tradition zu<br />
schützen, weil sie den Zusammenhalt der Nation gewährle<strong>ist</strong>e.<br />
2. Revolutionäres Verfahren (Revolutionismus) Der revolutionäres<br />
Verfahren bricht abrupt und entschieden mit diesen Bräuchen, weil sie auf<br />
reaktionären und dekadenten Traditionen beruhen.<br />
3. Das reformierende und fortentwickelte Verfahren (Reformismus und<br />
Evelutionismus) Der Reform<strong>ist</strong> versucht, eine Tradition allmählich zu<br />
verändern, indem er schrittweise die gesellschaftlichen Möglichkeiten<br />
dafür schafft, also ein Mittelweg zwischen den beiden anderen Wegen.<br />
Der Prophet wendet jedoch ein anderes Verfahren an. Er lässt die Tradition, die<br />
in der Gesellschaft tiefe Wurzeln geschlagen hat und an die sich die Menschen<br />
seit Generationen gewöhnt haben, weiterbestehen, verbessert die Form und<br />
ändert den Inhalt und den Ge<strong>ist</strong> dieser dem Aberglauben entsprungenen<br />
Tradition auf revolutionäre Weise.
Der Konservative begründet sein Verfahren folgendermaßen: Wenn wir die<br />
Tradition verändern, werden die Gesellschaftsverhältnisse, die durch die<br />
Traditionen erhalten geblieben sind und den Körper der Gesellschaft wie das<br />
Nervensystem funktionsfähig halten, auseinanderbrechen und die Gesellschaft<br />
werde plötzlich von einer gefährlichen Unordnung erfasst. Anarchie oder<br />
Diktatur seien die unvermeidlichen Folgen der Revolution; denn eine<br />
revolutionäre Abschaffung der sozialen und kulturellen Traditionen bringe die<br />
Gesellschaft aus dem Gleichgewicht. <strong>Die</strong> Folgen stellten sich ein, nachdem die<br />
Revolution abgeebbt sei.<br />
Der Revolutionär argumentiert wiederum anders: Wenn wir die alten<br />
Traditionen bestehen lassen, reden wir der Fortschrittsfeindlichkeit und dem<br />
Stillstand das Wort. Daher sei der echte Führer derjenige, der uns von allen<br />
schablonenhaften Denkstrukturen, die auf unserer Denkweise und<br />
Weltanschauung lasten, befreit, unsere Verbindungen mit alten Sitten und<br />
Gebräuchen unterbricht und sie durch neue Regeln ersetzt; sonnst würde er eine<br />
dekadente, reaktionäre und unbewegliche Gesellschaft geduldet haben.<br />
Der Reformator, der die Fehler der revolutionären und der traditional<strong>ist</strong>ischen<br />
Methode vermeiden möchte, geht einen dritten Weg, indem er die Entwicklung<br />
ruhig und schrittweise vorantreibt und sich des öfteren mit der äußerlichen<br />
Verbesserung einer unangenehmen Sache begnügt, statt sie schnell und<br />
unmittelbar zu beseitigen und durch andere zu ersetzen.<br />
<strong>Die</strong>se Methode versucht, die Gesellschaft vom Stillstand und von verkrusteten<br />
traditionellen Strukturen zu befreien. Um jedoch kein Chaos in der Gesellschaft<br />
entstehen zu lassen, versucht sie, die gesellschaftlichen und ge<strong>ist</strong>igen<br />
Vorrausetzungen schrittweise zu schaffen, um das Bestehen zu reformieren und<br />
die Gesellschaft durch Evolution zum Ziel zu führen. Sie vermeidet<br />
grundlegende Umwälzungen und beabsichtigt, langfr<strong>ist</strong>ig mit einem Stufenplan<br />
das Ziel zu erreichen. <strong>Die</strong> schrittweise fortschreitenden Reformen haben jedoch<br />
me<strong>ist</strong>ens den Nachteil, das sie in der langen Zeit ihrer Durchführung den<br />
reaktionären und feindlichen Widerständen von innen und außen ausgesetzt und<br />
zweckentfremdet, gestoppt oder sogar rückgängig gemacht werden.<br />
Wenn wir z.B. das moralische Verhalten der Jugend und die Denkweise der<br />
gesamten Bevölkerung allmählich verändern wollen, könnte es uns passieren,<br />
das uns die die Gesellschaft beherrschenden dekadenten und demagogisch<br />
ausgerichteten Kräfte aus dem Wege räumen, bevor wir unser Ziel erreicht<br />
haben. <strong>Die</strong> Führer, die an allmähliche Reformen der Gesellschaft über einen<br />
relativ großen Zeitraum glauben, mögen logisch gedacht haben. Was sie aber in<br />
ihr Kalkül nicht einbeziehen, sind die gegen die Reformen gerichteten Kräfte,<br />
die schon immer die lange Zeit, die ihnen die allmählichen Reformen
naturgemäß lassen, genutzt haben, um die Reformen zu verhindern und<br />
rückgängig zu machen.<br />
Der Prophet aber hatte eine besondere Methode für seinen sozialen Kampf und<br />
die Durchführung seines Führungsauftrages entwickelt, die keine der<br />
Schwächen der drei üblichen Methoden aufwies und ihn bei der Bekämpfung<br />
der negativen und lähmenden Traditionen schneller zum Ziel führte: Er ließ die<br />
Formen der Tradition bestehen, veränderte aber ihren Inhalt grundlegend.<br />
Was die rituelle Waschung anbetrifft- sie war, wie schon erwähnt, eine auf<br />
Aberglauben beruhte Tradition der vorislamischen Araber – , so würde die<br />
traditionelle Methode sie erhalten, die revolutionäre Methode sie mit Gewalt<br />
verbieten und die reform<strong>ist</strong>ische Methode versuchen, die Menschen allmählich<br />
so weit aufzuklären, das sie nicht mehr an Zauberkräfte, Besessenheit vom<br />
Teufel und Dämonen und die Unreinheit des Blickes und der Seele glauben. Der<br />
Prophet aber hat durch die Verbesserung ihrer Form und die grundlegende<br />
Veränderung ihres Inhaltes ohne große Mühe daraus eine hygienische Tradition<br />
gemacht.<br />
Er hat die Wallfahrt nach Mekka, die in vorislamischer Zeit und nach Abraham<br />
zu einer rass<strong>ist</strong>isch-arabischen Tradition des Aberglaubens verkommen war und<br />
zum Götzendienst wowie dem wirtschaftlichen Vorteil des Stammes der<br />
Quraisch genutzt wurde, im Islam nicht abgeschafft. Aufgrund der dieser<br />
Tradition innewohnenden Möglichkeiten – nämlich ihre Zurückführung auf<br />
Abraham als Erbauer der Kaaba- hat sie der Prophet nach einer grundlegenden<br />
inhaltlichen Veränderung in den <strong>Die</strong>nst seiner Sache gestellt. Er hat die<br />
Wallfahrt nach Mekka, die zu einem gesellschaftlichen und traditionellen<br />
Instrument zur Wahrung der Interessen der Quraisch und Mekkaner geworden<br />
war, in eine umfassende und schöne Tradition des Monotheismus und der<br />
Einheit der Menschen verwandelt.<br />
Der Prophet hat mit einer revolutionären Tat die auf Götzendienst<br />
zurückgehende, rass<strong>ist</strong>ische Tradition der Wallfahrt in eine inhaltliche<br />
gegensätzliche Tradition umgewandelt. Trotz dieser revolutionären und<br />
sprunghaften Veränderung hatten die Araber weder das Gefühl, das ihre Welt in<br />
Unordnung sei, noch das Gefühl, mit ihren geheiligten Wertvorstellungen<br />
gebrochen zu haben.<br />
Im Gegenteil, sie waren der Meinung, nach dieser Reinigung und Läuterung<br />
ihrer Tradition sie eher wiederbelebt und erst richtig ausgeübt zu haben. Von der<br />
Götzenverehrung zum Monotheismus <strong>ist</strong> ein Entwicklungsprozess von mehreren<br />
Jahrhunderten und geschichtlichen Epochen notwendig.
Der Prophet bewältigte diesen zeitlichen Abstand schneller und abrupter als jede<br />
kulturelle und ge<strong>ist</strong>ige Revolution, ohne in der Gesellschaft das Gefühl zu<br />
hinterlassen, das er mit der Vergangenheit gebrochen und alle Institutionen<br />
zerschlagen habe. <strong>Die</strong>se Methode des Propheten bei seiner Gesellschaftsarbeit<br />
kann man „innere Umwälzung der Tradition unter Bewahrung ihrer verbesserten<br />
Form“ nennen.<br />
Ich hoffe, mit diesen Beispielen zur Erläuterung dieser Frage beigetragen zu<br />
haben, obwohl ich dabei in Kauf nehmen muss, das das Beispiel der Wallfahrt<br />
nach Mekka einigen missfallen wird. Der Konservative versucht also, die<br />
Tradition um jeden Preis zu erhalten. Er <strong>ist</strong> sogar bereit, sich ohne andere dafür<br />
zu opfern.<br />
Der Revolutionär hingegen möchte alles auf einen Schlag umwälzen und<br />
zerstören. Er wagt einen weiten Sprung nach vorn, auch dann, wenn die<br />
Gesellschaft darauf nicht vorbereitet <strong>ist</strong> und dagegen Widerstand le<strong>ist</strong>et. Der<br />
Revolutionär <strong>ist</strong> möglicherweise gezwungen, nicht nur gegen Feinde des<br />
Volkes, sondern auch gegen die Volksmassen hart durchzugreifen,<br />
Massenvernichtungen durchführen zu lassen und grausam zu handeln.<br />
Der Reformator gibt dem Missetäter Gelegenheit zur Reaktion. Der Prophet<br />
jedoch wendet eine Methode an, die, wird sie richtig verstanden, eindeutige<br />
Anweisungen enthält. Unter Anwendung dieser Methode <strong>ist</strong> es möglich, sich<br />
gegen die alte Tradition, die toten Kulturen, entstellte und betäubende<br />
Religionen und in der Gesellschaft tief verwurzelt reaktionäre Ideen zu<br />
behaupten und revolutionäre Ziele zu erreichen, ohne die unangenehmen Folgen<br />
einer revolutionären Methode in Kauf nehmen zu müssen, mit den alten<br />
Glaubensgrundsätzen der Gesellschaft in Konflikt zu geraten, sich dem Volk zu<br />
entfremden und von ihm verurteilt zu werden.<br />
Realismus im <strong>Die</strong>nste des Idealismus<br />
Es <strong>ist</strong> bezeichnend für den Islam, das er sich auf die objektiven und zwingenden<br />
Gegebenheiten der Gesellschaft einstellt und sie nicht leugnet. Er vertritt auch<br />
hier eine besondere Anschauung. In einer ideal<strong>ist</strong>ischen Anschauung dienen die<br />
höchsten und idealisierten Werte als Maßstab. Gegebenheiten, die mit ihnen<br />
nicht übereinstimmen, werden nicht geduldet, sondern verdammt, verleugnet<br />
und vernichtet. Empörung, Rachegefühl, Sexualität, Vergnügungs- und<br />
Habsucht sind nun einmal objektiv gegeben.
Der moralische Idealismus (Askese) und der religiöse Idealismus (Chr<strong>ist</strong>entum)<br />
wollen sie ignorieren, ihre Ex<strong>ist</strong>enz verleugnen und sie unter allen Umständen<br />
verurteilen.<br />
Im Gegensatz dazu nimmt die real<strong>ist</strong>ische Anschauung alle Tatsachen<br />
(Realitäten) als gegeben hin und akzeptiert sie, wie z.B. die Homosexualität in<br />
England oder die Aggression in Palästina. <strong>Die</strong> Katholische Kirche verbietet zur<br />
Erhaltung der Familie die Scheidung mit der Begründung, das die Treue<br />
zueinander und die Aufrechterhaltung der Familien- und Ehegemeinschaften ein<br />
heiliges Ideal seien. Tatsächlich aber können nicht alle Menschen unter allen<br />
Umständen diese heilige Bindung aufrechterhalten und einander treu bleiben. Es<br />
kommt vor, das sich zwei Menschen im Laufe ihres gemeinsamen Lebens<br />
entfremden und unglücklich nebeneinander leben, jedoch notgedrungen<br />
zusammenbleiben.<br />
Aber nicht das Band der Liebe, sondern das Band der Religion hält sie<br />
zusammen! Sie, die gezwungenermaßen miteinander leben, könnten getrennt<br />
voneinander, gemeinsam mit anderen, glücklicher sein. Das <strong>ist</strong> eine Realität, die<br />
schon immer ex<strong>ist</strong>iert hat. Jeder, ob zivilisiert oder nicht- zivilisiert, religiös<br />
oder areligiös, kann sich damit konfrontiert sehen. <strong>Die</strong> Stat<strong>ist</strong>iken legen<br />
beredtes Zeugnis von dieser Realität ab. Das Chr<strong>ist</strong>entum jedoch verleugnet sie<br />
im Namen der heiligen Bande der Ehe. Es hält in manchen Häusern, in denen im<br />
Inneren die Hölle los <strong>ist</strong> oder sich Verbrechen, Verrat und Unsittlichkeit<br />
eingen<strong>ist</strong>et haben, gewaltsam die Türen von außen verschlossen. <strong>Die</strong> Tür zur<br />
Scheidung bleibt verschlossen, aber hundert unerlaubte Fensterchen sind<br />
geöffnet.<br />
Das Konkubinat<br />
<strong>Die</strong> Realitäten der Gesellschaft suchen sich ihren Weg durch die Hintertür, wenn<br />
man ihnen die Eingangstür versperrt. Daher führt das Verbot der Scheidung zu<br />
Konkubinat und außerehelichen Zusammenleben. Männer und Frauen, denen ein<br />
Zusammenleben mit ihren angetrauten Ehepartnern unmöglich geworden <strong>ist</strong>,<br />
trennen sich von ihnen, ohne sich jedoch scheiden zu lassen, und leben mit<br />
anderen Frauen bzw. Männern unter einem Dach.<br />
Erschreckende Stat<strong>ist</strong>iken zeigen, das die Kinder dieser natürlichen, aber nichtehelichen<br />
Paare in den me<strong>ist</strong>en Fällen psychisch krank, kriminell und<br />
gesellschaftsfeindlich werden. Nicht selten gelangen Ehepartner zu der Einsicht<br />
das sie sich einander derart entfremdet haben, das sie nicht einmal mehr<br />
imstande sind, ein gutnachbarliches Leben miteinander zu führen, geschweige<br />
denn ein Ehe- und Sexualleben.
Es <strong>ist</strong> nur zu natürlich, das sie im Verlaufe ihres weiteren Lebens andere Partner<br />
finden und mit ihnen ein neues Leben beginnen; Partner, die ihnen aus<br />
gesellschaftlichen oder sexuellen Gründen besser zusagen. Auf den Ruinen eines<br />
Hauses entstehen zwei neue.<br />
Das ideal<strong>ist</strong>ische Chr<strong>ist</strong>entum akzeptiert diese Realitäten, die von den<br />
Ehepartnern nicht verhindert werden konnten, nicht. Es verschließt die Augen<br />
vor den Tatsachen. Es erkennt nur jedes schon längst zerstörte und nur in der<br />
Einbildung weiterex<strong>ist</strong>ierende Haus an, dessen Materialien inzwischen zum<br />
Aufbau eines anderen Hauses verwendet worden sind. <strong>Die</strong> beiden objektiv<br />
ex<strong>ist</strong>ierenden natürlichen Familien werden jedoch verleugnet.<br />
Hier erkennt man deutlich eine Diskrepanz zwischen den Geboten der Religion<br />
und der Realität. Folglich wird eine nicht-ex<strong>ist</strong>ente Familie als eine chr<strong>ist</strong>liche<br />
Familie anerkannt, während eine reale und natürliche Familie als nicht-ex<strong>ist</strong>ent<br />
angesehen und als ein Herd der Unzucht und Sünde betrachtet wird.<br />
<strong>Die</strong>ser Ablehnung <strong>ist</strong> es zu verdanken, das die nachfolgenden Familien nicht<br />
ehelich sind und die Kinder, die aus diesem natürlichen Zusammenleben der<br />
sich vertragenden und treuen Partner hervorgehen, in einer religiösen<br />
Gesellschaft als Bastarde und Kriminelle angesehen werden.<br />
<strong>Die</strong>se Menschen, denen die Zuneigung der Gesellschaft und die Reinheit der<br />
Familien vorenthalten und die als Kinder der Sünde betrachtet werden,<br />
bekommen Komplexe, die sie mit unvorstellbaren Verbrechen an der<br />
Gesellschaft abreagieren.<br />
Einer der Gründe, warum in Europa, insbesondere aber in Amerika, so viele<br />
Verbrechen geschehen, die in rückständigen und unzivilisierten Gesellschaften<br />
nicht vorkommen, liegt darin, das diese Gesellschaften zwar Zivilisation, Kultur,<br />
Moral, Bildung sowie individuelle und soziale Freiheiten besitzen, ihre junge<br />
Generation jedoch derart mit Komplexen beladen <strong>ist</strong>, das sie sich an der<br />
Gesellschaft aufs Grausamste rächen will.<br />
Ein junger Engländer hatte einen kleinen Apparat gebaut, mit dem man winzige<br />
Pfeile abschießen konnte. Er hatte ihn unter seinem Bauchladen angebracht und<br />
schoss die nadeldünnen Pfeile in die Menge, während er seine Zigaretten in<br />
Kinos und auf dichtbelebten Strassen verkaufte. <strong>Die</strong> giftigen Pfeile ließen die<br />
Menschen erblinden oder töteten sie. <strong>Die</strong> Polizei konnte den Mörder nicht<br />
finden, weil er ihn unter den Feinden der Ermordeten suchte. Der Mörder aber<br />
hatte überhaupt keine Verbindung zu den Ermordeten. Er tötete, weil die<br />
Getöteten Mitglieder einer Gesellschaft waren, die ihn verstoßen hatte.
<strong>Die</strong>se Art Verbrechen bedarf natürlich einer grundlegenden soziologischen<br />
Analyse. Sie sind zum Teil Folgen gestauter Komplexe, welche die Kirche<br />
mitverursacht hat, indem sie die Augen vor den Realitäten der Gesellschaft<br />
verschloss. Glücklicherweise sind solche Komplexe bei uns noch unbekannt. Da<br />
wir die Scheidung akzeptieren, gibt es in unsere Gesellschaft keine<br />
außerehelichen Familienbildung. Es gibt keine verdammten Familien, aber auch<br />
keine mit aller Gewalt und aus religiöser Notwendigkeit aneinandergeketteten<br />
Familienmitglieder.<br />
Bei manchen Kleinkindern macht man die Beobachtung, das sie die Augen<br />
schließen, wenn sie auf ihrem Weg auf Hindernisse stoßen. In ihrer Phantasie<br />
ex<strong>ist</strong>ieren die Hindernisse auf diese Weise nicht mehr; sie glauben, sie<br />
überwunden zu haben. Der Ideal<strong>ist</strong> gleicht einem Kind, das die Realität nicht<br />
sieht. Er will sie nicht sehen. Er verschließt die Augen vor dem Unliebsamen<br />
und Unerwünschten, und weil er sie nicht sieht, bildet er sich ein, das sie nicht<br />
ex<strong>ist</strong>ieren.<br />
Der Real<strong>ist</strong> verhält sich umgekehrt: Er akzeptiert alle Realitäten, so hässlich und<br />
schmutzig sie auch sein mögen, nur weil sie objektiv ex<strong>ist</strong>ieren; er fasst<br />
Zuneigung zu ihnen und glaubt an sie. Andererseits lehnt er jede Schönheit,<br />
Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit nur deswegen ab, weil sie mit den objektiven<br />
Gegebenheiten nicht übereinstimmen. Er verdrängt sie, weil sie ideal<strong>ist</strong>isch sind.<br />
Einer meiner Studenten, der zu der Sorte von Pseudo-Intellektuellen gehört, die<br />
zur Zeit in unserem Lande weitverbreitet sind, wusste auf alle von mir erörterten<br />
Themen nur die eine Erklärung, das er Anhänger des dialektischen<br />
Materialismus sei, ich dagegen ein religiösen Moslem. Er lehnte daher getreu<br />
dieser vorgefassten Meinung alles ab, was ich sagte. <strong>Die</strong> vom Marxismus<br />
übernommenen Thesen, die er nach obiger Aufgabeneinteilung eigentlich hätte<br />
akzeptieren müssen, stießen ebenfalls auf seine Ablehnung, weil ich sie vortrug<br />
und nicht erwähnt hatte, von wem sie stammten.<br />
Eines Tages behandelte ich in der islamischen Geschichte die Verbrechen der<br />
Umayyaden, die Klassengegensätze der damaligen Gesellschaft, die politische<br />
Unterdrückung und die Art und Weise, auf die man die Religion dazu benutzte,<br />
die bestehenden Ordnung zu rechtfertigen und den Glauben an göttliche<br />
Vorsehung zu verbreiten, um die Herrschaft der Umayyaden als eine von Gott<br />
gewollte und vorbestimmte Ordnung hinzustellen; dabei wurde erwähnt, wer<br />
sich gegen diese Ordnung erhoben und dagegen Widerstand gele<strong>ist</strong>et hatte.<br />
Mir fiel plötzlich auf, das den besagten Studenten etwas störte: Ich kritisierte die<br />
Umayyaden und erwähnte lobend <strong>Fatima</strong>, Ali, Abu Zar (14), Hadjar und<br />
Hussein als Führer einer Bewegung für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.<br />
<strong>Die</strong> Diskussion wurde nicht einmal unter Berücksichtigung religiöser,<br />
theologischer oder metaphysischer Kriterien geführt, sondern aufgrund
soziologisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse und klassenorientierter,<br />
progressiver Ideologie.<br />
Was hätte er nun als progressiver Intellektueller tun können?<br />
Sollte er meine Worte akzeptieren?<br />
Wie hätte er mich akzeptieren können?<br />
Dann fand er aber doch eine wissenschaftlichen-ideologische Lösung und schrie<br />
auf: „Das war eine h<strong>ist</strong>orische Notwendigkeit!“<br />
Mit anderen Worten, dieser h<strong>ist</strong>orische Prozess hätte sich nach der<br />
marx<strong>ist</strong>ischen Geschichtsphilosophie vollziehen müssen. Er wäre eine objektive<br />
h<strong>ist</strong>orische Realität. Ali, Hussein und Abu Zar wären demnach Ideal<strong>ist</strong>en, die<br />
sich gegen den unaufhaltsamen Entwicklungsprozess der Geschichte gestellt<br />
hätten.<br />
„Welch ein Intellektueller!“, sagte ich „das bestärkt mich in der Meinung:<br />
„Wenn Denkweise einer Gesellschaft einmal oberflächlich <strong>ist</strong>, so <strong>ist</strong> sie auch<br />
dann oberflächlich, gleichgültig, ob es sich um religiöse oder areligiöse,<br />
progressive oder reaktionäre, gelehrte oder ungebildete Menschen handelt“.<br />
Ist der Mensch religiös, so glaubt er an die göttliche Vorherbestimmung und<br />
daran, das alles, was geschieht, von Gott gewollt <strong>ist</strong>. Ist der Marx<strong>ist</strong>, so glaubt er<br />
an h<strong>ist</strong>orische Vorherbestimmung und daran, das alles, was geschieht, durch<br />
wissenschaftliche Ursachen und logische Determinanten der Umwelt, die sich<br />
dem Einfluss des Menschen entziehen, bewirkt wird. Da es sich hierbei um<br />
Realitäten handelt, sind sie annehmbar.<br />
Es <strong>ist</strong> erstaunlich, das die Umayyaden im Namen der Religion die Idee des<br />
Determinismus zu ihrer eigenen Rechtfertigung propagierten. Nun, dieser<br />
Pseudo-Intellektuelle will die Umayyaden mit dem h<strong>ist</strong>orischen Determinismus<br />
im Namen der Wissenschaft rechtfertigen.<br />
„Es war kein h<strong>ist</strong>orischer Prozess, der damals den Gang der Ereignisse<br />
bestimmte, sondern das Schwert,“ erwiderte ich ihm.<br />
Viele dieser Halbgebildeten verwechseln die Gewalt mit der h<strong>ist</strong>orischen<br />
Notwendigkeit. Wie wir sehen, nehmen die Real<strong>ist</strong>en die Dinge so, wie sie sind,<br />
nicht aber so, wie sie nach ideal<strong>ist</strong>ischem Verständnis sein sollen.<br />
<strong>Die</strong> Gesetzesvorlage über die Päderastie wurde im englischen Parlament damit<br />
verteidigt, das die Homosexualität eine objektive Realität in der Gesellschaft sei,<br />
die gesetzlich erlaubt sein müsse; es sei utopisch und ideal<strong>ist</strong>isch, dagegen<br />
angehen zu wollen.
Sehen Sie nicht, wie die Politiker und Pseudo-Intellektuellen argumentieren, das<br />
Israel eine Realität und die Rückkehr der Palästinenser in ihre von den Israelis<br />
besetzte Heimat eine Utopie sei?<br />
<strong>Die</strong> Tatsache gleichgültig, ob sie unmenschlich oder verbrecherisch sei, bestehe<br />
nun einmal; daher nehmen wir sie hin und erkennen sie an. Kolonialismus <strong>ist</strong><br />
ebenfalls eine Realität, Unterdrückung und Ausbeutung nicht weniger.<br />
Der Real<strong>ist</strong> <strong>ist</strong> ein aufgeklärter und toleranter Mensch, der objektiv und mit<br />
wissenschaftlichem Real<strong>ist</strong>isch, subjektiven und irrealen Gedanken<br />
beeinflussen.<br />
Wie wir sehen, sind die ideal<strong>ist</strong>ischen Denker und Reformatoren sowie die<br />
ideal<strong>ist</strong>ische Partei und Gesellschaft aufgefordert, den hohen, wenn auch<br />
unerreichbaren Idealen nachzueifern. Dabei werden die unangenehmen<br />
Tatsachen, die objektiven Hindernisse und die unvermeidlichen Gegebenheiten<br />
der Gesellschaft ignoriert und auf ungeschickte Weise verdrängt, die hässliche<br />
Realität wird gemieden, eine subjektive, utopische und absolut heile Welt<br />
erdacht.<br />
Der Ideal<strong>ist</strong> weiß es nicht, das er in einer ganz anderen , wirklichkeitsfremden<br />
Welt lebt. Seine Gedanken und Gefühle sind in seiner objektiven Umwelt nicht<br />
mehr ex<strong>ist</strong>ent. Sie sind dort, wo er selbst nicht <strong>ist</strong>. Mit anderen Worten, der<br />
Ideal<strong>ist</strong> lebt zwischen Wirklichkeit und Einbildung. Er <strong>ist</strong> ein revolutionärer<br />
Führer, der zerstört, aber nicht aufbauen kann. Er <strong>ist</strong> der Fortschrittlichste in<br />
seinen Äußerungen und der Rückständigste in seinen Taten. <strong>Die</strong> Gesellschaft,<br />
die er aufbaut, <strong>ist</strong> zwar auf dem Papier vollkommen, taugt aber nicht für die<br />
Menschen. Daher <strong>ist</strong> der Staat Platons vollkommener als der Staat Mohammads.<br />
Er <strong>ist</strong> aber nach den Worten Platons für den Himmel geschaffen, nicht für die<br />
Erde, denn der ideale Staat, die Utopia, ex<strong>ist</strong>iert nur in der Einbildung.<br />
Im Gegensatz dazu verhindert der Realismus den Ge<strong>ist</strong>es- und Gedankenflug,<br />
vereitelt das Streben nach den Idealen und der Vollkommenheit und hält den<br />
Menschen auf dem Boden der Realität im Rahmen der bestehenden Werte<br />
gefangen. Dadurch erlahmt die Kraft zu Kreativität, Auflehnung, tiefgreifenden<br />
Veränderungen im Leben, in der Gesellschaft und in der Denkweise der<br />
Menschen; der Mensch wird dazu erzogen, sich mit den Gegebenheiten<br />
abzufinden und sie so hinzunehmen, wie sie sind.<br />
Der Realismus vergiftet den Hungernden, während der Idealismus ihn<br />
verhungern lässt.
Weder Idealismus noch Realismus, sondern<br />
beide<br />
Was den Islam betrifft, so <strong>ist</strong> er wie ein Licht, das weder östlich noch westlich<br />
ausgerichtet <strong>ist</strong>. (vgl. Koran 24/35: „Sie brennen von einem gesegneten Baum,<br />
einem Ölbaum, der weder östlich noch westlich <strong>ist</strong>.“<br />
Er <strong>ist</strong> gleichsam wie ein guter Baum, dessen Wurzel fest in der Erde sitzt und<br />
dessen Zweige in den Himmel ragen. Im Gegensatz zum Idealismus nimmt er<br />
die bestehenden Realitäten des Alltags, des Ge<strong>ist</strong>eslebens, der<br />
zwischenmenschlichen Beziehungen, der gesellschaftlichen Verhältnisse und<br />
der Geschichte wahr, gibt wie der Realismus ihre Ex<strong>ist</strong>enz zu, erkennt sie aber<br />
im Gegensatz zu letzterem nicht an.<br />
Er verändert sie, er verändert ihr Wesen auf eine revolutionäre Art und Weise<br />
und stellt sie in <strong>Die</strong>nst seiner Ideale, Er benutzt sie als Mittel zum Zweck, um<br />
seine erreichbaren Ideale zu verwirklichen. Er findet sich mit den Realitäten<br />
nicht ab, sondern bedient sich ihrer. Er läuft vor ihnen nicht fort, sondern sucht<br />
und zügelt sie. Realitäten, die sich dem Ideal<strong>ist</strong>en als Hindernisse in den Weg<br />
stellen, werden zu Hilfsinstrumenten umfunktioniert.<br />
Ein Beispiel dafür <strong>ist</strong> das Konkubinat, das in Europa als außereheliches<br />
Zusammenleben verpönt <strong>ist</strong>. Es ex<strong>ist</strong>iert trotzdem noch heute in Europa und<br />
Amerika, sogar unter sehr frommen Gruppen (es kommt bei ihnen sogar<br />
möglicherweise noch häufiger vor). Der Islam hat Scheidung und die erneute<br />
Eheschließung sowie die Ehe auf Zeit (in besonderen individuellen und<br />
gesellschaftlichen Ausnahmefällen) akzeptiert.<br />
Hätte er sie nicht akzeptiert, so würden sie trotzdem praktiziert, allerdings mit<br />
dem Unterschied, das sie dann außer Kontrolle gerieten. Er akzeptiert sie als<br />
natürliche und unvermeidliche Realitäten, gibt ihnen einen gesetzlichen und<br />
religiösen Charakter, kann sie dann aber kontrollieren und mit den eigenen<br />
moralischen und rechtlichen Grundsätzen vereinen. So verpflichtet er beide<br />
Seiten, unterwirft sie den bestehenden Gesetzten, befreit die Männer und Frauen<br />
von dem Schuldgefühl und der Isolierung, festigt ihre Bindungen zu<br />
moralischen und religiösen Grundsätzen durch die Legalisierung ihrer<br />
Handlung, lässt ihre Kinder in einer natürlichen und gesundenden Umwelt<br />
aufwachsen und fordert die Gesellschaft auf, sie nicht als Früchte der Sünde und<br />
Unsittlichkeit zu betrachten.<br />
<strong>Die</strong>se Erfolge verzeichnet der Islam dadurch, das er die Ex<strong>ist</strong>enz einer sozialen<br />
und menschlichen Realität zugibt. Daher <strong>ist</strong> er imstande, die Folgen zu<br />
kontrollieren, ihnen eine gesetzliche Ordnung zu geben, ihre Form zu verbessern
und ihnen sittlich-moralisches Ansehen zu verleihen. Der Realitätssinn gibt uns<br />
daher die Kraft, das Bestehende zu kontrollieren und in die gewünschte<br />
Richtung zu leiten. Wenn wir die Wirklichkeit verleugnen, werden wir von<br />
unserem Ziel abgedrängt. <strong>Die</strong> Real<strong>ist</strong>en kommen zwar über die Beschäftigung<br />
mit der Wirklichkeit nicht hinaus, aber die Ideal<strong>ist</strong>en, die sie erst gar nicht sehen<br />
wollen, werden von ihr noch härter getroffen als die Real<strong>ist</strong>en, weil diese mit<br />
den Tatsachen vertraut sind. Da der Ideal<strong>ist</strong> sie jedoch nicht kennen und sehen<br />
will oder sie unwissend leugnet, <strong>ist</strong> er ihnen schutzlos ausgeliefert und wird von<br />
ihnen vernichtet.<br />
Oft genug haben wir erlebt, wie aus frommen Familien stammende Mädchen,<br />
die zu Hause vor dem männlichen Fisch im Aquarium den Schleier trugen, sich<br />
munter ins Abenteuer stürzten, sobald sie außer Hauses Gelegenheit dazu<br />
bekamen. Sie waren darauf bedacht, alles nachzuholen, was sie versäumt zu<br />
haben glaubten. Wir haben ebenfalls gesehen, wie sich die Herren aus den<br />
frommen und gottesfürchtigen Häusern bei der erstbesten Gelegenheit<br />
abreagierten und mit welcher Bereitwilligkeit die vormals frömmelnden Neo-<br />
Modern<strong>ist</strong>en, die in der ideal<strong>ist</strong>ischen Welt ihrer pseudo-religiösen Umgebung<br />
vom Verbot des Physik- und Chemiestudiums, der Schule und der<br />
Frauenbildung sprachen und darüber diskutierten, wie lang der Bart sein solle,<br />
ob man anstelle der Pferdedroschke ein Taxi nehmen dürfte, ob Gebete bei der<br />
Heilung von Krankheiten wirkungsvoller seien als Medikamente und Krawatte,<br />
langes Haar und die Verbreitung des Koran über Radio und Lautsprecher erlaubt<br />
seien, sich dem modernen Konsum und übertriebenen Luxus hingaben, sobald<br />
sie aus ihrer Scheinwelt gerissen und mit den neuen Realitäten konfrontiert<br />
wurden. Sie wurden sogar zum Gespött der Europäer, die mit diesen Realitäten<br />
lebten. Für sie war nichts Unnatürliches daran. Wir, die sie erst ignoriert hatten<br />
und dann mit ihnen konfrontiert wurden, wussten nicht viel mit ihnen<br />
anzufangen. Wir waren auf diese Konfrontation nicht vorbereitet. Da wir uns auf<br />
die Wirklichkeit nicht einstellen konnten, wurden wir von ihnen beherrscht.<br />
<strong>Die</strong> neue Zivilisation überschritt die Grenzen und riss die Festungen der<br />
Isolation nieder. Renaissance, Aufklärung, die Französische und die industrielle<br />
Revolution überrollten die Welt und veränderten sie. Auch unser Land blieb<br />
davon nicht verschont. Es war eine unabwendbare Notwendigkeit, das<br />
Elektrizität, Maschine, Buchdruck, Universität, Demokratie, Radio, Fernseher<br />
und Kino früher oder später den Weg zu uns fanden. Neue Technologien und<br />
Wissenschaften, Studium, Arbeit, Freiheit, Sozialrecht, Frauenemanzipation,<br />
Aufsässigkeit der neuen Generation, Aufhebung der völkischen und der<br />
Standesunterschiede, Entstehung von Banken und Verwaltungsorganisationen,<br />
Ausbreitung des Kapitalismus, Verdrängung der Traditionen, Erschütterung in<br />
der Klassengesellschaft, Verfall der alten Werte, Veränderung des<br />
gesellschaftlichen Verhaltens, Aufkommen der neuen Konsumverhaltens,<br />
Auseinandersetzung der westlichen Ideologien mit dem Islam, Gefährdung der
Welt durch Entstehung neuer Konfrontationen und vieles andere mehr haben die<br />
westliche Welt verändert.<br />
<strong>Die</strong> Führer des Volkes und die Wächter über Moral und Leben der Gesellschaft,<br />
deren Herzen immer noch an den alten und subjektiven Idealen hingen,<br />
verschlossen die Augen vor diesen unleugbaren Realitäten und versuchten, mit<br />
der Begründung, das die ersteren den Ungläubigen gehören, anstatt mit dem<br />
Taxi mit der Pferdedroschke zu fahren und neben der Elektrizität das Talglicht<br />
beizubehalten.<br />
„Willst Du Dich etwas über das Talglicht lustig machen?“ wurde empört<br />
gefragt, „bei diesem Licht haben Männer wie Koleini, Tusi, Seyyed Razi und<br />
Madjlesi ihre großen Werke geschaffen.“<br />
Welche Mittel und Pläne haben wir aufzubieten, um diesem Angriff zu<br />
widerstehen und von der schnelllebigen Zeit nicht überrollt zu werden?<br />
Ist es etwa damit getan, das wir die Augen verschließen oder nur rückwärts<br />
schauen und dann jammern und fluchen?<br />
Von den Höhen der Zivilisation, der Macht und der westlichen Politik raste die<br />
Walzmaschine des Modernismus auf die mittelalterlichen und rückständigen<br />
Täler zu, wo wir in tiefen Schlaf versunken waren. Unsere Beschützer und<br />
Verantwortlichen haben die Gefahr entweder nicht gesehen und uns weiterhin in<br />
den Schlaf gewiegt, oder aber sie haben sie gesehen und ihr dadurch begegnen<br />
wollen, das sie nur zurückschauten und unser Volk und seine Religion mit der<br />
Parole „Besinnt Euch auf die Religion“ in eine falsche Richtung getrieben.<br />
Sie bildeten sich ein, die Gefahr dadurch abwenden zu können, das sie ihr den<br />
Rücken zukehrten. Sie blieben stehen und wurden von dieser schnellen und<br />
schrecklichen Maschine erfasst, die das Leben und den Glauben des Volkes<br />
niederwalzte.<br />
Wir haben uns Unklugerweise geweigert, darauf zu fahren und wurden deshalb<br />
von ihr überrollt. Wir wollten in dieser Zeit und angesichts dieser Gefahr<br />
weiterhin auf einem Esel reiten und kamen unter die Räder. Wir wurden- sehr<br />
zum Vergnügen ihrer Erfinder- buchstäblich durch die Maschine gedreht.<br />
<strong>Die</strong> Verantwortlichen hatten wohl erkannt und vorausgesehen, das diese neuen<br />
Realitäten und ihr Angriff auf unsere Kultur die echten und ideellen Werte, die<br />
moralischen und Glaubensgrundsätze und die ge<strong>ist</strong>ige und kulturelle<br />
Unabhängigkeit dieser Gesellschaft in Frage stellen und das Volk ins Verderben<br />
stürzen würden. Auf diese gewaltige Kraft, welche die Regeln des Spiels<br />
bestimmte, neue Gesellschaftsverhältnisse aufzwang und sich selbst bei den<br />
entlegensten Stämmen und mitten in der Wüste ausbreitete, kannten sie indes<br />
nur eine Antwort : „Es <strong>ist</strong> Sünde!“
Radio? Kauft es nicht! Film und Fernsehen? Seht nicht zu! Lautsprecher? Hört<br />
nicht zu! Universität? Geht nicht hin! Neue Wissenschaft? Lernt nicht! Zeitung?<br />
Lest nicht! Stimme? Gebt nicht ab! Verwaltungsarbeit? Tut nicht! Frau?<br />
Erwähnt das Wort nicht!<br />
Sie stehen einem reißenden Strom der weltverändernden Industrie und einem<br />
Kapitalismus gegenüber, der sogar den Eskimos Kühlschränke verkauft, und<br />
wollen den alten Zustand ohne Abstriche verteidigen. Dem Angriff des Westens<br />
haben sie zwei Worte entgegenzusetzen: „Verboten“ und „Nein“!<br />
Zu welchem Ergebnis führte dies? Zudem, was wir heute sehen. <strong>Die</strong> Realitäten<br />
haben uns eingeholt, die Mauern heruntergerissen und die Schützengräben über<br />
ihren Verteidigern zerstört. Unsere Städte, Dörfer, Basare, Moscheen und Ernten<br />
wurden geplündert. In Abänderung der Worte des zerstörten Mannes aus<br />
Buchara, der über den Mongoleneinfall berichtete: „sie kamen, töteten,<br />
verbrannten und verschleppten“, muss man noch hinzufügen:“.. und blieben“.<br />
Warum? Weil sie von keinem gesehen wurden. <strong>Die</strong> Beschützer und Wächter<br />
unserer Grenzen konnten sie nicht leiden; sie hassten sie dermaßen, das sie nicht<br />
bereit waren, sie zu sehen. Sie waren nicht bereit, abzuwägen, zu verbessern, sie<br />
auf unsere Gegebenheiten einzustimmen, auszulesen, zu kontrollieren und für<br />
ihre Zwecke zu benutzen. Sie standen mitten auf der Strasse vor einem nichtbremsenden<br />
Wagen und ließen sich überfahren.<br />
So hilflos handelten unsere Väter. Daher müssen heute ihre verschleierten<br />
Töchter bei der Geburt ihres Kindes protestierend fragen, warum es nur<br />
männliche Frauenärzte gibt. Ihre Kinder müssen beim Besuch der Universität<br />
erstaunt fragen, ob sie sich bei der ge<strong>ist</strong>eswissenschaftlichen Fakultät nicht doch<br />
um eine Modenschau handelt. Ist das die Universität einer islamischen<br />
Gesellschaft?<br />
Findet man bei dieser Schule Anzeichen für islamische Moral?<br />
Ist das der Rundfunk eines islamischen Landes oder ein Leierkasten?<br />
Sind das Fernsehen, Presse und Parlament?<br />
Was sind das für Gesetze, die sie verabschieden?<br />
Sind diese Wucherzinsen verlangenden Geldinstitute Banken einer islamischen<br />
Nation?<br />
Was sind das für Übersetzungen, Filme, Theaterstücke, was <strong>ist</strong> das für Kunst,<br />
was für eine Zivilisation?<br />
Auf diese Proteste- so berechtigt sie auch sein mögen- muss man erwidern:<br />
„Wir haben kein Recht zu protestieren“.
In Abänderung der Worte von Hafez, wo es heißt: „Da unser Schicksal ohne<br />
unser Zutun vorherbestimmt wurde, klage nicht, wenn manches nicht nach<br />
Wunsch verläuft“.<br />
Als die neuen Realitäten entstanden und sich auswirkten, warst Du abwesend.<br />
Du liefst davon. Wenn Du Dich als Mann Gottes, als Mann der Religion, der<br />
Moral und des Islam, als der Verantwortliche für den Ge<strong>ist</strong> und die Denkweise<br />
einer islamischen Gesellschaft gekränkt in eine Ecke verkriechst, brauchst Du<br />
Dich nicht zu wundern, wenn durch Mirza Malkom Khan die neue Zivilisation,<br />
Industrie und Wissenschaft in unserer Gesellschaft eingebracht wird.<br />
Wenn sich der verantwortliche islamische Gelehrte vom Schlachtfeld „ der Zeit<br />
und des Lebens“ zurückzieht und in einem Winkel verkriecht, wenn er das Volk<br />
in Elend seinem Schicksal überlässt und in der Zurückgezogenheit seiner<br />
gemütlichen Ecke glaubt, den Himmel allein für sich verdienen zu wollen,<br />
diesseits Mühe in Amt und Würden sein zu können und jenseits zur ewigen<br />
Seligkeit bestimmt zu sein, braucht er sich nicht zu wundern, wenn schlaue<br />
Söldner und Kolonial<strong>ist</strong>en seine Stelle einnehmen und alles nach eigener<br />
Interessenlage gestalten.<br />
Wenn gerade in Entscheidenenden und schicksalhaften Zeiten die Stellvertreter<br />
des Imam (25) plötzlich wie der Imam selbst der Öffentlichkeit entrücken und<br />
ihren besonderen oder allgemeinen Vertretern die wichtige Verantwortung der<br />
Führung, der Aufklärung, der Verteidigung und der Fragen des Glaubens und<br />
des Kampfes überlassen, <strong>ist</strong> es nicht verwunderlich, wenn Männer wie Seyyed<br />
Kazim Raschti (26), Mirza Ali Mohammad Bab und Mirza Hossein Ali Baha<br />
(27)die Reformierung der Religion, Mirza Malkom Khan Latari und Führer der<br />
Freimaurer die modern<strong>ist</strong>ische und progressive Bewegung und Agha Djamal,<br />
Seyyed Hassan Taghizadeh, „Ein du-Doule (28), Mozaffareddin Schah (29) und<br />
Prinz Azdol Molk die polische und soziale Revolution in Iran anführen.<br />
Gerade zu der Zeit, als der Islam mit dem Westen und dem westlichen<br />
Kolonialismus konfrontiert war, waren wir- die Gruppe, die die islamische Front<br />
mit Verantwortung aufbauen sollte- vom Ort des Geschehens abwesend. In einer<br />
Epoche, als Mirza Ali Mohammad, Mirza Hossein Ali, Mirza Malkom Khan<br />
und Seyyed Hassan Taghizadeh in der Beeinflussung der Religion, der Politik<br />
und der Verwestlichung der Gesellschaft von allen Seiten tatkräftig unterstützt<br />
wurden, haben wir Seyyed Djamal (30), den Islam und das Volk allein gelassen-<br />
Wir haben Seyyed Djamal sogar verleumdet, aus der Gemeinschaft der<br />
Gläubigen ausgeschlossen, ihn „europhil“, „Material<strong>ist</strong>“, „Kirchendiener“ und<br />
„Bolschewik“ geschimpft und den rachsüchtigen Kolonial<strong>ist</strong>en und ihren<br />
Söldner überlassen, damit diese sich wegen der Belebung der islamischen und<br />
koranischen Parolen an ihm rächen und für die Zukunft ein Exempel statuieren.
Um den Lauf der Ereignisse zu beeinflussen und den Entwicklungsprozess der<br />
Gesellschaft in richtige Bahnen zu lenken, bedarf es großer und bewusster<br />
Anstrengungen.<br />
Wer dem Volk einredet, das Unhaltbare halten und das Unheilbare heilen zu<br />
können, wer ihm die Gefahren verschweigt und es überredet, das Unannehmbare<br />
anzunehmen, verführt die Massen und will die Gesellschaft in ihrer<br />
Rückständigkeit, Schwäche und Unterwürfigkeit konservieren.<br />
Wer aber eine dynamische Gesellschaft fordert und auf das Wohl der Menschen<br />
bedacht <strong>ist</strong>, wird nicht das Unhaltbare verteidigen und das Volk aus Furcht vor<br />
Prestigeverlust irreführen. Er wird nicht in den allgemeinen Lobgesang für die<br />
„Mode des Tages“ Miteinstimmen, um als „Mann des Tages“ anerkannt zu<br />
werden. Er sieht die Realitäten- ob sie ihm gefallen oder nicht- so, wie sie in<br />
unserer Gesellschaft ex<strong>ist</strong>ieren; er will die Ursachen der Krankheit erkennen, um<br />
sie heilen zu können.<br />
Er <strong>ist</strong> ein Mensch, der weiß, das die Zeit nicht stillsteht. Er weiß, das unsere<br />
traditionelle Gesellschaft der Erneuerung bedarf. Er spürt, ,das die Großmächte<br />
uns verändern wollen.<br />
Er <strong>ist</strong> weder so gleichgültig, alles ruhig Mitansehen zu können, noch so<br />
unverschämt, selbst Handlanger einer anderen Macht zu werden; er <strong>ist</strong> auch<br />
nicht unwissend, das er in das Hinterzimmer seines Hauses kriecht, wenn die<br />
ganze Stadt überschwemmt <strong>ist</strong>, denn er weiß, das es heute keine geschlossenen<br />
Familien und Gesellschaften gibt. Auch wenn man seine Tochter im<br />
Hinterzimmer einsperrt, wird sie dort vom Fernsehen erreicht und bekommt die<br />
neuesten Mitternachtsprogramme der Night Clubs zu sehen.<br />
Zwei Typen von Menschen<br />
In unserer Gesellschaft gibt es zwei Typen von Menschen: Einmal den<br />
fanatischen Typen, der seinen Mitmenschen im Namen der Religion und Moral<br />
und unzeitgemäß die veralteten Traditionen aufzwingen möchte, und, obwohl er<br />
weiß, das es ihm nicht gelingen wird, darauf besteht, sie bei der jüngeren<br />
Generation durchzusetzen.<br />
Der andere Typ, der sich als aufgeklärt, modern und freiheitsliebend versteht,<br />
glaubt, sich in den Angelegenheiten der jüngeren Generation zurückhalten zu<br />
müssen, um von ihr nicht der Rückständigkeit und Frömmigkeit bezichtigt zu<br />
werden; daher spielt er die progressive Rolle des Nichtstuns D.h. die Kinder<br />
handeln, während ihnen die Eltern, um als aufgeklärt zu gelten, die
Möglichkeiten dazu einräumen. <strong>Die</strong>se Zurückhaltung beruht weder auf<br />
Überzeugung noch auf Aufklärtheit. Sie <strong>ist</strong> vielmehr ein Zeichen der Schwäche,<br />
denn sie wissen, das ihnen auch noch der letzte Rest des äußerlichen Respekts<br />
verweigert wird, wenn sie sich einmischen.<br />
<strong>Die</strong>se beiden Typen sind an zwei verschiedenen Orten geformt worden: Einer in<br />
der Straße Tschahar Bagh in Esfahan , ungehobelt, hässlich, unnütz und verfault;<br />
der andere in den europäischen Gießereien, aalglatt, zierlich, vergänglich und<br />
hohl.<br />
<strong>Die</strong>se Typen beschreiten zwei Wege, falsche Typen auf dem Holzwege. Denn<br />
vor den Realitäten des Lebens steht der eine mitten im reißenden Strom und will<br />
ihn mit bloßen Händen aufhalten; weil es ihm aber nicht gelingt, schreit er<br />
weinend, verfluchend und anklagend. Der andere liegt regungslos neben dem<br />
Strom und <strong>ist</strong> ein unwürdiger Zuschauer. Er <strong>ist</strong> eben ein solcher „Papi“ oder eine<br />
„Mami“ neueren Zuschnitts, ein treues, stummes und gehorsames Arbeitspferd<br />
für „Jojo“ und „Logo“, ein Typ, der von morgens bis abends im Schweiße seines<br />
Angesichts lügt und betrügt, schmeichelt und tausenderlei Verrenkungen macht,<br />
um seine Taschen zu füllen, damit die „Kinderchen“ mit dem bescheidenen<br />
Ertrag den westlichen Geschäftsmachern entgegeneilen können.<br />
Beide Typen, der jammernde und verfluchende, der den Strom anhalten will,<br />
ebenso wie der andere, der regungslos zuschaut, erreichen dasselbe. Der<br />
reißende Strom sicht sich seinen Weg ungehindert durch die Stadt, zerstört alles<br />
und verwandelt sie in einen Sumpf. Beide Typen werden darin begraben.<br />
<strong>Die</strong> iranische Frau wurde erst einige Jahrhunderte später vom Schicksal der<br />
europäischen Frauen heimgesucht, natürlich mit einigen zusätzlichen Schlägen.<br />
<strong>Die</strong> europäische Frau, die wir in Iran kennen, ex<strong>ist</strong>iert in Europa nicht. Es gibt<br />
sie nur in Iran, und zwar nicht etwa auf der Straße, sondern im Fernsehen,<br />
Radio, in Frauenzeitschriften, im „Organ der Prostituierten“ und in der Sprache<br />
der europäischen angehauchten Modern<strong>ist</strong>en. <strong>Die</strong> europäische Frau, die wir<br />
kennen, <strong>ist</strong> „Made in Iran“, eine eigene Montage.<br />
<strong>Die</strong> Frauen, die wir auf den iranischen Frauenzeitschriften abgebildet sehen, gibt<br />
es natürlich auch in Europa, aber an besonderen Orten als Amüsierdamen. Sie<br />
sind für die europäische Frau nicht repräsentativ. Ebenso wenig repräsentativ für<br />
die iranischen Frauen sind jene Frauen, die sozusagen international sind.<br />
Wir dürfen allerdings nur einen besonderen Typ der europäischen Frau kennen<br />
lernen, nämlich den Typ, den uns Sexfilme, Zeitschriften, Fernsehsendungen<br />
und Romane als den eigentlichen Typ der europäischen Frau beschreiben.
Wir dürfen nicht den Typ der europäischen Frau kennen lernen, die mit 16<br />
Jahren in die Wüsten Afrikas und Australien fährt, ihr ganzes Leben in einer<br />
gefährlichen Umgebung zubringt und deren Tochter ihre Arbeit in der zweiten<br />
Generation fortsetzt, um im Alter von fünfzig Jahren nach Frankreich<br />
zurückzukehren und in der Universität sagen zu können, sie habe die Sprache<br />
der Ameisen entdeckt und einige ihrer Zeichen entschlüsselt.<br />
Wir dürfen nicht Madame Goichant kennen lernen, die ihr ganzes Leben dazu<br />
verwandt hat, den Ursprung der philosophischen Gedanken von Avicenna (31) ,<br />
Averroes, Molla Sadra und Molla Hadi Sabzewari in der griechischen<br />
Philosophie und den Werken des Ar<strong>ist</strong>oteles zu suchen, sie miteinander zu<br />
vergleichen und aufzuzeigen, was unsere Philosophen von ihnen übernommen,<br />
was sie falsch verstanden und falsch übersetzt haben und wie diese Fehler<br />
auszumerzen sind.<br />
Wir dürfen nicht Madame de la Vida aus Italien kennen lernen, die u.a.<br />
Avicennas „Nafsaniyat“ mit dem gleichlautenden Werk Ar<strong>ist</strong>oteles verglichen<br />
und vervollständigt hat. Wir dürfen auch nicht Madame Curie, die Entdeckerin<br />
von Quantum und Radiaktivität, kennen lernen oder Rosace de la Chapelle, das<br />
schöne Mädchen aus Schweden, das mehr als jeder andere islamische und<br />
schiitische Gelehrte, der sich der Vertretung Alis rühmt und sich als sein Kenner<br />
ausgibt, für die Ali-Forschung getan hat. Sie widmete ihr ganzes Leben der<br />
Erforschung einer islamischen Persönlichkeit, die durch rachsüchtige<br />
Anfeindungen der Gegner und sinnlose Lobpreisungen der Freunde unbekannt<br />
geblieben <strong>ist</strong>. Sie erkannte die Persönlichkeit Alis und den tiefen Sinn seiner<br />
hohen Gedanken am besten. Sie konnte seine Schmerzen, Ängste und Nöte und<br />
seine Einsamkeit nachempfinden. Sie hat nicht nur den Ali von Uhud (32) Badr<br />
und Hunain (33) entdeckt, sondern auch den Ali der Kanzel und der Einsamkeit.<br />
Sie hat seine Sprüche- von denen die arabischen Moslems nur einige<br />
ausgewählte literarische Texte und die schiischen Moslems nur einige Texte aus<br />
unsicheren Quellen kennen- aus allen nur möglichen Quellen<br />
zusammengetragen, gelesen, übersetzt, interpretiert und das schönste Werk, das<br />
jemals über Ali aus einer Feder geflossen <strong>ist</strong>, geschaffen. Sie hat seit<br />
zweiundvierzig Jahren unermüdlich über ihn nachgedacht, gearbeitet und<br />
geforscht. Wir dürfen Mademoiselle Michan nicht kennen lernen, eine Frau, die<br />
nach der Besetzung von Paris durch die Nazis aus der französischen Res<strong>ist</strong>ance<br />
das Hitler-Regime so bekämpfte, das man sie zweimal in Abwesenheit zum<br />
Tode verurteilte; eine Frau, die wegen ihrer hohen menschlichen und<br />
freiheitlichen Ideale in den Reihen der palästinensischen Fedayin gegen den<br />
Zionismus kämpfte, obwohl sie jüdischer Abstammung war.<br />
Wir dürfen Tausende von Pariserinnen nicht kennen lernen, die Schulter an<br />
Schulter mit algerischen Mudjahidin ohne Gegenle<strong>ist</strong>ung in den geheimen<br />
Organisationen in den Bergen, Wälder- von der algerischen Wüste bis zu den
Unterschlüpfen des Sündenbabels Paris- gegen den französischen Kolonialismus<br />
und Gewalttäter wie General de Gaulle, Soustelle, Salan und Argod kämpften<br />
und bei der Befreiung eines fremden Volkes weder Folter noch Tod scheuten.<br />
Wir dürfen nicht erfahren, das die europäische Frau gar nicht so <strong>ist</strong>, wie uns die<br />
Herren Mas´udi und Faramarzi (34) in ihren Frauenzeitschriften einreden<br />
wollen: eine Puppe in den Händen von Don Juans, eine Sklavin des Geldes und<br />
des Luxus und eine moderne Sklavin, die nur solange interessiert <strong>ist</strong>, wie sie die<br />
sexuellen Bedürfnisse des Mannes befriedigt, und die danach wie eine<br />
ausgediente Maschine aussortiert wird. Wir dürfen nicht erfahren, das sie dort<br />
für die hohe Ideale einer Nation kämpft und das Symbol der Befreiung und<br />
Stolzes einer Rasse geworden <strong>ist</strong>, Wir dürfen nur „Twiggys“ als das hohe Ideal<br />
der europäischen Frau kennen lernen und neben ihnen Jacqueline Onassis, für<br />
die Geld alles bedeutet, so wie die B:B:, die Fürstin von Monaco und die<br />
Revolverheldinnen um James Bond, mit anderen Worten, Fleischbeschau,<br />
Puppenspiele und Aufziehpuppen der kapital<strong>ist</strong>ischen Gesellschaft; die<br />
Sklavinnen der neuen Zivilisation für die Unterhaltung der modernen Eunuchen<br />
sind für uns gerade noch gut genug. Nur sie, deren ganzen Verdienst darin<br />
besteht, ihre Kleider und schönen Körperteile zur Schau zu stellen, dürfen wir<br />
Iraner als Symbol der zivilisierten europäischen Frau kennen lernen.<br />
Ich habe kein einziges Mal erlebt, das Bilder über Universitäten wie Cambridge,<br />
die Sorbonne oder Harvard, wo sich Studentinnen über europäische<br />
Handschriften aus früheren Jahrhunderten, zwei- bis dreitausend Jahre alte<br />
Chinesische Inschriften, über seine Handschrift des Koran oder Handschriften<br />
aus lateinischen und griechischen Büchern, über eine Keilschrift oder eine<br />
Schrift in Sanskrit beugen, sich von morgens bis abends nicht von Fleck rühren<br />
und solange daran sitzen bleiben, bis der Bibliothekar sie nach Hause schickt,<br />
gezeigt werden. Ebenfalls nicht gezeigt wird jene junge Amerikanerin, Deutsche<br />
oder Französin, die in den Universitäten, Bibliotheken, Museen,<br />
Forschungsgruppen und Laboratorien so hart wie ihre ältere Lehrer, die in der<br />
Wissenschaft aufgehen und jegliche weltliche Leidenschaft in sich getötet<br />
haben, arbeitet. <strong>Die</strong> neue Verdummungskampagne stellt sie als Callgirls billige<br />
Prostituierte dar, die mit einem Augenzwinkern auf der Straße oder einer Tasse<br />
Kaffee zu erobern sind, um unseren zivilisierten Mädchen zu zeigen, wie eine<br />
gebildete Frau von heute auszusehen habe. Alles andere sei Fanatismus,<br />
Rückständigkeit und mittelalterliche Kultur,<br />
<strong>Die</strong> neue Verdummungskampagne, die den Boden für Neo-Kolonialismus<br />
vorbereitet- wie die alte Verdummungskampagne, die im Sinne des alten<br />
Kolonialismus bemüht war, die Frau in ihrer traditionellen Unwissenheit und in<br />
gesellschaftlicher Dekadenz zu halten- redet nicht über sie, denn der<br />
Kolonialismus will nicht, das unsere Mädchen europäisch denken und arbeiten,<br />
das sie frei denken und schaffen. Er versucht, Barmädchen aus ihnen zu machen,
damit sie für ihn zwei wichtige Rollen in der traditionellen, nicht-europäischen<br />
Gesellschaft übernehmen. Einerseits soll die iranische Frau die Gedanken,<br />
Gefühle und das Interesse der jüngeren Generation auf die Bereiche unterhalb<br />
der Gürtellinie konzentrieren und die sexuelle Freiheit in einer Art und Weise<br />
propagieren, das alle kulturellen Bindungen, d.h. alles, was unsere nationale,<br />
religiöse und geschichtliche Identität ausmacht, auseinanderbrechen und alle<br />
menschlichen Freiheiten, auf die das Interesse der jüngeren Generation der<br />
afrikanischen, asiatischen und unter ihnen der islamischen Völker konzentriert<br />
sein soll, ad absurdum geführt werden. Andererseits sollen sie nicht nur selber<br />
wie Konsumgüter behandelt werden, sondern auch noch den Konsum anheizen.<br />
Zu diesem Zweck sollen die Mädchen der „Dritten Welt“ die Zivilisation als<br />
Modernismus begreifen und die moderne Frau mit der Barfrau verwechseln.<br />
Jawohl, sie dürfen die eigentliche europäische Frau nicht kennen lernen. Sie<br />
dürfen den Michans, den de la Vidas, also der modernen, zivilisierten<br />
europäischen Frau nicht nacheifern. Sie sollen entweder der alten oder der neuen<br />
Verdummungskampagne als Opfer dienen. <strong>Die</strong> sogenannte Religion macht aus<br />
ihnen Trauermädchen, die sogenannte Zivilisation Barmädchen.<br />
Zusammenarbeit der Reaktion und des<br />
Kolonialismus<br />
Wie wir sehen, arbeiten der ignorante Traditional<strong>ist</strong> und der progressive<br />
Modern<strong>ist</strong> Hand in Hand, um unsere Welt zu zerstören, uns zu gehorsamen und<br />
sklavenhaften Verbrauchern und unsere Mädchen zu Schaufensterpuppen zu<br />
machen, die weder östlich noch westlich sind, hohle, geschminkte europäische<br />
Puppen, die weder die Empfindungen der östlichen Frau von gestern noch den<br />
Verstand der westlichen Frau von heute besitzen. Sie sind wie Aufziehpuppen,<br />
die weder Eva noch Adam sind, weder Ehefrau noch Geliebte, weder Hausfrau<br />
noch Beschäftigte, sie fühlen weder Verantwortung für das eigene Kind noch für<br />
andere Menschen. Sie taugen weder für die eine noch die andere Aufgabe.<br />
Es sind eigens erfundene Frauen, die in fleißiger Heimarbeit zu Hause<br />
geschaffen und mit europäischer Marke versehen worden sind. Sie sind wie die<br />
europäischen Waren, die für den Verbrauch auf östlichen und islamischen<br />
Märkten bestellt und entworfen worden sind. Sie werden nach alter und neuer<br />
Verdummungsstrategie der Gehirnwäsche unterzogen, ihrer Kultur und ihren<br />
ge<strong>ist</strong>igen Traditionen entfremdet und in den Menschenfabriken, wo neue<br />
Generationen und Nationen im <strong>Die</strong>nste des Neo-Kolonialismus entstehen, zu<br />
neuen Menschen geformt und als „Tagessklavinnen“ für das „Nachtleben“ oder<br />
als „Luxusmannequins“ zu Konsumzwecken zur Schau gestellt.
Der ignorante Traditional<strong>ist</strong> und der modern<strong>ist</strong>ische Kapital<strong>ist</strong> arbeiten im<br />
Grunde zusammen, damit solch ein Typ zustande kommt; der eine im Namen<br />
der Moral und Religion und der andere im Namen der Freiheit und des<br />
Fortschritts. Der ignorante Traditional<strong>ist</strong> geißelt und plagt die Frau durch<br />
Fanatismus und Reaktion und behandelt sie so grausam, das sie in ihrer<br />
Verzweiflung blindlings diesem ungehobelten fanatischen und bärtigen<br />
Ungeheuer wegläuft, um sich dem zärtlichen, freundlich lächelnden und<br />
ordentlichen angezogenen Gentleman an den Hals zu werfen.<br />
<strong>Die</strong> europäische Frau, die wir kennen, die Frau der neuen Epoche, <strong>ist</strong> ein<br />
Produkt des Mittelalters. Sie <strong>ist</strong> eine Reaktion auf die unmenschliche<br />
Behandlung, die sie im Namen Jesu Chr<strong>ist</strong>i und der Religion während der<br />
Machtausübung der Ge<strong>ist</strong>lichkeit von den reaktionären Priester erfahren hatte.<br />
Sie erniedrigten die Frau, versklavten sie und beraubten sie ihres Rechtes auf<br />
wirtschaftliche Unabhängigkeit, Eigentum, Erziehung ihrer eigenen Kinder und<br />
sogar auf ihren eigenen Namen. <strong>Die</strong> von ihnen dargestellte Frau wurde von Gott<br />
verabscheut, stiftet Unheil und war die eigentliche Ursache für die Vertreibung<br />
Adams aus dem Paradies.<br />
Wenn i Mittelalter ein Priester gefragt worden wäre, ob ein Fremder in ein von<br />
einer Frau bewohntes Haus Zutritt habe, würde er geantwortet haben, niemals,<br />
denn selbst wenn der Fremde nach seinem Eintritt die Frau nicht zu Gesicht<br />
bekomme, habe er trotzdem sündhaft gehandelt.<br />
Mit anderen Worten, selbst wenn er die zweite Etage eines Hauses, dessen<br />
Keller eine Frau bewohne, betrete, habe er sündhaft gehandelt. Als ob die bloße<br />
Ex<strong>ist</strong>enz einer Frau die Ursache der Sünde sei!<br />
Der heilige Thomas von Aquin war der Ansicht, das der bloße Anblick eines<br />
Mannes, der aus Liebe zu einer Frau- auch wenn sie seine eigene <strong>ist</strong>- erröte, den<br />
Zorn Gottes hervorrufe, denn keine andere Liebe als die Liebe zu Gott dürfte<br />
von seinem Herzen Besitz ergreifen. Chr<strong>ist</strong>us war unverheiratet und chr<strong>ist</strong>lich<br />
könne nur derjenige handeln, der den Frauen fernbliebe.<br />
<strong>Die</strong> katholischen Pr<strong>ist</strong>er bleiben bis zum Ende ihres Lebens unverheiratet, weil<br />
die Ehe eine Verbindung sei, die den Zorn Gottes hervorrufe. <strong>Die</strong>se Verbindung<br />
dürfe man nur mit Gott und Jesus eingehen, denn das Herz hätte nur Platz für<br />
eine Liebe; daher könne nur der Ge<strong>ist</strong>licher- Träger des Heiligen Ge<strong>ist</strong>es- sein,<br />
der unverheiratete sei.<br />
Nach dem Verständnis dieser Lehre begeht der Mann als Nachkomme Adams<br />
erneut diese erste Sünde, wenn er sich mit einer Frau- auch wenn sie seine<br />
eigene <strong>ist</strong>, wie Eva Adams Frau war- abgibt und auf diese Weise die Sünde und<br />
Rebellion Adams im Angesicht Gottes wiederholt.
Man solle Gott aber an die Sünde Adams nicht erinnern. <strong>Die</strong> Frau <strong>ist</strong> in der<br />
mittelalterlichen Denkweise verhasst, unfähig und ihres Eigentumsrechtes<br />
beraubt, d.h. das eine begüterte Frau beim Betreten des Hauses des Ehemannes<br />
ihre Eigentumsrechte verlor. <strong>Die</strong>se wurden gezwungenermaßen dem Ehemann<br />
übertragen. <strong>Die</strong> Überreste dieser Denkweise sind im zivilisierten Europa noch<br />
heute vorhanden. Sie <strong>ist</strong> für uns ganz und gar unannehmbar, obwohl unsere<br />
Gesellschaft zum Teil von der sassanidischen (35) Tradition, der nicht-<br />
islamischen Askese beeinflusst worden <strong>ist</strong>.<br />
Noch heute ändert die Frau ihren Namen, sobald sie heiratet. Sie verliert ihren<br />
Familiennamen. <strong>Die</strong>se Namensänderung wird nicht nur zu Hause oder in der<br />
Öffentlichkeit, sondern auch auf Dokumenten, Ausbildungszeugnissen,<br />
Ausweisen usw. durchgeführt.<br />
Überall wird der Familienname der Frau durch den Familiennamen des Mannes<br />
ersetzt. <strong>Die</strong> Frau ex<strong>ist</strong>iert nicht mehr als eine unabhängige Identität. Sie <strong>ist</strong> nur<br />
in Zusammenhang mit einem anderen Wesen vorhanden. Solange sie im Hause<br />
des Vaters lebt, identifiziert sie sich mit ihm, dem alten Besitzer; wechselt sie in<br />
das Haus des Ehemannes über, so nimmt sie die Identität des neuen Besitzers an.<br />
Ihre Persönlichkeit reicht für einen eigenen Namen nicht aus.<br />
<strong>Die</strong>ser Brauch hat sich auch in Iran durchsetzen können, weil er eine<br />
europäische Tradition <strong>ist</strong> und von „besseren“ Menschen gepflegt wird. Das er<br />
eine Tradition der Sklavenzeit, ein Aberglaube und eine widerwärtige<br />
Handlungsweise <strong>ist</strong>, stört unsere nachahmenden Modern<strong>ist</strong>en keineswegs; er<br />
trägt ja schließlich eine europäische Marke.<br />
Der Nachahmer- ob Modern<strong>ist</strong> oder Traditional<strong>ist</strong>- benutzt weder seine<br />
Urteilsfähigkeit, um das Gute vom Bösen zu unterscheiden, noch seinen Willen,<br />
um eine eigene Wahl zu treffen. Er handelt nach dem Motto: „Ein Laster, das<br />
dem Sultan nicht missfällt, <strong>ist</strong> eine Tugend“. Dabei geht er so weit, das er bereit<br />
<strong>ist</strong>, „am Tage nach Sternen zu suchen, wenn der Sultan die Nacht befiehlt“, wie<br />
es in einem persischen Sprichwort sinngemäß heißt.<br />
In den Ausweispapieren der verheirateten europäischen Frauen werden zwei<br />
Namen eingetragen, der jetzige Name und der Geburtsname. Lebt sie beim<br />
Vater, hieß sie nach ihm; lebt sie beim Ehemann, trägt sie seinen Namen. Mit<br />
anderen Worten, die Frau <strong>ist</strong> das Eigentum des Hausherren, auch wenn das Haus<br />
vermögensrechtlich ihr gehört. Da sie eine Frau <strong>ist</strong>, <strong>ist</strong> sie keine Hausherrin. So<br />
war es beim Vater, und so bleibt es beim Ehemann.<br />
Unsere Modern<strong>ist</strong>en haben neuerdings diesen europäischen Brauch entdeckt und<br />
ändern nach der Heirat ihren Namen. <strong>Die</strong>ses lächerliche Spiel <strong>ist</strong> nur ein<br />
weiteres Beispiel dafür, wie unsere Pseudo-Europäer die „höhere Rasse“
nachahmen. Sie ahmen alles nach, ohne nach dem Sinn und der Bedeutung einer<br />
Handlung zu fragen, weil sie nicht nach dem Verstand handeln. Da sie den Sinn<br />
einer Sache nicht erkennen, sind sie in ihrer Nachahmung ungeschickt, machen<br />
alles falsch und geben sich der Lächerlichkeit preis. Daher müssen wir die<br />
Erfahrung machen, das in unserer modern<strong>ist</strong>ischen Gesellschaft Pseudo-<br />
Europäer herangezogen werden, die keinem Europäer ähnlich sind. Es <strong>ist</strong> ein<br />
europäisierter Menschentyp, der in Europa nicht vorkommt.<br />
Nach den zur Zeit geltenden französischen Gesetzen hat die Frau nach der<br />
Scheidung kein Anrecht auf ihre eigenen Kinder, während sie im Islam- im<br />
reinen Islam der ersten Zeit, nicht im heutigen bunten Sammelsurium- eine so<br />
große persönliche und rechtliche Unabhängigkeit besitzt, das sie berechtigt <strong>ist</strong>,<br />
für das Stillen des eigenen Kindes von dem Ehemann Lohn zu verlangen.<br />
Sie kann ohne Mitwirkung des Ehemannes Handel treiben, arbeiten und ihr<br />
Vermögen unabhängig und direkt in einer produktiven Arbeit investieren, mit<br />
anderen Worten besitzt sie also die vollständige wirtschaftliche Unabhängigkeit.<br />
<strong>Die</strong> unmenschliche und pseudo-religiöse Unterdrückung der Frau im Namen der<br />
Religion hat zu der heute in Europa erkennbaren Reaktion geführt. Es <strong>ist</strong> die<br />
Reaktion auf die Diskriminierung der Frau im Mittelalter, an welche die<br />
Erinnerung im Bewusstsein der heutigen Frau lebendig geblieben <strong>ist</strong>. Noch<br />
heute werden in Italien und Spanien, wo der Einfluss der Religion stark <strong>ist</strong>, trotz<br />
Menschenrechtsdeklarationen der Frau viele Menschenrechte vorenthalten.<br />
Damit meine ich die menschlichen Freiheiten und sozialen Rechte, nicht etwa<br />
sexuelle Freiheiten, die in schwindelerregender Geschwindigkeit verbreitet<br />
werden. Gegen Rohstoffe der „Dritten Welt“, wie z.B. Erdöl, Diamanten;<br />
Kautschuk, Jute, Kupfer, Kaffee und Uranium. <strong>Die</strong> billig nach Europa<br />
eingeführt werden, erhält die von Hunger geplagte und ausgeplünderte „Dritten<br />
Welt“ gratis und in großzügigen Umfang „Fachliteratur“ über die Freiheit,<br />
Kultur, Technik und Kunst des Sex-Lebens. <strong>Die</strong> Massenmedien und die<br />
sozialen, technischen und kulturellen Einrichtungen des „in einem Zustand der<br />
Rückständigkeit gehaltenen Landes“ werden zur Verbreitung und Rechtsfertigen<br />
dieser Lebensweise zur Verfügung gestellt.<br />
Das <strong>ist</strong> alles andere als Menschenrechte und Freiheiten. Sexuelle Befreiung <strong>ist</strong><br />
eine der zahlreichen Verführungsmethoden der neuen Verdummungsstrategie<br />
des westlichen kapital<strong>ist</strong>ischen Systems in Ost und West. Sie wird so praktiziert,<br />
das die Ausbeutung der westlichen Bevölkerung und die Kolonialisierung der<br />
östlichen Länder in Frieden und Sicherheit vonstatten gehen können. Sie zielt<br />
besonders auf die neue Generation, die aufsässig und ungeduldig geworden <strong>ist</strong>,<br />
die die Einschränkungen der wie Opium wirkenden Religion und die Fesseln der<br />
überlieferten Traditionen abschütteln will und sich sehr leicht gegen die
estehende Ordnung erheben könnte, ab. <strong>Die</strong>se neue Generation wird mit der<br />
billigen europäischen Liebe und der Freiheit a la Kapitalismus derart in Trab<br />
gehalten, das sie kaum erfährt, was in der Welt geschieht. Sie wird damit derart<br />
übersättigt, das sie ihre eigenen Armut und Unfreiheit nicht spürt.<br />
Aus diesem Grunde werden die in Asien, Afrika und Lateinamerika vom<br />
westlichen Kapitalismus gewährten sexuellen Freiheiten und Rechte von den<br />
Vertretern der örtlichen Diktatur mit allen Mitteln und Möglichkeiten gefördert.<br />
Der aufmerksame Beobachter kann hinter der schönen Maske der<br />
Sexualrevolution die Gesichter der „Dreifaltigkeit“, nämlich Ausbeutung,<br />
Kolonialismus und Diktatur, wiedererkennen. Sie haben Freud zu einem<br />
falschen Propheten gemacht, seine Lehre zu einer wissenschaftlichen und<br />
menschlichen Religion, die Sexualität zu einem moralischen Gewissen und<br />
Rechtssystem und die Sinnlichkeit zu einem Tempel, dessen erstes Opfer die<br />
Frau war.<br />
<strong>Die</strong> kulturelle und soziale Rolle der Frau in der<br />
Neuzeit<br />
Nach der Renaissance und dem Ende der traditionell-religiösen Epoche wurden<br />
auf intuitiven Empfindungen und religiöser Autorität beruhende Anschauungen<br />
durch Descartes´schen Rationalismus und analytische Logik ersetzt. Ebenso<br />
ersetzt wurden der Sozialismus im Sinne Durkheims durch den Individualismus<br />
im Sinne der Unabhängigkeit des Individuums gegenüber der Gesellschaft<br />
(Familie, Sippe, Volk usw.) Wertdenken durch Profitdenken, Idealismus durch<br />
Realismus, Subjektivismus durch Objektivismus, Verzicht, Streben nach<br />
Vollkommenheit und Tugendhaftigkeit durch Streben nach Wohlstand,<br />
seelische, literarische, intuitive und nicht erklärbare Bindungen durch<br />
vernünftige, logische, bewusste Beziehungen, inspirative, unwillkürliche,<br />
unbeschreibliche, metaphysische, mit logischen Kategorien nicht erfassbare,<br />
platonische und unsichtbare Phänomene durch bekannte, den Interesse dienende,<br />
willkürliche, durch rationale Analyse erklärbare, relative, veränderliche und<br />
irdische Phänomene, die das objektive Leben in der Welt bestimmen; und<br />
schließlich wurden Metaphysik durch Natur, Offenbarung durch Wissenschaft ,<br />
Sittlichkeit durch Sinnlichkeit, Vollkommenheit durch Glück, Tugendhaftigkeit<br />
durch Wohlstand und nach den Worten Franci Bacons Wahrheit durch Macht<br />
ersetzt.<br />
<strong>Die</strong>se veränderte Ge<strong>ist</strong>eshaltung zu moralischen Werten, zu Kultur,<br />
Wissenschaft, Leben, Familie, Liebe, Beziehung der Geschlechter, Stellung der
Frau in der Gesellschaft sowie im Leben, in der Literatur und in der Kunst hat<br />
grundlegende Spuren hinterlassen.<br />
<strong>Die</strong> rational<strong>ist</strong>ische Wissenschaft hat versucht, alle ethischen Grundsätze, die für<br />
den Menschen metaphysische und göttliche Werte besaßen, wie Gegenstände zu<br />
analysieren. <strong>Die</strong> Frau und die Liebe, die schon immer von einer Aura des<br />
Geheimnisvollen umgeben waren, die Dichter inspirierten und die Phantasie der<br />
Menschen beflügelten, wurden auf dem Operativtisch anatomisch genau<br />
analysiert. Claude Bernhard betrachtete den Menschen als eine seelenlose Hülle,<br />
Freud sah die Seele als ein krankes Schwein an; beide genossen die<br />
Unterstützung der Bourgeoisie, die den Sinn des Lebens im Geldverdienen sah.<br />
Wir haben gesehen, wohin diese Art von Forschungen führt. <strong>Die</strong> chr<strong>ist</strong>lichen<br />
„Mollas“ und die Kirche wussten nur mit Exkommunikation darauf zu<br />
antworten. <strong>Die</strong>se Waffe war aber schon längst stumpf geworden. Angesichts der<br />
objektiven Beweisführung der anderen Seite blieben Hirtenbriefe und<br />
Drohungen mit Höllenfeuer wirkungslos. <strong>Die</strong> Frau, die in der Vergangenheit nur<br />
als Mitglied der Familie betrachtet wurde und keine eigene Identität besaß,<br />
erlangte allmählich wirtschaftliche Unabhängigkeit und suchte sich im Laufe der<br />
industriellen und sozialen Entwicklung außerhalb des Hauses eine<br />
Beschäftigung.<br />
Soziale Unabhängigkeit war die Folge der wirtschaftlichen Unabhängigkeit.<br />
Jetzt <strong>ist</strong> die Frau schon vor der Gründung der Familie unabhängig. Da sie die<br />
rationale Entwicklung durchgemacht hat, <strong>ist</strong> ihr Verhalten anderer, z.B. ihrem<br />
Ehemann, Geliebten, Vater oder der Familie gegenüber nicht mehr von<br />
Gefühlen, Intuitionen und unbewussten Trieben bestimmt, sondern von<br />
rationaler Berechnung und genauer Interessenabwägung. Berechnung,<br />
Realismus, analytisches Denken, Ichsucht, individuelle Interessenabwägung,<br />
Vergnügungssucht, Wohlstandsdenken und Streben nach individuellen Glück<br />
befreiten die Frau von vielen gesellschaftlichen, familiären und religiösen<br />
Beschränkungen, machten sie jedoch gleichzeitig um etliche tiefe menschliche<br />
und irrationale Gefühle ärmer. Sie wurde einsam, weil sie unabhängig wurde.<br />
Durkheim hat bewiesen, das der Kollektivge<strong>ist</strong> in der Vergangenheit viel stärker<br />
war. Je mehr sich Vernunft, wirtschaftliche Unabhängigkeit und Individualismus<br />
durchsetzten , umso brüchiger wurden die verwandtschaftlichen,<br />
gefühlsmäßigen, religiösen und ge<strong>ist</strong>igen Bindungen. <strong>Die</strong> Unabhängigkeit<br />
brachte viele Vorteile.<br />
Ein achtzehnjähriges Mädchen darf eine eigene Wohnung beziehen und von<br />
Führung und Einmischung von oben ihr eigenes Leben gestalten. <strong>Die</strong> Frau<br />
genießt in der Familie viele Freiheiten, weil sie wirtschaftlich unabhängig <strong>ist</strong><br />
und rational handelt, <strong>ist</strong> sie nicht bereit, nötigenfalls Opfer zu bringen, aus Liebe<br />
zu einem Mann auf ihre Ruhe, ihr Vergnügen, ihren Wohlstand und ihre
Gesundheit zu verzichten oder aus Respekt und Treue und, um ein gegebenes<br />
Wort einzuhalten, Entbehrungen hinzunehmen; denn Begriffe wie Treue,<br />
Opferbereitschaft, Dankbarkeit, Respekt und Liebe sind ge<strong>ist</strong>ige und moralische<br />
Begriffe, die mit Vernunft und Logik nicht erfasst werden können.<br />
Ich soll mein Leben opfern, damit ein anderer weiterleben kann. Ich soll leiden,<br />
damit der andere Ruhe findet. <strong>Die</strong>se Rechnung kann wohl nicht aufgehen. Ich<br />
brauche ihn doch nicht. Warum soll ich mich opfern und ihm treu bleiben, weil<br />
er mich braucht? Soll ich etwa einen hässlichen und schwachen Mann ertragen,<br />
nur weil ich ihm irgendwann einmal, als er noch gutaussehend und stark war<br />
oder als einziger um mich warb, mein Wort gegeben habe, und Auf den anderen<br />
gutaussehenden Mann, der nur jetzt begegnet <strong>ist</strong> und mich befriedigt,<br />
verzichten?<br />
Jean Paul Sarte geht ebenfalls auf dieses Problem ein: Wenn eine Frau mit<br />
einem Mann verheiratet <strong>ist</strong>, der auf sie nicht anziehend wirkt, und sich in einen<br />
anderen attraktiven Mann verliebt, sollten da nach vernünftiger Berechnung<br />
keine Unklarheiten entstehen. Beide brauchen sie, der eine als Ehemann und der<br />
andere als Geliebter. <strong>Die</strong> Frau braucht nicht den ersten, sondern den zweiten.<br />
Bleibt sie dem Ehemann treu, so enttäuscht sie zwei Erwartungen, verlässt sie<br />
ihn, so bleibt nur eine Erwartung unerfüllt. Der Fall <strong>ist</strong> also klar: die Vernunft<br />
gebietet, mathematisch genau zu handeln. <strong>Die</strong> Motive, welche die Frau<br />
veranlassen könnten, zwei menschliche Erwartungen einer einzigen zu opfern,<br />
können sicherlich Nicht rational und logisch sein. Weder Descartes noch Freud<br />
würden verstehen. Eine vernünftige Frau handelt logisch und mit kühler<br />
Berechnung. Wirtschaftliche Unabhängigkeit und soziale Rechte geben ihr die<br />
Möglichkeit, so zu handeln.<br />
<strong>Die</strong> Geburt eines Kindes bedeutet für die Eltern Einschränkungen in ihrer<br />
Bewegungsfreiheit. Nach den Regeln der Vernunft <strong>ist</strong> es unzumutbar, das zwei<br />
Menschen ihre Ruhe und ihren Frieden wegen eines einzigen opfern. Entweder<br />
wird also die Geburt verhindert oder das Kind einer Kinderfrau oder in einem<br />
Heim übergeben. Alle unpraktischen Bindungen, unlogischen Gefühle und<br />
moralischen und traditionellen Einschränkungen, die die Frau festhielten,, sie in<br />
der Familie aufgehen ließen und mit hundert unsichtbaren, irrationalen und<br />
geheimnisvollen Fäden an Mann, Kinder, Familie und Verwandte banden, sind<br />
heute nicht mehr gegeben.<br />
<strong>Die</strong> wirtschaftliche und gesellschaftliche Unabhängigkeit, der Sieg der Vernunft<br />
über die Gefühle, des Realismus über den Idealismus haben den Kollektivge<strong>ist</strong><br />
verdrängt und das Individuum unabhängig gemacht. Im gleichen Maße, wie das<br />
Individuum ausgedehnte Freiheiten und soziale Möglichkeiten genießt, isoliert<br />
es sich von anderen und wird einsam.
Einsamkeit<br />
Einsamkeit <strong>ist</strong> die größte Tragödie unseres Jahrhunderts. Einige europäischen<br />
Wissenschaftler haben sich mit dem Selbstmord aus der Sicht der Soziologie<br />
befasst. Selbstmord kommt im Orient nur in seltenen Ausnahmefällen vor.<br />
In Europa <strong>ist</strong> er jedoch kein Ereignis, sondern eine soziale Erscheinung, die<br />
ständig gegenwärtig <strong>ist</strong> und an Boiden gewinnt. Auch dort kommt er in<br />
rückständigen Gebieten, wie z.B. in Spanien, vergleichsweise weniger vor als in<br />
Nordeuropa und Nordamerika.<br />
Und auch da gibt es wiederum Unterschiede zwischen ländlichen und<br />
städtischen Gebieten, wirtschaftlich fortgeschrittenen und rückständigen<br />
Gegenden, zwischen den von der Religion abgewandten modernen sowie den<br />
alten, religiösen Menschen usw. Der Grund liegt darin, das die Menschen<br />
einsam geworden sind.<br />
<strong>Die</strong> Menschen verband einst die gemeinsame Religion. Sie schuf eine<br />
gemeinsame Ge<strong>ist</strong>eshaltung unter den Gläubigen. Jedes Individuum suchte<br />
zumindest Zuflucht bei Gott. Verwandtschaftliche, familiäre, bekanntschaftliche<br />
und völkische Bindungen sorgten für zwischenmenschliche Beziehungen.<br />
Wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit jedoch machten die Menschen<br />
voneinander unabhängig. <strong>Die</strong> Gesellschaft schützte nicht mehr wie früher die<br />
Sippe, Familie, Eltern, Kinder, Freunde und Verwandte, sondern das Individuum<br />
und befriedigte seine materiellen und ge<strong>ist</strong>igen Bedürfnisse. Rationalismus,<br />
kühle Berechnung. Materialismus und Wohlstandsdenken zerstören allmählich<br />
diese irrationalen ge<strong>ist</strong>igen Bindungen und machten den Menschen selbständig,<br />
ichbezogen, von den anderen unabhängig und einsam. Jeder sucht den anderen<br />
nur in bestimmter Ansicht und Erwartung auf. Das Individuum lebt auf seiner<br />
einsamen Insel und wird von Selbstmordgedanken heimgesucht, denn der<br />
nächste Nachbar der Einsamkeit <strong>ist</strong> der Selbstmord. Der Mann und die Frau<br />
suchen sich gegenseitig aus. <strong>Die</strong>se selbständigen und unabhängigen Menschen<br />
finden nicht wegen Sex, Zuneigung, Liebe, Brauch, Gewohnheit,<br />
Zusammengehörigkeit, sozialer Bindung und anderer unbeschreiblicher<br />
Anziehungskräfte zueinander, sondern aus vernünftiger Berechnung,<br />
gesetzmäßiger Notwendigkeit und aus einem Zwang heraus.<br />
<strong>Die</strong> sexuelle Freiheit, die gesetzlich nach der Volljährigkeit, praktisch jedoch<br />
jederzeit beginnt, hat zu der irrigen Auffassung geführt, das es zur Befriedigung<br />
des sexuellen Triebes- so schwach er auch sein mag- zunächst einmal ausreiche,<br />
seiner habhaft zu werden. Sei er zu schwach, könne dem mit Geld leicht<br />
abgeholfen werden; nur mit Geld könne man den geschlechtlichen Trieb auf<br />
allen Ebenen befriedigen. Man könne in jedem Alter ein Don Juan oder ein
Onassis sein. <strong>Die</strong> First Lady von Amerika habe auch ihren Preis. Da die<br />
Geschlechter sexuelle Freiheiten genießen , halten sie es nicht für opportun, sich<br />
auf der Höhe ihrer sexuellen Treibkraft für ihr ganzes Leben zu binden. Logik,<br />
Vernunft, Berechnung, Vergnügungssucht, Wohlstandsdenken, Individualismus,<br />
Realismus und dergleichen wiederum verbieten, das der Mensch seine<br />
vielfältigen Freiheiten, seinen Anteil an den unendlichen Schönheiten nur auf<br />
eine einzige Person beschränkt.<br />
Gründung der Familie<br />
Mann und Frau vertreiben sich auf der Höhe ihrer geschlechtlichen<br />
Le<strong>ist</strong>ungsfähigkeit ihre Zeit in Tanzlokalen, auf Vergnügungsveranstaltungen<br />
und bei Reisen, bis die Frau erwacht und feststellt, das es um sie still geworden<br />
<strong>ist</strong>. Keiner fragt nach ihr, und wenn doch, dann nur, um alte Erinnerungen<br />
aufzufrischen. Der Mann hat die Erfahrung der sexuellen Freizügigkeit hinter<br />
sich, <strong>ist</strong> in der Welt der Liebe weit herumgekommen und alles hat für ihn an<br />
Reit verloren. Der sexuelle Trieb <strong>ist</strong> von Ergeiz und Gewinnsucht verdrängt<br />
worden. Nun möchte er eine Familie gründen.<br />
<strong>Die</strong> Frau, alleingelassen und von Einsamkeit geplagt, begegnet einem Mann,<br />
der, seiner diversen Liebschaften müde, am Ende eines langen Weges eine<br />
Familie gründen möchte.<br />
<strong>Die</strong> Familie wird gegründet; die Motive, die dazu geführt haben, das sie unter<br />
einem Dach zusammenleben, sind Torschlusspanik bei der Frau und<br />
Übersättigung bei dem Mann. Das Zusammensein <strong>ist</strong> für sie keine aufregende<br />
und gefühlvolle Angelegenheit. <strong>Die</strong> Liebe und die Zärtlichkeit sind der<br />
Langeweile und dem Überdruss gewichen. Für sie gibt es nichts Neues mehr.<br />
Sie wissen über alles und nichts Bescheid.<br />
Es gibt nichts Aufregendes für sie. Sie wissen , warum sie sich gefunden haben<br />
und was sie voneinander erwarten. Sie sind ganz bewusst und mit voller<br />
Berechnung aufeinander zugekommen und jeder weiß, was der andere mit der<br />
Liebeserklärung im Sinn hatte; jeder <strong>ist</strong> zur Befriedigung der sexuellen<br />
Bedürftigkeit des anderen da, und sie machen sich keine Illusionen über die<br />
Bedeutung der Liebe.<br />
Am Hochzeitstag füllt sich die Stadthalle (in die Kirche dürfen sie nicht gehen).<br />
Ein Vertreter der Stadt- ein Beamter, kein Ge<strong>ist</strong>licher- lässt die Paare der Reihe<br />
nach vortreten, liest die Namen von der L<strong>ist</strong>e ab, lässt die Paare einander ihr Ja-<br />
Wort geben, die Gebühren werden bezahlt und die L<strong>ist</strong>en unterschrieben. Alles<br />
läuft nach einem vorgezeichneten Schema ab. Merkwürdigerweise wollen von
dreihundert Bräuten nur dreißig ein Hochzeitkleid tragen; der Rest hält es in<br />
dem Alter für unangebracht.<br />
Dann gehen Mann und Frau wieder ihrer Arbeit nach; mittags treffen sie sich<br />
mit Freunden in einem Restaurant, um zu feiern. <strong>Die</strong>s geschieht aber nur dann,<br />
wenn die Hochzeit für sie ihren Reit noch nicht ganz verloren hat. Sonnst bleibt<br />
alles beim alten. Es werden Paare getraut, die sowieso seit Jahren miteinander<br />
oder mit anderen gelebt haben. Sie werden sich wahrscheinlich nach der<br />
staatlichen Trauung vor dem Standesamt fragen, was das Ganze eigentlich<br />
bedeute. Wo sollen sie hin? Verreisen? Das haben sie schon des öfteren getan.<br />
Sich lieben? Das haben sie noch häufiger getan, so das sie dem auch keinen Reiz<br />
mehr abgewinnen können. Nach Hause gegen? Von dort kommen sie ja gerade.<br />
Was reizt sie überhaupt noch, was beflügelt ihre Phantasie? Nichts! Dann<br />
können sie ha auch ebenso gut ihrer Arbeit nachgehen, wie sie es täglich tun. So<br />
werden Familien gegründet. Mann und Frau suchen und finden sich nach einer<br />
genauen Berechnung und gehen eine Partnerschaft auf wirtschaftliche Basis ein<br />
oder aber sie heiraten unter dem Druck des Gesetzes, wenn ein Kind geboren<br />
wird und seine Eltern zum Brautpaar macht. Beide fügen sich ohne<br />
Bege<strong>ist</strong>erung, Leidenschaft und gegenseitige Gefühle füreinander ins<br />
gemeinsame Leben, brauchen einander jedoch nicht. Sie suchen weder<br />
Geborgenheit noch den geheimnisvollen Reiz des Fremden beieinander. Ihr<br />
Vereintsein <strong>ist</strong> weder von Erregung noch von Herzklopfen oder einem Lächeln<br />
begleitet. So wird eine Familie auf schwachen Fundamenten aufgebaut, die<br />
Kinder wachsen in einer Umgebung ohne Zuneigung und Nestwärme heran, die<br />
Eltern sind es nicht gewohnt, ihre Freiheit einzuschränken, deshalb lassen sie<br />
ihre Kinder gegen Bezahlung in einem Internat aufwachsen, während sie selbst<br />
in Freiheit leben. Und so, wie sie nach den Gesetzen der Logik und Berechnung<br />
eine Partnerschaft eingegangen sind, trennen sie sich auch voneinander, und die<br />
Familie geht zugrunde, denn dieselbe Anschauung, dieselbe Logik und derselbe<br />
Ge<strong>ist</strong> herrscht immer noch. Denn wie kann eine leidenschaftslose, erfahrende<br />
Frau, deren me<strong>ist</strong>erhafte Beherrschung der Liebesspiele geradezu abstoßend <strong>ist</strong>,<br />
einen Mann befriedigen, der unzählige Affären mit viel jüngeren Frauen gehabt<br />
hat? Soll er sie halten? Nach welcher Logik? Umgekehrt stellt auch die Frau, die<br />
von der Erinnerung an unzählige Liebesdienste lebt, Vergleiche an. Es dürfte<br />
klar sein, das der abgewirtschaftete Mann, den sie derzeit in den Armen hält,<br />
diesem Vergleich nicht standhalten kann. Außerhalb dieses reiz- und<br />
leidenschaftslosen Hauses strecken sich ihnen offene Arme entgegen, die sie zu<br />
Rendezvous und Zusammenkünften einladen. Es wäre wiederum irrational, der<br />
Einladung nicht Folge zu le<strong>ist</strong>en und zu Hause zu bleiben.
<strong>Die</strong> Frau in der Konsumgesellschaft-<br />
Sexualität anstelle von Liebe<br />
Eine Gesellschaft, die sich in einem Kreis von „Produktion und Konsum“ und<br />
„Konsum und Produktion“ bewegt, kann die Vernunft, den Sinn der<br />
Handlungen, nur nach ihrer Wirtschaftlichkeit beurteilen. Demnach <strong>ist</strong> die Frau<br />
nicht mehr das Geschöpf, das die Phantasie beflügelt, die Empfindungen<br />
anspricht, das Ideal aller Liebenden, Mutter, Gefährtin, Mittelpunkt der Familie<br />
und ein Symbol der Geborgenheit <strong>ist</strong>, sondern eine Ware , die nach ihren<br />
sexuellen Reizen beurteilt und für den Handel freigegeben wird.<br />
Der Kapitalismus erwartet von der Frau, das sie in ihrer freien Zeit nicht darüber<br />
grübelt, welches Schicksal die Bourgeoisie ihr zugedacht hat, wie sie<br />
ausgebeutete wird und wie sinn- und ziellos ihr Leben gestaltet wird. Sie soll<br />
nicht fragen, warum sie arbeitet, lebe und weshalb sie so leiden müsse.<br />
Unter dem Vorwand, die Frau besitze als einziges Geschöpf Sexualität, wird sie<br />
zur Unterhaltung der Arbeiter, Angestellten und Intellektuellen abgestellt, damit<br />
sie keine Gelegenheit findet, in ihrer Freizeit klassenkämpferische und antikapital<strong>ist</strong>ische<br />
Gedanken zu hegen. Sie dient der Gesellschaft als Lückenbüßer.<br />
Nach den Empfehlungen des Kapitalismus und der Bourgeoisie hat die Kunst<br />
alles daran gesetzt, ihre Motive, die bis dahin Schönheit, Gefühl und Liebe<br />
waren, in Sex umzuwandeln. Sie hat den Vulgärfreudeismus und die<br />
widerwärtige Sexanbieterei als philosophische Anschauung des aufgeklärten<br />
Menschen und als Realismus propagiert. Phantasie, Dichtung und ideal<strong>ist</strong>ische<br />
Gefühle seien sinnlos, Sexualität sei das einzige Motiv der neuen Kunst.<br />
Daher dreht sich in Malerei, Dichtung, Prosa, Kino und Theater alles um<br />
Sexualität.<br />
Andererseits bedient sich der Kapitalismus der Frau als Sexobjekt zur<br />
Steigerung der Konsumabhängigkeit der Menschen, sie wird wie ein<br />
eindimensionales Lebewesen in die Werbung aufgenommen, um neue Werte<br />
und Bedürfnisse zu schaffen. Sie soll die Aufmerksamkeit auf neue Produkte<br />
lenken und künstliche Gefühle hervorrufen. <strong>Die</strong> Frau soll die Gefühle töten<br />
helfen, die diesen Interessen im Wege stehen. Sie soll bei der Vernichtung der<br />
ge<strong>ist</strong>igen Werte, die dem Kapitalismus hinderlich sind, mithelfen.<br />
<strong>Die</strong> Sexualität verdrängt die Liebe, und die Frau, die Geliebte, die „Gefangene“<br />
des Mittelalters, wurde zur „freien Gefangenen“ der Neuzeit. <strong>Die</strong> Frau, die in<br />
früheren Kulturen und fortschrittlichen Religionen eine erhabene Stellung in der<br />
Liebe, Kunst und der Gefühlswelt einnahm, wurde zu einem Gegenstand im<br />
<strong>Die</strong>nste der wirtschaftlichen und sozialen Zielvorstellungen, einem Mittel zur
Zerstörung der hohen moralischen Werte und der Umwandlung einer<br />
traditionellen bzw. ge<strong>ist</strong>ig-moralischen in eine sinnlose Konsum-Gesellschaft.<br />
Sie dient der Kunst- die früher die höchste Offenbarung der ge<strong>ist</strong>igen Arbeit<br />
war- als Sexobjekt, um den Menschentyp zu verändern.<br />
Im Orient<br />
Im Orient hatte man ein leichtes Spiel. Im Westen, insbesondere in Schweden,<br />
Norwegen, sogar in Frankreich und Deutschland macht sich der<br />
Geschlechtstrieb der Jungen relativ spät bemerkbar, so das sie sich mit 17 oder<br />
18 Jahren von Frauen noch nicht angezogen fühlen. <strong>Die</strong> Mädchen aber sind in<br />
diesem Alter auf dem Höhepunkt ihrer Geschlechtsreife. Daher wird der Mann<br />
von seiner Altersgenossin in Defensive gedrängt. <strong>Die</strong>s erzeugt in ihm<br />
Abwehrreaktionen, die er auch später nicht ablegen kann. Aus diesem Grunde<br />
haben nordeuropäische Soziologen und Psychologen zahlreiche Arbeiten<br />
darüber geschrieben, wie man den Geschlechtlieb des jungen Europäers<br />
künstlich oder aber natürlich durch Frauen stimulieren kann.<br />
<strong>Die</strong>se Schwierigkeit besteht im Orient nicht. Der junge Orientale wird vor der<br />
Volljährigkeit geschlechtsreif. <strong>Die</strong> geschlechtliche Frühreife stellt die<br />
orientalischen Soziologen und Physiologen vor große Probleme. Wer möchte<br />
sich schon der Sache dieser Generation annehmen und über ihre Probleme<br />
nachdenken?<br />
Denn hier geht es um die Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen, um ganz<br />
verschiedene Dinge. Es geht u die Mode, Geschmacksrichtungen, Gewohnheiten<br />
und besondere Verhaltensweisen. Menschliche Probleme ex<strong>ist</strong>ieren weder für<br />
die Anhänger des Althergebrachten noch des Modernen. Ein Streit <strong>ist</strong> zwischen<br />
Modern<strong>ist</strong>en und Rückständigen aufgeflammt. Weder der Sieg des einen noch<br />
des anderen nützt irgend jemanden. Der eine nennt sich fromm und<br />
rechtschaffen, der andere zivilisiert. Sie sind jedoch weder das eine noch das<br />
andere. Sie haben weder Beziehungen zur Zivilisation noch zur Religion. Für<br />
die eine Gruppe stellen <strong>Fatima</strong> und Zeinab, für die anderen die europäische Frau<br />
das Idealbild dar. Sie beleidigen damit beide, sie lügen entweder oder haben<br />
keine rechte Vorstellung von ihrem Ideal.<br />
Der Europäer möchte die orientalische Gesellschaft verändern, um sie<br />
auszuplündern und ihre Gedanken zu beherrschen. Er will sie um ihr tägliches<br />
Brot bringen und ihre Lebensauffassung und moralischen Werte völlig<br />
verändern; denn ohne diese Veränderung wäre er nicht imstande, sie<br />
auszuplündern.
Wir sollen bar unserer eigenen Identität alle menschlichen Werte vergessen, mit<br />
den Traditionen, die uns moralischen Halt bieten, brechen und zu Menschen<br />
ohne Denkvermögen, mit einem kranken Ge<strong>ist</strong> und aller Kreativität entblößt<br />
werden, wie leere Töpfe oder Abfalleimer, die man beliebig leeren oder mit<br />
Unnützen Dingen füllen kann.<br />
So wird in das Ge<strong>ist</strong>esleben des Orientalen eingegriffen. Wenn sein<br />
Ge<strong>ist</strong>esleben jeglicher Substanz beraubt <strong>ist</strong>, wenn er nicht mehr glauben und<br />
erkennen kann, keinen sittlichen Halt mehr hat und nichts mehr besitzt, worauf<br />
er stolz sein kann, wenn er glaubt, das seine Vergangenheit schmachvoll und<br />
wertlos, seine Religion sinnlos und phantastisch, seine ge<strong>ist</strong>ige Welt reaktionär<br />
und sein Leben hässlich und widerwärtig sind und er sich selbst, seine<br />
Vorfahren und seine ge<strong>ist</strong>ige Welt nicht oder nur ungenügend kennt, gleicht er<br />
einem in der Wüste Verdursteten. Es <strong>ist</strong> ihm gleich, womit sein Durst gestillt<br />
wird. Er hat weder die Wahl noch den Willen zu einer Differenzierung.<br />
Daher braucht man zur Ausplünderung des Orients die ge<strong>ist</strong>ige<br />
Selbstentfremdung. Für Moslems, Buddh<strong>ist</strong>en, Hindus, Iraner, Türken, Araber,<br />
Schwarz und Weiß gibt es nur einheitliche Parolen, damit sie zu<br />
eindimensionalen Menschen und Verbrauchern der wirtschaftlichen und<br />
ge<strong>ist</strong>igen Waren des Westens werden, ohne eigene Gedanken zu entwickeln.<br />
Aber Gemeinschaftssinn, menschliche Werte, Tradition und Religion und ihre<br />
Persönlichkeiten stolz waren. Sie hielten die Abendländer für neureich,<br />
kritisierten sie, traten ihnen entgegen und verwiesen sie in ihre Schranken. Das<br />
Abendland drang mit L<strong>ist</strong> und Tücke in diese Festung ein, überfiel den<br />
Orientalen und heimlichen Krankheiten, fraß sich allmählich von innen durch<br />
und vernichtete all jene Widerstandskräfte. <strong>Die</strong> stolzen Menschen, die<br />
Geschichte gemacht hatten, hießen demütig und leidenschaftslos den Feind<br />
willkommen, nahmen alles an, was ihnen angeboten wurde und taten alles, was<br />
ihnen angeboten wurde und taten alles, was der Abendländer zu wünschen<br />
beliebte.<br />
<strong>Die</strong> Rolle der Frau während des Überfalls<br />
In den islamischen Ländern spielte die Frau eine bedeutende Rolle bei der<br />
Veränderung der Sitten und Gebräuche, der alten Gesellschaftsordnung, der<br />
Gesellschaftsverhältnisse, der ge<strong>ist</strong>igen Werte und- noch wichtiger- der<br />
Konsumgewohnheiten (ebenso, wie sie bei ihrer Erhaltung eine bedeutende<br />
Rolle gespielt hatte), denn sie <strong>ist</strong>- besonders im Orient- gefühlsbetont und eher<br />
bereit, die neuen pseudo-zivilisatorischen Phänomene wie z.B. das neue<br />
Konsumangebot zu akzeptieren, zumal, wenn sie auf der einen Seite der
ständigen und verblendenden Ausstrahlung der Schönheit ausgesetzt <strong>ist</strong> und auf<br />
der anderen Seite nur der Hässlichkeit begegnet.<br />
In der Kolonialzeit ging der Europäer in betrügerischer Absicht zu den<br />
schwächsten Stämmen und bot den Eingeborenen farbigen Glasschmuck an, der<br />
viel schöner war als der echte. Abvisiert waren Häuptlinge, Grundbesitzer und<br />
Viehzüchter der primitiven Stämme, die – wie psychologisch erwiesen <strong>ist</strong>,<br />
waren sie umso mehr dem Luxus verfallen, je primitiver sie waren- sich zu ihren<br />
Festen mit dem unechten Schmuck behingen. Als Gegenle<strong>ist</strong>ung bekamen die<br />
Europäer Schafe, Grundstücke oder Konzessionen für Diamantenminen oder<br />
zum Anpflanzen von Kaffee. Bei diesem Geschäft spielt die modern<strong>ist</strong>ische, von<br />
Komplexen geplagte, auf das Äußere bedachte afrikanisch Frau eine besondere<br />
Rolle.<br />
In einer Pseudo-islamischen Gesellschaft wie der unsrigen leidet andererseits die<br />
orientalische Frau im Namen der Religion und der Tradition mehr denn je. Ihr<br />
werden das Recht auf Ausbildung, Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer<br />
ge<strong>ist</strong>igen Fähigkeiten sowie viele andere gesellschaftlichen Rechte vorenthalten.<br />
Nicht selten werden ihr im Namen des Islam Rechte und Möglichkeiten streitig<br />
gemacht, die ihr erst der Islam zugesprochen hatte. Ihre gesellschaftliche Rolle<br />
beschränkt sich auf die Funktion einer Waschmaschine und als Mensch <strong>ist</strong> sie<br />
nur Mutter der Kinder. Man schämt sich sogar, ihren Namen zu erwähnen und<br />
nennt sie mit dem Namen der Kinder, auch wenn diese Jungen sind.<br />
Unterdrücker und Unterdrückte<br />
„An einer Unterdrückung sind mindestens zwei Seiten beteiligt: Unterdrücker<br />
und Unterdrückte!“, hat einst Ali festgestellt. Unterdrückung einsteht nur durch<br />
dieses Zusammenwirken. Sie kann nicht einseitig zustande kommen. Es muss<br />
auch jemand da sein, der sich dem Willen des Unterdrückers beugt.<br />
Nicht nur an der Unterdrückung, sondern auch an der Korruption, dem<br />
moralischen Verfall, an Versagen und Niederlagen sind immer zwei Seiten<br />
beteiligt. Bei der Niederlage einer Gemeinschaft gibt es nicht nur einen Sieger,<br />
sondern auch einen Besiegten. Es war nicht Dschingis Khan, der uns im 7.<br />
Jahrhundert (nach islamischer Zeitrechnung = 13. Jahrhundert n Chr. )<br />
unterwarf, sondern es war unsere im Inneren zerfallenen Gesellschaft, die diesen<br />
Niedergang herbeiführte. Wir hatten uns seit dem %.Jahrhundert (11.<br />
Jahrhundert n.Chr.) auf die Niederlage vorbereitet. Dschingis Khan brauchte<br />
diesem verfallenen Gebäude nur einen Stoß zu versetzen. Wenn ein äußerlich<br />
mächtiger Baum durch einen Windstoß zu Boden fällt, hat dies weniger mit dem
Wind zu tun als mit der inneren Beschaffenheit des morschen Baumes, denn der<br />
Wind hat schon immer geweht.<br />
Wenn die südländische Frau von heute darauf besessen <strong>ist</strong>, die Farbe zu<br />
wechseln und zu einer europäischen Puppe (nicht zu einer europäischen Frau) zu<br />
werden, müssen wir die Schuld nicht nur auf der anderen Seite der Grenze beim<br />
fremden Kolonialismus suchen, sondern ebenfalls auf dieser Seite bei uns selber.<br />
Denn auch wir haben dazu in großem Maße beigetragen. Wir haben die Frau<br />
vergrault und sie dem Abendländer in die Arme getrieben.<br />
Wir nannten sie „schwaches Geschlecht“, „Klotz am Bein“, „Sklavin des<br />
Ehemannes“, „Mutter der Kinder“, „Weibsstück“, „Frauenzimmer“,<br />
„Weibsbild“ usw. Ihre Schöpfungsgeschichte trennten wir von der des<br />
Menschen. Wir diskutierten darüber, ob die Frau schreiben lernen dürfe und<br />
waren dagegen, weil wir fürchteten, sie könnte Briefe an fremde Männer<br />
schreiben (mit demselben Argument hätten wir ihr ebenfalls das Augenlicht<br />
verbieten können; auf diese Weise wäre der eifersüchtige Ehemann bis zum<br />
Ende seines Lebens seiner Sache sicher und brauchte die Untreue des<br />
„schwachen Geschlechtes“ nicht zu fürchten). Auf diese Weise sollten die<br />
Tugend und die sittliche Reinheit der Frau geschützt werden, und zwar durch<br />
Mauern und Ketten, nicht aber durch Erkenntnis und Bildung, wie es einem<br />
Menschen zusteht. Wir behandelten sie als ein wildes Tier, das man nicht<br />
erziehen und zähmen kann; sie wurde zu Hause festgehalten, um zu verhindern,<br />
das sie wegläuft. Ihre Sittsamkeit verglichen wir mit Tau, der keinen<br />
Sonnenschein verträgt. Sie glich einer Gefangenen, der der Zutritt zu Schulen,<br />
Bibliotheken und der Gesellschaft verwehrt blieb. Wie die Unberührbaren zählte<br />
sie in der Gesellschaft nicht zu den Menschen. Wir glaubten zwar, das der<br />
Mensch ein soziales Wesen sei, hielten die Frau aber von der Gesellschaft fern.<br />
Der Spruch des Propheten:<br />
„Jeder Moslem, ob Frau oder Mann, <strong>ist</strong> verpflichtet zu lernen.“, wurde zwar bei<br />
jeder Gelegenheit von der Kanzel herab verkündet und man sprach den ganzen<br />
Monat Ramadan darüber, aber wenn es darauf ankam, hatte nur der Mann das<br />
Recht zu lernen. Der Frau, abgesehen von einigen reichen Familien, die sich<br />
Privatlehrer le<strong>ist</strong>en konnten, blieb das Recht auf Bildung verwehrt. Sie durfte<br />
dieses Gebot der Religion nicht erfüllen.<br />
An religiösen Aktivitäten und Vorlesungen über den Koran, die Exegese, die<br />
Tradition des Propheten, Philosophie, Mystik und Geschichte durfte sie nicht<br />
teilhaben. Ihr wurde nur zugestanden, bei Trauerversammlungen einsam in einer<br />
Ecke zu sitzen und für sich allein zu weinen. Am Anfang einer Trauerrede gab<br />
der Prediger Wissenswertes zum Besten. Der Hauptadressat war hierbei der<br />
Mann, denn die Frau besaß als Analphabetin keine Allgemeinbildung und<br />
konnte die tiefsinnigen Worte nicht verstehen. <strong>Die</strong> Frauen wurden nicht
angesprochen, sondern mit den Worten „sei ruhig, Du Schwachkopf! Benimm<br />
Dich, lass Dein Kind nicht so schreien!“ angeschrieen. Angeschrienen wurde die<br />
Frau und angeredet der Mann. Wenn dann gegen Ende einer Trauerrede der<br />
Prediger zu der Stelle kam, wo geweint werden sollte, pflegte er sich an die<br />
Frauen zu wenden und sie erst jetzt mit gebührendem Respekt zum Weinen zu<br />
ermutigen, damit seine Trauerversammlung in Schwung käme.<br />
<strong>Die</strong> Frau produzierte zu Hause Kinder und in der Gesellschaft Tränen; nur so<br />
weit reichten ihre Produktivkräfte.<br />
Ist <strong>Fatima</strong> der Idealtyp dieser Frauen?<br />
Sie erzog eine Tochter wie Zeinab, die sich nach der Ermordung ihrer Familie,<br />
unter anderem zweier ihrer Brüder, in die Hauptstadt des Schreckens begab, den<br />
mächtigen Umayyaden- Herrscher als Mörder zur Rede stellte und ihm in aller<br />
Ruhe sagte, sie sei darauf stolz, das der göttliche Segen ihrer Familie zuteil<br />
geworden sei. Ist eine solche Erhabenheit und ge<strong>ist</strong>ige Größe das Ideal der<br />
Frauen, die sich vor Spinnen fürchten?<br />
Der Frau wurde alles vorenthalten, sogar der Islam. Sie durfte nicht einmal ihre<br />
eigene Religion kennen lernen. Einer ge<strong>ist</strong>igen Beschäftigung konnte sie nicht<br />
nachgehen, weil sie keine Bildung besaß. Daher redete sie zum Zeitvertreib über<br />
andere Leute. Da sie keine kulturellen und religiösen Veranstaltungen besuchen<br />
durfte, organisierte sie selbst Trauersitzungen. Man hielt sie dem Manne ge<strong>ist</strong>ig<br />
mit der Begründung nicht für ebenbürtig, das sich die Frau nicht wie der Mann<br />
täglich in vielen Veranstaltungen weiterbilden könne. Man könnte ebenso gut<br />
jemanden die Hand abhacken und ihn von allen Aktivitäten mit der Begründung<br />
ausschließen, er sei den anderen nicht ebenbürtig. So willkürlich <strong>ist</strong> die<br />
Behandlung der Frau in unserer Gesellschaft. Aberglaube, Ignoranz,<br />
Rückständigkeit, überholte Bräuche, Hypotheken der primitiven und<br />
patriarchalischen Gesellschaft sowie sexuelle und psychische Komplexe bilden<br />
ein Spinnennetz, worin sich die Frau verfangen hat. Es <strong>ist</strong> umso bedauerlicher,<br />
als sie in ihrem Gefängnis im Namen des Islam, der Tradition und als Ebenbild<br />
<strong>Fatima</strong>s festgehalten wird.<br />
All das wird sowohl mit sittlicher Reinheit als auch damit gerechtfertigt, das die<br />
Frau ihre Kinder zu erziehen und unfähig bezeichnet und von jeglicher Bildung,<br />
Erziehung und kulturellen, ge<strong>ist</strong>igen und gesellschaftlichen Tätigkeit<br />
ausgeschlossen werden, die Generation von morgen erziehen? Vielleicht meint<br />
man damit auch „Kinder züchtigen“.<br />
Von einem schwachen, hausgebundenen, ge<strong>ist</strong>ig zurückgehaltenen und ohne<br />
Erziehung herangewachsenen Geschöpf kann man nicht erwarten, das es sich in<br />
die empfindsame kindliche Psyche hineindenkt. <strong>Die</strong> Frau kann das Kind stillen
und trockenlegen, sonnst nichts. Seine Erziehung wird sie mit Schimpfen und<br />
weinen, Schreien und Fluchen und wenn ihre körperlichen Kräfte dazu<br />
ausreichen, mit Prügel versuchen. Wenn alles nicht fruchtet, wird sie die <strong>Die</strong>nste<br />
der „Dschinnen“ , des Todesengels, von Schreckengespenstern und des<br />
„schwarzen Mannes“ in Anspruch nehmen, um dem Kind Angst einzujagen. Das<br />
sind die Mittel und Wege im Erziehungssystem einer Frau, die selbst nicht<br />
erzogen wurde und daher ihren speziellen Auftrag nicht erfüllen kann.<br />
In unserer traditionellen und rückständigen Gesellschaft wurde die Frau, die<br />
unter dem Scheinschutz der Religion stand, nur „gemästet“. Sie wurde<br />
volljährig, ohne ein einziges Mal an die frische Luft zu kommen. Gegen eine<br />
bestimmte Summe, die zwischen Verkäufer und Käufer ( ihren vorherigen und<br />
späteren Besitzern) vereinbart wurde, kam sie in das Haus , war sie, wie die<br />
Besitzurkunde sie arbeits- und wertmäßig einstufte, eine ehrbare <strong>Die</strong>nerin (daher<br />
nannte man den verheirateten Mann, „Besitzer einer <strong>Die</strong>nerschaft“) .Sie<br />
übernahm die Hausarbeit, kochte, stillte die Kinder, passte auf sie auf, putzte das<br />
Haus und führte den Haushalt. Sie war <strong>Die</strong>nerin und Krankenpflegerin, da sie<br />
jedoch dafür nicht entlohnt wurde, diente sie im Namen der Religion und das<br />
Gesetzes. Sie war außerdem noch Ehefrau, weil ihr Herr und Besitzer<br />
gleichzeitig ihr Ehemann war. Man nannte sie Mutter, weil sie die Kinder ihres<br />
Ehemannes pflegte, sie war jedoch bestenfalls Haushälterin und Amme, denn für<br />
eine andere Rolle war sie nicht erzogen worden. Ganz besonders möchte ich hier<br />
das Verhalten der reichen Väter und Ehemänner rügen , die ihren Töchter und<br />
Ehefrauen im Namen der Religion das Recht auf Bildung und Erziehung<br />
vorenthalten haben, nur weil sie Frauen sind, und dies, obwohl viele Frauen in<br />
der islamischen Geschichte hohe wissenschaftliche Würden erlangt hatten, in<br />
der Lehre und Forschung tätig gewesen waren und viele wertvolle<br />
wissenschaftliche und philosophische Werke verfasst hatten. <strong>Die</strong> Mädchen und<br />
Frauen, die nicht über die finanziellen Möglichkeiten verfügten, sich<br />
auszubilden zu lassen, und im Hause ihrer Väter und Ehemänner arbeiten,<br />
verdienen unsere Anerkennung.<br />
Lächerlich sind jene oberflächlichen Frauen, die sich Hausfrauen nennen. <strong>Die</strong>se<br />
Sorte <strong>ist</strong> eine unerträgliche Erscheinung. Sie ähnelt weder der eben<br />
geschilderten Frau noch der Nomaden- und Bauersfrau auf dem Lande, die<br />
zusammen mit ihrem Mann Ackerbau und Viehzucht betreibt, an Arbeit und<br />
Verdienst beteiligt <strong>ist</strong>, Unkraut jätet, das Vieh füttert, die Ernte einbringt, die<br />
Kühe und Ziegen melkt, Milchprodukte für den Eigenbedarf und zum Verkauf<br />
hergestellt, die Wolle verarbeitet und spinnt, Kleider näht, die Kinder stillt,<br />
kocht und den Haushalt führt. Sie <strong>ist</strong> Ehefrau, Mutter, Arbeiterin, Künstlerin,<br />
Haushälterin und Pflegerin zugleich. Sie wächst so frei wie die Pflanzen auf<br />
dem Felde. Ihre Liebe <strong>ist</strong> so rein wie die der Turteltauben in den Steppen,<br />
zärtlich gebiert und pflegt sie ihre Kinder und bleibt wie die Tauben ihrem Nest<br />
treu. Ihre Verbundenheit zu ihrem Haus wird nicht mit Mauern und Ketten
erzwungen, sie gibt ihre Freiheit aus Liebe zur Familie auf. Sie kann sie<br />
verschenken, weil sie ihr nicht genommen wurde. <strong>Die</strong> andere Frau will<br />
weglaufen, ihre Freiheit erlangen, weil sie keine hatte.<br />
Unsere oberflächliche Hausfrau ähnelt auch nicht der europäischen Frau, welche<br />
i einer Familie eine gleichberechtigte Partnerin <strong>ist</strong>. Beide arbeiten sowohl<br />
draußen als auch zu Hause, erziehen ihre Töchter genauso frei wie ihre Söhne,<br />
die Mädchen dürfen ihre Persönlichkeit in der Gesellschaft frei entfalten, ihre<br />
eigenen Erfahrungen sammeln, lernen, das Gute vom Bösen zu unterscheiden,<br />
die Tücken und Rätsel des Lebens kennen lernen, sich wie die Männer<br />
vergnügen, studieren, die Gedanken- und Fachwelt kennen lernen,<br />
gesellschaftliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangen und schließlich<br />
den zukünftigen Partner ihres Lebens selbst auswählen.<br />
Unsere oberflächliche Frau <strong>ist</strong> in Wirklichkeit nicht einmal Hausfrau. Sie sitzt<br />
zwar zu Hause, hätte die Hausarbeit le<strong>ist</strong>en können, tut es jedoch nicht, weil sie<br />
die finanziellen Möglichkeiten besitzt, <strong>Die</strong>ner, Köche und Kinderfrau<br />
einzustellen. <strong>Die</strong>se führen den Haushalt und versorgen die Kinder, sie aber<br />
bleibt eine Hausfrau ohne Hausarbeit. Sie arbeitet nicht auf dem Felde, weil sie<br />
keine Bäuerin <strong>ist</strong>; sie betreibt keine Viehzucht, weil sie nichts davon versteht;<br />
sie geht keiner Beschäftigung nach, weil sie keine Europäerin <strong>ist</strong>; sie le<strong>ist</strong>et<br />
keine ge<strong>ist</strong>ige Arbeit, weil sie keine Bildung besitzt; sie liest keine Bücher, weil<br />
sie Analphabetin <strong>ist</strong>.<br />
Was <strong>ist</strong> das für ein seltsames Geschöpf?<br />
Was tut sie eigentlich?<br />
Welche Rolle spielt sie in dieser Welt?<br />
Überhaupt keine!<br />
Ist es möglich, das ein Typ Frau keinem der im Osten und Westen bekannten<br />
alten und neuen Frauentypen entspricht?<br />
Keine der Frauen auf dem Felde, im Amt, am Fließband, in der Schule, im<br />
Krankenhaus, in Kunst, Wissenschaft, im Haushalt und nicht einmal auf den<br />
Zeitschriften entspricht diesem Frauentyp.<br />
Wollen Sie wissen, was diese Frauen eigentlich tun?<br />
Wie sie sich die Zeit vertreibt?<br />
Im Grunde genommen sind sie beschäftigt, mehr als jene fleißige Bäuerin auf<br />
dem Felde. Üble Nachrede, Neid, Rivalität, Verleumdung, Lüge,<br />
Zurschaustellung, Koketterie und Getändel dürften nicht weniger Zeit in<br />
Anspruch nehmen.
<strong>Die</strong> „Hausfrau“ dieser Art wusste schon immer, wie sie sich die Zeit vertreiben<br />
konnte. Auch in früheren Zeiten, als noch die alten Gesellschaftsverhältnisse<br />
herrschten, wussten sie schon, wie sie die erschreckende ge<strong>ist</strong>ige Leere ihres<br />
Daseins ausfüllen konnte.<br />
Das öffentliche Frauenbad, wohin sie sich einmal pro Woche Begab, glich<br />
einem Seminar, an dem honorige Herrinnen der Gesellschaft teilnahmen, deren<br />
gemeinsame Merkmale Müßiggang, Sorglosigkeit und Wohlstand waren. Sie<br />
erzählten mit Stolz bewegende Geschichten aus ihrem Leben, ließen ihrer<br />
Phantasie freien Lauf und reagierten somit ihre psychischen Komplexe ab.<br />
Seltsamerweise wusste jede, das die Geschichten erfunden waren, hörte aber<br />
dennoch mit Bewunderung, gespannt und aufmerksam zu, um die Rednerin für<br />
die eigene Zurschaustellung als Zuhörerin zu gewinnen, denn auch sie bedurfte<br />
der Gelegenheit, ihre Komplexe, die sich infolge eines unerfüllten, einsamen,<br />
unbewegten und sinnlosen Lebens angestaut hatten, durch Getue,<br />
Geschwätzigkeit, Phantasterei und persönliche Racheakte abzureagieren.<br />
<strong>Die</strong> Frauen der Wohlstandsklasse suchen heutzutage keine öffentlichen Bäder<br />
mehr auf. Der Modernismus hat ihnen das eigene Badezimmer zu Hause<br />
beschert und verbietet ihnen, aus gesellschaftlichen Gründen öffentliche<br />
Badehallen für diesen Zweck aufzusuchen. Statt dessen sind Frauenclubs<br />
eröffnet worden, welche die honorigen Hausherrinnen zu ihrem wöchentlichen<br />
Plausch einladen.<br />
<strong>Die</strong> alten religiösen oder pseudo-religiösen Partys gehören der Vergangenheit<br />
an. Das Festmahl zum Einlösen eines Gelübdes, die saisonale Trauerfeier, das<br />
Opferfest, die Brautschau, die Verkuppelung usw., die unter dem Deckmantel<br />
der Religion und des Brauchtums veranstaltet wurden und dazu beitrugen, die<br />
Einsamkeit und Langeweile zu überwinden und der Frau ein falsches Gefühl der<br />
Aktivität und Verantwortung und des Zielbewusstseins zu geben, wobei sie<br />
Gelegenheit bekam, ihre Schönheit, ihre Kleider und ihren Schmuck zur Schau<br />
zu stellen, sind inzwischen passee. Junge Frauen nehmen nur widerwillig und<br />
den Eltern zuliebe an diesen Versammlungen teil. In einer solchen Umgebung<br />
fühlen sie sich befangen und fremd und möchten bei der ersten Gelegenheit<br />
fortlaufen.<br />
Ihre Töchter wiederum, die einer anderen Generation angehören, leben zwischen<br />
zwei Welten. <strong>Die</strong> Welt ihrer Großmutter besteht ihrer Ansicht nach aus<br />
überlieferter Dummheit und erdrückend hässlichem Aberglaube.<br />
Religiöse Versammlungen und Festmähler wollen sie in der Vergangenheit<br />
festhalten. Sie dagegen fühlen sich von Büchern, Übersetzungen, Romanen.<br />
Literarischen und künstlerischen Werken der Gegenwart angezogen. Sie haben
den Ge<strong>ist</strong> ihrer Zeit ihrer Zeit mehr oder weniger erfasst und sind in der Schule<br />
mit der Wissenschaft oberflächlich in Berührung gekommen. Daher flüchten sie<br />
aus diesen Trauerversammlungen, wo in den me<strong>ist</strong>en Fällen ungebildete<br />
Prediger langweilige und unerträgliche Geschichten erzählen.<br />
Wohin wollen sie aber?<br />
<strong>Die</strong> Aufforderung, die sie von der anderen Seite erhalten, kommt von obskuren<br />
Party- und Tanzveranstaltungen und verrufenen Bars und Nachtlokalen, wo sie<br />
nur als Sex-Objekt betrachtet werden.<br />
Sie wollen ihre Menschenwürde bewahren und ihrem Glauben und ihrer Moral<br />
treu bleiben. Was ihnen aber von ihren Eltern, von der Familie und dem<br />
örtlichen Ge<strong>ist</strong>lichen im Namen der Religion, Moral, Sittlichkeit und<br />
Frömmigkeit als Alternative angeboten wird, <strong>ist</strong> eine Anhäufung von negativen<br />
Aufforderungen wie: Geh nicht, tu nicht, lese nicht, sehe nicht, sage nicht, lerne<br />
nicht, schreibe nicht, wünsche nicht und verstehe nicht.<br />
Wir sehen, lebt die Mutter in einem sinnlosen und absurden Wohlstand; sie hat<br />
weder ein Ziel noch eine Verantwortung oder eine Lebensphilosophie. Sie<br />
verfügt zwar über Geld und <strong>ist</strong> sorgenfrei, aber sie hat keine Aufgabe, um die<br />
Eintönigkeit ihres Lebens zu überwinden. So sucht sie Abwechslung beim<br />
Einkauf; herausgeputzt und übertrieben mit Schmuck unter dem Schleier<br />
beladen geht sie hinaus und versucht, mit dem Einkauf von teuren Gegenständen<br />
Spannungen in ihr Leben zu bringen.<br />
Ihre Tochter bleibt von dieser Art Spannung unberührt. Sie atmet zwar den<br />
Ge<strong>ist</strong> der Gegenwart, <strong>ist</strong> aber zwischen zwei Welten hin- und hergerissen. Einer<br />
solchen Zerreißprobe kann sie nicht standhalten. Ihr Herz hängt an den<br />
romantischen Träumen der Jugend, den Ausstrahlungen der Liebe und der<br />
Freizügigkeit, an sexuellen Versuchungen und phantasievollen Vorstellungen<br />
von einer neuen Welt, deren Grenzen sie gerade erreicht hat und in die sie mit<br />
verstohlenen Blicken verwundert hineinschaut. Ihr Körper hat sich jedoch im<br />
Netz der elterlichen Gebote und Verbote verfangen. Sie hat das Gefühl, das sie<br />
aufgrund ihres weiblichen Geschlechtes als Schmuggelware betrachtet wird und<br />
daher solange in ihrem Versteck ausharren muss, bis ein vertrauenswürdiger<br />
Schmuggler kommt und sie in sein Frauengemach einführt. Ihr einziges<br />
Betätigungsfeld <strong>ist</strong> bislang die Strecke zwischen Küche und Bett, denn der Leib<br />
und Unterleib des „Herren der Schöpfung“ verleihen ihr erst ihre<br />
Ex<strong>ist</strong>enzberechtigung und ihren Lebensauftrag. Er lässt sie nicht einmal an<br />
seinem an seinen religiösen Empfindungen und Versammlungen teilhaben.<br />
Sogar die Religion wurde weiblich und männlich; religiöse Belehrungen,<br />
Klagelieder, Trauerversammlungen und das Einlösen religiöser Gelübde sind die<br />
Religion der Frau- Bildung, Predigt, Bibliothek. Lehre, Diskussion und<br />
Vorlesungen die Religion des Mannes.
Der Ruf des Kolonialismus<br />
Der Kolonialismus stößt hier auf fruchtbaren Boden. Sein Ruf findet Widerhall.<br />
Er fordert sie auf, sich zu befreien.<br />
Wovon befeien?<br />
Einfach von allem. Du erstickst, hast keine Rechte, Dir wird alles vorenthalten.<br />
Wer unter einer Last erdrückt wird und kaum noch atmen kann, denkt an erster<br />
Stelle daran, sich so schnell wie möglich von dieser Last zu befreien; auf das<br />
„Wie“ kommt es dabei nicht an. <strong>Die</strong> Frau wird frei, aber nicht durch Wissen,<br />
Kultur, Aufklärung, Erkenntnis und Weltanschauung, sondern durch die Schere!<br />
Nur der Schleier wird abgeschnitten.<br />
Plötzlich <strong>ist</strong> die Frau aufgeklärt. <strong>Die</strong> Komplexe der islamischen und<br />
orientalischen Frau dienten den Psychologen und Soziologen dazu, im <strong>Die</strong>nste<br />
der Weltwirtschaft und des Kolonialismus die Neigung der Frau zum Kaufen als<br />
ein unterscheidendes Merkmal der Frau gegenüber dem Mann hervorzuheben. In<br />
Anänderung der Ar<strong>ist</strong>otelischen Definition des Menschen , „er sei ein redendes<br />
Tier“, wird nun behauptet, die Frau sei ein „kaufendes Tier“, als ob sie zu nichts<br />
anderem fähig wäre, keine Gefühle hätte, keine andere Rolle im Leben spielte<br />
und weder Ziel- noch Wertvorstellungen hätte.<br />
Eine für die orientalischen Frauen bestimmte Zeitschrift schrieb, das in Teheran<br />
in den Jahren 1956/66 der Verbrauch von Kosmetika um das Fünfhundertfache<br />
und die Zahl der Kosmetikinstitute gleichermaßen gestiegen sei. Das <strong>ist</strong> eine<br />
stolze Zahl, vielleicht beispiellos in der Geschichte der Menschheit. Der<br />
Verbrauch einer Ware steigt normalerweise bestenfalls um 10 oder 20% , nicht<br />
aber um 50.000%. <strong>Die</strong>s <strong>ist</strong> ein symbolischer Verbrauch. Wenn vor zehn Jahren<br />
Teheran 100.000 Toman für Puder, Lippenstift und falsche Wimpern<br />
ausgegeben wurden, so sind es heute 50 Millionen. Wurden vor zehn Jahren 10<br />
Millionen ausgegeben, so sind es heute 50 Milliarden Toman.<br />
<strong>Die</strong> Veränderung einer Konsumgewohnheit zieht andere Veränderungen nach<br />
sich. Kleide ich mich veranlasst, mein Schuhwerk und meine Mütze ebenfalls<br />
nach westlichen Muster zu ändern. Auch die Einrichtung meines Hauses bleibt<br />
davon nicht verschont.<br />
Wenn der Abendländer in einer fremden Gesellschaft einen neuen Artikel<br />
einführt, ebnet er damit den Weg für die anderen Waren. <strong>Die</strong> Veränderung der<br />
Konsumgewohnheit <strong>ist</strong> ein Indiz dafür, das der Verbraucher sich ebenfalls
verändert, denn es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem<br />
Verbraucher und seiner Gewohnheit.<br />
Der Veränderung des Konsumverhaltens muss eine grundlegende<br />
Umorientierung der Anschauung, des Geschmacks und des<br />
Geschichtsverständnisses vorrausgegangen sein. In den islamischen Ländern soll<br />
die Frau nicht nur zu einem Verbraucher der westlichen Waren umerzogen<br />
werden, sondern sie soll außerdem aufgrund ihrer Fähigkeit, durch die Familie<br />
auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Generationen von heute und morgen,<br />
die Gesellschaftsordnung, die moralischen Werte, die Weltanschauung, Literatur<br />
und Kunst Einfluss nehmen zu können, aktiviert werden.<br />
<strong>Die</strong> Erfordernisse der Zeit, die Kultur, die gesellschaftlichen Möglichkeiten, die<br />
moderne Wirtschaft, die veränderten Gesellschaftsverhältnisse und neue Ideen<br />
verändern zwangsläufig den Menschentyp und seine Gewohnheiten. <strong>Die</strong> Frau<br />
ändert ebenfalls die Form und den Inhalt ihrer Lebensweise, denn die<br />
Lebensbedingungen der Vergangenheit wären für die Frau von heute unmöglich<br />
und unzureichend.<br />
Da diese Veränderung unvermeidlich sind und sich die Denker und<br />
Aufgeklärten der Gesellschaft äußerst ungeschickt verhalten, fällt dem<br />
Kapital<strong>ist</strong>en die Aufgabe zu, dieser Frau, die gerade aus ihrer traditionellen<br />
Schale herausgeschlüpft <strong>ist</strong>, eine eigene Aufmachung anzubieten, ihr die<br />
gewünschte Form zu geben und sie damit zu beauftragen, die Gesellschaft nach<br />
seiner Vorstellung umzugestalten und mit den Worten Francos, „eine fünfte<br />
Kolonne im Inneren zu schaffen“.<br />
Was sollen wir tun?<br />
Wie sollen wir auf erzwungene ge<strong>ist</strong>ige Veränderungen reagieren?<br />
Wer hat hier den Auftrag, dagegen etwas zu unternehmen?<br />
Weder die der Tradition und Vergangenheit verhaftete Frau noch die neue, nach<br />
den Vorstellungen des Gegners geformte Puppe können jedoch bei der Lösung<br />
dieses Problems eine Rolle spielen.<br />
Sie <strong>ist</strong> vielmehr eine Frau, die mit den starren alten Traditionen- welche die<br />
reaktionäre Denk- und Verhaltensweise im Namen der Religion in der<br />
Gesellschaften erhalten sollen- bricht und neue menschliche Eigenschaften<br />
annimmt. <strong>Die</strong>se Rolle muss vielmehr von einer Frau übernommen werden, die<br />
sich weder mit den überlieferten und toten Gedanken der Vergangenheit noch<br />
mit den verführerischen, eingeführten Parolen zufrieden gibt. Sie erkennt hinter
der Maske der Freiheit das hässliche Gesicht der Unmenschlichkeit, der<br />
ge<strong>ist</strong>igen Abhängigkeit und der Diskriminierung der Frau.<br />
Nur sie weiß, wer seine Hände im Spiel hat, wenn uns eine andere Lebensweise<br />
angeboten oder aufgezwungen wird. Aufgeputzte Puppen, denen es an<br />
Empfindungen, Verstand, Verständnis, Verantwortungsgefühl und menschlichen<br />
Gefühlen fehlt, sind der Frauentyp, der uns angeboten wird. Sie wissen wohl,<br />
wes Ge<strong>ist</strong>es Kind dieser Typ <strong>ist</strong>. Sie wollen weder das eine noch das andere. Für<br />
sie geht es um das „Wie“. Sie wollen sich die Wahl nicht nehmen lassen und<br />
sich weder dem Vergangenen noch dem Gegenwärtigen unterordnen. Sie suchen<br />
ein Vorbild, dem sie nachstreben können.<br />
Wen?<br />
<strong>Fatima</strong><br />
<strong>Fatima</strong> war die vierte und jüngste Tochter des Propheten. Sie wurde als letztes<br />
Kind einer Familie geboren, die keinen Sohn mehr hatte und in einer<br />
Gesellschaft, in der der Wert einer Familie nach der Zahl ihrer Söhne beurteilt<br />
wurde.<br />
<strong>Die</strong> arabischen Stämme hatten bis zur vorislamischen Zeit die martialische<br />
Gesellschaftsordnung hinter sich gelassen. Ihr Leben wurde von der<br />
patriarchalischen Gesellschaftsordnung bestimmt. Götter wurden männlich,<br />
Götzen und Engel weiblich. Der Stamm wurde von den „Ältesten“ (Scheichs)<br />
regiert, in der Familie und Großfamilie herrschte der Großvater. <strong>Die</strong> Religion<br />
war die Tradition der Väter. <strong>Die</strong> Anschauungen der Vorfahren dienten als<br />
Maßstäbe in Glaubensdingen. Alle im Koran erwähnten Propheten lehnten sich<br />
gegen die Religion der Vorfahren auf. Ihr Volk le<strong>ist</strong>ete Widerstand gegen diese<br />
Auflehnung und die Rückkehr zu den Ursprüngen der Religionen. Es wollte die<br />
Tradition der Väter aufrechterhalten. <strong>Die</strong>s war eine traditional<strong>ist</strong>ische Reaktion<br />
aufgrund des Patriarchentums, das andere ein bewusster, revolutionärer Auftrag<br />
auf der Basis des Monotheismus.<br />
Außerdem räumte das Stammesleben unter den harten Bedingungen der Wüste<br />
und mit Rücksicht auf feindselige Beziehungen der Stämme untereinander, die<br />
sich me<strong>ist</strong>ens in Angriff und Verteidigung erschöpften, dem Sohn eine<br />
Sonderstellung ein, die nur mit der Nützlichkeit seiner militärischen Le<strong>ist</strong>ungen<br />
zu rechtfertigen war. Da aber nach einem allgemeingültiges Gesetz der<br />
Soziologie die Nützlichkeit mit der Zeit den Wert ersetzt, hielt man den Sohn<br />
der Familie an sich für etwas Besseres; man schrieb ihm größere ge<strong>ist</strong>ige<br />
Fähigkeiten und höheres moralisches Ansehen in der Gesellschaft zu. Im
gleichen Maße wurde die Tochter der Familie herabgewürdigt, gedemütigt und<br />
ihre Stellung geschwächt. Der Demütigung folgte die Gefangenschaft und die<br />
Gefangenschaft minderte ihren Wert. Sie wurde zum Besitz des Mannes, zu<br />
einer Schande für den Vater und zum sexuellen Objekt des Ehemannes.<br />
Sie wurde zum Schreckengespenst für jeden eifersüchtigen Ehemann, der darauf<br />
bedacht war, das sie ihm keine Schande mache. Sicherer wäre es natürlich<br />
gewesen, sie noch als Kind lebendig zu begraben, damit die Ehre der Männer<br />
der Familie nicht befleckt werde, nach den Worten Ferdousis (36):<br />
„Frau und Drache gehören unter die Erde, wenn man die Welt von ihrer Schande<br />
befreien möchte.“<br />
Mit dieser Absicht <strong>ist</strong> er in bester Gesellschaft mit jenem arabischen Dichter, der<br />
gesagt hat:<br />
„Jeder Vater, der seine Tochter am Leben lassen will, denke an drei Bräutigame<br />
für sie: der erste <strong>ist</strong> das Haus, in dem er sie versteckt, der zweite der Ehemann,<br />
der sie aufnimmt und der dritte das Grab, das sie bedeckt. Das Grab aber <strong>ist</strong> der<br />
beste Bräutigam für sie.“<br />
<strong>Die</strong>se Vorstellung schien im Ge<strong>ist</strong>e aller eifersüchtiger Männer zu ex<strong>ist</strong>ieren.<br />
Jeder Vater oder Bruder, der wert auf die Ehre seiner Familie und Ahnen legte<br />
und etwas von Ruhm und Schande verstand, wartete sehnsüchtig darauf, das<br />
seine Tochter bzw. seine Schwester die Ehe mit dem Tod, diesem schrecklichen<br />
Bräutigam, einging, mit anderen Worten, sie wünschten den besten Bräutigam<br />
für sie, denn nach einem arabischen Spruch galt es als edle Tat, ein Mädchen<br />
lebendig zu begraben.<br />
Daher tadelt der Koran diese eifersüchtigen Wilden mit den Worten:<br />
„Wenn einem von ihnen die Geburt eines weiblichen Wesens angesagt wird,<br />
blickt er ständig finster drein und grollt.“<br />
<strong>Die</strong> islamische Schriftstellerin Dr. Aishe Abd al-Rahman Binti Shatti macht<br />
aufgrund ihrer Koranuntersuchungen die bedeutende Feststellung, das diese<br />
tragische Handlungsweise wirtschaftliche Gründe hatte und die Angst vor<br />
Armut die vorislamische arabische Gesellschaft dazu veranlasste. Das bestätigt<br />
die von den me<strong>ist</strong>en Soziologen vertretene Ansicht, das die moralischen und<br />
ideellen Begriffe über die Frage der Geschlechter und Empfindungen wie Ehre<br />
und Stolz bei der Geburt der Tochter und Bedenken, das die Frauen während<br />
eines Krieges in Gefangenschaft geraten könnten, sekundäre Erscheinungen sind<br />
und auf Ursachen wirtschaftlicher Natur beruhen, die im Laufe der Zeit solche<br />
Formen angenommen haben. Wie schon oben erwähnt, erforderten die
Gesellschaftsordnung der Stämme, die harten Lebens- und Produktionsbedingungen<br />
(besonders in der arabischen Wüste) und die ständigen<br />
Stammesfehden einen besonderen, harten Menschentyp. Aus diesem Grunde<br />
wurde der Mann zwangsläufig aus wirtschaftlichen Klassenunterschied.<br />
Der Mann gehörte der herrschenden und besitzenden, die Frau der beherrschten<br />
und besessenen Klasse an. Ihre Beziehung zueinander war die eines Herren zu<br />
seinem Untertanen. <strong>Die</strong> wirtschaftlich unterschiedliche Stellung der<br />
Geschlechter hatte zur Folge, das sie auch moralisch und ge<strong>ist</strong>ig mit zweierlei<br />
Maß gemessen wurden. <strong>Die</strong>se Entwicklung kann man ebenfalls bei den<br />
besitzenden Familien beobachten, die durch ihre wirtschaftliche Macht zu<br />
moralischem und ge<strong>ist</strong>igem Ansehen gelangen und erbliche Tugenden, noble<br />
Charakterzüge, natürliche Vornehmheit und blaues Blut zugebilligt bekommen.<br />
<strong>Die</strong> Armut dagegen macht das alles zunichte.<br />
Daher wird die Geburt einer Tochter als Schmach und Schande empfunden, weil<br />
die Eltern u.a. befürchten müssen , das sie eventuell nicht standesgemäß<br />
verheiratet werden kann. Meines Erachtens hat diese Befürchtung, die ja auf<br />
moralischen Bedenken beruht, einen handfesten wirtschaftlichen Hintergrund,<br />
Es soll nämlich gewährle<strong>ist</strong>et sein, das Eigentum ungeteilt auf die nächste<br />
Generation der Familie übergeht. Daher wird in der patriarchalischen<br />
Gesellschaftsordnung der älteste Sohn als Alleinerbe eingesetzt. Er erbt alles,<br />
auch die Aufsichtspflicht über die Frauen des Vaters, also auch über die eigene<br />
Mutter. <strong>Die</strong> Töchter werden vom Erbe ausgeschlossen, damit das Vermögen des<br />
Vaters nicht geteilt wird und durch die Heirat der Tochter auf andere Familien<br />
übergeht. Aus diesem Grunde ex<strong>ist</strong>iert noch heute in alten iranischen<br />
Adelsfamilien der Brauch, das Ehen nur innerhalb der Großfamilien geschlossen<br />
werden. <strong>Die</strong>se Ehen unter Vettern und Kusinen seien im „Himmel“ geschlossen<br />
worden; natürlich will man dadurch verhindern, das sie auf dem „Standesamt“<br />
mit einem Fremden die Ehe eingehen und der Familie mit dem Austritt der<br />
Kusine aus der Familie ein Teil des Vermögens verloren geht.<br />
Sowohl die alten Geschichtsschreiber als auch die neuen Religionswissenschaftler<br />
fanden für das Lebendigbegraben der Mädchen in der<br />
vorislamischen Zeit viele Erklärungen. Sie versuchten, es mit Begriffen wie<br />
„angst vor Schande“, „Ehrgefühl“ und „Abneigung gegen nicht-standesgemäße<br />
Heirat der Mädchen“ zu erklären.<br />
Einige Oriental<strong>ist</strong>en und Religionsh<strong>ist</strong>oriker hielten es für die Fortsetzung jenes<br />
Brauches in den primitiven Religionen, nach dem die Mädchen den Gottheiten<br />
geopfert wurden. Der Koran macht in diesem Punkt eine richtige und klare<br />
Feststellung:
Hier wird Armut als Ursache genannt, also der wirtschaftliche Faktor. Alles<br />
andere sind leere Redensarten. Der koranische Ausdruck will nicht nur der<br />
Sache auf den Grund gehen, sondern in aller Offenheit diejenigen anprangern,<br />
die für das Begraben ihrer Töchter bei lebendigem Leibe moralische und<br />
ehrenhafte Motive gelten machen wollten und versuchten, ihre unmenschliche<br />
Grausamkeit, die sie aus niederen Beweggründen, Angst vor Armut und<br />
Besitzgier an den Tag legten, mit schönen Worten wie Ehrgefühl, Familienstolz,<br />
Sittlichkeit und Reinheit zu rechtfertigen.<br />
„Und Ihr sollt Eure Kinder nicht wegen Verarmung töten. Wir bescheren ihnen<br />
und Euch den Lebensunterhalt.“ (Koran 6/151)<br />
„Und tötet nicht Eure Kinder aus Furcht vor Verarmung, wir bescheren ihnen<br />
und Euch den Lebensunterhalt. Sie zu töten, <strong>ist</strong> eine schwere Verfehlung.“<br />
(Koran 17/31)<br />
Wie schon erwähnt, bin ich der Meinung, das mit der Wiederholung der<br />
koranischen Feststellung „wir bescheren ihnen und Euch den Lebensunterhalt“,<br />
also tötet sie nicht aus Furcht vor „Verarmung“, beabsichtigt wird, erstens die<br />
tiefgehende Ursache dieser Tragödie aufzuzeigen und die Menschen darüber<br />
aufzuklären, und zweitens, alle eigens dafür erfundenen moralischen und<br />
menschlichen Rechtfertigungen Lügen strafen. Hier wird in aller Offenheit<br />
erklärt, das diese Tat mit Moral und Ehre nichts zu tun hat, sondern aus<br />
Besitzgier, Schwäche und Angst herrührt und ganz und gar wirtschaftlich<br />
begründet <strong>ist</strong>. Das subjektive Empfinden der Allgemeinheit war sich dieser<br />
Tatsache allerdings nicht bewusst. <strong>Die</strong>ses Verhalten wurde allgemein als<br />
Zeichen des wachen Gewissens, des Ehrgefühls, des Familienstolzes und der<br />
Kühnheit gewertet; denn alle menschlichen Werte wurden dem Sohn<br />
zugesprochen, während der Tochter alle menschlichen Tugenden aberkannt<br />
wurden. Der Sohn half, das Vermögen des Vaters zu vermehren, beschützte die<br />
Familie und begründete Ruhm des Vaters und der Familie in Stammesfehden. Er<br />
erbte die Familienehre und alle Auszeichnungen seines Geschlechtes und<br />
sicherte den Fortbestand der Familie und ihres Namen nach dem Tode des<br />
Vaters.<br />
<strong>Die</strong> Tochter war nur eine Belastung für die Familie und ein lebendiger<br />
Haushaltsgegenstand. Sie gab ihre Identität in einem fremden Haus auf und<br />
wurde zum Gegenstand des anderen Hauses, wo sie nicht einmal ihren Namen<br />
behalten durfte. Ihre Kinder gehörten einem Fremden und trugen den Namen<br />
und die Bezeichnung eines fremden Geschlechtes. Aus diesem Grunde war der<br />
Sohn Symbol der wirtschaftlichen Macht, die gesellschaftliche Stütze, der<br />
Kriegskamerad, die Lebensfreude, die Würde und das Ansehen des Vaters und<br />
ein Garant für den Fortbestand der Familie und ihrer zukünftigen Macht. <strong>Die</strong><br />
Tochter aber stellte nichts dar, Sie war einfach die „Blöße“ der Familie, die es
zu verstecken galt. Wegen ihrer Schwäche musste sie immer behütet werden.<br />
Sie war die Achilles-Ferse des Krieges, schränkte seine Bewegungsfreiheit beim<br />
Angriff ein und bereitete im Sorgen bei der Verteidigung, weil er befürchten<br />
musste, das sie durch ein Versäumnis in Gefangenschaft geraten konnte und den<br />
tapferen Kriegern des Stammes eine ewige Schande bereiten würde. In<br />
Friedenszeiten mussten die eifrigen Herren darum zittern, das sie die Familie<br />
bloßstellen könnte, oder sich darüber ärgern, das sie nach soviel Mühen und<br />
Kosten anderen gehören und als reife Frucht von Fremden gepflückt würde.<br />
<strong>Die</strong> einfachste Lösung war also, sie schon im Mutterschoß in den Tod zu<br />
schicken und – wie es so schön heißt – mit dem kalten Grab zu vermählen.<br />
Einen Mann, der keinen Sohn hatte, nannte man „gestutzt“. Er galt als<br />
unfruchtbar, weil er keinen männlichen Nachkommen hatte. Dem Propheten<br />
wurde von den Ungläubigen ebenfalls der Beiname „gestutzt“ gegeben. Daher<br />
wurde ihm die frohe Botschaft Gottes offenbart, er werde eine große<br />
Nachkommenschaft haben.<br />
<strong>Die</strong>s geschah in einer Zeit und Umgebung, als das Schicksal heimlich eine<br />
Umwälzung in diesem ruhigen und verpesteten Sumpf vorbereitete, um das<br />
Machwerk aus den Fugen zu heben.<br />
<strong>Die</strong>se ehrenvolle und schwere Aufgabe wurde zwei Persönlichkeiten zuteil:<br />
einem Vater und seiner Tochter.<br />
Mohammad sollte als Vater die schwere Bürde tragen und neue und<br />
revolutionäre Werte schaffen, <strong>Fatima</strong> als Tochter sie in die Tat umsetzten.<br />
Wie ?<br />
Der Stamm der Qureisch war der größte arabische Stamm. Er hatte sich religiöse<br />
und soziale Verdienste erworben und stellte die Ar<strong>ist</strong>okratie der Gesellschaft.<br />
<strong>Die</strong> Familie Bani Umayya und Bani Haschem verstanden sich als Bewahrer<br />
dieser ehrenhaften Tradition. <strong>Die</strong> Bani Umayya besaßen ein größeres<br />
Vermögen, während die Bani Haschem mehr Ansehen besaßen, denn letzteres<br />
wurden als Wächter der Kaaba in Mekka eingesetzt. Abd al-Mutalleb (37) , der<br />
Scheich des Stammes der Qureisch, entstammte diesem Geschlecht.<br />
Sein Sohn und der Nachfolger Abu Taleb (38) besaß nicht die Macht und den<br />
Einfluss des Vaters. Im Geschäftsleben gescheitert, hinterließ er seinen Kindern<br />
Armut. Zwischen den beiden Großfamilien herrschte eine starke Rivalität. <strong>Die</strong><br />
Bani Umayya versuchten, die Macht an sich zu reißen und das Ansehen der Bani<br />
Haschem zu untergraben. <strong>Die</strong> einzige Familie aus dem Geschlecht der Bani
Haschem, die zu jener Zeit neues Ansehen erworben hatte, war die Familie<br />
Mohammads. Mohammad, der Enkel Abd al-Mutallebs, hatte durch seine Heirat<br />
mit Khadija, einer bekannten und reichen Persönlichkeit aus Mekka, seine<br />
soziale Stellung gefestigt.<br />
Das große Ansehen, das Mohammad unter dem Volk, insbesondere bei den Bani<br />
Haschem und Qureisch aufgrund seiner starken Persönlichkeit und<br />
Zuverlässigkeit genoss, hatte alle hoffen lassen, das er die stolze Tradition Abd<br />
al-Manafs (39) und der Ar<strong>ist</strong>okratie der Bani Haschem weiterführen und das<br />
Ansehen Abd al-Mutallebs wiederherstellen würde, denn Hamza (40) war nur<br />
ein Kämpfer, Abu Lahab genoss kein Ansehen, Abbas besaß zwar Geld, jedoch<br />
keine Persönlichkeit, Abu Taleb war eine große Persönlichkeit, besaß aber kein<br />
Geld. Mohammad war der einzige, der trotz seiner jungen Jahre wie seine Frau<br />
eine einnehmende Persönlichkeit war und ein beträchtiges Vermögen besaß. Es<br />
lag also nahe, das die Nachkommen der Familie der Bani Haschem von diesem<br />
Hause aus ihren Einfluss auf Mekka ausbreiten würden.<br />
Starke Männer sollten aus diesem Hause stammen und der Familie Abd al-<br />
Mutallebs und Mohammads Macht, Ansehen und eine starke Stellung verleihen.<br />
Das erste Kind Mohammads war ein Mädchen: Zeinab. <strong>Die</strong> Familie hatte aber<br />
einen Jungen erwartet. Auch das zweite Kind war ein Mädchen: Rughiya. <strong>Die</strong><br />
Erwartung wurde größer und die Not stärker. Das dritte Kind war ebenfalls ein<br />
Mädchen: Umm-i Kultum. Darauf wurden zwei Jungen geboren: Ghasem und<br />
Ibrahim. Durch ihren früheren Tod wurden jedoch die großen Hoffnungen, die<br />
sie geweckt hatten, enttäuscht.<br />
Nun gab es noch drei Kinder in diesem Haus, und alle drei waren Mädchen. <strong>Die</strong><br />
Mutter war schon sechzig Jahre alt; der Vater; obwohl seinen Töchtern<br />
besonders zugetan, teilte die Gefühle, Nöte und Erwartungen seiner<br />
Verwandten. <strong>Die</strong> Hoffnung, Khadija könne im hohen Alter noch ein Kind<br />
gebären, war sehr gering.<br />
Noch einmal jedoch sollte die gespannte Erwartung in diesem Haus ihren<br />
Höhepunkt erreichen: eine letzte Chance für die Familie Abd al-Mutallebs: aber<br />
wieder wurde es ein Mädchen. Sie wurde <strong>Fatima</strong> genannt.<br />
Nun konzentrierten sich die hoffnungsvollen Erwartungen auf die Bani Umayya.<br />
<strong>Die</strong> Schadenfreude drückte sich in Beschimpfungen und Beleidigungen aus:<br />
Mohammad sei gestutzt (unfruchtbar), er sei das letzte Kettenglied des<br />
Familienstammes und Oberhaupt einer „Vier-Mädchen“ Familie.<br />
Das Schicksal aber hatte ein wundervolles Spiel vorbereitet: das Leben geht<br />
weiter, Mohammad wird von inneren Stürmen, die sein Sendungsbewusstsein
geschärft haben, ergriffen. Er wird Prophet, erobert Mekka, unterwirft die<br />
Qureisch und alle anderen Stämme; sein Einfluss erstreckt sich auf die ganze<br />
arabische Halbinsel. Sein Schwert kratzt den Weltreichen den Putz vom Gesicht,<br />
ein Prophet mit weltlicher Macht, dessen Ruhm mit der Vorstellungskraft der<br />
Bani Umayya und Bani Haschem nicht zu erfassen <strong>ist</strong>, eine Pflanze, die keinen<br />
Stamm der Familien Abd al-Manaf, Haschem oder Abd al-Mutalleb entsprungen<br />
<strong>ist</strong>, sondern in der Wüste gewachsen und mächtig geworden <strong>ist</strong> und seiner<br />
ganzen Umgebung, ja der ganzen Welt Schatten spendet. Auf der Höhe seiner<br />
Macht und Ausstrahlung hält er sich in Medina auf.<br />
Er hatte vier Töchter. Drei von ihnen starben schon vor ihm. Zuletzt blieb ihm<br />
nur noch ein einiges Kind, seine jüngste Tochter <strong>Fatima</strong>.<br />
<strong>Fatima</strong><br />
Sie <strong>ist</strong> Erbin aller ruhmvollen Eigenschaften ihrer Familie, Erbin einer neuen<br />
Elite, die ihr Selbstverständnis nicht auf Gut und Blut zurückführt, sondern auf<br />
göttliche Offenbarung. Sie <strong>ist</strong> ein Kind des Glaubens, des Kampfes, der<br />
Revolution, des ge<strong>ist</strong>igen Reichtums, der Menschlichkeit und aller hohen<br />
ge<strong>ist</strong>igen Werte. In seiner Botschaft fühlt sich Mohammad nicht mit Abd al-<br />
Mutalleb, Abd al-Manaf, den Qureisch und den Arabern verbunden, sondern mit<br />
der Geschichte der Menschheit. Er führt die Traditionen Abrahams, Noahs,<br />
Moses und Jesus fort; <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> seine Alleinerbin.<br />
„Wir haben Dir die Fülle gegeben, bete darum zu Deinem Herrn und opfere. Ja,<br />
Dein Hasser <strong>ist</strong> es, der gestutzt <strong>ist</strong>“. (Koran 101/1,2,3,)<br />
Der eine, mit zehn Söhnen, <strong>ist</strong> gestutzt. Er <strong>ist</strong> unfruchtbar, ohne Anhang und<br />
Nachkommen. Dir haben wir die Fülle gegeben, <strong>Fatima</strong>. So kommt eine<br />
revolutionäres Umdenken im tiefen Bewusstsein der Zeit in Gang.<br />
Nun wird eine Tochter zum Prüfstein der Wertvorstellungen des Vaters. Sie <strong>ist</strong><br />
Erbin einer ruhmvollen Vergangenheit und muss eine Tradition fortführen,<br />
deren Begründer Adam war und die von allen Führern, die sich im Laufe der<br />
menschlichen Geschichte für Freiheit und Aufklärung eingesetzt hatten,<br />
getragen wurde und von Abraham, Moses und Jesus an Mohammad<br />
weiterüberliefert wurde.<br />
Das letzte Glied der Kette der göttlichen Gerechtigkeit und der Wahrhaftigkeit<br />
<strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong>, die letzte Tochter einer Familie, die auf einen Sohn gewartet hatte.<br />
Mohammad weiß, was das Schicksal für ihn vorgesehen hat, und auch <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong><br />
sich ihrer Stellung bewusst.
<strong>Die</strong> Revolution, die Freiheit der Frau konnte nur aus dieser Religion<br />
hervorgehen, <strong>ist</strong> es dich die Religion Abrahams und sie sind seine Erben.<br />
Tote dürfen nicht in der Moschee begraben werden. <strong>Die</strong> größte Moschee des<br />
Landes <strong>ist</strong> die Masdjid al-Haram (41) : die Kaaba. Sie <strong>ist</strong> das Haus Gottes, die<br />
Gebetsrichtung für alle Betenden, ein Haus, das auf Gottes Geheiß von Abraham<br />
erbaut wurde. Dem Propheten wurde der ehrenvolle Auftrag erteilt, die Kaaba<br />
zu befreien, die Prozession um sie anzuführen und sie zur Gebetsrichtung zu<br />
bestimmen. Alle großen Propheten haben diesem Haus gedient; keiner von<br />
ihnen darf jedoch darin begraben werden. Abraham hat es zwar erbaut, indes<br />
ebenfalls seine letzte Ruhestätte nicht darin gefunden. Mohammad hat es befreit,<br />
<strong>ist</strong> jedoch auch nicht dort begraben worden; im Laufe der Geschichte <strong>ist</strong> diese<br />
Ehre nur einem einzigen Menschen zuteil geworden, nur ein Mensch wurde<br />
ausversehen, im Hause Gottes, in der Kaaba, begraben zu werden.<br />
Wer? Eine Frau, eine Sklavin, Hadjar.<br />
Gott befahl Abraham. Das größte Gebetshaus, das Gotteshaus, neben Hadjars<br />
Haus zu bauen. Alle Menschen sollten um dieses Haus herumziehen.<br />
Abrahams Gott wählte seinen unbekannten Soldaten aus der Mitte dieser großen<br />
Gemeinschaft aus, er wählte eine Frau, eine Mutter, die außerdem noch Sklavin<br />
<strong>ist</strong>; einen Menschen, dem in der damaligen Gesellschaftsordnung jedes Recht<br />
vorenthalten wird.<br />
Ja, diese Weltanschauung führt die Revolution herbei, diese Religion befreit die<br />
Frauen. Sie bedeutet Anerkennung der Stellung der Frau.<br />
Abrahams Gott hat nun <strong>Fatima</strong> ausersehen. In ihrer Person nimmt nun die<br />
„Tochter“ als Erbin der ruhmreichen Tradition ihrer Familie, Bewahrerin der<br />
hohen Werte ihres Geschlechtes und Fortführerin des väterlichen Auftrages die<br />
Stellung des „Sohnes“ ein.<br />
In einer Gesellschaft, in der man glaubte, das nur das Grab die Schande der<br />
Geburt einer Tochter bedecken würde, weil das Grab der besten Bräutigam sei,<br />
den jeder Vater sich für seine Tochter wünschen könne, ahnte Mohammad<br />
schon, welches Spiel das Schicksal mit ihm trieb und auch <strong>Fatima</strong> war sich ihrer<br />
Rolle in diesem Spiel bewusst.<br />
Mohammads Verhalten seiner Tochter gegenüber, die Art, wie er mit ihr redet<br />
und wie er sie behandelt, versetzt alle in Erstaunen. <strong>Fatima</strong> und ihr Mann sind<br />
die einzigen, die zusammen mit ihm im selben Haus, in der Moschee des<br />
Propheten , wohnten. <strong>Die</strong> Wohnungen sind durch einen 2 Quadratmeter großen<br />
Hof voneinander getrennt. Zwei gegenüberliegende Fenster verbinden die
eiden Wohnungen miteinander. Jeden Morgen öffnet der Vater das Fenster und<br />
begrüßt seine jüngste Tochter.<br />
Bevor er eine Reise antritt, klopft er bei ihr an und verabschiedet sich. <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong><br />
die letzte, von der er sich verabschiedet und die erste, die er aufsucht, wenn er<br />
von der Reise heimkehrt.<br />
Manche Geschichtsschreiber erwähnen ausdrücklich, das der Prophet ihr<br />
Gesicht und Hände küsste.<br />
<strong>Die</strong>ses Verhalten bedeutete mehr als väterliche Zuneigung und Zärtlichkeit der<br />
Tochter gegenüber. Das ein Vater seiner jüngeren Tochter die Hände küsst, war<br />
ein revolutionärer Schlag gegen die unmenschlichen Verhältnisse jener<br />
Gesellschaft.<br />
„Der Prophet küsst <strong>Fatima</strong> <strong>Die</strong> Hand“! <strong>Die</strong>se Handlungsweise öffnet den<br />
kurzsichtigen Politikern und der islamischen Gemeinschaft um den Propheten<br />
die Augen und macht sie auf die Stellung <strong>Fatima</strong>s aufmerksam. <strong>Die</strong>ses<br />
Verhalten des Propheten lehrt aber auch die anderen Menschen, wie sie sich von<br />
ihrer traditionellen Vorurteilen befreien können. Es lehrt den Mann, sich nicht<br />
aufs hohe Ross zu setzten und die Frau von oben herab zu behandeln. Es<br />
empfiehlt der Frau, von den Niederrungen des Lebens, wo sie nur zum Spielball<br />
geworden <strong>ist</strong>, zu den Höhen der menschlichen Würde hinaufzusteigen.<br />
Der Prophet spricht daher nicht nur aufgrund väterlicher Zuneigung, sondern<br />
auch im Hinblick auf die bevorstehende schwere Aufgabe voller Respekt über<br />
<strong>Fatima</strong> und sagt:<br />
„-Vier Frauen sind die besten der Welt: Maria ,Asia (42), Khadija und <strong>Fatima</strong>.<br />
- Deine Zufriedenheit <strong>ist</strong> Gottes Zufriedenheit, und Dein Zorn <strong>ist</strong> Gottes<br />
Zorn.<br />
- <strong>Fatima</strong>s Zufriedenheit <strong>ist</strong> meine Zufriedenheit, ihr Zorn <strong>ist</strong> mein Zorn.<br />
Wer meine Tochter <strong>Fatima</strong> liebt, liebt mich. Wer <strong>Fatima</strong> zufrieden stellt,<br />
stellt mich zufrieden. Wer sie zornig macht, erregt meinen Zorn.<br />
- <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> mein Fleisch und Blut, wer sie quält, quält mich. Wer mich<br />
quält, quält Gott.<br />
Wozu diese Wiederholungen?<br />
Warum besteht der Prophet darauf, das alle seine Tochter verehren?<br />
Warum legt er solch einen Wert darauf, sie vor anderen zu loben und alle seine<br />
außerordentliche Zuneigung zu ihr wissen zu lassen?<br />
Und schließlich, warum hebt er die Zufriedenheit und den Zorn <strong>Fatima</strong>s hervor<br />
und wiederholt das Wort „quälen“ in bezug auf sie?
<strong>Die</strong>se kritischen Fragen hat die Geschichte klar beantwortet. <strong>Die</strong> Zukunft, das<br />
kurze Leben <strong>Fatima</strong>s nach dem Tode des Vaters haben gezeigt, das seine Sorgen<br />
nicht unbegründet waren.<br />
Mutter ihres Vaters<br />
<strong>Die</strong> Geschichte beschäftigt sich immer mit den „Großen“ und Erwachsenen; die<br />
Kinder werden dabei jedenfalls vergessen.<br />
<strong>Fatima</strong> war die jüngste der Familie. Ihre Kindheit verbrachte sie in einer<br />
unruhigen Zeit. Über ihr Geburtsdatum gibt es verschiedene Ansichten. Tabari,<br />
Ibn Eshagh und Ibn Hisham (43) geben das fünfte Jahr vor der Berufung<br />
Mohammads als ihr Geburtsjahr an. Mas´udi spricht dagegen vom fünften Jahr<br />
nach der Berufung. Der Geschichtsschreiber Jaghubi nennt eine ungenaue Zeit<br />
dazwischen und sagt: „Nach der Offenbarung“. <strong>Die</strong>se Unterschiede in der<br />
Überlieferung haben dazu geführt, das die Sunniten das fünfte Jahr vor der<br />
Berufung Mohammads zum Propheten geboren wurde, <strong>ist</strong> dabei gleichgültig.<br />
Sicher <strong>ist</strong>, das <strong>Fatima</strong> als Jüngste in Mekka allein in der Familie lebte. Ihre<br />
beiden Brüder starben im Kindesalter; ihre älteste Schwester Zeinab, die wie<br />
eine junge Mutter um sie besorgt war, heiratete in die Familie Abu Al-As ein.<br />
Ihr Fortgang war eine bittere Erfahrung für <strong>Fatima</strong>. Rughiya und Umm-i Kultum<br />
wurden mit den Söhnen Abu Lahabs verheiratet und <strong>Fatima</strong> blieb allein. So<br />
dürfte es ihr ergangen sein, wenn wir davon ausgehen, das sie fünft Jahre vor der<br />
Berufung des Propheten geboren wurde.<br />
Sollte das zweite Datum zutreffen, <strong>ist</strong> anzunehmen, das sie seit ihrer Geburt<br />
allein zu Hause war. Jedenfalls fällt der Anfang ihres Lebens mit dem Beginn<br />
der Berufung des Propheten und dem Höhepunkt seiner Kämpfe und seines<br />
Martyriums zusammen. Dem Vater wurde mit dem Auftrag, das Volk<br />
aufzuklären, eine schwere Bürde auferlegt. <strong>Die</strong> Mutter sorgte für den geliebten<br />
Lebensgefährten. <strong>Fatima</strong> machte ihre ersten kindlichen Erfahrungen mit der<br />
Welt und ihrem Leid- und sorgenvollen Leben. Da sie noch sehr jung war,<br />
durfte sie sich frei bewegen. Sie nutzte diese Gelegenheit und begleitete ihren<br />
Vater. Sie wusste, das er sie aufgrund seines unruhigen Lebens nicht zu<br />
Spaziergängen auf den Strassen und in die Basare der Stadt mitnehmen wollte;<br />
lieber wollte er allein ausgehen, weil er ständig gegen Hass und<br />
Feindseeligkeiten anzukämpfen hatte. Überall lauerten Gefahren. Das kleine<br />
Mädchen aber kannte das Schicksal des Vaters und wollte ihn nicht allein<br />
lassen.
Des öfteren sah sie, wie er im Basar mitten im Menschengewühl die Leute<br />
freundlich ansprach und wie sie ihn verspotteten, beschimpften und fortjagten.<br />
Wenn er allein blieb, begab er sich ruhig und gelassen zu einer anderen Gruppe<br />
und richtete das Wort an diese. Schließlich kam er müde und erfolglos wie<br />
andere Väter, die von der Arbeit zurückkehren, nach Hause, um sich<br />
auszuruhen.<br />
<strong>Die</strong> Geschichtsschreiber berichten, das <strong>Fatima</strong> eines Tages aus nächster Nähe<br />
miterleben musste, wie ihr Vater in der Masdjid al-Haram beschimpfte und<br />
verprügelt wurde.<br />
An einem anderen Tag, als er sich in der Masdjid al-Haram zum Gebet geneigt<br />
hatte, wurden ihm die Eingeweide eines Schafes auf den Kopf geworfen. <strong>Die</strong><br />
kleine <strong>Fatima</strong> lief zum Vater, entfernte sie, wischte sein Gesicht ab und brachte<br />
ihn nach Hause.<br />
<strong>Die</strong> Leute, die dieses hagere Mädchen ständig mit ihrem heldenmütigen und<br />
einsamen Vater zusammen sahen und beobachten konnten, wie das Kind um den<br />
Vater besorgt war und ihm mit Worten und Taten bei seiner schwierigen<br />
Mission zur Seite stand, gaben ihr den Beinamen : <strong>Die</strong> Mutter ihres Vaters.<br />
Dann brachen Hungerjahre und schwere Zeiten in Abu Talebs Tal an. <strong>Die</strong><br />
Familie Haschem und Abd al-Mutalleb (außer der Familie Abu Lahab, die sich<br />
mit dem Feinde arrangiert hatte) blieben in diesen trockenen und heißen Tal<br />
eingesperrt. Im Namen aller Honoratioren des Stammes der Qureisch wurde von<br />
Abu Djahl ein Erlass abgefasst und in der Kaaba ausgehängt. <strong>Die</strong>ser Erlass<br />
untersagte die Kontaktaufnahme zu den Familien Haschem und Abd al-<br />
Mutalleb, mit ihnen Geschäfte zu tätigen und in diese Familie einzuheiraten.<br />
Man hatte sie solange in ihrem natürlichen Gefängnis eingesperrt zu halten, bis<br />
sie von Hunger und Armut zur Kapitulation vor ihren Widersachern und ihren<br />
Götzen getrieben würden. Alle hätten zu leiden, sowohl diejenigen, die den<br />
neuen Glauben angenommen hätten, als auch jene, die Mohammad wegen seiner<br />
Tugenden, Rechtschaffenheit und Menschenliebe verteidigten. Der Be<strong>ist</strong>and<br />
letzterer war wertvoller als die Erkenntnis jener ängstlichen und konservativen<br />
Gebildeten wie Ali ibn Umayya, die zwar gegen die Reaktion waren, die neue<br />
fortschrittliche und revolutionäre Ideologie begriffen hatten und die dekadente<br />
ar<strong>ist</strong>okratische Klassengesellschaft der Araber mit islamischer Weltoffenheit<br />
analysierten, aber bei Abu Djahl und Abu Lahab blieben, um ihre Erbschaft,<br />
Familienehre, gesellschaftliche Stellung und Sicherheit nicht zu gefährden. Sie<br />
sahen sich das Martyrium ihrer Gesinnungsgenossen wie Bilal (44), Ammar<br />
(45), Yasir (46) und seiner Mutter Sammiya ohne ein Wort des Protestes an.<br />
Sie ließen in den schweren Jahren die Glaubensgefährten und Mitkämpfer in<br />
ihrer Isolation allein und lebten ihr Leben in der Stadt und zu Hause
unbekümmert weiter. Sie sprachen die Sprache der Ungläubigen und<br />
Verbrecher, ja, sie machten gemeinsame Sache mit ihnen. Damit begründeten<br />
sie eine Tradition und ebneten ihr den Weg , so das ihre Anhängerschaft später<br />
viel größer war als die Zahl der wahren Anhänger des Propheten und der<br />
Parteigänger Alis, Abu Zars, Ammars, <strong>Fatima</strong>s, Husseins, Zeinabs und alle<br />
anderen Gefährten des Propheten. Sie waren die ersten die ersten Moslems, die<br />
ihre religiöse Gesinnung auch dann verheimlichten, als der Prophet die Fr<strong>ist</strong><br />
dieser aus taktischen Gründen erlaubten Verheimlichung für beendet erklärte.<br />
Der Mensch <strong>ist</strong> ein erstaunliches Geschöpf: Wenn die Herzen für einen neuen<br />
Glauben Feuer fangen und in der Gesellschaft eine neue Bewegung entsteht,<br />
sieht sich jeder veranlasst, mit sich ins Gericht zu gehen und sich über die<br />
eigenen Gefühle Klarzuwerden. Es <strong>ist</strong> eine Prüfung, die jeder durchzumachen<br />
hat. Dabei tritt Erstaunliches über den ge<strong>ist</strong>igen Wert eines Menschen zutage.<br />
Ge<strong>ist</strong>ige Größe, Niedertracht, Edelmut oder Gemeinheit eines jeden Menschen<br />
werden sichtbar.<br />
Während der schrecklichen Hungerjahre der Isolation kämpfen auch Nicht-<br />
Moslems auf der Seite der göttlichen Revolution. Sie sind Kampfgefährten<br />
Mohammads, Alis und ihrer Anhänger in der kritischen Zeit der islamischen<br />
Geschichte. In der Stadt der Freuden und des Vergnügens, in der Dekrazenz und<br />
Reaktion zu Hause sind, gibt es Menschen, die sich Moslem nennen, sich<br />
jedoch für Wohlstand und Sicherheit für jede Schandtat hergeben und dieses<br />
Unglück dulden oder Mitverursachen, obwohl sie irgendwo in ihrem Inneren<br />
religiös denken, den Gläubigen gegenüber Zuneigung empfinden und tatsächlich<br />
„aufgeklärt“ sind. In ihrer Isolation sind die Familien Bani Haschem und Bani<br />
Abd al-Mutalleb vom Leben in der Stadt, von der Freiheit, ja sogar vom<br />
täglichen Brot ausgeschlossen. Nur im Schutze der Dunkelheit wagt der eine<br />
oder andere, sich heimlich und unentdeckt von den Agenten der Qureisch aus<br />
dem Tal herauszustehlen, um für die Hungrigen Nahrung zu besorgen;<br />
manchmal hilft auch ein Verwandter oder Freund mit etwas Brot aus. Der<br />
Hunger will sie langsam in den schwarzen Tod treiben; aber dem le<strong>ist</strong>en sie<br />
geduldig Widerstand, weil sie sich auf den roten Tod vorbereitet haben.<br />
Sa´ad Ibn Abi Waghas, der selbst dort eingeschlossen war, soll gesagt haben:<br />
„Eines Nachts in der Dunkelheit zertrat ich etwas Weiches auf der Erde. Der<br />
Hunger quälte mich dermaßen, das ich diesen Gegenstand aufhob und<br />
herunterschluckte. Ich frage mich noch heute, was es gewesen sein mag.“<br />
Man kann sich gut vorstellen, wie es der Familie des Propheten unter diesen<br />
Umständen ergangen <strong>ist</strong>. <strong>Die</strong> anderen haben all dies Leid und diese Qualen<br />
dieser Familie zuliebe auf sich genommen. Der Prophet fühlt sich für jeden<br />
einzelnen von ihnen verantwortlich, für die vor Hunger weinenden Kinder, die<br />
Kranken, die ohne Medizin und Nahrung leiden, die Alten, die diesen harten
Lebensbedingungen nicht mehr standhalten können, und für all diejenigen, die<br />
jahrelang Hunger gelitten, seelische Grausamkeit und das harte Leben in jenem<br />
unfruchtbaren Tal ertragen haben und trotzdem versuchten, die Spuren ihres<br />
Leides vor Mohammads Augen zu verbergen. <strong>Die</strong>se Zeichen der Treue und<br />
Liebe, des Großmutes und der Überzeugungskraft bewegten ihn zutiefst .<br />
Nahrungsmittel, die die Eingeschlossenen in der Dunkelheit erreichten, wurden<br />
den Propheten zur Verteilung überlassen. Sich selbst, seiner Frau und seinen<br />
Töchtern teilte er die kleinste Ration zu; und wäre es nicht um ihr Leben oder<br />
ihren Tod gegangen, so hätte er ihnen überhaupt nichts zugestanden.<br />
Während der Belagerung bestand die Familie Mohammads aus Khadija, der<br />
jüngsten Tochter <strong>Fatima</strong> und den beiden anderen Töchtern Umm-i Kulthum und<br />
Rughiya, die in die Familie Abu Lahabs eingeheiratet hatten. Um den Propheten<br />
nach seiner Berufung zu demütigen, hatte Abu Lahab seinen beiden Söhnen<br />
befohlen sich scheiden zu lassen. Darauf heiratetet Osman, ein junger und<br />
gutaussehender Ar<strong>ist</strong>okrat, Rughiya und erteilte Abu Lahab somit eine<br />
gesellschaftliche Lektion. Umm-i Kulthum jedoch hatte ihr Eheleben verwirkt<br />
und bezahlte für ihre Überzeugung mit ihrem Glück. Sie hatte den Hunger in der<br />
Belagerung dem lasterhaften Glück und Wohlstand in der Familie Abu Lahabs<br />
neben ihrem missgünstigen und reaktionären Mann vorgezogen, um im Kampf<br />
für Glauben und Freiheit ihrem großen Vater treu zu bleiben.<br />
<strong>Die</strong> Familie des Propheten nimmt in dieser Gesellschaft eine besondere Stellung<br />
ein. Der Familienvater trägt die ganze Last des schweren Schicksals der<br />
Gemeinschaft. <strong>Die</strong> Tochter Umm-i Kulthum hat ihre Familie verloren und <strong>ist</strong> in<br />
das Haus des Vaters zurückgekehrt. <strong>Die</strong> jüngste Tochter <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> noch<br />
minderjährig, schwach, sensibel und sehr ängstlich. <strong>Die</strong> Mutter Khadija <strong>ist</strong><br />
siebzig Jahre alt und gebrechlich. Verfolgungen, denen ihr Mann während der<br />
zehn Jahre seit der Verkündung der göttlichen Offenbarung ausgesetzt war, drei<br />
Jahre Isolation und Hunger, die Leiden ihrer Töchter und der Tod ihrer beiden<br />
Söhne haben zwar ihren Willen nicht gebrochen, aber tiefe gesundheitliche<br />
Spuren hinterlassen. Ihre letzte Stunde rückt stetig näher.<br />
Der Hunger wird in Mohammads Haus immer unerträglicher. <strong>Die</strong> alte und<br />
kranke Khadija, die ein Leben lang in Wohlstand gelebt und nun ihr Vermögen<br />
wegen Mohammad verloren hat, kaut an einen Stück nassens Leders, um ihren<br />
Hunger zu unterdrücken.<br />
<strong>Die</strong> kleine <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> besorgt um ihre Mutter und die Mutter um sie, ihre jüngste<br />
und schwache Tochter, deren Liebe zu ihren Eltern in aller Munde <strong>ist</strong>.
An einem der letzten Tage der Belagerung spürt Khadija ihren Tod nahen.<br />
<strong>Fatima</strong> und Umm-i Kulthum sitzen um ihr Bett. Der Vater <strong>ist</strong> hinausgegangen,<br />
um die Lebensrationen zu verteilen.<br />
Khadija spürt, wie sie unter den harten Bedingungen des Lebens immer<br />
schwächer wird. Schwermütig sagt sie:<br />
„Ich wünschte, ich könnte noch erleben, das die schweren Tage vorbei sind,<br />
damit ich leichten Herzens sterben kann.“<br />
„Es <strong>ist</strong> nichts, Mutter, mach Dir keine Sorgen“, sagt Umm-i Kulthum weinend.<br />
„Bei Gott, es geht mir nicht um mich; meinetwegen mache ich mir keine<br />
Sorgen. Keine Frau der Qureisch hat ein so erfülltes Leben gehabt wie ich,<br />
keiner der Frau der Welt wurde diese Gnade zuteil. Mir genügt es in diesem<br />
Leben vollkommen, das ich die geliebte Frau des Gesandten Gottes bin, und es<br />
reicht mir zur Ehre, das ich als erste zu seinem Glauben übergetreten und Mutter<br />
der Gläubigen bin.“<br />
Dann spricht sie flüsternd weiter:<br />
„lieber Gott, ich kann nicht alle mir erwiesenen Gnaden aufzählen. Ich bin nicht<br />
darüber betrübt, das Du mich zu Dir rufst; ich möchte mich aber Deiner Gnade<br />
würdig erweisen“.<br />
Im Schatten des Todes herrschen Sorgen und Stille in dem Haus, als der Prophet<br />
frohen Mutes hereinkommt und das Ende der dreijährigen Isolation, der<br />
seelischen Grausamkeit und des Hungers verkündet. Aus dieser Prüfung gehen<br />
sie alle in ihrem Glauben gestärkt hervor.<br />
<strong>Die</strong> schweren Jahre der Belagerung waren zu Ende. Khadija durfte die<br />
Befreiung der Moslems und die Freiheit ihres geliebten Mannes und ihrer treuen<br />
Töchter miterleben, und der Prophet trug seinen ersten großen Sieg über die<br />
Qureisch davon.<br />
Aber das Schicksal lässt diesen Mann, der einen geschichtlichen Auftrag zu<br />
erfüllen hat, nicht zur Ruhe kommen. Zwei harte Schläge folgen aufeinander.<br />
Abu Taleb und Khadija sterben nacheinander kurze Zeit nach der Befreiung.<br />
Abu Taleb hatte das Waisenkind Mohammad großgezogen. Es war Mohammad<br />
in Liebe zugetan und versuchte, ihm die Eltern und den gütigen Großvater Abd<br />
Al-Mutalleb zu ersetzen. Er unterstützte den jungen Mohammad, fand eine<br />
Stelle für ihn bei Khadija und übernahm Vaterstelle bei seiner Heirat mit ihr. Er<br />
schützte den Propheten vor Angriffen und bot seinen ganzen Einfluss und sein
gesellschaftliches Ansehen auf, um ihn zu unterstützen. Er erduldete während<br />
der Belagerung sogar drei Jahre der Isolation und des Hungers und blieb bei<br />
ihm. Seinetwegen wurde Mohammads Leben geschont. Auch blieb er von all<br />
den schrecklichen Folterungen, denen seine Anhänger ausgesetzt waren,<br />
aufgrund des Be<strong>ist</strong>andes Abu Talebs verschont. In Abu Taleb verliert er seinen<br />
größten, ja einzigen starken Beschützer in einer Stadt voller Hass und Gefahren.<br />
Khadija war der einzige Lichtblick im entbehrungsreichen Privatleben des<br />
jungen Mohammad. Der fünfundzwanzigjährige hatte bis dahin nur das Leben<br />
eines Waisenkindes und Hirtenjungen in Armut kennergelernt. Nun hatte er eine<br />
Lebensgefährtin, die vierundvierzigjährige reiche Khadija, gefunden. Sie<br />
schenkte ihm die Liebe einer Frau und den Glauben einer Gesinnungsgenossin.<br />
Sie gewährte ihm Schutz vor Armut, war eine vertrauensvolle Freundin und gab<br />
ihm die nie gekannte Muterliebe.<br />
Als er zum Propheten berufen wurde und ihm eine Welle des Hasses, der<br />
Feinseeligkeit und des Verrates entgegenschlug und das harte, gefahrvolle und<br />
einsame Leben für ihn anfing, war Khadija vom ersten Tage der Offenbarung<br />
bis zum Ende ihres Lebens an seiner Seite, begleitete ihn mit Liebe, Vertrauen<br />
und Opferbereitschaft und übertrug ihm ihr ganzes Vermögen, als er sich in<br />
großer Not befand.<br />
Nun hat Mohammad seine Beschützerin, Gefährtin, Leidesgenossin und den<br />
ersten Menschen, der ihm im Glauben folgte, die Muter seiner <strong>Fatima</strong> verloren.<br />
<strong>Die</strong> Verfolgungen nahmen an Härte zu. Abu Taleb war verstorben und der<br />
Prophet war schutzlos den Anfeindungen ausgeliefert. <strong>Die</strong> Geduld und<br />
Standhaftigkeit Mohammads und seinen Anhänger machten die Hasserfüllten<br />
Gegner nur noch unversöhnlicher und gnadenloser. Der Prophet wurde einsam.<br />
Es gab in der Stadt keinen Abu Taleb und zu Hause keine Khadija mehr.<br />
<strong>Fatima</strong> empfindet die Bedeutung ihres seltsamen Beinamens mehr denn je. Als<br />
ihre Schwestern heirateten, soll sie sich an die Schürze der Mutter geklammert<br />
und erklärt haben:<br />
„Mutter, ich werde kein anderes Haus diesem Haus vorziehen. Ich werde mich<br />
niemals von Euch trennen.“<br />
Khadija soll mit einem anerkennenden Lächeln geantwortet haben:<br />
„das sagen alle Mädchen, wir haben es auch gesagt, mein Kind. Warte nur, bis<br />
es soweit <strong>ist</strong>“.<br />
Und <strong>Fatima</strong> soll beharrlich geantwortet haben:
„ich werde meinem Vater niemals verlassen. Keiner wird mich von ihm<br />
trennen.“<br />
Darauf soll die Mutter geschwiegen haben.<br />
Nun <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong> sich dieser Berufung bewusst. Ihr Gelübde war kein kindliches<br />
Verhalten. <strong>Die</strong> Überzeugung von ihrer Berufung wird noch unerschütterlicher,<br />
wenn sie hört, wie ihr Vater die Menschen zum Glauben bekehrt. Sie hörte ihn<br />
sagen:<br />
„Angehörige der Qureisch“ Kauft Eich frei! Ich kann Eich von keiner<br />
Verpflichtung gegenüber Gott dem Erhabenen freisprechen. Söhne des Abd al-<br />
Manaf! Ich kann euch von keiner Verpflichtung gegenüber Gott dem Erhabenen<br />
freisprechen. Abbas Ibn al-Mutaleb, ich kann Dich von keiner Verpflichtung....<br />
<strong>Fatima</strong>, Du kannst von mir alles verlangen, verlange aber nicht von mir, das ich<br />
Dich von Deinen Verpflichtungen gegenüber Gott dem Erhabenen freispreche.“<br />
<strong>Fatima</strong> soll voller Freude und Standhaftigkeit gesagt haben:<br />
„Ja, mein lieber Vater, höchster aller Bekehrer.“<br />
Es <strong>ist</strong> sonderbar, das sie, ein minderjähriges Mädchen, in Anwesenheit der<br />
großen Persönlichkeiten der Qureisch und der Familien Bani Haschem und Bani<br />
Abd al-Manaf als einzige aus der Familie vom Propheten namentlich<br />
angesprochen wird. Kindliche Gefühle und liebevolle Zuneigung der Tochter,<br />
die des öfteren wiederholt hatte, das sie niemals heiraten und ihren Vater allein<br />
lassen würde, nehmen die Form eines bewussten und ernsthaften<br />
Vermächtnisses an. Daraus erwächst ihr Verantwortung für ihren Auftrag.<br />
<strong>Die</strong> ersten Jahre ihres Lebens werden von den Härten und Qualen der ersten<br />
Berufungsjahre begleitet. Mehr als alle anderen Kinder des Propheten <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong><br />
prädestiert, die Bürde des harten Lebens, die dem Propheten mit seiner Berufung<br />
auferlegt wurde, mitzutragen. Sie und ihre Eltern sind sich dieses Schicksals<br />
bewusst.<br />
Als Khadija das Ende ihres Lebens nahen sah, sagte sie eines Tages zu <strong>Fatima</strong>:<br />
„Nach meinem Tod wirst Du vieles im Leben erdulden müssen. Mein Leben <strong>ist</strong><br />
bald zu Ende, Deine beiden Schwestern Zeinab und Rughiya haben mit ihren<br />
Männern ein gesichertes Leben und Umm-i Kulthum <strong>ist</strong> eine reife Frau,<br />
ihretwegen mache ich mir keine Sorgen; Du aber wirst es im Leben schwer<br />
haben und mit vielen Schicksalsschlägen fertig werden müssen“.
<strong>Fatima</strong>, die sich berufen fühlt, dem Vater die schwere Bürde seiner Mission zu<br />
erleichtern, antwortete:<br />
„Mach Dir meinetwegen keine Sorgen, sei versichert, das diese Götzendiener<br />
der Qureisch das Stammesvolk zum Aufruhr treiben werden. Sie werden in ihrer<br />
Grausamkeit bei der Unterdrückung der Moslems noch viel weiter gehen. Aber<br />
die Moslems werden dieses Martyrium bereitwillig auf sich nehmen. <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong><br />
würdiger als alle anderen, diese Qualen durchzumachen, in dem Maße, wie sie<br />
für würdig befunden wurde, die Tochter des Propheten zu sein und sich seiner<br />
großen Zuneigung zu erfreuen.“<br />
Nach dem Tode Abu Talebs erreichten Feindseeligkeiten und Rachesucht ihren<br />
Höhepunkt. Einige nahe Verwandte und Gefährten des Propheten suchten in<br />
Abessinien Zuflucht. Andere waren weiterhin Repressionen ausgesetzt. Armut,<br />
Not und Elend der Anhänger nahmen zu. Mohammad war inzwischen fünfzig<br />
Jahre alt geworden und hatte viele Schicksalsschläge erdulden müssen. Er lebte<br />
mit seiner mitfühlenden kleinen Tochter <strong>Fatima</strong> zusammen. Das Schicksal<br />
bescherte aber diesem Haus einen Sohn. Ali, den Sohn Abu Talebs.<br />
Ali war es nicht beschieden, im Hause des Vaters aufzuwachsen. Er sollte von<br />
Kind an in der Nähe <strong>Fatima</strong>s sein und im Hause ihres Vaters seine<br />
Persönlichkeit entfalten. Das Schicksal dieses Kindes war in sonderbarer Weise<br />
mit dem des Vaters und der Tochter verbunden.<br />
<strong>Die</strong> Geschichte nimmt einen geheimnisvollen Verlauf. Ein Sturm zieht herauf,<br />
um die Götzen und ihre ar<strong>ist</strong>okratischen Bewacher zu vernichten, die Dämme<br />
der Rassen- und Klassenunterschiede herunterzureißen, das Lügenfeuer der<br />
Hofge<strong>ist</strong>lichen in den Tempeln Persiens zu löschen, das Riesenschloss des<br />
Schreckens in Ktesiphon (47) zu verwüsten, das Imperium der Wollust und<br />
Unfreiheit in Rom in die Enge zu treiben und vor allem die Gedanken und<br />
Herzen von den Fesseln der Sitten und Gebräuche, der Finsternis und des<br />
Aberglaubens, der trügerischen Vorstellungen, des Fanatismus und der<br />
menschenunwürdigen Ideen zu befreien, die Wertvorstellungen zu<br />
revolutionieren, in einer Umwelt, in der unglaubliche Geschichten über<br />
Herkunft, Abstammung, ar<strong>ist</strong>okratische Ehren zur Verherrlichung der Macht<br />
und Grausamkeit und Rechtfertigung des Feudalismus und des adligen<br />
Geschlechtes kursieren, eine Welle der Freiheit und Gleichheit und<br />
Gerechtigkeit auszulösen, in unbekannte, sich keiner edlen Herkunft bewusste<br />
Masse gegen die Götter der Erde aufzubringen, anstelle der Geschichte, der<br />
verfaulten Knochen, der verfallenen Gräber und der Dynastien des Schwertes<br />
und des Goldes die Geschichte des Blutes, des Lebens und der<br />
Volkverhetzungen zu schreiben, um eine Dynastie der Erben dieses letzten<br />
„auserwählten Hirten“ deren jeder mit einem Märtyrergewand bekleidet <strong>ist</strong>, die<br />
Krone der Armut trägt, sein Leben entweder im Kampf oder mit der Aufklärung
des Volkes oder aber im Gefängnis der Unterdrücker zubringt, zu begründen.<br />
Bei diesem geschichtlichen Auftrag <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong> der Anfang und zu seiner<br />
Erfüllung hat die Vorsehung Ali bestimmt.<br />
Daher sollte das Kind Abu Talebs schon zu Lebzeiten des Vaters in das Haus<br />
des Vetters kommen, um nicht in Ignoranz aufzuwachsen, und um von dem<br />
Augenblick an, als der Prophet die Offenbarung empfängt, anwesend zu sein. Es<br />
soll die Berufung des Propheten miterleben und in harten Zeiten heranreifen,<br />
damit es seiner großen Verantwortung gerecht werden und den Sieg der<br />
Islamischen Revolution auf den Kriegsschauplätzen von Badr, Uhud, Khaibar,<br />
Fath und Hunein garantieren kann; es soll in der Nähe <strong>Fatima</strong>s aufwachsen, um<br />
mit ihr die „vorbildliche Familie“ der Menschheit gründen und die Arbeit<br />
Abrahams in der Geschichte fortführen zu können.<br />
Auswanderung (Hidjra)<br />
Dreizehn Jahre der Entbehrung in der Isolation und der Verfolgungen in Mekka<br />
gingen zu Ende. Schon als kleines Kind war <strong>Fatima</strong> zusammen mit ihrem Vater<br />
in der Stadt, zu Hause und während der Belagerung Racheakten ausgesetzt und<br />
hatte die Härten des Kampfes in einer unzivilisierten Umwelt der vorislamischen<br />
Teit ertragen müssen.<br />
<strong>Die</strong> Auswanderung der Moslems nach Medina begann. <strong>Fatima</strong>s Schwester<br />
Rughiya und deren Mann Osman, die nach Abessinien ausgewandert waren,<br />
begaben sich ebenfalls dorthin. Schließlich verließen auch der Prophet und Abu<br />
Bakr heimlich Mekka. Als <strong>Fatima</strong> und ihre Schwester Umm-i- Kulthum Mekka<br />
verlassen wollten, überfiel sie ein Mitglied des Stammes Qureisch, das sich<br />
schon bei der Verfolgung des Propheten einen Namen gemacht hatte, und riss<br />
sie vom Pferd zu Boden. <strong>Fatima</strong>, die ohnehin eine schwache Konstruktion besaß<br />
und gesundheitlich unter den Folgen der dreijährigen Belagerung im Tal litt,<br />
trug schwere Verletzungen davon und wurde unterwegs von Schmerzen<br />
gepeinigt.<br />
<strong>Die</strong>se Niederträchtigung von Howeiras Ibn Naghida hat die Moslems,<br />
insbesondere den Propheten und Ali, derart getroffen, das sie auch acht Jahre<br />
später, bei der Eroberung von Mekka, seine Tat noch nicht vergessen hatten und<br />
ihn auf die L<strong>ist</strong>e derjenigen setzten, deren Blut zu vergießen freigegeben worden<br />
war, obwohl die Moslems jegliches Blutvergießen in Mekka vermeiden wollten.<br />
Es <strong>ist</strong> kein Zufall, das es Ali war, der dieses Urteil vollstreckte.
Nun waren sie also in Medina. Der Prophet hatte seine Moschee aufgebaut und<br />
daneben sein Haus, das er aus Lehm und Palmenzweigen- und blättern errichtet<br />
hatte, und dessen Eingang durch die Moschee zu erreichen war.<br />
Danach führte der Prophet das „Brüderschaftsgelübde“ ein:<br />
„Schließt zu zweit auf dem Wege Gottes Brüderschaft“.<br />
„Djafar ibn Abu Taleb <strong>ist</strong> der Bruder von Muas ibn Djabal, abu Bakr <strong>ist</strong> der<br />
Bruder von Kharija ibn Zuhair, Omar ibn Khattab <strong>ist</strong> der Bruder von Atban ibn<br />
Malik, und Oslam <strong>ist</strong> der Bruder von Ous ibn Thabet.“<br />
„Und ich“?<br />
„Das <strong>ist</strong> mein Bruder !“<br />
„ Mohammad <strong>ist</strong> der Bruder von Ali!“<br />
Einmal mehr steht Ali vor aller Augen an der Seite Mohammads. Er nähert sich<br />
Mohammad einen weiteren Schritt. Ali „Mutter“ <strong>Fatima</strong> hatte für Mohammad<br />
gesorgt. Sein Vater Abu Taleb war Mohammads Beschützer. Mohammad wuchs<br />
im Hause Alis auf und Ali im Hause Mohammads zusammen mit <strong>Fatima</strong>,<br />
Mohammads Tochter, und unter der Fürsorge Khadijas, <strong>Fatima</strong>s Mutter.<br />
Er war Mohammads Vetter und wie ein Sohn zu ihm, und nun wurde er sein<br />
Bruder.<br />
Ali war noch einen Schritt von seinem Endziel, das ihm in der Lebensgeschichte<br />
Mohammads und im Islam bestimmt worden war, entfernt.<br />
<strong>Fatima</strong> war ihrem Wort treu geblieben. Sie lebte allein und zurückgezogen im<br />
Hause des Vaters. Seitdem der Prophet die Heiratsanträge Omars und Abu Bakrs<br />
entschieden abgelehnt hatte, wussten alle Gefährten, das <strong>Fatima</strong> eine besondere<br />
Zukunft bestimmt war. Sie nahmen zur Kenntnis, das der Prophet sich zu<br />
keinem Heiratsantrag äußerte, ehe er mit seiner Tochter nicht gesprochen hatte.<br />
<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> zusammen mit Ali aufgewachsen. Zu ihr <strong>ist</strong> er wie ein lieber Bruder,<br />
und ihrem Vater <strong>ist</strong> er bis zur Selbstverleugnung ergeben. <strong>Die</strong> Schicksale dieser<br />
Kinder sind eng miteinander verbunden. Keines von ihnen hat ge<strong>ist</strong>ige<br />
Bindungen zur vorislamischen Zeit, beide sind in der stürmischen Zeit der<br />
Berufung aufgewachsen und von der Offenbarung des göttlichen Wortes geprägt<br />
worden.<br />
Was empfindet <strong>Fatima</strong> für Ali?<br />
Welche Gefühle bewegen das mutige und liebevolle Herz Alis?
Man kann es sich vielleicht vorstellen, aber nicht beschreiben. Wie soll auch ein<br />
kompliziertes Geflecht aus Glauben, Liebe, Respekt, Verehrung, gemeinsamer<br />
Überzeugung, ge<strong>ist</strong>iger Verwandtschaft, gemeinsamen Erlebnissen des harten<br />
Schicksals, gemeinsamen Weg im Laufe ihres ganzen bisherigen Lebens und<br />
derselbigen Erziehung beschrieben werden?<br />
Warum ergreift Ali nicht die Initiative?<br />
Er <strong>ist</strong> 25 Jahre alt, und auch <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> im heiratsfähigen Alter. Alis Bedenken<br />
sind meines Erachtens einleuchtend:<br />
<strong>Fatima</strong> widmet sich vollkommen dem Propheten. Sie bemuttert ihren Vater und<br />
führt ihm den Haushalt.<br />
Wie kann Ali eine Tochter, die so innig mit ihrem Vater verbunden <strong>ist</strong>, von ihm<br />
trennen und in ein anderes Haus führen?<br />
Soll er Mohammad darum bitten?<br />
Er teilt ja <strong>Fatima</strong>s Gefühle für Mohammad!<br />
Plötzlich änderte sich die Situation. Aishe kam ins Haus des Propheten. Der<br />
Prophet hatte zum ersten und letzten Mal in seinem Leben eine junge Frau, die<br />
voller Freude und Lebenslust <strong>ist</strong>.<br />
<strong>Fatima</strong> spürte allmählich, das die junge Frau des Vaters Khadija und sie in<br />
diesem Hause ersetzte, sicherlich nicht im Herzen des Vaters, aber im Haushalt.<br />
Auch Ali ahnte das Nahen einer schicksalhaften Stunde. Er besaß aber kein<br />
Vermögen. Seit seiner Kindheit lebte er bei Mohammad. Seine jungen Jahre<br />
hatte er im Kampf für seine Überzeugung verbracht und keine Gelegenheit<br />
gehabt, an die Zukunft zu denken. Seine ständige Opferbereitschaft für<br />
Mohammad und dessen Glaube war das einzige Kapital, das er in dieser Welt<br />
anzubieten hatte. Er besaß weder ein Haus noch die Einrichtung für einen<br />
einfachen Haushalt. Er besaß gar nichts.<br />
Nun erfahren wir, das er den Propheten trotzdem aufsuchte, sich zu ihm setzte,<br />
den Kopf als Zeichen der Demut neigte und versuchte, in der Sprache des<br />
Schweigens mit ihm zu reden.<br />
„Was hast Du auf dem Herzen, Sohn Abu Talebs?“ fragte der Prophet.<br />
Schüchtern erwähnte Ali den Namen <strong>Fatima</strong>s.<br />
„Sei willkommen“, antwortete der Prophet ohne Zögern.<br />
Am anderen Tage fragte er Ali in der Moschee:
„Besitzt Du etwas?“<br />
„Nichts Gesandther Gottes:“<br />
„Wo <strong>ist</strong> das Kettenhemd, was ich Dir im Badr-Krieg gab?“<br />
„Das hab ich noch, Gesandther Gottes.“<br />
„Dann gib es mir.“<br />
Ali ging eilig nach Hause, holte das Kettenhemd und gab es dem Propheten. Der<br />
Prophet wies ihn an, es auf dem Markt zu verkaufen und mit dem Erlös ein<br />
neues Leben zu beginnen. Osman kaufte es für 47 Drachmen.<br />
Der Prophet lud seine Gefährten zur feierlichen Eheschließung ein, sprach die<br />
Trauungsformel und betete um rechtschaffende Nachkommen für das Brautpaar.<br />
Danach wurden Datteln serviert. Das war die ganze Hochzeitsfeier.<br />
<strong>Fatima</strong>s Aussteuer bestand aus einer Handmühle, einer Holzschüssel und einem<br />
Teppich.<br />
Zu Beginn des Monats Muharram im zweiten Jahr nach der Auswanderung fand<br />
Ali außerhalb Medinas ein Haus und brachte <strong>Fatima</strong> dorthin.<br />
Hamza, der größte Kämpfer der Glaubenskriege, ein Onkel des Propheten und<br />
Alis, ließ zwei Kamele schlachten und gab für die Bewohner Medinas ein<br />
Festmahl. Der Prophet bat Umm-i Salma, die Braut zu Alis Haus zu begleiten.<br />
Er selber suchte sie nach dem Abendgebet auf, bat um eine Schüssel Wasser und<br />
gab der Braut und dem Bräutigam davon zu trinken, während er Verse aus dem<br />
Koran rezitierte. Danach nahm er die rituelle Waschung für das Gebet mit<br />
demselben Wasser vor und goss den Rest über ihre Köpfe. Als er nach Hause<br />
zurückkehren wollte, begann <strong>Fatima</strong> bitterlich an zu weinen, denn es war das<br />
erste Mal, das sie sich von ihrem Vater trennen sollte.<br />
Der Prophet versuchte, sie mit diesen Worten zu beruhigen:<br />
„Ich habe Dich einem Manne anvertraut, der den stärksten Glauben, ein<br />
umfassendes Wissen und die höchste Moral besitzt.“
<strong>Fatima</strong> als Ehefrau<br />
Nun begann die Anvertraute Mohammads den zweiten Abschnitt ihres Lebens,<br />
und das Schicksal hielt neue Entbehrungen für sie bereit.<br />
Zeinab lebte im Hause Abu al-As, dem Geschäftsmann aus Mekka; Rughiya und<br />
Ummi-i Kulthum, die früher bei den Abu Lahab in Wohlstand lebten, gingen<br />
nacheinander zu dem reichen Osman Sahabi, und <strong>Fatima</strong>, die von Anfang an<br />
beim Vater in Armut gelebt hatte, war zu Ali, der außer Liebe nichts zu geben<br />
hatte, gezogen. Nun begann das harte und spartische Leben erst recht in diesem<br />
Haus. <strong>Die</strong> Aufgaben von einst hatte <strong>Fatima</strong> weiterhin, aber jetzt fühlte sie sich<br />
auch für Ali verantwortlich. Früher sah sie in ihm den Bruder, heute <strong>ist</strong> er ihr<br />
Ehemann. <strong>Fatima</strong> weiß, das Ali seine Lebensweise nicht ändern wird. Seine<br />
Gedanken werden durch den heiligen Kampf für Gott und die Menschen<br />
bestimmt.<br />
Er wird nie mit vollen Händen nach Hause kommen. Fatime trägt hier eine<br />
größere Verantwortung als im Hause ihres Vaters, denn die Verantwortung für<br />
solch einen Man <strong>ist</strong> wichtiger als das Glück und größer als das Leben.<br />
<strong>Fatima</strong> mahlt mit der Handmühle Getreide, backt Brot, arbeitet zu Hause und<br />
holt Wasser vom Brunnen. Ali bewundert die ge<strong>ist</strong>ige Größe seiner Frau und<br />
liebt sie über alle Maßen. Er weiß, das das harte Leben während ihrer Kindheit<br />
ihre Gesundheit geschwächt hat und sie sich zuviel zumutet. Darum sagt er eines<br />
Tages mitfühlend zu ihr:<br />
„Es tut mir weh zuzusehen, wie schwer Du arbeitest. Gehe doch zum Gesandten<br />
Gottes und bitte ihn, eine <strong>Die</strong>nerin in Deinen <strong>Die</strong>nst zu stellen.“<br />
<strong>Fatima</strong> ging zum Vater.<br />
„Was wünschst Du, meine Töchterchen?“<br />
„Ich wollte Dich nur sehen.“<br />
Sie kam zurück und erzählte Ali, das sie sich geschämt habe, dem Vater ihre<br />
Bitte vorzutragen. Ali war sehr erregt. Er wollte <strong>Fatima</strong> unbedingt helfen. Er<br />
begleitete sie zum Propheten und trug an ihrer Stelle die Bitte vor. Der Prophet<br />
antwortete unverzüglich und entschieden:<br />
„Bei Gott, die Leute von Soffa hungern und ich kann ihnen nichts geben, Ihr<br />
aber bittet mich um eine <strong>Die</strong>nerin..“
Es wurde Nacht und die Eheleute begaben sich in ihrem ärmlichen Haus zur<br />
Ruhe. Bevor sie einschliefen, dachten sie beide an die Bitte, die sie an den<br />
Propheten gerichtet hatten; auch der Prophet dachte den ganzen Tag über die<br />
Antwort nach, die er seinen Lieben gegeben hatte.<br />
Plötzlich öffnete sich die Tür und der Prophet trat ein. Ali und <strong>Fatima</strong> zitterten<br />
in der Kälte der Nacht. Er sah, das sie sich mit einem dünnen, kurzen Tuch<br />
zugedeckt hatten, das gerade groß genug war, entweder ihre Füße oder ihre<br />
Köpfe zu bedecken. Mit liebevoller Nachsicht bedeutete er ihnen,<br />
liegenzubleiben. Dann fügte er hinzu:<br />
„Soll ich Euch über Dinge berichten, die viel wichtiger sind als das was Ihr von<br />
mir verlangt habt?“<br />
„Ja Gesandther Gottes.“<br />
„Es sind die Worte, die mich der Erzengel Gabriel gelehrt hat:<br />
Preiset Gott nach jedem Gebet zehnmal, dankt ihm und ruft Allah-u Akbar (Gott<br />
<strong>ist</strong> der Größte), und wenn Ihr Euch zur Ruhe begebt, wiederholt dies<br />
vierunddreißigmal.“<br />
<strong>Fatima</strong> wurde auf diese Weise noch einmal belehrt. Mit einem sanften Hinweis,<br />
der sie bis zum Grund ihrer Seele aufwühlte, wurde ihr noch einmal bedeutet,<br />
das sie „<strong>Fatima</strong>“ <strong>ist</strong>.<br />
Das hat sie zwar schon als Kind erkannt, aber solche Erkenntnisse müssen<br />
immer wieder aufs neue erworben werden. Sie sind kein „Wissen“ sondern ein<br />
„Werden“.<br />
Es <strong>ist</strong> nicht leicht „<strong>Fatima</strong>“ zu werden. Sie <strong>ist</strong> ein treues Wesen, das den<br />
ge<strong>ist</strong>igen Höhenflug an der Seite Alis Schritt für Schritt Mitvollziehen und seine<br />
Größe und seine Leiden mit ihm teilen muss. Sie trägt eine große Verantwortung<br />
in der Geschichte der Freiheit, des Kampfes und der Menschlichkeit und <strong>ist</strong> so<br />
das Bindeglied in einer langen Kette, die Abraham und Mohammad mit dem<br />
rächenden Erlöser der Geschichte verbindet. Sie verbindet das Prophetentum mit<br />
dem Imamat.<br />
Das sind <strong>Fatima</strong>s Aufgaben und Verantwortungen. Aber die Eigenschaften, die<br />
sie besitzen muss, um „<strong>Fatima</strong>“ zu werden, sind derart, das sich der Prophet<br />
veranlasst sieht, mit dieser „besonderen Schülerin und Gefährtin“ streng zu<br />
verfahren. Kein Augenblick der Ruhe soll sie davon abhalten, auf dem Wege des<br />
Werdens fortzuschreiten. Mühsal und Entbehrungen sind die notwendige<br />
Nahrung für diese im Lichte der Offenbarung wachsende und für Freiheit und
Gerechtigkeit Früchte tragende Pflanze. Sie soll gleichsam wie ein guter Baum<br />
sein, dessen Wurzel fest in der Erde auf ihren Schultern zu tragen.<br />
Für <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> der Prozess des Lernens unendlich, wie die Nahrungsaufnahme<br />
für die Pflanze.<br />
Worte anstatt <strong>Die</strong>ner! Nur dieses wunderbare Paar kann begreifen, das man mit<br />
Worten glücklich sein und ein erfülltes Leben führen kann.<br />
Worte müssen auf sie regnen, damit diese edlen Pflänzchen sie aufsaugen und<br />
heranwachsen. Der plötzliche Ruf Mohammads in jener dunklen und stillen<br />
Nacht war der Beginn dieses lebenspendenen Regens.<br />
Kein Wunder, das Ali, der ein Mann der Tat <strong>ist</strong> – und mit der ständigen<br />
Wiederholung der Gebetsformel nichts im Sinn hat – 25 Jahre nach diesem<br />
Ereignis gesagt haben soll:<br />
„Seitdem er mich diese Übung gelehrt hat, habe ich sie kein einziges Mal<br />
unterlassen.“<br />
Auf die Frage, ob er es auch in der Nacht von Siffin (48) nicht vergessen habe,<br />
soll Ali nachdrücklich geantwortet haben:<br />
„Nicht einmal dann“.<br />
<strong>Fatima</strong> lebte nach diesem Gebot bis zu ihrem Tode. <strong>Die</strong>se Lobpreisungen Gottes<br />
waren für sie bestimmt. Erhabene Worte, die ihr anstelle eines <strong>Die</strong>ners im Leben<br />
helfen sollten; Worte anstelle eines Hochzeitsgeschenkes.<br />
Der Prophet war mit seiner geliebten Tochter sehr streng. In diesem Verhalten<br />
folgte er Gott, dem Allmächtigen. Kein Prophet <strong>ist</strong> im Koran so getadelt und<br />
kritisiert worden wie Mohammad, und doch war keiner Gott so nahe und dem<br />
Volke so verpflichtet wie er.<br />
Nach den Worten von Professor Chandel:<br />
„Liebe und Glaube sind ihrem Höhepunkt über jede Verirrung erhaben. In dieser<br />
Erhabenheit erscheint die Geliebte dem Liebenden tadelswert. Hier verwirkt sie<br />
das Recht auf Vergebung.“<br />
Eines Tages betritt der Prophet <strong>Fatima</strong>s Haus, wird auf einen bemalten Vorhang<br />
aufmerksam, zieht erstaunt die Augenbrauen hoch und kehrt wortlos um, ohne<br />
sich hingesetzt zu haben.
<strong>Fatima</strong> ahnt sofort, was sie falsch gemacht hat und weiß auch schon, wie sie es<br />
wiedergutmachen kann. Unverzüglich nimmt sie den Vorhang ab und schickt<br />
ihn dem Vater, damit er ihn verkaufen und den Erlös unter den Bedürftigen von<br />
Medina verteilen kann.<br />
Warum bei ihr diese Härte und Strenge?<br />
Zeinab lebte im Hause Abu al-As in Wohlstand und Luxus. <strong>Die</strong> anderen<br />
Schwestern Rughiya und Umm-i Kulthum lebten schon immer im Reichtum,<br />
zuerst bei dem Geschäftsmann Abu Lahab und später bei den Ar<strong>ist</strong>okraten<br />
Osman. <strong>Fatima</strong> hatte aber noch nie gehört, das die wesendlich älteren<br />
Schwestern wegen ihres Reichtums getadelt worden wären. Das Verhalten des<br />
Propheten gegenüber <strong>Fatima</strong> macht deutlich, das er zwischen <strong>Fatima</strong> und seinen<br />
anderen Töchtern unterscheidet.<br />
„<strong>Fatima</strong> arbeite hart, denn ich kann morgen nichts mehr für Dich tun.“<br />
Sehen Sie, wie weit der wahre Islam von dem entfernt <strong>ist</strong>, den wir sonnst kennen<br />
lernen:<br />
„Eine Träne um Hussein löscht das Feuer der Hölle, erlöst jeden von seinen<br />
Sünden, auch wenn sie so zahlreich sind wie der Sand am Meer und die Sterne<br />
am Himmel. <strong>Die</strong> Sünden der Freunde Alis werden im Jenseits als gute Taten<br />
angesehen.“ (Betrogen sind also diejenigen, die in dieser Welt zu wenig oder gar<br />
keine Sünden begehen, denn in diesem Tauschgeschäft haben sie ja zu wenig<br />
oder gar nichts anzubieten).<br />
Damit jedoch nicht genug. Da soll Gott den schrecklichen Spruch getan haben:<br />
„<strong>Die</strong> Freunde Alis kommen in den Himmel, auch wenn sie sich gegen mich<br />
erheben und seine Feinde kommen in die Hölle, auch wenn sie mir gehorchen.“<br />
Als wenn da für verschiedene Betriebe jeweils unterschiedliche Bücher geführt<br />
werden!<br />
Ali wirkte nicht auf eigene Rechnung. <strong>Die</strong> Angelegenheit war recht ernst. Der<br />
Prophet macht nicht einmal <strong>Fatima</strong> Hoffnung, beim Jüngsten Gericht für sie<br />
einzutreten. Er kann auch sie nicht davor bewahren, sich alleine vor dem<br />
Jüngsten Gericht verantworten zu müssen. Da nutzt es ihr nicht, das sie die<br />
Tochter des Propheten <strong>ist</strong>. Er kann ihr nur dabei helfen, ihre Persönlichkeit zu<br />
entwickeln und „<strong>Fatima</strong>“ zu werden. Das <strong>ist</strong> der Sinn der Fürbitte, nicht etwa die<br />
Verfälschung der Le<strong>ist</strong>ungen angesichts der Gerechtigkeit Gottes, Begünstigung<br />
der Freunde und Verwandten und Öffnung einer heimlichen Hintertür zum<br />
Himmel für die eigenen Anhänger!
<strong>Fatima</strong> weiß das; auch das hat sie der Prophet gelehrt. <strong>Die</strong>se Art Fürbitten,<br />
welche die Verantwortung für die eigenen Taten – wofür die Religion eintreten<br />
– überflüssig macht, sind Bräuche der Götzendiener. <strong>Die</strong>se betrachteten die<br />
Götzen als ihre Fürsprecher bei Gott. Sie begingen Verbrechen, erlaubten sich<br />
jeglichen Fehltritt, gelobten aber, den großen und kleinen Götzen ein Kamel als<br />
Opfer darzubringen, und baten sie dann mit schmeichelhaften, flehentlichen und<br />
hingebungsvollen Worten um Fürbitte.<br />
In meiner Art glaube ich nicht nur an die Fürbitte des Propheten, sondern an die<br />
der <strong>Imame</strong>, der Rechtgeleiteten und der großen Kämpfer. Ich glaube sogar, das<br />
Pilgerfahrten zu dem Grab Husseins den Sünderern Erleichterungen bringen<br />
können. D.h. ihr tiefer Einblick in das Leben dieser vorbildlichen Menschen<br />
wühlt den Grund ihrer Seele derart auf, das sie andere Menschen werden, ihre<br />
Schwächen, Ängste und Neigungen zum Bösen, zur Förderung des<br />
Personenkultes und der sklavenhaften Anerkennung der Macht überwinden, sich<br />
von diesen Quellen der Erkenntnis, des Glaubens und der Tugend zu einer<br />
kämpferischen Haltung und ge<strong>ist</strong>igen Größe inspirieren lassen, aus<br />
menschlichen Ideen und Wertvorstellungen neue Kraft schöpfen und die<br />
Schwächen des Willens und des Instinktes, die zur Sünde führen, bekämpfen<br />
und zu großen Menschen werden können. Natürlich gehören früher begangene<br />
Fehler der Vergangenheit an.<br />
Hurr (49), der Held von Karbala, befreite sich durch die Fürbitte Husseins aus<br />
der Gefolgschaft eines verbrecherischen und repressiven Apparates und<br />
erreichte mit diesem Schritt den Gipfel der Freiheit, Wahrhaftigkeit und<br />
Menschlichkeit.<br />
Auch <strong>Fatima</strong> wurde durch die Fürbitte Mohammads zu dem, was sie war. Im<br />
Islam soll die Fürbitte den Menschen dazu motivieren, sich durch seine Taten<br />
die Erlösung zu verdienen; sie <strong>ist</strong> aber kein Mittel zur unverdienten Erlösung.<br />
Der Mensch soll die Fürbitte empfangen und danach seine Lebensweise<br />
verändern. Da kann sich kein Unwürdiger mit Hilfe von Tricks durchmogeln, es<br />
sei denn, er hätte gelernt, sich durch Fleißarbeit um diese Welt verdient zu<br />
machen, und das kann er unter anderem vom Fürsprechern lernen.<br />
Hussein spricht nur für denjenigen, der sich aus Liebe und Überzeugung seine<br />
Lebensweise zum Vorbild nimmt und für die und für die Gerechtigkeit kämpft.<br />
Sein Vorbild wird ihm helfen, den Irrweg der Ignoranz zu verlassen, den<br />
Freuden der Welt zum Wohle des Nächsten zu entsagen und die Weggefährten<br />
anzuführen, denn Tränen allein dürfen keine chemischen Einwirkungen auf die<br />
Sünden der Menschen haben. Sie nutzen auch sonnst nichts, wenn sie nicht von<br />
Erkenntnis und Einsicht begleitet sind.
<strong>Fatima</strong> arbeite hart, denn morgen kann ich nichts mehr für Dich tun!<br />
Da gleichen sich Vater und Tochter. Von Gerechtigkeit Gottes und dem<br />
islamischen Gesetz <strong>ist</strong> nicht einmal Mohammad ausgenommen; auch er wird<br />
sich für seine Worte und Taten verantworten müssen.<br />
Eine Frau aus dem Stamme Qureisch, die gerade zum Islam übergetreten war,<br />
hatte <strong>Die</strong>bstahl begangen. Der Prophet befahl, ihr die Hand abzuschlagen. Viele<br />
Menschen hatten Mitleid mit ihr. <strong>Die</strong> großen Familien des Stammes der<br />
Qureisch, eines der angesehensten Stämme, betrachteten es als eine Schmach,<br />
die ihnen immer anhängen würde. Darum baten sie den Propheten um<br />
Fürsprache zur Milderung des göttlichen Urteils.<br />
Er lehnte ab! Sie wandten sich an Samar Ibn Seid. Samar war der Sohn des<br />
Adoptivkindes des Propheten und stand dem Propheten wegen seiner Treue und<br />
Opferbereitschaft sehr nahe. Er bat den Propheten, der Frau im Namen der<br />
Qureisch und in seinem Namen ihren „Fehltritt“ zu vergeben und Fürbitte für sie<br />
einzulegen. Der Prophet antwortete vorwurfsvoll und entschieden:<br />
„Genug der vielen Worte! Solange ich das Gesetz durchzuführen habe, gibt es<br />
kein Entrinnen. Wäre sie Mohammads Tochter <strong>Fatima</strong>, ließe ich trotzdem ihre<br />
Hand abschlagen!“<br />
Warum wird unter so vielen lieben Verwandten die Tochter als Beispiel genannt<br />
und warum <strong>Fatima</strong>?<br />
<strong>Die</strong> Antwort <strong>ist</strong> nicht schwer zu erraten. Hatte er nicht bei seiner Berufung zum<br />
Propheten aus der Mitte seiner Familienmitglieder gerade die jüngste Tochter,<br />
die noch ein Kind war, ausgewählt und darauf angesprochen, zum Islam<br />
überzutreten?<br />
Nach seinen Worten <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong> neben Maria, Asia und Khadija eine der vier<br />
auserwählten Frauen der menschlichen Geschichte. Er nennt <strong>Fatima</strong> an letzter<br />
Stelle, da – wie in jedem Entwicklungsprozess- die höchste Entwicklungsstufe<br />
immer am Schluss folgt. So <strong>ist</strong> es in der Natur, in der Entwicklungsgeschichte,<br />
in der Geschichte der Propheten und schließlich bei den vorbildlichen Frauen.<br />
Es <strong>ist</strong> das Verdienst Marias, Jesus geboren und erzogen zu haben. Das Verdienst<br />
Asias (der Frau des Pharao) besteht darin, für Moses gesorgt und ihn geschützt<br />
zu haben. Khadija hat sich um Mohammad verdient gemacht und <strong>ist</strong> die Mutter<br />
<strong>Fatima</strong>s.<br />
Und worin besteht das Verdienst <strong>Fatima</strong>s?
Darin, das sie zu Khadija, Mohammad, Ali, Hussein und Zeinab gehört, oder<br />
darin, das sie „<strong>Fatima</strong>“ <strong>ist</strong>?<br />
Ali und <strong>Fatima</strong> lebten weit vom Leben und Treiben der Stadt entfernt in dem<br />
Dorf Ghaba, 8 km südlich von Medina, in einem Haus an der Moschee. In<br />
diesem Ort hielt sich der Prophet eine Woche lang während der Auswanderung<br />
auf, ehe er in die Stadt zog. Ali, der Mekka drei Tage nach dem Propheten<br />
verlassen hatte, holte ihn in Ghaba ein. Von Ghaba aus betrat der Prophet zum<br />
erstenmal Medina. Hier gründete er die freie islamische Gemeinde, baute die<br />
Moschee, das Haus für Gott und die Menschen, und leitete die Geschichte des<br />
Islam ein.<br />
Welch ein Zufall, das Ali und <strong>Fatima</strong> auch in Ghaba wieder an der Moschee, der<br />
ersten in der islamischen Zeit erbauten Moschee, lebten. Sie bauten dort ihr<br />
„Itra“ genantes Haus. Ihr gemeinsames Leben fing dort an, wo der Islam seinen<br />
Ursprung hatte. Später zogen sie in die Stadt und bewohnten an der Moschee des<br />
Propheten ein Haus in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. <strong>Die</strong> Ähnlichkeit<br />
zwischen diesen beiden Anhängern und die Duplizität der Ereignisse sind für<br />
jeden, der den Islam und die wahre Schia kennt, aufregend. Es <strong>ist</strong> ein<br />
aufregendes Gefühl, das mit der Vernunft nicht zu erfassen <strong>ist</strong>.<br />
Es fiel dem Propheten schwer, Ali und <strong>Fatima</strong> nicht an seiner Seite zu sehen.<br />
<strong>Die</strong> Trennung von Ali fiel ihm deshalb schwer, weil Ali in seinem Hause<br />
aufgewachsen war. Und nun lebten die beiden Menschen, die früher sein Haus<br />
mit Leben erfüllt hatten, weit von ihm entfernt am Rande der Stadt, in Armut<br />
und in Liebe und Vertrauen zueinander. Ali <strong>ist</strong> seit seiner Kindheit in Armut und<br />
Einsamkeit, in einer Hasserfüllten Umgebung und einer Atmosphäre des<br />
Kampfes und des Widerstandes aufgewachsen; er <strong>ist</strong> äußerst ernst und fromm,<br />
ohne jeden Sinn für die Freuden des Lebens, für Wohlstand und Vermögen. Er<br />
<strong>ist</strong> an harte Arbeit, Einsamkeit, Beten, Grübeln und Kämpfen gewöhnt.<br />
Entbehrung, Frömmigkeit und Armut haben auch <strong>Fatima</strong>s Leben bestimmt. <strong>Die</strong><br />
Jahre der Verfolgung in Mekka haben tiefe gesundheitliche Spuren hinterlassen.<br />
<strong>Die</strong>se schwache und empfindsame junge Frau führt das harte Leben auch im<br />
Hause Alis weiter. Weder <strong>ist</strong> Ali in der Verfassung, Freude und Leben in dieses<br />
Haus zu bringen, noch <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong> in der Lage, durch die anfänglichen Freuden<br />
des neuen Ehelebens Ali auf den Boden des alltäglichen Lebens zu holen und<br />
ihn von seiner harten Schale zu befreien. Nur der Prophet kann mit seinen<br />
zärtlichen und liebevollen Worten neue Hoffnungen in ihnen wecken und sie<br />
aufmuntern. Er kennt die Not dieser treuen Seelen, die nur von der Liebe zu ihm<br />
lebten.<br />
„Wer ihn liebt, hat kein Leben, denn ihn lieben <strong>ist</strong> das Leben selbst.“ (Einleitung<br />
zu Bucharis Kommentar)
Er holt Ali und <strong>Fatima</strong> zu sich und lässt sie, wie er selbst, ein Lehmhaus mit der<br />
Eingangstür zur Moschee und seinem Fenster mit Blick auf das Fenster seines<br />
Hauses bewohnen. <strong>Die</strong>se sich gegenüberliegenden und gegeneinander öffnenden<br />
Fenster sind symbolisch für zwei Herzen, die einander aufgeschlossen<br />
gegenüberstehen.<br />
Das sind die Fenster, von denen die Geschichtsschreiber sprechen.<br />
Von dort aus grüßt er jeden Tag <strong>Fatima</strong> und erkundigt sich nach ihrem Befinden.<br />
Warum hat von allen Gefährten, Verwandten und Töchtern nur das Haus<br />
<strong>Fatima</strong>s an der Moschee neben seinem Haus stehen müssen, als ob es nur ein<br />
Haus wäre?<br />
Ja, es <strong>ist</strong> nur ein Haus. Mohammads Haus <strong>ist</strong> ein Haus, in dem Ali der Vater,<br />
<strong>Fatima</strong> die Mutter, Hussein der Sohn und Zeinab die Tochter <strong>ist</strong>.<br />
Mit Itra (Hausangehörige) und Ahl-al-Bait (Leute des Hauses), die im Koran<br />
und der Tradition des Propheten erwähnt werden, sind dieses Haus und diese<br />
Familie gemeint. Wer dieses Haus kennt, braucht keine auf Tradition gestützte<br />
Beweisführung und theologische Argumentation, um das zu begreifen. Das wäre<br />
auch ohne jegliche Überlieferungen vernunftmäßig zu erfassen.<br />
Nun <strong>ist</strong> dieses Haus in Medina in unmittelbarer Nachbarschaft von Aishes Haus<br />
an der Moschee erbaut worden. <strong>Die</strong> Früchte dieser glücklichen Verbindung sind:<br />
Hassan, Hussein, Zeinab und Umm-i-Kultum.<br />
Mit diesen Sternen, die am Himmel des Islam aufgegangen sind, beginnt eine<br />
neue Geschichte; neue Horizonte werden sichtbar.<br />
Im dritten Jahr nach der Auswanderung und eineinhalb Jahre nach der<br />
Eheschließung wird Hassan geboren. Medina feiert diesen Tag, an dem die<br />
Erwartung des Propheten in Erfüllung gegangen <strong>ist</strong>.<br />
Sechszehn Jahre lang hatte er nur Nachrichten über Hass und Verrat, Verfolgung<br />
und Mord gehört. Nun hört er zum erstenmal die frohe Botschaft über die<br />
Geburt von Hassan und genießt die Freuden des Lebens.<br />
Freudestrahlend eilt er zu <strong>Fatima</strong>, nimmt das neugeborene Kind in die Arme,<br />
rezitiert den Gebetsruf und verteilt Silber unter die Armen von Medina.<br />
Ein Jahr später wird Hussein geboren. Der Prophet hat noch zwei Söhne<br />
gefunden. Das Schicksal wollte es, das er seine eigenen Söhne Ghasem und<br />
Ibrahim verlor, um durch <strong>Fatima</strong> andere zu bekommen. Das Geschlecht des<br />
Propheten sollte über <strong>Fatima</strong> fortgeführt werden.
Und Ali?<br />
In dieser Linie, die mit Mohammad anfängt, sollte er nicht fehlen. Ali bürgt für<br />
die Kontinuität seines Weges und <strong>ist</strong> sein ge<strong>ist</strong>iger Erbe. Er sollte auch diese<br />
Linie seines Geschlechtes fortführen. Sie sind in den nachfolgenden<br />
Generationen ineinander aufgegangen. In der Nachkommenschaft Mohammads<br />
lebt Ali weiter, in Alis der Prophet.<br />
Mohammad findet in diesen beiden Kindern Ali, <strong>Fatima</strong> und sich selber wieder.<br />
Er <strong>ist</strong> seinem Schicksal dankbar, das er für seine beiden verstorbenen Söhne<br />
zwei andere bekommen hat. Sie sind die Früchte der glücklichen Verbindung<br />
zwischen Ali und <strong>Fatima</strong>:<br />
<strong>Fatima</strong>, die man weiterhin „die Mutter ihres Vaters“ nennt, <strong>ist</strong> seine jüngste und<br />
liebste Tochter; und Ali, den er wie ein Sohn großgezogen hat, <strong>ist</strong> ihm ans Herz<br />
gewachsen. Vieles verbindet sie miteinander:<br />
Beide sind Abd al-Mutallebs Enkel. Alis Mutter hatte Mohammad seit seinem 8.<br />
Lebensjahr großgezogen. Sein Vater Abu Taleb war wie ein Vater zu<br />
Mohammad. Bis zu seinem 25. Lebensjahr lebte er in diesem Haus. Umgekehrt<br />
lebte Ali seit seiner Kindheit im Hause Mohammads, bis er 25 Jahre alt war.<br />
Khadija war wie eine Mutter zu ihm und der Prophet wie ein Vater.<br />
Welche Parallelen bei diesen Verbindungen und Verwandtschaften!<br />
Der eine <strong>ist</strong> das Ebenbild des anderen.<br />
Ali war der erste, der zum Islam übertrat und Mohammad folgte. In der Fremde<br />
und Einsamkeit le<strong>ist</strong>ete er als erster den Treueid und hat seitdem in der vorderen<br />
Linie der Gefahren gestanden und bis zum Ende seiner Tage ein hartes Leben<br />
auf sich genommen. Vor der Berufung, als Ali gerade 6 oder 7 Jahre alt war,<br />
nahm ihn der Prophet mit sich nach Hara, eine Höhle in der Nähe Mekkas und<br />
ließ ihn seinen Gebeten und Meditationen in den einsamen Tagen und Nächten<br />
beiwohnen.<br />
In der Stille der Nächte des Fastenmonats Ramadan kam ein Mann nach Hara,<br />
ging langsamen Schrittes und hob seinen Kopf gegen den Himmel, als ob er auf<br />
etwas Unsichtbares blickte oder auf etwas Unbestimmtes warte. Ihm folgte wie<br />
ein Schatten ein Kind.<br />
Ali war 8 oder 10 Jahre alt, als er eines Nachts in die Wohnung seiner<br />
Pflegeeltern Mohammad und Khadija kam und sah, wie sie niederknieten , sich
aufrichteten und gleichzeitig etwas vor sich hin sagten. Ihn beachteten sie nicht.<br />
Er fragte verwundert:<br />
„Was macht ihr denn?“<br />
Mohammad antwortete:<br />
„Wir beten. Ich bin beauftragt worden, den Menschen die Botschaft des Islam zu<br />
verkünden und sie aufzufordern, an einen einzigen Gott und an meine Mission<br />
zu glauben. Ali, ich fordere auch Dich dazu auf.“<br />
Ali <strong>ist</strong> zwar noch ein Kind, lebt in Mohammads Haus und fühlt sich ihm wegen<br />
seiner Liebe und Großzügigkeit besonders verbunden, <strong>ist</strong> aber nun einmal Ali.<br />
Er kann nicht bestimmen, ohne darüber nachgedacht zu haben. Der Glaube muss<br />
den Weg über die Vernunft zu seinem Herzen finden. Er spricht trotzdem die<br />
Sprache seines Alters:<br />
„ Erlaubt mir, mich mit meinem Vater, Abu Taleb, zu beraten und dann zu<br />
entscheiden „.<br />
Unmittelbar darauf begibt er sich in sein Zimmer.<br />
<strong>Die</strong> Aufforderung lässt Ali jedoch trotz seiner Jugend bis zum Morgengrauen<br />
keine Ruhe finden. Keiner weiß, was im Kopf dieses großartigen Kindes<br />
vorgeht. Am nächsten Morgen sieht man ihn erleichtert und entschlossen<br />
hineintreten. Er steht an der Tür und sagt in der Sprache der Kinder, aber mit der<br />
Logik eines Alis:<br />
„Ich habe es mir vergangene Nacht überlegt. Ich denke, das Gott meinen Vater<br />
Abu Taleb bei meiner Schöpfung nicht um Rat gefragt hat. Nun, warum sollte<br />
ich ihn jetzt um Rat fragen? Erkläre mir den Islam.“<br />
Nachdem der Prophet Ali den Islam erklärt hatte, sagte Ali:<br />
„Ich akzeptiere es“.<br />
Seit jenem Tag bis zum Ende seines Lebens war er ein leuchtendes Vorbild in<br />
der Verehrung Gottes, der Treue zu Mohammad und der Liebe zu den<br />
Menschen. Er war ge<strong>ist</strong>ig und gefühlsmäßig mit Mohammad verbunden; das<br />
war allgemein bekannt, und er fühlte es selbst auch am besten. Eines Tages war<br />
er über die Freundlichkeit, die der Prophet ihm gewährte, derart gerührt, das er<br />
dem Wunsch nicht widerstehen konnte, ihn zu fragen:
„Wen hat der Gesandte Gottes lieber, seine Tochter <strong>Fatima</strong> oder deren Ehemann<br />
Ali?“<br />
Der Prophet war mit einer schweren Frage konfrontiert. Während er darüber<br />
lächelte, wie er mit dieser Frage vor eine unmögliche Wahl gestellt wurde,<br />
beantwortete er sie getreu seinem Gefühl:<br />
„<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> mir lieber als Du, und Du b<strong>ist</strong> mir teurer als <strong>Fatima</strong>“:<br />
Seine Enkelkinder Hassan und Hussein sind also die Früchte einer Verbindung<br />
zwischen zwei Menschen, die ihm lieb und teuer sind.<br />
Der Prophet, von dessen Willens- und Entschlusskraft in der Geschichte des<br />
öfteren die Rede <strong>ist</strong>, dessen Schwert und Zorn die Kaiser, Könige und<br />
Mächtigen der Welt in Angst und Schrecken versetzten, <strong>ist</strong> gleichzeitig ein<br />
empfindsamer Mensch, der für Freundlichkeit und Aufrichtigkeit besonders<br />
empfänglich <strong>ist</strong>. In dem schrecklichen Krieg von Hunain hatten sich die Feinde<br />
verbündet, um ihn zu vernichten. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob sie damit<br />
Erfolg haben würden. Als sich das Kriegsgeschehen zugunsten der Moslems<br />
wendete und sie 6000 Gefangene und 40 000 Tiere Kriegsbeute machen<br />
konnten, kam ein Krieger aus dem feindlichen Lager zu ihm und sagte:<br />
„Mohammad, unter den Gefangenen gibt es Menschen, die Deine Onkel und<br />
Tanten sind, Hätten wir Numan ibn Munzar und ibn Abi Shimr gestellt, hätten<br />
wir auch von ihnen Großmut erwartet. Du b<strong>ist</strong> großzügiger als alle, die wir bis<br />
jetzt in unserer Sippe großgezogen haben“.<br />
Daraufhin brachten sie eine Frau, die laut ausrief:<br />
„Ich bin die Schwester Eures Propheten!“<br />
„Wie kannst Du das beweisen?“ fragte der Prophet.<br />
„Damit!“ sagte sie und zeigte auf eine Narbe auf ihrer Schulter.<br />
„Das hast Du getan, als ich Dich auf meinem Rücken trug und Du zornig<br />
wurdest.“<br />
<strong>Die</strong>se Worte riefen in ihm Kindheitserinnerungen wach, als er in der Wüste<br />
unter diesem Volk bei seiner lieben Amme und deren Töchtern lebte, und<br />
rührten ihn zu Tränen. Er sagte:<br />
„Auf meinen Anteil und auf den der Kinder von Abd al-Mutalleb verzichte ich<br />
sofort. Kommt morgen in die Moschee und wiederholt Eure Bitte nach dem<br />
Gebet laut vor der Versammlung, damit ich meinen Entschluss und den meiner
Verwandten auf Eure Bitte bekannt gebe; vielleicht mir darin noch einige andere<br />
Familien“.<br />
Am nächsten Tag geschah es so, wie er es vorausgesehen hatte. Auf diese Weise<br />
konnte er sie alle befreien. Einige, die auf ihre Anteile nicht verzichten wollten,<br />
wurden mit Versprechungen auf die Zukunft abgefunden.<br />
Zu Hause und in der Familie verhält sich der Prophet auch nicht anders. Ist er<br />
draußen der Staatsmann und unbeugsame Befehlshaber, so <strong>ist</strong> er zu Hause ein<br />
liebender Vater und sanftmütiger Ehemann, so das in einer Zeit, als die Logik<br />
der Männer den Frauen gegenüber nur in der Prügelstrafe bestand, seine Frauen<br />
frech zu ihm wurden und ihn quälten, weil er in seinem ganzen Leben niemals<br />
die Hand gegen sie erhoben hatte. Nur ein einziges Mal bestrafte er sie auf seine<br />
Art, weil sie ihm seine Armut vorwarfen und sagten, das ein Leben unter diesen<br />
Umständen in seinem Hause unerträglich sei. Er war ihnen gram, besuchte sie<br />
nicht mehr in ihrem Haus und schlief in einem Getreidelager auf dem nackten<br />
Boden. Er hatte seinen Frauen freigestellt, sich für die Scheidung und das gute<br />
Leben oder aber für ihn und die Armut zu entscheiden. Seine Frauen, die ihn<br />
liebten, gaben nach einem Monat reumütig auf und entschieden sich mit einer<br />
Ausnahme für den von ihm gewählten Weg.<br />
Er hat niemals versucht, sich als geheimnisvolles und übernatürliches Wesen<br />
dazustellen, im Gegenteil, er war besonders auf seine Natürlichkeit bedacht. Er<br />
führte nicht nur den koranischen Spruch:<br />
„Sag: Ich bin nur ein Mensch wie Ihr, einer, dem als Offenbarung eingegeben<br />
wird“ (Koran 41/6) als Beweis an, sondern gab jederzeit freimütig zu, das er<br />
nicht Wahrsagen könne und nur das wisse, was ihm offenbart werde. Er war<br />
stets darauf bedacht, das seine Worte und Taten nicht als übernatürlich<br />
bezeichnet werden und versuchte, den Menschen die ehrfurchtvolle Scheu vor<br />
seiner Stelle zu nehmen.<br />
Eines Tages kam eine alte Frau, um ihn etwas zu fragen. Sie hatte so viel über<br />
seine ungewöhnliche Persönlichkeit gehört, das sie vor ihm zu stottern und zu<br />
zittern begann. Der Prophet, der den Grund ihrer Verlegenheit ahnte, ging auf<br />
sie zu, legte seine Hand auf ihre Schulter und sagte mit aufrichtiger Sanftmut:<br />
„Was hast Du, Mütterchen? Ich bin der Sohn jener Melkerin aus dem Stamme<br />
der Qureisch.“<br />
Mohammad <strong>ist</strong> erstaunlich zartfühlend und einfühlsam. Zu Hause <strong>ist</strong> er so<br />
demütig, das es der neunjährigen Aishe nicht schwer fällt, an ihn<br />
heranzukommen. <strong>Fatima</strong> küsste er die Hände. Sein liebevolles Wesen zeigt sich<br />
auch in seiner Ausdrucksweise:
„Ammar <strong>ist</strong> die Haut zwischen meinen beiden Augen, Ali <strong>ist</strong> von mir und ich<br />
bin von Ali, <strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> ein Teil von mir...“<br />
Nun sind Hassan und Hussein da. Mohammad geht in seinen beiden<br />
Enkelkindern auf. Er <strong>ist</strong> kinderlieb. Obwohl er seine Töchter mit Liebe und<br />
Respekt überhäuft- was noch heute seinesgleichen sucht- hat er sich doch schon<br />
immer auch Söhne gewünscht. Das Schicksal wollte es jedoch, das nur seine<br />
Töchter am Leben blieben.<br />
So hat er auf diese Weise seine beiden Söhne wieder, und darum <strong>ist</strong> es nur<br />
natürlich, das er sie so sehr liebt. Trotzdem versetzt seine Zuneigung zu diesen<br />
Kindern alle in Erstaunen:<br />
Eines Tages kommt er, wie er es gewöhnlich jeden Tag seit der Geburt der<br />
Kinder tut, zu <strong>Fatima</strong>. Er sieht, das <strong>Fatima</strong> und Ali eingeschlafen sind und<br />
Hassan vor Hunger weint. Er bringt es nicht übers Herz, seine Lieben zu<br />
wecken, melkt ein im Hof stehendes Schaf und gibt dem Kind die Milch.<br />
Ein anderes Mal, als er an <strong>Fatima</strong>s Tür vorbeigeht, hört er Hussein weinen, tritt<br />
ein und sagt vorwurfsvoll:<br />
„Du weißt doch, das ich ihn nicht weinen sehen kann.“<br />
Usama ibn Zaid ibn Harisa berichtet: Einmal suchte ich den Propheten wegen<br />
einer Angelegenheit auf. Ich klopfte an die Tür, er kam heraus. Während ich mit<br />
ihm sprach, wurde ich auf seine Kleidung aufmerksam. Mir schien, das er etwas<br />
darunter verbarg, was er nur mit Mühe festhalten konnte. Nachdem unser<br />
Gespräch beendet war, fragte ich ihn:<br />
„Was hast Du da Gesandter Gottes?“<br />
Seine Augen leuchteten vor Freude und Aufregung auf, er schob sein Gewand<br />
zurück und ich sah, das er Hassan und Hussein darunter im Arm hielt; als ob er<br />
sein ungewöhnliches Verhalten rechtfertigen wollte, sagte er in einem Ton, der<br />
jedem Verständnis abnötigte, wie in einem Selbstgespräch:<br />
„Das sind meine beiden Söhne, die Söhne meiner Tochter“:<br />
Dann fuhr er fort:<br />
„Allmächtiger Gott, ich habe sie ins Herz geschlossen, lass ihnen und<br />
denjenigen, die sie lieben, Deine Liebe zuteil werden!“
Nach den Worten von Dr. Aishe al-Rahman Binti Shatti:<br />
„Hätte man Mohammad die freie Wahl gelassen zu bestimmen, welche seiner<br />
Töchter sein Geschlecht fortführen und welcher seiner Schwiegersöhne Vater<br />
dieser erwürdigen Hauses sein solle, hätte er keine bessere Wahl treffen können,<br />
als diese von Gott getroffene.“<br />
<strong>Die</strong> Kinder Alis und <strong>Fatima</strong>s sehen in Mohammad den Großvater, Vater,<br />
Freund, Verwandter, das Familienoberhaupt und den Spielkameraden. Sie<br />
kannten ihn besser als ihre Eltern und fühlten sich bei ihm freier.<br />
Als sich der Prophet eines Tages zum Gebet neigte und lange in dieser Stellung<br />
verharrte, gab er Anlass zur Verwunderung, denn normalerweise verrichtete er<br />
sein Gebet schnell, weil er auf die Schwächeren Rücksicht nahm. Daher glaubte<br />
man, das etwas Ungewöhnliches passiert sei oder er eine Offenbarung<br />
empfangen habe. Nach dem Gebet wurde er nach dem Grund der Verzögerung<br />
gefragt. Er sagte:<br />
„Als wir uns zum Gebet geneigt hatten, kletterte Hussein auf meinen Rücken,<br />
wie er es von zu Hause aus gewohnt <strong>ist</strong>. Ich wollte ihn nicht verwirren und<br />
wartete, bis er mich von selbst losließ. Daher dauerte mein Gebet so lange.“<br />
Steckt da nicht gleichzeitig die Absicht dahinter, den Menschen, insbesondere<br />
seinen Gefährten, zu zeigen, wie sehr er diese Kinder und ihre Eltern liebt, weit<br />
mehr, als ein Mensch sonnst fähig <strong>ist</strong>?<br />
Weshalb behandelt er <strong>Fatima</strong> in aller Öffentlichkeit ehrerbietig, küsst ihre<br />
Hände, lobt ihre Tugenden in der Moschee und zeigt seine ungewöhnliche enge<br />
innere Bindung an diese Familie von der Kanzel aus? Warum fügt er seinen<br />
anerkennenden Worten über Hassan, Hussein, Ali und <strong>Fatima</strong> jedes Mal noch<br />
hinzu:<br />
„Allmächtigern Gott, lass ihnen Deine Liebe zuteil werden, denn ihre<br />
Zufriedenheit <strong>ist</strong> meine Zufriedenheit, und meine Zufriedenheit <strong>ist</strong> Deine<br />
Zufriedenheit. Wer sie quält , der quält auch mich. Und wer mich quält, hat Dich<br />
gequält..“?<br />
Warum diese Worte, weshalb diese Zuneidung zu dieser besonderen Familie?<br />
<strong>Die</strong> Zukunft hat diese Fragen beantwortet. Das Schicksal dieser Familie, das<br />
Schicksal jedes einzelnen Mitgliedes der Familie war die Antwort auf diese<br />
Fragen; sie wurden nach dem Tode des Propheten beantwortet. <strong>Fatima</strong> war das<br />
erste Opfer, ihr folgte Ali, dann Hassan, auf ihn Hussein und schließlich Zeinab.
Im 5. Jahr, ein Jahr nach Hussein, wird ein Mädchen geboren; sie wird Zeinab<br />
genannt. Zwei Jahre nach ihr wird Umm-i Kulthum geboren. Auch die Töchter<br />
des Propheten hießen Zeinab und Umm-i Kulthum. Ja, <strong>Fatima</strong> bedeutete für<br />
Mohammad alles. Seine Töchter sind tot. Ihm sind nur <strong>Fatima</strong> und ihre Kinder<br />
geblieben. Das <strong>ist</strong> „Ahl al-Beit“, die „Familie des Propheten“.<br />
Seine Liebe zu Hassan und Hussein wird immer stärker. <strong>Die</strong> beiden Kinder<br />
füllen sein Leben aus. Wenn er auf die Strasse und auf dem Marktplatz von<br />
Medina spazieren geht, trägt er eins der Kinder auf seinen Schultern.<br />
Als er einmal in der Moschee von der Kanzel aus predigt, sieht er von dort aus<br />
seine Enkelkinder, die gerade erst laufen lernen, auf dem Hof spielen. Sie<br />
stolpern immer wieder über ihre Füße und fallen zu Boden. Der Prophet, der<br />
seinen Blick von ihnen nicht abwenden kann, unterbricht seine Predigt, eilt zu<br />
ihnen, nimmt sie auf den Arm und besteigt wieder die Kanzel. <strong>Die</strong> Leute<br />
beobachten ihn. Sie sind über die Unruhe dieser starken Persönlichkeit erstaunt.<br />
Er spürt, was in ihnen vorgeht. Während er die Kinder vorsichtig hinsetzt, sagt<br />
er entschuldigend:<br />
„Euer Vermögen und Eure Kinder sind euch eine Versuchung...“ (Koran 64/15)<br />
„Ich sah plötzlich diese Kinder, die stolperten und fielen, konnte mich nicht<br />
beherrschen und habe die Predigt unterbrochen, um sie aufzuheben.“.<br />
Es scheint, das seine Zuneigung zu Hussein eine andere Qualität besitzt. Sie<br />
übertrifft jede Vorstellung. Er spielt mit ihm, singt mit ihm, liegt ihm zu Füßen,<br />
bedeckt sein Gesicht mit Küssen und betet mit Inbrunst:<br />
„Allmächtiger Gott, sei gnädig zu ihm, denn ich hab ihn lieb.“<br />
Eines Tages war er mit einigen Gefährten unterwegs, um einen Besuch zu<br />
machen. Auf dem Marktplatz bemerkte er plötzlich Hussein, der mit seinen<br />
Kameraden spielte. Er wollte sein Enkelkind in die Arme schließen. Das Kind<br />
lief beim Spiel von einem Ort zum anderen, und der Prophet folgte ihm lachend,<br />
bis er es einholte. Er legte die Hand auf seinem Kopf, drückte ihm zärtlich einen<br />
Kuss auf die Wange und sagte:<br />
„Ich gehöre Hussein und Hussein gehört zu mir. Lieber Gott, sei gnädig zu allen,<br />
die lieb zu meinem Hussein sind.“<br />
<strong>Die</strong> Begleiter schauten ihn erstaunt an. Einer sagte zum anderen:<br />
„Sieh nur, was der Prophet mit seinem Enkelkind anstellt. Ich habe meinen Sohn<br />
noch nie geküsst.“
Der Prophet, dem seine Lieblosigkeit und Verschlossenheit missfielen,<br />
antwortete:<br />
„Wer keine Liebe empfindet, dem wird auch keine entgegengebracht.“<br />
<strong>Fatima</strong> führt ein glückliches Leben, und die bittere Erinnerung an die Zeit der<br />
Verfolgung und Armut verblassen allmählich.<br />
Nach dem Khaibar- Krieg schenken die Juden dem Propheten das Ackerland<br />
Fadak. Er überließ es <strong>Fatima</strong>; dies half ihr, die inzwischen vier Kindern das<br />
Leben geschenkt hatte, über die Härten des enterungsreichen Lebens<br />
hinwegzukommen.<br />
Mekka wurde erobert, und <strong>Fatima</strong> zog in Begleitung ihres siegreichen Vaters<br />
und heldenmütigen Mannes, der das Adler-Banner trug, in Mekka ein. Sie<br />
erlebte den größten Sieg des Islam, besuchte ihre Geburtsstätte und frischte gute<br />
und böse Erinnerungen an ihr Leben in Mekka auf:<br />
Masdjid al-Haram und die dortigen Ereignisse, des Vaters Haus und das Leben<br />
an der Seite ihrer Schwester, ihr Geburtshaus, das Abu Taleb-Tal. Das Grab Abu<br />
Talebs und das Grab ihrer Mutter....<br />
Siegreiche und ehrenvolle Rückkehr in Zufriedenheit und Glück.<br />
Der Vater wird nicht mehr von der Rachsucht seiner Feinde verfolgt; sein<br />
Einfluss erstreckt sich auf die ganze Halbinsel. Der Ehemann hat Badr, Uhud,<br />
Khandagh, Khairbar, Mekka, Hunain und Jemen Taten vollbracht, die<br />
verdienstvoller sind als alles Beten der Menschen von der Schöpfung bis zur<br />
Auferstehung. Und ihre Kinder sind Früchte eines entbehrungsreichen, aber<br />
glücklichen Lebens; sie sind das Herz der Familie, der Mittelpunkt des<br />
ehrwürdigen Hauses des Propheten und seine Nachkommen.<br />
<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> für all ihr Leiden und Tugenden belohnt worden.<br />
Umso glücklicher <strong>ist</strong> sie, wenn sie immer wieder feststellt, das ihre Kinder dem<br />
Propheten unendliche Freude bereitet. Sie hat es geschafft, ihrem geliebten<br />
Vater, der außer ihr alle Kinder verloren und ein Leben lang gelitten hatte, in<br />
seinem hohen Alter, als er die Kinder mehr denn je brauchte, die Freuden des<br />
Lebens zu schenken.<br />
Ihr Leben <strong>ist</strong> leichter geworden. Das Glück <strong>ist</strong> ihr hold. Ihr Haus <strong>ist</strong> umgeben<br />
von Segen und Glückseeligkeit. <strong>Die</strong> unbeschreibliche Zuneigung des Vaters, die<br />
ruhmreichen Taten des Ehemannes und die Bege<strong>ist</strong>erungsfähigkeit der Kinder<br />
haben ihre Träume von einem glücklichen Leben wahr werden lassen.
Das alles war jedoch nur die Ruhe vor dem Sturm, der umso heftiger und<br />
verheerender kam und ihr Heim zerstörte. Der Prophet wurde bettlägig und<br />
konnte nicht wieder aufstehen. Plötzlich fallen die Masken. In der reinen und<br />
guten Stadt Medina breiten sich Angst und Hass aus. <strong>Die</strong> Politik vertreibt den<br />
Glauben und die Aufrichtigkeit aus der Stadt Mohammads, die brüderliche<br />
Bindungen werden zerrissen und alte Stammesbindungen neu geknüpft.<br />
Der Prophet gibt keine Anweisungen mehr; er schickt nach Ali. Aber Aischa<br />
und Hafaza holen ihre Väter. An einem Tag hört <strong>Fatima</strong> Omar in der<br />
Gebetsnische ihres Vaters als Vorbeter beten, am anderen Tage Abu Bakr.<br />
<strong>Die</strong> von Usama (50) befehligte Armee bleibt in Djorf und rückt trotz dringender<br />
Anordnungen des Propheten nicht an. Es werden Stimmen laut, die gegen die<br />
Ernennung von Usama, dem ihr Vater selbst die Fahne überreicht hatte,<br />
protestiert. An einem Donnerstag gibt der Vater mit Tränen in den Augen die<br />
Anweisung:<br />
„Bringt mir Feder und Schreibtafel, ich möchte etwas aufschreiben, damit ihr<br />
nicht irregeführt werdet.!“<br />
Seinem Wunsch wird nicht entsprochen, sie sagen, er phantasiere; er brauche<br />
nicht zu schreiben, das Buch Gottes reiche aus!<br />
- Nun sagt mein Vater nichts mehr. Er liegt im Hause Aishes, Ali sitzt an seinem<br />
Bett, seine Lippen bewegen sich nicht mehr. Er redet nur noch mit den Augen.<br />
Ich kann dieses Unglück kaum ertragen. Er <strong>ist</strong> mein Vater, ich war wie eine<br />
Mutter zu ihm. Wenn er mich nun mit diesen Menschen in dieser Stadt allein<br />
lässt?<br />
Er wendet keinen Blick von mir, er <strong>ist</strong> um mich besorgt. An meinem<br />
Gesichtsausdruck erkennt er, wie sehr ich leide. Seine kleine <strong>Fatima</strong> tut ihm<br />
leid. Mit einem Augenzwinkern gibt er mir zu verstehen, das er mich sprechen<br />
möchte. Ich beuge mich zu ihm nieder, er flüstert mir ins Ohr:<br />
„<strong>Die</strong>se Krankheit wird mit dem Tode enden, ich verlasse Dich.“<br />
Ich hebe den Kopf und spüre, wie mir die Kräfte unter der Last des nahenden<br />
Unglücks schwinden, des Unglücks, nach dem Tode des Vaters weiterleben zu<br />
müssen. Warum gibt er mir allein die Nachricht?<br />
Ich kann sie doch am wenigsten ertragen. Er lässt seinen Blick auf mir ruhen<br />
und zeigt Mitleid mit seiner jüngsten Tochter, die ihn weiterhin wie ein Kind<br />
braucht. Dann gibt er mir ein weiteres Zeichen:
„Meine Tochter, Du b<strong>ist</strong> die erste aus meiner Familie, die mir folgen wird.“<br />
Darauf fügt er hinzu:<br />
„<strong>Fatima</strong>, b<strong>ist</strong> Du denn nicht zufrieden, das Du die Frauen dieser Gemeinschaft<br />
anführst?“<br />
Welch ein Trost! Welch andere frohe Botschaft hätte mich sonnst in meinem<br />
Unglück trösten können?<br />
Ja, Vater, Du weißt wie Du Deine <strong>Fatima</strong> trösten sollst. Du wusstest schon,<br />
warum Du ausgerechnet mir diese Nachricht übermitteltest. Nun habe ich die<br />
Kraft zu weinen und zu trauern.<br />
„Ein weiser Mann, dessen erleuchtetes Gesicht das Wasser in den Wolken sucht,<br />
ein Mann, der die Hoffnung der Waisen und der Beschützer der Witwen <strong>ist</strong>.“<br />
Plötzlich öffnet mein Vater die Augen:<br />
„<strong>Fatima</strong>, das <strong>ist</strong> das Lobgedicht von Abu Taleb über mich. Meine Tochter, sage<br />
jetzt keine Gedichte auf, rezitiere lieber aus dem Koran die Stelle: ´Und<br />
Mohammad <strong>ist</strong> nur ein Gesandter. Es hat schon vor ihm Gesandte gegeben.<br />
Würdet Ihr denn eine Kehrtwendung vollziehen, wenn er stirbt oder getötet<br />
wird?`“<br />
Und dann sagte er:<br />
„Gott verfluche die Völker, die die Gräber ihrer Propheten zu Gebetsstätten<br />
machen.“<br />
Und als ob er ein Selbstgespräch führe:<br />
„Gehören denn nicht die selbstherrlichen Despoten in die Hölle?“<br />
Danach fährt er fort:<br />
„<strong>Die</strong> andere Welt <strong>ist</strong> nur für diejenigen geschaffen, die in dieser Welt keine<br />
Unterdrückung und Gemeinheit dulden, suchen oder ausüben.“<br />
<strong>Die</strong> Politiker, die ihn nicht hatten schreiben lassen wollen, forderten ihn jetzt auf<br />
, es mündlich zu sagen. Er sah sie mitleidig an und sagte:<br />
„Was ich vorhabe, <strong>ist</strong> besser als das, wozu Ihr mich verleiten wollt.“
Auf ihre beharrlichen Fragen, was er habe schreiben wollen, erklärte er:<br />
„Hört meinen letzten Willen! Ich möchte Euch drei Ratschläge erteilen:<br />
1. Vertreibt die Ungläubigen aus der arabischen Halbinsel.<br />
2. Empfangt die Abordnungen der Stämme, wie ich sie empfangen habe.<br />
3. .....“<br />
Es folgt ein Schweigen. Alle sahen plötzlich Ali an. Er war in Gedanken<br />
versunken und litt schweigend. Der Vater schwieg ebenfalls. Sein Schweigen<br />
währte lange. Er schaute mit tränengetrübten Augen in die Ferne. Sie gingen<br />
hinaus.<br />
Ich stöhnte vor Schmerz: „Vater, ich bin so unglücklich über Deinen Kummer.“<br />
Er antwortete unverzüglich in einem befreienden und beruhigten Ton:<br />
„Ab heute wird mein Zustand Dich nicht mehr bekümmern.“<br />
Seine Lippen bewegten sich nicht mehr; Lippen , die die Offenbarung verkündet<br />
hatten. Sein Blick ruhte eine Zeitlang auf uns, dann schlossen sich seine Augen.<br />
Aus seinem Hals Quoll Blut hervor. Sein Kopf ruhte auf Alis Brust. Ali<br />
verharrte in einem tödlichen und tiefen Schweigen, als ob er vor dem Propheten<br />
gestorben wäre. Aishe beugte sich über den Vater, andere Frauen taten es ihr<br />
gleich.<br />
Ja, ja.... Ein Augenblick des Schweigens. Plötzlich fielen seine Hände, die als<br />
Zeichen des Gebets auf dem Kopf Usama ruhten, zur Seite, seine Lippen<br />
bewegten sich:<br />
„Auf zum erhabenen Freund.“<br />
Alles <strong>ist</strong> zu Ende.<br />
Mein Vater, oh mein Vater!<br />
Gott erhöre sein Gebet!<br />
Wir vertrauen ihn Gabriel an.<br />
Draußen wurde es laut. <strong>Die</strong> Stadt weinte aus Angst und Sorge. Ich hörte Omar<br />
sagen:<br />
„Nein der Prophet <strong>ist</strong> nicht gestorben; er <strong>ist</strong> wie Jesus in den Himmel gefahren<br />
und wird wieder zurückkehren. Wer behauptet , er sei gestorben, <strong>ist</strong> ein<br />
Unheilstifter und verwirkt seinen Kopf.“
Nach einigen Stunden war alles ruhig. Ich sah Abu Bakr und Omar eintreten.<br />
Abu Bakr deckte das Gesicht des Vaters auf, weinte und verließ das Haus<br />
wieder. Omar folgte ihm.<br />
Ali kümmerte sich um das Leichentuch und die rituelle Waschung. Ich<br />
beobachtete meinem Mann, wie er den Vater wusch und weinte. <strong>Die</strong> Leute<br />
hatten ihren Propheten verloren, die Schutzsuchenden ihren Beschützer und die<br />
Gefährten ihren geliebten Führer, aber Ali und ich hatten alles verloren“<br />
Plötzlich spürte ich, das wir beide Fremde in dieser Stadt und in dieser Welt<br />
geworden sind.<br />
Alles änderte sich, auch die Gesichter änderten sich. Der Schrecken breitete sich<br />
aus. <strong>Die</strong> Politik hatte die Aufrichtigkeit verdrängt.<br />
<strong>Die</strong> Brüder, die sich beim Bruderschaftsgelübde die Hand zur Treue gereicht<br />
hatten, entfernten sich von einander, und der Standesdünkel der Sippschaften<br />
lebte wieder auf, noch ehe der Prophet des einfachen Mannes begraben worden<br />
war.<br />
Während Ali und ich an nichts anderes denken konnten als an unseren<br />
schmerzlichen Verlust, waren in Medina Verschwörungen und<br />
Auseinandersetzungen im Gange, Um Mohammads Nachfolger zu bestimmen.<br />
Unsere heile Welt war zusammen gebrochen.<br />
Plötzlich betrat unser Großonkel Abbas mit bekümmerten Gesicht das Haus und<br />
sagte in einem vielsagenden und besorgniserregenden Ton zu Ali:<br />
„Strecke Deine Hand aus, ich möchte Dir meinen Treueid le<strong>ist</strong>en, damit die<br />
anderen sagen, das der Onkel des Propheten dessen Vetter gehuldigt habe. Dann<br />
werden auch andere Mitglieder der Familie Dir huldigen und kein anderer kann<br />
danach..“<br />
Ali unterbrach ihn:<br />
„Weshalb? Haben noch andere Ansprüche angemeldet?“<br />
„Du wirst es morgen erfahren!“<br />
Ali spürte das Unheil. Aber das Gefühl ging vorüber, denn viel zu groß war sein<br />
innerer Schmerz. Mohammad war sein Verwandter, Vater, Erzieher, Bruder,<br />
Freund und sein Prophet. Es war der Sinn seines Lebens. Was sich draußen<br />
abspielte, konnte seine Gedanken augenblicklich nicht beschäftigen. Er hielt das<br />
kostbare Gut seines Lebens in seinen kalten, zittrigen Händen.
Er war mit dem Propheten beschäftigt und mit unseren Kindern. Hassan war 7<br />
Jahre alt, Hussein 6, Zeinab 5 und Umm-i Kulthum 3 Jahre; nach seinem Tod<br />
wird man diesen Kindern nur mit Hass begegnen.<br />
Außerhalb der Stadt, in Saghifa (51) waren die medinensischen Gefährten des<br />
Propheten zusammengekommen, um seinen Nachfolger zu wählen. Sie ahnten,<br />
das die Mekkanischen Einwanderer eigene Pläne schmiedeten.<br />
Abu Bakr, Omar und Abu Ubaida eilten zu ihnen und überzeugten sie davon,<br />
das der Prophet gesagt habe, die Führer müssten vom Stamme der Qureisch sein.<br />
Sie argumentierten, das der Nachfolger des Propheten sein Verwandter sein<br />
müsse. Schließlich wurde Abu Bakr in Saghifa gewählt.<br />
<strong>Fatima</strong> befand sich in einer unbeschreiblichen inneren Verfassung. Sie war nicht<br />
nur die Tochter des Propheten, sondern sie hatte wie eine Mutter für ihn gesorgt<br />
und war zu Hause, in der Fremde, im Krieg und im Frieden seine ständige<br />
Gefährtin gewesen . Sie war seine jüngste Tochter und gegen Ende seines<br />
Lebens das einzige Kind, das ihm geblieben war. Sie sollte sein Geschlecht<br />
fortführen.<br />
Als sie das Licht der Welt erblickte, besaß die Mutter ihr Vermögen längst nicht<br />
mehr; das ruhige Leben des Vaters hatte sich gewandelt und die älteren<br />
Schwestern hatten ihre kindliche Fröhlichkeit verloren. Mit 65 Jahren war die<br />
Mutter alt und gebrechlich, und das Leben in Glück und Wohlstand war einem<br />
Leben in Armut, hasserfüllter Umgebung und Verrat gewichen.<br />
Khadija war nicht nur Mutter und Ehefrau, sondern an erster Stelle Gefährtin<br />
und Leidensgenossin eines Mannes, der die schwere Bürde seiner Mission zu<br />
tragen hatte und ausgezogen war, die Menschen die Botschaft Gottes zu lehren<br />
und sie aus den Fesseln einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu<br />
befreien, die sie zu Sklaven und Götzendienern machte.<br />
<strong>Fatima</strong>s Mutter widmete sich voll und ganz Mohammad, in dessen Innerem ein<br />
sonderbarer Sturm der Empfindung tobte und in dessen Umgebung ein Feuer<br />
des Materialismus und der Feindseligkeit ausgebrochen war. Sie begleitete<br />
Mohammad auf seinem Leidensweg und kümmerte sich um ihn, während er mit<br />
sich selbst, seiner Revolution und der Botschaft Gottes an die Menschen<br />
beschäftigt war.<br />
In den Jahren, als <strong>Fatima</strong> auf die Liebe der Eltern angewiesen war, spürte sie,<br />
das ihre Eltern ihrer kindlichen Fürsorge bedurften. <strong>Die</strong> Liebe zu ihnen ,die aus<br />
Liebe gelitten hatten, und ihr gemeinsames Leben mit ihnen, das ein Leben der<br />
Einsamkeit war, hatten ihre Denkweise geprägt, und sie sagte:
„Freunde, die ihre Sorgen und Leiden miteinander teilen, verbindet eine so tiefe<br />
und aufrichtige Zuneigung, wie sie bei einem gemeinsamen Erlebnis des Glücks<br />
nicht zustande kommt.“<br />
Wer aus Liebe und Überzeugung dem Freund sein Leben opfert, empfindet eine<br />
Zuneigung für ihn, die der Freund in dieser Erhabenheit nicht spüren kann.<br />
<strong>Die</strong> Liebe <strong>Fatima</strong>s zu ihrem Vater war über die töchterliche Zuneigung hinaus<br />
eine aufrichtige und unerschüttliche Bindung zu ihm, die aus den gemeinsamen<br />
Erlebnissen der harten Verfolgungsjahre gewachsen war. Es war ihr bewusst,<br />
welchen Opfergang er angetreten hatte:<br />
Er war in seiner eigenen Stadt zu einem Fremden geworden und vereinsamte in<br />
einer Gemeinschaft, die seine Sprache nicht verstanden. Er musste an mehreren<br />
Fronten Auseinandersetzungen austragen und war mit der Ignoranz der<br />
Götzendiener, der Feindseligkeit der ungebildeten Scheichs, der<br />
Niederträchtigkeit der Ar<strong>ist</strong>okratie und der Rachsucht der Sklavenhändler<br />
konfrontiert.<br />
Er musste die schwere Bürde seiner göttlichen Mission auf seinem langen Weg<br />
von der Sklaverei zur Freiheit, von den Niederungen des dunklen Tales um<br />
Mekka bis auf den Gipfel des Lichtberges allein tragen, während er von Hass,<br />
Verrat, Engstirnigkeit und Niedertracht begleitet wurde.<br />
Er wurde ausgerechnet von dem Volk gequält und verfolgt, zu dessen Erlösung<br />
er berufen worden war. Seine nächsten Verwandten peinigten ihn am me<strong>ist</strong>en;<br />
sie behandelten ihn wie einen Fremden.<br />
Allein gelassen, getrieben vom Fieber der Offenbarung, dem Sturm der Liebe<br />
und Überzeugung, geplagt von der Feindseeligkeit seines Stammes, der<br />
Dummheit seines Volkes, gebückt unter der Last seines Auftrages, gegeißelt von<br />
ununterbrochenen Worten der Offenbarung, trug er jeden Tag das in seinem<br />
Inneren entfachte Feuer der Erleuchtung unter das Volk; auf seinem Weg, auf<br />
dem Hügel von Soffa in Mekka, warnte er die ignoranten und sorglosen<br />
Menschen und verkündete seine Botschaft. Auf dem Hof der Masdji al-Haram<br />
und am Dar al-Nodva, dem Versammlungsort der Oberschicht der Qureisch, und<br />
vor 330 vom Volke erwählten stummen und seelenlosen Götzen rief er zu<br />
Wachsamkeit und Freiheit auf.<br />
Erschöpft vor Müdigkeit, verletzt und geschmäht, machte er sich jeden Abend<br />
auf den Heimweg; ihm folgte eine Schar von Menschen, die ihn beschimpften<br />
und verspotteten.
Vor ihm lag ein stilles Haus, in dem eine liebevolle, gebrechliche Frau auf ihn<br />
wartete.<br />
<strong>Fatima</strong>, das kleine schwache Mädchen, folgte dem Vater Schritt für Schritt auf<br />
den mit Hass erfüllten Strassen der Stadt in die Masdji al-Haram, um dort<br />
wiederum beschimpft, verspottet, beleidigt und gequält zu werden. Wie ein<br />
Vogel, der seine aus dem Nest fallenden Jungen unter seine schützenden Fittiche<br />
nimmt, war sie immer zur Stelle, wenn der Vater angegriffen wurde, wischte<br />
ihm das Blut vom Gesicht, verband seine Wunden, tröstete den Verkünder der<br />
göttlichen Wortes mit kindlichen Worten und brachte den großen einsamen<br />
Mann nach Hause.<br />
Sie erfüllte die Herzen der kränklichen Mutter und des leidenden Vaters durch<br />
ihre Zärtlichkeit mit Liebe und Freude.<br />
Bei der blutigen Rückkehr des Vaters aus Ta´if lief sie alleine ihm entgegen,<br />
bemühte sich, seine Sorgen zu zerstreuen, ihn abzulenken und ihm durch ihre<br />
Zärtlichkeit neuen Lebensmut zu geben,. Während der Belagerung verharrte sie<br />
3 Jahre lang am Bett ihrer alten Mutter und erduldete gemeinsam mit ihrem<br />
Vater die Härten der Hungerjahre und der Einsamkeit.<br />
Der Tod der Mutter und des Großonkels hatte im Leben des Vaters, der plötzlich<br />
zu Hause und draußen einsam geworden war, eine schmerzliche Lücke<br />
hinterlassen. Mit Liebe und Fürsorge versuchte <strong>Fatima</strong>, diese Lücke auszufüllen.<br />
Sie widmete jede Stunde ihres Lebens dem Vater, bestärkte ihn durch ihre<br />
Frömmigkeit und ihren Glauben an seine Botschaft in seiner Überzeugung, gab<br />
ihm Hoffnung auf eine bessere Zukunft durch ihre Heirat mit Ali und schenkte<br />
ihm Enkelkinder, nachdem er seine eigenen Söhne und Töchter frühzeitig<br />
verloren hatte.<br />
Das sind Erlebnisse, die im Laufe ihres ganzen Lebens Bindungen zu ihrem<br />
Vater geschaffen haben, die stärker als jede Liebe, Freundschaft, Ergebenheit<br />
und Glauben sind.<br />
Es <strong>ist</strong> das Geflecht aller Ereignisse, das im Laufe der Jahre im tiefen<br />
Bewusstsein <strong>Fatima</strong>s gewachsen <strong>ist</strong> und sie mit ihrem Vater innerlich verbindet.<br />
Nun sind diese Bindungen mit einem Schlag gerissen. Ohne ihn soll sie „ sein“<br />
und „ leben“. Welch ein harter und schwerer Schlag für diese feinfühlige Frau,<br />
die aus dem Glauben an den Vater und der Liebe zu ihm Lebensmut schöpfte.<br />
Es war kein Zufall, das der Prophet sich auf dem Sterbebett veranlasst sah, sie<br />
als einzige zu trösten, damit sie die Kraft habe, dem Tod des Vaters zu ertragen.
<strong>Die</strong> Nachricht über ihren bevorstehenden Tod und die Hoffnung ihm bald folgen<br />
zu können, gaben ihr Kraft und Mut.<br />
Nicht genug damit, das <strong>Fatima</strong> mit diesem harten Schicksalsschlag tief ins<br />
Unglück gestützt war; der nächste Schlag folgte unmittelbar darauf. Wenn er<br />
auch nicht hart war wie der Tod des Vaters, so ging er doch in seinen<br />
Konsequenzen viel weiter.<br />
Ein anderer war zum Nachfolger des Propheten gewählt worden!<br />
Welchen Unterschied macht es schon, ob Abu Bakr der Nachfolger wurde oder<br />
ein anderer?<br />
Ali war es auf jedenfalls nicht!<br />
Nun wird klar, warum der Prophet bei der Rückkehr von der<br />
Abschiedspilgerfahrt nach Mekka in Qadir Khum, dem Ort, an dem sich die<br />
Wege der Pilger trennten, Ali der Gemeinschaft vorstellte und sich von ihr<br />
bestätigen ließ, das Ali sein Nachfolger sein, warum eine Gruppe von 12<br />
Personen sich an einer Biegung des gebirgigen Weges versteckt hatte, um auf<br />
ihn – vielleicht ja auch auf Ali – einen Anschlag zu verüben.<br />
<strong>Die</strong>se Verschwörung nachdem Ereignis von Qadir Khum steht im<br />
unmittelbarem Zusammenhang damit, denn Vorfälle dieser Art ereignen sich bei<br />
Wahlen selten zufällig.<br />
Nun wird auch klar, warum die Namen der Verschwörer nie bekannt gegeben<br />
wurden, nachdem der Prophet rechtzeitig von ihrem Vorhaben erfahren und die<br />
Anweisung gegeben hatte, sie aus dem Weg zu räumen.<br />
Es handelte sich hier nicht um einen unbedeutenden Vorfall, insbesondere wenn<br />
man die Tatsache berücksichtigt, das die Geschichtsschreiber Aufgrund der<br />
großen Zuneigung der Gefährten des Propheten zu ihm sogar die Unbedeutesten<br />
Ereignisse seines Lebens von ihnen erfahren und genauestens Berichten<br />
konnten.<br />
Warum zog der Prophet trotz seines hohen Alters in Begleitung seiner großen<br />
und ebenfalls betagten Gefährten, die keine Krieger waren und politische<br />
Aufgaben erfüllten, persönlich in seinen letzten Krieg in Tubuk gegen die<br />
mächtigen Römer und scheute seinen Wunsch davon aus und ließ ihn mit dem<br />
Worten :<br />
„Ich lasse Dich hier zum Schutze dessen, was ich hier in Medina veranlassen<br />
habe, zurück.
Möchtest Du nicht zu mir stehen, wie Aron zu Mose stand, obwohl es nach mir<br />
keinen Propheten geben wird?“<br />
In Medina zurück, obwohl Ali, ein Mann des Schwertes, ein anerkannter Held<br />
der großen Schlachten und der Fahnenträger der Armee des Propheten war?<br />
Warum schickte der todkranke seine Armee in einen Krieg gegen Rom, der<br />
weder für die Verteidigung noch aus anderen Gründen notwendig war?<br />
Warum ließ er Abu Bakr, Omar und die anderen großen und einflussreichen<br />
Politiker in den Krieg ziehen?<br />
Warum waren diese großen Persönlichkeiten, die von einem 18 Jahre jungen<br />
Mann befehligt wurden, einfache Soldaten?<br />
Warum ließ der Prophet die Kritik nicht gelten, das er für diese Aufgabe zu jung<br />
sei, und entgegnete, nicht das Alter, vielmehr die Fähigkeit sei wichtig?<br />
Warum bestand er noch auf dem Sterbebett darauf, das die Armee sich in<br />
Bewegung setzten, die Honoratioren ebenfalls in den Krieg ziehen, aber Ali in<br />
Medina zurück lassen sollten?<br />
Warum verlangte er in dem letzten Augenblick seines Lebens nach Feder und<br />
Schreibtafel und sagte:<br />
„Um etwas aufzuschreiben, damit ihr niemals irregeleitet werdet....?“<br />
Er sagte, er möchte als letzten Willen drei Ratschläge erteilen.<br />
Warum schwieg er als er zu seinem dritten Ratschlag kam?<br />
Als Bilal zum Gebet rief, konnte er nicht aufstehen. Er sagte:<br />
„Lasst Ali kommen.“<br />
<strong>Die</strong> beiden anderen erfuhren es von ihren Töchtern und erscheinen ebenfalls.<br />
Als der Prophet alle drei vor sich sah, entließ er sie, ohne etwas zu sagen.<br />
Warum?<br />
Der Prophet zeigte in den härtesten Kriegen, während der Einsamkeit, ja sogar<br />
bei Überlegenheit des Feindes Willenskraft und Optimismus.<br />
Weshalb war er in den letzten Tagen seines Lebens, auf der Höhe seiner Macht,<br />
so besorgt um die Zukunft?
Warum ging er in jener Nacht, als die Krankheit anfing, mit seinem <strong>Die</strong>ner zum<br />
Friedhof, betete still für die Verstorbenen und sagte schwermütig:<br />
„Ruhet in Frieden, euch geht es besser als diesem Volk..“?<br />
Warum wiederholte er, je mehr den Tod heran nahen fühlte, um so öfter den<br />
Satz:<br />
„<strong>Die</strong> Verschwörungen kommen eine nach der anderen wie die schwarze<br />
Nacht..“?<br />
Ja, alle diese Fragen werden nun beantwortet.<br />
<strong>Die</strong> schwarzen Nächte kommen nacheinander. Ali hat den Propheten begraben<br />
und die großen Gefährten das Recht.<br />
Sie sind aus Saghifa in die Moschee gekommen, damit der Kalif mit einer<br />
Predigt die Nachfolge des Propheten antritt. Ali verlässt das leere Haus des<br />
Propheten um in das Haus <strong>Fatima</strong>s zurück zu kehren und 25 Jahre lang in<br />
schweigen und schmerzlicher Zurückgezogenheit zu leben.<br />
Und <strong>Fatima</strong> muss die unbarmherzigen Schicksalsschläge weiterhin ertragen. Ihr<br />
Vater, ihre Stütze im Leben, <strong>ist</strong> von ihr gegangen, Ali, ihr Bruder, Ehemann,<br />
Freund und einziger mitfühlender Verwandter, <strong>ist</strong> traurig, gebrochen und<br />
einsam, als ob sie in einigen Stunden Fremde geworden sind.<br />
Medina kennt sie nicht mehr.<br />
Und der Islam?<br />
Für ihn hat <strong>Fatima</strong> seit ihrer Kindheit trotz ihrer schwachen Gesundheit an der<br />
Seite des Vaters gekämpft. Sie hat gemeinsam mit dem ersten Kämpfern die<br />
Härten durchgestanden, die Armut, Belagerung und Verfolgung auf sich<br />
genommen, ihre Kindheit und Jugend zu seiner Verbreitung geopfert, an der<br />
Spitze der ersten Kämpfer und der wahren Auswanderer den Weg geebnet, mit<br />
ihrer ganzen Überzeugungskraft versucht, die Botschaft des Vaters in dieser<br />
Gemeinschaft durchzusetzen, für Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit, Freiheit,<br />
Frömmigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit eine bleibende Grundlage zu<br />
schaffen und diese junge und schwache Gemeinschaft, die den Keim des<br />
Untergangs in sich trug, durch Wissenschaft, Aufklärung, Gerechtigkeit und<br />
Stilligkeit auf den Weg zu leiten, den der Prophet des Volkes empfohlen hat.<br />
Nun <strong>ist</strong> alles zusammengebrochen, wofür sie ein Leben lang gekämpft hatte.
Über das Schicksal des Islam wird in Saghifa in Abwesenheits Alis, Salmans<br />
(52), Abu Zars, Ammars, Meghdads und einiger anderer mehr entschieden. Jetzt<br />
sind sie alle bei <strong>Fatima</strong> versammelt, traurig und zornig.<br />
Warum sind gerade diese Menschen Ali treu geblieben?<br />
Weil sie weder der Ar<strong>ist</strong>okratie der Stämme Qus und Khazradj, die in Medina<br />
ansässig sind, noch den ersten Familien des Stammes der Qureisch, die aufgrund<br />
ihrer adeligen Abstammung und ihres Standesbewusstseins Anspruch auf die<br />
Nachfolge des Propheten erhoben hatten und die vom Glanz der Notabeln<br />
verblendete Masse auf sich einigten, angehörten. Stammeszugehörigkeit,<br />
Standesdünkel, Blutsverwandtschaft und Interessengemeinschaft waren keine<br />
Maßstäbe, die sie an politirische und soziale Gruppierungen hätten binden<br />
können.<br />
Sie sind entweder Fremde wie Salman, der aus Iran gekommen <strong>ist</strong>, Abu Zar, der<br />
aus der Wüste stammt, und Ammar, dessen Mutter eine afrikanische Sklavin<br />
und dessen Vater ein jemenitischer Beduine war, oder Menschen einfacher<br />
Abstammung ohne Macht und Vermögen wie der Dattelverkäufer Meisam.<br />
Dem Propheten waren sie lieb und teuer. Nun <strong>ist</strong> er von ihnen gegangen und sie<br />
wurden in ihr Elend zurückgestoßen. <strong>Die</strong> Werte wurden umgekehrt.<br />
Nur bei Ali können sie Zuflucht suchen. Ihm selbst geht es in Medina, wo die<br />
alten Werte wieder neu belebt werden, auch nicht anders.<br />
Im Vergleich zu den älteren Honoratioren <strong>ist</strong> er ein junger Mann, arm, ohne<br />
jegliche Verbindung zu politischen und familiären Gruppierungen.<br />
<strong>Die</strong> Werte , die er gelten lässt, sind Frömmigkeit, Wissen, Mut, Standhaftigkeit<br />
bei der Durchsetzung einer großen Idee, Selbstbewusstsein und Macht des<br />
Wortes und des Schwertes. Ihm sind nur die Erinnerungen an die Zeit geblieben,<br />
als er in treuer Gefolgschaft des Propheten keine Gefahr scheute und für die<br />
Unterwerfung der damaligen Feinde des Islam- der heutigen besiegten Freunde-<br />
kämpfte.<br />
Seine Tugenden haben – bewusst oder unbewusst- den Neid der Freunde erregt.<br />
Seine Opferschaft und sein Mut haben seine Feinde unversöhnlich gemacht und<br />
sie darin geeinigt, Ali zu verurteilen, zu verleumden, zu erniedrigen,<br />
auszuschließen und ihn allein zu lassen.<br />
Wenn die Gedanken eines Menschen seiner Zeit voraus sind und von seinen<br />
Zeitgenossen nicht erfasst werden können, vereinsamt er. Sein erfülltes,<br />
wertvolles und ansehnliches Dasein wertet zwangsläufig das Hässliche und<br />
Wertlose ab, so bescheiden er auch sein mag. Freund und Feind finden sich- mit
oder ohne Absicht- in seiner Ablehnung, bei der Verunglimpfung seiner<br />
Persönlichkeit und der Verweigerung seines Rechtes zu einer<br />
Interessengemeinschaft zusammen.<br />
Dann versucht der Freud und Gesinnungsgenosse, dessen Ge<strong>ist</strong>esarmut und<br />
Banalität im Vergleich zu dessen Größe zutage getreten sind, ihn durch<br />
Leugnung seiner Tugenden und Erniedrigung seiner Persönlichkeit zu sich<br />
herabzuziehen, um den Unterschied auf diese Weise zu beheben. Wenn er ihn<br />
schon nicht erreichen kann, so kann er ihn wenigstens so weit zurückdrängen,<br />
das kein Abstand mehr vorhanden <strong>ist</strong>. Bei diesem Bemühen wird er zum<br />
Weggefährten des Feindes, weil er den Feind braucht, um ihn auszuschalten;<br />
und so wird er zum Spielzeug des Feindes und der billigen Handlanger und<br />
freiwilligen <strong>Die</strong>ner der Unterdrückung.<br />
Daher musste Ali erniedrigt werden.<br />
Und aus diesem Grunde propagierten auch die Umayyaden, die jedem der<br />
Gefährten des Propheten, ob er nun Ali oder Omar hieß, gleichermaßen<br />
feindlich gesinnt waren, das Ali Abu Taleb sei, nicht beten würde, das der<br />
Bewahrer des Koran der Vetter und Verwandte des Propheten, Bani Umayya,<br />
sei. <strong>Die</strong> Mutter der Gläubigen sei die Tochter des Abu Sufian, das Haus Sufians<br />
sei aus der Sicht des Propheten wie das Haus Gottes in Mekka unantastbar und<br />
ei Zufluchtsort für die Verfolgten...<br />
Ali soll in der Gebetsnische der Moschee getötet worden sein.<br />
Was soll das bedeuten?<br />
Was hat Ali in der Moschee zu suchen?<br />
Was macht er in der Gebetsnische?<br />
Wollte er etwa beten?<br />
Jeder weiß, das dieser ungewöhnliche Hass, der ihm entgegenschlug, aufgrund<br />
seiner Heldentaten in denn Schlachten von Badr und Khandagh entstanden und<br />
im Herzen genährt worden <strong>ist</strong>.<br />
Warum spricht auch der Freund, der in Badr und Khandagh gemeinsam gegen<br />
die Bani Umayya in den Krieg gezogen war, deren Sprache?<br />
<strong>Die</strong> Antwort dürfte klar sein.
Als im Krieg von Khandagh die großen Gefährten längst resigniert hatten, führte<br />
der 27 jährige Ali den Gegenanschlag gegen die Feinde und versetzte sie<br />
dermaßen in Panik, das die Moslems ihm von ganzem Herzen:<br />
„Allah-u Akbar“<br />
zuriefen. Der Prophet lobte ihn mit den Worten:<br />
„ Alis Schlag in Khandagh <strong>ist</strong> höher zu bewerten als jedes Gebet.“<br />
<strong>Die</strong>jenigen aber, die von ganzen Herzen „Allah-u Akbar“ gerufen hatten, und<br />
die anderen, die damals von seinen Taten bege<strong>ist</strong>ert waren, fühlten sich von<br />
diesen Worten gedemütigt und waren in ihrem Unterbewusstsein von einem<br />
Neid erfüllt, der an ihrer Seele nagte und später ungewollt zutage trat.<br />
In Badr und Uhud unternimmt Ali jede Anstrengung und bildet in dem Chaos<br />
der drohenden Niederlage eine neue Front, während die großen Gefährten, die<br />
aufgrund ihres Alters und sozialen Ansehens für sich einen höheren Rang<br />
beansprucht haben, entweder geflüchtet sind oder hoffnungslos und verängstigt<br />
zusammensitzen.<br />
In Fath <strong>ist</strong> er Fahnenträger. Während in Hunain die großen und einflussreichen<br />
Männer über den Pass fliehen und Abu Sufian ihnen mit spöttischem Gelächter<br />
nachruft:<br />
„So schnell wie sie fliehen, werden sie das Rote Meer erreichen.“<br />
Steht Ali felsenfest am Eingang des Passes und verteidigt ihn. Sein Schwert<br />
erfüllt den Feind mit Hass und den Mitkämpfer mit Neid und<br />
Minderwertigkeitskomplexen.<br />
Daher stehen jetzt Freund und Feind Seite an Seite, wenn es um die<br />
Persönlichkeit und die Tugenden Alis geht; daher braucht der Freund den Feind.<br />
<strong>Die</strong> großen Taten Alis sollen durch seine Erniedrigung zunichte gemacht<br />
werden, seine Tugenden sollen erwähnt bleiben oder gar als Schwächen<br />
dargestellt werden- man will die Gemeinheit auf die Spitze treiben.<br />
Demgegenüber gab es auch Menschen, die zwar Alis Rechte anerkannten,<br />
jedoch glaubten, ihm diese Rechte aus Gründen der Staatsraison vorenthalten zu<br />
müssen:<br />
„Ali? Ja, aber er <strong>ist</strong> noch zu jung, er braucht noch einige Jahre“.
„Ali, ja, er <strong>ist</strong> ein Mann des Schwertes und des Wissens; er <strong>ist</strong> gottesfürchtig,<br />
aber von der Politik versteht er nichts. Er <strong>ist</strong> zwar mutig, aber von der<br />
Kriegsführung versteht er nichts.“<br />
„Ali? Ach was, er macht Spaß!“<br />
„Ali? Ja, aber augenblicklich liegt das nicht im Interesse des Islam. Er hat viele<br />
Feinde. Zur Zeit des Propheten hat er viele Männer aus großen und<br />
einflussreichen Familien im Krieg getötet, die Erinnerung daran <strong>ist</strong> noch zu<br />
frisch!“<br />
„Ali? Er lobt sich selbst zu sehr.“ (Minderwertigkeitskomplexe treten hier<br />
deutlich zutage!“<br />
„Ali? Ja, er wird die Zügel fest in der Hand halten, wenn er Kalif geworden <strong>ist</strong>,<br />
aber...er hat ein zu starkes Verlangen danach.“<br />
Das alles weiß <strong>Fatima</strong> nur zu genau; sie sitzt nicht ahnungslos zu Hause.<br />
Schon als Kind hat sie ihre ersten Schritte im Kampf geübt und ihre ersten<br />
Worte galten der Verbreitung des Islam. Sie hat ihre Kindheit in der stürmischen<br />
Zeit einer gewaltigen Bewegung verbracht und in ihrer Jugend Erfahrungen mit<br />
der Politik ihrer Zeit gesammelt. Sie war ein wahrer Moslem: Ihre moralische<br />
Sittsamkeit entbindet sie nicht von ihrer sozialen Verantwortung.<br />
Seit der Beerdigung des Propheten sind einige Stunden vergangen, und Ali und<br />
einige ihm treue Gefährten des Propheten sind in ihrem Haus versammelt. Sie<br />
lehnen die Entscheidung von Saghifa ab und möchten den Treueid verweigern.<br />
Der Kalif hat mit einer Predigt in der Moschee die Nachfolge angetreten und die<br />
Huldigung der Bevölkerung entgegengenommen. Omar hat die Angelegenheit in<br />
die Hand genommen und bemüht sich intensiv, die Hindernisse aus dem Weg zu<br />
räumen.<br />
<strong>Die</strong> Lage der Stämme <strong>ist</strong> noch unklar. Obwohl noch die Möglichkeit besteht, das<br />
sie das Kalifat von Abu Bakr nicht anerkennen, droht die eigentliche Gefahr<br />
vom Hause <strong>Fatima</strong>s .<br />
Ja, <strong>Fatima</strong>s Haus wird seitdem zu einer ständigen Gefahr für die Regierenden.<br />
Omar <strong>ist</strong> über dieses einzige Widerstandsnest sehr aufgebracht. Er hat Abu Bakr<br />
zur Macht verholfen und alle Hindernisse beseitigt. Er kann es nicht dulden, das<br />
sich eine Gruppe in diesem Haus trifft, um den Gehorsam zu verweigern und ein<br />
Zentrum des Widerstandes zu bilden, ausgerechnet in einem Gebäude der<br />
Moschee, die gleichzeitig Parlament und Regierungssitz <strong>ist</strong>, im Hause der<br />
Prophetentochter, durch Leute, die bis gestern als beliebteste und aufrichtigste<br />
Anhänger des Propheten galten.
<strong>Fatima</strong>, die von zwei Schicksalsschlägen, dem Tode des Propheten und der<br />
Niederlage Alis, hart getroffen wurde, sitzt da wie ein verwundeter Vogel und<br />
denkt an die Vergangenheit und die Sorgen des Vaters um die Zukunft der<br />
Religion, der Gerechtigkeit und der Führung. Liebe und bittere Erinnerungen,<br />
die tief in die Vergangenheit zurückreichen, werden wieder wach.<br />
Sie vergisst einige Augenblicke lang ihr Unglück. Plötzlich wird es laut in der<br />
Moschee. Im Stimmengewirr hört sie deutlich die Wutausbrüche Omars.<br />
Sie sind näher gekommen. Ihre Haustür geht zur Moschee auf. Es wird heftig an<br />
der Tür gerüttelt und lautes Rufen wird vernehmbar:<br />
„Ali, komm heraus!“<br />
Plötzlich <strong>ist</strong> die klagende Stimme <strong>Fatima</strong>s hinter der Tür zu hören:<br />
„Oh, mein Vater, Gesandter Gottes, welches Leid muss ich erdulden, nachdem<br />
Du von uns gegangen b<strong>ist</strong>!“<br />
Omars Begleiter treten einige Schritte zurück. Sie hören die geliebte Tochter des<br />
Propheten zornig weinen.<br />
Einige können die Tränen nicht zurückhalten, andere stehen regungslos und<br />
verwirrt an der Tür; dann ziehen sie sich beschämt zurück.<br />
Bald bleibt Omar allein an der Tür zurück; er bleibt eine Zeitlang<br />
unentschlossen stehen, dann geht er zu Abu Bakr. Alle haben sich um Abu Bakr<br />
versammelt; man hat ihm das Ereignis schon berichtet. Einige sprechen von<br />
einem Unglück.<br />
Omar kehrt ein zweites Mal in Begleitung von Abu Bakr zu <strong>Fatima</strong>s Haus<br />
zurück. <strong>Die</strong>ses Mal gehen sie behutsam vor; Abu Bakr hat die Initiative<br />
ergriffen.<br />
<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> in ihrem Leben Kummer gewohnt. Sie <strong>ist</strong> kampferfahren und will<br />
sich, trotz ihrer schwachen Gesundheit, der Gewalt nicht beugen. Sie steht allein<br />
an der Tür, als ob sie das Haus und Ali, der alleine zurückgeblieben war,<br />
verteidigen will.<br />
Sie bitten um Erlaubnis, eintreten zu dürfen, <strong>Fatima</strong> gestattet es ihnen nicht. Mit<br />
unbeschreiblicher Geduld kommt Ali heraus und bittet <strong>Fatima</strong>, ihnen Einlass zu<br />
gewähren. Vor ihm le<strong>ist</strong>et sie keinen Widerstand. Sie schweigt zornig. Ali bittet
sie herein, sie treten ein und grüßen <strong>Fatima</strong>, die sich zornig abwendet und<br />
zurückzieht. Abu Bakr spürt, wie heftig ihr Zorn und ihr Hass sind.<br />
Er weiß nicht wie er anfangen soll. Sie schweigen beide, die Würdenträger des<br />
Islam. Es fällt ihnen schwer, in diesem Augenblick vor Ali und <strong>Fatima</strong> zu<br />
erscheinen. Ali sitzt schweigsam neben ihnen, als ob er nur ein Gastgeber sei.<br />
<strong>Fatima</strong> hat sich vor ihnen hinter einer Wand versteckt, um sie nicht zu sehen.<br />
Abu Bakr versucht, Ruhe zu bewahren und in dieser gespannten Atmosphäre<br />
reden zu können. Einige Augenblicke vergehen in Schweigen, dann beginnt Abu<br />
Bakr mit trauriger, beherrschter und freundlicher Stimme zu reden:<br />
„Geliebte Tochter des Propheten, ich schwöre bei Gott, das mir die Verwandten<br />
des Propheten lieb und teuer sind, mehr als meine eigenen Verwandten. Du b<strong>ist</strong><br />
mir lieber als meine eigene Tochter Aishe. Als Dein Vater starb, wünschte ich,<br />
ich wäre auch tot. Du siehst, ich kenne Dich und erkenne Deine Tugenden an.<br />
Wenn ich Dich um Dein Erbe gebracht haben sollte, geschah es deshalb weil ich<br />
ihn habe sagen hören: ´Wir Propheten vererben nichts; was wir hinterlassen,<br />
gehört den Armen.´“<br />
Dann schweigt Abu Bakr. Omar hat noch kein Wort gesagt. Er wartete die<br />
Reaktion <strong>Fatima</strong>s auf die anerkennenden und beschwichtigen Worte Abu Bakrs<br />
ab. <strong>Die</strong> Antwort <strong>Fatima</strong>s lässt nicht lange auf sich warten. Sie hat ihre Ruhe<br />
wiedergewonnen und sagt argumentierend:<br />
„Werdet Ihr die Worte des Propheten anerkennen und danach handeln, wenn ich<br />
sie hier zitiere?“<br />
Beide antworteten übereinstimmend mit „Ja“.<br />
Dann sagte sie:<br />
„Schwöret beim erhabenen Gott, das Ihr den Gesandten Gottes habt sagen<br />
hören: `<strong>Fatima</strong>s Zufriedenheit <strong>ist</strong> meine Zufriedenheit, ihr Zorn <strong>ist</strong> mein Zorn;<br />
wer <strong>Fatima</strong> liebt, liebt mich, wer ihr Freude macht, macht mir Freude, wer sie<br />
verärgert, verärgert mich.“<br />
Sie antworteten :<br />
„Ja, diese Worte haben wir von ihm gehört.“<br />
Abu Bakr beginn zu weinen; ihm fehlt die Kraft zu reden, <strong>Fatima</strong> kann das alles<br />
nicht mehr hören. Er eilt, gefolgt von Omar, zur Moschee. Verwirrt und weinend<br />
schreit er die Leute zornig an, das er...
Aber die wohlgesonnenen <strong>Die</strong>ner des Machtapparates überzeugen ihn, das es<br />
nicht im Interesse der islamischen Gemeinschaft sei, zurückzutreten.<br />
Wiederwillig und schweren Herzens akzeptiert er ihre wohlgemeinten<br />
Ratschläge und geht daran, wie er glaubt, den Sieg des Islam und die Tradition<br />
des Propheten abzusichern.<br />
Seine erste Entscheidung <strong>ist</strong> dann die Enteignung von Fadak. Auf dieser Weise<br />
wird Ali die Ex<strong>ist</strong>enzgrundlage entzogen, um ihn von seinem Gehalt aus der<br />
Staatskasse abhängig zu machen.<br />
Ali wurde sich selbst überlassen, arm und einsam. <strong>Die</strong> Leute, die um ihn<br />
versammelt waren, zerstreuten sich entweder freiwillig oder<br />
gezwungenermaßen. Alis Weigerung, den Treueid zu le<strong>ist</strong>en, bedeutete keine<br />
Gefahr und keine Meuterei mehr, zumal sie wussten, das von ihm keine<br />
Huldigung zu erwarten war, solange <strong>Fatima</strong> lebte.<br />
Ali konnte den Eid nicht le<strong>ist</strong>en, weil <strong>Fatima</strong> auf keinen Fall bereit war, sich<br />
einer Macht, die sie nicht als rechtens anerkannte, zu beugen. Sie gab diese<br />
entschiedene und ablehnende Haltung niemals auf, solange sie lebte.<br />
Der Prophet starb, Ali wurde zum Nichtstun verurteilt, <strong>Fatima</strong>s Erbschaft- das<br />
Ackerland Fadak-, die die einzige Einkommensquelle der Familie war, wurde<br />
ihr aberkannt, Abu Bakr und Omar ergriffen die Macht, das Schicksal des Islam<br />
und der Moslems wurde der Politik überlassen. Ali blieb zu Hause und<br />
sammelte aus Sorge um die Zukunft die Korantexte. Bilal verließ Medina, ließ<br />
sich in Damaskus nieder und schwieg für immer. Den erfolgreichen<br />
Rückkehrern aus Saghifa sagte Salman in einer zweideutigen Anspielung auf<br />
Persisch:<br />
„Ihr habt alles und doch nichts getan.“<br />
Dann ging er nach Iran und lebte zurückgezogen in Ktesiphon.<br />
Abu Zar, der Vertraute des Propheten, und Ammar, der Liebling des Propheten ,<br />
wurden ausgeschaltet.<br />
<strong>Fatima</strong> aber gab nicht auf. Trotz der tiefen Trauer, die auf ihrer Seele lastete,<br />
setzte sie den Kampf gegen das, wie sie meinte, unrechtmäßige Kalifat und den<br />
Kalifen, den sie für unfähig hielt, fort.<br />
Sie hörte nicht auf, Fadak zurückzufordern. Sie griff mit kritischen Worten an<br />
und versuchte zu beweisen, das diese Maßnahme des Kalifen ein politischer<br />
Racheakt war, um Ali finanziell zu ruinieren. Fadak war nur ein kleines<br />
Ackerland, und normalerweise hätte <strong>Fatima</strong> auch dann nicht darum gestritten,
wenn es ein größeres gewesen wäre. <strong>Die</strong>se Handlungsweise war aber für sie ein<br />
Zeichen der Willkür- und Gewaltherrschaft. Sie warf die Frage der Enteignung<br />
auf, um die Regierung zu verurteilen und zu beweisen, das die Regierenden die<br />
Wahrheit verschleierten, wenn es um ihre eigenen Interessen ging. Fadak wurde<br />
zum Politikum und Symbol des Kampfes, und zwar nicht aufgrund seines<br />
wirtschaftlichen Wertes, wie einige schlaue Feinde und dumme Freunde <strong>Fatima</strong>s<br />
zu wissen glaubten.<br />
Obwohl die großen Gefährten des Propheten (sowohl die Mekkaanischen<br />
Auswanderer als auch die medinensischen Helfer) abgesehen von einigen<br />
wenigen den neuen Kalifen anerkannt und den Wahlstreich von Saghifa<br />
akzeptiert hatten, gibt <strong>Fatima</strong> trotz großer Schwierigkeiten auch nach dem Tode<br />
des Propheten den Kampf nicht auf.<br />
Sie hat zwar keine Hoffnung, einen Machtwechsel herbeiführen zu können, weiß<br />
aber, das Ali seine Rechte nicht mehr geltend machen kann. <strong>Die</strong> mächtigen<br />
Wahlhelfer, die den Plan von langer Hand vorbereitet hatten, sind Her der Lage.<br />
<strong>Die</strong> Etablierung der Macht und das Schweigen der Bevölkerung können sie<br />
nicht von ihrer Verpflichtung, gegen das Unrecht zu kämpfen, abhalten.<br />
Sie muss trotz schwindender Hoffnung auf einen Sieg die herrschende Ordnung<br />
bekämpfen. Wenn sie auch nicht siegen kann, so kann sie es doch enthüllen.<br />
Wenn sie dem Recht keine Geltung verschaffen kann, so kann sie zumindest das<br />
Rechtsempfinden schärfen. <strong>Die</strong> Leute sollen wissen, das die Herrschenden zu<br />
Unrecht regieren und das die Verbannten für Recht, Gerechtigkeit und Freiheit<br />
gerade stehen.<br />
Zu dieser Zeit spielt sich in Medina eine erstaunliche Szene ab.<br />
An der Moschee des Propheten setzt ein Mann seine Frau mitten in der Nacht<br />
aufs Pferd und führt sie durch die leeren Straßen der Stadt. Der Fußgänger <strong>ist</strong><br />
Ali und die Reiterin die Tochter des Propheten, <strong>Fatima</strong>. Jede Nacht verlassen sie<br />
auf diese Weise ihr Haus und besuchen die Ansar (die medinensischen Helfer<br />
des Propheten). Das sind aufrichtige und unparteiische Leute. <strong>Die</strong><br />
Mekkanischen Einwanderer sind vom Stamme der Qureisch und halten<br />
zusammen. Eine alte politische Ordnung verbindet sie miteinander.<br />
Der Kalif stammt aus ihrer Mitte, und sie werden an der Regierung beteiligt.<br />
Dagegen sind die medinensischen Helfer von einer Regierungsbeteiligung<br />
ausgeschlossen; ihr Kandidat Sa´ad Ibn Obada hatte Medina verlassen und<br />
wurde auf dem Wege nach Damaskus Opfer eines Anschlages. Sie folgten den<br />
Argumenten Abu Bakrs, der ihnen erklärte, das der Prophet gesagt habe, sein<br />
Nachfolger müsse aus dem Stamme der Qureisch hervorgegangen und sein<br />
Verwandter sein. Sie respektierten den Wunsch des Propheten, verzichteten auf
das Kalifat und überlassen Abu Bakr die Regierung, weil er aus demselben<br />
Stamm wie der Prophet kam und sein Schwiegervater war. Sie übten<br />
aufrichtigen Gehorsam. Sie alle sind Medinenser, bilden also die Mehrheit der<br />
Bevölkerung.<br />
Nun sucht <strong>Fatima</strong> sie persönlich auf. Jede Nacht geht sie in Begleitung Alis zu<br />
ihren Versammlungen und spricht mit ihnen. Sie zählt die Tugenden Alis auf,<br />
erinnert sie an die Empfehlungen des Propheten und we<strong>ist</strong> aufgrund ihrer<br />
genauen Kenntnisse der islamischen Lehre und ihre Zielvorstellungen sowie<br />
ihres logischen Denkvermögens Ali Ansprüche und die Ungültigkeit der<br />
durchgesetzten Wahlen nach. Sie führt ihnen vor Augen, wie sie betrogen<br />
wurden und welche Folgen ihre unüberlegte Handlungsweise haben wird. Sie<br />
warnt sie vor einer unsicheren Zukunft, die auf die islamische Gemeinschaft<br />
zukommen wird.<br />
Keiner der Geschichtsschreiber, die über diese Ereignisse berichten, erwähnt je<br />
einen Fall von Widerstand gegen <strong>Fatima</strong>s Auffassung.<br />
Alle geben ihr Recht.<br />
Sie geben ihren Fehler zu und erkennen Alis Fähigkeit an. <strong>Fatima</strong> fordert sie<br />
nachdrücklich auf, Ali dabei zu helfen, seine Rechte geltend zu machen.<br />
Sie entschuldigen sich mit den Worten:<br />
„Wir haben Abu Bakr Treue geschworen, diese Angelegenheit <strong>ist</strong> schon erledigt.<br />
Wenn Dein Mann Ali eher gekommen wäre und sich geäußert hätte, hätten wir<br />
ihm niemanden vorgezogen..“<br />
Ali antwortet erstaunt und protestierend:<br />
„Hätte ich den Gesandten Gottes alleine zu Hause lassen, ihn nicht beerdigen<br />
und mich um die Regierung streiten sollen?“<br />
<strong>Fatima</strong> sieht, das Ali auch dieses Mal Opfer seiner Treue zum Propheten<br />
geworden <strong>ist</strong> und entgegnet:<br />
„Ali hat das getan, was getan werden musste, und Ihr habt etwas getan, wofür<br />
Ihr euch vor Gott zur Rechenschaft gezogen werdet.“<br />
Nun <strong>ist</strong> doch alles zu Ende. <strong>Fatima</strong> macht sich mit dem Gedanken an den Tod<br />
vertraut. Sie fühlt sich unbeschreiblich einsam. <strong>Die</strong> vertrauten Gesichter um<br />
ihren Vater sind ihr fremd geworden, seine Gefährten gehen jetzt andere Wege.<br />
Medina <strong>ist</strong> nicht mehr die Stadt des Propheten. Politik und Herrschaft sind in die
Stadt des Glaubens eingezogen. <strong>Die</strong> große und überagende zwischen<br />
Persönlichkeit, die bei den arabischen Beduinen den Sinn der Opferbereitschaft,<br />
Gerechtigkeit, Wahrheitsliebe, Anerkennung der menschlichen Tugenden und<br />
Kampf für die Mitmenschen und die Überzeugung erweckt, alte Ideen über<br />
Blutsverwandtschaft, Stammeszusammengehörigkeit, Standesdünkel, Gruppenbildung<br />
und Interessengemeinschaft verworfen und die Verantwortung des<br />
einzelnen und der Gesellschaft zur Förderung der ge<strong>ist</strong>igen Entfaltung des<br />
Menschen hervorgehoben hatte, liegt inzwischen unter der Erde. Seine treuen<br />
Gefährten, die keiner privilegierten Familie oder Klasse angehören und ihr<br />
großes Ansehen beim Propheten ihrer Überzeugungskraft, Aufrichtigkeit, ihrem<br />
Selbstbewusstsein und ihrem Kampfge<strong>ist</strong> verdankten, genießen kein Ansehen<br />
bei den neuen Machthabern.<br />
<strong>Die</strong> Ohren sind derart vom Lärm der Macht und Herrschaft betäubt, das sie die<br />
schwachen Stimmen der Freundschaft und der Aufrichtigkeit nicht wahrnehmen<br />
können.<br />
<strong>Die</strong> Persönlichkeit des Abu Bakr, die Unbeugsamkeit des Omar, das Schwert<br />
des Khalid und das Genie des Amr As bilden eine undurchdringliche Mauer um<br />
die Masse, die entweder verängstigt oder von ihnen hingerissen <strong>ist</strong>. Auch die<br />
Gefährten des Propheten befinden sich – gewollt oder ungewollt- darunter.<br />
<strong>Fatima</strong> bleibt außerhalb der Mauer, ihre Stimme konnte sie nicht durchdringen.<br />
<strong>Die</strong> hiesigen Feinde sind stärker als die Mekkanischen. Der Vater kämpfte allein<br />
in Mekka. Er hatte keinen Begleiter und keinen Beschützer außer seiner Tochter,<br />
In Masdjid al-Haram,. Dem Machtzentrum des Feindes, das gegenüber von Dar-<br />
al Nodva, dem Senat der Qureisch, lag, bezeichnetet er die 33 Götzen der<br />
Qureisch und aller Araber als stumme Steine, die er mit Hilfe Gottes<br />
zerschmettern werde. Er bezichtigte seine Ahnen der Dummheit und nannte ihre<br />
Überzeugung Aberglauben.<br />
Ein Mann, der sich durch Machtbewusstsein und Bestimmtheit auszeichnete und<br />
sagte:<br />
„Wehe dem Volk, das wir angreifen!“ (überfall auf das Khaibar -Tal)<br />
war auf dem Gipfel seiner Macht, seiner Popularität und seines Einflusses nicht<br />
imstande, die Armee von Usama trotz wiederholter Anweisungen von seinem<br />
Sterbebett aus dazu zu bewegen, die Stadt zu verlassen; sie blieb im Stützpunkt<br />
Djazaf in der Gegend von Medina und setzte sich nicht in Bewegung.<br />
Es war nicht einmal imstande, im eigenen Haus unter seine Gefährten einen<br />
Brief zu schreiben, um seinen letzten Willen kundzutun. Was er sagte, blieb<br />
nicht unverfälscht.
Und ihr Ehemann Ali war der Held seiner Zeit. Im Khandagh-Krieg, als die<br />
feindlichen Stämme gemeinsam Medina überfielen und die Parteigänger der<br />
Gottlosigkeit und die der Religion, d.h. Araber und Juden, eine gemeinsame<br />
Front bildeten, um die neue islamische Bewegung zu vernichten und den<br />
Stützpunkt der Revolution Mohammads zu zerstören, konnte er als 25 jähriger<br />
mit einem einzigen Angriff die sichere Niederlage abwenden.<br />
Im Uhud. Krieg, als die Qureischiten das Tal beherrschten, die Moslems vor den<br />
anrückenden Feinden flüchteten, die großen Gefährten sich versteckt hielten und<br />
den verwundeten Propheten allein und schutzlos zurückgelassen hatten.<br />
Übernahm er gleichzeitig den Schutz des Propheten, während er hin und wieder<br />
den Feind angriff und daran hinderte, den Standort des Propheten zu erreichen;<br />
nach jedem erfolgreichen Gegenangriff suchte er Mohammad auf, um danach<br />
wieder in eine andere Richtung den flüchtenden feindlichen Soldaten den Weg<br />
zu versperren. Er sammelte die eigenen flüchtenden Soldaten um sich und zog<br />
eine neue Verteidigungslinie. <strong>Die</strong> Qureischiten, die von der Falschmeldung über<br />
den Tod des Propheten und den Anblick der zahlreichen gefalleneren Moslems<br />
berauscht waren, zwang er schließlich, den Angriff aufzugeben.<br />
Er machte die schmähliche Niederlage von Uhud wieder gut. Der Sieg von<br />
Khaibar war ihm zu verdanken.<br />
Ein Mann, dessen Schwert das Kriegsgeschehen bestimmt hatte, sitzt nun still<br />
und traurig in einer Ecke des Hauses und wird von beängstigten Vorahnungen<br />
geplagt. Seine Gedanken schweifen zu unheilvollen Horizonten ab.<br />
Was <strong>ist</strong> mit ihrem Mann geschehen, was <strong>ist</strong> aus seinem berühmten Schwert, das<br />
er ihr nach jedem Kampf stolz zu waschen gab, geworden?<br />
Ist er nach 10 Jahren ins Bett gekrochen?<br />
Sein Haus wird angegriffen, und er kommt nicht einmal aus seiner Ecke heraus.<br />
Wie kann <strong>Fatima</strong> einen Kampf bestehen, dem der Prophet nicht gewachsen war<br />
und den sein siegreicher Fahnenträger, der Held und die Seele aller<br />
Glaubenskriege, verloren hatte?<br />
Es war schon immer schwerer, den Kampf gegen die inneren Feinde zu<br />
gewinnen.<br />
<strong>Die</strong> Schlacht, die jetzt begonnen hat, <strong>ist</strong> mit den Kämpfen von damals nicht zu<br />
vergleichen, als die Feinde Abu Lahab, Abu Djahl, Abu Sufian und seine Frau<br />
Hind, Hutaibar, Umayya Ibn Khalaf und Akraba hießen.
<strong>Die</strong>se Menschen waren als niederträchtig und ungläubig bekannt, sie hatten<br />
keine ehrenhaften und menschlichen Zielvorstellungen und kämpften<br />
ausschließlich zur Erhaltung ihrer Macht und ihrer materiellen Interessen sowie<br />
zur Sicherung der Handelswege und des Sklavenhandels.<br />
Es war ein Kampf der Reaktion gegen die Revolution, der Sklaverei gegen die<br />
Freiheit, der Gefangenschaft gegen die Befreiung und der Gemeinheit gegen die<br />
Menschlichkeit.<br />
Wie sieht es jetzt aus?<br />
Auf der einen Seite Ali und <strong>Fatima</strong>, wie es in Mekka, Badr, Uhud, Khaibar, Fath<br />
und Hunain der Fall war, auf der anderen Seite Abu Bakr, der als erster<br />
außerhalb der Familie dem Propheten folgte, sein Weggefährte in Mekka und<br />
während der Auswanderung war und sein Schwiegervater wurde.<br />
Ein Mensch, der den Propheten in seiner Einsamkeit und in der<br />
Fremdeunterstützte, sein ganzes Vermögen für seinen Glauben opferte und in<br />
Medina derart in Armut geriet, das er bei den Juden und anderen fremden<br />
Menschen für seinen Lebensunterhalt arbeiten musste; ein Mann, den die<br />
Menschen 23 Jahre lang vom ersten Jahr der Berufung des Propheten bis zu<br />
seinem Tode an seiner Seite gesehen hatten.<br />
Omar, war der 40., der im Versteck des Propheten zum Islam übertrat. Er und<br />
Hamza, der Onkel des Propheten, verstärkten durch ihren Übertritt die<br />
islamische Gruppe derart, das sie ihr Versteck verlassen konnte. Er tat alles in<br />
seiner Macht stehende, um der islamischen Bewegung zum Erfolg zu verhelfen.<br />
Er gehörte zum engsten Kreis der Prophetengefährten und zu den bedeutenden<br />
Gestalten der Auswanderungsgruppe um den Propheten. Er war als einer der<br />
großen Führer der islamischen Gemeinschaft anerkannt.<br />
An ihrer Seite stehen der große Pionier der islamischen Bewegung, Abu Ubaida,<br />
und Osman, der zweimal wegen seines Glaubens auswandern musste und<br />
zweimaliger Schwiegersohn des Propheten war und denn beiden renommierten<br />
Familien des Stammes der Qureisch angehörte und dank seines großen<br />
Vermögens den armen Anhängern des Propheten wohltätig zur Seite Stand und<br />
unter der Bevölkerung als einer der ältesten Gefährten des Propheten und seiner<br />
engsten Verwandten betrachtet wurde.<br />
Auf ihrer Seite stand ebenfalls Khalid Ibn Walid, der im Kampf gegen die<br />
Feinde des Islam große Heldentaten vollbracht hatte.
In der Schlacht von Muta zerbrach er neun Schwerter im Kampf gegen die<br />
Römer und bekam den Beinamen Saifallah (das Schwert Gottes), als er noch ein<br />
einfacher Soldat war.<br />
Da gab es noch Amr As, der zu den vier großen arabischen Genies gehörte; er<br />
hatte sich seit Jahren den Moslems angeschlossen und an den nördlichen<br />
Grenzen den Islam gegen das Römische Reich verteidigt.<br />
Der andere war Sa´ad Ibn Abi Waghas. Er war der erste Moslem, der einen Pfeil<br />
gegen die Feinde abschoss und eine Periode ankündigte, in der die Moslems aus<br />
der Defensive in die Offensive übergingen. Als der Prophet in der Schlacht von<br />
Uhud allein geblieben war, verteidigte er ihn mit großer Treffsicherheit. Der<br />
Prophet zeichnete ihn mit anerkennenden Worten aus.<br />
Dazu kam noch die Bestätigung durch Mekkanische Einwanderer,<br />
medinensische Helfer, große islamische Führer und Pioniere sowie Gefährten<br />
des Propheten.<br />
Und ihre Parolen?<br />
Sie plädierten nicht etwa für Götzendienst, Vielgötterei, Erhaltung der<br />
Handelsprivilegien der Qureisch oder Stammesunterschiede, sondern für<br />
Monotheismus, Islam. Koran, Tugendhaftigkeit, Geringschätzung der<br />
materiellen Werte, Hilfsbereitschaft, Erfüllung der göttlichen Gebote und der<br />
religiösen Verpflichtungen, Wiederbelebung der Tradition des Propheten und,<br />
wichtiger noch, Erhaltung der Einheit der Moslems.<br />
Wenn dabei das Recht des einzelnen mit Füßen getreten werde, geschehe dies<br />
einzig und allein im Interesse der islamischen Gemeinschaft, um der Gefahr der<br />
inneren Zerstrittenheit der Moslems und des äußeren Eingreifens der Feinde zu<br />
begegnen.<br />
Ali sei noch zu jung und radikal, es gebe noch viele Menschen, die ihm nicht<br />
wohlgesonnen seien. Er habe einflussreiche Persönlichkeiten vieler<br />
renommierter Familien, die zur Zeit das Sagen hätten, gegen sich aufgebracht.<br />
Ali habe noch Zeit, und es liege zur Zeit nicht im Interesse des Islam.<br />
„Das Interesse!“<br />
Ja, man hat schon immer versucht, mit diesem Begriff die Wahrheit zu<br />
verschleiern. <strong>Die</strong> Wahrheit wurde mit diesem zweischneidigen Messer getreu<br />
dem religiösen Ritus im Namen Gottes geopfert.
In aller Stille, ohne jedes Aufheben, wurde sie zu grabe getragen. Es durfte kein<br />
Aufsehen erregt werden. Keiner durfte die Wahrheit unter dem Schleier<br />
„Interesse des Islam“ erkennen. Keiner sollte versuchen, seine Stimme gegen die<br />
„Interessensabwägung“ und Wahrheitsverschleierung zu erheben; auch dann<br />
nicht, wenn er <strong>Fatima</strong> hieß.<br />
Wenn die Gewalt sich die Maske der Frömmigkeit aufsetzt, entstehen große<br />
Tragödien in der Geschichte.<br />
<strong>Fatima</strong> spürte, das sie das Unheil nicht mehr abwenden konnte. Plötzlich<br />
überfiel sie die Müdigkeit eines lebenslangen Kampfes voller Qualen,<br />
Verfolgungen, Entbehrungen und Bitterkeit. Ihr wurde bewusst, das alles<br />
verloren war. Sie wusste, das auch sie nichts mehr tun konnte, nachdem der<br />
Prophet und Ali gescheitert waren.<br />
Dunkle Wolken zogen am Horizont auf. Es kamen jene „dunklen Nächte“, die<br />
ihr Vater in den letzten Tagen seines Lebens vorahnend verkündet hatte.<br />
Was wird morgen, was wird aus dem Werk ihres Vaters in einer Umgebung, wo<br />
die „Interessen“ großgeschrieben werden?<br />
Wer wird die Zukunft dieser jungen Gemeinschaft und das Schicksal dieser<br />
Volksmasse bestimmen, die schon immer Opfer der diskriminierenden Politik<br />
der Großfamilien und Klassen war?<br />
Standesdünkel und Familienstolz werden wieder gepflegt.<br />
Wie können die Stimmen der Stämme Ous und Kazradj, die für ihren<br />
Stammesführer votierten, und die Stimmen der Qureisch, die ihren Scheich<br />
wählten, das Wort des Propheten ersetzen?<br />
<strong>Die</strong>se Leute hatten doch zuerst in Saghafi Sa´ad gewählt. Ein Satz von Abu Bakr<br />
konnte sie derart umstimmen, das sie sich auf ihn einigten.<br />
Besaßen sie denn so viel politisches Bewusstsein, das der Prophet nicht<br />
einzugreifen brauchte?<br />
Das sind Leute aus der Umgebung des Propheten. Sie haben an seiner Seite<br />
gelebt und gekämpft und wurden von ihm in der islamischen Lehre unterwiesen.<br />
Es sind Männer wie Abu Bakr und Omar.<br />
Was wird erst, wenn Medina nicht mehr der Mittelpunkt des Islam <strong>ist</strong> und diese<br />
Generation nicht mehr lebt?
Welche Rolle wird diese „Huldigung“ bei der zukünftigen Führung des Volkes<br />
spielen?<br />
Wer wird wählen und wer wird gewählt werden?<br />
Wenn die tapferen und opferbereiten Gefährten und Helfer des Propheten schon<br />
in der ersten Generation Ali wegen ihrer eigeneren Interessen Zur Seite<br />
schieben, wie wird erst die Generation von morgen, die nicht von dem Kampf<br />
um den Glauben geprägt <strong>ist</strong>, mit meinen Kindern verfahren?<br />
Sie konnte schon jetzt das Schicksal von Hassan, Hussein und Zeinab mit<br />
Gewissheit Vorrausehen.<br />
Der Ausschluss von Ali war der Anfang einer blutigen Geschichte.<br />
Der Huldigung von Saghifa, die in aller Stille umsichtig durchgeführt wurde,<br />
sollte eine Reihe anderer blutiger Huldigungen folgen.<br />
<strong>Die</strong> Enteignung von Fadak war der Anfang größerer Enteignungen und<br />
Unterdrückungen von morgen. <strong>Die</strong> Ereignisse kündigten eine unheilvolle,<br />
beängstigte und blutige Zukunft an, die von Plünderung, Mord und Verfolgung<br />
geprägt sein wird. <strong>Die</strong> Kalifate von morgen sollten ein großes Unglück für den<br />
Islam und ein folgenschweres Verhängnis für die gesamte Menschheit werden.<br />
Was kann man jetzt dagegen unternehmen?<br />
<strong>Fatima</strong> hatte alles in ihrer Macht stehende getan, um zu verhindern, das diese<br />
Ordnung von Anfang an auf schiefe Fundamente gebaut wurde. <strong>Die</strong> Stadt des<br />
Propheten reagierte weder auf die Klagen <strong>Fatima</strong>s noch auf das Schweigen Alis.<br />
Jeder, der Ali und die Erfordernisse seiner Zeit kannte, hätte sich davon<br />
betroffen fühlen müssen.<br />
Wie hart und erbarmungslos sind doch die Selbstsüchtigen, besonders, wenn sie<br />
ihre Taten mit Allgemeinwohl und Glaubensüberzeugter Gefährten des<br />
Propheten bereit, das Recht mit Füßen zu treten, auch wenn es sich um die<br />
Rechte Alis handelt.<br />
<strong>Fatima</strong> hatte ein Leben lang an der Last mitgetragen, die dem Propheten nach<br />
seiner Berufung aufgebürdet wurde. Sie musste einen Kampf voller Gefahren,<br />
Entbehrungen und Anstrengungen durchstehen – erschöpft von allen<br />
Anstrengungen, in tiefer Trauer um den Tod des Vaters und enttäuscht über das<br />
Schicksal Alis, der ausgerechnet Opfer einer Macht wird, die er nach einem<br />
lebenslangen Kampf durch Überzeugungskraft, Opferbereitschaft, Aufrichtigkeit<br />
und nicht zuletzt durch den Einsatz seines Schwertes erkämpft hatte. Nach ihrer
letzten vergeblichen Anstrengung, Ali zu seinem Recht zu verhelfen, gibt sie<br />
den Kampf verzweifelt auf.<br />
Sie kann nicht mehr aufhalten, was zu stürzen droht. Sie hat nicht mehr die<br />
Kraft, alles durchzustehen.<br />
Was außerhalb des Hauses vor sich geht, <strong>ist</strong> ihr ebenso unerträglich wie das<br />
Bild, das sie zu Hause vor Augen hat: eine schweigende Gestalt.<br />
Das Haus nebenan <strong>ist</strong> ebenfalls in Schweigen gehüllt. Eines der Fenster, die sich<br />
jeden Tag öffneten, bleibt verschlossen: das Fenster, das <strong>Fatima</strong>s bescheidene<br />
Haus mit Liebe und Hoffnung erfüllt. Das Fenster ihrer Hoffnung <strong>ist</strong><br />
verschlossen durch den Tod, die Tür ihres Hauses durch die Politik. Das Haus<br />
wird zu ihrem Gefängnis, ein Haus, in dem Ali kummervoll schweigt, als ob er<br />
das lodernde Feuer eines tätigen Vulkans in seinem Inneren unter Gewalt hielte,<br />
und in dem die Enkelkinder des Propheten auf eine unglückliche und traurige<br />
Zukunft warten.<br />
Jetzt hat sie keine Kraft mehr weiterzuleben.<br />
<strong>Die</strong> Bürde des Lebens <strong>ist</strong> für die erschöpfte und schmächtige <strong>Fatima</strong> zu schwer<br />
geworden; zu schmerzvoll vergehen die Augenblicke dieses Lebens.<br />
Ihr einziger Trost sind nun das Grab des Vaters und seine hoffnungsvollen<br />
Worte:<br />
„Aus meiner Familie wirst Du die erste sein, die mir folgen wird.“<br />
Aber wann?<br />
Wie lange muss sie noch warten?<br />
Der Kummer lastet schwer auf ihre ungeduldige Seele. Sie fühlt sich wie ein<br />
verwunderter Vogel in einem Käfig. Wenn es ihr unerträglich schwer ums Herz<br />
wird, wenn sie spürt, das sie den Trost des Vaters braucht, eilt sie zu seinem<br />
Grab. Sie starrt mit verweinten Augen auf das Grab; plötzlich beginnt sie von<br />
neuem zu weinen und zu klagen, als ob die die Nachricht über den Tod des<br />
Vaters eben erst vernommen hätte.<br />
Mit zittrigen Fingern greift sie in die Erde, nimmt eine Handvoll davon, legt sie<br />
auf ihr Gesicht und riecht liebevoll daran. Sie beruhigt sich, als ob sie den<br />
erwarteten Trost gefunden habe. Sie lässt die geweihte Erde durch ihre<br />
verkrampften Finger rieseln und starrt in schmerzlicher Verwunderung darauf.<br />
Dann versinkt sie in Schweigen, als ob sie, wie die Geschichtsschreiber bildhaft<br />
berichten, „diese Welt verlassen und ihre Ruhe gefunden habe“.
Jeden Tag beweint sie den Tod ihres Vaters genauso wie am ersten Tage nach<br />
seinem Tode. <strong>Die</strong> Frauen von Ansar (der medinensischen Helfer des Propheten)<br />
kommen zu ihr und trauern mit ihr. Sie klagen ihnen ihr Leid und erinnern sie an<br />
das Unrecht, das sie begangen haben.<br />
Zu tief <strong>ist</strong> ihre Trauer, als das sie jemanden trösten könnte.<br />
<strong>Die</strong> Zeit vergeht, die Gefährten des Propheten sind mit der Erweiterung ihrer<br />
Macht, der Verteilung der Beute und weiteren Eroberungen beschäftigt. Ali lebt<br />
zurückgezogen und <strong>Fatima</strong> wartet auf den Tod. Sie wartet ungeduldig auf die<br />
Erlösung, die der Vater ihr verheißen hat. Mit jedem Tag wird sie ungeduldiger.<br />
Der Tod <strong>ist</strong> die einzige Erlösung für sie aus diesem Leben. Sie hofft, mit all<br />
ihren Leiden bei ihrem Vater Zuflucht zu finden und bei ihm ruhen zu dürfen.<br />
Sie braucht in mehr denn je.<br />
<strong>Die</strong> Zeit wird ihr zu lang. 95 Tage sind vergangen, seit der Vater ihren baldigen<br />
Tod angekündigt hatte.<br />
Doch heute <strong>ist</strong> der Tag, Montag, der 3. Djamadi al-Sani. Man zählt das 11. Jahr<br />
der Auswanderung, das Jahr, in dem der Vater starb.<br />
Sie küsste ihre Kindern einzeln, Hassan 7, Hussein 6, Zeinab 5 und Umm-i<br />
Kulthum 3 Jahre alt. Nun <strong>ist</strong> es an der Zeit, schweren Herzens von Ali Abschied<br />
zu nehmen.<br />
Er muss noch weitere 30 Jahre in dieser Welt bleiben. Sie lässt Umm-i Rafi´, die<br />
<strong>Die</strong>nerin des Propheten, kommen und sagt: „Teure <strong>Die</strong>nerin Gottes, schütte<br />
Wasser über mich, damit ich mich waschen kann.“<br />
Mit bewundernswerter Sorgfalt und Ruhe beendet sie die rituelle Waschung und<br />
zieht statt ihres Trauerkleides ein neues an, als ob die Trauerzeit zu Ende sei und<br />
sie ihren Vater besuchen ginge.<br />
Sie bittet Umm-i Rafi´, ihre Matratze in der Mitte des Zimmers auszubreiten.<br />
Dann legt sie sich ruhig und erleichtert nieder, wendet ihr Gesicht nach Mekka<br />
und wartet. Einige Augenblicke vergehen; plötzlich werden weinerliche<br />
Stimmen im Hause laut.<br />
Sie schließt ihre Augen und begibt sich auf den Weg zu ihrem geliebten Vater,<br />
der auf sie wartet. Das leidvolle Leben erlischt wie eine Kerze. Ali bleibt mit<br />
den Kindern allein.
Sie hatte Ali gebeten, sie in der Nacht zu begraben, damit keiner ihr Grab kennt<br />
und die beiden Herren ihren Leichnam nicht begleiten. Ali handelte danach.<br />
Keiner weiß, wie!<br />
Es <strong>ist</strong> noch heute nicht bekannt, wo sie begraben liegt – zu Hause oder auf dem<br />
Friedhof Baghi.<br />
Den unermesslichen Schmerz Alis kann man nur ahnen. Medina liegt in der<br />
Dunkelheit, die Moslems schlafen. <strong>Die</strong> Stille der Nacht wird nur durch ein<br />
Flüstern Alis unterbrochen. Seine Einsamkeit <strong>ist</strong> nun vollständig, in der Stadt<br />
und zu Hause.<br />
Wie ein Häufchen Elend sitzt er nun stundenlang auf dem Grab <strong>Fatima</strong>s;<br />
klagend richtet er seine Worte an den Propheten :<br />
„Sei gegrüßt, Gesandter Gottes, von mir und von Deiner Tochter, die zu Dir<br />
eilte. Deine Lebensgeschichte hatte uns schon viel Geduld und Kraft abverlangt.<br />
<strong>Die</strong> Trennung von Dir <strong>ist</strong> aber noch härter. Auf meinen Händen tatest Du den<br />
letzten Atemzug; auf meinen Händen trug ich Dich zu Grabe.<br />
`Wir gehören Gott und zu Ihm kehren wir zurück `(Koran 2/156)<br />
Meine Sorgen finden kein Ende, meine Nächte sind schlaflos. Ich werde keine<br />
Ruhe finden, bis der allmächtige Gott mich zu sich befiehlt. Deine Tochter wird<br />
Dir erzählen, welches Unrecht ihr von Deinem Volk widerfahren <strong>ist</strong>. Lass Dir<br />
erzählen, welches Unrecht ihr von Deinem Volk widerfahren <strong>ist</strong>. Lass Dir<br />
erzählen, wie das alles geschah, als die Erinnerung an Deine Zeit noch lebendig<br />
war.<br />
Seid beide gegrüßt von einem Mann, der sich ohne Zorn und Verzweiflung<br />
verabschiedet.“<br />
Er schweigt einen Augenblick; plötzlich verspürt er die Müdigkeit seines ganzen<br />
Lebens auf seiner Seele, als ob er mit jedem Wort, das er aus tiefster Seele<br />
sprach, ein Stück seines Lebens verbraucht habe.<br />
Unentschlossen steht er da und weiß nicht, was er tun soll; soll er zurückkehren?<br />
Wie soll er alleine nach Hause zurückkehren?<br />
<strong>Die</strong> Stadt sieht wie ein Ungeheuer aus, das in einem Hinterhalt voller<br />
Verschwörung und Verrat auf ihn lauert.<br />
Wie soll er dort bleiben?
<strong>Die</strong> Kinder?<br />
<strong>Die</strong> Leute?<br />
<strong>Die</strong> Wahrheit?<br />
<strong>Die</strong> Aufgaben, die auf ihn warten, und der Auftrag, dessen Erfüllung er gelobt<br />
hat?<br />
Er <strong>ist</strong> von grauenhaften seelischen Schmerz überwältigt. Zweifel nagen an<br />
seinem Herzen.<br />
Soll er gehen oder bleiben?<br />
Er fühlt sich durch keiner Entscheidung fähig. Er versucht, es <strong>Fatima</strong> zu<br />
erklären:<br />
„Ich bin Deiner nicht überdrüssig, wenn ich von Dir gehe. Ich ziehe auch nicht<br />
die Worte Gottes über geduldige Menschen in Zweifel, wenn ich bei Dir bleibe.“<br />
Dann steht er auf und wendet sich zum Hause des Propheten, als ob er sagen<br />
will:<br />
Ich geh zurück, was Du mir anvertraut hast. Höre, was sie Dir zu sagen hat. Sie<br />
soll Dir beschreiben, was sie nach Deinem Tod erlebt hat.<br />
Nach ihrem Tode lebte <strong>Fatima</strong> in der Geschichte fort.<br />
Sie wurde zur Symbolfigur unter den Opfern der Gewaltherrschaft,<br />
Unterdrückung und Ausbeutung in der islamischen Geschichte. <strong>Die</strong> Erinnerung<br />
an <strong>Fatima</strong> wurde dank der bewundernswerten Überzeugungskraft der Frauen<br />
und Männer, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpften, durch Jahrhunderte<br />
hindurch liebevoll gepflegt, unter den grausamen und blutigen Peitschen der<br />
ungerechten und unrechtmäßigen Herrschaft der Kalifen überliefert und hat die<br />
empfindsamen Herzen der Entrechteten gerührt.<br />
Sie war in der islamischen Geschichte für die entrechteten Massen das Symbol<br />
für Freiheit und Gerechtigkeit. Ihr Leben inspirierte sie zum Kampf gegen<br />
Unterdrückung, Tyrannei und Diskriminierung.<br />
Es <strong>ist</strong> schwer, der Persönlichkeit <strong>Fatima</strong>s gerecht zu werden.
Sie war eine Frau im Sinne des Islam. <strong>Die</strong> Umgebung des Propheten prägte ihre<br />
Persönlichkeit und die nachhaltigen Erlebnisse eines lehrreichen Lebens im<br />
Kampf formten ihren Charakter.<br />
Sie war in allem eine vorbildliche Frau.<br />
Sie war vorbildlich als Tochter ihrem Vater gegenüber, vorbildlich als Ehefrau<br />
ihrem Mann gegenüber, vorbildlich als Mutter ihren Kindern gegenüber und<br />
schließlich vorbildlich als eine kämpferische und verantwortungsbewusste Frau<br />
angesichts der Erfordernisse ihrer Zeit und Gesellschaft.<br />
Sie <strong>ist</strong> selbst ein „Imam“, ein Vorbild, ein idealer Typ und ein Leitbild aller<br />
Frauen, die für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit eintreten.<br />
Sie gibt durch ihre erstaunliche Kindheit, ihren ständigen Kampf an zwei<br />
Fronten, ihr Leben im Hause des Vaters, des Ehemannes und in der Gesellschaft<br />
sowie durch ihre Denk- und Handlungsweise die Antwort darauf, wie eine Frau<br />
sein soll.<br />
Meine Bewunderung gilt ihr nicht zuletzt deshalb, weil sie Lebens- und<br />
Kampfgefährtin einer so überragenden Persönlichkeit einer so überragenden<br />
Persönlichkeit wie Ali war.<br />
An seiner Seite war sie nicht nur Ehefrau. Nach ihr hatte Ali auch andere<br />
Ehefrauen. Er betrachtete sie als seine Freundin, die für seine großen Ideale<br />
Verständnis aufbrachte, seine Überzeugungen teilte und seine einsamen Tage<br />
erträglich machte. Daher hatte Ali eine besondere Beziehung zu ihr und ihren<br />
Kindern.<br />
Nach <strong>Fatima</strong> heiratete Ali andere Frauen, die ihm weitere Kinder gebaren.<br />
<strong>Fatima</strong>s Kinder nahmen eine Sonderstellung ein; er nannte sie „<strong>Fatima</strong>s<br />
Kinder“, die anderen hießen „Kinder von Ali“.<br />
Es erstaunt, das ein Vater, insbesondere Ali, seine Kinder nach der Mutter<br />
benennt.<br />
Wie schon erwähnt, hatte auch der Prophet eine besondere Beziehung zu ihr.<br />
Nur mit ihr verfuhr er so streng. Nur auf sie verließ er sich. Sie bekehrte er<br />
schon im Kindesalter zum Islam.<br />
Ich weiß nicht, was ich sonnst über sie sagen soll und wie.<br />
Ich wollte zuerst dem französischen Kanzlerredner Bossuet nachtun, der einmal<br />
in Anwesenheit Ludwig XIV. folgendes über Maria gesagt haben soll:
„1700 Jahre haben Redner der Welt über Maria gesprochen,<br />
1700 Jahre haben Philosophen und Denker des Ostens und Westens die<br />
Tugenden Marias aufgezählt,<br />
1700 Jahre haben die Dichter der Welt mit all ihrem schöpferischen Können<br />
Maria gepriesen,<br />
1700 Jahre haben Künstler, Maler und Bildhauer bei der Darstellung Marias<br />
bewundernswerte künstlerische Werke erschaffen.“<br />
Doch all diese Worte, Gedanken und künstlerischen Werke zusammen können<br />
die Erhabenheit Marias nicht so ausdrücken wie diese Worte:<br />
„Maria <strong>ist</strong> die Muter Jesu.“<br />
Ich habe versucht, <strong>Fatima</strong> in dieser Art zu beschreiben; es war mir nicht<br />
möglich.<br />
Ich wollte sagen, sie sei die Tochter der großen Khadija, musste aber einsehen,<br />
das dies nicht <strong>Fatima</strong> war.<br />
Ich wollte sagen, sie sei die Tochter Mohammads, aber auch das war nicht<br />
<strong>Fatima</strong>.<br />
Ich wollte sagen, sie sei die Frau Alis, das war ebenfalls nicht <strong>Fatima</strong>.<br />
Ich wollte sagen, sie sei die Mutter Hassans und Husseins, auch das war nicht<br />
<strong>Fatima</strong>.<br />
Ich wollte sagen, sie sei die Mutter Zeinabs, aber auch das war nicht <strong>Fatima</strong>.<br />
Sie <strong>ist</strong> das alles – doch das alles <strong>ist</strong> nicht <strong>Fatima</strong>.<br />
„<strong>Fatima</strong> <strong>ist</strong> <strong>Fatima</strong>“
Anmerkungen<br />
1) Als Husseiniye werden die Plätze bezeichnet, auf denen sich die Schiiten vor allem im<br />
Monat Muharram versammeln. Um in Trauerfeiern der im Widerstand gegen<br />
Ungerechtigkeit und Tyrannei gefallenen Märtyrer zu gedenken. Ali Schariati hielt die<br />
me<strong>ist</strong>en seiner Vorträge in Husseiniye-ye Erschad in Teheran.<br />
2) Für das unterdrückte iranische Volk, das seine Leiden mit denen <strong>Fatima</strong>s identifiziert,<br />
verkörpert die Tochter des Propheten ein Symbol des Kampfes für Freiheit und<br />
Gerechtigkeit. <strong>Die</strong> gleiche Bedeutung wird den alljährlichen Trauerfeiern zum<br />
Gedenken an den Märtyrertod Imam Husseins und seiner Gefährten in Karberla<br />
beigemessen.<br />
3) Khadija, die spätere Frau des Propheten, eine reiche Witwe aus einer Mekkanischen<br />
Adelsfamilie, betrieb in Mekka ein gutgehendes Handelsgeschäft. Sie nahm den für<br />
seine Zuverlässigkeit bekannte Mohammad zunächst als Verwalter in ihre <strong>Die</strong>nste. Im<br />
Alter von 25 Jahren heiratete Mohammad die nunmehr 44 jährige Khadija. Nach der<br />
Berufung Mohammads zum Propheten war Khadija die erste, die zum Islam übertrat.<br />
Sie verteilte ihr gesamtes Vermögen unter die Armen uns Sklaven sowie unter<br />
diejenigen, die aufgrund ihres Glaubens verfolgt wurden und schwere Folterungen<br />
erdulden mussten. Khadija hat Mohammad sechs Kinder geborgen, zwei Söhne, die<br />
bereits im Kindesalter starben, sowie vier Töchter, deren jüngste <strong>Fatima</strong> war.<br />
4) Fadak, ein kleines Stück Ackerland in der Nähe Medinas, das einige Juden dem<br />
Propheten zum Zeichen ihrer Freundschaft und ihres guten Willens gegenüber dem<br />
Islam und dem Propheten geschenkt hatten, war das einzige persönliche Eigentum, das<br />
der Prophet seiner Tochter und Erbin <strong>Fatima</strong> bei seinem Tode hinterließ. Da Imam Ali<br />
und <strong>Fatima</strong> den Kalifen als Nachfolger des Propheten nicht anerkannt hatten, nahm er<br />
ihnen dieses Stückchen Land, aus dessen Ertrag sie ihren Lebensunterhalt bestritten<br />
hatten, um sie zum Gehorsam zu zwingen, denn die Enteignung machte sie von<br />
Zahlungen aus der Staatskasse abhängig, die wiederum absoluten Gehorsam gegenüber<br />
dem System voraussetzten. <strong>Fatima</strong> hat die Enteignung des Ackerlandes Fadak immer als<br />
Beispiel für die islamwidrige und ungerechte Handlungsweise des Kalifen gegenüber<br />
den Moslems angeführt.<br />
5) <strong>Die</strong> Kalifen der Umayyaden-Dynastie (661-759n.Chr) sind aus der Adelsfamilie der<br />
Bani Umayya, die als Großkaufleute in Mekka lebten, hervorgegangen. Nach der<br />
Eroberung Mekkas unterwarfen sich Abu Sufian, Oberhaupt der Familie (vgl. Anm.15),<br />
und sein Sohn Muawiya (vgl. Anm 10)dem Propheten Nach dem Tode Mohammads<br />
trachten die Bani Umayya mehr und mehr danach, die Macht an sich zu reißen; unter<br />
dem 3. Kalifen Osman, der ebenfalls aus der Familie Bani Umayya hervorgegangen<br />
war, erreichten diese Bestrebungen einen Höhepunkt. Ein Volksaufstand gegen die<br />
Willkürherrschaft des Kalifen, die ständige Unterdrückung und Ausbeutung des Volkes<br />
und die wachsende Abweichung der Herrschenden vom Islam führte schließlich zum<br />
Sturz Osmans, und Imam Ali trat als 4. Kalif die Nachfolge des Propheten an.<br />
6) <strong>Die</strong> „offiziellen“ Vorbeter (<strong>Imame</strong>) waren von den Kalifen und Königen beauftragte<br />
Ge<strong>ist</strong>liche, deren Aufgabe darin bestand, die Gewalttaten und Willkür der herrschenden<br />
Cliquen unter Berufung auf den Islam zu rechtfertigen. So hatten sie durch Manipulation<br />
des Volkes dafür Sorge zu tragen, das es sich der ihm im Namen des Islam zugeführten<br />
Ungerechtigkeiten nicht bewusst wurde.<br />
7) Im 16. und 17. Jahrhundert regierte in Iran die Dynastie der Safawiden. Der<br />
bedeutendste, aus dieser Dynastie hervorgegangene Herrscher war Schah Abbas der<br />
Große (1587-1629n.Chr.) <strong>Die</strong> Safawiden zählten sich zu den Anhängern Imam Alis;<br />
erstmalig wurde die Schia zur offiziellen Staatsreligionen erhoben, und diese
Entwicklung führte bald zum Konflikt mit dem sunnitischen Osmanischen Reich. <strong>Die</strong><br />
Schia, zu der die Safawiden sich bekannten, hatte jedoch mit der Schia, für deren<br />
Verwirklichung die entrechteten Moslems Irans jahrhundertlang gekämpft hatten, nichts<br />
gemein, denn ähnlich den früheren Dynastien haben auch Safawiden den Islam im<br />
Namen der Schia in ihrem Sinne und zu ihrem Vorteil ausgelegt.<br />
8) Gemeint sind jene „islamischen“ Mystiker, die die Vereinigung mit Gott durch Hingabe<br />
und Versenkung des individuellen Seins in das Gottwesen zu erlangen suchten.<br />
9) Der Zoroastrismus, die Religion Zarathustras, des erstmalig wahrscheinlich um das Jahr<br />
600 v. Chr. Auftretenden Propheten und Stifters der altrianischen Glaubenslehre, war bis<br />
zur Eroberung durch die Araber persische Nationalreligion; er <strong>ist</strong> gekennzeichnet durch<br />
den Dualismus von Gut (vertreten durch den `Guten Ge<strong>ist</strong>`, Ahuramazda) und Böse<br />
(vertreten durch den `Bösen Ge<strong>ist</strong>`, Ahirman). Dem Menschen kommt in diesem<br />
ständigen, nach Ansicht der Lehre das All beherrschenden Kampf zwischen Gut und<br />
Böse die Aufgabe zu, Ahuramazada gegen die Angriffe Ahrimans beizustehen.<br />
10) Muawiye, der Sohn Abu Sufians und später Begründer des Umayyaden- Kalifats, war<br />
bereits zu Lebzeiten des 2. Kalifen Omar zum Gouverneur der Provinz Scham (des<br />
heutigen Syrien) ernannt worden. Sein Lebens- und Führungsstil orientierte sich<br />
nunmehr am Vorbild der römischen und persischen König. Sein aufwendiges leben und<br />
die riesige Armee finanzierte er mit Hilfe der in Kriegen erbeuteten Werte sowie aus<br />
Steuergeldern, die er rücksichtslos durch seine Beamten bei den ohnehin verschuldeten<br />
Bauern und Pächtern eintreiben ließ; so wurden die Not des Volkes und die Kluft<br />
zwischen den Gesellschaftsschichten weiter vergrößert, und Unzufriedenheit keimte im<br />
Volke auf, das sich wohl bewusst war, das von einer Gerechtigkeit im Sinne des Islam<br />
längst keine rede mehr sein konnte. Zudem ließ Muawiye unbarmherzig die Gefährten<br />
des Propheten verfolgen und verbannen. Mit dem Sturz des Kalifen Osman wurde<br />
Muawiye seines Amtes als Gouverneur enthoben. Muawiye indessen, der seit einiger<br />
Zeit selbst Vorbereitungen zur Übernahme der Macht getroffen hatte, erklärte Imam Ali<br />
den Krieg.<br />
11) Der letzte Umayyaden- Kalif und Begründer der Dynastie der Marwaniden, Marwan,<br />
war einer der erbittertsten Feinde der Nachkommen des Propheten.<br />
12) Der Abbasiden-Kalif Mutiwakkil (847 – 861 n. Chr.), berüchtigt wegen seiner<br />
feindseligen Haltung und seines Hasses gegenüber den Schiiten, ließ das Mausoleum<br />
Imam Husseins, das für die Schiiten zu einem Symbol das Propheten und zu einem<br />
Wallfahrtsort geworden war, zerstören und anstelle das Grabens einen Acker anlegen.<br />
13) Den Abbasiden-Kalifen Harun ar- Raschid (786 – 809 n. Chr.) kennt man im Abendland<br />
vor allem aus den Erzählungen der „ Tausendund eine Nacht“. Obwohl die Abbasiden<br />
im Namen des Islam regierten, verstärkten sich in zunehmendem Maße die schon unter<br />
den Umayyaden deutlich erkennbaren Abweichung von der Linie der ursprünglichen<br />
Lehre des Islam. <strong>Die</strong> Abbasiden nannten sich zwar „Herrscher aller Gläubigen“ und<br />
„Stellvertreter des Propheten“, verfolgten tatsächlich aber nur ein Ziel: die<br />
Aufrechterhaltung ihrer ausbeuterischen Machtposition und somit ihres Luxuriösen und<br />
ausschweifenden Lebensstil in den Palästen der Hauptstadt Bagdad. <strong>Die</strong> Verfechter des<br />
Islam, insbesondere die Anhänger Imam Alis, wurden verfolgt und in den Verließen der<br />
Paläste der Hauptstadt in Ketten gelegt und gefoltert ; die bekanntesten waren der 6. und<br />
7. Imam der Schiiten, Imam Dschafar al-Sadigh, der Begründer der dschafaridischen<br />
Rechtsschule, und sein Sohn Imam Musa al-Kazim, die nach jahrelangen Leiden in den<br />
Kerkern der Paläste der „Tausendundeine Nacht“ den Märtyrertod fanden, weil sie ihre<br />
Stimme gegen die Tyrannei der Kalifen erhoben hatten.<br />
14) Abu Djahl, ein Onkel des Propheten, lebte als Großkaufmann in Mekka. Erbitterter<br />
Feind des Propheten und des Islam, ließ er die Moslems unnachgiebig verfolgen und<br />
foltern.
15) Abu Sufian, Oberhaupt der Familie Bani Umayya, hatte den Propheten und den Islam<br />
jahrelang bekämpft und die Feinseeligkeiten immer wieder von neuem geschürt, sich<br />
dann aber nach der Eroberung Mekkas durch die Moslems zusammen mit seinem Sohn<br />
Muawiya dem Propheten unterworfen. Angesichts seiner Reue und der Erklärung seiner<br />
Ergebenheit gegenüber dem Islam hatte der Prophet sein Heim zum Zufluchtsort für alle<br />
Mekkaner, die ihrem alten Glauben abgeschworen hatte, erklärt.<br />
16) Nach schiitischer Auffassung <strong>ist</strong> der 12. Imam,. Mohammad al-Mahdi, im Jahre<br />
873.n.Chr. entrückt, und die Schiiten leben in der Erwartung seiner Wiederkehr. Hier<br />
handelt es sich um ein konstruktives Erwarten, das nicht nur mit seiner Person<br />
verbunden <strong>ist</strong>, sondern gleichzeitig als die damit verbundenen Realisierung einer<br />
gerechten und idealen Gesellschaftsordnung verstanden wird. Und hieraus resultiert die<br />
aktive Ablehnung aller repressiven Gesellschaftssysteme. Aufgrund dieser aktiven<br />
Ablehnung und Protesthaltung waren die Schiiten immer wieder Verfolgungen<br />
ausgesetzt und wurden unterdrückt.<br />
17) Zum Schutze und zur Erhaltung ihres Glaubens mussten die Schiiten, die insbesondere<br />
unter der Herrschaft der Umayyaden und Abbasiden der Verfolgung und Unterdrückung<br />
der Kalifen ausgesetzt waren, ihre Aktivitäten verheimlichen. <strong>Die</strong> Notwendigkeit dieser<br />
Verheimlichung wird mit dem Schutzschild des Soldaten, der die Kampfkraft der Armee<br />
aufrechterhält, verglichen; denn könnte der Soldat sein Leben nicht auf diese Weise<br />
schützen, wäre der Kampf, der bald nur noch mit verminderter Kraft fortgeführt werden<br />
können, sinnlos. Hinter der Verheimlichung darf sich also keinesfalls Resignation<br />
verbergen.<br />
18-21) <strong>Die</strong> mit den Prinzipien des Islam nicht in Einklang stehende Herrschaft des 2.<br />
Umayyaden- Kalifenn Yazid (680- 683 n. Chr.) der, wie zuvor auch sein Vater<br />
Muawiye, zwar im Namen des Islam über das „islamische Reich“ herrschte, sich<br />
tatsächlich jedoch immer weiter von den wahren Inhalten der Lehre entfernte bzw.<br />
wusste, sie zu seinen Gunsten auszulegen, ließ allmählich den Protest des unterdrückten<br />
Volkes laut werden, bis es in Irak zum offenen Aufstand kam.<br />
Hussein, der Sohn Imam Alis und <strong>Fatima</strong>s und der 3. Imam der Schiiten, der in Medina<br />
lebte, brach in Begleitung seiner Familie und Gefährten nach Irak auf, um sich an die<br />
Spitze der Widerstandsbewegung gegen die Herrschaft Yazids, zu stellen. Bevor sie<br />
jedoch ihr Ziel erreichten, wurden sie in Karberla am Euphrat, nahe der Stadt Kufa, von<br />
der Armee Yazids, die den Aufstand in Kufa bereits niedergeschlagen hatte,<br />
aufgehalten. Zehn Tage lang blieben Hussein und seine Gefährten eingeschlossen. Es<br />
gab für sie nur zwei mögliche Entscheidungen: einmal die Kapitulation und<br />
Anerkennung der islamwidrigen und rechtmäßigen Herrschaft Yazids - und diese<br />
Anerkennung seiner Herrschaft durch den Enkel des Propheten strebte Yazid an - auf<br />
der anderen Seite weiteren Widerstand unter Einsatz des Lebens, um den Moslems die<br />
wahre Gesinnung Yazids zu enthüllen. Hussein und seine Begleiter entschieden sich für<br />
letzteres. Am 10. Tag des Monats Muharram (Ashura) im Jahre 62 der Hidjra (0 680. n<br />
Chr.) fanden Hussein und seine 72 Begleiter den Märtyrertod.<br />
<strong>Die</strong> Frauen und Töchter der Märtyrer wurden nach Syrien zum Sitz des Kalifen<br />
gebracht, unter ihnen auch die Schwester Imam Husseins, Zeinab. Sie setzte den Kampf<br />
ihres Bruders fort; indem sie nicht aufhörte, die Missetaten Yazids anzuprangern, der<br />
unrechtmäßig im Namen des Islam als Nachfolger des Propheten herrschte und die<br />
Familie Mohammads hatte niedermetzeln lassen, weil sie sich für die Sache der<br />
Unterdrückten unt Entrechteten eingesetzt hatte. Zum Zeichen des Martyriums hat<br />
Zeinab die Rote Fahne Imam Husseins an die kommende Generation weitergegeben und<br />
seine Parole:“... jeder Tag <strong>ist</strong> Ashura (der 10. Muharram ) und jeder Ort <strong>ist</strong> Karbala..“<br />
unter den Moslems bekannt gemacht.
<strong>Die</strong> Schiiten verehren Imam Hussein als Symbol der Auflehnung gegen<br />
Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Der Monat Muharram, insbesondere der 10.Tag<br />
dieses Monats (Ashura), <strong>ist</strong> dem Gedenken an den Widerstand und die Auflehnung<br />
gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt geweiht.<br />
22) <strong>Die</strong> auf den 6. Imam der Schiiten , Dschafar as-Sadigh, zurückgehende islamische<br />
Rechtsschule. Imam Dschafar as-Sadigh war eine anerkannte Autorität auf dem Gebiete<br />
des Hadis (= Überlieferung der Taten und Aussprüche des Propheten und seiner<br />
Gefährten) sowie des islamischen Rechtes. In den Jahren der Kämpfe zwischen der<br />
Umayyaden- Dynastie und den Abbasiden bis zur Gründung der Dynastie der<br />
Abbasiden hatte Imam Dschafar as-Sadigh eine Zeitlang relativ unangefochten die<br />
islamische Lehre verkünden können. Ihm <strong>ist</strong> es zu verdanken, das die Schia einer breiten<br />
Öffentlichkeit bekannt wurde und im Volke eine große Anhängerzahl gewann.<br />
23) vgl. Anm. 41<br />
24) Abu Zar, einer der ersten Gefährten und zuverlässigsten Freunde des Propheten, schloss<br />
sich nach dem Tode Mohammads Ali, den er als Nachfolger des Propheten anerkannte,<br />
an. Sein Leben war dem Kampf gegen die immer deutlicher werdende Abweichung vom<br />
ursprünglichen Islam des Propheten geweiht. In Syrien unterstützte er die Armen und<br />
Entrechteten gegen die Willkürherrschaft Muawiyes und war stets darum bemüht, dem<br />
unterdrückten Volk die Fähigkeit zu erhalten, den wahren und ursprünglichen Islam zu<br />
erkennen. Er wurde verhaftet und nach Medina zurückgeschickt, als Muawiye erkannte,.<br />
Das seine Position durch das Wirken Abu Zars ins Wanken geriet.<br />
Aber auch in Medina schwieg Abu Zar nicht. Sein Protest richtete sich gegen die<br />
islamwidrige Politik des Kalifen, der die Koranische Lehre zu seinem eigenen Vorteil<br />
interpretierte, wie auch Muawiye immer versucht hatte, die Armut des Volkes z.B. als<br />
Fügung des Schicksals darzustellen. Mit der Zeit wurde Abu Zar, dessen aufklärerisches<br />
Schaffen im Volke eine ernste Bedrohung für die Herrschenden und den Fortbestand<br />
ihrer Macht bildete, für den Kalifen untragbar; er starb in der Verbannung. Man schreibt<br />
ihm die Worte zu: „Ich werde im Antlitz aller Entrechteten und Unterdrückten wieder<br />
sichtbar; wenn meine Feinde mich nicht erkennen, werden sie vernichtet werden.“<br />
25) Höchste religiöse Autorität, die bis zur Wiederkehr des 12. Imam stellvertretend dessen<br />
Aufgaben und Verpflichtungen wahrnimmt.<br />
26-27) Gegen Ende des 19. Jahrhunderts versuchten die Länder Asiens in zunehmendem<br />
Maße, sich vom Joch der Kolonialmächte zu befreien.<br />
<strong>Die</strong> infolge dieser Entwicklung ihre Machtposition bedrohende Gefahr erkennend,<br />
förderten die Kolonialmächte in diesen Ländern, deren Gesellschaften vorwiegend von<br />
religiösen Überlegungen und Bindungen bestimmt wurden, die Entstehung von sich an<br />
den religiösen Vorstellungen der jeweiligen Völker orientierenden Pseudo-Religionen.<br />
Mit Hilfe der daraus resultierenden religiösen Auseinandersetzungen innerhalb der<br />
Völker sollten diese von einem weiteren Engagement für die antikolonial<strong>ist</strong>ischen<br />
Freiheitsbewegungen abgelenkt werden.<br />
<strong>Die</strong> Verkünder der Pseudo-Religionen traten entsprechend den jeweiligen<br />
Nationalreligionen als Propheten, Gottheiten usw.auf. In Iran sind als Beispiel Mirza<br />
Mohammad Ali Bab, ein Schüler Seyyed Kasem Raschtis, sowie Mirza Hossein Ali<br />
Baha zu nennen, die auf Betreiben der Kolonialmächte England und Russland im Volk<br />
als Propheten auftraten; nachdem sie zunächst vorgegeben hatten, mit dem im<br />
Verborgen lebenden 12. Imam Mohammad al-Mahdi in Verbindung zu stehen,<br />
behaupteten sie später sogar, selbst der erwartete Imam zu sein.<br />
28) `Ein u d-Doule, Sproß einer Adelsfamilie, bekleidete in der Zeit vor der Konstitutionellen<br />
Monarchie in Iran das Amt des Kanzler des Schah. Gefürchtet wegen seiner Härte und<br />
Grausamkeit gegenüber den sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts überall in<br />
Iran, insbesondere in Teheran und Tabriz, ausweitenden Freiheitsbewegungen, ernannte
ihn der Schah dennoch nach dem Siege der Konstitutionellen Bewegung erneut zu<br />
seinem Kanzler.<br />
Daß diese zweite Ernennung `Ein u d-Doules möglich wurde, wird allgemein als<br />
Zeichen der Erfolglosigkeit und Preisgabe der Bewegung gewertet.<br />
29) Während der Regierungszeit Mozaffareddin Schahs, des Sohnes des Kadscharen-<br />
Herrschers Nasreddin Schah, kam es im Jahr 1905 in mehreren iranischen Städten zu<br />
massiven Protestbewegungen gegen die Willkürherrschaft der Kadscharen-Dynastie. Im<br />
Jahre 1906 sah Mozaffareddin Schah sich gezwungen, sich dem Willen der<br />
Freiheitskämpfer zu beugen; in der folge wurde die erste Verfassung Irans verabschiedet<br />
und das erste Parlament gewählt.<br />
30) Seyyed Djamaleddin Asadabadi, ein islamischer Rechtsgelehrter, der auch unter dem<br />
Namen Seyyed Djmaleddin al-Afghani bekanntgeworden <strong>ist</strong>, trug im 19. Jahrhundert<br />
zur Zeit der Kadscharen-Herrschaft in Iran maßgeblich zur Bildung eines neuen religiöspolitischen<br />
Bewusstseins in den islamischen Ländern bei .<br />
31) Der im Abendland unter den Namen Avicenna bekannte Ibn Sina zählt zu den<br />
berühmtesten iranischen Gelehrten des 11. Jaghunderts. Als Arzt gleichermaßen wie als<br />
Philosoph hat er sich große Verdienste erworben. Durch seine große Enzyklopädie<br />
„buch der Genesung der Seele“ wirkte er stark auf das chr<strong>ist</strong>liche Abendland.<br />
32) <strong>Die</strong> Schlacht von Uhud, ein kriegerisches Unternehmen zu Lebzeiten des Propheten, bei<br />
dem Hamza, ein Onkel des Propheten, sowie 70 weitere Mosleme fielen und Ali sich<br />
durch große Tapferkeit auszeichnete.<br />
33) In Hunain fanden die heftigsten Kämpfe seit der Eroberung Mekkas zwischen den<br />
Moslems und ihren Gegnern, die verschiedenen Stämmen und Partein angehörten und<br />
hier zur Vernichtung des Islam ein Bündnis eingegangen waren, statt. <strong>Die</strong> Kämpfe<br />
endeten mit dem Sieg der Moslems.<br />
34) Bis zum Siege der islamischen Revolution in Iran beherrschten zwei Namen die Szene<br />
der iranischen Medien: Faramarzi und Mas´udi. Beide strebten die Amerikanisierung<br />
der iranischen Gesellschaft an.<br />
35) Letzte Dynastie des Persischen Reiches in vorislamischer Zeit.<br />
36) 932- 1020 n. Chr. Der persische Dichter wurde berühmt durch sein Werk „Shahnameh“,<br />
das „Königsbuch“, ein Heldengedicht in 60 000 Versen.<br />
37) Abd al-Mutalleb, der Großvater des Propheten, nahm nach dem Tode der Eltern den<br />
Waisen Mohammad bei sich auf. Als Oberhaupt des Stammes der Qureisch und<br />
Schlüsselhalter der Kaaba, die in vorislamischer Zeit für die arabischen Stämme ein<br />
Zentrum der Götzenverehrung gewesen war, genoss Abd al-Mutalleb großes Ansehen.<br />
38) Abu Taleb, der Onkel des Propheten und Vater Alis, nahm seinen 6 jährigen Neffen<br />
Mohammad nach dem Tode des Großvaters in seiner Familie auf.<br />
39) Abd al-Manaf war einer der Führer des Stammes der Qureisch und Vater Abd al-<br />
Mutallebs.<br />
40) Hamza, ein Onkel des Propheten, trat schon früh zum Islam über. Mut und Tapferkeit<br />
zeichneten ihn in mehreren Kämpfen gegen die Feinde des Islam aus. In der Schlacht<br />
von Uhud fand Hamza den Märtyrertod.<br />
41) <strong>Die</strong> Heilige Moschee in Mekka, alljährliches Ziel Hunderttausender moslemischer<br />
Pilger; in ihrem Zentrum befindet sich die Kaaba, das bedeuternste Heiligtum des Islam,<br />
ein steinernes, würfelförmiges Gebäude, in das der „Schwarze Stein“ (Hadjar- al-<br />
Aswad) eingemauert <strong>ist</strong>. Nach islamischer Überlieferung gilt Abraham als ihr Erbauer.<br />
42) Asia, die Frau des Pharao, gewährte nach islamischer Überlieferung dem jungen Moses<br />
Schutz und erzog ihn.<br />
43) Bedeutende islamische Geschichtsschreiber.
44) Bilal, ein afrikanischer Sklave, gehörte zu den ersten Gefährten des Propheten. Bis zum<br />
Tode Mohammads war er Muezzin (Gebetsrufer) und schloss sich dann der Partei Alis<br />
an.<br />
45-46)Ammar war der Sohn des Prophetengefährten Yasir. Er gehörte zu den ersten, die den<br />
Islam annahmen, und auch er musste wegen seines Glaubens grausamste Folterungen<br />
erdulden. Nach dem Tode des Propheten schloss er sich der Partei Alis an und galt als<br />
exzellenter Kenner der Tradition des Propheten.<br />
47) Residenz der Sassaniden in Mesopotamien zur Zeit der Eroberung Persiens durch die<br />
islamische Armee.<br />
48) Nach dem Aufstand des Volkes gegen den 3. Kalifen Osman und dessen Sturz trat Ali<br />
das Amt als rechtmäßiger Nachfolger des Propheten an. Er widmete sich zunächst der<br />
Säuberung des islamischen Staates von korrupten Elementen und enthob all jene, die die<br />
Moslems im Namen des Islam unterdrückt und ausgebeutet hatten, ihres Amtes.<br />
Muawiye aber, der die rechtmäßige Nachfolge für sich beanspruchte, verweigerte,<br />
gleichermaßen von diesen Maßnahmen betroffen, Ali den Gehorsam und erklärte ihm<br />
den Krieg. <strong>Die</strong> Entscheidung fiel in der Schlacht von Siffin.<br />
49) Hurr, eine der bekannteste Persönlichkeiten der schiitischen Geschichte, diente zunächst<br />
als Offizier in der Armee Yazids und war maßgeblich beteiligt an dem Überfall auf<br />
Imam Hussein und seine Gefährten in Karbala, lief dann aber in einer für Imam Hussein<br />
militärisch aussichtslosen Situation zu ihm über. An seiner Seite fand er den<br />
Märtyrertod.<br />
50) Der Prophet ernannte den 19. jährigen Usama, den Sohn Zeids, kurz vor seinem Tode<br />
zum Oberbefehlshaber der islamischen Armee, damit er sie, der nach seinem Willen<br />
auch fast alle seine Gefährten angehören sollten, gegen das Römische Reich führe.<br />
<strong>Die</strong>se Entscheidung des Propheten bedeutete seinen Gefährten, das er auch die jungen<br />
unter ihnen für fähig befand, verantwortungsvolle Aufgaben zu übernehmen.<br />
51) In vorislamischer Zeit versammelten sich der Stammesverband in der Saghifa, um<br />
anstehende Fragen und Probleme zu diskutieren. Entgegen der islamischen Tradition,<br />
die die Moschee als Versammlungsort zur Abhandlung und Lösung aktueller politischer<br />
und religiöser Fragen vorsieht, stimmten die Stammesführer nach dem Tode des<br />
Propheten in der Saghifa der Bani Saide über die Nachfolge ab.<br />
52) Salman gehörte zu den Gefährten des Propheten. In Persien gebürtig, musste er unter<br />
dem letzten Sassaniden-König aufgrund seiner politischen Aktivitäten aus dem Lande<br />
fliehen. Er machte die Bekanntschaft des Propheten und nahm bald den Islam an. Nach<br />
dem Tode des Propheten schloss er sich der Partei Alis an.